Interpretation und Rationalität: Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik 9783110351163, 9783110350982

This study examines the relationship between the interpretation of fictional literary texts and hermeneutic equity, whic

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German Pages 297 [298] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“ – Nachsichtige Interpretation in Hermeneutik und Sprachphilosophie
1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens
1.2 Billigkeitsprinzipien und der Aufbau der Untersuchung
2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien
2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons
2.1.1 Davidsons Theorie der radikalen Interpretation
2.1.2 Das principle of charity als Möglichkeitsbedingung von Interpretation
2.1.3 Kritik
2.1.3.1 Referenztheoretische Gegenentwürfe
2.1.3.2 Epistemische Vorannahmen
2.1.3.3 Methodologische Bedenken
2.2 Evaluative Varianten
2.1.1 Neil Wilsons principle of charity
2.1.2 Georg Friedrich Meiers hermeneutisches Billigkeitsprinzip
2.2 Daumenregel-Varianten
2.2.1 Inhaltliche Unbestimmtheit
2.2.2 Ideologischer Imperialismus
2.2.3 Inhaltlicher Imperialismus
2.2.4 Inkommensurabilität
2.3 Präsumtionsvarianten
2.3.1 Globale Rechtfertigungen
2.3.2 Anwendbarkeit im Rahmen philologischer Interpretation
2.3.3 Einwände
2.4 Philologisches Fazit I: Der formale Zuschnitt eines philologischen Billigkeitsprinzips
3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien
3.1 Wahrheit
3.1.1 Epistemische Kontextualisierung
3.1.1.1 Perzeptuelle Kontextualisierung
3.1.1.2 Rationale Kontextualisierung
3.1.2 Wahrheitsunterstellungen in der philologischen Hermeneutik
3.1.2.1 Spezifische Propositionen
3.1.2.1 Generische Propositionen
3.1.2.1 Kognitive Trivialität und interpretative Irrelevanz
3.1.3 Literarische Wahrheiten
3.1.3.1 Wirklichkeitstreue
3.1.3.2 Kohärenz
3.1.3.3 Idealität
3.1.3.4 Suggestivität
3.1.3.5 Aufrichtigkeit
3.1.3.6 Kritik literarischer Wahrheiten
3.1.4 Zusammenfassung
3.2 Kohärenz
3.2.1 Kohärenz von Systemen und Kohärenz von Texten
3.2.2 Philologische Rechtfertigung von Kohärenzpräsumtionen
3.2.3 Philologische Konkretisierung von Kohärenzpräsumtionen
3.2.4 Drei Beispiele
3.2.4.1 Franz Kafka: Der Jäger Gracchus
3.2.4.2 James Joyce: Finnegan’s Wake
3.2.4.3 Graham Priest: Sylvan’s Box
3.2.5 Zusammenfassung
3.3 Künstlerischer Wert
3.3.1 Werkimmanente Interpretation als wertmaximierende Theorie avant la lettre
3.3.2 Wertmaximierende Interpretationstheorie in der angelsächsischen Diskussion
3.3.3.1 Der Interpretationsbegriff in der wertmaximierenden Interpretationstheorie
3.3.3.2 Was ist ästhetischer Wert?
3.3.3.3 Ästhetischer Wert und konkurrierende interpretationsrelevante Faktoren
3.3.4 Zusammenfassung
3.4 Philologisches Fazit II: Der inhaltliche Zuschnitt eines philologischen Billigkeitsprinzips
4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation
4.1 Das Problem der Verbesserungshermeneutik
4.1 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien
4.1.1 Fehler im fiktionalen Diskurs
4.1.2 Drei Beispiele
4.1.2.1 Thomas Bernhard: Korrektur
4.1.2.2 Thomas Bernhard: Der Untergeher
4.1.2.3 Ed Wood: Plan 9 from Outer Space
4.1.3 Abweichungen und Anomalien in literarischen Texten
4.2 Zur Schwierigkeit von Formalisierungen
5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik
5.1 Der hermeneutische Zirkel
5.1.1 Teil-Ganzes-Zirkel
5.1.2 Text-Intention-Zirkel
5.1.3 Text-Kontext-Zirkel
5.1.4 Der Zirkel als Bestätigungsdilemma der Philologie
5.2 Überlegungsgleichgewicht
5.2.1 Überlegungsgleichgewicht bei Rawls und Goodman
5.2.1.1 John Rawls
5.2.1.2 Nelson Goodman
5.2.1.3 Zusammenfassung der Defizite
5.2.2 Überlegungsgleichgewicht bei Elgin
5.2.3 Das Überlegungsgleichgewicht in der Interpretationstheorie
5.2.3.1 Interpretationsrelevante Faktoren
5.2.3.2 Beispiel: Henrik Ibsen: Peer Gynt
6 Schluss
7 Literaturverzeichnis
Personenregister
Danksagung
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Interpretation und Rationalität: Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik
 9783110351163, 9783110350982

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Thomas Petraschka Interpretation und Rationalität

Historia Hermeneutica Series Studia

Herausgegeben von Lutz Danneberg Wissenschaftlicher Beirat Christoph Bultmann · Fernando Domínguez Reboiras Anthony Grafton · Wilhelm Kühlmann · Ian Maclean Reimund Sdzuj · Jan Schröder Johann Anselm Steiger · Theo Verbeek

Band 11

Thomas Petraschka

Interpretation und Rationalität Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik

DE GRUYTER

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

ISBN 978-3-11-035098-2 e-ISBN 978-3-11-035116-3 ISSN 1861-5678 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt 

. .

Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“ – Nachsichtige Interpretation in Hermeneutik und 1 Sprachphilosophie 5 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens Billigkeitsprinzipien und der Aufbau der Untersuchung 15

 . .. ..

Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien 19 19 Die transzendentale Variante Donald Davidsons 20 Davidsons Theorie der radikalen Interpretation Das principle of charity als Möglichkeitsbedingung von Interpretation 28 30 .. Kritik ... Referenztheoretische Gegenentwürfe 31 33 ... Epistemische Vorannahmen ... Methodologische Bedenken 35 . Evaluative Varianten 38 39 .. Neil Wilsons principle of charity .. Georg Friedrich Meiers hermeneutisches Billigkeitsprinzip 42 45 . Daumenregel-Varianten .. Inhaltliche Unbestimmtheit 46 48 .. Ideologischer Imperialismus .. Inhaltlicher Imperialismus 49 .. Inkommensurabilität 52 59 . Präsumtionsvarianten .. Globale Rechtfertigungen 62 64 .. Anwendbarkeit im Rahmen philologischer Interpretation .. Einwände 69 . Philologisches Fazit I: Der formale Zuschnitt eines philologischen 77 Billigkeitsprinzips  Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien . Wahrheit 80 .. Epistemische Kontextualisierung 84 85 ... Perzeptuelle Kontextualisierung 88 ... Rationale Kontextualisierung .. Wahrheitsunterstellungen in der philologischen Hermeneutik 92 97 ... Spezifische Propositionen

80

VI

... ... .. ... ... ... ... ... ... .. . .. .. .. .. ... ... ... .. . .. .. ... ... ... .. .

 . .

Inhalt

Generische Propositionen 99 Kognitive Trivialität und interpretative Irrelevanz 103 106 Literarische Wahrheiten 107 Wirklichkeitstreue Kohärenz 109 111 Idealität Suggestivität 112 113 Aufrichtigkeit Kritik literarischer Wahrheiten 114 Zusammenfassung 115 118 Kohärenz Kohärenz von Systemen und Kohärenz von Texten 120 Philologische Rechtfertigung von Kohärenzpräsumtionen 125 133 Philologische Konkretisierung von Kohärenzpräsumtionen Drei Beispiele 135 135 Franz Kafka: Der Jäger Gracchus 137 James Joyce: Finnegan’s Wake 142 Graham Priest: Sylvan’s Box Zusammenfassung 146 Künstlerischer Wert 150 Werkimmanente Interpretation als wertmaximierende Theorie avant 151 la lettre Wertmaximierende Interpretationstheorie in der angelsächsischen 154 Diskussion Der Interpretationsbegriff in der wertmaximierenden 155 Interpretationstheorie 162 Was ist ästhetischer Wert? Ästhetischer Wert und konkurrierende interpretationsrelevante 171 Faktoren 178 Zusammenfassung Philologisches Fazit II: Der inhaltliche Zuschnitt eines philolo183 gischen Billigkeitsprinzips

Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation 186 187 Das Problem der Verbesserungshermeneutik Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante 194 Anomalien .. Fehler im fiktionalen Diskurs 195 .. Drei Beispiele 198 199 ... Thomas Bernhard: Korrektur

VII

Inhalt

... ... .. .

Thomas Bernhard: Der Untergeher 205 Ed Wood: Plan 9 from Outer Space 212 Abweichungen und Anomalien in literarischen Texten 225 Zur Schwierigkeit von Formalisierungen

216

228  Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik . Der hermeneutische Zirkel 230 230 .. Teil-Ganzes-Zirkel .. Text-Intention-Zirkel 231 .. Text-Kontext-Zirkel 232 233 .. Der Zirkel als Bestätigungsdilemma der Philologie . Überlegungsgleichgewicht 237 .. Überlegungsgleichgewicht bei Rawls und Goodman 239 239 ... John Rawls ... Nelson Goodman 242 244 ... Zusammenfassung der Defizite 248 .. Überlegungsgleichgewicht bei Elgin .. Das Überlegungsgleichgewicht in der 258 Interpretationstheorie ... Interpretationsrelevante Faktoren 261 264 ... Beispiel: Henrik Ibsen: Peer Gynt 

Schluss



Literaturverzeichnis

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Personenregister Danksagung

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272

1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“ – Nachsichtige Interpretation in Hermeneutik und Sprachphilosophie In einem Vorwort, das er dem etwa 1534 veröffentlichten ersten Abschnitt seiner fünfteiligen Chronik über Leben und Taten der Riesenkönige Gargantua und Pantagruel voranstellt, richtet sich François Rabelais direkt an seine Leser. Er erläutert kurz, wie Alkibiades in Platons Symposion seinen Lehrer Sokrates mit Silenen vergleicht, kleinen nach dem Abbild von Satyrn geformten Statuen, in denen, wie Rabelais schreibt, wertvolle Substanzen und „köstliche Drogen“¹ aufbewahrt wurden. Sokrates nun sei dem äußeren Anschein nach ebenso unscheinbar und bäurisch wie diese antiken Figuren, dahinter versteckten sich aber die ebenso köstlichen Drogen eines bewundernswürdigen Verstandes, unbesiegbaren Muts und unvergleichlicher Tugend.² „Nun, werdet ihr denken, wozu dieses Vorspiel und Präambulum?“, fragt Rabelais im Anschluss an seine einleitende Analogie, und gibt die Antwort, die zu dem zentralen Thema der folgenden Überlegungen führen wird, auch gleich selbst: Dazu, meine lieben Schüler, daß, wenn ihr oder andere müßige Narren die lustigen Titel lest, die wir den einzelnen Büchern unserer Erfindung vorgesetzt haben, […] daß ihr, sage ich, nicht leichtfertig den Schluß zieht, es sei darin nichts enthalten als Spötterei, Narrheit und muntere Lügen. […] Aber so leichtfertig soll man über anderer Tun nicht urteilen. […] Deshalb müßt ihr das Buch aufschlagen und nachdenklich erwägen, was darin abgehandelt ist. Alsbald werdet ihr erfahren, daß die darin enthaltene Droge viel wertvoller ist, als die Büchse es versprach, daß die darin behandelten Dinge in Wahrheit gar nicht so närrisch sind, wie der Titel es vermuten ließ. Und gesetzt, ihr stießet, wenn ihr alles wörtlich nähmet auf gar drollige Dinge, die wohl zum Titel paßten, so dürft ihr euch davon doch nicht festhalten lassen wie von Sirenengesang, sondern ihr müßt, was nur so zufällig in lustiger Weise geredet ist, in höherem Sinne deuten. […] Darum müßt ihr alles, was ich tu’ und sage, immer auf das beste auslegen.³

 Rabelais 1974, 35. „fines drogues“ (Rabelais 1995, 46).  Vgl. hierzu Platon 2011, 91 f. [215b] und Rabelais 1995, 45.  Rabelais 1974, 35 ff. „A quel propos, en voustre advis, tend ce prelude, et coup d’essay? Par autant que vous mes bons disciples, et quelques autres foulz de se jour lisans les joyeuy titresd’aulcuns livres de nostre invention […] jugez trop facillement ne estre au dedans trcité que mocqueries, folateries, et menteries joyeuses: […] Mais par telle legierité ne convient estimer les oeuvres humains. […] C’est pourquoy fault ouvrir le livre: et soigneusement peser ce que y est deduit. Lors congnoistrez que la drogue dedans contenue est bien d’aultre valeur, que ne

2

1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“

Dieses wohlwollende „immer auf das beste“-Auslegen, das Rabelais speziell für seine oft derb spottende, in zotigen Witzeleien schwelgende Erzählung – Kapitel 13 etwa erzählt, „Wie Grandgousier die bewunderungswürdigen Anlagen Gargantuas an der Erfindung eines Arschwisches erkannte“⁴ – einfordern zu müssen glaubt, schneidet einen die Grundlagen des interpretativen Umgangs mit Texten überhaupt betreffenden Problemkontext an und deutet damit auf eine Diskussion voraus, die grob 100 Jahre später in einer allgemeineren und theoretisch weit grundlegenderen Form geführt werden wird.⁵ Mit dem Beginn der Entwicklung einer allgemeinen Hermeneutik als eigenständiger Disziplin – verstanden als Wissenschaft des Verstehens und Auslegens – wird immer wieder versucht, systematisch eine Art Prinzip zu entwickeln, das ein nachsichtiges Vorgehen bei der Interpretation zur Grundregel erklärt. Schon Johannes Clauberg erklärt dahingehend, dass die „allgemeinsten und höchsten Regeln der Interpretation sind: in Zweifelsfällen die gütigeren wählen; alle Auslegungsgründe berücksichtigen; mehrere Bedeutungen gelten lassen, wenn sie gleich wahrscheinlich sind; nicht ohne triftigen Grund verurteilen und nicht den geringfügigen Irrtum durch eine überscharfe Zurückweisung ahnden.“⁶ Noch spezifischer und geradezu frappierend aktuell ist die Formulierung Christian Weises aus dessen Werk Curieuse Fragen über die Logica von 1696: Der Hauptschlüssel zu allen zweiffelhafften und zweydeutigen Reden besteht in dieser Regel: Verba accipienda sunt cum effectu. Das heißt: wenn jemand etwas redet oder schreibet, so ist die Praesumption vorhanden, daß er unter solchen Worten was rechtes will verstanden haben, und daß er mit Wissen und Willen nichts setzen wird, daß einer öffentlichen Absurdität oder auch nur einer absurden Consequentz ähnlich scheinen möchte.⁷

promettoit la boite. C’est à dire que les matieres icy traictèes ne sont tant folastres, comme le titre au dessus pretendoit. Et posé le cas, qu’au sens literal vous trouvez matieres assez joyeuses et bien correspondentes au nom, toutesfois pas demourer là ne fault, comme au chant des Sirenes: ains à plus hault sens interpreter ce que par adventure cuidiez dict en gayeté de cueur. […] Pourtant interpretez touts mes faictz et mes dictz en la perfectissime partie.“ (Rabelais 1995, 47 ff.).  Rabelais 1974, 70.  Diese Zeitangabe ist grob. Die Diskussion um Verstehen und wohlwollende Interpretation gibt es seit der Antike, dennoch markieren die Schriften von Dannhauer und Clauberg so etwas wie die Geburtsstunde einer Hermeneutica generalis, weshalb ich im Text von 100 Jahren nach Rabelais spreche. Aktuelle historische Überblicke über die hermeneutische Tradition bieten Ferraris 1996, Scholz 1999, Jung 2001, Joisten 2009, Grondin 2009 und Detel 2011.  „Generalissimi novissimique interpretandi modi sunt, in dubiis benigniora eligere, per omnes exponendi rationes ire, plures aeque verisimiles sensus admittere, non sine justa causa damnare, nec levius erratum graviori refutatione persequi.“ (Clauberg 1968, 862) Die Übersetzung im Text stammt aus Scholz 1999, 41 f.  Weise 1696, 721.

1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“

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In den bekannteren und durch die Forschung mittlerweile recht gut erschlossenen Schriften der Aufklärungshermeneutik, v. a. bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier, wird ein solches Prinzip hermeneutischer Billigkeit⁸ schließlich sogar zum „obersten hermeneutischen Grundsatz“,⁹ zu einem „Prinzip aller Auslegungsprinzipien“¹⁰ erklärt.Wohlwollendes Interpretieren ist spätestens für Baumgarten und Meier eben nicht mehr nur ein optionales Entgegenkommen von Seiten des Interpreten, um das vom Autor im Stile einer rhetorischen captatio benevolentiae geworben werden muss (so wie es auch Rabelais in seiner oben zitierten Vorrede macht), sondern Grundprinzip jedes Interpretationsaktes. Ohne dem Autor eines Textes eine ganze Reihe von Vollkommenheiten zu unterstellen und ihn in dieser Hinsicht also wohlwollend oder nachsichtig auszulegen, ist es nach diesem Verständnis gar nicht möglich, zur richtigen Interpretation eines Textes zu gelangen.¹¹ Auch die an Martin Heidegger angelehnte „philosophische“ Hermeneutik des 20. Jahrhunderts – so bezeichnet Hans-Georg Gadamer im Untertitel seines Hauptwerks Wahrheit und Methode bekanntlich das eigene hermeneutische Projekt – bezeichnet eine Variante des Prinzips hermeneutischer Billigkeit als Annahme, „die alles Verstehen leitet“.¹² Gadamer spricht in diesem Kontext von einem „Vorgriff der Vollkommenheit“,¹³ der als „Axiom aller Hermeneutik“¹⁴ zu denken sei.¹⁵

 Die Untersuchung von Prinzipien hermeneutischer Billigkeit in sowohl formaler als auch inhaltlicher Hinsicht wird den Hauptteil der Arbeit bilden (vgl. v. a. die Abschnitte 2 und 3). Der Begriff „Prinzip hermeneutischer Billigkeit“ soll dementsprechend bis zu einer näheren Bestimmung in den entsprechenden Kapiteln bewusst eher vage und sehr weit gefasst sein und alle möglichen Varianten von Billigkeitsprinzipien, Nachsichtigkeitsprinzipien, Prinzipien hermeneutischen Wohlwollens, usw. (vgl. S. 16 für eine ausführliche Liste thematisch verwandter Differenzierungen des Billigkeitsprinzips) miteinschließen. Für die Belange der einleitenden Überlegungen reicht es aus, ein Prinzip hermeneutischer Billigkeit als Hinweis zu verstehen, der einen Interpreten dazu anhält, einen Interpretierten für weitgehend rational zu halten, bzw. eine zu interpretierende Äußerung (mündlich oder schriftlich) als rationale Äußerung zu verstehen.  Scholz 1999, 51.  Scholz 1999, 51.  Vgl. Rott 2000, 37: „Billigkeit und Nachsicht sind, […] so muß man Meier wie Davidson lesen, unerläßlich für das Verstehen und Interpretieren von sprachlichen Erzeugnissen. Insofern kann man sie als Vorureile a priori ansehen.“  Gadamer 2010, 299.  Gadamer 2010, 299, ebenso Gadamer 2010, 376.  Gadamer 2010, 376.  Näher zu Gadamers Verständnis des Billigkeitsprinzips vgl. Scholz 1999, 141, Scholz 2005, insbesondere 448 – 454, Künne 1990, insbesondere 213 – 217 und Hösle 2004.

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1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“

Von speziellem Interesse für den Kontext dieser Arbeit ist nun, dass das Prinzip hermeneutischer Billigkeit auch auf einem anderen Sektor zu mittlerweile recht großer Prominenz gelangt ist – und zwar in der analytischen Sprachphilosophie. 1959 von Neil Wilson unter dem Titel principle of charity in die in die Debatte eingeführt,¹⁶ finden sich in der Folge v. a. bei Willard van Orman Quine und Donald Davidson Bestimmungen des Billigkeitsprinzips, die die aktuelle sprachphilosophische Debatte maßgeblich prägen und durchaus als Aktualisierung der hermeneutischen Überlegungen verstanden werden können.¹⁷ Quine erwähnt den Begriff principle of charity in Word and Object eher en passant im Kontext seiner Überlegungen zu einer Übersetzungstheorie. Das principle of charity dient ihm als Maßgabe, die den Übersetzer dazu anhält, seine Übersetzung kritisch zu revidieren, sofern er durch sie dazu veranlasst werden würde, dem zu übersetzenden Sprecher „auffällig falsch[e]“¹⁸ Überzeugungen zuzuschreiben. Das Billigkeitsprinzip Quines artikuliert damit die Annahme, dass „die Dummheit des Gesprächspartners über einen bestimmten Punkt hinaus weniger wahrscheinlich ist als eine schlechte Übersetzung“.¹⁹ Davidson weitet den Geltungsbereich des principle of charity demgegenüber deutlich aus.²⁰ In seinem paradigmatischen Fall von radikaler Interpretation, in dem ein Interpret versucht, Äußerungen in einer ihm vollkommen unbekannten Sprache zu verstehen, rechtfertigt es die Anwendung des principle of charity, dem Interpretierten eine ziemlich große Menge von geglaubten und geäußerten Wahrheiten zu unterstellen. Wahren Sätzen in der unbekannten Sprache kann der Interpret wahre Sätze in seiner eigenen Sprache gegenüberstellen und auf diese Weise beginnen, ein Verständnis der fremden Sprache zu entwickeln, also zual Vgl. Wilson 1959.  Diese Verknüpfung wird durch die gemeinsame Thematisierung von Theoretikern der hermeneutischen Tradition und der aktuellen analytischen Sprachphilosophie etwa in Künne 1990 [Meier, Gadamer und Davidson], Scholz 1999 [Dannhauer, Clauberg, Weise, Thomasius, Crusius, Wolff, Baumgarten, Meier, Lambert, Bolzano und Wilson, Quine, Davidson, Grandy und Dennett], Rott 2000 [Meier und Davidson] oder Hösle 2004 [Gadamer und Davidson] ersichtlich. Auch Davidson 1993a, 7 weist darauf hin, dass seiner Ansicht nach zu Unrecht die verschiedenen Traditionen der Interpretationstheorie „eine Zeitlang getrennt, ja sogar feindselig erschienen“. Obwohl Davidson an dieser Stelle von einer Trennung von „zwei philosophischen Methoden und Einstellungen“ spricht, geht er eigentlich auf drei Traditionslinien ein. Dies sind neben der analytischen Philosophie in der Nachfolge Carnaps und Freges die Hermeneutik Gadamers und der amerikanische Pragmatismus Deweys.  Quine 1980, 114.  Quine 1960, 115.  Diese Behauptung vertritt Davidson auch selbst sehr explizit: „[…] das Prinzip der Nachsicht, das Quine nur im Zusammenhang mit der Identifikation der (reinen) Junktoren hervorhebt, wende ich ohne Einschränkung überall an.“ (Davidson 1984e, 199).

1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens

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lererst „in den hermeneutischen Zirkel hineinzukommen“.²¹ Die Anwendung des principle of charity ist für Davidson damit Möglichkeitsbedingung jeder Art von Verstehen.²² Davidsons transzendentaler Entwurf des Billigkeitsprinzips²³ ist in der aktuellen Debatte nach wie vor sowohl Gegenstand von Kritik, als auch Ausgangspunkt für Anschlussforschung, die versucht, das principle of charity durch Ergänzung und Modifikation – z. B. als principle of humanity – zu verteidigen bzw. zu verbessern.²⁴

1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens Diese schlaglichtartige Einführung soll zuallererst die zentrale Wichtigkeit des Billigkeitsprinzips sowohl für Theorieentwürfe der Hermeneutik als auch der philosophischen Interpretationstheorie v. a. analytischer Prägung deutlich machen. Argumentationen aus der philosophischen Interpretationstheorie lassen sich aber dennoch nicht ohne weiteres auf die philologische Hermeneutik übertragen, was zuallererst an der unterschiedlichen Besetzung des Interpretationsbegriffs liegt. Zunächst gilt es grundlegend zwischen einem erkenntnistheoretischen Interpretationsbegriff und einem technischen Interpretationsbegriff zu unterscheiden.²⁵ Interpretation im erkenntnistheoretischen Sinn soll in der Folge

 Heidegger 1979, 153. Zu dieser ausnehmend gut passenden Formulierung sei angemerkt, dass Heidegger weder Hermeneutik noch den hermeneutischen Zirkel in der üblichen Art und Weise versteht. Hermeneutik wird im Folgenden nicht an Heidegger anschließend in einer ontologischen Dimension gedacht werden, auch Heideggers Einschätzung des hermeneutischen Zirkels als eines circulus vitiosus ist nicht zwingend überzeugend (vgl. hierzu Rott 2000, 33 und 41 f.).  Zur Rolle des principle of charity innerhalb der Interpretationstheorie Davidsons vgl. ausführlich Abschnitt 2.1.1.  Ich werde in der Folge „transzendental“ als Synonym zu „die Bedingung der Möglichkeit betreffend“ verwenden – in diesem Sinne ist eine transzendentale Variante des Billigskeitsprinzips eine, die das Billigkeitsprinzip als Möglichkeitsbedingung von Verstehen begreift.  Vgl. kritisch etwa McGinn 1977, Bennett 1985, Devitt, Sterelny 1999 und Glock 2003. Für einschlägige Weiterentwicklungen vgl. Grandy 1973 und Lewis 1983b und Lewis 1983c.  Diese Differenzierung richtet sich im Wesentlichen nach Ausführungen Axel Sprees, dessen sinnvolle Terminologie ich leicht abgeändert übernehme. (Vgl. Spree 1995, 44– 51) Ähnliche begriffliche Unterscheidungen treffen Müller-Vollmer 1983, 98 f. und Abel 1988, 51 f. MüllerVollmer spricht von „impliziter“ bzw. „expliziter“ Interpretation, Abel kennzeichnet in der oben explizierten Hinsicht zu differenzierende Typen von Interpretation mit fortlaufenden Indizes. „Technische“ Interpretation in diesem Sinne ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem Verständnis „technischer“ Interpretation bei Schleiermacher, der zwischen Auslegung als „technischer“ oder „psychologischer“ Interpretation und Auslegung als „grammatischer“ In-

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1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“

verstanden werden als „Merkmal jeder Wahrnehmung und Erkenntnis“,²⁶ der Begriff soll sich beziehen auf den grundlegenden Umgang des Menschen mit der Welt. Fragen in diesem Kontext betreffen z. B. die Möglichkeitsbedingungen von Verstehen überhaupt, die (Un)Möglichkeit „interpretationsfreier“ Erkenntnis oder einen möglicherweise existierenden lebenspraktischen Zwang des Menschen zur Interpretation. Ein solches erkenntnistheoretisches Verständnis von Interpretation liegt Aussagen zugrunde, die erklären, dass der Mensch schon aufgrund seiner Eigenschaft, Mensch zu sein, auf „Interpretieren und Auslegen gar nicht verzichten [kann]. Er existiert interpretierend, und es gibt für ihn keinen anderen Zugang zur Welt und zum Leben.“²⁷ Welche Position in Hinblick auf derartige Fragen auch immer vertreten wird, zur Debatte steht ein Begriff von Interpretation als Bezeichnung für einen grundlegenden epistemischen Vorgang, der oft auch dann gemeint ist, wenn ohne Weiteres von als unproblematisch empfundenem Verstehen die Rede ist.²⁸ Davon zu unterscheiden ist die technische Interpretation, die nach einer Formulierung Klaus Weimars im Weiteren aufgefasst werden kann als ein „Verstehen von Verstandenem, ein Verstehen zweiter Stufe“.²⁹ Technische Interpretation bezeichnet also der erkenntnistheoretischen Interpretation gegenüber einen nachgeordneten, tendenziell reflexiv aufwändigeren und elaborierteren Interpretationsakt, der durch bestimmte Regeln einer wissenschaftlichen Me-

terpretation unterscheidet. Vgl. genauer zu Schleiermachers Interpretationsbegriffen Scholz 1999, 68 – 74, v. a. 71.  Spree 1995, 46.  Scholtz 1992/93, 109. Auch Nietzsche 1980, 315 legt einen erkenntnistheoretischen Interpretationsbegriff an, wenn er erklärt: „Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt, ‚es giebt nur Thatsachen‘, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.“  Die Meinung, dass es sich bei erkenntnistheoretischer Interpretation nicht um Interpretation im eigentlichen Sinn handelt, vertritt Currie 2003, 291: „I do not interpret the literal meaning of your utterance when you speak to me in my native language, […] nor a coded message when I assign meaning on the basis of a rule or calculation that is applied mechanically.“  Weimar 2002, 110. Weimars eingängige Formulierung ist im ersten Teil präziser als im zweiten Teil. Mit dem Nachsatz „Verstehen zweiter Stufe“ paraphrasiert Weimar lediglich die Formulierung „Verstehen von Verstandenem“ und thematisiert kein Verstehen auf einer Metaebene, also kein Verstehen des Verstehensprozesses, was die Formulierung der „zweiten Stufe“ in der philosophischen Diskussion manchmal nahelegt. Frankfurt 2001b, 67 spricht z. B. im Kontext der Willensfreiheitsdebatte von „Wünschen erster und Wünschen zweiter Stufe“. Von Wünschen erster Stufe ist die Rede, wenn jemand „dies und das tun oder nicht tun möchte“, von Wünschen zweiter Stufe, „wenn er einen bestimmten Wunsch erster Stufe haben oder nicht haben möchte“.

1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens

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thodologie zu fundieren ist. Implizit wird damit angenommen, dass es möglich ist, einen Text zu verstehen ohne ihn technisch zu interpretieren – das „Verstehen des Textes, das Erfassen des Wortlauts, [ist dann] möglich unabhängig von seiner Interpretation.“³⁰ Üblicherweise findet der technische Interpretationsbegriff Anwendung z. B. in der juristischen Gesetzesauslegung, der theologischen Bibelexegese oder eben in der Geisteswissenschaft, speziell in der Literaturwissenschaft. Philologische Interpretation verstehe ich im Folgenden als eine Unterkategorie technischer Interpretation, die speziell literarische Texte als Interpretanda auszeichnet.³¹ Deckungsgleich sind die Begriffe technischer und philologischer Interpretation deshalb nicht, da nicht alle Interpretationsobjekte technischer Interpretation literarischer Art sind. Es ist denkbar, dass man auch für die Interpretation eines Gesetzestextes, eines Witzes, eines Kalenderspruchs, einer hintersinnigen Äußerung oder einer ironischen Passage in einem nicht-literarischen Text auf technische Interpretation zurückzugreifen hat, um den Sinn des Interpretandums angemessen erschließen zu können. Derartige Interpretationsprozesse als philologisch zu bezeichnen, scheint mir eine wenig sinnvolle Ausweitung des Philologiebegriffs. Damit ist eine erste Unterscheidung etabliert, die für die Belange der folgenden Überlegungen allerdings noch nicht genau genug ist. Das zwischen den Begriffen erkenntnistheoretischer und philologischer Interpretation aufgespannte Spektrum umfasst derart viele unterschiedliche Verstehensoperationen, die nicht eindeutig einer der beiden Varianten zugeordnet werden können, dass eine weitere Differenzierung nötig ist, um den jeweiligen Geltungsbereich näher zu bestimmen. Eine solche Präzisierung lässt sich erreichen, indem man die Begriffe erkenntnistheoretischer und philologischer Interpretation innerhalb eines umfassenden Stufenmodells von Verstehen verortet, das die zwischen den Endpunkten liegenden Verstehensoperationen näher charakterisiert. Ein solches Stufenmodell des Verstehens eines Interpretandums I kann folgende Form haben:³² 1) Perzeptuelles Verstehen von I 2) Verstehen von I als Zeichen 3) Verstehen von I als sprachliches Zeichen

 Spree 1995, 48.  Filme, Theateraufführungen, etc. können an dieser Stelle in anspruchslosem Sinn (also ohne damit irgendwelche Aussagen über die Reichweite des Textbegriffs machen zu wollen) als literarische Texte gelten.  Solche Stufenmodelle haben in untescheidlichen Variationen unter anderem Künne 2008, Scholz 1999, v. a. 290 – 312, oder Scholz 2012, 140 f. vorgeschlagen. Ich beziehe mich in der Folge im Wesentlichen auf die dortigen Überlegungen, speziell auf Scholz 1999, 294– 312.

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1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“

4) Verstehen von I als sprachliches Zeichen innerhalb einer Sprache L 5) Verstehen des potentiellen Sinns von I in L 6) Verstehen des konkreten Sinns von I in L im Kontext K 7) Verstehen des propositionalen Gehalts von I 8) Verstehen der Illokution von I 9) Verstehen des pragmatisch implizierten Sinns von I 10) Verstehen von I als sekundäres Zeichen Zu 1) Perzeptuelles Verstehen von I: Um I angemessen verstehen zu können, ist es nötig, dass der Interpret I zuallererst angemessen wahrnimmt. Wer eine sprachliche Äußerung akustisch nicht verstehen kann oder einen Text aus bestimmten Gründen nicht lesen kann (etwa weil er seine Brille vergessen hat oder weil die Druckqualität zu schlecht ist etc.), hat es mit einer nicht-verstehbaren Äußerung bzw. einem uninterpretierbaren Text zu tun, allerdings in einem hermeneutisch uninteressanten Sinn. Wichtig ist, dass dieses perzeptuelle Verstehen unabhängig von einer semantischen Dimension des Verstehens aufzufassen ist. Perzeptuelles Verstehen wäre bereits dann erfolgreich, wenn ein Interpret eine bestimmte Lautfolge aufgrund seines akustischen Eindrucks richtig wiedergeben kann, ohne zu wissen, was das Gehörte bedeuten soll, oder sogar ohne zu wissen, ob das Gehörte überhaupt etwas bedeutet. Zu 2) Verstehen von I als Zeichen: I als Zeichen zu verstehen heißt, diese eben angesprochene Art des Verständnisses zu überschreiten. Sofern ein Interpret I als Zeichen versteht, ist ihm bewusst, dass I Verweisungscharakter hat und dementsprechend für weitere Verstehensprozesse interessant sein könnte. Als Beispiel mag man sich einen Archäologen vorstellen, der mit der Frage konfrontiert ist, ob bestimmte Einkerbungen auf einem Stein lediglich durch natürliche Verwitterungsprozesse entstanden sind, oder von einer vergangenen Zivilisation als Zeichen gedacht waren. Gibt es sichere Hinweise für den letzteren Fall, versteht der Archäologie die Einkerbungen als Zeichen. Zu 3) Verstehen von I als sprachliches Zeichen: Das Verstehen von I als Zeichen ist noch nicht unmittelbar gleichzusetzen mit dem Verstehen von I als sprachlichem Zeichen. Der Archäologe von eben mag beispielsweise gute Gründe für die Annahme haben, die Einkerbungen seien Zeichen, ohne dass ihm schon klar sein muss, ob es sich dabei um sprachliche Zeichen, Zahlen oder um eine Landkarte handelt. Zu 4) Verstehen von I als sprachliches Zeichen innerhalb einer Sprache L: Auf das Verstehen von I als sprachliches Zeichen folgt die Verortung Is innerhalb einer bestimmten Sprache L. Eine Situation, in der Verstehen der ersten drei Stufen gewährleistet ist, die vierte Stufe jedoch noch nicht erreicht ist, lässt sich leicht konstruieren. Hört man im Zugabteil die Unterhaltung einer Gruppe Fremder mit

1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens

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an, hat man durchaus gute Gründe anzunehmen, dass die von ihnen geäußerten Lautfolgen sprachliche Zeichen sind, allerdings muss einem dennoch nicht klar sein, in welcher Sprache sich die betreffenden Personen unterhalten. Analog für schriftliche Äußerungen wäre etwa das zufällige Finden eines Notizbuchs, dessen Einträge ziemlicher sicher in einer bestimmten Sprache verfasst sein werden, ohne dass dem Finder klar sein muss, welche Sprache das ist. Zu 5) Verstehen des potentiellen Sinns von I in L: Ein Interpret, der den potentiellen Sinn von I in L verstanden hat, weiß, was I in der jeweiligen Sprache L bedeuten kann. Dieses Verstehen äußert sich beispielsweise in der Fähigkeit, Synonymie zu erkennen, oder einen Satz korrekt übersetzen zu können, zumindest sofern die Übersetzung keinen der potentiellen Sinne unterschlägt. Zu 6) Verstehen des konkreten Sinns von I in L im Kontext K: Das Verstehen des konkreten Sinns von I in L im Kontext K unterscheidet sich von dem bloßen Verstehen des potentiellen Sinnes von I in L dadurch, dass nicht alle potentiellen Sinne in allen Kontexten gleich relevant sind. Der Interpret muss dementsprechend eine Disambiguierung von I vornehmen, die auf K angepasst ist. Ein Beispiel: Der Satz „Ludwig Thoma erkrankte 1915 an der Ruhr“ könnte in Hinblick auf seine potentielle Bedeutung in L zu paraphrasieren sein mit „Ludwig Thoma erkrankte 1915 am Fluss Ruhr (an einem nicht näher bestimmten Leiden)“ oder mit „Ludwig Thoma erkrankte 1915 an der Krankheit Ruhr (an einem nicht näher bestimmten Ort)“. Obwohl beide unterschiedlichen Bedeutungen linguistisch möglich sind, wird der Interpret in einem üblichen Äußerungskontext den Satz im Sinne der zweiten Paraphrase verstehen, da sich Thoma zu dieser Zeit gut 1000 Kilometer vom Ruhrgebiet entfernt in Galizien aufhielt und tatsächlich an der Bakterienruhr erkrankt war. Ein Interpret, dem dieses Wissen fehlt, wird diese Disambiguierung nicht leisten können und damit vorerst nicht in der Lage sein, die sechste Verstehensstufe zu erreichen. Zu 7) Verstehen des propositionalen Gehalts von I: Der Fall indexikalischer Ausdrücke macht deutlich, dass es möglich ist, I im Sinne von Stufen fünf und sechs verstanden zu haben, ohne dass man weiß, was mit I genau ausgesagt ist. Auch wenn innerhalb eines gegebenen Kontexts klar ist, dass der Satz „Seit letztem Monat sind unsere Banken marode“ nichts mit dem morschen Zustand von Parkbänken, sondern mit Liquiditätsproblemen von Geldinstituten zu tun hat, bleibt im selben Kontext möglicherweise immer noch unklar, was mit dem Satz genau ausgesagt ist. Solange der Interpret nicht weiß, seit wann wessen Geldinstitute Probleme haben, hat er den Satz im Sinn von Stufe sieben noch nicht verstanden. Da die Bedeutung des Satzes von der Konkretisierung der indexikalischen Ausdrücke („seit letztem Monat“ und „unsere Banken“) abhängen wird, ist ein Verständnis des konkreten Sinns von I in L im Kontext K unter Umständen noch

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1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“

nicht ausreichend, um den propositionalen Gehalt des Satzes, also das durch ihn Gesagte, verstehen zu können. Zu 8) Verstehen der Illokution von I: Verstehen der achten Stufe ist erreicht, sofern wir zusätzlich die illokutionäre Rolle von I bestimmen können. Solange wir nicht wissen, ob der Satz „Ich besuche dich morgen zuhause“ eine neutrale Behauptung, ein Versprechen oder eine Drohung sein soll, haben wir den Satz in einer entscheidenden Hinsicht nicht verstanden, auch wenn wir den propositionalen Gehalt kennen. Zu 9) Verstehen des pragmatisch implizierten Sinns von I: Die neunte Stufe des Verstehens bezieht schließlich eine Art von „Verstehen des Verstandenen“³³ mit ein. Es gibt Fälle, in denen die Stufen eins bis acht problemlos durchlaufen werden können und man dementsprechend mit gutem Recht behaupten kann, I verstanden zu haben, ohne dass damit ein vollständiges Verstehen von I erreicht wäre. Scholz fasst diesen Eindruck passend zusammen: „Man mag den propositionalen Gehalt und die illokutionäre Rolle einer Äußerung korrekt verstanden haben und sie nichtsdestoweniger in anderer Hinsicht doch nicht verstehen. Die Äußerung erscheint auf eine besondere Art sinnlos, nämlich unverständlich im Sinne von ‚witzlos‘, obgleich der Satz durchaus grammatisch korrekt und sprachlich sinnvoll ist und auch der Modus klar ist. Wir erkennen einfach nicht, welche Relevanz oder Pointe die Äußerung haben soll.“³⁴

Der Grund für dieses Nicht-Erkennen der Relevanz oder Pointe einer Äußerung besteht in einem Mangel an intentionaler Begründung, also darin, dass wir nicht erkennen können, wieso eine interpretierte Person unter bestimmten Bedingungen I geäußert haben könnte. Unverständlichkeit auf dieser Ebene kann viele Gründe haben.Wir werden uns etwa in gleichem Maß wundern, wenn jemand den Satz „Ich lebe“ äußert, also etwas (allzu) offensichtlich Wahres sagt, oder wenn jemand den Satz „Ich bin tot“ äußert, also etwas (allzu) offenkundig Falsches sagt. In beiden Fällen werden wir einigermaßen aufwändige interpretative Anstrengungen darauf verwenden müssen, die „Pointe“ der Aussage unseres Gesprächspartners zu verstehen, der womöglich sagen will, dass er gerade sein Leben in vollen Zügen genießt, oder extrem erschöpft ist etc. Zu 10) Verstehen von I als sekundäres Zeichen: Das Verstehen von I als sekundärem Zeichen ist eine Form des Verstehens, die nicht in allen Äußerungskontexten relevant ist.³⁵ Für das Verstehen von Metaphern, anderen Tropen, und

 Weimar 2002, 110.  Scholz 1999, 310.  Vgl. zu „sekundären Zeichen“ Jannidis 2004, 78 f. Ausführlicher dazu vgl. Abschnitt 4.1.

1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens

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allgemeiner, für das Verstehen literarischer Texte ist diese Stufe jedoch von großem Interesse. Die Schilderung des bekannten grünen Lichts am Dock in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby stünde in dieser Hinsicht nicht nur (als primäres Zeichen) für ein Licht, sondern, qua sekundäres Zeichen, für die Hoffnungen und Träume Gatsbys.³⁶ In anderer Terminologie beschreibt auch Wolfgang Detel diese Verstehensstufe als wesentlich für das Verstehen von literarischen Texten: „Technischer ausgedrückt ist das Verstehen eines physikalischen Textes gewöhnlich eine einfache Metarepräsentation, während das Verstehen eines literarischen Textes meist höhere metarepräsentationale Stufen enthält (mindestens Metarepräsentationen dritter Ordnung).“³⁷ Der erkenntnistheoretische Interpretationsbegriff umfasst tendenziell die unteren Stufen dieses Verstehensmodells, der technische tendenziell die höchsten, wobei nicht allgemein und trennscharf entschieden werden kann, wie viele davon jeweils genau mit einbezogen werden sollten. Wichtige Übergänge innerhalb des Modells sind der von Stufe 4 auf Stufe 5 und der von Stufe 8 auf Stufe 9. Im Übergang von Stufe 4 auf 5 erreicht das Verstehen erstmals eine semantische Dimension. Der Übergang von Stufe 8 auf 9 geht zumeist mit einem erhöhten reflexiven Aufwand einher und bringt damit eine weitere, „besondere Art“³⁸ von Verstehen ins Spiel, die  Jannidis 2004, 77 f. eigenes Beispiel ist weniger schablonenhaft, aber auch weniger klar: „Der materiale Text ist die Grundlage für die Erzeugung der narrativen Welt (erste Zeichenebene), deren Phänomene wiederum Zeichen sein können (zweite Zeichenebene). Wenn es z. B. von Hanno Buddenbrooks Mutter Gerda heißt, ‚in den Winkeln der nahe beieinanderliegenden braunen Augen lagerten bläuliche Schatten‘, dann ist das zum einen die Beschreibung der Augen, zum anderen aber charakterisiert es sie als nervösen Typus.“ Weniger klar ist dieses Beispiel deshalb, da die bläulichen Schatten erstens nicht die zentrale Bedeutung in den Buddenbrooks haben, die das grüne Licht im Great Gatsby hat und dementsprechend die Identifikation als sekundäres Zeichen weniger eindeutig ist. Zweitens ist der Verweis bläulicher Schatten in den Augenwinkeln auf die Eigenschaft, nervös zu sein, deutlich weniger offensichtlich als der Verweis eines grünen Lichts auf die Hoffnungen und Träume dessen, der es sehnsüchtig betrachtet. Vgl. zu diesem Kontext deutlich ausführlicher Abschnitt 4.1.  Detel 2011, 404. Für Detel ist Verstehen an sich schon ein metarepräsentationaler Akt, und zwar in dem Sinn, dass er sich auf das Repräsentieren einer Repräsentation bezieht – das, was in der Welt der Fall ist, wird durch einen mentalen Zustand repräsentiert, diese Repräsentation wird wiederum durch bestimmte Zeichen repräsentiert, welche dann im Verstehensprozess erfasst werden müssen. Wenn in einem literarischen Text enthaltene Zeichen dann nicht nur auf das verweisen, worauf sie als primäre Zeichen üblichen Konventionen entsprechend verweisen („grünes Licht“ auf ein grünes Licht), sondern auf etwas darüber hinaus Gehendes (auf die Hoffnungen und Träume dessen, der das Licht betrachtet), ist eine weitere Verweisungs- bzw. Repräsentationalitätsstufe erreicht, weswegen Detel von „Metarepräsentationen dritter Ordnung“ spricht.  Scholz 1999, 310.

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in Scholz’ Darstellung die Erkenntnisziele technischer Interpretation aufruft. Stufe 10 verstärkt diese Tendenz, spätestens hier ist von technischer bzw. philologischer Interpretation im oben explizierten Sinn zu sprechen. Mein Vorschlag ist, die Stufen 1 bis 4 dem Feld erkenntnistheoretischer Interpretation zuzuschlagen, die Stufen 5 bis 8 als Grauzone zu verstehen und erst Stufe 9 und 10 als Aufgabenbereich technischer bzw. philologischer Interpretation auszuzeichnen. Es mag diskutabel sein, ob es zum Wesen des Menschen gehört, unmittelbar den potentiellen Sinn von Äußerungen in einer bekannten Sprache im Sinne von Stufe 5 zu verstehen, oder ob es bereits aufwändiger, möglicherweise sogar regelgeleiteter Interpretationsvorgänge bedarf, um die Illokution besonders komplexer Aussagen im Sinne von Stufe 8 aufzudecken. Dies sind nicht zuletzt empirisch zu beantwortende Fragen, die im Einzelfall von der Komplexität des Interpretandums, von Kontextbedingungen oder auch vom mentalen Zustand des Interpreten abhängen werden. Eine diesbezügliche Festlegung – sofern eine solche auf theoretischer Ebene überhaupt getroffen werden kann – werde ich vermeiden und nur von niedrigen und hohen Verstehensstufen sprechen, ohne dass damit eine eindeutige Festlegung verbunden sein soll. Was festgehalten werden kann ist, dass sich technische Interpretation auf ein Verstehen im Sinne der höheren Stufen konzentriert und gerade in den Fällen nötig ist, in denen es Schwierigkeiten im Verständnis von I in diesem Sinn gibt. Speziell der philologische Interpret, der es klassischerweise mit Interpretanda zu tun hat, deren „Pointe“ besonders schwer zu fassen ist und deren Zeichengehalt oft im Sinne sekundärer Zeichen zu verstehen ist, hat in aller Regel die unteren Verstehensstufen bereits durchlaufen und fragt sich dennoch, wie das „Verstandene“ denn zu verstehen sein könnte. Ein Brief, den Kafka 1917 von dem promovierten Politikwissenschaftler Siegfried Wolff erhält, eignet sich als erhellendes (und amüsantes) Beispiel zur Illustration dieser These: Sehr geehrter Herr, Sie haben mich unglücklich gemacht. Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte aber nicht zu erklären. Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. Die Mutter hat das Buch meiner anderen Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung. Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos. Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit den Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meinen Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüg ich nicht. Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat.

1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens

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Mit vorzüglichster Hochachtung Ergebenst Dr Siegfried Wolff ³⁹

Für nahezu alle kompetenten Leser – auch für den bemitleidenswerten Dr. Wolff und seine ratlosen Cousinen – ist nachvollziehbar, was in Kafkas Verwandlung passiert. Alle Sprecher des Deutschen wissen, was Prokuristen, Verwandlungen und Käfer sind, ein Verstehen im Sinne der unteren Stufen ist nicht problematisch. Die paradigmatische hermeneutische Überforderung, das typische, weitere Verstehensoperationen bedingende „Das verstehe ich nicht“ als Reaktion auf Literatur wie Kafkas Verwandlung existiert aber trotzdem, sie beginnt bei der reflexiven und bewussten interpretativen Verarbeitung der verstandenen Information. Die philologische Dimension der Interpretation, das „Verstehen des Verstandenen“⁴⁰ wird gerade dann auf den Plan gerufen, wenn basalere Verstehensvorgänge zu keinem befriedigenden Verständnis führen und es Schwierigkeiten gibt, umfassendes Verständnis im Sinne aller Verstehensstufen zu erreichen. Die das Verstehen insgesamt problematisierenden Strukturen literarischer Texte werden nämlich üblicherweise nicht als Mangel begriffen, oder „als Aufforderung zur Korrektur oder gar zur Zurückweisung als unverständliche Äußerung verstanden, sondern als Aufforderung, trotzdem Sinn in die Sache zu bringen, indem nach anderen als den standardisiert üblichen semantischen Verknüpfungsmöglichkeiten, nach neuen Möglichkeiten der lexikalischen Solidarisierung gesucht wird“.⁴¹ Gerade da philologische Interpretation im Unterschied zu basalem Verstehen nicht gewissermaßen von selbst abläuft und erst dann angestrebt wird, wenn das Verstehen als schwierig oder problematisch empfunden wird, ist es sinnvoll, die Abläufe philologischer Interpretation methodologisch möglichst genau zu strukturieren. Billigkeitsprinzipien können – so die Leitthese der folgenden Überlegungen – die Basis einer philologischen Hermeneutik bilden, die genau dieses von Rüdiger Zymner benannte „trotzdem Sinn in die Sache […] bringen“ anleitet. Eine Vielzahl von interpretationstheoretischen Arbeiten gerade aus dem Bereich der Literaturwissenschaft legt implizit diesen Begriff von technischer bzw. philologischer Interpretation an, wenn von Interpretation überhaupt gesprochen wird. Exemplarisch Robert Stecker: „When we understand straight away, no interpretation is needed.When answering the relevant interpretive question requires

 Der Brief ist datiert auf den 10.04.1917, hier zitiert nach Stach 2008, 147.  Weimar 2002, 110.  Zymner 2003, 143.

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some figuring out, some formulating of hypotheses, interpretation occurs.“⁴² Da es gerade die unteren Verstehensstufen sind, die tendenziell unproblematisch und straight away ablaufen, beginnt auch für Stecker die eigentliche Interpretation erst dann, wenn es Probleme gibt, umfassendes Verstehen zu erreichen. Die vorgeschlagene Differenzierung erlaubt es an dieser Stelle, Missverständnisse zu vermeiden. Wenn Ian Hacking also analog zu Stecker behauptet, dass die „große Mehrzahl der Dinge, die wir in gewöhnlicher Unterhaltung zu unseresgleichen sagen, […] überhaupt nicht interpretiert [wird]“,⁴³ ist damit natürlich nicht gemeint, dass diese Mehrzahl der Aussagen überhaupt nicht verstanden wird, sondern nur, dass sie keinem technischen, also elaborierten und methodologisch fundierten Interpretationsprozess im Sinne der höheren Verstehensstufen unterliegt. Außerdem erlaubt die Differenzierung der Interpretationsbegriffe auch eine präzisere Bewertung interpretationskritischer Theoriekonzepte. Es scheint mir sinnvoll, auch radikal interpretationskritischen Positionen eine implizite Unterscheidung zwischen erkenntnistheoretischer und technischer Interpretation zuzuschreiben. Bezieht man beispielsweise Susan Sontags Sichtweise, dass das „Verdienst“ literarischer Werke „sicherlich nicht in ihrer ‚Bedeutung‘“⁴⁴ liege und es dementsprechend angebracht sei, Literatur nicht zu interpretieren, sondern sich stattdessen sinnlich auf eine „Erotik der Kunst“⁴⁵ einzulassen, auf die erkenntnistheoretische Dimension von Interpretation, ist der Standpunkt nicht überzeugend. Sofern Sontags bekanntes Diktum Against Interpretation auch die Aufforderung beinhalten würde, von einem Erklimmen der unteren Stufen des Verstehensmodells abzusehen, hieße das in Zweifel zu ziehen, dass die Bedeutung eines Textes Teil seines Wesens als künstlerisches Artefakt ist, was letztlich absurd

 Stecker 2003, 20.  Hacking 1990, 234. In dieselbe Richtung auch Stecker 2003, 20: Nicht ganz eindeutig – und damit als Hinweis zu verstehen, dass eine terminologische Klärung nützlich ist – ist Davies 2006, 109: „When the significance of something is not apparent on its face, interpretation is involved in seeking to explain and understand it. Because there is a great deal we wish to comprehend, interpretation is a perennial human occupation.“ Während der erste Satz darauf hindeutet, dass Davies wie Stecker oder Hacking Interpretation als Handlung ansieht, die nur dann von Nöten ist, wenn etwas nicht von vornherein klar ist („apparent on its face“), legt der zweite Satz eher die Lesart nahe, dass eine bestimmte Art der Interpretation (in meiner Terminologie: Interpretation in ihrer erkenntnistheoretischen Dimension) so gut wie immer beteiligt ist, sofern wir in Kontakt mit unserer Umwelt treten („interpretation is a perennial human occupation“).  Sontag 2008, 183.  Sontag 2008, 189.

1.2 Billigkeitsprinzipien und der Aufbau der Untersuchung

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wirken muss.⁴⁶ Es ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht einmal klar, inwiefern ein literarischer Text überhaupt als solcher identifiziert werden kann, ohne ihn im Sinne der unteren Stufen zu verstehen. Den Unterschied zwischen zwei Romanen allein auf so etwas wie die möglicherweise ästhetisch ansprechende Anordnung von Buchstaben – wohlgemerkt Buchstaben als nicht einmal erkenntnistheoretisch interpretierte und damit bedeutungslose schwarze Punkte auf weißem Papier – zu gründen, ist gelinde gesagt kontraintuitiv. Einen Text als Text zu erkennen setzt einen interpretativen Umgang im erkenntnistheoretischen Sinn also schon voraus.⁴⁷ Beschränkt auf die philologische Interpretation ist der Einwand Sontags eher nachvollziehbar. Da kein grundsätzlicher Zwang zur philologischen Interpretation besteht und man sich dementsprechend als Leser auch dazu entscheiden kann, einen literarischen Text nicht philologisch zu interpretieren und sich einfach nicht zu fragen, was denn die Bedeutung des möglicherweise im Sinn der höchsten Stufen noch nicht Verstandenen sein könnte, ist die Argumentation zumindest prinzipiell nicht fehlerhaft – ob sie überzeugend ist, steht auf einem anderen Blatt.

1.2 Billigkeitsprinzipien und der Aufbau der Untersuchung Die folgenden theoretischen und methodologischen Überlegungen werden sich überwiegend auf Interpretation im philologischen Sinn beziehen und dabei ihren Ausgang von hermeneutischen Billigkeitsprinzipien nehmen, deren zentrale Stellung im Rahmen der allgemeinen Hermeneutik und der philosophischen Interpretationstheorie einleitend bereits deutlich wurde. Besonderes Augenmerk wird auf den Fragen liegen, welcher Stellenwert Billigkeitsprinzipien im Rahmen des Sonderfalls philologischer Interpretation zugeschrieben werden sollte, welche Struktur sie in diesem Kontext haben und wie sie inhaltlich zu konkretisieren sein könnten. Obwohl die methodologische Notwendigkeit, Billigkeitsprinzipien angemessen innerhalb der philologischen Hermeneutik zu verorten, offenkundig ist,⁴⁸

 Dies deutet auch Sontag 2008, 179 selbst an, wenn sie ihren Interpretationsbegriff dahingehend einschränkt: „Natürlich spreche ich nicht von Interpretationen in jenem weitesten Sinne, in dem Nietzsche das Wort gebraucht, wenn er (zu Recht) sagt, es gäbe keine Fakten, es gäbe nur Interpretationen.“  Diese Darstellung von Sontags Kritik ist natürlich stark verkürzt. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.4.3, außerdem Spree 1995, 59 – 89 und Tepe 2007, 336 – 344.  Spoerhase 2007, 6 f. versucht in seiner wegweisenden Arbeit Autorschaft und Interpretation dementsprechend die zweigeteilte methodologische Grundlagenthese, dass „eine Interpretation

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steht der Versuch einer Übertragung allgemein hermeneutischer und sprachphilosophischer Erkenntnisse auf die philologische Interpretation vor einer Reihe von Problemen. Die ersten Probleme sind terminologischer Art. Bei einer Zusammenschau der verschiedenen Arbeiten zum Billigkeitsprinzip fällt wenig überraschend auf, dass die Debattenkonstellation aufgrund der langen, sich über Disziplingrenzen hinweg erstreckenden Tradition terminologisch äußerst uneinheitlich geworden ist. Carlos Spoerhase listet eine repräsentative Reihe von konkurrierenden bzw. inhaltlich oft nicht klar voneinander abgegrenzten Billigkeitsprinzipien auf, die diese Diagnose eindeutig unterstreicht. Thema ist je nach Spezialkontext z. B. ein „‚Prinzip hermeneutischer Großzügigkeit‘, ‚Prinzip hermeneutischen Wohlwollens‘, oder ‚Nachsichtigkeitsprinzip‘ […] ‚principle of charity‘, ‚principle of rationality‘, ‚principle of rational accommodation‘, ‚assumption of rationality‘, ‚systematic ameliorative method‘, ‚principle of humanity‘, ‚principle of benefit of (the) doubt‘ […] ‚hyper-protected cooperative principle‘ […] ‚regula caritas‘, ‚aequitas hermeneutica‘ oder ‚benigna interpretatio‘.“⁴⁹ Ohne auf all diese Spielarten im Einzelnen einzugehen, werde ich im Anschluss an diese Vorüberlegungen eine systematische Kategorisierung diverser Varianten von Billigkeitsprinzipen vorschlagen, so dass klar wird, was genau jeweils mit der allgemeinen und potentiell vagen Rede von einem Billigkeitsprinzip gemeint sein soll. Der Begriff ist nach meinem Dafürhalten ohne weitere Präzisierung in einem doppelten Sinn unspezifisch. Es ist weder klar, was genau unter Prinzip, noch was genau unter Billigkeit verstanden werden soll. Diese doppelte Ungenauigkeit aufgreifend werde ich Fragen nach dem Prinzip hermeneutischer Billigkeit von Fragen nach hermeneutischer Billigkeit unterscheiden. Kapitel 2 wird zunächst versuchen, zu einer formalen Konkretisierung von Billigkeitsprinzipien im Kontext der philologischen Hermeneutik zu kommen, ohne dabei schon Aussagen über deren Inhalt zu machen. Kapitel 3 wird sich daran anknüpfend darauf konzentrieren, die mir am vielversprechendsten scheinende Konkretisierung von Billigkeitsprinzipien als Präsumtionen inhaltlich weiter auszubuchstabieren. In beiden Kapiteln ist auf eine Reihe von Problemkonstellationen einzugehen: Fraglich ist z. B. aus formalstruktureller Perspektive, inwiefern ein Prinzip, das etwa bei Davidson einen initialen Einstieg in interpretative Prozesse ermöglicht, im Fall der philologischen Textinterpretation überhaupt eine Rolle spielen kann. Die paradigmatische Situation eines Literaturinterpreten ist, wie oben dargelegt, gerade nicht dadurch literarischer Artefakte erstens immer auch auf die Normkonformität des Artefakts Bezug nimmt und dieser Bezug zweitens immer auch einen Rückgriff auf Autorschaft impliziert“ mittels einer „Untersuchung des Prinzips hermeneutischer Billigkeit“ zu fundieren.  Spoerhase 2007, 237.

1.2 Billigkeitsprinzipien und der Aufbau der Untersuchung

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charakterisiert, dass grundlegende Verständnisprobleme mit der Bedeutung des Textes im Sinne der niedrigen Stufen des Verstehens auftreten – jeder, der der entsprechenden Sprache mächtig ist, versteht im Großen und Ganzen den Wortlaut des Textes. Hat er damit aber nicht jene tabula-rasa-Phase bereits verlassen, in der das Billigkeitsprinzip bei Davidson hilfreich ist? Sollten für speziell literaturwissenschaftliche Fragestellungen an einen Text also eher andere Prinzipien angelegt werden? Auch inhaltlich gibt es problematische Aspekte. Alltägliche Äußerungen sind üblicherweise mit Wahrheitsansprüchen verbunden, bzw. sind bestimmten rationalen Konversationsmaximen verpflichtet. Im alltäglichen Diskurs ist es dementsprechend weitgehend unproblematisch, dem Interpretierten nachsichtig beispielsweise Wahrheit, Kohärenz, Kommunikationsabsicht etc. zu unterstellen und zu versuchen, seine Äußerungen davon ausgehend zu interpretieren. Im Fall von fiktionaler Literatur ist dies aber nicht ohne Weiteres möglich. Geht man etwa von der intuitiv plausiblen Annahme aus, dass Literatur auf einen Wahrheitsanspruch im üblichen Sinn verzichtet, ist die den Einstieg in einen Interpretationsprozess ermöglichende, nachsichtige Unterstellung von Wahrheit kaum mehr gerechtfertigt. Speziell ab Beginn der Moderne scheint auch eine Unterstellung von Kohärenz problematisch zu werden. Einige literarische Texte definieren sich augenscheinlich darüber, kohärente Erzählstrukturen ad absurdum zu führen. Kann es sinnvoll sein, solchen Texten auch nur heuristisch eben jene Qualitäten zu unterstellen, die sie explizit zu verwerfen scheinen? Darüber hinaus ist fraglich, ob eine auf dem Billigkeitsprinzip gründende Interpretation dem ästhetischen Anspruch von literarischen Texten gerecht werden kann – die eben erwähnten, üblichen Rationalitätsunterstellungen lassen diese Dimension offensichtlich vermissen und unterschlagen damit einen Aspekt, der für die Literatur qua Kunstwerk im Gegensatz zu bloßen Gebrauchstexten möglicherweise geradezu konstitutiv ist.⁵⁰ Der vierte Abschnitt behandelt die zentrale Frage nach hermeneutischen Abbruchkriterien, die sich nach meinem Dafürhalten unmittelbar an eine Analyse von Billigkeitsprinzipien anzuschließen hat. Wird davon ausgegangen, dass es sinnvoll ist, dem Interpretandum nachsichtigerweise bestimmte Rationalitätsstandards zu unterstellen, muss näher erläutert werden, unter welchen Bedingungen diese Unterstellungen modifiziert, revidiert oder auch ganz aufgegeben werden können. Ohne diesbezüglich Klarheit zu schaffen, ist nicht zu sehen, wie eine philologische Hermeneutik mit dem trivialen Faktum defizienter Interpretanda zurechtkommen soll. Gibt es keine Kriterien, die es erlauben, einen litera-

 Zu einem Verständnis von philologischer Interpretation, das eben diese These in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, vgl. speziell Abschnitt 3.3.2.

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1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“

rischen Text als de facto von den unterstellten Normen abweichend zu charakterisieren, ist der Interpret immer auf eine hermeneutische Strategie festgelegt, die diagnostizierte Normverletzungen einseitig auf der Interpretenseite verortet. Trifft der Interpret auf einen schlechten Text, ist er in diesem Sinne gewissermaßen nur noch nicht nachsichtig genug gewesen, um die Qualität des Interpretandums, die schon aus methodologischen Gründen vorhanden sein muss, zu erkennen.⁵¹ Statt sich auf diesen für die interpretative Praxis kaum wünschenswerten Standpunkt festzulegen, scheint es mir angeraten, Prozesse philologischer Interpretation als Abwägungsprozesse zu begreifen, in deren Rahmen keine der abzuwägenden Größen als a priori unhintergehbar aufgefasst werden. Kapitel 5 versucht, diese Einschätzung aufgreifend, die Methode des Überlegungsgleichgewichts als strukturierendes Rahmenkonzept für interpretative Abwägungsprozesse in der philologischen Hermeneutik zu etablieren, die möglicherweise sogar besser für diese Aufgabe geeignet sein könnte, als das traditionell in der Philologie wirkungsmächtige Bild des hermeneutischen Zirkels.

 Vgl. hierzu insbesondere Abschnitt 4.1.

2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien Im Rahmen einer Kategorisierung von interpretativen Billigkeitsprinzipien nach formalen Kriterien ist zunächst eine grundlegende Unterscheidung zu treffen. Je nach theoretischem Ansatz wird das Billigkeitsprinzip entweder als Möglichkeitsbedingung von Interpretation aufgefasst, oder als hilfreiche aber kontingente Hypothese. Der letztere Fall lässt sich weiter unterteilen nach der Rolle, die diese Hypothese im Rahmen der Interpretation genau spielt, bzw. nach der Art und der Stärke der Gründe, die zur Rechtfertigung der Hypothese vorgebracht werden. Zunächst soll die transzendentale Variante des Billigkeitsprinzips genauer analysiert und auf ihre Relevanz für den Kontext philologischer Interpretation befragt werden.⁵²

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons Der wohl prominenteste Vertreter einer als Möglichkeitsbedingung von Interpretation verstandenen Variante des Billigkeitsprinzips ist Donald Davidson. Davidson pocht darauf, dass ein hermeneutisches Billigkeitsprinzip Möglichkeitsbedingung eines jeden Interpretationsaktes sein müsse – ohne die von ihm verfochtene „Übernahme des Nachsichtigkeitsprinzips auf uneingeschränkter Basis“⁵³ sei die Interpretation von Äußerungen (mündlicher oder schriftlicher Art) schlichtweg nicht möglich. Der einleitend vorgeschlagenen heuristischen Trennung von Form und Inhalt von Billigkeitsprinzipien folgend, werde ich in der Folge vor allem auf die Aspekte in Davidsons Argumentation eingehen, die speziell den transzendentalen Charakter des Billigkeitsprinzips betreffen. Bevor Davidsons transzendentale Konzeption des Billigkeitsprinzips sowie die Implikationen von Davidsons Thesen für die philologische Interpretation ausführlicher diskutiert werden, soll in einem kurzen Exkurs Davidsons Großprojekt einer Theorie der

 Die von mir vorgeschlagene Typologie interpretativer Billigkeitsprinzipien führt exotische Varianten, die aus der Sicht hermeneutischer Überlegungen dezidiert uninteressant sind, nicht auf. Ein Beispiel für eine solche abseitige Version wäre etwa Baker 2004, 66, der mit dem principle of charity kein allgemeines Interpretationsprinzip bezeichnet, sondern seinen Geltungsbereich auf vom Verfasser selbst autorisierte Veröffentlichungen einschränkt: „Alas, this principle [of charity] does not apply either to the texts compiled by editors in various more or less systematic ways from his manuscripts or to texts compiled from lecture notes taken down by others.“  Davidson 1984 f, 222.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

radikalen Interpretation umrissen werden.⁵⁴ Ich halte diesen Exkurs für sinnvoll, da sich Davidsons Überlegungen zum Billigkeitsprinzip an vielen Stellen erst in dem weiteren Rahmen seiner Interpretationstheorie bzw. der von ihm angestrebten „Unified Theory of Thought, Meaning and Action“⁵⁵ erschließen. Deren Darstellung in groben Zügen wird das Verständnis der detaillierteren Überlegungen zum Billigkeitsprinzip selbst an vielen Stellen erleichtern.

2.1.1 Davidsons Theorie der radikalen Interpretation So sehr es ob der grundverschiedenen philosophischen Ausrichtung verwundern mag, gerade Heidegger als Ausgangspunkt für eine Darstellung von Davidsons Bedeutungs- bzw. Interpretationstheorie anzuführen, findet sich doch ausgerechnet in Sein und Zeit eine kurze Sequenz, die pointiert beschreibt, worum es in Davidsons Konzept der radikalen Interpretation letztlich geht. Heidegger erklärt dort: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem [hermeneutischen] Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.“⁵⁶ Davidson befasst sich zentral mit genau diesem „Hineinkommen“ in Interpretationsprozesse, konkret mit dem Problem der Erstinterpretation einer Sprache ohne jegliche Vorkenntnisse. Der schwierige Einstieg in den Verstehensprozess funktioniert nach Davidson über das Paradigma der radikalen Interpretation. Sollten wir es schaffen, eine Theorie der Erstinterpretation einer Sprache zu erstellen, hätten wir nach Davidsons Meinung eine Antwort auf die sprachphilosophische Grundfrage „Was heißt es, daß Wörter bedeuten, was sie nun einmal bedeuten?“⁵⁷ Eine solche Theorie müsse zwei Anforderungen erfüllen:⁵⁸

 Davidsons Bedeutungstheorie im Allgemeinen und Theorie der radikalen Interpretation im Besonderen ist an vielen Stellen unterschiedlich ausführlich erläutert. Vgl. u. a. Krämer 2001, 170 – 192 , Krämer, König 2002, 97– 128, Kober 2002, 117– 168, Rawling 2003, Ramberg 1989, Rott 2000, Bertram, Lauer, Liptow, Seel 2008, 243 – 271, Picardi 1990, Evnine 1991. Die nach meiner Ansicht beste kurze Zusammenfassung ist Künne 1990, 217– 224, die beste ausführliche Scholz 1999, 103 – 122.  So der Titel von Davidson 2004c.  Heidegger 1979, 153. Vgl. auch Rott 2000, 33 und 41 f.  Davidson 1984a, 9.  Davidson 1984a, 9: „Sie [die Theorie] liefert eine Interpretation aller wirklichen und möglichen Aussagen eines Sprechers bzw. einer Gruppe von Sprechern; sie ist verifizierbar, ohne daß die propositionalen Einstellungen der Sprecher im Einzelnen bekannt sind. Mit der ersten Bedingung wird die holistische Natur des sprachlichen Verstehens anerkannt. Das Ziel der zweiten Bedingung ist zu verhindern, daß in die Grundlagen der Theorie Begriffe eingeschmuggelt werden, die zu eng mit dem Begriff der Bedeutung verbunden sind.“

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

1) 2)

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Sie muss eine Interpretation aller (wirklichen und möglichen) Sätze einer Sprache L liefern. Sie muss verifizierbar sein, ohne die propositionalen Einstellungen der interpretierten Sprecher zu kennen, d. h. man muss sich von ihrer Wahrheit überzeugen können aufgrund von Daten, die auch einer Person zugänglich sind, die L (noch) gar nicht versteht.

Bedingung (1) garantiert, dass die Theorie eine Gesamtinterpretation der betreffenden Sprache L liefert, Bedingung (2) garantiert, dass die Theorie tatsächlich bei Null ansetzt, also ohne jegliche Vorkenntnisse des Interpreten auskommt und damit nicht zirkulär wird. Außerdem ist damit klar, weshalb die in Betracht kommende Theorie eine Theorie der „radikalen Interpretation“ sein soll. Aufgrund von Bedingung (1) ist diese Theorie eine interpretierende bzw. interpretative Theorie, aufgrund von Bedingung (2) ist sie radikal (in Bezug auf die zu ihrer Bestätigung zugelassenen Daten). Wie muss eine Interpretationstheorie beschaffen sein, um diese Anforderungen erfüllen zu können? Um (1) gerecht zu werden, muss die Interpretationstheorie eine Theorie im eigentlichen Sinn sein und nicht lediglich so etwas wie ein Übersetzungshandbuch oder eine endlich lange Liste von Sätzen in den jeweiligen Sprachen des Interpretierten und des Interpreten. Da es unmöglich ist, alle wirklichen und möglichen Sätze einer interpretierten Sprache (der Objektsprache) samt Interpretationsergebnis in der Sprache des Interpreten (der Metasprache) einfach aufzuzählen, müssen die Informationen in der Form einer allgemeinen Theorie vermittelt werden, aus der dann im Einzelfall die Interpretation jeder beliebigen Äußerung abgeleitet werden kann. Um Anforderung (2) zu erfüllen, ist es notwendig, eine ganze Reihe von Informationen aus dem Interpretationsprozess auszuschließen. Die Bedeutung von Ausdrücken in der Objektsprache L nur auf Basis von Belegen zu erschließen, die jedem zugänglich sind, der L noch gar nicht versteht, heißt zunächst, dass im weiteren Sinn Erkenntnisse in Bezug auf das, was einzelne Sätze in L bedeuten, ausgeschlossen sind. Dieser Ausschluss ist keineswegs trivial.⁵⁹ Davidson weist darauf hin, dass der Ausschluss von Erkenntnissen in Bezug auf das, was einzelne Sätze in L bedeuten, nicht nur so viel heißt wie „Eine Theorie zur Bestimmung von Bedeutungen darf nicht Bedeutungen als gegeben voraussetzen“ (was tatsächlich trivial wäre), sondern auch, dass in diesem Zusammenhang so etwas wie „korrekte

 Diesen Anschein erweckt die Darstellung bei Bertram, Lauer, Liptow, Seel 2008, 247: „[Für die Interpretationstheorie] stehen – trivialerweise – Tatsachen in Bezug darauf, was Ausdrücke der unbekannten Sprache bedeuten, nicht als Belege zur Verfügung“.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Musterinterpretationen“⁶⁰ und linguistische Begriffe wie „Bedeutung, Interpretation, Synonymie und dergleichen“⁶¹ aus dem Vokabular der Interpretationstheorie ferngehalten werden müssen. Darüber hinaus ist außerdem der Rekurs auf Intentionen, Überzeugungen, Absichten, Meinungen, Wünsche, Glauben etc. des Interpretierten nicht möglich. Der Grund hierfür ist, dass es sich dabei um intentionale Konzepte handelt, die mit der Bedeutung von Ausdrücken interdependent und dementsprechend nur dann erschließbar sind, wenn man weiß, was die Äußerungen des Interpretierten bedeuten.⁶² Was laut Davidson als „radikales“ Belegmaterial übrig bleibt, ist das beobachtbare Verhalten der Sprecher von L. Teil dieses beobachtbaren Verhaltens ist nach Davidsons Überzeugung unter anderem Zustimmung bzw. Ablehnung gegenüber bestimmten Äußerungen, also die Einstellung des „Für-Wahr-Haltens“ von Sätzen. Auch ohne zu wissen, was ein Satz im Einzelnen bedeutet, ist es für den radikalen Interpreten zumindest möglich, herauszufinden, ob der Interpretierte den betreffenden Satz für wahr hält oder nicht. Davidsons Idee ist nun, diese Einstellung des Für-Wahr-Haltens von Sätzen als Basis einer Theorie der radikalen Interpretation zu verwenden und sozusagen mit Hilfe des Für-Wahr-Haltens die von Heidegger benannte Schwierigkeit des Einstiegs in den hermeneutischen Prozess aufzulösen.⁶³ Er folgt damit im Wesentlichen einer bedeutungstheoretischen Intuition der Verknüpfung von Wahrheit und Bedeutung.⁶⁴ Die Wahrheit eines Satzes wird dabei von Davidson als nicht weiter erklärungsbedürftiges Primitivum begriffen.⁶⁵ Die Bedeutungstheorie in Form der Theorie der radikalen Interpretation kann deswegen – so die zunächst überraschende Pointe Davidsons – die formale Struktur einer Wahrheitstheorie, genauer,  Davidson 1984e, 187.  Davidson 1984e, 187.  Vgl. Davidson 1984e, 186 ff., v. a. 186: „Die entscheidende Schwierigkeit ist jedoch, daß keine Aussicht besteht, der Zuschreibung fein unterschiedener Intentionen unabhängig von der Interpretation der gesprochenen Sprache Sinn beizulegen. Der Grund ist nicht, daß wir die notwendigen Fragen nicht stellen können, sondern daß die Interpretation der Intentionen, Überzeugungen und Worte eines Handelnden zu einem einzigen Vorhaben gehören, von dem man kein Teil als vollständig erachten kann, ehe der Rest beisammen ist. Ist das richtig, können wir das vollständige Arsenal der Intentionen und Überzeugungen nicht zur Belegbasis einer Theorie der radikalen Interpretation zählen.“  Vgl. Davidson 1984e, 196 f.: „Ein geeigneter Ausgangspunkt ist die Einstellung des EinenSatz-für-wahr-Haltens, des ihn Als-wahr-Akzeptierens.“  Diese Idee ist nicht neu. Wittgenstein 1973, 36 etwa formuliert schon im Tractatus (4.024) in Davidsons Sinn: „Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist.“  Davidson 1984a, 10: „Ich habe die Wahrheit als den zentralen undefinierten Begriff angesehen und gehofft, durch detaillierte Ausführungen über die Struktur der Wahrheit zur Bedeutung vorzustoßen.“

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

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der von Alfred Tarski entwickelten semantischen Definition des Wahrheitsprädikats für formalisierte Sprachen annehmen.⁶⁶ Sie liefert damit eine Bedeutungsangabe für alle möglichen Sätze der Sprache des Interpretierten L, die wie folgt aussieht: (W)

S ist wahr genau dann, wenn p,

wobei für S ein Satz der Sprache des Interpretierten eingesetzt wird und für p ein Satz der Sprache des Interpreten.⁶⁷ Auf den ersten Blick scheint damit nicht viel gewonnen. Dass S und p denselben Wahrheitswert besitzen, muss nicht heißen, dass S gleichzeitig auch die Bedeutung von p angibt. Dieses Problem der nicht-interpretativen (W)-Sätze⁶⁸ wird an einem Beispiel deutlich, in dem das Englische Objektsprache und das Deutsche Metasprache sein soll: (WI) (WII) (WIII)

„Snow is white“ ist wahr gdw. Schnee weiß ist. „Snow is white“ ist wahr gdw. Gras grün ist. „Snow is white“ ist wahr gdw. Kafka in Prag geboren wurde.

In allen drei Fällen haben die beiden Seiten der jeweiligen Bikonditionale denselben Wahrheitswert und genügen damit den allgemeinen Voraussetzungen von (W). Informativ bzw. hermeneutisch angemessen ist jedoch allein (WI).Wie soll aber ohne Kenntnis der Bedeutung (vgl. Anforderung (2) an die Theorie) ausge-

 Davidson rekurriert v. a. auf Tarski 1983.  Vgl. Davidson 1984b, 47 ff. Da diese Punkte in der Folge keine entscheidende Rolle mehr spielen werden ist die Darstellung im Fließtext etwas vereinfacht. Statt „wobei für S ein Satz der Sprache des Interpretierten eingesetzt wird“ müsste eigentlich „wobei für S die strukturelle Beschreibung eines Satzes der Sprache des Interpretierten eingesetzt wird“ stehen. Für unsere Zwecke sollen aber die groben Züge von Davidsons Idee reichen. Mehr Rücksicht speziell auch auf die technischen Details bei Tarski nimmt Rawling 2003, 88 – 91. Zu diesem Kontext ebd., 88: „In applying Tarski’s work on truth, Davidson’s goal is to replace schemata of the form S means in L that p, where ’S’ is to be replaced by a structural description of a sentence of L and ’that p’ is to be replaced by the name of a proposition, with schemata of the form, S is true in L if and only if p, where ’p’ is now to be replaced by a sentence of English.“  Ausführlich zum Problem der nicht-interpretativen W-Sätze vgl. Reimer 2002. Auch Scholz 1999, 111 weist auf das Problem hin: „Es sei aber angemerkt, daß das Problem der nichtinterpretativen W-Theoreme von Davidson bisher nicht gelöst werden konnte.“

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

schlossen werden, dass (W) keine uninformativen Konkretisierungen wie (WII) oder (WIII) liefert? Davidson will dieses eminent wichtige Problem durch Einführung einiger Einschränkungen lösen, die dafür sorgen sollen, dass aus den (W)-Sätzen nicht lediglich Aussagen über Wahrheitswerte, sondern auch Informationen über die Bedeutung abgeleitet werden können.⁶⁹ Die wichtigsten dieser Beschränkungen sind der kompositionale Charakter von Sprache im Zusammenhang mit dem Holismus der Theorie und die kausale Natur des Zusammenhangs von Welt und Sprache. In einer Fußnote, die Davidson seinem Essay Wahrheit und Bedeutung 1982 nachträglich hinzugefügt hat, weist er zusätzlich darauf hin, dass (W)-Sätze „gesetzesartig“ zu sein hätten. Er erklärt, dass „Sätze der Theorie empirische Verallgemeinerungen mit Bezug auf Sprecher sind, und daß sie daher nicht nur wahr, sondern auch gesetzesartig sein müssen. (S) [„Schnee ist weiß ist wahr gdw. Gras grün ist.“] ist vermutlich kein Gesetz, denn dadurch wird kein zugehöriger irrealer Konditionalsatz untermauert.“⁷⁰ Ein Beispiel zur Verdeutlichung dieser „Nomologizitätsforderung“:⁷¹ Ein zu (WI) gehöriger irrealer Konditionalsatz würde lauten: (IKWI)

Wenn Schnee nicht weiß wäre, wäre nicht wahr, dass „Snow is white“.

Ein zu (WII) gehöriger irrealer Konditionalsatz würde lauten: (IKWII)

Wenn Gras nicht grün wäre, wäre nicht wahr, dass „Snow is white.“

Der Punkt an Davidsons Fußnote ist, dass (IKWII) im Gegensatz zu (IKWI) offensichtlich falsch ist. Auch wenn Gras blau wäre, wäre „Snow is white“ immer noch wahr. (WII) taugt nach Davidson dementsprechend nicht zum Gesetz und kann so als ungeeignet für die Theorie verworfen werden.⁷²

 Vgl. Davidson 1984j, 319: „Allerdings glaube ich, daß angemessene empirische Beschränkungen in bezug auf die Interpretation der W-Sätze (die Bedingungen, unter denen wir die WSätze für wahr befinden) plus die formalen Beschränkungen uns genügend Invariantes zwischen den Theorien belassen werden, um uns die Angabe zu ermöglichen, ob eine Wahrheitstheorie die wesentliche Rolle jedes Satzes erfasst.“  Vgl. Davidson 1984b, 53.  So bezeichnet Scholz 1999, 110 Davidsons Einschränkung, auch Ramberg 1989, 64 weist in gleicher Wortwahl darauf hin, dass (W)-Sätze „nomological“ zu sein hätten.  Vgl. Ramberg 1989, 64: „[T]he theorems, the T-sentences, must be nomological – that is, they must be able to support counter-factuals and subjunctives, and they must be confirmed by their concrete instances but not confined to them. Knowing the theory without knowing that it is a

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Der Hinweis auf den kompositionalen Charakter von Sprache besagt nichts weiter, als dass „die Bedeutungen der Sätze von den Bedeutungen der Wörter abhängen“⁷³ müssen. Ohne diese Annahme wäre die Fähigkeit, eine Sprache zu lernen, nicht erklärbar, genauer: es wäre nicht erklärbar, wie die Sprecher einer Sprache (potentiell) unendlich viele Bedeutungen von Sätzen aufgrund einer Basis von endlich vielen Vokabeln und endlich vielen grammatischen Kombinationsregeln verstehen können. Die Möglichkeit, dass eine unendliche Anzahl von theoretischen Axiomen die Bedeutung von unendlich vielen Sätzen angeben könnte, dass es also für jeden Satz als eigenständiger Bedeutungseinheit eine zugehörige eigenständige Bedeutung geben könnte, kann damit verworfen werden. Stattdessen ist es plausibel anzunehmen, dass die Bedeutung von Sätzen von der Bedeutung der in ihnen enthaltenen Wörter abhängt. Welchen Beitrag das Kompositionalitätsprinzip zur Lösung des Problems der nicht-interpretativen (W)-Sätze leisten kann, wird deutlich, sobald man es in Zusammenhang mit der geforderten holistischen Natur der Theorie der radikalen Interpretation denkt. Es ist laut Davidson sinnlos, jeden (W)-Satz für sich allein genommen zu betrachten, erst im Kontext aller möglichen (W)-Sätze gewinnt er an Bedeutung: „Was in Sätzen der Form ‚s ist wahr dann und nur dann, wenn p‘ auf der rechten Seite des Bikonditionals erscheint, spielt, wenn solche Sätze aus einer Wahrheitstheorie folgen, seine Rolle bei der Bestimmung der Bedeutung von s, nicht indem es Synonymie beansprucht, sondern indem es einen weiteren Pinselstrich zu dem Bild hinzufügt, das als Ganzes genommen angibt, was über die Bedeutung von s zu wissen ist;“⁷⁴

Der radikale Interpret muss also versuchen, eine so lange Liste wie möglich von Sätzen zu erstellen, die der Interpretierte in seiner eigenen Sprache für wahr hält. Diese kann der Interpret dann mit Sätzen, die er selbst für wahr hält, korrelieren, indem er sich das Kompositionalitätsprinzip zunutze macht. Entdeckt der Interpret in dieser Liste z. B. Sätze in L wie „gavagai“, „gavagai ab sur ah“, „gavagai trallala trullala“ usw. kann er berechtigterweise davon ausgehen, dass diese Sätze theory, without knowing, specifically, that its theorems are law-like we would be left uncomprehending in the face of any concrete speech act.“  Davidson 1984b, 40.  Davidson 1984b, 53. In dieselbe Richtung Davidson 1984j, 319: „Die Bedeutung (Interpretation) eines Satzes wird dadurch angegeben, daß man dem Satz einen semantischen Ort zuweist in dem Muster der Sätze, die zu der Sprache gehören.“ Vgl. hierzu auch Bertram, Lauer, Liptow, Seel 2008, 250: „Ginge es darum, jeweils die Bedeutung eines einzelnen Satzes anzugeben, würde jede einzelne W-Äquivalenz dieses Ziel verfehlen. Die Bedeutung eines einzelnen Satzes lässt sich nur dadurch angeben, dass gezeigt wird, welche Rolle er in dem komplexen semantischen Muster einer ganzen Sprache spielt.“ [meine Hervorhebung]

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

zumindest irgendetwas miteinander zu tun haben, genauer: dass sie aus ähnlichen Bausteinen zusammengesetzt sind und damit einer Gruppe von Sätzen in der Sprache des Interpreten zugeordnet werden sollten, die ebenfalls ähnliche Bausteine enthalten. Holistisch gesehen wird damit unwahrscheinlich, dass z. B. sowohl (WIV)

„gavagai“ ist wahr gdw. in der Nähe ein Kaninchen ist.

als auch (WV)

„gavagai ab sur ah“ ist wahr gdw. Kafka in Prag geboren ist.

hermeneutisch informative (W)-Sätze sind, da sie in der Sprache des Interpreten schlichtweg nichts miteinander zu tun haben. Dies würde dem Kompositionalitätsprinzip insofern zuwider laufen, dass einer strukturellen Gleichheit der Sätze in L keine strukturelle Gleichheit der Sätze in der Sprache des Interpreten entspräche. Was sie aber genau miteinander zu tun haben sollen und ob (WIV) oder (WV) als uninformativ verworfen werden sollte, mit anderen Worten, ob „gavagai“ in L eher etwas mit Kaninchen oder mit Kafka zu tun haben könnte, bleibt dabei aber nach wie vor unklar. Hier soll die dritte Einschränkung Abhilfe schaffen. Diese führt uns nun endlich auch zu Davidsons Variante des Billigkeitsprinzips. Davidson empfiehlt, sich im Rahmen des Interpretationsprozesses zunächst an so genannte „Gelegenheitssätze“ zu halten. Unter „Gelegenheitssätze“ fallen alle Sätze, die je nach beobachtbarem Äußerungskontext wahr oder falsch sind, z. B. der notorische Beispielsatz „Da ist ein Kaninchen“, der wahr ist, wenn sich in der Umgebung des Sprechers ein Kaninchen befindet, und falsch, wenn sich in der Umgebung des Sprechers kein Kaninchen befindet. Weil der Interpret die Umstände, in denen bestimmte Gelegenheitssätze in L geäußert werden, ebenfalls beobachten kann, ist es möglich, die Äußerung und die Umstände der Äußerung zueinander in Beziehung zu setzen. Allgemein resultieren aus dieser Verschränkung Sätze wie (WB): (WB)

Zum Zeitpunkt t hält der Interpretierte I die Äußerung S für wahr und zu t hat sich in der Umgebung von I der Sachverhalt p ereignet.

Nach Davidsons Meinung ist es in den allermeisten Fällen plausibel anzunehmen, dass das gemeinsame Auftreten des Sachverhalts p und der Äußerung S nicht bloß auf Zufall, Irrtum oder Irrationalität etc. des Interpretierten beruht, sondern dass I S äußert, weil sich in seiner Umgebung zu t p ereignet. Mit anderen Worten: es

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

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besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der Äußerung S und dem zu t beobachteten Sachverhalt p. Damit erhält der Interpret folgende Hypothese, in der das „genau dann, wenn“ sozusagen kausal aufgeladen ist:⁷⁵ (K)

I hält S zu t für wahr genau dann, wenn sich zu t sich in der Umgebung von I der Sachverhalt p ereignet hat.

Durch die kausale Verknüpfung der Äußerung und der beobachtbaren Sachverhalte in der Umgebung des Interpretierten ist laut Davidson das Problem der nichtinterpretativen W-Sätze für den Interpreten nun endgültig in den Griff zu bekommen. Dies wird an einem erneuten Beispiel deutlich. Nehmen wir an, zu t hoppelt ein Kaninchen an dem interpretierten Sprecher I vorbei: (KI) (KII) (KIII)

I hält „There is a rabbit“ zu t für wahr gdw. in seiner Umgebung ein Kaninchen ist. I hält „There is a rabbit“ zu t für wahr gdw. Schnee weiß ist. I hält „There is a rabbit“ zu t für wahr gdw. Kafka in Prag geboren wurde.

Während die Beispielsätze (WII) und (WIII) ohne weitere Spezifikation der Interpretationstheorie, genauer, ohne die von Davidson eingeführten constraints aufgrund der Gleichheit ihrer Wahrheitswerte noch problematisch waren, können die störenden hermeneutisch uninformativen Bikonditionale (KII) und (KIII) nun ausgeschlossen werden. Der Grund ist, dass angesichts der äußeren Umstände zu t, unter denen I „There is a rabbit“ äußert (nämlich dass ein Kaninchen an I vorbeihoppelt und weder Schnee liegt, noch I neben Kafkas Geburtshaus in Prag steht), die rechte Seite kausal irrelevant für die Äußerung „There is a rabbit“ auf der linken Seite ist. Nimmt der Interpret einen kausalen Zusammenhang von Sprache und Welt an, kann er die Möglichkeit, dass I zu t „There is a rabbit“ äußert, weil Kafka in Prag geboren wurde, mit gutem Grund verwerfen. Nun bleibt noch ein wesentliches Problem für die radikale Interpretation bestehen: (W) ist nicht das gleiche wie (K). Davidsons Bedeutungstheorie ist, wie wir gesehen haben, gegründet auf Sätze über Wahrheitsbedingungen der Form (W), und nicht auf Sätze über Für-Wahr-Haltens-Bedingungen der Form (K). Prima facie ist es klarerweise etwas völlig anderes, ob jemand einen Satz für wahr hält, oder ob  Scholz 1999, 113 formuliert die Hypothesen des radikalen Interpreten an dieser Stelle sogar explizit kausal um: „Der Interpret bildet parallel zu den Hypothesen über Akzeptanz-Bedingungen entsprechende Kausalhypothesen: (KAUS-B) A hält S (aus L) zu t für wahr, weil p.“ [meine Hervorhebung]

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ein Satz wahr ist. Genau an dieser Stelle setzt Davidsons Variante des Billigkeitsprinzips an, das in Anlehnung an Neil Wilson als principle of charity bezeichnet wird. Es hält den Interpreten dazu an, davon auszugehen, dass die interpretierten Sprecher die Welt im Großen und Ganzen so sehen wie er, dass sie sich nicht andauernd darüber täuschen, ob Kaninchen an ihnen vorbeilaufen, oder ob es in ihrer unmittelbaren Umgebung regnet. Dementsprechend kann der Interpret nachsichtigerweise davon ausgehen, dass Sprecher des Englischen „There is a rabbit“ bzw. „It is raining“ in den allermeisten Fällen genau dann äußern, wenn sie tatsächlich ein Kaninchen sehen bzw. wenn es tatsächlich regnet. Allgemeiner formuliert besagt Davidsons principle of charity also, dass so gut wie immer dann, wenn ein Interpretierter einen Satz für wahr hält, dieser Satz auch wahr ist – nach Maßgabe dessen, was der Interpret für wahr hält.⁷⁶ Damit ist der Übergang von Für-Wahr-Haltens-Bedingungen zu Wahrheitsbedingungen begründet und der Weg ist frei für die (radikale) Interpretation des Sprechers.

2.1.2 Das principle of charity als Möglichkeitsbedingung von Interpretation Wie wir eben gesehen haben, setzt das Billigkeitsprinzip in Rahmen von Davidsons Interpretationstheorie an einer zentralen Stelle an. Ohne sein principle of charity kommt das gesamte interpretative Unternehmen erst gar nicht in Gang – nachsichtiges Vorgehen ist damit Möglichkeitsbedingung jedes interpretativen Prozesses. Auf diesen Punkt weist Davidson in diversen Aufsätzen immer wieder unnachgiebig hin, wie eine kleine Auswahl von Stellen bestätigen kann: Da Nachsichtigkeit keine zur Auswahl stehende Möglichkeit ist, sondern eine Bedingung für das Verfügen über eine praktikable Theorie [der Interpretation], ist es sinnlos zu suggerieren, wir könnten gewaltigen Irrtümern anheim fallen, wenn wir das Nachsichtigkeitsprinzip billigen.⁷⁷

 Vgl. Krämer 2001, 185: „Daß ein Sprecher einen Satz unter beobachtbaren Umständen für wahr hält, kann als prima-facie-Beleg dafür gewertet werden, daß dieser Satz auch wahr ist.“ Damit ist nicht impliziert, dass sich der Interpret im Gegensatz zum Interpretierten im Besitz irgendeiner metaphysischen Art von überzeitlicher Wahrheit befindet. Davidson begreift Wahrheit im Anschluss an Tarski als „eine Beziehung zwischen Sätzen, Sprechern und Zeitpunkten“ (Davidson 1984c, 77). Dass ein Satz wahr ist heißt in diesem Kontext dementsprechend, dass er „wahr für den Interpreten“ bzw. „wahr in der Sprache des Interpreten“ ist. Mehr zu „Wahrheit“ in Kapitel 3.1.  Davidson 1984 h, 280.

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

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[Interpretation wird] dadurch ermöglicht, daß wir die Möglichkeit massiven Irrtums a priori ausschließen können⁷⁸ Die Nachsichtigkeit ist uns aufgezwungen; wenn wir andere verstehen wollen, müssen wir ihnen in den meisten Dingen recht geben, ob wir mögen oder nicht.⁷⁹ Unvermeidlich ist die Nachsichtigkeit bei der Interpretation der Worte und Gedanken anderer⁸⁰ Nur indem ich deine Worte so interpretiere, daß wir im großen und ganzen übereinstimmen, kann ich sie richtig interpretieren.⁸¹ Der methodische Ratschlag, in einer Weise zu interpretieren, in der Einigkeit optimiert wird, sollte nicht so aufgefaßt werden, als beruhe er auf einer nachsichtigen Voraussetzung mit Bezug auf die menschliche Intelligenz, die sich auch als falsch herausstellen könnte.⁸² Wir werden Bedingungen festhalten, unter denen der Fremdsprachige eine Vielfalt von Sätzen seiner eigenen Sprache bejaht bzw.verneint. […] Wir werden davon ausgehen müssen, daß die meisten seiner Bejahungen in einfachen oder einleuchtenden Fällen wahren Sätzen und die meisten seiner Verneinungen falschen Sätzen gelten – eine unumgängliche Voraussetzung, denn die Alternative ist unverständlich.⁸³

Davidson weist damit die Möglichkeit eines unabhängig von nachsichtiger Interpretation existierenden Verstehens zurück. Auch ein einleitend thematisiertes, unproblematisch erscheinendes Verstehen von Äußerungen in der Muttersprache des Interpreten entpuppt sich laut Davidson bei näherem Hinsehen als Interpretationsakt. Dass dieser aufgrund des Zusammenfalls von Objekt- und Metasprache nach einem homophonen Schema abläuft, macht ihn zwar einfacher, unterscheidet ihn jedoch nicht kategorial von den paradigmatischen Fällen radikaler Interpretation.⁸⁴ Da jede Interpretation damit im Kern radikale Interpretation ist, folgt, dass auch keine Interpretation ohne das principle of charity möglich ist. Davidsons Idee ist, dass eine Interpretation, die – wohlgemerkt nach holistischem Maßstab – kein weitgehend rationales Bild des Interpretierten entwirft,

 Davidson 1984g, 244.  Davidson 1984h, 280.  Davidson 1984b, 54.  Davidson 1984i, 284.  Davidson 1984e, 199.  Davidson 1984d, 102.  Vgl. Davidson 1984e, 183 ff. Prägnant zusammengefasst auf 183: „Das Problem der Interpretation gilt für die Muttersprachen ebenso wie für Fremdsprachen. […] Die radikale Interpretation ist immer beteiligt, wenn man die Äußerungen eines anderen Sprechers versteht.“

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letztlich keinen Anhaltspunkt liefert, den Interpretierten überhaupt als rationale Person bzw. seine Äußerungen überhaupt als Sprache anzusehen: Wenn wir keine Möglichkeit finden, die Äußerungen und das sonstige Verhalten eines Geschöpfs so zu interpretieren, daß dabei eine große Menge von Überzeugungen zum Vorschein kommt, die großenteils widerspruchsfrei und nach unseren eigenen Maßstäben wahr ist, haben wir keinen Grund, dieses Geschöpf für ein Wesen zu erachten, das rational ist, Überzeugungen vertritt oder überhaupt etwas sagt.⁸⁵

Ohne eine ziemlich große geteilte Basis wahrer Überzeugungen über die Welt ist einfach eine beliebige Thematik T nicht mehr scharf genug umrissen, um noch von Irrtum oder Absurdität in Bezug auf T sprechen zu können.⁸⁶ Ein Beispiel Wolfgang Künnes illustriert dies treffend: „Die Vermutung, dass alles, was der Autor über X glaubt, falsch ist, ist genauso abwegig wie der Verdacht, dass vielleicht alle Hundert-Mark-Scheine Blüten sind. Je mehr irrige Meinungen über das Thema X wir dem Autor zuschreiben, desto mehr gefährden wir die Glaubwürdigkeit der Annahme, dass der Autor überhaupt Meinungen über dieses Thema hat.“⁸⁷ Es ist nach Davidson nicht nur „abwegig“, sondern methodisch unmöglich, davon auszugehen, dass so gut wie alle Überzeugungen des Interpretierten bzgl. T falsch sind. In diesem Fall ist nämlich letztlich unentscheidbar, ob sich die Überzeugungen des Interpretierten überhaupt noch auf T und nicht auf ein ganz anderes Thema T* beziehen, wodurch ein Interpretationsprozess erst gar nicht in Gang kommen kann. Irrtum und Absurdität sind ausschließlich vor einem Hintergrund von Übereinstimmungen erkennbar – erst wenn dieses Fundament mittels des Billigkeitsprinzips etabliert ist, kann man sinnvoll von irrigen oder abweichenden Überzeugungen über T sprechen.

2.1.3 Kritik Davidsons Billigkeitsprinzip ist gerade wegen seiner Konzeption als Möglichkeitsbedingung von Interpretation zum Gegenstand einer umfangreichen Diskussion geworden. Ich werde diese Diskussion hier nicht rekonstruieren, sondern mich, dem leitenden Erkenntnisinteresse des Kapitels an formalen Fragen folgend,

 Davidson 1984e, 199.  Vgl. Davidson 1984g, 244: „Durch zu viele Fehler wird einfach der Brennpunkt unscharf.“  Künne 1990, 216 f.

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

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auf Einwände und Kritik konzentrieren, die unmittelbar auf die transzendentale Struktur von Davidsons principle of charity bezogen sind.⁸⁸

2.1.3.1 Referenztheoretische Gegenentwürfe In die Kategorie „referenztheoretischer Gegenentwürfe“ fallen Einwände, die auf die hinter Davidsons Thesen stehende Referenztheorie abzielen.⁸⁹ Zur Verdeutlichung der Kritik sei die oben schon zitierte Textpassage aus Radikale Interpretation noch einmal in Erinnerung gerufen: Wenn wir keine Möglichkeit finden, die Äußerungen und das sonstige Verhalten eines Geschöpfs so zu interpretieren, daß dabei eine große Menge von Überzeugungen zum Vorschein kommt, die großenteils widerspruchsfrei und nach unseren eigenen Maßstäben wahr ist, haben wir keinen Grund, dieses Geschöpf für ein Wesen zu erachten, daß rational ist, Überzeugungen vertritt oder überhaupt etwas sagt.⁹⁰

Der Interpret kann nur dann sinnvollerweise annehmen, dass ein Interpretierter über ein bestimmtes Thema spricht, wenn die meisten der dieses Thema betreffenden Überzeugungen nach Maßgabe des Interpreten wahr sind. Colin McGinn formuliert den Kern von Davidsons These noch genauer: „[W]e cannot sensibly assign an object in the world to a man’s belief as its subject matter unless he is (or is taken to be) equipped with a collateral constellation of other beliefs concerning that object. That is: an object x can be the subject of a belief B0 only if there is some set of beliefs S = {B1,…Bn} such that x satisfies the ’predicative components’ of the majority of {B1,…Bn}, for a fairly large (’endless’) n.“⁹¹ Die hier implizierte Theorie der Bezugnahme ist jedoch einigen Einwänden ausgesetzt, die sich anhand der Diskussion eines von Davidson selbst in Denken und Reden angeführten Beispiels veranschaulichen lassen. Davidson erläutert dort Folgendes: Durch falsche Überzeugungen wird tendenziell die Identifikation der Thematik untergraben und darum auch die Gültigkeit einer Beschreibung, wonach die Überzeugung von diesem Gegenstand handelt. Und so untergraben falsche Überzeugungen dann wiederum die Behauptung, daß ein damit zusammenhängender Glaube falsch sei. Um ein Beispiel zu nehmen: Wie klar ist unsere Vorstellung, wonach die Denker der Antike – oder immerhin einige dieser Denker – glaubten, die Erde sei flach? Diese Erde? Nun, diese unsere Erde gehört zum

 Ein ausführlicherer Katalog von Einwänden gegen Davidsons Variante des Billigkeitsprinzips findet sich bei Spoerhase 2007, 345 – 383. Ebenfalls kritisch ist Glock 2003.  Ausführlicher und detaillierter zu diesen Einwänden vgl. Spoerhase 2007, 354– 363 und Malpas 1992, 159 – 164.  Davidson 1984e, 199.  McGinn 1977, 524.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Sonnensystem, einem System, das zum Teil dadurch identifiziert ist, daß es eine Ansammlung großer, kalter, fester Körper ist, die um einen enorm großen, heißen Stern kreisen.Wenn jemand mit Bezug auf die Erde nichts dergleichen glaubt, ist es dann sicher, daß es sich um die Erde handelt, auf die sich seine Gedanken beziehen?⁹²

Obwohl Davidson im Anschluss an seine abschließende rhetorische Frage etwas erratisch mit „Eine Antwort ist gar nicht erforderlich“⁹³ fortfährt, scheint es mir in dem gegebenen Kontext doch deutlich zu werden, dass seine Antwort „nein“ oder sogar „selbstverständlich nicht“ lauten soll.⁹⁴ Dieses „nein“ ist jedoch keineswegs so offensichtlich wie Davidson suggeriert. Vertreter einer kausalen Theorie von Referenz könnten auf Davidsons Frage durchaus guten Gewissens mit „ja“ antworten. Eine kausale Theorie von Referenz geht davon aus, dass die Überzeugungen, die ein Sprecher unterhält, nicht entscheidend für die Frage sind, auf welchen Gegenstand er sich bezieht. Die Bezeichnung „Erde“ sei vielmehr in einer Art Taufakt irgendwann vergeben worden und ab diesem Moment im Rahmen kommunikativen Austauschs von Sprecher zu Sprecher weitergegeben worden. Alle Verwendungen des Begriffs „Erde“ wären damit als Glieder einer Kausalkette zu rekonstruieren, die bis zu diesem initialen Taufakt zurückreicht. Durch die Möglichkeit, diese kausale Kette bis zu ihrem Ausgangspunkt zurückzuverfolgen, ist es möglich, die Erde auch dann als Referenzobjekt der Bezeichnung „Erde“ zu verstehen, wenn, wie im Fall von Davidsons antiken Denkern, die meisten der Überzeugungen eines Sprechers über die Erde falsch sind.⁹⁵ Es spielt in diesem Fall nicht einmal eine Rolle, dass der Sprecher eine bestimmte Menge von Überzeugungen über die Erde hat, was a fortiori den Wahrheitswert dieser Überzeugungen irrelevant werden lässt.⁹⁶

 Davidson 1984g, 243.  Davidson 1984g, 243.  Dieser Meinung sind auch Delpla 2001, 101: „La réponse suggéré dans ce cas est non“ und Spoerhase 2007, 355: „Die am Schluss des Zitats gestellte Frage wird von Davidson nicht ausdrücklich beantwortet; gleichwohl ist ein ‚nein‘ impliziert“.  Die Darstellung einer kausalen Theorie der Referenz in Spoerhase 2007, 355 f. ist in diesem Punkt ungenau. Spoerhase schreibt hierzu, dass in diesem Fall „der Interpret den Gegenstand“ identifiziere, „auf den sich der Interpretierte (gegebenenfalls in einer defizienten Form) sprachlich bezogen habe“. Die Ungenauigkeit besteht darin, dass auch der Interpret nicht in der Lage ist, unabhängig von der kausalen Kette an Referenzbeziehungen gewissermaßen willkürlich darüber zu urteilen, worauf sich denn der Interpretierte mit der Bezeichnung „Erde“ beziehen könnte.  Aus der Sichtweise einer kausalen Theorie der Referenz direkt gegen Davidson argumentieren McGinn 1977, insbesondere 526 ff. oder Bennett 1985, 610 f. McGinn 1977, 525 zieht in direktem Bezug auf das oben diskutierte Beispiel Davidsons den Schluss, dass Davidsons Dar-

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

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Diese Kritik an der von Davidson implizierten Referenztheorie lässt sich auch auf das principle of charity zurückbeziehen. Sofern auch dann identifiziert werden kann, worüber ein Interpretierter spricht, wenn die meisten seiner Überzeugungen diese Thematik betreffend nicht wahr sind, verliert das principle of charity seinen transzendentalen Status – die durch es ermöglichte Zuschreibung wahrer Überzeugungen ist nicht länger Vorbedingung von Interpretation.

2.1.3.2 Epistemische Vorannahmen Ein weiteres Problem von Davidsons Konzept der radikalen Interpretation – und damit auch von Davidsons Version des Billigkeitsprinzips – besteht darin, dass radikale Interpretation unter Umständen weniger radikal ist, als von Davidson insinuiert. Wie oben schon ausgeführt besteht die Radikalität von Davidsons Interpretationstheorie ihrem Anspruch nach darin, dass sie bei Null bzw. „mit einer Tabula rasa“⁹⁷ anfangen und die Bedeutungen von Sätzen mit Hilfe des principle of charity allein aufgrund des beobachtbaren Verhaltens von Sprechern erschließen soll. Es ist jedoch fraglich, inwieweit dieser Anspruch eingelöst werden kann. Gerade das principle of charity hält den Interpreten nämlich dazu an, dem Interpretierten eine Wahrnehmung der Welt zu unterstellen, die in etwa seiner eigenen Wahrnehmung der Welt entspricht. Darüber hinaus legitimiert das principle of charity – je nach Kontext, in dem Davidson darauf zu sprechen kommt – außerdem die Annahme, dass der Interpretierte auf diese perzeptuellen Eindrücke in einer Weise reagiert, die analog zu den erwartbaren Reaktionen des Interpreten ist und weiterhin, dass die kognitive Informationsverarbeitung bei Interpretiertem und Interpretem ähnlichen Regeln folgt.⁹⁸ Derartige Annahmen summieren sich aber zu einem System hermeneutischer Rahmenbedingungen, die den Anspruch, mit der Interpretation tatsächlich „mit einer Tabula rasa“⁹⁹ zu beginnen, zu widerlegen drohen.¹⁰⁰ Das Problem ist, dass Davidsons radikale Interpretation nicht

stellung fehlerhaft sei: „[I]t seems evident that it was of the earth that Davidson’s ancients entertained their egregious misconceptions.“  Davidson 1993b, 164.  Deutlich werden diese Annahmen etwa in Davidson 2001c, 211: „The Principle of Coherence prompts the interpreter to discover a degree of logical consistency in the thought of the speaker; the Principle of Correspondance prompts the interpreter to take the speaker to be responding to the same features of the world that he (the interpreter) would be responding to under similar circumstances. Both principles can be (and have been) called principles of charity“.  Davidson 1993b, 164.  Besonders konzise zusammengefasst wird diese Kritik von Spoerhase 2007, 380: „Auch mithilfe des Billigkeitsprinzips soll nachvollziehbar gemacht werden, wie der Interpret ausgehend von diesem Nullpunkt – der nichts anderes ist als die Abwesenheit einer gemeinsam

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

nichts voraussetzt, sondern nur etwas anderes als konkurrierende Interpretationstheorien. Im Rahmen interpretativer Prozesse von einer „minimal hermeneutic anthropology“¹⁰¹ oder einer „general theory of persons“¹⁰² auszugehen, wie es Hans-Johann Glock respektive David Lewis tun, wäre dementsprechend nicht weniger radikal als Davidsons Projekt radikaler Interpretation.¹⁰³ Das principle of charity in der von Davidson vorgeschlagenen Form ist damit zumindest in der Hinsicht als kontingent aufzufassen, dass es nicht die einzige denkbare Art von Prinzip ist, das innerhalb einer Theorie radikaler Interpretation angelegt werden kann, sondern lediglich die Interpretationsmaximen legitimiert, die Davidsons eigene Spielart beinhaltet (z. B., dass Unstimmigkeiten zwischen Interpretem und Interpretiertem eher auf sprachlicher als auf sachlicher Ebene zu lokalisieren seien). Fraglich ist dann aber, inwiefern speziell die transzendentale Struktur des Billigkeitsprinzips unabhängig von der kontingenten Spielart von (radikaler) Interpretationstheorie begründet werden kann. Es liegt zumindest der Verdacht nahe, dass das principle of charity deswegen als Möglichkeitsbedingung von Interpretation konzipiert ist, weil damit die stärksten Gründe für die von Davidson vorgeschlagene Interpretationsweise geschaffen werden.¹⁰⁴ geteilten Sprache – Verständigung erreichen kann. Aber selbst wenn das Billigkeitsprinzip in der Fassung Davidsons plausibel wäre, selbst wenn vorausgesetzt werden könnte, dass der Interpret und der Interpretierte sich grundsätzlich über alle die Sachverhalte im Großen und Ganzen einig sind, die als offensichtliche ausgezeichnet werden können, selbst wenn vorausgesetzt werden könnte, dass die Kriterien für das, was offensichtlich ist, von Interpret und Interpretiertem geteilt werden: selbst dann bliebe zu betonen, dass damit gleichwohl die Vorstellung eines hermeneutischen Nullpunkts desavouiert ist. Das voraussetzungslose Interpretieren erweist sich auch bei Davidson als Chimäre. Wie davon entfernt, das Versprechen einer radikalen Interpretation zu erfüllen, ist das principle of charity vielmehr der Nachweis dafür, dass eine wirklich radikale Interpretation nicht stattfindet“.  Glock 2003, 170.  Lewis 1983b, 111.  Für einige weitere mögliche Ausgangspunkte hermeneutischer Theorien vgl. Spoerhase 2007, 380 f.  Vgl. Spoerhase 2007, 381 f.: „Hier gewinnt man freilich den Eindruck, dass Davidson für genau die Interpretationsmaximen argumentiert, die die Voraussetzungen für die Plausibilität seiner eigenen Interpretationskonzeption zu schaffen vermögen, da ein diesen Maximen verpflichtetes Interpretationsverhalten genau jene Interpretationsphänomene als bloß scheinbare auflöst, die ein Gelingen der ’radikalen Interpretation’ grundsätzlich in Frage stellen würden.“ Dieser Kritik ließe sich möglicherweise entgegenhalten, dass durch das principle of charity zwar die Radikalität der radikalen Interpretation (Radikalität erneut verstanden als das Ausgehen von einem hermeneutischen Nullpunkt) desavouiert sein mag, dass aber gerade weil eine derartige Einschränkung des Anspruchs auf Radikalität sogar unabdingbar sei, die transzendentale Form – unabhängig von den unterstellten Inhalten – des principle of charity nicht durch die Einwände tangiert werde. In anderen Worten: Dass es keine transzendentale Notwendigkeit

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

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2.1.3.3 Methodologische Bedenken Für Belange einer philologischen Hermeneutik ist letztlich nur mittelbar relevant, ob die bislang formulierte Kritik schlagend ist oder nicht.¹⁰⁵ Ein Hinderungsgrund, aufgrund dessen eine transzendentale Variante des Billigkeitsprinzips als solche für eine Methodologie der Literaturinterpretation uninteressant bleibt, bleibt auch dann bestehen, wenn die bislang vorgebrachte Kritik zurückgewiesen werden könnte. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist der entscheidende Aspekt, dass ein transzendentales Billigkeitsprinzip als solches noch keine methodologischen Aussagen zu einem konkreten interpretativen Einzelfall machen kann. Diesen Punkt sieht Bjørn Ramberg am deutlichsten:¹⁰⁶ “The principle of charity […] offers no advice to us as interpreters, it yields no interpretational strategy. It is not a heuristic device, nor is it, accordingly, something we could get by without; it is a condition of possibility of interpretation.”¹⁰⁷

Da dieser Aspekt – trotz seiner Wichtigkeit – weder in der philosophischen noch in der literaturtheoretischen Diskussion angemessen präzise thematisiert wird, möchte ich ihn etwas vertiefen.¹⁰⁸ Zunächst ist festzuhalten, dass Davidsons eigene Formulierungen in diesem Kontext ungenau sind. Speziell die Bezeichnung seines principle of charity als „methodische[r] Ratschlag“¹⁰⁹ ist missverständlich.¹¹⁰ Es ist nicht im eigentlichen Sinn ein „Ratschlag“ („advice“), sondern qua

geben mag, dem Interpretierten eine vergleichbare Wahrnehmung der Welt zu unterstellen muss nicht heißen, dass es keine transzendentale Notwendigkeit gibt, dem Interpretierten zumindest irgendetwas zu unterstellen. Damit wären die obigen Bedenken eher als inhaltliche Kritik denn als formale Kritik zu verstehen.  Vgl. hierzu auch Petraschka 2012, 150 f.  Neben Ramberg 1989 und Spoerhase 2007 weist auch Künne 1990, 233 knapp auf diesen Punkt hin: „[D]as ‚principle of charity‘ ist in Davidsons Augen also […] keine empirische Hypothese“.  Ramberg 1989, 74.  Eine Ausnahme ist Spoerhase 2007, 338, der diesen wichtigen Aspekt ebenfalls erkennt: „Sollte es sich bei Davidsons Konzeption des principle of charity um eine (transzendentale) Möglichkeitsbedingung von Interpretation überhaupt handeln, so wäre das Billigkeitsprinzip nicht als eine Interpretationsmaxime zu verstehen, die bestimmte heuristische Strategien empfiehlt.“  Davidson 1984e, 199.  vgl. Ramberg 1989, Kapitel 6, v. a. 74– 81. Rambergs Davidson-Darstellung ist an diesen Stellen luzider als Davidsons eigene Ausführungen, was Davidson übrigens in einem Kommentar zu Ramberg 1989 auch selbst zugesteht: „[…] in a number of places Ramberg has explained my

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Möglichkeitsbedingung vielmehr Teil allgemeiner epistemischer Hintergrundannahmen, vor denen sich einzelne Interpretationsprozesse erst entspinnen können. Unter diese Verstehen ermöglichenden Hintergrundannahmen fällt bei Davidson, wie oben erläutert, nicht das Sprechen einer gemeinsamen Sprache, sondern das epistemische Postulat, dass der Interpret und der Interpretierte die Welt in etwa gleich wahrnehmen.¹¹¹ Die Rechtfertigung, davon auszugehen, dass der Interpretierte die Weltsicht im Großen und Ganzen mit dem Interpreten teilt, liefert das principle of charity – ohne diese unabdingbare Annahme ist Interpretation nicht möglich. Davidson ist sich selbstverständlich der Tatsache bewusst, dass es andauernd Fälle gibt, in denen andere Personen die Welt aus welchen Gründen auch immer anders wahrnehmen als wir. Es erfordert nicht einmal avancierte philosophische Gedankenexperimente um sich solche Situationen auszumalen, ein einfaches sich-Täuschen oder Übersehen eines Gegenstands reicht völlig aus. Solche Situationen tangieren aber nicht die allgemeine Gültigkeit des principle of charity, da es als holistisch wirksam gedacht werden muss. Dieser holistische Gedanke ist zentral für Davidsons principle of charity. Das transzendentale Billigkeitsprinzip versucht als holistisches Prinzip erst gar nicht, etwas über einen konkreten Einzelfall auszusagen. Ramberg hält aus eben diesem Grund auch die weithin akzeptierte Kritik Richard Grandys an Davidsons principle of charity für verfehlt. Als holistische Möglichkeitsbedingung wird es nach Rambergs Einschätzung gar nicht von den Einzelfällen betroffen, die Grandy (und andere) dazu bewegt haben, einige pragmatische Verbesserungen vorzuschlagen:¹¹² „The

views better than I have done, and perhaps better than I could.“ (Ramberg 1989, 156.) Der oben thematisierte Aspekt des principle of charity scheint mir eine dieser Stellen zu sein.  Vgl. auch Krämer 2001, 186: „Wenn ich in einer Regenböe stehe, halte ich die Aussage ‚es regnet‘ für wahr. Und was sich in diesem Fürwahrhalten ausdrückt, ist für Davidson etwas, das für Menschen als sprachliche Wesen schlechterdings gilt: Wir sind von dem, was wahr ist, auch überzeugt. […] Und ‚offensichtlich‘ heißt hier nicht nur, dass uns das logisch Inkonsistente nicht überzeugen kann, sondern bedeutet: Wir sind auch überzeugt von einem ganzen Netzwerk nichtlogischer Wahrheiten. Alle Menschen – unbeschadet ihrer kulturellen Differenzen – teilen eine große Portion von Überzeugungen über die Beschaffenheit der Welt miteinander. Der Witz der Interpretationstheorie ist also, dass die Voraussetzung, die unabdingbar erfüllt sein muß, damit Interpretation und Kommunikation möglich ist, gar nicht in einer geteilten Sprache besteht, vielmehr in einer geteilten Welt, die sich im Spiegel unseres gemeinsamen Fürwahrhaltens zeigt.“  Vgl. Grandy 1973, Lewis 1983b oder Williamson 2004. Auf die dort vorgebrachte Kritik werde ich in Abschnitt 3.1.1 noch ausführlich eingehen. Der bekannte Beispielfall des Martini trinkenden Philosophen, der Grandy dazu bewegt, die Zuschreibung erklärbarer Falschheit der Zuschreibung unerklärbarer Wahrheit vorzuziehen, wird in Grandy 1973, 445 wie folgt konstruiert: „Suppose Paul has just arrived at a party and asserts ‚The man with a martini is a philosopher.‘ And suppose the facts are that there is a man in plain view who is drinking water from a

2.1 Die transzendentale Variante Donald Davidsons

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principle of charity is not a pragmatic constraint on choice between different interpretations, but a precondition for interpretation. As a precondition it also does away with the need for pragmatic constraints“.¹¹³ Der Hinweis auf einzelfalltaugliche Spezifikationen geht dementsprechend am Ziel vorbei: „Understanding this relation is seeing that any attempt to spell out the principle of charity is [sic; lege „in“] sociological, psychological or anthropological terms is changing the subject.“¹¹⁴ Das transzendentale Billigkeitsprinzip kann damit einiges von dem, was ihm Kritiker abverlangen, schon eo ipso nicht leisten, erst aus ihm abgeleitete hypothesenartige Prinzipien können (und sollten) in soziologischer, psychologischer, anthropologischer oder auch philologischer Hinsicht ausbuchstabiert werden. Aus einer Möglichkeitsbedingung von Interpretation kann sich zwar eine Handlungsanweisung für den Interpreten in einem spezifizierten Einzelfall ergeben (z. B. in Form einer Präsumtion)¹¹⁵, die dann auch den schlüssigen Anmerkungen Grandys zu entsprechen hat, qua Möglichkeitsbedingung ist das transzendentale Billigkeitsprinzip aber noch keine solche Handlungsanweisung. Die Idee, dass aus einem transzendentalen Billigkeitsprinzip eine konkrete methodenstrategische Anweisung „abzuleiten“ sein könnte, ist wie folgt zu verstehen:¹¹⁶ Eine hypothesenartige Formulierung des Billigkeitsprinzips kann unabhängig von einer Möglichkeitsbedingung thematisiert werden. Sollte Davidsons transzendentale Konzeption des principle of charity zutreffend sein, wäre damit lediglich die stärkstmögliche Rechtfertigung für die Formulierung eines Billigkeitsprinzips als heuristische Maxime gesichert. In anderen Worten: Sofern nicht ohne hermeneutische Billigkeit interpretiert werden kann, hat man offensichtlich zwingende Gründe, ein Billigkeitsprinzip als heuristische Maxime im Rahmen eines Interpretationsprozesses zu veranschlagen. Sollte Davidsons Konzeption

martini glass and that he is not a philosopher. Suppose also that in fact there is only one man at the party drinking a martini, that he is a philosopher, and that he is out of sight in the garden. Under the circumstances the charitable thing to do would be to take Paul’s remark at face value (homophonically), since that is simple and makes his remark true. But the natural thing to do is to understand him as having asserted something false, or at least to view the situation as one in which his utterance shows that he has a false belief. This is what is predicted by the principle of humanity, of course, for that constraint instructs us to prefer the interpretation that makes the utterance explicable. Since no reason could be given as to why Paul would have a belief about the philosopher in the garden, it is better to attribute to him an explicable falsehood than a mysterious truth.“  Ramberg 1989, 77.  Ramberg 1989, 77, [meine Hervorhebung].  Hierzu ausführlich Kapitel 2.4.  Vgl. zum Folgenden auch Petraschka 2012.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

aber an ihren diversen Problemen scheitern, fällt damit nicht gleichzeitig das Billigkeitsprinzip als (präsumtive) Hypothese, es ändert sich nur die Rechtfertigungssituation. Statt darauf zu verweisen, dass gar nicht unnachsichtig interpretiert werden kann, muss der Vertreter einer Billigkeitspräsumtion in diesem Fall einfach nicht-transzendentale, möglichst gute Gründe für ihre Anwendung im Rahmen eines Interpretationsprozesses finden. Auch wenn die theoretische Möglichkeit bestehen sollte, ohne ein Billigkeitsprinzip zu interpretieren, heißt das nicht zwingendermaßen, dass Interpretation unter Bezugnahme auf ein Billigkeitsprinzip eine schlechte Idee sein muss. Methodologisch mag es immer noch klug sein, im gegebenen Einzelfall dem Interpretationsobjekt nachsichtigerweise bestimmte Kriterien zu unterstellen. Für die philologische Hermeneutik ist genau jene methodologische Anleitung interessant. Selbst in dem Fall, dass die gesamte Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie Davidsons Überlegungen zum transzendentalen Status des Billigkeitsprinzips anerkennen würde und alle damit zusammenhängenden Unstimmigkeiten aufgelöst werden könnten, reicht das für die Belange philologischer Textinterpretation nicht aus. Von zentralem Interesse für den Fall reflexiv aufwändiger, philologischer Interpretation bleibt eine hypothesenartige und methodologisch aussagekräftige Variante des Billigkeitsprinzips, die aus der transzendentalen Hintergrundannahme erst abzuleiten ist. Die Frage, wie eine solche nicht nur holistisch gültige, maximenförmige Variante des Billigkeitsprinzips auszudifferenzieren ist, mit welcher Kritik sie sich auseinandersetzen und welchen Modifikationen sie sich für die Anwendung auf literarische Texte unterziehen muss, ist unabhängig von der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Interpretation überhaupt zu beantworten.

2.2 Evaluative Varianten Eine erste Möglichkeit, diese Erkenntnisse zu berücksichtigen, ist, das Billigkeitsprinzip als ein evaluatives Kriterium zur Unterscheidung bzw. Hierarchisierung konkurrierender Interpretationen zu veranschlagen. Als operationale Definition für diese Version des Billigkeitsprinzips lässt sich eine Maxime etwa der folgenden Form festhalten:¹¹⁷

 Brickhouse, Smith 2000, 5 formulieren z. B. ihre Version des principle of charity auf eine vergleichbare Weise: „The Principle of Charity: Other things being equal, the interpretation that provides a more interesting or more plausible view is preferable.“

2.2 Evaluative Varianten

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Evaluatives Billigkeitsprinzip: Unter sonst gleichen Bedingungen ist diejenige Interpretation zu bevorzugen, die die billigste/nachsichtigste Sichtweise des Interpretandums liefert. Offensichtlich ist in dieser Formulierung eines allgemeinen evaluativen Billigkeitsprinzips unbestimmt, was genau unter der „billigsten/nachsichtigsten Sichtweise“ verstanden werden soll. Für die in diesem Kapitel angestrebte primär formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien scheint mir dieser Ausdruck aber ausreichend. Er kann an dieser Stelle als allgemeiner Platzhalterbegriff verstanden werden. Wie die Rede von einer „billigsten/nachsichtigsten Sichtweise“ dann inhaltlich zu konkretisieren sein könnte, werde ich in Kapitel 3 gesondert diskutieren. Da evaluative Varianten des Billigkeitsprinzips sowohl innerhalb der Hermeneutik als auch der (analytischen) Sprachphilosophie vertreten werden, sollen die wesentlichen Charakteristika anhand eines exemplarischen Blicks auf die Überlegungen Wilsons – als Vertreter der analytischen Philosophie – und Meiers – als Vertreter der Hermeneutik – deutlich gemacht werden.

2.2.1 Neil Wilsons principle of charity Wilson, der – wie einleitend schon angesprochen – 1959 das Billigkeitsprinzip unter dem Label principle of charity in die Debatte der angloamerikanischen Sprachphilosophie eingeführt hat, versteht es auf diese „evaluative“ Art und Weise. Die oben vorgeschlagene operationale Definition einer evaluativen Fassung des Billigkeitsprinzips ließe sich für Wilson wie folgt präzisieren: „Unter sonst gleichen Bedingungen ist diejenige Interpretation zu bevorzugen, die die (numerisch) meisten Aussagen des Interpretierten wahr macht.“ Wilson geht es in seinem Essay Substances without Substrata nicht direkt um Billigkeitsprinzipien, sondern in erster Linie um eine „investigation into the nature of individuals“.¹¹⁸ Er stellt keine allgemeinen interpretationstheoretischen Analysen an, sondern versucht, „some kind of systematic account of naming“,¹¹⁹ also eine Art Kennzeichnungstheorie von Eigennamen zu entwerfen. Der so wirkungsmächtig gewordene Begriff interpretativer charity fällt im Laufe des Aufsatzes nur dreimal. Die für diesen Kontext relevante Idee Wilsons ist in aller Kürze, dass wir zur Beantwortung der Frage „Wie finden wir heraus, wen oder was ein bestimmter Name in der Sprache eines bestimmten Sprechers bezeichnet?“ ein

 Wilson 1959, 521.  Wilson 1959, 536.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

principle of charity verwenden sollten: „And so we act on what might be called the Principle of Charity. We select as designatum that individual which will make the largest possible number of Charles’ statements true.“¹²⁰ In Wilsons Beispielfall äußert ein Sprecher Charles fünf Aussagen über Caesar, woraufhin der Interpret diese auf ihre Richtigkeit überprüft und feststellen kann, dass sich in Charles’ Sprache LC der Name „Caesar“ auf die historische Person Julius Caesar bezieht: „Once we conduct our historical investigation and have applied the principle of charity to Charles’ five assertions then we are in a position to say that for Charles the name ‚Caesar‘ designates Julius Caesar.“¹²¹ Wie genau diese „investigation“ mitsamt Anwendung des Billigkeitsprinzips funktioniert, wird deutlicher, wenn man Wilsons Beispiel etwas abwandelt. Nehmen wir an, Charles* trifft folgende fünf Aussagen in LC*: 1) Caesar war der Sohn von Aurelia. 2) Caesar überschritt den Rubikon. 3) Caesar wurde 1961 auf Hawaii geboren. 4) Caesar ist der erste schwarze Präsident der USA. 5) Caesar ist Träger des Friedensnobelpreises. Offensichtlich ist die Identifikation des Bezugsgegenstandes von „Caesar“ in LC* nach Wilsons Vorschlag nicht ganz so einfach – zumindest ist das Ergebnis überraschender. Um zwischen den für den Namen „Caesar“ in LC* in Frage kommenden Bezugsgegenständen entscheiden zu können, ist der Interpret wie schon in Wilsons Originalbeispiel angehalten, das principle of charity anzuwenden: Er betrachtet den Namen „Caesar“ also zunächst als eine Art Variable und macht sich auf die Suche nach der Entität, auf die die meisten der fünf Aussagen zutreffen, d. h. nach der Entität, die, setzt man sie für den Namen „Caesar“ ein, die meisten der fünf Aussagen wahr macht. Diesem Schema entsprechend hält uns Wilsons

 Wilson 1959, 532.  Wilson 1959, 532. Die fünf Aussagen Charles’ sind: (1) Caesar conquered Gaul. (2) Caesar crossed the Rubicon. (3) Caesar was murdered on the Ides of March. (4) Caesar was addicted to the use of the ablative absolute. (5) Caesar was married to Boadicea. (S. 530) Geht man davon aus, dass sich „Caesar“ in LC auf die historische Person Julius Caesar bezieht, sind die Aussagen (1) bis (4) wahr, (5) ist falsch. Geht man davon aus, dass sich „Caesar“ in LC auf Prasutagus bezieht, ist (5) wahr, (1) bis (4) sind falsch. Da Wilsons principle of charity vorschlägt, jene Interpretation zu wählen, nach der die meisten der in Betracht gezogenen Aussagen wahr sind, kann der nachsichtige Interpret berechtigterweise davon ausgehen, dass sich der Name „Caesar“ in LC auf Julius Caesar bezieht und nicht auf Prasutagus.

2.2 Evaluative Varianten

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principle of charity dazu an, „Caesar“ in LC* eben nicht auf den römischen Kaiser Gaius Julius Caesar zu beziehen, sondern auf Barack Obama, da in letzterem Fall drei der fünf Aussagen ((3), (4), (5)) wahr sind, in ersterem Fall nur zwei ((1), (2)). Der Interpret von Charles* sollte also nachsichtigerweise davon ausgehen, dass Charles* immer dann, wenn er den Namen „Caesar“ verwendet, über die historische Person Barack Obama spricht. Bei den allermeisten Autoren wird die Bedeutung des Billigkeitsprinzips gegenüber Wilsons Vorschlag in mindestens zweierlei Hinsicht erweitert. Es wird einmal versucht, das Billigkeitsprinzip nicht nur zur Bedeutungsidentifikation von Eigennamen, sondern zur Interpretation von allen möglichen sprachlichen oder nicht-sprachlichen semantischen Gehalten zu verwenden. Außerdem wird die Fixierung auf eine numerische Maximierung wahrer Aussagen zu Gunsten eines genaueren Abwägungsmechanismus verworfen. Schon an einem kurzen Beispiel ist klar zu sehen, dass einige Überzeugungen mehr Gewicht haben als andere. Nehmen wir an, ein Sprecher macht folgende drei Aussagen: 1) Caesar war der Sohn von Aurelia. 2) Caesar überschritt den Rubikon. 3) Caesar ist kein Mensch. Obwohl es nach Wilsons Version des Billigkeitsprinzips auch in diesem Fall plausibel sein sollte, den Namen „Caesar“ auf die historische Person Gaius Julius Caesar zu beziehen, wirkt dieses Vorgehen wenig überzeugend. Die historische Person Gaius Julius Caesar als Bezugsgegenstand des Namens ist zwar einer numerischen Maximierung wahrer Aussagen entsprechend ideal gewählt (Aussagen (1) und (2) sind wahr, lediglich (3) ist falsch), dass der Interpretierte aber eine so offenkundig absurde Überzeugung wie (3) über die historische Person Gaius Julius Caesar haben könnte, macht die Interpretation dennoch fragwürdig: Jeder Interpret wird dem Interpretierten eher eine falsche Überzeugung hinsichtlich der Abstammung oder überschrittener oder nicht überschrittener Flüsse zuschreiben, als einen Irrtum über die Spezieszugehörigkeit. Da es dementsprechend äußerst unwahrscheinlich ist, dass der interpretierte Sprecher (3) in Bezug auf die historische Person Gaius Julius Caesar vertritt, scheint (3) als Aussage mehr Gewicht zu haben als (1) und (2), möglicherweise sogar mehr als (1) und (2) zusammen. Eine rein numerische Maximierung von wahren Aussagen ist als Abwägungsmechanismus nicht feinkörnig genug, um eine präzise Bestimmung des Bezugsgegenstandes von Namen in einer Sprache anzugeben.¹²²

 Wilson 1959, 535 erkennt auch selbst, dass seine Fixierung auf die numerische Maximierung wahrer Aussagen problematisch ist: „This account is inadequate because we have not

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Trotz dieser mangelhaften Ausdifferenzierung und der recht eingeschränkten Verwendungsweise eignet sich der Blick auf Wilson gut zur Illustration der Kategorie „evaluativer“ Billigkeitsprinzipien. Wilsons Billigkeitsprinzip ist im oben explizierten Sinn evaluativ, da es dem Interpreten Anleitung gibt, welche Interpretationsalternative – Caesar oder Prasutagus im Fall Charles, Caesar oder Barack Obama im Fall Charles* – er am besten bevorzugen sollte. Das Billigkeitsprinzip ist zwar als handlungsleitende Maxime aufgefasst, wird aber aus dem eigentlichen Interpretationsprozess ausgespart und kommt erst zum Einsatz, wenn es um eine Wahl zwischen bereits existierenden Alternativen geht. Die Interpretationsalternativen Caesar, Prasutagus oder Barack Obama bieten sich dem Interpreten mehr oder minder von selbst an. Um zu diesen Alternativen zu kommen, ist noch kein principle of charity nötig. Es ist erst relevant, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, welche der in Frage kommenden Möglichkeiten die unter gegebenen Umständen beste ist.

2.2.2 Georg Friedrich Meiers hermeneutisches Billigkeitsprinzip Eine vergleichbare Struktur wird bei einem Sprung von mehr als 200 Jahren zurück durch einen Blick auf das von Georg Friedrich Meier vorgeschlagene Billigkeitsprinzip noch deutlicher. Meier bestimmt sein Prinzip hermeneutischer Billigkeit wie folgt: Die hermeneutische Billigkeit (aequitas hermeneutica) ist die Neigung eines Auslegers, diejenigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erwiesen wird.¹²³

taken cognizance of the fact that some of the things asserted about Caesar have greater weight attached to them than others.“ Da es ihm wie schon angesprochen nicht primär um Billigkeitsprinzipien geht, begnügt er sich in der Folge aber mit dem lapidaren Hinweis, dass dies alles „rather fuzzy considerations“ seien und schlägt kein alternatives Modell vor.  Meier 1996, 17. In §39, der hier zitierten Stelle, fällt der Begriff der hermeneutischen Billigkeit zum ersten Mal. In der Folge formuliert Meier seine Aussagen zur Billigkeit auch konkret als Maxime für den Interpreten und ersetzt die Formulierung „ist die Neigung eines Auslegers“ zumeist durch „muss der Ausleger“. Ein Beispiel: „Ein Ausleger, welcher willkürliche Zeichen auslegt, muß diejenige Bedeutung für hermeneutisch richtig halten, welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers derselben am besten übereinstimmt, bis das Gegenteil erhellet“. (37; §95) Wie schon bei Wilson soll auch bei Meier vor allem die Struktur des Prinzips genauer beleuchtet werden, ohne dass primär von Interesse ist, was Meier genau mit „hermeneutisch wahr“ bzw. mit „Vollkommenheiten“ meint. Für die Zwecke dieses Abschnitts reicht es aus, unter „hermeneutisch wahr“ in etwa „den Intentionen des Autors entsprechend“ und unter „Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen“ die von Meier 1996, 38 aufgelisteten Kriterien

2.2 Evaluative Varianten

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Inwiefern ist Meiers Prinzip hermeneutischer Billigkeit als evaluativ zu verstehen? Meiers Billigkeitsprinzip leitet den Interpreten an, über die „hermeneutische Wahrheit“ bestimmter Bedeutungsalternativen zu entscheiden, ohne dass dabei jedoch eine methodische Strategie entworfen würde, wie der Interpret zuallererst zu diesen Bedeutungen kommen kann. Die Interpretationsprobleme, zu deren Lösung das Billigkeitsprinzip hilfreich sein kann, treten erst dann auf, wenn der eigentliche Interpretationsprozess schon abgeschlossen ist. Die Stellen, an denen sich Meier hierzu äußert, machen deutlich, dass er zumindest ein Verstehen im Sinne der unteren Verstehensstufen für weitgehend unproblematisch hält. Zwei Beispiele: Wenn der Ausleger so gut, als es in seinem Vermögen steht, den Text erkennen will, so muß er die Sprache, derer sich der Autor, den er auslegen will, bedient hat, verstehen und in seiner Gewalt haben.¹²⁴ Der unmittelbare Sinn der Rede kann durch die authentische Auslegung und aus derselben erkannt werden. Allein da zu dieser Erkenntnis die allerwenigsten und kleinsten Kräfte des Auslegers erfordert werden, so ist sie unter allen die allerleichteste Auslegung und verdient kaum den Namen einer Auslegung in Absicht des Auslegers, welcher von dem Autor verschieden ist.¹²⁵

Das Erschließen eines „unmittelbaren Sinns“ ist nach Meier problemlos möglich, sofern der Interpret die Sprache des Autors spricht, bzw. „in seiner Gewalt hat“. Da nur die „kleinsten Kräfte“ des Interpreten beansprucht werden, scheint Meier kaum mehr der Terminus „Auslegung“ sinnvoll. Von besonderem Interesse ist dabei, dass Meier an anderer Stelle die viel schwierigere Interpretation des uneigentlichen Sinnes eines Textes ebenfalls als vergleichsweise unproblematisch charakterisiert. Auch Alternativen für den uneigentlichen Sinn eines Textes sind nach Meier kaum schwieriger zu gewinnen, der jetzt im technischen Sinn interpretierende Ausleger ermittelt sie analog zum unmittelbaren Sinn der Rede, indem er sie einfach „erkennt“: „Die uneigentliche Bedeutung ist der eigentlichen sehr ähnlich. Folglich ist es einem Ausleger, der einen großen Witz hat, sehr leicht, den uneigentlichen buchstäblichen Sinn zu erkennen.“¹²⁶ Zur Erkenntnis der Sinnalternativen braucht der Interpret nicht eine auf dem Billigkeitsprinzip fußende Methode, sondern „großen Witz“.

„Fruchtbarkeit seines Kopfes“, „Größe seines Gemüts“, „Wahrhaftigkeit“, „Verständlichkeit“ und „Gründlichkeit“ zu verstehen.  Meier 1996, 52.  Meier 1996, 55.  Meier 1996, 60.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Das Prinzip hermeneutischer Billigkeit wird erst im Anschluss an die gewissermaßen von selbst ablaufenden interpretativen Prozesse wichtig. Es hält den Ausleger analog zu Wilsons principle of charity dazu an, unter allen möglichen Alternativen, die sich ihm durch das Verständnis des Textes bzw. der Rede präsentieren, diejenige als gültig zu erachten, die den unterstellten Vollkommenheiten am ehesten entspricht. Genau auf diese evaluative Dimension des Meierschen Billigkeitsprinzips spielt auch Hans Rott an, um Meier von Davidson abzugrenzen: Meiers Interpreten haben die Aufgabe, aus einer Menge von sich gleichsam selbst anbietenden Deutungsalternativen „die richtige“ (d. h. die vom Autor gemeinte) Bedeutung herauszufinden. Davidsons Interpreten hingegen stehen vor dem viel grundsätzlicheren Problem, mögliche Bedeutungen zuallererst zu konstituieren.¹²⁷

Ungeachtet der unterschiedlichen inhaltlichen Ausdifferenzierung der Formulierung „billigste Sichtweise“ aus der obigen operationalen Definition ist evaluativen Varianten der entscheidende strukturelle Punkt gemeinsam, dass das Billigkeitsprinzip nicht eigentlich Teil der interpretativen Tätigkeit als solcher ist, sondern erst ex post im Rahmen der Evaluation bereits vorliegender Interpretationsergebnisse zur Anwendung kommt. Über das methodologische Problem, wie zu diesen alternativen Ergebnissen gelangt wird, wie also ein Interpretationsprozess zu strukturieren ist, ist damit noch nichts gesagt. Eben damit ist auch das entscheidende Problem für die Anwendung eines evaluativen Billigkeitsprinzips in der Literaturinterpretation benannt. Obwohl ein evaluatives Billigkeitsprinzip einzelfallspezifische Anweisungen geben kann, kann es als erst ex post greifendes Kriterium nicht als methodische Grundlage für eine philologische Hermeneutik dienen. Ziel einer hermeneutischen Interpretationsmethode ist es nicht in erster Linie, vorliegende Interpretationsergebnisse zu bewerten oder zu hierarchisieren, sondern zuallererst planvoll zu diesen Ergebnissen zu kommen. Der Einsatzpunkt eines philologisch interessanten Billig-

 Rott 2000, 37 f. Im Lichte der obigen Ausführungen ist Rotts Parallelisierung von Meier und Davidson an anderer Stelle etwas missverständlich: „Zweitens haben die Prinzipien der Billigkeit und Nachsicht der Charakter von Vor-Urteilen oder Unterstellungen: […] Billigkeit und Nachsicht sind im Prozeß der Interpretation drittens keine freiwilligen, optionalen Haltungen oder Strategien. Sie sind, so muß man Meier wie Davidson lesen, unerläßlich für das Verstehen und Interpretieren von sprachlichen Erzeugnissen. Insofern kann man sie als Vor-Urteile a priori ansehen.“ Rott ist insofern zuzustimmen, als das Billigkeitsprinzip für beide „unerläßlich“ ist, aber nur für Davidson ist es im zitierten Sinn „unerläßlich für das Verstehen und Interpretieren von sprachlichen Erzeugnissen“, für Meier ist es eher unerläßlich zur fundierten Wahl zwischen bereits verstandenen Interpretationsmöglichkeiten.

2.3 Daumenregel-Varianten

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keitsprinzips muss früher sein, es muss bereits während des Interpretationsprozesses selbst handlungsleitend werden.

2.3 Daumenregel-Varianten Eine Variante des Billigkeitsprinzips, die sowohl die methodologische Forderung nach einem Inkrafttreten schon im Interpretationsprozess selbst (als zentrales Monitum der evaluativen Variante, vgl. 2.2) erfüllt und zudem eine konkrete heuristische Hypothese für den Interpreten liefert (als zentrales Monitum der transzendentalen Variante, vgl. 2.1), ist die Daumenregel-Variante. Das Billigkeitsprinzip als „commonsense rule of thumb“¹²⁸ hat die Form einer bewusst groben und undifferenzierten Maxime etwa folgender Form: Daumenregel-Billigkeitsprinzip: Treten im Lauf eines Interpretationsprozesses so viele Unstimmigkeiten auf, dass sie den Interpretierten als überwiegend irrational erscheinen lassen, ist es im Großen und Ganzen besser, davon auszugehen, dass der Interpret einen Fehler gemacht hat, als dass der Interpretierte tatsächlich irrational ist.¹²⁹ Laut Daumenregel-Variante ist die Anwendung des Billigkeitsprinzips ratsam, um Interpretationsprozesse sinnvoll durchlaufen zu können, da es z. B. durch Übereilung oder mangelnde Sorgfalt entstehende Fehlinterpretationen verhindert. Es klagt ein höheres Vertrauen auf die Rationalität des Interpretierten (respektive des Autors eines zu interpretierenden Textes) ein und hält den Interpreten dazu an, Ungereimtheiten wenn möglich der mangelnden Ausgereiftheit eigener Interpretationshypothesen anzulasten. Letztlich ist damit ein allgemeiner warnender Hinweis expliziert, der zu ganz unterschiedlichen Dingen auffordert, z. B. dazu, im Rahmen des Interpretationsprozesses offen für Unerwartetes zu sein, dem Interpretierten ganz allgemein so etwas wie Rationalität und Kommunikationsabsicht zu unterstellen und generell hermeneutische Prozesse nicht übereilt aufgrund von Unverständnis, Überforderung oder anderweitiger Frustration abzubrechen.

 Hacking 1975, 150.  Eine vergleichbare Variante findet sich bei Lueken 1997, 508: „Entsteht der Eindruck, daß andere Sprecher überwiegend falsches, dummes oder unsinniges Zeug von sich geben, so suche den Fehler zuerst bei dir selbst.“

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

2.3.1 Inhaltliche Unbestimmtheit So plausibel dieser Appell an den gesunden Menschenverstand auch sein mag, er krankt dennoch – gerade aus Sicht der philologischen Hermeneutik – an mangelnder Konkretheit. Über die ohne Zweifel sinnvollen allgemeinen Richtlinien hinaus sagt eine Daumenregel hermeneutischer Billigkeit nur wenig aus, es bleibt offen, wie genau die postulierten Vorgaben im Einzelfall umzusetzen sind. Weder wird versucht festzumachen, welche Art von Unstimmigkeiten im Interpretationsprozess eine Überarbeitung der Interpretationshypothesen auslösen, noch welche Arten von Fehlern sich der Interpret selbst zuschreiben soll, noch auf welche Weise er seine Interpretationstheorie zu revidieren, zu korrigieren oder zu modifizieren hat, noch wie die Daumenregel selbst gerechtfertigt werden könnte. Damit sind Defizite benannt, die Daumenregel-Varianten speziell aus Sicht der philologischen Interpretation problematisch machen. Philologische Textinterpretation ist, wie einleitend argumentiert, als elaborierter Prozess zu verstehen, der durch möglichst präzise wissenschaftliche Methodologie zu fundieren ist. Eine wissenschaftliche Methodologie ist nun aber daran interessiert, genau jene Punkte näher zu charakterisieren, an denen Daumenregel-Varianten die Aussage verweigern. Methodische Anweisungen lassen sich dementsprechend trotz der geeigneten formalen Konstruktion als heuristische Hypothese nur schwerlich aus den unspezifischen Ratschlägen der Daumenregel-Varianten ableiten. Was die Daumenregelvariante grundlegt, ist dezidiert keine wissenschaftliche Methode, sondern eher eine Art allgemeiner Ethik interpretativer Toleranz. Sofern ein darüber hinausgehender, wissenschaftlichen Ansprüchen genügender und regelgeleiteter Umgang mit Texten fundiert werden soll, ist eine Variante des Billigkeitsprinzips nötig, die spezifischere Aussagen machen kann – was die Daumenregel-Variante gerade eben bewusst vermeiden will. Dieses Vermeiden konkreterer Aussagen ist nicht nur eine Unschärfe, die bei Bedarf konkretisiert werden kann, sondern Wesensmerkmal der Daumenregelvarianten. Hierauf wird von ihren Vertretern an den entsprechenden Stellen auch mehr oder weniger deutlich hingewiesen: „There is nothing wrong with the principles of charity and humanity if they are just commensense rules of thumb“¹³⁰ erklärt etwa Hacking, und Lueken pocht darauf, dass er nur gegen eine „harmlose und übrigens mit Feyerabends ‚anthropologischer Methode‘ vereinbare Lesart […] keine Einwände“¹³¹

 Hacking 1975, 150 f. [meine Hervorhebung]  Lueken 1997, 508. Lueke erklärt ebenda weiter: „In dieser Variante kann uns das Prinzip vor voreiligen Urteilen bewahren, läßt aber ansonsten alles offen. Vielleicht haben wir nicht richtig verstanden; vielleicht erscheinen uns die Äußerungen der anderen aber auch nur falsch oder

2.3 Daumenregel-Varianten

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hat. Sollte nachgewiesen werden können, dass die Daumenregel-Variante anderen Varianten des Billigkeitsprinzips prima facie überlegen ist, wäre dies demnach auch problematisch für eine philologische Hermeneutik, die ein Prinzip hermeneutischer Billigkeit als Grundlage ihrer Methodik begreift. Die Ablehnung differenzierterer Aussagen, das bewusste „Alles-offen-Lassen“, das die Daumenregel-Variante charakterisiert, liegt meistens in einem gegen eine präzisere Ausdifferenzierung gerichteten Einwand begründet, den man als „Imperialismus-Einwand“ bezeichnen kann. Die grobe Idee hinter diesem Einwand ist, dass jedes Billigkeitsprinzip, das konkretere Vorgaben macht, die geforderte Ethik interpretativer Toleranz zu verletzen scheint und damit unbrauchbar wird. Vertreter des Imperialismus-Einwands wie Hacking, Lueken oder MacCabe kritisieren stärkere Varianten dementsprechend auch explizit als dogmatisch bzw. imperialistisch.¹³² Sie wenden ein, dass Begriffe wie charity oder humanity das Nebeneinander pluralistischer Kulturen einschränkten oder durch ihre Verwendung im Kontext der Kolonisierung vorbelastet seien und sehen in einer inhaltlich näher bestimmten Billigkeitsprinzipien anhängenden Hermeneutik Parallelen zu imperialistischer Politik: „Linguistic imperialism is better armed than the military for perhaps it can be proved, by a transcendental argument, that if the native does not share most of our beliefs and our wants, he is just not engaged in human discourse, and is at best subhuman. (The native has heard that one before too.)“¹³³ Nach Luekens Einschätzung ist z. B. Davidsons principle of charity „zu einer Methode geworden, die für Differenz zwischen menschlichen Orientierungssystemen und Lebensformen keinen Platz mehr läßt“.¹³⁴ Auch MacCabe wirft Ver-

dumm, weil wir selber im Irrtum sind. Wo und wie wir den Fehler bei uns suchen sollen ist nicht gesagt.“  Weitere Stellen, an denen sich vergleichbare, aber etwas abgeschwächte Varianten des Imperialismus-Einwands finden, sind z. B. Govier 1987, 139: „[O]therness of other minds and cultures may be lost if charity goes too far“, und Pappas 1989, 257: „[A]n excess of charity means the dissolution of differences between readers and writers“.  Hacking 1975, 149 f. Die ausführliche Stelle lautet: „The very names given to these principles, and the fact that some writers invoke them as principles to enable us to translate the speech of ‚natives‘, may raise a wry smile. ‚Charity‘ and ‚Humanity‘ have long been in the missionary vanguard of colonizing Commerce. Our ‚native‘ may be wondering whether philosophical B52s and strategic hamlets are in the offing if he won’t sit up and speak like the English. Linguistic imperialism is better armed than the military for perhaps it can be proved, by a transcendental argument, that if the native does not share most of our beliefs and our wants, he is just not engaged in human discourse, and is at best subhuman.“  Lueken 1997, 509.

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tretern stärkerer Varianten vor, eine „radical confrontation with difference“¹³⁵ zu leugnen, was unter Umständen zu imperialistischen Gedanken des frühen 19. Jahrhunderts zurückführen könne: „Thus one of the most eminent of contemporary Anglo-Saxon philosophers [Davidson] would lead us back to a position which has much in common with Macauley.“¹³⁶ Um dies zu vermeiden, ist es nach Auffassung der Daumenregel-Vertreter essentiell für das Billigkeitsprinzip, keine konkreten, möglicherweise restriktiven und als verbindlich gedachten Aussagen zu machen und sinnvoll, sich stattdessen auf eine nicht weiter spezifizierte Daumenregel der oben vorgeschlagenen Form zurückzuziehen. Die in dem „Imperialismus-Einwand“ enthaltene Kritik vermischt einige zu differenzierende Aspekte. Sie kann auf drei Arten verstanden werden.

2.3.2 Ideologischer Imperialismus Sofern Vertretern konkreterer Varianten des Billigkeitsprinzips mit dem Imperialismus-Einwand eine imperialistisch-faschistoide Ideologie unterstellt wird, scheint mir der Einwand bloß polemisch und in der Sache nicht tragfähig. Davidsons Argumentation – die meist als Hauptziel der Vorwürfe dient – ist frei von einer wie auch immer gearteten, ideologischen Aufwertung westlichen Denkens. Dass in den Beispielen zu radikaler Interpretation, wie Hacking richtig bemerkt, zumeist von „Eingeborenen“ („natives“) gesprochen wird, dient lediglich einer Veranschaulichung der abstrakten Überlegungen und beinhaltet keine Abqualifizierung bestimmter Kulturkreise. Es geht Davidson nur darum, Sprecher einer vollständig unbekannten Sprache zu finden. Die Idee, solche Sprecher könnten Eingeborene eines bislang nicht erschlossenen Gebiets irgendwo im Dschungel des Regenwalds sein, ist an sich plausibel. Sollten die Kritiker zufrieden sein, sofern die Eingeborenen durch sprachfähige Geister, Supercomputer oder Marsmännchen ersetzt werden – um für ausreichend Distanz zu anthropologischen

 MacCabe 1986, 7.  MacCabe 1986, 7. Der Verweis auf „Macauley“ bezieht sich auf Thomas Babington Macauley, der 1834 eine Position des englischen supreme council in Indien übernahm und durch imperialistisch-faschistoide Aussagen zweifelhafte Berühmtheit erlangte. MacCabe 1986, 5 zitiert z. B. Macauleys Aussage, er kenne nicht einen Orientalen, „who could deny that a single shelf of a good European library was worth the whole native literature of India and Arabia“. Weiterhin stammt von Macauley die These, dass „all the historical information which has been collected from all the books written in the Sanskrit language is less valuable than what may be found in the most paltry abridgements used at preparatory schools in England“.

2.3 Daumenregel-Varianten

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oder sozialhistorischen Diskursen zu sorgen – dürfte Davidson nichts dagegen haben, an Substanz verlieren stärkere Varianten des Billigkeitsprinzips dadurch jedenfalls nichts. Plausibler und dabei gleichzeitig auch interessanter ist es, den ImperialismusEinwand als Artikulation eines grundsätzlicheren Bedenkens angesichts des Billigkeitsprinzips zu verstehen. Wenn – so könnte der eher epistemologisch als ideologisch motivierte Vertreter des Imperialismus-Einwands argumentieren – der Interpret dem Interpretierten immer schon konkrete eigene Überzeugungen zuschreibt, ist es schon a priori unmöglich, den Anderen als Anderen zu verstehen. Der Interpretierte erscheint eher als Spiegelbild des Interpreten denn als eigene Person mit potentiell radikal abweichenden Ansichten bzw. Überzeugungen über die Welt. Der Vorwurf an konkreter ausbuchstabierte Billigkeitsprinzipien ist dementsprechend entweder, dass sie unzulässiger Weise die Position des Interpreten bezüglich der unterstellten Inhalte bevorzugen, oder unzulässiger Weise die Möglichkeit vollständigen Missverstehens zwischen Interpretem und Interpretiertem ausblenden würden. Sehen wir uns zunächst die erste Möglichkeit eines inhaltlichen Imperialismus genauer an.

2.3.3 Inhaltlicher Imperialismus Zunächst ist festzuhalten, dass der Vorwurf der inhaltlichen Voreingenommenheit unabhängig von der inhaltlichen Konkretisierung der nachsichtigerweise unterstellten Kriterien ist. Es ist genauso gut möglich, voreingenommen z. B. in Bezug auf Wahrheit zu sein, wie voreingenommen in Bezug auf Kohärenz oder anders ausdifferenzierte Unterstellungen. Aus diesem Grund ist der Einwand meiner Auffassung nach neutral gegenüber dem Inhalt der Unterstellungen, weshalb ich ihn an dieser Stelle der Untersuchung diskutiere und nicht in den später folgenden, inhaltliche Fragen thematisierenden Kapiteln zu Wahrheit¹³⁷ oder Kohärenz.¹³⁸ In der Forschung wird der Imperialismus-Einwand in dieser Form meist am Beispiel der Wahrheitsunterstellung diskutiert.¹³⁹ Obwohl diese Beispielwahl – wie eben verdeutlicht – nicht zwingend notwendig sein mag, ist das Problemfeld Wahrheit zur exemplarischen Veranschaulichung der Stoßrichtung des Einwands dennoch gut geeignet.

 Vgl. Kapitel 3.1.  Vgl. Kapitel 3.2.  Vgl. Lehrer 1990, 133, Lueken 1997, 508 f., Wellmer 1999, 75 und Spoerhase 2007, 366 – 370.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Der wesentliche Punkt des Einwands lässt sich zeigen, wenn man die von Quine, Davidson und anderen immer wieder bemühte Beispielsituation der radikalen Interpretation einmal umkehrt. Nehmen wir also an, ein in einem entfernten Amazonasgebiet gelegener Stamm ist im Großen und Ganzen so verfasst, wie er in den Beispielen üblicherweise skizziert wird. Er spricht eine unbekannte Sprache und hat keinerlei Kenntnis von anderen Sprachen wie dem Deutschen oder Englischen. Weiterhin nehmen wir an, dass das besagte Eingeborenenvolk das angestammte Amazonasgebiet noch nie verlassen und keinen Kontakt zu benachbarten Stämmen gehabt hat. Es weiß also nichts über die Erkenntnisse moderner Wissenschaften oder typische Überzeugungen anderer Gesellschaften. Nun gibt es in dem Eingeborenenstamm aber interessanterweise eine lange hermeneutische Tradition und weit fortgeschrittene philosophische Forschung zu radikaler Interpretation und dem Billigkeitsprinzip; der schlauste Kopf des Stammes hat sogar eine Theorie der Interpretation entwickelt, die derjenigen Davidsons bis aufs Haar gleicht. Durch einen Flugzeugabsturz verirrt sich nun eine Gruppe deutschsprachiger Touristen in das Gebiet des Stammes und der Eingeborenen-Davidson wird beauftragt, eine Interpretation der Äußerungen der Unbekannten zu versuchen. Dieser Eingeborenen-Interpret wird dem unter 2.1.1 detailliert beschriebenen Vorgehen gemäß versuchen, beobachtbares Zustimmungsverhalten an den Touristen zu entdecken und schließlich von ihm für wahr gehaltene Sätze mit von den deutschen Absturzopfern für wahr gehaltenen Sätzen paarweise gruppieren. Stellt er dabei fest, dass die Interpretierten für ihn so augenscheinlich absurden Sätzen zustimmen wie „Es gibt härtere Materialien als Stein“, „Wasser ist bei niedriger Temperatur nicht flüssig“ etc., wird er dies Davidsons principle of charity gemäß auf seine fehlerhafte Übersetzung zurückführen, statt den deutschen Touristen für ihn so offenkundig absurde Überzeugungen zuzuschreiben.¹⁴⁰ Resultat wären dann möglicherweise Übersetzungen des deutschen Wortes „Stein“ als „Holz“ in der Eingeborenensprache oder des Wortes „flüssig“ als „fest“ in der Eingeborenensprache etc. Die Möglichkeit, dass sich der Interpret bezüglich der Wahrheit von Sätzen irrt und die für ihn augenscheinlich vollkommen absurden Überzeugungen der Interpretierten de facto wahr sein könnten, ist in der Davidson’schen Variante des Billigkeitsprinzips nicht vorgesehen. Das Billigkeitsprinzip verortet wahre Überzeugungen schon aus rein methodologischen Gründen beim Inter-

 Wir gehen an dieser Stelle einfach davon aus, dass es im Stammesgebiet noch nie kälter als 10 Grad Celsius war und dass die Eingeborenen keinerlei Materialien angetroffen haben, die härter sind als Stein. Ob dies ethnologisch plausible Annahmen sind oder nicht spielt für das Beispiel keine Rolle.

2.3 Daumenregel-Varianten

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preten und ist damit in Beispielfällen wie diesem in unzulässiger Weise voreingenommen.¹⁴¹ Das durch das Beispiel anschaulich gewordene Problem stärkerer Varianten des Billigkeitsprinzips, die z. B. nach Davidson’schem Muster konkrete Angaben etwa zur Unterstellung von Wahrheit machen, ist also mit Spoerhase zusammengefasst, „dass die von den Vertretern des Prinzips hermeneutischer Billigkeit imaginierte hermeneutische Konstellation immer voraussetzt, dass die Interpretation von einem epistemisch höher stehenden Standpunkt ihren Ausgang nimmt. […] Die derart imaginierte hermeneutische Konstellation sieht überhaupt nicht vor, dass der Interpretationsvorgang ausgehend von einem epistemisch unterlegenen Standpunkt stattfindet.“¹⁴² Diese kritischen Hinweise sind plausibel, allerdings nur in einer zweifach eingeschränkten Hinsicht. Erstens ist Spoerhases Diagnose, dass Davidson oder Quine die Möglichkeit, dass der Interpretierte Überzeugungen vertritt, die in der Sache von denen des Interpreten abweichen und dennoch wahr sind, „vollkommen außer Acht“¹⁴³ lassen würden, zu relativieren. Ebenso scheint mir der Hinweis, dass Davidson und Quine „nie die von ihnen selbst hervorgehobene Einsicht ernst[nähmen], dass immer viele, mehr oder weniger gleichwertige Strategien zur Reduzierung von Abweichungen bestehen“¹⁴⁴ in dieser Explizitheit fraglich zu sein. Davidson und Quine betonen vor allem die holistische Gültigkeit des principle of charity, die, wie unter 2.1.3.3 erläutert, über Einzelfälle nichts aussagt. Damit ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass Abweichungen anstatt auf Ebene der Sprachen auf sachlicher Ebene verortet werden.¹⁴⁵

 Ein etwas detaillierter ausgearbeitetes Beispiel zur Veranschaulichung findet sich bei Lehrer 1990, 133.  Spoerhase 2007, 370.  Spoerhase 2007, 370 [meine Hervorhebung].  Spoerhase 2007, 370 [meine Hervorhebung].  Davidson und Quine selbst äußern sich nicht direkt zu dieser Kritik. Denkbar wäre es vielleicht, sich darauf zurückzuziehen, dass die in dem obigen Beispiel vorgebrachten Beispielsätze keine Gelegenheitssätze sind. So lange es sich um noch basalere Sätze, möglicherweise um einfache logische Kontradiktionen handelt, ist ein abweichendes Zustimmungsverhalten (z. B. ein Bejahen des Satzes „Da ist ein Kaninchen und da ist kein Kaninchen“) tatsächlich nicht plausibel erklärbar. Gibt es bei Gelegenheitssätzen keine Probleme, hätte der Eingeborenen-Davidson durch die üblichen fundamentalen (W)-Sätze der Form „‚Da ist ein Kaninchen‘ ist wahr, gdw. ‚gavagai‘“ bereits einen Einstieg in die ihm unbekannte Sprache der Deutschen erlangt, so dass spezialisiertere abweichende Überzeugungen z. B. über die möglichen Aggregatszustände von Wasser auch als Meinungsverschiedenheiten – also als Dissens auf sachlicher und nicht bloß auf sprachlicher Ebene – identifiziert werden können.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Selbst wenn man zugesteht, dass der inhaltlich verstandene ImperialismusEinwand dem principle of charity Davidsons oder Quines Probleme bereitet, ist zweitens fraglich, inwiefern dadurch schon ein Rückzug auf bloße Daumenregelvarianten gerechtfertigt ist. Die Idee, dass Daumenregelvarianten inhaltlich nicht imperialistisch sein könnten, weil sie eben keine konkreten Inhalte unterstellen, sondern lediglich zu allgemeiner interpretativer Toleranz anhalten, mag zutreffend sein, allerdings gilt dies auch für anderweitig modifizierte Varianten des Billigkeitsprinzips. Billigkeitsprinzipien, die die Vorschläge von Føllesdal,¹⁴⁶ Grandy,¹⁴⁷ Lewis¹⁴⁸ oder Williamson¹⁴⁹ aufgreifen und dementsprechend epistemisch sensibilisiert sind,werden von den obigen Vorwürfen ebenso wenig getroffen wie Daumenregelvarianten. Sofern der Interpret nicht schlicht Wahrheit, sondern epistemisch kontextualisierte Wahrheit von bestimmten Überzeugungen unterstellt, wird vielen der Kritikpunkte der Wind aus den Segeln genommen, da der Interpret eben nicht mehr auf „imperialistische“ Weise seine Überzeugungen als absolut wahr setzt, sondern diese an den epistemischen Standpunkt des Interpretierten anpasst. Der Vorwurf eines inhaltlichen Imperialismus zielt damit nicht eigentlich auf Billigkeitsprinzipien als solche, sondern klagt eher eine Kontextualisierung bzw. Sensibilisierung von Billigkeitsprinzipien ein. Eine Kontextualisierung in dieser Hinsicht wird nun nicht nur von Vertretern des ImperialismusEinwands gefordert, sondern in der Debatte insgesamt befürwortet, so dass der Einwand eher offene Türen einrennt, als in radikaler Weise die Grundlagen einer auf dem Billigkeitsprinzip basierenden Hermeneutik zu gefährden. Bevor ich unter Abschnitt 3.1.1 ausführlich auf eine sinnvolle Kontextualisierung von Billigkeitsprinzipien zu sprechen komme, soll zunächst noch eine letzte Version des Imperialismus-Einwands diskutiert werden, die davon ausgeht, dass Billigkeitsprinzipien in unzulässiger Weise Verstehen forcieren, wo gar kein Verstehen möglich ist.

2.3.4 Inkommensurabilität Der radikalste Kritiker begreift den Imperialismus-Einwand als Hinweis auf die potentielle Inkommensurabilität verschiedener Überzeugungssysteme. Er geht davon aus, dass das Billigkeitsprinzip nicht nur dem Interpreten eine privilegierte Position bezüglich der unterstellten Inhalte zuschreibt, sondern dass Sprache    

Vgl. Føllesdal 1975 und Føllesdal 1999. Vgl. Grandy 1973. Vgl. Lewis 1983b und Lewis 1983c. Vgl. Williamson 2004.

2.3 Daumenregel-Varianten

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oder Weltbild von Interpretiertem und Interpreten sogar so unterschiedlich sein könnten, dass Verstehen grundsätzlich unmöglich gemacht wird. Die Differenzen zwischen dem Interpreten und dem Interpretierten würden in diesem Fall durch die Vorgaben eines Billigkeitsprinzips in unzulässiger Weise ignoriert. Sobald auch nur irgendwelche, über eine allgemeine Ethik interpretativer Toleranz hinausgehenden Vorgaben veranschlagt werden, wird – so die These – eine Verständigung erzwungen, die natürlicherweise nicht möglich ist, ohne dem Interpretierten und seinen Überzeugungen Gewalt anzutun. Diese Form des Imperialismus-Einwands lässt sich exemplarisch aus Ausführungen Jean-François Lyotards ableiten. Lyotard kritisiert in Histoire universelle et différences culturelles ¹⁵⁰ das Projekt der Moderne, eine „allgemeine Geschichte der Menschheit“¹⁵¹ schreiben zu wollen. Dieses Unterfangen sei gescheitert, und Lyotard fragt sich dementsprechend, „ob dieses Versagen nicht mit einem Widerstand von etwas, das ich die Vielfalt der Namenswelten nennen werde, ebenso wie mit der unüberwindbaren Verschiedenartigkeit der Kulturen verbunden werden muß.“¹⁵² Wenig überraschend ist Lyotards Antwort darauf ein „Ja“. Es müsse der Anspruch aufgegeben werden, „irgendeine Kontinuität zwischen den Regeln der Erzählung der Wilden und denen [des] eigenen Diskursmodus aufzustellen“,¹⁵³ da die Versuche, „einen intelligiblen Übergang vom einen zum anderen zu finden“,¹⁵⁴ zum Scheitern verurteilt seien. Beweis dafür seien nicht zuletzt – und hier findet sich damit auch dem Namen nach erneut die von mir mit „Imperialismus-Einwand“ betitelte Kritik – die „verheerenden Wirkungen des Imperialismus […] auf die einzelnen Kulturen“.¹⁵⁵ Für Lyotard verdeutlichen diese „verheerenden Wirkungen“ exemplarisch das Scheitern des dogmatischen Versuchs, Fremden ein Verstehensprozesse strukturierendes Systems von Leitdiskursen (bei Lyotard: „Erzählungen“) aufzuoktroyieren. Lyotards Verweise auf eine unüberwindbare Verschiedenheit der Kulturen sind nicht weiter durch erkenntnistheoretische oder empirische Argumentation gestützt, dennoch lassen sich seine Ausführungen – ohne viel extrapolieren zu müssen – auf eine sprachphilosophisch reformulierte Inkommensurabiliätsthese zuspitzen. Diese Inkommensurabiliätsthese besagt, dass unterschiedliche Kul-

 Lyotard 1985. In der Folge zitiere ich im Fließtext aus der deutschen Übersetzung Sendschreiben zu einer allgemeinen Geschichte in Lyotard 1996a.  Lyotard 1996b, 38.  Lyotard 1996b, 48.  Lyotard 1996b, 52.  Lyotard 1996b, 52 f.  Lyotard 1996b, 54.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

turen potentiell radikal unterschiedliche Begriffsschemata besäßen, oder in Lyotards etwas uneinheitlicher Terminologie, unterschiedliche „Namenswelten“,¹⁵⁶ „heterogene[] Ordnungen“,¹⁵⁷ „eine Vielzahl heterogener Diskurs-Familien“¹⁵⁸ oder „inkommensurabel diskursive[] Genres“.¹⁵⁹ All diese Hinweise auf eine inkommensurable Verschiedenheit der Kulturen fasst der Begriff „Begriffsschema“ gut zusammen. Er ist bei Davidson klarer definiert als bei Lyotard: [Begriffsschemata sind] Kategoriensysteme, die den Daten der Empfindung Gestalt verleihen: […] Standpunkte, von denen Individuen, Kulturen oder Zeitalter die vorüberziehende Schau überblicken. Es sei möglich, daß eine Übersetzung von einem Schema ins andere ausgeschlossen ist, und in diesem Fall haben die Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und Kenntnisse, die für die eine Person charakteristisch sind, für den Vertreter eines anderen Schemas keine echten Gegenstücke: Sogar die Realität sei schemarelativ: Was in einem System als wirklich gilt, brauche in einem anderen nicht dafür zu gelten.¹⁶⁰

Dieser Darstellung würde Lyotard nicht widersprechen, sie deckt sich ziemlich genau mit dem Bild, das er in Histoire universelle et différences culturelles mit seinen oben zitierten Hinweisen auf verschiedene Formen der Heterogenität bzw. Inkommensurabilität immer wieder entwirft. Das von Lyotard aufgeworfene Problem der Inkommensurabilität verschiedener Kulturen oder Begriffsschemata lässt sich also als kommunikations- respektive interpretationstheoretisches Problem verstehen.¹⁶¹ In diesem Verständnis kann die zentrale These eines Inkommensurabilitätstheoretikers wie Lyotard wie folgt zusammengefasst werden:

 Lyotard 1996b, 48.  Lyotard 1996b, 48.  Lyotard 1996b, 49.  Lyotard 1996b, 48.  Davidson 1984h, 261. Die Konjunktive in dem Zitat erklären sich dadurch, dass Davidson an dieser Stelle versucht, sich vorzustellen, wie ein fiktiver Inkommensurabilitätstheoretiker den Begriff „Begriffsschema“ am besten umschreiben könnte. Da er in der Folge dafür argumentieren will, dass dieser Begriff gar nicht verständlich zu machen ist, bleibt er bei konjunktivischen Formulierungen.  Die Reformulierung als kommunikations- respektive interpretationstheoretisches Problem setzt offensichtlich einen Zusammenhang von Begriffsschema und Sprache voraus. Auf diesen Zusammenhang weist Davidson mehrfach ausdrücklich hin: „Akzeptieren können wir die Theorie, die den Besitz einer Sprache und den Besitz eines Begriffsschemas miteinander verknüpft. Diese Verbindung kann man sich so denken: Wo Begriffsschemata auseinandergehen, unterscheiden sich auch die Sprachen.“ (Davidson 1984h, 263) Sogar noch stärker: „Begriffsschemata können wir demnach mit Sprachen gleichsetzen bzw. richtiger: mit Mengen ineinander übersetzbarer Sprachen“. (Davidson 1984h, 263 f.)

2.3 Daumenregel-Varianten

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Inkommensurabilitätsthese (IT): Es ist möglich, dass zwei Sprachen L und L* existieren, die so verfasst sind, dass eine Äußerung I in L nicht in eine Äußerung I* in der Sprache L* adäquat übersetzt werden kann bzw. dass eine Äußerung I in L nicht durch eine Äußerung I* in der Sprache L* adäquat interpretiert werden kann.¹⁶² Dieser These ist zunächst entgegenzuhalten, dass sie sich nicht mit der Erfahrung deckt. Es gibt meines Wissens keinen einzigen Fall, der als empirisches Beispiel für derart „inkommensurabel diskursive[] Genres“¹⁶³ angeführt werden könnte, dass sich die betreffenden Sprachen der Kulturen nicht mehr ineinander übersetzen ließen. Rott diskutiert zwei solcher Beispielfälle aus der Wissenschaftsgeschichte, die dem ersten Anschein nach Lyotards Inkommensurabilitätsthese zu stützen schienen, schließlich aber eindeutig widerlegt werden konnten.¹⁶⁴ So geht David Bloor in Knowledge and Social Imagery von der Möglichkeit aus, dass das Denken anderer Kulturen auf so völlig unterschiedlichen Logiken beruhen könnte, dass deren Sprachen damit unübersetzbar würden.¹⁶⁵ Sein Beispiel sind die Aufzeichnungen des Anthropologen Edward Evans-Pritchard, der 1937 den in Zentralafrika angesiedelten Stamm der Azande erforschte. Evans-Pritchard erklärt, dass die Azande glaubten, sowohl Männer als auch Frauen könnten Hexen sein. Diese Eigenschaft wird nach der Azande-Überlieferung in Form einer dem Körper innewohnenden Hexensubstanz immer von den Eltern auf die Kinder weitervererbt und zwar immer auf die Nachkommen gleichen Geschlechts. Die Tochter einer Mutter mit Hexensubstanz ist damit genauso deren Träger wie der Sohn einer

 Die Lesart von (IT) als Uninterpretierbarkeitsthese ist noch stärker als die Lesart von (IT) als Unübersetzbarkeitsthese. So wäre z. B. denkbar, dass eine Sprache existiert, die nicht direkt ins Deutsche übersetzt werden kann in dem Sinn, dass es unmöglich scheint, Sätze in dieser Sprache 1:1 auf Deutsch wiederzugeben. Hat der Übersetzer aber pro Satz drei Seiten Platz, um den Gehalt des Satzes zu erklären, zu umschreiben, zu paraphrasieren usw., scheint eine Art „sinngemäßer Übersetzung“ vielleicht möglich. Der Vertreter von (IT) könnte dann geltend machen, dass es sich hierbei nicht mehr um eine adäquate Übersetzung im eigentlichen Wortsinn handeln kann, sondern um eine „Interpretation“ im Sinne eben einer Erklärung, Umschreibung etc. Jemand, der (IT) als Uninterpretierbarkeitsthese vertritt, müsste auch diesen Fall ausschließen und darauf bestehen, dass Äußerungen in der fraglichen Sprache nicht einmal durch Umschreibung etc. adäquat verständlich gemacht werden können. Mein Eindruck ist, dass Lyotard – der sich zu diesem Detail nicht äußert – sogar eher mit der stärkeren Variante sympathisiert.  Lyotard 1996b, 48.  Vgl. Rott 2008, 72– 75.  Vgl. Bloor 1976.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

männlichen Hexe. Es ist dem Azande-Glauben nach unmöglich, die Hexensubstanz loszuwerden, oder sich die Hexensubstanz anders als durch Vererbung zuzuziehen. Dennoch gingen die Azande davon aus, dass jeder ihrer Clans – verstanden als über die männliche Linie biologisch verwandte Gruppe von Personen – nur zum Teil aus Hexen bestünde. Dies widerspricht aber offensichtlich unserer Logik, wie auch Evans-Pritchard selbst festhält: To our minds it appears evident that if a man is proven a witch the whole of his clan are ipso facto witches, since the Zande clan is a group of persons related biologically to one another through the male line. Azande see the sense of this argument but they do not accept its conclusions, and it would involve the whole notion of witchcraft in contradiction were they to do so.¹⁶⁶

Bloors auf diese Passagen gestützte Folgerung „there must be more than one logic: an Azande logic and a Western logic“¹⁶⁷ erwies sich am Ende einer relativ ausführlichen Diskussion aber als falsch.¹⁶⁸ Weist man die Azande nämlich auf den augenscheinlichen logischen Widerspruch in ihrem Hexereikonzept hin, zucken sie nicht einfach mit den Achseln und verweisen auf ihre eben sehr besondere „Azande logic“, sondern versuchen Auswege aus dem drohenden Widerspruch zu finden. Sie geben etwa die zusätzliche Möglichkeit an, dass die vererbte Hexensubstanz unter Umständen inaktiv bleiben könne und dass damit der Besitz der Hexensubstanz nicht ohne Weiteres mit der Eigenschaft, eine Hexe zu sein, gleichgesetzt werden könne.¹⁶⁹ Triplett zieht als Fazit der Diskussion über eine parakonsistente Logik der Azande dementsprechend den Schluss, dass es keinerlei Evidenz gibt, die darauf hinweist, dass die Logik der Azande sich von unserer Logik unterscheiden könnte.¹⁷⁰ Ein zweites, potentiell für (IT) sprechendes Beispiel findet sich in Alfred Blooms The Linguistic Shaping of Thought. ¹⁷¹ Bloom geht davon aus, dass nicht die dem Denken zugrunde liegende Logik eine Unübersetzbarkeit zweier Sprachen bedingen würde, sondern dass das Denken der Sprecher verschiedener Sprachen  Vgl. Evans-Pritchard 1976, 3.  Bloor 1976, 124. Bloor verweist auf Winch 1964, der dieselbe Auffassung bezüglich unterschiedlicher Logiken vertritt.  Zu dieser Diskussion vgl. Triplett 1988, Triplett 1994, Jennings 1989 und Keita 1993.  Vgl. Evans-Pritchard 1976, 4: „[E]ven if a man is the son of a witch and has witchcraftsubstance in his body he may not use it. It may remain inoperative, ’cool’ as the Azande say, throughout his lifetime, and a man can hardly be classed as a witch if his witchcraft never functions.“ Vgl. hierzu außerdem Rott 2008, 74 f. und für eine formale Rekonstruktion dieses Arguments Rott 2007, 274 f.  Vgl. Triplett 1994, 760.  Bloom 1981.

2.3 Daumenregel-Varianten

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durch die Struktur der Sprache selbst (bis zur potentiellen Unübersetzbarkeit) vorgeformt wäre. Bloom meint, empirische Evidenz dafür anführen zu können, dass Chinesen Probleme haben, kontrafaktisches Denken nachzuvollziehen, weil dem Chinesischen die Konstruktion kontrafaktischer Konditionalsätze fehlt: In 1972– 1973, while I was in Hong Kong working on the development of a questionnaire designed to measure levels of abstraction in political thinking, I happened to ask Chinese-speaking subjects questions of the form, ‘If the Hong Kong government were to pass a law requiring that all citizens born outside of Hong Kong make weekly reports of their activities to the police, how would you react?’; or ‘If the Hong Kong government had passed a law, how would you have reacted?’ Rather unexpectedly and consistently, subjects responded ‘But the government hasn’t;’ ‘It can’t;’ or ‘It won’t.’ I attempted to press them a little by explaining, for instance, that ‘I know the government hasn’t and won’t, but let us imagine that it does or did…’ Yet such attempts to lead the subjects to reason about things that they knew could not be the case only served to frustrate them and tended to give rise to such exclamations as ‘We don’t speak/think that way;’ ‘It’s unnatural;’ ‘It’s unChinese.’ Some subjects with substancial exposure to Western languages and culture even branded these questions and the logic they imply as prime examples of ‘Western thinking.’¹⁷²

Sollten in Blooms Sinn Sprecher des Chinesischen nicht in der Lage sein, kontrafaktisches Denken nachzuvollziehen, wäre womöglich ein Beispiel für begriffsschemaabhängiges und damit potentiell inkommensurables Denken gefunden. Bloom erging es in der Fachdiskussion jedoch nicht besser als Bloor, nach einer ebenfalls recht umfangreichen Diskussion konnte gezeigt werden, dass seine Vermutungen schon empirisch unbegründet sind, und dass es sehr wohl möglich ist, auch in grammatisch unterschiedlich strukturierten Sprachen dieselben komplexen Denkmuster zu kommunizieren.¹⁷³ Als Fazit lässt sich festhalten, dass (IT) von empirischer Seite keine Unterstützung erwarten darf. Rott fasst zusammen: Was zeigen uns diese beiden vieldiskutierten anthropologischen Beispiele? Sie versorgen uns mit einer gewissen, natürlich nicht leichthin generalisierbaren Evidenz, dass Kommunikation quer über Kulturen nicht durch grundsätzliche Einschränkungen der Sprache oder Abweichungen der Logik behindert wird. […] Ganz gegen die ursprünglichen Intentionen […] legen die Beispiele am Ende Zeugnis für die Übersetzbarkeitsthese ab.¹⁷⁴

  und 

Bloom 1981, 13. Vgl. zur kritischen Diskussion um Blooms Thesen Au 1983, Au 1984, Liu 1985, Takano 1989 Lardiere 1992. Rott 2008, 75.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Diese mangelnde empirische Überprüfbarkeit mag Lyotards Inkommensurabilitätsverdacht nicht endgültig entkräften, dennoch verschiebt sich dadurch die Beweislast zu Ungunsten des Inkommensurabilitätstheoretikers. Sofern jemand eine so starke These wie (IT) vertreten will, ohne dass sich auch nur ein einziges Beispiel zur ihrer Stützung anführen lässt, sollte er schon sehr gute theoretische Argumente vorbringen, um den Gegner von (IT) dennoch von der Plausibilität seines Standpunkts zu überzeugen. Selbst wenn man davon absieht, die Inkommensurabilitätsthese Lyotards auf empirische Tauglichkeit zu befragen und sie im Status eines philosophischen Gedankenexperiments belässt, ist es schwierig, präzise zu explizieren, was sie genau besagen soll. (IT) lässt sich nicht nur nicht empirisch belegen, laut Davidson ist es nicht einmal möglich, sie überhaupt verständlich zu machen.¹⁷⁵ Die Idee hinter dieser Kritik an (IT) ist, dass das Bild vollständig unterschiedlicher Standpunkte bzw. unübersetzbarer Sprachen an sich paradox ist. Davidson fasst diese Paradoxie prägnant zusammen: „Verschiedene Standpunkte haben zwar Sinn, aber nur wenn es ein gemeinsames Koordinatensystem gibt, in dem man ihre Stelle abtragen kann; doch das Vorhandensein eines gemeinsamen Systems straft die These der überwältigenden Unvergleichbarkeit Lügen.“¹⁷⁶ Bereits die These, dass bestimmte Äußerungen oder eine bestimmte Wahrnehmung der Welt aus der Sichtweise eines Interpreten völlig unverständlich sein soll, bzw. dass eine bestimmte Äußerung in einer Sprache nicht in eine verständliche andere Sprache übersetzbar sein soll, beinhaltet einen Vergleich, der impliziert, dass die möglicherweise inkommensurablen Vergleichsobjekte doch kommensurabel sind.¹⁷⁷ Der Inkommensurabilitätstheoretiker kann (IT) gar nicht vertreten, ohne schon vorauszusetzen, dass die möglicherweise inkommensurablen Größen zumindest insoweit kommensurabel sind, als man ihre Inkommensurabilität feststellen kann. Damit desavouiert sich (IT) aber selbst, da die Inkommensurabilität zweier Sprachen, Begriffsschemata etc. gerade in ihrer vollständigen Unvergleichbarkeit bestehen soll.¹⁷⁸

 Vgl. Davidson 1984h, 261: „Der Begriffsrelativismus ist eine berauschende und exotische Theorie bzw. er wäre es, wenn wir uns wirklich einen Begriff davon machen könnten. Das Problem ist (wie so oft in der Philosophie), daß es schwerfällt, die Verständlichkeit zu verbessern, ohne die Begeisterung zu verlieren.“  Davidson 1984h, 262.  Vgl. in dieselbe Richtung argumentierend Putnam 1982, 161: „Das Vergleichen setzt voraus, daß einiges kommensurabel ist.“  Eine ausführlichere Rekonstruktion von Davidsons Argumentation gegen eine ebenfalls aus Ausführungen Lyotards abgeleitete Inkommensurabilitätsthese liefert Kober 2002, 237– 245.

2.4 Präsumtionsvarianten

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass keine der drei Varianten des Imperialismus-Einwands überzeugend ist. In seiner ideologischen Form erweist sich der Einwand als bloß polemisch und inhaltlich nicht fundiert, in seiner Form als Artikulation einer Inkommensurabilitätsthese als empirisch nicht haltbar und in sich paradox. Die inhaltliche Variante macht zurecht auf die Gefahr einer problematischen Privilegierung des epistemischen Standpunkts des Interpreten aufmerksam, legitimiert dadurch aber nicht den Rückzug auf bloß unverbindliche common-sense-Richtlinien. Eine angemessen kontextualisierte Version des Billigkeitsprinzips kann den Interpreten durchaus dazu anhalten, konkrete Inhalte zu unterstellen, ohne damit schon zwingend imperialistisch sein zu müssen. Dem Versuch, Billigkeitsprinzipien präziser zu bestimmen, stehen damit keine grundsätzlichen Bedenken entgegen.

2.4 Präsumtionsvarianten Im Lichte der bisher gewonnenen Erkenntnisse scheint mir der aus Sicht der philologischen Hermeneutik vielversprechendste Ansatz, das Billigkeitsprinzip als revidierbare Präsumtionsregel aufzufassen.¹⁷⁹ Eine präsumtive Version des Billigkeitsprinzips ist in der Lage, den bis hierhin diskutierten Monita der anderen Varianten abzuhelfen. Sie ist im Gegensatz zu transzendentalen Varianten als einzelfallrelevante heuristische Hypothese aufzufassen und tritt, anders als evaluative Varianten, im Interpretationsprozess selbst in Kraft. Außerdem liefert sie im Gegensatz zu Daumenregelvarianten konkrete methodische Anweisungen, die über eine allgemeine Ethik interpretativer Toleranz hinausgehen. Der Begriff Präsumtion fällt im Kontext von Überlegungen zu Billigkeitsprinzipien zwar von Zeit zu Zeit,¹⁸⁰ wird jedoch meist nicht ausreichend trennscharf bestimmt oder ausführlich und systematisch genug mit der Struktur von Billigkeitsprinzipien verschränkt.¹⁸¹ Präsumtionen können allgemein als global begründete Regeln verstanden werden, die dem Interpreten heuristische Richtli Wie unter 2.3 schon angemerkt, können auch Daumenregelvarianten theoretisch präsumtive Form haben. An dem Problem der erzwungenen inhaltlichen Unverbindlichkeit ändert dies nichts. Die in der Folge diskutierten Präsumtionen sind nicht in dieser Hinsicht eingeschränkt.  Dennett 1978 9 f. spricht etwa von einer „presumption of rationality“, auch Davidson verwendet den Begriff von Zeit zu Zeit, begrifflich nicht trennscharf unterschieden von anderen Formulierungen des principle of charity: „The possibility of understanding speech depends upon the presumption that the pattern of attitudes a speaker has to his sentence (wheter or not uttered) is largely, and in the most basic matters, consistent and correct.“ (Davidson 1985, 90).  Überzeugende Ausnahmen sind v. a. Scholz 1999, Teil II, 147– 237 und etwas knapper Spoerhase 2007, 395 ff.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

nien an die Hand geben.¹⁸² Sie befreien uns von der Verpflichtung, zu rechtfertigen, wieso wir davon auszugehen, dass ein Brief, den wir heute in einen Umschlag stecken, auch morgen noch in diesem Umschlag ist, oder wieso wir nicht überprüfen, ob jedes Zebra, das wir sehen, in Wirklichkeit nicht doch ein schwarzweiß bemaltes Pferd ist. Sofern gute Gründe für die Annahme auftreten, dass unsere Präsumtionen verfehlt sein könnten, können wir sie korrigieren, modifizieren oder ganz aufgeben. Vielleicht wissen wir ja, dass unser Mitbewohner es besonders amüsant findet, Briefe zu verstecken, oder wir sehen jemanden mit einem Eimer Farbe neben einem Pferd stehen, während wir auf dem Set eines lowbudget-Films über Afrika herumlaufen. Unter diesen Umständen würden wir unsere Präsumtionen fallen lassen, weil wir mit Recht davon ausgehen können, dass sie sich in für die entsprechenden Präsumtionen relevanter Art und Weise von üblichen Situationen unterscheiden. Allgemein formuliert haben Präsumtionsregeln also die folgende Form: (PR)

Wenn p, gehe davon aus, dass q, es sei denn es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass ¬q.

Wichtig ist, dass in den Fällen, in denen es tatsächlich gute Gründe gibt zu denken, dass ¬q, lediglich die Präsumtion, dass q, revidiert wird, nicht aber die allgemeine Präsumtionsregel (PR). Anhand des Zebrafalls kann dies leicht veranschaulicht werden. Hier wäre die allgemeine Präsumtionsregel (PR) zu spezifizieren als (PZebra)

Wenn du auf ein Tier triffst, das aussieht wie ein Zebra, gehe davon aus, dass es sich dabei um ein Zebra handelt, es sei denn es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass es sich nicht um ein Zebra (sondern z. B. um ein bemaltes Pferd) handelt.

Sofern man, wie etwa im Rahmen des low-budget-Filmset-Szenarios, gute Gründe hat, die Präsumtion, dass alle Tiere, die wie Zebras aussehen, auch Zebras sind, fallen zu lassen, heißt dies nicht, dass man die Gültigkeit von (PZebra) allgemein in Frage stellen sollte, und noch weniger, dass allgemeine Präsumtionsregeln wie (PR) unsinnig sind. Es ist strikt zu unterscheiden zwischen der Revision einer Präsumtion, dass q (z. B. dass eine bestimmte Äußerung wahr ist, dass eine bestimmte Person rational ist, oder dass ein Tier, das aussieht wie ein Zebra auch

 Eine etwas ausführlichere englische Version der folgenden Überlegungen ist Petraschka 2012, 151– 161.

2.4 Präsumtionsvarianten

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tatsächlich ein Zebra ist) und der Revision einer Präsumtionsregel (PR). Das Unterlassen der Schlussfolgerung auf q in einem bestimmten Fall zieht keine Änderung der Präsumtionsregeln nach sich, da diese allgemein bzw. global gerechtfertigt sind. Auf diese Rechtfertigung werde ich gleich zu sprechen kommen. Billigkeitspräsumtionen in interpretativen Prozessen können ebenfalls in diesem Sinne rekonstruiert werden. Wir sind durch globale Gründe gerechtfertigt, präsumtiv davon auszugehen, dass sich unsere Gesprächspartner nicht ständig über die Welt um sie herum täuschen, dass sie nicht andauernd versuchen, uns zu belügen, oder dass sie meistens versuchen, sinnvoll zu kommunizieren. Es gibt keine Notwendigkeit, dies für jede Interpretationssituation neu zu begründen – zumindest sofern sich globale Gründe zur Rechtfertigung einer Billigkeitspräsumtion finden lassen. Präsumtionsregeln entsprechen damit jenen oben schon mehrfach diskutierten heuristischen Anleitungen, die eine Grundlage philologischer Interpretation bilden können. Eine präsumtive Form des Billigkeitsprinzips in der Textinterpretation hat folgende Form: (BP)

Wenn du einen Text interpretierst, dann gehe so lange davon aus, dass der interpretierte Text bestimmte rationale Eigenschaften besitzt, bis es gute Gründe gibt, davon auszugehen, dass er diese Eigenschaften nicht besitzt.¹⁸³

 Der Ausdruck „bestimmte rationale Eigenschaften“ ist offensichtlich vage. Es ist zu klären, was denn diese rationalen Eigenschaften speziell im Bezug auf fiktionale literarische Texte genau sein könnten. Da jedoch nach wie vor der formale Zuschnitt eines philologischen Billigkeitsprinzips im Zentrum des Interesses steht, kann der Ausdruck ähnlich wie Meiers Rede von hermeneutischen Vollkommenheiten einstweilen lediglich als Platzhalterbegriff verstanden werden, mit dessen inhaltlicher Füllung sich Kapitel 3 ausführlich beschäftigen wird. Spoerhase 2007, 396 formuliert ein präsumtives Prinzip hermeneutischer Billigkeit ähnlich als: „Gehe solange davon aus, dass ein bestimmter Sachverhalt vorliegt (dass der zu interpretierende Text oder sein Autor bestimmte Vollkommenheiten aufweisen), bis es begründete Zweifel an diesem Sachverhalt gibt (bis es also mehr oder weniger starke Hinweise dafür gibt, dass dieser Sachverhalt nicht vorliegt).“ Diese Formulierung scheint mir zutreffend, wenn auch im Detail etwas unscharf. Der nicht in Klammern gesetzte Teil von Spoerhases Bestimmung beschreibt eine allgemeine Präsumtionsregel beliebigen Inhalts nach dem Schema (PR) – gehe solange davon aus, dass p, bis Zweifel auftreten, dass p. Innerhalb der ersten Klammer („dass der zu interpretierende Text oder sein Autor bestimmte Vollkommenheiten aufweisen“) wird auf spezifische Variante einer Billigkeitspräsumtion nach dem Schema (BP) hingewiesen, die in der zweiten Klammer („bis es also mehr oder weniger starke Hinweise dafür gibt, dass dieser Sachverhalt nicht vorliegt“) dann wieder zu einer allgemeinen Aussage wird. Da gerade mit Blick auf die Revision von Präsumtionen zwischen der Revision einer Präsumtionsregel (PR) und der Revision einer inhaltlich spezifizierten Präsumtion unterschieden werden muss, ist diese Verschränkung ungenau.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

2.4.1 Globale Rechtfertigungen Der entscheidende Punkt ist nun, die schon mehrfach angesprochenen globalen Gründe zur Rechtfertigung von Präsumtionen zu analysieren. Je stärker diese globalen Gründe für die Präsumtion, dass q, sind, desto mehr (oder desto stärkere oder besser gestützte) Hinweise gegen q wird der Interpret sammeln müssen, um zu einer Revision der betreffenden Präsumtion im Einzelfall kommen zu können. Allgemeine präsumtive Regeln der Form (PR) sind sinnvoll, da Personen andauernd Entscheidungen in epistemisch defizienten Situationen treffen müssen. Es ist ständig nötig, so oder so zu handeln, obwohl weder ausreichend Zeit vorhanden ist, um alle handlungsrelevanten Informationen zusammenzutragen, obwohl der Zugang zu den nötigen Informationen unmöglich ist etc. Scholz zeichnet derartige Situationen anschaulich nach: Die beteiligten Personen müssen sich in einem begrenzten, typischerweise sogar in einem enggesteckten, zeitlichen Rahmen entscheiden. Die optimale Wahl hinge davon ab, ob ein bestimmter Sachverhalt q besteht. Die Personen, die sich entscheiden müssen, befinden sich in Unkenntnis oder im Zweifel im Bezug auf die Frage, ob q besteht. Die Rahmenbedingungen sind so, daß die Personen nicht beliebig lange warten können, insbesondere nicht beliebig viel Zeit haben, Informationen zu beschaffen, ob q der Fall ist. […] Es handelt sich also um Raisonnements, die noch nicht gelöst sind, aber irgendwie gelöst werden müssen.¹⁸⁴

In diesen nicht-idealen Situationen stellen Präsumtionsregeln eine Möglichkeit dar, Entscheidungen auf ein rationales Fundament zu stellen, anstatt sie bloß willkürlich und zufällig zu treffen (z. B. durch andauernden Münzwurf).¹⁸⁵ Diese wünschenswerte rationale Fundierung von Entscheidungen, die sich womöglich bereits durch einen Rekurs auf grundlegende Annahmen über das Person-Sein ergibt,¹⁸⁶ sagt aber noch nichts darüber aus, welche Präsumtionen angelegt

 Scholz 1999, 155. Bekanntes Beispiel ist etwa die Unschuldspräsumtion in der Rechtsprechung. So lange die Faktenlage nicht vollständig geklärt ist – und damit die epistemische Defizienz überwunden ist – wird im Lauf des Prozesses von der Unschuld des Angeklagten ausgegangen. Scholz 1999 lehnt seinen Präsumtionsbegriff oft an Beispiele aus der Rechtswissenschaft/Rechtsprechung an, kritisch äußert sich zu dieser Anlehnung und damit verbundenen begrifflichen Problemen Spoerhase 2007, 402. Vgl. außerdem hierzu Scholz 2000.  Vgl. ausführlich Ullmann-Margalit 1983a, 152– 156, Scholz 1999, 157– 159 und Scholz 2000, 162 f.  Als für alle Personen grundlegender lebenspraktischer Zwang zu bedeutungskonstituierender Hermeneutik wird dies in Scholz 1999, S. 162 verstanden: „Verständigung ist eine Form sozialen Handelns. Wir müssen unsere Handlungen laufend mit den Handlungen anderer Leute abstimmen.“ Ähnlich anthropologisch grundsätzlich argumentiert u. a. Zymner 2003, 129: „Die Bedeutungskonstitution fällt mit menschlichem Handeln als intelligibler Aneignung von Welt

2.4 Präsumtionsvarianten

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werden sollten – wieso wir also immer dann, wenn p der Fall ist, davon ausgehen sollten, dass q und nicht, dass r. Eine Rechtfertigung derartig konkretisierter Präsumtionen wie (BP), kann auf vier einzelfallunabhängige Weisen,¹⁸⁷ nämlich (i) transzendental, (ii) induktiv-probabilistisch, (iii) normativ und (iv) prozedural versucht werden. (i) transzendental: Die stärkstmöglichen Gründe sind transzendentaler Art. Sofern gezeigt werden kann, dass eine bestimmte Handlung gar nicht ausgeführt werden kann, ohne davon auszugehen, dass q der Fall ist, müssen wir offensichtlich davon ausgehen, dass q der Fall ist, oder die Handlung unterlassen. Davidson versucht, sein principle of charity so zu begründen – wenn wir dem Interpretierten nicht nachsichtigerweise bestimmte Inhalte unterstellen, können wir ihn überhaupt nicht interpretieren. Diese Art der Begründung wurde unter 2.1 bereits ausführlich diskutiert. (ii) induktiv-probabilistisch: Schwächer, aber nichtsdestotrotz sehr überzeugend, sind induktiv-probabilistische Überlegungen. Viele Präsumtionen lassen sich durch das empirische Faktum begründen, dass in einer überwiegenden Mehrzahl der Fälle, in denen p der Fall ist, auch q der Fall ist und nicht r. Derartige induktiv-probabilistische Begründungsstrategien sind auch im Fall der Rechtfertigung von Billigkeitspräsumtionen vielversprechend. Es ist ebenso ein empirisches Faktum, dass Menschen mit Äußerungen in der Mehrzahl der Fälle etwas kommunizieren wollen, nicht lügen oder sich in Bezug auf die Welt um sie herum täuschen, wie dass die Mehrzahl von Texten rationale Äußerungen sind. (iii) normativ: Ebenfalls vielversprechend sind normative Begründungen. Unter Umständen können diese sogar stärker sein als induktiv-probabilistische und uns dementsprechend dazu anhalten, (gegeben p) präsumtiv von q auszugehen, obwohl (gegeben p) r öfter der Fall ist als q. Selbst wenn sich durch empirische Untersuchungen herausstellen sollte, dass Angeklagte in Mordprozessen sich in der Mehrzahl der Fälle als tatsächlich schuldig herausstellen sollten, würden wir aufgrund von normativen Überlegungen dennoch bei der Unschuldspräsumtion bleiben, obwohl induktiv-probabilistische Überlegungen eher

zusammen, menschliches Handeln ist stets Bedeutungskonstitution, der Mensch das bedeutungsschaffende Wesen, das sich die Welt zu seiner Welt macht.“  Ullmann-Margalit 1983a, 161 fügt dieser Liste „determinateness consideration[s]“ als fünfte Kategorie hinzu. Sie geht davon aus, dass in einigen Fällen die Entscheidung, eine Präsumtion anzulegen, direkt verbunden ist mit der Entscheidung, eine bestimmte Präsumtion anzulegen. Es gäbe in diesen Fällen also keine eigentliche Frage, ob es besser ist q oder r zu präsumieren. Ich halte diese „determinateness consideration[s]“ nicht für eine eigenständige Art von Begründungen sondern für eine starke Form prozeduraler Begründungen und sumsumiere sie daher unter (iv).

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

eine Schuldigkeitspräsumtion nahelegen würden. Eine solche normative Überlegung wäre etwa: „Es ist normativ schlechter, eine unschuldige Person ins Gefängnis zu sperren, als eine schuldige Person nicht ins Gefängnis zu sperren.“ Zur Rechtfertigung von Billigkeitspräsumtionen in interpretativen Prozessen können durchaus auch normative Begründungen herangezogen werden. Nachsichtige Interpretation ermöglicht eine wertvollere Interaktion zwischen Menschen, in dem Sinn, dass es normativ besser ist, sich zu nachsichtig zu zeigen, obwohl Nachsicht fehl am Platz ist, als unnachsichtig zu sein, obwohl Nachsicht angebracht ist.¹⁸⁸ (iv) prozedural: Prozedurale Erwägungen nehmen speziell die pragmatische Frage in den Blick, welche Präsumtionen denn am ehesten operationalisierbar sein könnten und damit in Edna Ullmann-Margalits Worten am besten geeignet sind, um in dem jeweiligen Unterfangen „voranzukommen“ („to help the game along“¹⁸⁹). Sollten interpretative Prozesse reibungsloser ablaufen, sofern sie von einer Präsumtion bestimmter „Vollkommenheiten“ ausgehen, als wenn sie dies nicht tun, würden auch prozedurale Gründe für die Präsumtion hermeneutischer Billigkeit sprechen.

2.4.2 Anwendbarkeit im Rahmen philologischer Interpretation Von besonderem Interesse sind nun die Implikationen dieser verschiedenen Begründungsoptionen für die spezifische Situation der philologischen Interpretation. Es stellt sich zunächst allgemein die Frage, ob die Situation des philologischen Interpreten überhaupt mit einer Situation analogisiert werden kann, in der ein Akteur aufgrund epistemischer Defizienz und Zeitknappheit auf Präsumtionen rekurriert. Scholz sieht gerade den Zeitdruck im Fall philologischer Interpretation nicht gegeben: „Bei anderen Verstehensversuchen, etwa dem Versuch, Platons ‚Parmenides‘ oder Samuel Becketts ‚Endspiel‘ zu verstehen, ist der zeitliche Rahmen weiter gesteckt. Aber man wird wohl zugeben, daß zumeist die Ressourcen knapper und der Handlungsdruck größer sind.“¹⁹⁰ Die Interpretation von Becketts Endspiel wird gegenüber den „zumeist“ auftretenden paradigmatischen Situationen der Alltagskommunikation völlig zutreffend als Sonderfall charakterisiert, in dem mindestens der „zeitliche Rahmen weiter gesteckt“ ist. Spoerhase stellt in diesem Kontext außerdem in Frage, „ob in Hinblick auf philosophische

 In einer Fußnote bezieht interessanterweise auch Ullmann-Margalit 1983a, 160 in diesem Zusammenhang ihre sonst lediglich Präsumtionen im Allgemeinen betreffenden Ausführungen auf Quines Version des principle of charity.  Ullmann-Margalit 1983a, 162.  Scholz 1999, 162.

2.4 Präsumtionsvarianten

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oder literarische Texte überhaupt ein Entscheidungszwang besteht“.¹⁹¹ Die Problematisierung wirkt im Lichte der einleitend schon angestellten Überlegungen durchaus überzeugend, schließlich wurde unter 1.1 ein lebenspraktischer „Zwang“ zu Interpretation speziell der Dimension erkenntnistheoretischer Interpretation zugeordnet. Er gilt nicht in gleichem Maß für die philologische Interpretation. Das Kriterium des Entscheidungszwangs rechtfertigt nun aber charakteristischerweise den Rekurs auf Präsumtionen. Sollte sich also die Ausgangssituation des philologischen Textinterpreten signifikant von derjenigen des Interpreten in einer alltäglichen Gesprächssituation unterscheiden, gerät eine Präsumtionsvariante eines auf die philologische Hermeneutik bezogenen Billigkeitsprinzips grundlegend ins Wanken. Ich denke jedoch nicht, dass dies der Fall ist. In bestimmter Hinsicht scheint die Ausgangslage des Interpreten eines literarischen Textes sogar noch offensichtlicher die Verwendung von Präsumtionen zu fordern, als dies in alltäglicher normalsprachlicher Kommunikation angezeigt ist. Um diese These erhärten zu können, ist es nötig, die Ausgangssituation des philologischen Textinterpreten näher zu analysieren. Es ist unmittelbar einsichtig, dass bei der interpretativen Tätigkeit des Literaturwissenschaftlers, z. B. bei der Interpretation von Becketts Endspiel, kein so direkter und akuter Entscheidungszwang besteht wie in einem Strafprozess. Sowohl der Zwang, (1) einen interpretativen Prozess in einem bestimmten zeitlichen Rahmen abzuschließen, als auch der Zwang, (2) sich für eine Interpretationsalternative bzgl. eines Einzeltextes zu entscheiden, statt mehrere Interpretationsalternativen einfach pluralistisch nebeneinander zu stellen, scheint im Kontext philologischer Interpretationstätigkeit nur sehr bedingt gegeben. Speziell auf zweiten Aspekt weist neben Scholz auch Spoerhase explizit hin: „Das [der Zwang, sich zu entscheiden] ist bei der Interpretation philosophischer oder literarischer Texte aber nicht der Fall: Dort kann der Interpret darauf verzichten, eine Entscheidung zu treffen, und mehrere Interpretationsalternativen (mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen) nebeneinander stehen lassen.“¹⁹² Entgegen dieser Einschätzung scheinen mir aber sowohl Zeitknappheit als auch Entscheidungsdruck in der interpretativen Praxis der Literaturwissenschaft relevanter, als dies den Anschein haben mag. Es sind durchaus konkrete Interpretationssituationen denkbar, in denen die Knappheit der Ressource Zeit auch für philologische Interpretation unmittelbar kurzfristigen Entscheidungszwang erzeugt. Sowohl Studierende in Prüfungssituationen, als auch Literaturwissenschaftler, die z. B. einen Termin für die Ver-

 Spoerhase 2007, 403.  Spoerhase 2007, 403.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

öffentlichung eines Beitrags in einer Fachzeitschrift einhalten oder im Rahmen einer dialogischen Diskussion über konfligierende Interpretationsergebnisse auf einen Einwand reagieren müssen, sind – anders als in (1) nahegelegt – dazu gezwungen, eine Entscheidung über den einen oder anderen Aspekt ihrer Interpretationen zu treffen und damit den entsprechenden Interpretationsprozess zu einem Abschluss zu bringen. Darüber hinaus mutet es auch außerhalb dieser speziellen Situationen wenig überzeugend an, allgemein zu behaupten, Interpretationen literarischer Texte stünden überhaupt nie in dem Zwang, zu einem Abschluss zu kommen – der ganze literaturwissenschaftliche Diskurs müsste ständig im Modus einer schwammigen Art von vorläufiger Unverbindlichkeit stattfinden. Aus normativer Perspektive ist dementsprechend mindestens für eine sinnvolle Diskussionskultur ein vorläufiger und tentativer Abschluss einzelner interpretativer Prozesse – welcher keineswegs absolut oder dogmatisch sein muss – wünschenswert. Eher zutreffend ist Hinweis (2), der besagt, dass im Kontext philologischer Interpretation Entscheidungszwang in einer anderen Hinsicht deswegen nicht besteht, da es keine zwingende Veranlassung zu geben scheint, sich für eine Interpretationsalternative bezüglich eines Einzeltextes zu entscheiden, statt mehrere Interpretationen einfach pluralistisch nebeneinander zu stellen. Ob diese pluralistische Polyvalenzthese für sich genommen sinnvoll ist, kann dahingestellt bleiben, allerdings eignet sie sich nicht dafür, um gegen das Kriterium des Entscheidungszwangs zu argumentieren und eine üblicherweise präsumtives Vorgehen rechtfertigende Situation von derjenigen des Literaturinterpreten kategorial abzugrenzen. Der entscheidende Punkt ist, dass das Pluralismusargument erst dann greifen kann, wenn es bereits eine ganze Reihe von abgeschlossenen Interpretationsprozessen gibt. Der Einwand richtet sich eher gegen evaluative Billigkeitsprinzipien, die als Kriterium für die Hierarchisierung von bestehenden Interpretationsalternativen verwendet werden sollen. Erst an dieser Stelle wird der Entscheidungszwang geleugnet und das Unterfangen einer Hierarchisierung von Interpretationsergebnissen hinterfragt – stattdessen sei eben auch ein pluralistisches Nebeneinander der divergenten Interpretationen denkbar, welches eine Festlegung auf eine einzige Alternative überflüssig mache. Um aber überhaupt alternative Interpretationsergebnisse hierarchisieren oder nebeneinanderstellen zu können ist es im Sinne von (1) notwendig, zuallererst innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens zu solchen Interpretationsergebnissen zu kommen, was wiederum den (mindestens vorläufigen) Abschluss einzelner Interpretationsprozesse erzwingt. Ein konkretes Beispiel zur Veranschaulichung: Drei Literaturwissenschaftler interpretieren E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Literaturwissenschaftler A ent-

2.4 Präsumtionsvarianten

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scheidet sich im Rahmen seiner Textinterpretation für eine psychologische Interpretationsalternative nach dem Schema „Clara sieht die Dinge, zumindest im Prinzip, richtig – Nathanael sieht sie falsch, er ist Wahnvorstellungen verfallen.“,¹⁹³ Literaturwissenschaftler B für eine dämonologische Interpretationsalternative nach dem Schema „Nathanael sieht die Dinge, zumindest im Prinzip, richtig – Clara sieht sie falsch [sie erkennt nicht] die Eingriffe einer dämonischen Macht“¹⁹⁴ und Literaturwissenschaftler C für eine Unentscheidbarkeit zwischen diesen Optionen behauptende Interpretationsalternative nach dem Schema „Es wird offengelassen und ist somit unentscheidbar, ob die Perspektive Claras oder die Nathanaels richtig ist, [es handelt sich um] eine Erzählstrategie des konsequenten Offenhaltens von Deutungsmöglichkeiten.“¹⁹⁵ Anhand dieser Alternativen lässt sich nun diskutieren, ob es angebracht ist, sich für eine Option zu entscheiden, oder alle drei trotz ihrer Widersprüchlichkeit gleichzeitig für gültig zu erachten. Um aber überhaupt die Frage diskutieren zu können, ob eine Entscheidung für die eine oder andere Alternative sinnvoll ist, ist es notwendig, dass die Literaturwissenschaftler A, B und C innerhalb der einzelnen Interpretationsprozesse schon Textstellen geprüft, Passagen gegeneinander abgewogen und so schließlich die eine oder andere Deutungsalternative konstruiert haben, ansonsten würden ihre Vorschläge erst gar nicht existieren. Selbst dann, wenn man einen Zwang zur Entscheidung zwischen Interpretationsalternativen ablehnt, gibt es dennoch einen dieser Frage vorgeordneten Zwang, interpretative Prozesse abzuschließen, um die Alternativen zuallererst diskutieren zu können. Es lässt sich festhalten, dass die Situation des philologischen Interpreten in keinem direkten Widerspruch zu dem globalen Präsumtionsrechtfertigungskriterium Entscheidungszwang in epistemisch defizienten Situationen steht. Die Situation des Literaturinterpreten muss in dieser Hinsicht nicht kategorisch von einer üblicherweise die Verwendung von Präsumtionen rechtfertigenden Situation unterschieden werden. Im Gegensatz zum Thema des Entscheidungszwangs ist das ebenfalls von Scholz angeführte Charakteristikum der epistemischen Defizienz oder Unsicherheit für die Situation des philologischen Interpreten sogar a fortiori relevant. Der Versuch, Becketts Endspiel interpretativ zu erschließen ist klarerweise deutlich komplexer als dies bei normalsprachlichen Äußerungen oder nicht-literarischen Gebrauchstexten der Fall ist. Die Situation des Interpreten eines fiktionalen literarischen Textes ist schon deshalb defizient, da die Möglichkeit zur

 Tepe, Rauter, Semlow 2009, 60.  Tepe, Rauter, Semlow 2009, 61.  Tepe, Rauter, Semlow 2009, 61.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

kooperativen Ausräumung von Missverständnissen im Rückgriff auf den Autor in den allermeisten Fällen nicht besteht. Unklarheiten können nicht durch Nachfragen oder ähnliches geklärt werden. Davidson sieht in diesem Punkt sogar Analogien zwischen dem Literaturinterpreten und dem Feldlinguisten, der im Paradebeispiel für radikale Interpretation ebenfalls im Alleingang versuchen muss, eine vollkommen unbekannte Sprache verstehen zu lernen: Joyce takes us back to the foundations and origins of communication; he puts us in the situation of the jungle linguist trying to get the hang of a new language and a novel culture, to assume the perspective of someone who is an alien or an exile.¹⁹⁶

Auch wenn Davidson sich an dieser Stelle auf Joyces Finnegans Wake bezieht, das aufgrund seiner extrem auf die Spitze getriebenen Komplexität nicht unbedingt als paradigmatisch für die Literatur angesehen werden muss, gibt es Parallelen zu „harmloseren“ Texten, die eine allgemeine Einschätzung der Ausgangslage des Literaturinterpreten erlauben. Ein generelles, als „Das verstehe ich nicht“ artikulierbares Gefühl epistemischer Defizienz, bzw. hermeneutischer Überforderung oder Unsicherheit ist wesentliches Charakteristikum im Umgang mit Literatur. Dieses Gefühl bezieht sich nicht auf den meist unproblematischen Wortlaut des Textes im Sinne unterer Verstehensstufen, sondern gerade auf die philologische Dimension der Interpretation, die auf „zweiter Stufe“¹⁹⁷ erklären soll, worum es in dem Text eigentlich geht. Es braucht angesichts dieser Schwierigkeit typischerweise einen „large amount of processing effort“,¹⁹⁸ einen „hohen, aus der Perspektive der Alltagskommunikation skandalös überzogenen Aufwand hermeneutischer Ressourcen“¹⁹⁹ um zu einer sinnvollen philologischen Interpretation eines literarischen Textes zu kommen. Diese Komplexität der Ausgangslage führt zwingend fast immer zu einer von Scholz angesprochenen Situation epistemischer Defizienz, in der sich der philologische Interpret zu Beginn seines Interpretationsprozesses befindet. Dementsprechend liegt es a fortiori nahe, gerade im Rahmen des komplexen Unterfangens philologischer Interpretation durch den Rekurs auf präsumtive Unterstellungen eine verlässliche, systematische Basis für den Interpretationsakt zu schaffen.

   

Davidson 2005c, 157. Weimar 2002, 110. MacKenzie 2002, 53. Spoerhase 2007, 417.

2.4 Präsumtionsvarianten

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2.4.3 Einwände Um die Idee, ein für die philologische Hermeneutik interessantes Billigkeitsprinzip als Präsumtion aufzufassen, weiter zu plausibilisieren, werde ich in der Folge drei einschlägige Einwände gegen diesen Versuch diskutieren. Im Einzelnen sind dies: (1) Texte sollten nicht mit Hilfe von Präsumtionen interpretiert werden. (2) Literarische Texte sollten nicht mit Hilfe von Präsumtionen interpretiert werden. (3) Literarische Texte sollten nicht mit Hilfe von Billigkeitspräsumtionen interpretiert werden. Zu (1): Der erste Einwand ist grundlegender Art und hinterfragt die Notwendigkeit, überhaupt eine Präsumtion (welcher Art auch immer) an einen Text heranzutragen. Ist es nicht generell unangemessen, Texte mit Hilfe präsumtiver Unterstellungen zu interpretieren, oder – etwas schwächer formuliert – wäre es nicht zumindest unvoreingenommener, einen Text einzig und allein als Text, ohne möglicherweise verfälschende Vorannahmen wie Billigkeitspräsumtionen zu interpretieren? Liest man diesen Einwand als grundsätzliche Infragestellung der anthropologischen, kulturhistorischen oder ästhetischen Angemessenheit interpretativer Praxis im Sinne Sontags, betrifft er dem Anspruch nach alle Formen interpretativen Textzugangs. Zur Begründung eines so radikalen und umfassenden Einwands wäre eine Grundsatzdebatte über allgemeinen Sinn und Unsinn der philologischen Hermeneutik zu führen, die die Diskussion in der Literaturwissenschaft bzw. Literaturtheorie gerade in den Hochzeiten des Poststrukturalismus beschäftigt hat und die ich hier nicht wiederholen will.²⁰⁰

 Die Stärken und Schwächen Kritik Sontags werden luzide erläutert von Spree 1995, 59 – 89 und Tepe 2007, 336 – 344. Gerade Tepe zeigt für meine Begriffe überzeugend, dass Sontags Interpretationsbegriff viel eingeschränkter verstanden werden muss, als sie es selbst tut – eine nicht auf ohnehin fragwürdiges allegorisches Verständnis von philologischer Interpretation eingeschränkte Hermeneutik entspricht nicht Sontags Feindbild: „Diese antiinterpretatorische bzw. antihermeneutische Sichtweise – eben ‚gegen Interpretation‘ – ist mit poststrukturalistischen Auffassungen verwandt, die auf vergleichbaren Fehlern beruhen. Es gibt zwar Interpretationsformen, welche die Texte vergewaltigen, aber man kann dies nicht generell von der Interpretation behaupten. Über die begrenzte Reichweite ihrer Thesen scheint Sontag keinen Augenblick nachgedacht zu haben.“ (340) Die poststrukturalistischen Angriffe bzw. Einflüsse auf die Hermeneutik bespricht kritisch z. B. Detel 2011, 217– 245.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Interessanter und weniger allgemein ist die schwächere Lesart des Einwands, die nicht die interpretative Texterschließung als solche, sondern die Verwendung von Präsumtionen in deren Rahmen hinterfragt. Wo das explizierte Präsumtionsmodell hermeneutische Billigkeit als global gerechtfertigte Ausgangsannahme ansieht und erst für die Modifikation bzw. die Revision der Ausgangsunterstellungen im Interpretationsprozess gewonnene, lokale Belege einfordert, verwirft das dem Einwand zugrunde liegende Alternativmodell diese Rechtfertigungsstruktur und sieht schon die anfänglichen Unterstellungen erst dann als valide an, sofern für sie unmittelbare lokale Gründe sprechen. Einem präsumtiven Billigkeitsprinzip wird unterstellt, dem interpretierten Text allgemein ein bestimmtes normatives Konzept, ein „inhaltliches Apriori“²⁰¹ aufzuzwingen und damit seinen eigentlichen Gehalt zu verfälschen. Sobald der Interpret in präsumtiver Form einen gewissen Erwartungshorizont an den Text heranträgt und im Rahmen des Interpretationsprozesses evtl. Entscheidungen trifft, inwiefern im Text aufgefundene Abweichungen davon zu bewerten sind, würde der Text voreingenommen unter unzulässigen externen Normen beurteilt. Spoerhase fasst zusammen: „Das principle of charity setzt voraus, dass es neben dem Interpretationsobjekt auch andere normative Quellen gibt, mit denen das Interpretationsobjekt harmonieren muss; laut dem entgegengesetzten ‚radikalen Ansatz‘, der eine ‚absolute abstention from the principle of charity‘ fordert, darf dies gerade nicht vorausgesetzt werden, weil das Interpretationsobjekt selbst die stärkste Quelle der Normativität ist.“²⁰² Nachsichtige Interpretation ist nach Auffassung von Einwand (1) dementsprechend nur auf Kosten von weniger „Texttreue“ zu haben und missachtet in unzulässiger Weise die „artefaktinterne[] Normativität“²⁰³ des Textes selbst. Es gelte eine Entscheidung zu treffen zwischen zwei schon grundsätzlich zu unterscheidenden Formen des interpretativen Textzugangs: „Die eine subsumiert die fremden Gedanken unter eigene Ideen und stellt die empirischen Untersuchungen unter ein inhaltliches Apriori. Die andere versucht umgekehrt, methodisch von den eigenen Überzeugungen zu abstrahieren und objektiv zu bestimmen, was eine andere Theorie sagt und wie sie es begründet.“²⁰⁴ Diese Sichtweise, speziell die von Reinhard Brandt vertretene dichotome Zuspitzung, ist in mehrerlei Hinsicht verfehlt. Zuallererst ist schon fraglich, ob eine in diesem Sinne völlige Neutralität gegenüber initialen Einstellungen im Umgang mit Texten überhaupt möglich, geschweige denn sinnvoll ist. In einem    

Brandt 1984, 31. Spoerhase 2007, 291. Spoerhase 2007, 292. Brandt 1984, 31.

2.4 Präsumtionsvarianten

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völlig voraussetzungslosen, scheinbar unvoreingenommen und besonders texttreuen Zustand einen Text zu erschließen ist schon deshalb problematisch, da der Text gar nicht mehr als Text aufgefasst werden kann. Diesen Punkt macht Jannidis klar: Und wenn man von diesen Prozessen absieht, dann ist man nicht mit dem eigentlichen, in Form der von psychologischen Projektionen unverfälschten Texten, konfrontiert, sondern mit Zeichen ohne Gebrauchsregeln. […] [Texte sind] kein mögliches Rückzugsgebiet für fröhliche Positivisten, sondern sie sind Zeichenträger in einem kommunikativen Prozeß, der Existenz und Verwendung dieser Spekulation voraussetzt. Ohne die Spekulation gibt es nicht die Texte – nun erst richtig und ohne Täuschung gesehen –, sondern lediglich schwarze Flecken auf dem Papier.²⁰⁵

Es ist nicht zu sehen, wie jeder Text aus sich selbst heraus eine vollständig unabhängige Welt samt eigener Interpretationsmethode konstituieren können soll. Ohne präsumtiv einige grundlegende Formen von Rationalität zu unterstellen, ist es nicht möglich, einen sinnvollen interpretativen Zugang zu einem Text zu finden. Dies hat noch gar nichts mit einem „inhaltlichen Apriori“²⁰⁶ zu tun, es handelt sich lediglich um einen heuristischen Türöffner, der den Einstieg in einen Interpretationsprozess erlaubt, in dessen Rahmen dann über inhaltliche Fragen räsoniert werden kann. Die Furcht vor einer apriorischen Festlegung ist unbegründet, da präsumtive Unterstellungen immer tentativ und nie dogmatisch sind, d. h., sofern ersichtlich ist, dass in einem konkreten Einzelfall gewisse Präsumtionen zu keinem befriedigenden Ergebnis führen, können diese jederzeit revidiert werden. Die dichotome Teilung Brandts in eine vorurteilsbehaftete und eine unvoreingenommene Interpretationshaltung, von denen die erstere eine Billigkeitspräsumtion anlegt und die letztere darauf verzichtet, ist dementsprechend unterkomplex. Offensichtlich ist der Hinweis richtig, dass auch eine nachsichtige Interpretation einer textinternen Normativität gerecht zu werden hat, und zwar dadurch, dass sie eben das interpretiert, was im Text steht bzw. im Text angelegt ist und nicht das, was sich in Präsumtionsform im Kopf des Interpreten befindet – ganz im Sinne der traditionellen hermeneutischen Maxime sensus non est inferendus sed efferendus. Statt aber für die Textinterpretation relevante Prinzipien wie hermeneutische Billigkeit und Texttreue als antagonistisch zu begreifen, ist es der Komplexität der hermeneutischen Tätigkeit angemessener, zu versuchen, alle potentiell für die Interpretation relevanten Faktoren im Rahmen eines hermeneutischen Abwägungsprozesses zusammenzubringen. Anstelle einer forcierten Grundsatzent-

 Jannidis 2004, 23.  Brandt 1984, 31.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

scheidung zwischen ad hoc postulierten Extremvarianten der philologischen Interpretation sollte eine Sichtweise von Interpretation als umfassendem Abwägungsprozess treten, in dessen Rahmen die Entscheidung für oder gegen eines der potentiell widerstreitenden Prinzipien fallspezifisch getroffen werden kann.²⁰⁷ Zu (2): In einem zweiten Einwand kann der Kritiker die Verwendung von Präsumtionen zwar für die Normalsprache akzeptieren, jedoch die von mir entworfenen Rahmenbedingungen der philologischen Textinterpretation zurückweisen, um damit den Übertrag präsumtiver Unterstellungen in die Philologie unplausibel zu machen. Die Frage wäre, wieso man das präsumtive Vorgehen speziell für literarische Texte übernehmen sollte, die man ohnehin schon grundlegend versteht. Das Bild der anfänglich unbestimmten Interpretationsgleichung wäre demnach für einen Davidson’schen Feldlinguisten zwar zutreffend, für die philologische Textinterpretation aber irreführend skizziert. Durch die Kenntnis der Sprache und weiterer meist vorhandener Zusatzinformationen über den Autor, den Entstehungshintergrund, andere Texte usw. wären im Fall der Literaturinterpretation bereits genügend Variablen bestimmt und der zusätzliche Rekurs auf Billigkeitspräsumtionen könnte als unnötig verworfen werden. Dieser Einwand greift Überlegungen auf, die sich einleitend schon als wenig überzeugend erwiesen.²⁰⁸ Die Interpretationsgleichung der philologischen Interpretation ist zwar in der Hinsicht tatsächlich nicht unbestimmt, dass – anders als im Fall der Erstinterpretation einer unbekannten Sprache bei Davidson – der Text im Sinne der unteren Verstehensstufen meist problemlos verstanden werden kann. Allerdings ist dieses Verstehen in charakteristischen Fällen – wie dem einleitenden Beispiel von Kafkas Verwandlung – für den Interpreten nicht befriedigend, weswegen philologische Interpretation zuallererst auf den Plan tritt. Das heißt, dass auf der höheren Ebene, auf der sich philologische Interpretation abspielt, die Interpretationsgleichung sehr wohl un- oder unterbestimmt ist, so dass ohne heuristische Zusatzannahmen – wie die Veranschlagung einer Billigkeitspräsumtion – kein befriedigendes Textverständnis im umfassenden Sinn aller Verstehensstufen möglich ist. Gerade um komplexe literarische Texte wie die Verwandlung als sinnvolle Äußerungen auffassen zu können, erweist sich eine Billigkeitspräsumtion damit als notwendig. Der Vertreter von Einwand (2) steht vor der Wahl, entweder, wie der einleitend genannte, von Unverständnis angesichts

 Welche Faktoren dies im Einzelnen sein können wird in Kapitel 5.2.3.1 erläutert. Zu einem Rahmenkonzept des oben angesprochenen Abwägungsprozesses vgl. Kapitel 5.  Vgl. insbesondere Abschnitt 1.1.

2.4 Präsumtionsvarianten

73

von Kafkas Erzählung geplagte Dr. Wolff, bei einem Verstehen im Sinne der ersten Verstehensstufen stehenzubleiben, oder, um dieses unbefriedigende Stadium zu überwinden, einen philologischen Interpretationsprozess anzustoßen. Dieser philologische Interpretationsprozess benötigt bestimmte methodische Vorgaben, deren Grundlage in Form von Billigkeitspräsumtionen zur Verfügung gestellt werden kann.²⁰⁹ Zu (3): Der dritte Einwand gegen das entworfene präsumtive Modell hermeneutischer Billigkeit zielt nochmals in eine andere Richtung und bestreitet speziell die Präsumtion von rationalen Kriterien. Der Vertreter dieses Einwands kann sowohl die Veranschlagung von Präsumtionen im Umgang mit Texten allgemein (Einwand 1), als auch die Veranschlagung von Präsumtionen im Umgang mit literarischen Texten (Einwand 2) zulassen. Was er nicht anerkennen will, ist, dass eine Billigkeitspräsumtion gegenüber einer Präsumtion anderen Inhalts, möglicherweise sogar der Präsumtion von Irrationalität, Fehlerhaftigkeit oder Unverständlichkeit ausgezeichnet sein soll. Ist die Entscheidung über den Zuschnitt der Präsumtion nicht letztlich willkürlich und die Privilegierung einer Billigkeitspräsumtion (und den darunter subsumierten inhaltlichen Kandidaten wie Wahrheit, Kohärenz etc.) unbegründet? Selbst wenn der formale Rahmen also akzeptiert wird, bleibt auch der nur grob bestimmte Inhalt immer noch rechtfertigungspflichtig. Dieser Einwand (3) beinhaltet mehrere Stoßrichtungen, die man differenziert besprechen sollte.

 Im Anschluss an Quine und Davidson könnte gegen Einwand (2) außerdem geltend gemacht werden, dass auch ein mehr oder minder automatisch ablaufendes, grundlegendes Verständnis von Texten ein radikal interpretativer Akt sei, der lediglich nach einem wenig Probleme aufwerfenden homophonen Schema von statten gehe. Mit der bekannten Formulierung „Radical translation begins at home“ weist Quine 1968, 198 genauso auf diese Einschätzung hin wie Davidson 1984e, 183: „Die radikale Interpretation ist immer beteiligt, wenn man die Äußerungen eines anderen Sprechers versteht.“ Folgt man Quine und Davidson in dem Anspruch, für jedes Verständnis sprachlicher bzw. schriftlicher Äußerungen einen Interpretationsakt anzunehmen, wird die Unterscheidung eines unproblematischen Verstehens und reflektierter Interpretation hinfällig. Alltägliches, automatisch ablaufendes Verstehen im Sinne erkenntnistheoretischer Interpretation und und bewusstes, elaboriertes Interpretieren von schriftlichen Texten im Sinne technischer Interpretation unterscheiden sich dann nur graduell. Damit wäre im Grunde die Veranschlagung von Präsumtionen für die Literaturinterpretation gerechtfertigt, sobald sie für die radikale Interpretation zugestanden wird. Der Einwand (2) müsste sich dann auf die schon zurückgewiesene „Präsumtionen sind nie sinnvoll“-Position von Einwand (1) reduzieren lassen und verlöre seine Eigenständigkeit.

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2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Die erste Variante (3a) versucht nachzuweisen, dass das Billigkeitsprinzip letztlich nur aus formalen Gründen relevant ist und dementsprechend nicht gegenüber einem Unbilligkeitsprinzip ausgezeichnet werden muss. McGinns Kritik an Davidsons principle of charity verfolgt diese Argumentationslinie. Seine Idee ist die folgende: [W]e may equally provide a basis for deriving the meaning of sentences held true by uncharitably imputing false beliefs to our speaker. We simply suppose, with or without good reason, that he has made a mistake and is expressing a false belief with a corresponding false sentence.²¹⁰

McGinn als exemplarischer Vertreter von Einwand (3a) fordert konsequenterweise einen unabhängigen Grund für die nachsichtige Interpretation: „We need some independent reason for preferring a priori to find the other right instead of wrong.“²¹¹ Um den zentralen Punkt dieses Einwands genau sehen zu können ist ein näherer Blick auf McGinns Argumentation nötig. Die Kritik McGinns zielt wie gesagt auf einen allgemeinen formalen Aspekt in der Konstruktion eines Billigkeitsprinzips (so wie es Davidson entwirft). Laut Davidson liegt – wie unter Punkt 2.1.1 schon ausgeführt – das zentrale Problem einer Interpretationstheorie darin, dass sie Sprechern Überzeugungen zuschreiben und gleichzeitig den Äußerungen der Sprecher Bedeutungen zuweisen muss. Dieses Unterfangen ist aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit der zu bestimmenden Faktoren so lange nicht durchführbar, bis eine der beiden Komponenten konstant gehalten werden kann. Sobald wir wissen, dass Sprecher S von p überzeugt ist, können wir seine Äußerung u (in bestimmten Kontexten) gerechtfertigt als Ausdruck von p interpretieren; sobald wir wissen, dass u p ausdrückt, können wir zumeist S die Überzeugung zuschreiben, dass p. Ohne eine Einschränkung irgendeiner Art auf einer Seite kann jede Äußerung potentiell jede noch so absurde Überzeugung ausdrücken. Das Billigkeitsprinzip besagt nun, dass sich die Sprecher nicht über Offensichtliches irren bzw. keine vollkommen abwegigen Überzeugungen vertreten und übernimmt damit genau diese nötige Fixierung. Dadurch, dass den Interpretierten keine absurden Überzeugungen mehr zugeschrieben werden, wird die Überzeugungsseite zumindest so eingeschränkt, dass in Abhängigkeit davon die Äußerungen interpretiert werden können. McGinns Idee ist, dass ein Prinzip hermeneutischer Böswilligkeit, das den Interpretierten immer Falschheiten zuschreibt, die gleiche Rolle übernehmen kann. Auch in diesem Szenario könnten die Überzeugungen des Sprechers konstant (jetzt im Sinn von konstant falsch)

 McGinn 1977, 523.  McGinn 1977, 523.

2.4 Präsumtionsvarianten

75

genug gehalten werden, um den Äußerungen Bedeutung zuschreiben zu können. Billigkeit und Unbilligkeit wären demzufolge zumindest unter formalen Gesichtspunkten austauschbar. McGinns Argumentation ist meines Erachtens jedoch nicht stichhaltig. Das Unbilligkeitsprinzip in Opposition zum Billigkeitsprinzip besagt, dass Interpretierte sich so gut wie immer über alles Mögliche täuschen und dementsprechend so gut wie immer falsche Überzeugungen haben. Damit ist es aber viel unspezifischer als ein Billigkeitsprinzip, das den Sprechern so gut wie immer wahre Überzeugungen zuschreibt. Einem Sprecher die wahre Überzeugung „Schnee ist weiß“ zuschreiben zu können fixiert die Überzeugungskomponente in oben diskutierten Sinn eindeutig, die Zuschreibung einer falschen Überzeugung leistet dies aber noch nicht, da nicht spezifiziert ist, in welchem Sinn die betreffende Überzeugung falsch sein soll.²¹² So lange ich nicht weiß, ob der Interpretierte die Überzeugung „Schnee ist grün“, „Schnee ist gelb“, „Schnee ist schwarz“, usw. hat, ist eine Interpretation seiner Äußerungen nicht möglich. Falschheit ist im Gegensatz zu Wahrheit eine viel zu unspezifische Kategorie, um die Fixierung der Überzeugungskomponente übernehmen zu können. Direkt austauschbar sind Prinzipien der Billigkeit und Prinzipien der Unbilligkeit damit nicht.²¹³ Diese bessere formale Eignung ist offensichtlich aber noch kein „reason […] a priori“²¹⁴ für Billigkeit. Eben darauf hebt Einwand (3b) ab. Er ist weniger spezifisch und wirft dem nachsichtigen Interpreten vor, unzulässig von einer naiv positiven Epistemologie auszugehen. In diese Richtung deutet die poststrukturalistische, v. a. die dekonstruktivistische Sprach- und Erkenntniskritik. Jacques Derrida versucht in Signatur Ereignis Kontext beispielsweise die Möglichkeit dysfunktionaler Kommunikation nicht als Sonderfall gegenüber dem Verstehen zu beschreiben, sondern als eigentlichen Wesenskern der Sprache: Ist diese allgemeine Möglichkeit [des Missverständnisses, des Nicht-Verstehens, der unernsten bzw. zitathaften Sprachverwendung etc.] gezwungenermaßen die eines Mißerfolgs oder einer Falle, in die die Sprache [langage] fallen oder sich wie in einem außer oder vor ihr gelegenen Abgrund verlieren kann? Mit anderen Worten, umgibt die Allgemeinheit des […] Risikos die Sprache [langage] wie eine Art Graben, oder äußerer Ort des Verderbens, den die

 Schon John L. Austin weist völlig zurecht darauf hin, dass Dinge in (zu)vielerlei Hinsicht falsch sein können: „That is to say, once again there is no simple dichotomy between things going right and things going wrong; things may go wrong, as we really all know quite well, in lots of different ways“. (Austin 1962, 13)  Diese Argumentation ist, zwar eher vage gehalten, im Kern schon angelegt in UllmannMargalit 1983a, 161. Eine ausführlichere Diskussion dieses Problemkomplexes findet sich bei Child 1987, 552 f. und Scholz 1999, 208 ff.  McGinn 1977, 523.

76

2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Rede [la locution] nie verlassen, den sie aber meiden könnte, wenn sie nur zuhause, bei sich und in sich, im Schutz ihres Wesens oder ihres telos bliebe? Oder ist dieses Risiko ganz im Gegenteil ihre interne und positive Möglichkeitsbedingung? Ihr Außen ihr Innen?²¹⁵

Speziell die schriftliche Kommunikation, deren laut Derrida zentrales Merkmal der Iterierbarkeit im Lauf des Essays auch auf die mündliche Sprache bezogen wird, entziehe sich einer semantischen Fixierung – der Normalfall der Kommunikation sei demzufolge nicht das unproblematische Verstehen, sondern möglicherweise sogar das allgemeine Nicht-Verstehen: [D]er semantische Horizont, der üblicherweise die Auffassung von Kommunikation beherrscht, wird überschritten oder gesprengt durch die Intervention der Schrift, das heißt einer Dissemination, die sich nicht auf eine Polysemie reduziert. Die Schrift liest sich, sie gibt ‚in letzter Instanz‘ keinen Anlaß zu einer hermeneutischen Entzifferung, zur Entschlüsselung eines Sinns oder einer Wahrheit;²¹⁶

Sofern man als Interpret schon aufgrund der Wesensmerkmale der sprachlichen Kommunikation nicht dazu berechtigt ist, dem Interpretierten zu unterstellen, dass er durch mündliche oder schriftliche Aussagen etwas Sinnvolles bzw.Wahres ausdrücken will und das Missverstehen sogar als Normalfall der Kommunikation anzusehen ist, ist eine Billigkeitspräsumtion nicht länger sinnvoll. Einwand (3b) zielt also darauf ab, eine Billigkeitspräsumtion dadurch zu diskreditieren, dass der paradigmatische Status von gelingender Kommunikation untergraben wird. Da der „Normalfall“ das Missverstehen sei, wie es Harold Bloom in dem gern zitierten Diktum „There are no interpretations but only misinterpretations“²¹⁷ auf den Punkt bringt, sei die Unterstellung rationaler Kategorien nicht mehr gegenüber anderen Unterstellungen ausgezeichnet und damit aus epistemologischer Sicht zu naiv. Neben der einschlägigen Grundsatzkritik an der dekonstruktivistischen Skepsis – die ich hier nicht weiter ausbreiten will²¹⁸ – sprechen jedoch sowohl induktiv-probabilistische als auch prozedurale Überlegungen gegen diese Position. Es ist letztlich eine empirische Frage, ob die Mehrzahl der Kommunikationsakte gelingt oder misslingt. Ohne auf erhobene Daten zurückgreifen zu können, scheint mir die Annahme, dass wir im Großen und Ganzen mit unserer

 Derrida 2008b, 97.  Derrida 2008b, 104.  Bloom 1973, 95.  Eine überzeugende Kritik speziell an Derridas oben zitiertem Signatur Ereignis KontextAufsatz ist Searle 1977.

2.5 Philologisches Fazit I

77

Umwelt zurechtkommen und die allermeisten Kommunikationssituationen nicht in sprachloser Verwirrung enden, aber deutlich besser gestützt als ihr Gegenteil. Dass Interpretationsprozesse im Rekurs auf die Präsumtion rationaler Kategorien auch besser funktionieren, konnte in der Replik auf Einwand (3a) gezeigt werden.

2.5 Philologisches Fazit I: Der formale Zuschnitt eines philologischen Billigkeitsprinzips Nach den bisherigen Überlegungen lässt sich bezüglich der Frage nach dem geeignetsten formalen Zuschnitt eines für die philologische Hermeneutik interessanten Billigkeitsprinzips Folgendes festhalten: Transzendentale Varianten des Billigkeitsprinzips – wie etwa Davidsons principle of charity – sind für die philologische Hermeneutik nicht von zentralem Interesse (2.1). Einerseits gibt es eine Reihe ernstzunehmender erkenntnistheoretischer Einwände (2.1.3), die tranzendentale Varianten auf grundsätzlicher Ebene angreifen. Es ist nicht absehbar, dass diese Einwände überzeugend entkräftet werden können. Darüber hinaus ist der Anspruch, den die philologische Hermeneutik an ein Billigkeitsprinzip stellt, von dem zu unterscheiden, den die Sprachphilosophie oder die Erkenntnistheorie an ein Billigkeitsprinzip stellt. Da sich Quine und Davidson in erster Linie für epistemische Hintergrundannahmen interessieren, vor denen sich einzelne Übersetzungs- bzw. Interpretationsprozesse erst entspinnen können und das principle of charity in eben diesem Zusammenhang verorten, ist es nicht dafür gedacht, Anweisungen („advice“²¹⁹) oder eine „interpretational strategy“²²⁰ zur Verfügung zu stellen. Es ist es gar nicht als „heuristic device“²²¹ konzipiert und auch „nicht als eine Interpretationsmaxime zu verstehen, die bestimmte heuristische Strategien empfiehlt.“²²² Gerade an einer derartigen Maxime ist die philologische Hermeneutik jedoch interessiert, zumindest insofern – wie in dieser Arbeit – versucht wird, ein methodologisch tragfähiges Fundament für die philologische Hermeneutik zu erarbeiten. Tranzendentale Varianten des Billigkeitsprinzips wie Davidsons principle of charity sind für die Philologie daher insbesondere als potentielle Rechtfertigungsgrundlage für andere Varianten des Billigkeitsprinzips, wie etwa die Präsumtionsvariante, interessant.

   

Ramberg 1989, 74. Ramberg 1989, 74. Ramberg 1989, 74. Spoerhase 2007, 338.

78

2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Evaluative Varianten, die exemplarisch anhand von Wilsons Version des principle of charity (2.2.1) und Meiers Prinzip hermeneutischer Billigkeit (2.2.2) diskutiert wurden, kranken aus philologischer Sicht an dem Problem, erst ex post, also nach Abschluss des eigentlichen Interpretationsprozesses wirksam zu werden. Sie sind zwar als heuristische Hypothesen zu rekonstruieren, jedoch nicht als solche, die den Interpretationsprozess selbst anleiten, sondern lediglich als Hinweise zur sinnvollsten Hierarchisierung alternativer Interpretationsergebnisse dienen.Wie zu diesen Interpretationsergebnissen zu kommen ist, wird im Rahmen evaluativer Varianten nicht thematisiert (Wilson) oder im Wesentlichen auf methodologisch nur schwer einholbare Kriterien wie den „großen Witz“²²³ (Meier) des Interpreten ausgelagert. Daumenregelvarianten haben diese beiden Probleme nicht. Sie liefern heuristische Hypothesen für einzelne Interpretationsprozesse und leiten direkt den Interpretationsprozess selbst an. Problematisch ist dabei jedoch, dass Daumenregelvarianten darauf bestehen, keine Spezifikationen der nachsichtigerweise unterstellten Inhalte zuzulassen, die über eine bloß allgemeine Ethik interpretativer Toleranz hinausgehen. Der Grund für diese Selbstbeschränkung liegt in einem auf drei Arten zu präzisierenden Imperialismus-Vorwurf, der nach Ansicht der Vertreter von Daumenregelvarianten jeden treffen muss, der mittels eines konkret ausbuchstabierten Billigkeitsprinzips spezifische Inhalte unterstellt. Derart konkrete Unterstellungen seien in ideologischer (2.3.2) oder inhaltlicher Weise (2.3.3) imperialistisch oder ignorierten die Möglichkeit inkommensurabler Begriffsschemata (2.3.4). Das Billigkeitsprinzip soll dementsprechend ausschließlich dafür sorgen, dass der Interpret in allgemeiner Weise respektvoll mit seinem Interpretandum umgeht. Dadurch sollen Fehlinterpretationen verhindert werden, die aus mangelnder Sorgfalt, Übereilung oder fehlender Offenheit entstehen können. Das Billigkeitsprinzip wird zu einer „commonsense rule[]“²²⁴ degradiert, die dem Interpreten nahelegt, im Rahmen interpretativer Prozesse offen für Unerwartetes zu sein und diese nicht vorschnell aufgrund von Unverständnis oder Überforderung abzubrechen. Da sich nach einer Diskussion der verschiedenen Imperialismus-Einwände jedoch gezeigt hat, dass keine Version vollends überzeugend ist, steht einer Variante des Billigkeitsprinzips, die spezifischere inhaltliche Aussagen machen kann und damit methodologisch noch interessanter ist, nichts entgegen. Als aus philologischer Sicht vielversprechendste Variante erweist sich mithin, das Billigkeitsprinzip als Präsumtionsregel zu rekonstruieren. Auf diese Weise

 Meier 1996, 60.  Hacking 1975, 150 f.

2.5 Philologisches Fazit I

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werden alle relevanten Monita umgangen: Eine Billigkeitspräsumtion ist eine heuristische Hypothese, die im Interpretationsprozess selbst zum Tragen kommt und problemlos inhaltlich konkretisiert werden kann. Im Rahmen der Interpretation literarischer Texte hat die entsprechende Präsumtionsregel die Form „(BP) Wenn du einen Text interpretierst, dann gehe so lange davon aus, dass der interpretierte Text bestimmte rationale Eigenschaften besitzt, bis es gute Gründe gibt, davon auszugehen, dass er diese Eigenschaften nicht besitzt.“ Präsumtive Annahmen wie diese können gerechtfertigt werden durch transzendentale, induktiv-probabilistische, normative und prozedurale Begründungen. Im Fall der präsumtiven Unterstellung rationaler Eigenschaften scheinen mindestens die drei letzteren vielversprechend, ob man eine transzendentale Begründung für plausibel hält oder nicht, wird von der Positionierung gegenüber der im Rahmen der transzendentalen Variante thematisierten Einwände abhängen. Da die drei naheliegendsten Einwände gegen die Verwendung einer Billigkeitspräsumtion im Kontext philologischer Interpretation sämtlich zurückgewiesen werden konnten (2.4.3), ist es angebracht, sich nun der Konkretisierung einiger Inhalte nachsichtiger Unterstellungen zuzuwenden, die innerhalb der philologischen Hermeneutik von besonderem Interesse sind.

3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien Nachdem im bisherigen Verlauf der Überlegungen lediglich die formale Struktur verschiedener Billigkeitsprinzipien diskutiert wurde, sollen ab jetzt inhaltliche Fragestellungen ins Zentrum der Analyse gerückt werden. Durch die formale Festlegung auf eine präsumtive Variante ist der als Platzhalterbegriff verstandene Terminus „Billigkeit“ inhaltlich noch nicht gefüllt, d. h. es ist noch keine Aussage darüber gemacht, was dem Interpretandum denn genau unterstellt werden soll. Analog zu dem Vorgehen unter Abschnitt 2 sollen in der Folge die Kandidaten, die für die inhaltliche Füllung von Billigkeitsprinzipien in Frage kommen, einzeln thematisiert werden. Prima facie halte ich es für möglich, die inhaltlichen Konkretisierungen unabhängig von der Entscheidung für eine bestimmte formale Variante von Billigkeitsprinzip zu diskutieren. Das heißt, die folgenden Überlegungen sind nicht an eine Billigkeitspräsumtion geknüpft, sie könnten ebenso z. B. auf ein evaluatives oder ein transzendentales Billigkeitsprinzip angewendet werden. Diese prinzipielle formale Neutralität soll dadurch gekennzeichnet sein, dass ich, wenn ich in der Folge von Billigkeitsprinzipien spreche, keine Festlegung darüber machen möchte, welche Art von Prinzip aus formalen Überlegungen heraus besonders plausibel sein könnte.Wenn ich speziell literaturwissenschaftliche Fragestellungen behandle, werde ich dennoch zumeist von Billigkeitspräsumtionen reden, da mir aus den oben erläuterten Gründen eine Präsumtionsvariante als vielversprechendste formale Präzisierung für die philologische Hermeneutik erscheint.

3.1 Wahrheit Eine erste Kandidatin für die inhaltliche Präzisierung von Billigkeitsprinzipien, die uns im Lauf der bisherigen Überlegungen bereits mehrmals en passant begegnet ist, ist Wahrheit. Da für das Folgende nicht wahrheitstheoretische Fragen als solche von Interesse sind, werde ich auf eine extensive Behandlung des philosophischen Problems der Wahrheit verzichten. Ich werde den Begriff „Wahrheit“ deshalb in einer alltäglichen Redeweise verwenden, nach der mit Wahrheit die Übereinstimmung einer Proposition mit einer Tatsache gemeint ist.²²⁵

 Dieses Verständnis von Wahrheit liegt schon Aristoteles’ Definition von Wahrheit in der Metaphysik zugrunde: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist

3.1 Wahrheit

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Es ist in diesem Sinne wahr, zu behaupten, dass Benzin brennbar ist, oder zu behaupten, dass Barack Obama der 44. Präsident der Vereinigten Staaten ist. In den folgenden Überlegungen wird es primär um die Frage gehen, was es heißt, einem Interpretandum nachsichtigerweise Wahrheit zu unterstellen, bzw. welche Implikationen und Probleme die Unterstellung von Wahrheit mit sich bringt.²²⁶ Da sich diese Frage aber in weiten Teilen unabhängig gegenüber dem Problem verhält, wie unterstellte Wahrheit im Detail durch eine elaborierte Wahrheitstheorie spezifiziert wird, halte ich es für legitim, Neutralität gegenüber dieser Spezifikation zu bewahren und sich auf eine alltägliche Redeweise von Wahrheit zu beschränken. Auch Davidson verzichtet größtenteils auf eine philosophisch erschöpfende Beantwortung genuin wahrheitstheoretischer Fragen, er beschreibt Wahrheit sogar explizit als nicht weiter definitionsbedürftiges Primitivum: „Truth is, as G.E. Moore, Bertrand Russell and Frege maintained, and Tarski proved, an indefinable concept. This does not mean we can say nothing revealing about it: we can, by relating it to other concepts like belief, desire, cause and action. Nor does the indefinability of truth imply that the concept is mysterious, ambiguous, or untrustworthy.“²²⁷ Davidson geht davon aus, dass es einfach keine noch basaleren falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr.“ (Aristoteles 1978, 71 [1011b])  Der Begriff „Unterstellung“ ist, ähnlich wie der Begriff „Prinzip“, als formal neutral zu verstehen. Ob die Unterstellung von etwas präsumtiv, transzendental etc. ist, kann offen bleiben.  Davidson 2005b, 21. Dieses Verständnis von Wahrheit erklärt sich letzten Endes daraus, dass Davidson (genauso wie Quine) sein Verständnis von Wahrheit auf Tarski gründet. Tarskis Wahrheitstheorie ist eine semantische Wahrheitstheorie, die sich von den bekannten korrespondenz- und kohärenztheoretischen oder pragmatistischen Wahrheitstheorien unterscheidet. Tarski versucht lediglich Bedingungen anzugeben, unter denen auf einen Satz in einer bestimmten formalen Sprache als „wahr“ bezeichnet werden kann. (vgl. Tarski 1949 und Tarski 1969). Tarskis formale semantische Wahrheitsdefinition hat die Form einer „Konvention W“: (W1) „Schnee ist weiß“ ist wahr dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist. (Diese Definition ist nicht zirkulär, da das in Anführungszeichen gesetzte „Schnee ist weiß“ auf der linken Seite nur eine strukturelle Beschreibung des Satzes Schnee ist weiß ist). Deutlicher wird das informative Potential von (W1) wenn Objekt- und Metasprache nicht zusammenfallen, z. B. in (W2) „snow is white“ ist wahr dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist. Damit ist die Wahrheitsbedingung eines Satzes in der Objektsprache in der Metasprache angegeben. Wäre die Anzahl der Sätze der Objektsprache endlich, würde eine logische Konjunktion aller Sätze einer Objektsprache eine komplette Definition von wahr-in-L ergeben. Da dies nicht der Fall ist, gibt Tarski – und mit ihm Davidson (vgl. Davidson 1984b, 48 f.) – eine allgemeine Wahrheitsdefinition für eine Sprache L an, bei der p durch jeden Satz der Sprache L (im Indikativ) ersetzt werden kann und s durch die strukturelle Beschreibung desselben Satzes. Dieses Tarski-Schema hat also die Form:

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Begriffe gibt, auf die man rekurrieren könnte, um den Begriff „Wahrheit“ weiter zu explizieren.²²⁸ Wahrheit ist nach Davidsons Einschätzung also kein problematisches und klärungsbedürftiges Konzept; er hält eine „intuitive notion of truth which applies across languages“²²⁹ für „both indefinable and unproblematic“.²³⁰ Im Kontext von Überlegungen zu Billigkeitsprinzipien fällt der Begriff Wahrheit immer wieder.Wie unter 2.2.2 schon erläutert ist der Interpret nach Georg Friedrich Meier durch den Grundsatz hermeneutischer Billigkeit dazu angehalten, einem Interpretierten bestimmte „Vollkommenheiten“ zu unterstellen, zu denen unter anderem auch die „Wahrhaftigkeit [des Gemüts] (veracitas signatoris), vermöge welcher er [der Interpretierte] sich wahrer Zeichen bedient“,²³¹ gehört. Johann Heinrich Lambert hält es für sinnvoll, dass der Interpret „denjenigen Sinn der Rede gelten läßt, der in Absicht auf das Wahre […] der vortheilhafteste ist“,²³² Bernard Bolzano führt im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Übergang zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen in der Interpretation ebenfalls aus, dass eine uneigentliche Bedeutung nur sinnvoll angenommen werden kann, wenn der Interpret nachsichtigerweise unterstellt, dass „der Satz etwas Vernünftiges und Wahres aussprechen soll.“²³³ Neil Wilson hält diejenige Interpretation für die beste, die in dem Sinn die „billigste“ ist, dass sie „the largest possible number of […] statements true“²³⁴ werden lässt. Michael Devitt und Kim Sterelny halten ein „heuristic principle“ für sinnvoll, sofern es dem Interpreten den Rat gibt, davon auszugehen, dass die interpretierte Person „a believer of the truth“²³⁵ ist, Quine

(W) s ist wahr dann und nur dann wenn p. Eine sehr übersichtliche Erklärung Tarskis und der Art und Weise, in der Davidson auf Tarski rekurriert, findet sich bei Glock 2003, 103 – 136. Diese Haltung Davidsons zu Wahrheit – die sich übrigens im Lauf der Zeit mitunter deutlich gewandelt hat (hierauf weist Glock 2003, 107 f. zu Recht hin) – nehmen einige „Davidsonianer“ als Rechtfertigung, um auf eine vertieftere Beschäftigung mit dem Thema Wahrheit verzichten zu können. (Vgl. Glock 2003, 109: „To Davidson’s followers, such passages present an invitation to bypass the topic of truth.“) Die Davidson von Kritikern unterstellte Weigerung „to face the general philosophical problem altogether“ (Strawson 1971, 180) halte ich in diesem speziellen Kontext aber für irrelevant, da das „general philosophical problem“ der Wahrheit keine unmittelbare Rolle für eine Analyse von Billigkeitsprinzipien als Wahrheitsunterstellungen spielt.  Vgl. Davidson 1990b, 294 f.: „Truth is one of the clearest and most basic concepts we have, so it is fruitless to dream of eliminating it in favour of something simpler or more fundamental.“  Glock 2003, 109.  Glock 2003, 109.  Meier 1996, 38 [meine Hervorhebung].  Lambert 1965, § 302 [meine Hervorhebung].  Bolzano 1930, Bd. III, 71 f. [meine Hervorhebung].  Wilson 1959, 532 [meine Hervorhebung].  Devitt, Sterelny 1999, 299 [meine Hervorhebung].

3.1 Wahrheit

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empfiehlt eine Revision der Übersetzung gerade dann, wenn dem Interpretierten statt wahrer Überzeugungen „falsehood[s]“²³⁶ zugeschrieben werden müssten, Scholz fasst hermeneutische Präsumtionsregeln allgemein als „vorgreifende Unterstellungen von Konsistenz, Wahrheit und allgemeiner von Rationalität“²³⁷ zusammen. Auch Paul Grices Konversationsmaximen lassen sich als dem Billigkeitsprinzip ähnliche Unterstellungen rekonstruieren, die (unter anderem) von der Wahrheit des Gesagten ausgehen.²³⁸ Grice betont, dass mit dem allgemeinen Cooperative Principle, nach dem sich Sprecher in der Konversation üblicherweise richten, einige „specific expectations or presumptions“²³⁹ einhergehen. Eine der Ausprägungen des Cooperative Principle, die sich dann in der korrespondierenden, gegenseitigen Unterstellung der Gesprächspartner widerspiegelt, ist die Submaxime der Qualität, die Grice explizit auf die Wahrheit des Gesagten bezieht: „Under the category of Quality falls a supermaxim – ‚Try to make your contribution one that is true‘.“²⁴⁰ Hans-Georg Gadamer scheint in einigen Passagen von Wahrheit und Methode das Billigkeitsprinzip ebenfalls als Wahrheitsunterstellung zu verstehen, etwa wenn er erklärt, der Interpret würde von „Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des Gemeinten entspringen.“²⁴¹ Es sei die Ausgangsposition des Interpreten, dass er den rezipierten Text „für wahr hält“.²⁴² Erst durch „das Scheitern des Versuchs, das Gesagte als wahr gelten zu lassen“²⁴³ würden dann weitere hermeneutische Anstrengungen bedingt. Gadamers zusammenfas-

 Quine 1990, 46.  Scholz 2000, 159 [meine Hervorhebung].  Scholz 1999, 168, rekonstruiert Grices Maxime der Qualität ganz explizit als Wahrheitsunterstellung: „Wenn dein Gesprächspartner eine Äußerung u in einem gemeinsamen Gespräch getan hat, dann interpretiere u als wahre Äußerung, solange bis Du zureichende Gründe für die gegenteilige Annahme hast.“ [meine Hervorhebung]  Grice 1989b, 28.  Grice 1989b, 28 [meine Hervorhebung].  Gadamer 2010, 299 [meine Hervorhebung]. Gadamers Bestimmung des als „Vorgriff der Vollkommenheit“ bezeichneten Billigkeitsprinzips ist alles in allem eher uneinheitlich. Er erklärt in eben dem zitierten Kontext außerdem die „Antizipation von Sinn“ (298), genauer: die Annahme, dass ein Text „eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt“ (299) als inhaltliches Kriterium des Billigkeitsprinzips. Dies ist eine gegenüber der Wahrheitsunterstellung weiter gefasste Unterstellung, da sie sich nicht nur auf wahrheitswertdefinite Aussagesätze erstreckt. Außerdem bezieht sich Gadamer mit der Formulierung „eine vollkommene Einheit von Sinn“ allem Anschein nach auf kohärente Aussagen, was ebenfalls einer Ausweitung des Geltungsbereichs gleichkommt, da wahre Aussagen immer kohärent sind, kohärente Aussagen jedoch nicht immer wahr.  Gadamer 2010, 299 [meine Hervorhebung].  Gadamer 2010, 299 [meine Hervorhebung].

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

sende Schlussfolgerung über das „Vorurteil der Vollkommenheit“ hält dementsprechend erneut fest: „Das Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies Formale, daß ein Text seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist.“²⁴⁴ Auch Davidson lässt – v. a. in seinen frühen Arbeiten – keinen Zweifel darüber, dass eine Anwendung des principle of charity in seinem Sinn als Unterstellung von wahren Überzeugungen aufzufassen ist. Nur ein Beispiel:²⁴⁵ Wir werden Bedingungen festhalten, unter denen der Fremdsprachige eine Vielfalt von Sätzen seiner eigenen Sprache bejaht bzw.verneint. […] Wir werden davon ausgehen müssen, daß die meisten seiner Bejahungen in einfachen oder einleuchtenden Fällen wahren Sätzen und die meisten seiner Verneinungen falschen Sätzen gelten – eine unumgängliche Voraussetzung, denn die Alternative ist unverständlich.²⁴⁶

Dieser knappe Überblick über die wissenschaftshistorische Relevanz von Wahrheit als Inhalt verschiedenster Varianten von Billigkeitsprinzipien lässt nicht zuletzt die weitgehende Akzeptanz von Wahrheit als inhaltlicher Konkretisierung von Billigkeit deutlich werden. Die altehrwürdige Tradition sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein als Wahrheitsunterstellung verstandenes Billigkeitsprinzip mit dem so grundlegenden wie gravierenden Problem der fehlenden epistemischen Sensitivität konfrontiert ist.

3.1.1 Epistemische Kontextualisierung Dass Problem der mangelnden Sensitivität für epistemische Kontexte besteht darin, dass der Interpret durch eine pauschal formulierte Wahrheitsunterstellung dazu angehalten ist, dem Interpretierten wahre Überzeugungen zu unterstellen, ohne dass diese Unterstellung einzelfallspezifisch erklärbar sein muss. Es sind jedoch nicht nur Fälle denkbar, in denen es wenig überzeugend ist, dem Interpretierten eine wahre Überzeugung zuzuschreiben, sondern sogar Fälle, in denen der Interpret unbedingt davon ausgehen sollte, dass der Interpretierte falsche Überzeugungen hat. Allgemeiner formuliert: Es ist nicht klar, inwiefern die Zu-

 Gadamer 2010, 299 [meine Hervorhebung].  Vgl. neben den bereits zitierten Passagen außerdem Davidson 1984b, 54: „Was er [der Interpret] tun muß, ist, mit allen möglichen Mitteln herauszufinden, welche Sätze der Fremde in seiner eigenen Sprache für wahr hält“, Davidson 1984e, 199: „[Interpretation] gelingt, indem man den fremdsprachigen Sätzen Wahrheitsbedingungen zuordnet, denen zufolge die eingeborenen Sprecher Recht haben, wenn es plausiblerweise möglich ist“.  Davidson 1984d, 102 [meine Hervorhebung].

3.1 Wahrheit

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schreibung einer wahren Überzeugung, deren Zustandekommen in dem spezifischen epistemischen Kontext, in dem sich der Interpretierte befindet, nicht erklärbar ist, der Zuschreibung einer falschen Überzeugung, deren Zustandekommen in dem spezifischen epistemischen Kontext sehr wohl erklärbar ist, vorgezogen werden sollte. Auf dieses Grundproblem haben – mit unterschiedlichen Nuancierungen – verschiedene Autoren hingewiesen,²⁴⁷ Glock benennt stellvertretend die Problematik knapp zusammengefasst: „We should avoid ascribing unintelligible error, but equally unintelligible insight.“²⁴⁸ Die Anforderung einer epistemischen Kontextualisierung kann auf zwei verschiedene Arten präzisiert werden. Einerseits sollte die Unterstellung von Wahrheit perzeptuell kontextualisiert, also abhängig von der sinnlichen Wahrnehmung des Interpretierten gemacht werden, andererseits rational, also abhängig von dessen Denkprozessen bzw. Verstandesoperationen.²⁴⁹

3.1.1.1 Perzeptuelle Kontextualisierung Dagfinn Føllesdal skizziert eine Szene als Beispiel, die zwar direkt gegen Davidsons principle of charity gerichtet ist, dabei aber auch zeigt, wie wenig plausibel eine wahrnehmungsunabhängige Wahrheits- bzw. Übereinstimmungsmaximierung für alle Varianten von Billigkeitsprinzipien ist:²⁵⁰ Nehmen wir also in Anschluss an Føllesdal an, ein aus Davidsons und Quines Überlegungen bereits bestens bekannter Feldlinguist sei dabei, sprachliche Äußerungen eines unbekannten Stammes zu interpretieren. Die interpretierten Sprecher haben ab und an den Satz „gavagai“ geäußert und der Interpret hat mittlerweile ganz gute Anhaltspunkte dafür, dass „gavagai“ irgendetwas mit Kaninchen zu tun haben könnte, da sie den Satz immer dann äußern, wenn Kaninchen in der Nähe sind. Stellen wir uns weiterhin vor, der Feldlinguist und einer der Eingeborenen seien ein weiteres Mal im Dschungel unterwegs, als der Interpret einige Meter entfernt ein Kaninchen entdeckt. In der Erwartung von Zustimmung äußert er den Satz „gavagai“, der Eingeborene jedoch zeigt erkennbar seine Ablehnung. Der Maxime der Wahrheitsmaximierung entsprechend wäre dies ein Beleg gegen die Hypo-

 Vgl. Grandy 1973, Lewis 1983b, 112 ff., Spoerhase 2007, 347– 354, Williamson 2004, 141 f., Glock 2003, 194– 199, Blackburn 1984, 280, Føllesdal 1975, Føllesdal 1999, v. a. 142– 145, McGinn 1977, Macdonald und Pettit 1981, Künne 1990, v. a. 233.  Glock 2003, 196.  Diese Differenzierung greift einen Hinweis in Føllesdal 1999, 143 auf, der die „the two main ingredients in epistemology: perception and reason“ als in diesem Kontext maßgeblich bezeichnet. Von Føllesdal selbst wird jedoch keine feinkörnigere Differenzierung geleistet.  Vgl. Føllesdal 1999, v. a. 142– 145.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

these, dass „gavagai“ als „Da ist ein Kaninchen“ zu interpretieren sein könnte, da in diesem Fall die Überzeugungen von Interpret und Interpretiertem voneinander abweichen würden – der Interpret hätte die Überzeugung „Da ist ein Kaninchen“, der Interpretierte hätte diese Überzeugung nicht. Da dem principle of charity Davidsons gemäß eine Abweichung in der Sprache einer Abweichung in den Überzeugungen vorgezogen werden sollte, ist der Interpret dazu angehalten, „gavagai“ anders zu interpretieren – und zwar so, dass die Überzeugungen der beiden als übereinstimmend beschreiben werden können. Sollte in diesem Szenario der Interpret jedoch feststellen, dass z. B. ein Baum im Sichtfeld des Eingeborenen steht und dieser damit einfach nicht in der Lage war, das Kaninchen wahrzunehmen, gäbe es eine unmittelbare und schlagende Erklärung der voneinander abweichenden Überzeugungen. Der Forscher wird in dieser Situation den Eingeborenen gerade nicht auf eine Weise interpretieren, die Wahrheit (als Übereinstimmung) maximiert, sondern die ablehnende Reaktion auf die Äußerung „gavagai“ sogar als unterstützenden Hinweis für die Hypothese verstehen, dass „gavagai“ als „Da ist ein Kaninchen“ zu interpretieren sein könnte. Nur dann, wenn der epistemische Kontext von Interpretem und Interpretiertem in perzeptueller Weise gleich gestaltet ist – d. h. wenn die Sicht keines der beiden durch Bäume oder sonstige, die sinnliche Wahrnehmung beeinflussenden Umstände getrübt ist – macht eine Unterstellung von wahren respektive übereinstimmenden Überzeugungen Sinn.²⁵¹ Føllesdals völlig zutreffende Folgerung ist: „The thesis of maximizing agreement hence has to be modified into ‚Maximize agreement where you expect to find agreement.‘“²⁵² Die für Quine durch das Billigkeitsprinzip gerechtfertigte Richtlinie, Übersetzungen bzw. Interpretationen immer dann zu revidieren, wenn sie dem Interpretierten zu auffällige Unwahrheiten – „too glaring […] falsehood[s]“²⁵³ – zuschrieben, wäre dementsprechend um die Komponente der allzu glaring truths zu ergänzen. Auch dann, wenn dem Interpretierten zu auffällige und damit nicht mehr nachvollziehbare Wahrheiten zugeschrieben werden müssten – z. B. wenn der Interpretierte aus dem obigen Beispiel dem Satz „Da ist ein Kaninchen“ zugestimmt hätte, obwohl er aufgrund des Baumes das Kaninchen unmöglich wahrnehmen hätte können – sollte die entsprechende Übersetzung bzw. Inter-

 Vgl. zur Abhängigkeit einer Wahrheitsunterstellung von sinnlichen Wahrnehmungsaspekten außerdem Blackburn 1984, 280: „[D]on’t interpret people as referring to a thing if there is no means by which they could have been brought to be aware of it; don’t see them as ascribing a feature to a thing if the feature is undetectable by their sensory modalities.“ [meine Hervorhebung].  Føllesdal 1999, 143.  Quine 1990, 46.

3.1 Wahrheit

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pretation korrigiert werden. Ein ursprünglich von Grandy entworfenes Beispiel vertieft Føllesdals speziell gegen eine als Übereinstimmungsmaximierung verstandene Wahrheitsunterstellung und weist ebenfalls auf die Notwendigkeit einer perzeptuellen Kontextualisierung hin. Nehmen wir diesmal in Anschluss an Grandy also an, wir befänden uns auf einer Party. Nach einiger Zeit kommt ein neuer Gast an und äußert den Satz „Der Mann mit dem Martini ist ein Philosoph.“ Nun verhält es sich so, dass in der unmittelbaren Nähe des Gastes ein Historiker steht, der gerade Wasser aus einem Martiniglas trinkt. Nehmen wir weiterhin an, dass im Garten hinter dem Haus – der vom Standort des Neuankömmlings nicht einsehbar ist – tatsächlich ein Philosoph steht, der als einziger auf der gesamten Party tatsächlich gerade Martini trinkt. Ein als Wahrheitsunterstellung verstandenes Billigkeitsprinzip hielte uns in dieser Situation dazu an, die Äußerung des neuen Gastes als wahr zu interpretieren, genauer: als wahre Aussage über den Philosophen im Garten. Da der Gast aber nichts über die Anwesenheit dieses Philosophen im Garten wissen kann, ist es plausibler, seine Äußerung als falsche Äußerung zu interpretieren, genauer: als falsche Aussage über den Wasser trinkenden Historiker. Diese Erklärung ist deutlich überzeugender als die Annahme, dass der Gast eine Überzeugung über den Philosophen im Garten hat, die zwar wahr wäre, deren Zustandekommen aber nicht erklärbar ist.²⁵⁴ Statt dem Interpretierten pauschal zu unterstellen, er habe immer wahre Überzeugungen, sollte ein präzisiertes, für den epistemischen Kontext sensitives Billigkeitsprinzip den Interpreten dazu anhalten, dem Interpretierten nur dann wahre Überzeugungen zu unterstellen, wenn diese im gegebenen epistemischen Kontext erklärbar sind. Eben dies versucht Grandy durch seine Version des principle of charity, das von ihm sogenannte principle of humanity, umzusetzen: „This is what is predicted by the principle of humanity, of course, for that constraint instructs us to prefer the interpretation that makes the utterance explainable.“²⁵⁵ Grandys Billigkeitsprinzip hat statt pauschal und allumfassend angenommener Wahrheit also so etwas wie nachvollziehbare Wahrheit oder erklärbare Wahrheit zum Inhalt – zumindest sollte nur dann von der Wahrheit der Überzeugungen eines Interpretierten ausgegangen werden, wenn diese Wahrheit eine erklärbare bzw. nachvollziehbare Wahrheit ist.²⁵⁶

 Vgl. Grandy 1973, 445. Das Beispiel in Grandys Wortlaut ist bereits zitiert in Fußnote 112.  Grandy 1973, 445 [meine Hervorhebung].  Vgl. auch Glock 2003, 195: „[I]t would be wrong to ascribe to the natives beliefs we take to be correct even in cases in which there is no explanation of how they could have acquired these beliefs.“ Auch Spoerhase 2007, 353 weist auf dieses Moment der Nachvollziehbarkeit hin. Er fordert, dass „bei der Zuschreibung von Überzeugungen grundsätzlich nachvollziehbar sein

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

3.1.1.2 Rationale Kontextualisierung David Lewis stimmt mit den Forderungen der bislang angesprochenen Aspekte epistemischer Kontextualisierung überein. Er macht – noch deutlicher als andere Kritiker – darüber hinausgehend außerdem deutlich, dass der Interpret nicht nur Abstand von einer pauschalen Wahrheitsunterstellung nehmen, sondern dem Interpretierten situationsabhängig sogar aktiv falsche Überzeugungen unterstellen sollte: But it would be more charitable to make allowances for the likelihood that Karl’s circumstances – his life history of evidence and training, recounted in physical terms in our data base P – may have led him understandably into error. We should at least forbear from ascribing to Karl those of our beliefs and desires which, according to P and our notions of reason, he has been given no reason to share. We should even ascribe to him those errors which we think we would have made, or should have made, if our evidence and training had been like his.²⁵⁷

Nicht nur sollte die Zuschreibung wahrer Überzeugungen für den epistemischen Kontext sensibilisiert werden, gegebenenfalls sollte der Interpret dem Interpretierten sogar bewusst falsche Überzeugungen zuschreiben. Sollte ein Eingeborenenstamm von einem auf Quines Spuren wandelnden Feldlinguisten etwa mit einer ausgeklügelten Kaninchenattrappe konfrontiert werden und – wenig überraschend – sogleich „gavagai“ ausrufen, sollte der Linguist dem interpretierten Sprecher gerade nicht die wahre Überzeugung „Da ist eine Kaninchenattrappe“ zuschreiben, sondern die falsche Überzeugung „Da ist ein Kaninchen“.²⁵⁸ Versetzt sich der Interpret in die Lage des eingeborenen Sprechers, ist die Verwechslung der Attrappe mit einem lebenden Kaninchen nämlich eindeutig ein Fehler, der jedem Interpretierten in dem konkreten epistemischen Kontext – also auch dem Interpreten selbst – unterlaufen wäre. Lewis fügt den schon diskutierten Beispielfällen eine zusätzliche Dimension der Kontextualisierung von Wahrheitsunterstellungen hinzu. Er stellt noch deutlicher als Grandy und Føllesdal heraus, dass eine Anpassung der Wahrheitsunterstellung nicht nur in perzeptueller Hinsicht, sondern ebenso in rationaler Hinsicht erfolgen muss. Lewis‘ „improved principle of charity“²⁵⁹ bezieht die Überzeugungssysteme des Interpreten und des Interpretierten dementsprechend nicht nur unter dem Aspekt der (perzeptuell kontextualisierten) Wahrheit auf-

[muss], dass der fremde Sprecher mit der Welt derart in einer Beziehung steht, dass die ihm zugeschriebenen Überzeugungen ihm durch diese Beziehung auch zugänglich sind.“  Vgl. Lewis 1983b, 112 f.  Vgl. Spoerhase 2007, 350.  Lewis 1983b, 113.

3.1 Wahrheit

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einander. Was dem Interpreten und dem Interpretierten gemeinsam sein muss ist nicht in erster Linie eine Menge wahrer Überzeugungen, sondern ein Schlussverfahren, das sich als rational beschreiben lässt: „[T]here must exist some common inductive method M which would lead to approximately our present systems of belief if given our histories of evidence, and which would likewise lead to approximately the present system of beliefs ascribed to Karl […] if given Karl’s life history“.²⁶⁰ Was diese Differenzierungen dem als Wahrheitsunterstellung verstandenen Billigkeitsprinzip also hinzuzufügen versuchen, ist eine Art Rechtfertigungskomponente. Am deutlichsten zeigt sich diese Stoßrichtung bei Timothy Williamson, der für eine Version des Billigkeitsprinzips argumentiert, die anstelle von Wahrheit Wissen maximieren soll. „Knowledge maximization“²⁶¹ fordert der klassischen Definition von Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung entsprechend neben der „bloßen“ Wahrheit eine Rechtfertigung der betreffenden wahren Überzeugung ein. Nur so kann die Überzeugung das Prädikat „Wissen“ erhalten. Williamsons Ziel ist, die für eine pauschale Wahrheitsunterstellung problematischen Fälle epistemischen Glücks auszuschließen: A fair coin has been tossed. In fact it landed heads. The agent cannot see or otherwise know which way up it landed, but is easily convinced by what are really just his own guesses. He sincerely asserts ‘Toda’. Is it a point in favour of interpreting ‘Toda’ to mean ‘It landed heads’ rather than ‘It landed tails’ that it has him speaking and believing truly rather than falsely? Surely not. The true belief would no more be knowledge than the false belief would be.²⁶²

Williamsons Beispiel macht erneut deutlich, wie wenig ergiebig eine nicht weiter rational kontextualisierte Wahrheitsunterstellung ist. Sofern nicht nachvollziehbar ist, wie der Interpretierte in den Besitz einer wahren Überzeugung gelangt sein könnte – und zu raten, dass die Münze mit „Kopf“ nach oben landen wird, ist in diesem Sinne keine nachvollziehbare Erklärung – kann der Interpretierte auch

 Lewis 1983b, 113. Vgl. ebd. außerdem Lewis‘ Hinweis: „He [Karl] may or may not have learned to beware of hasty generalizations, or to like raw eel. If our common-sense theory (without the benefit of esoteric scientific knowledge) told us just what these effects of training were, we could build them into a still better version of the principle of charity. But if not, we must idealize them away, and then not apply the idealized Principle too stringently.“ In die gleiche Richtung weist auch Glock 2003, 196: „instead of crediting the natives with the beliefs and desires we actually have, we start out by crediting them with the beliefs and desires we would have had, if we had been in their position.“  Williamson 2004, 142.  Williamson 2004, 141.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

einfach Glück gehabt haben. Es sollten dementsprechend nur Wahrheiten unterstellt werden, die der Interpretierte auch tatsächlich begründet vertreten kann. Insgesamt wird durch die Kritik deutlich, dass ein Billigkeitsprinzip, das als pauschale Wahrheitsunterstellung verstanden wird, nicht überzeugend ist. Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass sich auch Davidson und Quine, denen oft vorgeworfen wird, sich mit ihren Versionen des principle of charity zu Anwälten einer eben solchen allzu pauschalen Wahrheitsunterstellung zu machen,²⁶³ sehr wohl der vorgebrachten Probleme bewusst sind – auch wenn sie dies möglicherweise zu wenig deutlich machen. In Radikale Interpretation erklärt Davidson beispielsweise explizit, dass es Aufgabe des Interpreten ist, Äußerungen der interpretierten Sprecher möglichst „Wahrheitsbedingungen zuzuordnen, denen zufolge die eingeborenen Sprecher recht haben“²⁶⁴, allerdings nur dann „wenn es plausiblerweise möglich ist“.²⁶⁵ Diese Einschränkung ist ungenau, kann aber durchaus im Sinne der eingeforderten epistemischen Kontextualisierung verstanden werden.²⁶⁶ Auch Quine hat selbst die Durchschlagskraft dieser Kritik anerkannt – treffenderweise in einer Formulierung, die die bereits zitierte Redeweise von den „glaring falsehoods“ wieder aufgreift. In Where do we disagree? stellt er dementsprechend fest: „I would maximize the psychological plausibility of my attributions of belief to the native, rather than the truth of the beliefs attributed. In the light of some of the natives’ outlandish rites and taboos, glaring falsity of their utterances is apt to be a psychologically more plausible interpretation than truth.“²⁶⁷ Wahrheit ist als inhaltliche Spezifizierung des Billigkeitsprinzips generell also nur sinnvoll als epistemisch kontextualisierte Wahrheit.²⁶⁸ Es ist sinnvoll, diese grundlegende epistemologische Erkenntnis für den spezielleren Fall der philologischen Interpretation fiktionaler Literatur zu über-

 Vgl. exemplarisch Williamson 2004, 141. In der unmittelbaren Folge macht Williamson deutlich, dass er ebenfalls gerade Davidsons Version des Billigkeitsprinzips der durch sein Beispiel verdeutlichten Kritik ausgesetzt sieht: „Although Davidson’s principle of charity does not imply that ‚Toda‘ cannot mean ‚It landed tails‘ […], it does imply that this case provides a defeasible consideration in favour of interpreting ‚Toda‘ as ‚It landed heads‘ rather than ‚It landed tails‘.“  Davidson 1984e, 199.  Davidson 1984e, 199.  Diese Auffassung vertritt auch Künne 1990, 222.  Quine 1999, 76.  Diese Kontextualisierung ist nach Ramberg 1989, 77 nicht anwendbar auf Davidsons principle of charity: „Understanding this relation [dass es sich bei Davidsons principle of charity nicht um eine heuristische Maxime handelt] is seeing that any attempt to spell out the principle of charity is [sic; lege „in“] sociological, psychological or anthropological terms is changing the subject.“ Die Hintergründe von Rambergs Einschätzung sind erläutert unter 2.1.3.3.

3.1 Wahrheit

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nehmen. Die Frage nach Wahrheitsunterstellungen im Kontext philologischer Interpretation wäre dementsprechend analog zu präzisieren als Frage nach Unterstellungen epistemisch kontextualisierter Wahrheit im Kontext philologischer Interpretation. Anhand einer kurzen Passage aus Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde lässt sich ein Beispiel konstruieren, das die von Grandy oder Føllesdal entworfenen Szenarien auf die philologische Interpretation überträgt.²⁶⁹ Verne schildert in seinem Roman eine Höhle mit bizarren Kristallformationen, die seine Protagonisten auf ihrem Abstieg in Richtung Erdmittelpunkt zu durchschreiten haben. Die „kristalline Struktur“²⁷⁰ der Höhlenwände beeindruckt die Abenteurer nachhaltig – einige der dort vorkommenden Kristalle sind sogar so riesig, dass sich der Erzähler so fühlt, als würde er „durch einen hohlen Diamanten reisen“.²⁷¹ In der Originalausgabe findet sich unter anderem auch eine Zeichnung Édouard Rious, die diese Kristallhöhle den Schilderungen Vernes entsprechend illustriert.²⁷² Grundsätzlich lässt sich über Vernes Roman nun durchaus mit Recht sagen, dass er an vielen Stellen damals aktuelles geologisches, mineralogisches oder archäologisches Wissen seiner Zeit aufgreift und innerhalb des offenkundig fiktionalen Rahmens detailgenau verarbeitet – Volker Dehs bezeichnet den Text dementsprechend sogar als „wissenschaftliche[n] Roman“.²⁷³ Im Norden Mexikos, in der Nähe der Minenstadt Naica, gibt es ca. 300 Meter unter der Erdoberfläche tatsächlich eine Höhle – die „Cueva de los Cristales“ –, die Kristalle von einer vorher nie beobachteten Größe von bis zu 14 Metern beherbergt und die damit der Beschreibung der Höhle aus Jules Vernes Roman – und selbst der Illustration Rious – durchaus nahe kommt. Auf diese Ähnlichkeit haben sinnigerweise sogar einige geologische Fachmagazine hingewiesen.²⁷⁴ Aufgrund dieser Übereinstimmung könnte man versucht sein, Vernes Schilderung in Die Reise zum Mittelpunkt der Erde an dieser Stelle Wahrheit zu unterstellen, so wie man unter Umständen der zutreffenden Schilderung der Entstehung von Kohle aus fossiler Vegetation Wahrheit unterstellen würde. Da die mexikanische Höhle allerdings erst 136 Jahre nach der Veröffentlichung des Romans entdeckt wurde, ist diese Unterstellung  Das folgende Beispiel will sowohl über die generelle Sinnhaftigkeit von Wahrheitsunterstellungen in der Literaturinterpretation als auch zum Verhältnis von Wahrheit und Fiktionalität noch keine Aussagen machen. Sinn des Beispiels soll lediglich sein zu zeigen, dass, sofern man aus irgendwelchen Gründen einem fiktionalen literarischen Text Wahrheit unterstellen möchte, dies immer epistemisch kontextualisierte Wahrheit sein sollte.  Verne 2011, 155.  Verne 2011, 155.  Diese Illustration Rious findet sich auch in Verne 2011, 156.  Dehs 2011, 337.  Vgl. etwa Zick 2008, 1: „So etwas hat die Menschheit noch nie gesehen, nicht einmal erträumt – außer in den Geschichten von Jules Verne vielleicht.“

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widersinnig. Verne konnte von der faktischen Existenz einer seiner Beschreibung nahe kommenden Höhle unmöglich wissen, die Wahrheit seiner Schilderung wäre innerhalb seines epistemischen Kontexts nicht erklärbar. Dass Vernes Schilderung als wahr aufzufassen sein mag, sofern man sie auf die „Cueva de los Cristales“ bezieht, spricht angesichts der fehlenden epistemischen Kontextualisierung keineswegs dafür, sie tatsächlich als wahr aufzufassen.

3.1.2 Wahrheitsunterstellungen in der philologischen Hermeneutik Auch außerhalb dieses speziellen Kontexts sind Wahrheitsunterstellungen in der Literaturinterpretation mit dem allgemeinen Problem konfrontiert, dass in fiktionaler Literatur ausgedrückte Propositionen üblicherweise ohnehin nicht mit Wahrheitsanspruch geäußert werden. Selbst die Unterstellung epistemisch kontextualisierter Wahrheit muss in diesem Zusammenhang zunächst deplatziert wirken, da Autoren literarischer Texte grundsätzlich nicht auf die Wahrheit der in dem Text getroffenen Aussagen festgelegt sind, sogar nicht einmal dann, wenn die Wahrheit dieser Aussagen in gegebenem epistemischen Kontext plausibel erklärbar wäre. Die Frage, ob es eine vielversprechende hermeneutische Strategie sein könnte, einem literarischen Text im Interpretationsprozess billigerweise Wahrheit zu unterstellen, wäre dementsprechend zu verneinen.²⁷⁵ Versuchen wir dieses Problem anhand eines Beispiels näher zu konturieren. Günter Grass’ Roman Der Butt beginnt bekanntermaßen mit dem – (wieso auch immer) preisgekrönten – Satz: „Ilsebill salzte nach.“²⁷⁶ Konfrontierte man Grass mit der Nachfrage, ob die Aussage, dass Ilsebill nachsalzte, tatsächlich wahr sei, oder versuchte man, die Wahrheit der Aussage durch Argumentation irgendwelcher Art zu bestreiten, würde einem Grass wohl erklären, dass die Frage nicht sinnvoll gestellt sei, oder dass man sich absurd verhalte.²⁷⁷ Die in dem Satz „Ilsebill salzte nach“ ausgedrückte Proposition ist wahr in der Welt des Romans Der Butt, in  Vgl. exemplarisch Searle 2007, 23, der ebenfalls festhält, dass einem Autor, der in einem fiktionalen Text schreibt, dass es draußen regnet, nicht Wahrheit unterstellt werden kann, da er nicht „auf die Überzeugung festgelegt ist, daß es tatsächlich draußen regnet“.  Grass 1977, 9. Der Satz wurde 2007 zum „schönste[n] Satz, mit dem je ein deutscher Roman begann“ gekürt. Vgl. http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,515792,00.html (11.12. 2013)  Womöglich würde Grass in etwa so reagieren, wie es Green 2010, 350 für den Fall George Eliots vermutet: „[I]f someone were to challenge George Eliot’s claim that Rosie Vincy craned her neck on a certain occasion, Ms Eliot would, I take it, be nonplussed. Her reply might go like this: ‚I know what Rosie did because I simply decide what she did. She’s my creation after all. Perhaps I shouldn’t have had her do all the things she did in Middlemarch, but that’s another question.‘“

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Bezug auf die reale Welt stellt sich diese Frage nach der Wahrheit erst gar nicht. Sätze wie „Ilsebill salzte nach“ in fiktionalen Werken wie dem Butt machen keine Aussagen über die reale Welt. Da die Wahrheit einer Proposition aber davon abhängt, was in der realen Welt der Fall ist, kommen in Sätzen aus literarischen Werken enthaltene Propositionen gar nicht erst als Wahrheitsträger in Frage.²⁷⁸ Diese Einschätzung ist im Kern schon in der Dichterkritik in Platons Politeia enthalten. Der wesentliche Vorwurf, den Sokrates der Dichtung dort macht, ist bekanntlich, dass sie „[g]ar weit also von der Wahrheit“²⁷⁹ entfernt ist. Dichtung ahme lediglich die sinnlich wahrnehmbare Welt nach, die ihrerseits wiederum lediglich ein Abbild der Ideenwelt sei. Damit ist für Sokrates der Abstand zwischen der wirklichen Welt und der Dichtung so groß, dass der Dichtung als bloßes Abbild eines Abbilds keine Autorität in Bezug auf Aussagen über die Wirklichkeit mehr zukommen kann. Jedwede Dichtung wird immer „um das Dreifache von der Wahrheit abstehen“²⁸⁰ müssen und der Dichter immer „Erscheinungen dichten, nicht Wirkliches“.²⁸¹ Sokrates‘ bekanntes Fazit, das gewissermaßen die Urszene der Problematisierung eines dichterischen Wahrheitsanspruchs markiert, lautet dementsprechend: „Wollen wir also feststellen, daß von Homeros an alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildern der Tugend seien und der anderen Dinge, worüber sie dichten, die Wahrheit aber gar nicht berühren.“²⁸² Noch deutlicher wird diese durch den fehlenden Bezug zur Realität begründete Ablehnung eines Wahrheitswerts für in Sätzen literarischer Texte ausgedrückte Propositionen bei Gottlob Frege. In Über Sinn und Bedeutung erläutert Frege zunächst seine vom alltäglichen Sprachgebrauch abweichende Verwendung der Begriffe „Bedeutung“ und „Sinn“. Unter Bedeutung versteht Frege das „Be-

 Vgl. exemplarisch Green 2010, 350: „In literary fiction, the bulk of propositions expressed are not put forth as true, or at least as true beyond the world of the work of fiction.“, ebenso Charpa 1981, 332: „Schließlich mutet es abwegig an zu behaupten, eine künstlerische Äußerung sei wahr oder falsch, und dies mit dem Hinweis auf Realität zu erläutern.“  Platon 2011, 509 [598b].  Platon 2011, 510 [599a].  Platon 2011, 510 [599a]. Das hier angesprochene „dreifache Abstehen“ der Literatur von der Wahrheit unterstreicht Sokrates durch die Unterscheidung in „Wesensbildner, Werkbildner und Nachbildner“ (vgl. Platon 2011, 508 – 510). Gott als Wesensbildner wird als Schöpfer des „Wesens“ der Dinge charakterisiert, als derjenige also, der z. B. „das wahrhaft seiende Bettgestell“ gemacht habe. Ein von einem kundigen Tischler diesem idealen Bettgestell nachempfundenes Bettgestell ist als Abbild des wesenhaften Bettgestells zu verstehen, der Tischler wird deshalb als Werkbildner bezeichnet. Der Maler (und mutatis mutandis der Dichter) konzentriert sich in seiner Arbeit auf die Nachahmung des vom Tischler gefertigten Bettgestells und ist somit lediglich Nachbildner, ein bloßer Nachahmer der Nachahmung.  Platon 2011, 512 [600e] [meine Hervorhebung].

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zeichnete[]“,²⁸³ also das, worauf sich sprachliche Äußerungen wie singuläre Termini oder Sätze beziehen. Den Sinn hingegen beschreibt Frege als „Art des Gegebenseins“,²⁸⁴ also in etwas als das, was man alltagssprachlich gerade als Bedeutung bezeichnen würde. Die beiden Bezeichnungen „Morgenstern“ und „Abendstern“ hätten mit Frege gesprochen also dieselbe Bedeutung – mit beiden ist der Planet Venus bezeichnet – aber unterschiedlichen Sinn. Sätze in fiktionalen literarischen Texten bilden einen Sonderfall, da z. B. fiktionale Namen wie Ilsebill oder Odysseus nichts bezeichnen, das in der Realität existiert, d. h. keinen Referenten in der wirklichen Welt haben. Dementsprechend haben solche Sätze für Frege zwar einen Sinn, aber keine Bedeutung.²⁸⁵ Hierin liegt der für uns interessante Punkt der „Wahrheitswertlosigkeit“ literarischer Texte begründet. Frege ist nämlich der Ansicht, dass nur bedeutungstragende Sätze wahrheitswertfähig sind. Der Satz „Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands“ ist wahr genau dann, wenn das von „Berlin“ Bezeichnete – die Stadt Berlin – die Hauptstadt des von „Deutschland“ Bezeichneten – des Landes Deutschland – ist. Für die Sätze „Odysseus wurde schlafend in Ithaca ans Land gesetzt“ und „Ilsebill salzte nach“ lässt sich der Wahrheitswert nicht analog bestimmen, da es keinen Odysseus und keine Ilsebill gibt, die entweder ans Land gesetzt wurden oder nachgesalzt haben könnten. Frege kommt zu dem Schluss, dass es lediglich zwei Bedeutungen von ganzen Sätzen gibt – „das Wahre“ und „das Falsche“: So werden wir dahin gedrängt, den Wahrheitswert eines Satzes als seine Bedeutung anzuerkennen. Ich verstehe unter dem Wahrheitswerte eines Satzes den Umstand, daß er wahr oder daß er falsch ist. Weitere Wahrheitswerte gibt es nicht. Ich nenne der Kürze halber den einen das Wahre, den anderen das Falsche. Jeder Behauptungssatz, in dem es auf die Bedeutung der Wörter ankommt, ist also als Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung, falls sie vorhanden ist, entweder das Wahre oder das Falsche.²⁸⁶

Da Sätze fiktionaler literarischer Texte keinen real existierenden Referenten haben, haben sie lediglich einen Sinn, aber keine Bedeutung; indem sie keine Bedeutung haben, sind sie weder wahr noch falsch. Damit wird der Begriff Wahrheit im Kontext Literatur für Frege vollständig deplatziert: „Beim Anhören eines Epos z. B. fesseln uns neben dem Wohlklange der Sprache allein der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vorstellungen und Gefühle. Mit der Frage nach der Wahrheit

 Frege 2008b, 24.  Frege 2008b, 24.  Vgl. Frege 2008b, 29: „Der Satz ‚Odysseus wurde tief schlafend in Ithaka ans Land gesetzt‘ hat offenbar einen Sinn. Da es aber zweifelhaft ist, ob der darin vorkommende Name ‚Odysseus‘ eine Bedeutung habe, so ist es damit auch zweifelhaft, ob der ganze Satz eine habe.“  Frege 2008b, 30.

3.1 Wahrheit

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würden wir den Kunstgenuß verlassen und uns einer wissenschaftlichen Betrachtung zuwenden. Daher ist es uns auch gleichgültig, ob der Name ‚Odysseus‘ z. B. eine Bedeutung habe, solange wir das Gedicht als Kunstwerk aufnehmen.“²⁸⁷ Der kurze Blick auf Platon und Frege macht eines deutlich: Die „Wahrheitsunfähigkeit“ literarischer Texte liegt nicht an spezifisch literarischen Darstellungsmitteln (wie z. B. tropischer oder poetischer Sprache, Metrum, Reim etc.), sondern an dem problematischen Bezug zur Wirklichkeit. In anderen Worten: Die mögliche „Wahrheitsunfähigkeit“ ist nicht in der Literarizität der Literatur begründet, sondern in ihrer Fiktionalität. Damit ist klar, dass die These über die Wahrheitsunfähigkeit von Literatur auf fiktionale Literatur eingeschränkt werden muss. Texte wie beispielsweise Anne Franks Das Tagebuch der Anne Frank, Truman Capotes In Cold Blood, Norman Mailers Armies of the Night oder Ernest Hemingways Death in the Afternoon können durchaus als Literatur bezeichnet werden, obwohl sie keineswegs fiktional sind.²⁸⁸ Dies hat auch Auswirkungen für die Frage nach der Plausibilität einer Wahrheitsunterstellung im Rahmen der Literaturinterpretation. In Fällen nicht-fiktionaler Literatur scheinen mir die in 3.1.1 angestellten Überlegungen durchaus Relevanz zu besitzen – die Unterstellung epistemisch kontextualisierter Wahrheit ist eine so berechtigte wie sinnvolle hermeneutische Strategie. Dass Hemingways Schilderungen bestimmter Manöver im Rahmen des Stierkampfs, die wesentliche Teile von Death in the Afternoon ausmachen, literarische Qualität haben, spricht keineswegs dafür, anzunehmen, dass sie nichts Wahres über den Stierkampf im Spanien des frühen 20. Jahrhunderts aussagen, gerade da durch Hemingways real vorhandenes Expertenwissen über den Stierkampf die Wahrheit der Beschreibung plausibel erklärbar ist. Schwieriger sind offensichtlich die paradigmatischen Fälle fiktionaler Literatur. Auch hier bedarf die These über die grundsätzliche Wahrheitsunfähigkeit jedoch weiterer Präzisierungen. Ein Blick in die Historie zeigt, dass auch fiktionale Literatur durchaus nicht selten als ein potentiell Wahrheiten enthaltendes Medium verstanden wurde.²⁸⁹ Als Gegenstück zu Platons Dichterkritik kann auf  Frege 2008b, 30.  Die Beispiele In Cold Blood und The Armies of the Night stammen aus Searle 2007, 21 f.  Anzumerken ist außerdem, dass das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit nicht immer als grundsätzlich prekär gedacht wurde. Hesiod etwa sieht sich als Dichter als von den Musen privilegierten Berichterstatter über die Tatsachen in der Welt – dass er dies als Poet, im Rahmen eines Epos tut und nicht als Historiker im Rahmen etwa einer Chronologie, hat dabei keinerlei Auswirkung auf die Wahrheitsfrage. Zu Beginn der Theogonie erklärt Hesiod, dass die Musen in der Lage seien, dem Dichter sowohl Wahres, als auch Falsches in den Mund zu legen. Sie erklären: „täuschend echte Lügen (φεύδεα) wissen wir viele zu sagen, Wahres (άληθέα) jedoch, wenn wir wollen, wissen wir gleichfalls zu künden.“ (Hesiod 2002, 9) Hesiod selbst sieht sich im Bewusstsein dieser Ambivalenz als von den Musen privilegierter Dichter an, der in seinen

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Aristoteles‘ Wertschätzung der Dichtung in der Poetik verwiesen werden, die sich gerade dadurch erklärt, dass der Dichtung in Bezug auf die Wahrheitsfrage das Primat gegenüber anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft einzuräumen sei. Auch in der Literatur des Mittelalters waren Literaten dem Lügen- bzw. Wahrheitswertsneutralitätsvorwurf nicht schon eo ipso ausgesetzt. Danneberg und Spoerhase weisen darauf hin, dass beispielsweise durch die Berufung auf vorgängige Quellen dieser Vorwurf umgangen werden konnte, wohlgemerkt trotz der existierenden Unterscheidung von historia und fabula, also von faktualen und fiktionalen Texten: Ob ‚historische‘ oder ‚literarische‘ Werke: In beiden Fällen konnte selbst bei dem, was nicht nur aus der Sicht einer späteren epistemischen Situation als ‚fabulös‘ erscheint, behauptet werden, die Wahrheit zu erzählen, da die Angaben aus schriftlichen Quellen – sie gelten in der Regel als sicherer als die mündliche Überlieferung – entlehnt und kompiliert seien; es konnte sich sowohl in ‚historischen‘ als auch in ‚literarischen‘ Werken dann sogar die Betonung des Wahrheitsgebots finden sowie die Forderung nach einem kritischen Umgang mit eventuell fehlerbehafteter Überlieferung.²⁹⁰

Dem differenzierten Fazit von Danneberg und Spoerhase ist dementsprechend zuzustimmen: In den verschiedenen epistemischen Situationen haben sich verschiedene Verfahren ausgebildet, wie sich in einem literarischen Text, der offenkundig falsche Aussagen macht und der deshalb als fiktional gelten kann, Wissen im Sinn von wahren propositionalen Aussagen erzeugen lässt. […] Es sind Techniken der Allegorese, der interpretatio philosophica oder der interpretatio christiana: Verhüllt im Falschen zeigt sich so das Wahre – oder im Falschen wird (in verhüllender Rede) das Wahre gesagt (integumentum, involucrum).²⁹¹

Die historisierende Relativierung lässt sich erneut systematisch fruchtbar machen. Es wird deutlich, dass allgemeine auf Literatur bezogene Aussagen wie „propositions expressed [in literature] are not put forth as true“²⁹² nicht unmittelbar und Werken eben nicht lediglich φεύδεα, sondern άληθέα vermitteln will. Wie auch Damerau 2003, S. 24 erläutert, ist Hesiod davon überzeugt, dass die in seiner Dichtung getroffenen Aussagen die Welt so beschreiben, wie sie ist, und dass sie von seinen Lesern auch so verstanden werden: „Hesiod gibt das Beschriebene nicht als erfunden aus […] vielmehr begründet Hesiod mit seiner Selbstlegitimation den Anspruch, daß seine Beschreibung der griechischen Götter wahr sei. Demnach erfindet er nicht, lügt er nicht, und er irrt sich auch nicht. Die Darstellung der Götter sei zutreffend.“  Danneberg, Spoerhase 2011, 45.  Danneberg, Spoerhase 2011, 52.  Green 2010, 350.

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uneingeschränkt zustimmungspflichtig sind. Der Grund ist, dass sie historisch nicht relativiert sind und außerdem nicht präzise genug angeben, von welchen Propositionen im Einzelnen die Rede sein soll. Solche in literarischen Texten ausgedrückte Propositionen können in zwei Gruppen aufgeteilt werden, deren Wahrheitsfähigkeit – dies implizieren die eben skizzierten historischen Positionen – gesondert zu beurteilen ist.²⁹³

3.1.2.1 Spezifische Propositionen Als „spezifisch“ werde ich diejenigen Propositionen bezeichnen, die in Sätzen wie „Ilsebill salzte nach“, „Odysseus wurde schlafend in Ithaca ans Land gesetzt“ oder „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“²⁹⁴ enthalten sind und die damit konkrete und spezifische Sachverhalte bezeichnen. Die traditionelle Kritik an der Wahrheitsfähigkeit fiktionaler Literatur beschränkt sich oft auf Fälle wie diese. Zusätzlich zu den schon angesprochenen Ausführungen bei Platon und Frege lassen sich exemplarisch Searles diesbezügliche Überlegungen in Der logische Status fiktionaler Rede heranziehen, die sich ebenfalls auf spezifische Propositionen beziehen. Searles Beispiel für fiktionale Rede stammt aus dem Roman The Red and the Green und lässt sich in eine Reihe mit den obigen Beispielen stellen: „Zehn weitere herrliche Tage ohne Pferde! So dachte Leutnant Andrew Chase-White, dem man erst kürzlich ein Offizierspatent in dem berühmten King-Edward’s-Horse-Regiment verliehen hatte, als er an einem sonnigen Sonntagnachmittag im April 1916 zufrieden in einem Garten am Rande Dublins herumbosselte.“²⁹⁵ Anhand dieses Beispiels entwickelt Searle seine bekannte sprechakttheoretische so-tun-als-ob-Klassifizierung fiktionaler Rede.²⁹⁶ Ein im Modus der fiktionalen Rede geäußerter Satz kann dieser Erklärung zufolge als Token verstanden werden, mit dem gerade nicht der illokutionäre Akt verbunden ist, der üblicherweise mit einem Token desselben Typs verknüpft wird. Mit Searles Beispielsatz aus The Red and the Green würde man üblicherweise etwas be-

 Für vergleichbare Unterscheidungen vgl. Weitz 1950, Weitz 1955, Beardsley 1981, Olsen 1978, Sirridge 1974 und implizit Searle 2007. Weiter ausgearbeitet und zugespitzt in Hospers 1960, Lamarque, Olsen 1994, Lamarque 2010 und Mikkonen 2010.  Kleist 2001, 9.  Murdoch 1965, 3.  Die These, dass Autoren fiktionaler Literatur in irgendeiner Weise vorgeben, etwas zu tun, wird ebenso vertreten in in Ohmann 1971, Herrnstein Smith 1971, Beardsley 1978, Lewis 1978 und Gabriel 2010. Gegen diese Einschätzung argumentiert Currie 2007.

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haupten, d. h. eine mit Wahrheitsanspruch verbundene Aussage treffen, mit dem identischen Satz in fiktionaler Rede tut man dies nicht – wohlgemerkt trotz der Identität der Sätze als Token. Überhaupt sind nach Searles Ansicht in fiktionaler Rede die in nicht-fiktionaler Rede gültigen Konventionen suspendiert. Da in fiktionaler Rede lediglich scheinbar etwas behauptet wird, heißt dies nicht nur, dass die mittels der scheinbaren Behauptung ausgedrückte Proposition nicht wahr sein muss, außerdem muss derjenige, der die scheinbare Behauptung äußert, auch nicht daran glauben, dass sie wahr ist und ebenso auch keine Rechtfertigung für den Glauben an ihre Wahrheit haben.²⁹⁷ Den Grund für diese mehrfache Entlastung in Hinblick auf die Wahrheit des Ausgesagten liegt darin, dass Autoren fiktionaler literarischer Texte nach Searle nur vorgeben, „eine Serie illokutionärer Akte zu vollziehen“²⁹⁸ und damit nicht an den Maßstäben üblicher konversationeller Kontexte – etwa des Behauptens – zu messen sind. Da in Beispielsätzen wie den oben genannten also nichts behauptet wird, sind die in den im Modus fiktionaler Rede geäußerten Beispielsätzen enthaltenen spezifischen Propositionen in Bezug auf ihre Wahrheit auch nicht festgelegt. Im Rahmen der Interpretation fiktionaler Rede auf Wahrheitsunterstellungen zurückzugreifen hieße das Wesen fiktionaler Rede zu missverstehen. Allerdings müssen Wahrheitsunterstellungen selbst für den überzeugten Searle-Anhänger nicht vollständig ihre Relevanz im Kontext philologischer Interpretation verlieren. Searle geht nämlich – und mit ihm alle Vertreter einer kompositionalistischen Fiktionalitätstheorie – davon aus, dass fiktionale literarische Texte nicht vollständig aus Sätzen bestehen, die in fiktionaler Rede geäußert sind.²⁹⁹ Fiktionale Texte seien eher als Mischung zwischen fiktionalen und faktualen Äußerungen zu verstehen. Maria Reicher nennt diesen kompositionalistischen Standpunkt die „Impurity Thesis“: „Typical works of so-called ‚realist fiction‘ are in fact not really fictional works, at least not fictional works tout court. Rather, they are heterogeneous formations, composed of fictional and non-fic-

 Searle 2007, 25: „Ihre Äußerung [die der Autorin des Beispielsatzes aus The Red and the Green] legt sie nicht auf die Wahrheit der Proposition fest, daß ein kürzlich (bei einer KingEdward’s-Horse genannten Einheit) bestallter Leutnant namens Andrew Chase-White an einem sonnigen Sonntagnachmittag im April 1916 in seinem Garten herumbosselte und dachte, er werde noch zehn herrlich Tage ohne Pferde verbringen. […] Da sie [die Autorin] nicht darauf festgelegt ist, daß es wahr ist, was sie sagt, stellt sich auch die Frage nicht, ob wir davon schon unterrichtet sind oder nicht, und Murdoch wird nicht für unaufrichtig gehalten, wenn sie keinen Augenblick lang wirklich glaubt, daß tatsächlich jemand an jenem Tag in Dublin an Pferde gedacht hat.“  Searle 2007, 27.  Searle 2007, 35: „Ein fiktionales Werk braucht nicht vollständig aus fiktionaler Rede zu bestehen und wird dies in der Regel auch nicht.“

3.1 Wahrheit

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tional utterances alike, akin to patchwork blankets or to pieces of rock with inclusions of metal particles.“³⁰⁰ Der Interpret wäre dementsprechend gerechtfertigt, zumindest im Fall der faktualen Bestandteile eines nichtsdestotrotz insgesamt fiktionalen Textes, epistemisch kontextualisierte Wahrheit zu unterstellen. Eine noch größere Herausforderung für die Relevanz von Wahrheitsunterstellungen ist die Annahme, dass „fiktional“ als – in Goodmans Terminologie – dissektives Prädikat zu verstehen ist.³⁰¹ Diese Einschätzung wird von Danneberg und Spoerhase vertreten: „Wir würden für den theoretischen Zugang eher plausibilisieren wollen, dass es sich empfiehlt, dass ‚fiktional‘ allein eine solche Makroeigenschaft von Darstellungsgesamtheiten bezeichnen sollte, die auch jedem ihrer Bestandteile zukommt. Also: Wenn eine Darstellung als fiktional klassifiziert wird, dann gilt das auch für jeden ihrer (sinnvollen) Bestandteile. […] Es gibt keine Formen von ‚Semifiktionalität‘ und auch keine ‚Semifaktualität‘“.³⁰² Die Entscheidung über die Fiktionalität eines Textes wäre demnach eine allesoder-nichts-Entscheidung – liest man einen Text als fiktionalen Text, sind sämtliche seiner Einzelaussagen fiktional und dementsprechend – nach Searle – nicht mit Wahrheitsanspruch verbunden. Die Unterstellung von Wahrheit im Rahmen philologischer Interpretation wäre deshalb auf der Ebene spezifischer Propositionen insgesamt wenig sinnvoll, da es offensichtlich unplausibel ist, einem Text Wahrheit zu unterstellen, dessen Aussagen in keinem einzigen Fall einen Wahrheitsanspruch beinhalten. Selbst in diesem Fall besteht jedoch nach wie vor die Möglichkeit, Wahrheitsunterstellungen auf der Ebene des Textganzen wieder ins Boot zu holen. In Reichers Worten: „Even if a work consists exclusively of utterances that do not comply with the standard rules of assertion, the work as a whole may be factstating and thus be a reliable testimony.“³⁰³ Diese Einschätzung führt direkt zu der zweiten Kategorie von in fiktionalen literarischen Texten enthaltenen Propositionen.

3.1.2.2 Generische Propositionen Selbst wenn man also zugesteht, dass die allermeisten (oder möglicherweise sogar alle) der in einem fiktionalen literarischen Text enthaltenen spezifischen Propositionen durch fiktionale Sätze ausgedrückt werden und damit nicht als wahr   

Reicher 2012, 118. Vgl. Goodman 1964, 38. Danneberg, Spoerhase 2011, 50. Reicher 2012, 122.

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heitsfähige Aussagen über die reale Welt aufzufassen sind, besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die in einem literarischen Text enthaltenen oder durch einen literarischen Text implizierten generischen Propositionen in den Kategorien von wahr oder falsch zu beurteilen sein könnten.³⁰⁴ Schon Goethe scheint etwas Vergleichbares im Sinn gehabt zu haben, wenn er Eckermann in Hinblick auf Dichtung und Wahrheit erklärt: „Es sind lauter Resultate meines Lebens […] und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen.“³⁰⁵ Die einzelnen „Fakta“ aus Goethes Leben mögen innerhalb des Textes also geschönt, übertrieben oder konstruiert sein, entscheidend ist, dass sie auf einer höheren Ebene die Wahrheit ausdrücken. Ganz in diesem Sinne wird in der Debatte ab und an versucht, die These plausibel zu machen, dass Texte ungeachtet des fiktionalen Status spezifischer Propositionen auf einer allgemeinen Ebene generische Aussagen über bestimmte moralische Probleme oder auch das menschliche Leben überhaupt treffen, die dann als wahr oder falsch beurteilt werden können. Lamarque und Olsen bezeichnen diesen Standpunkt als „Propositional Theory of Literary Truth“: „But they [die Verfechter der Propositional Theory of Literary Truth] claim that at a different level literary works do, perhaps must, imply or suggest general propositions about human life which have to be assessed as true or false, and that these propositions are what makes literature valuable.“³⁰⁶ Solche in literarischen Texten enthaltenen generischen Propositionen können nicht nur, wie sich Lamarque und Olsen ausdrücken, „impliziert“ oder „angedeutet“ („imply or suggest“) werden, sondern durchaus auch explizit formuliert sein. Aus diesem Grund ist eine erneute Differenzierung in explizite generische Propositionen und implizite generische Propositionen sinnvoll. Explizite generische Propositionen in literarischen Texten sind eher selten, dabei aber keineswegs abwegige Sonderfälle, oder, wie Searle fälschlicherweise annimmt, gar nur „in

 Nicht von ungefähr schließt auch Searle seine Überlegungen mit einem in diese Richtung zu verstehenden Hinweis ab. Die große Rolle fiktionaler Literatur im „sozialen Zusammenleben der Menschen“ erklärt sich seiner Ansicht nach nämlich vor allem dadurch, „daß ernsthafte (das heißt nichtfiktionale) Sprechakte durch fiktionale Texte vermittelt werden können, auch wenn der vermittelte Sprechakt im Text nicht selbst repräsentiert ist.“ (Searle 2007, 36).  Deibel 1908, 314.  Lamarque, Olsen 1994, 321. Der Ausdruck „Propositional Theory of Literary Truth“ ist missverständlich, weshalb ich ihn nicht weiter verwende. Lamarque, Olsen 1994, 321 ff. beschreiben eine Theorie, die besagt, dass in Literatur auf generischer Ebene propositionale Wahrheiten enthalten sein können, nicht eine propositionale Theorie – wobei mir nicht einmal klar ist, was das genau sein soll – literarischer Wahrheit, also einer Wahrheit, die auf welche Weise auch immer alternativ definiert ist. Deshalb sollte eher von einer „Theory of Propositional Truth in Literature“ gesprochen werden als von einer „Propositional Theory of Literary Truth“.

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Kindergeschichten“³⁰⁷ anzutreffen. Ein anschauliches Beispiel ist Brechts Stück Mann ist Mann. Etwa in der Mitte des Stücks tritt eine Person, die Witwe Leokadja Begbick, in einem als „Zwischenstück“ bezeichneten Teil auf die Bühne und äußert sich wie folgt: Herr Bertolt Brecht behauptet: Mann ist Mann. Und das ist etwas, was jeder behaupten kann. Aber Herr Bertolt Brecht beweist auch dann Daß man mit einem Menschen beliebig viel machen kann. Hier wird heute abend ein Mensch wie ein Auto ummontiert […] Man kann, wenn wir nicht über ihn wachen Ihn uns über Nacht auch zum Schlächter machen.³⁰⁸

In diesem kurzen Zwischenstück wird eine generische Proposition explizit formuliert. Es geht in dem Stück um die These, dass sich ein Mensch durch äußere Einflussfaktoren, v. a. durch Propaganda und Gehirnwäsche, „wie ein Auto“ in eine beliebige andere Person – selbst in einen militaristischen „Schlächter“ – umwandeln lässt. Dass diese allgemeine Aussage über die Fragilität personaler Identität und Beeinflussbarkeit des Menschen dann auch noch „Bertolt Brecht“ persönlich in den Mund gelegt wird und das Theaterstück zum „Beweis“ der These herangezogen werden soll, verstärkt den Eindruck, dass hier etwas Wahrheitsfähiges über das reale Leben der Menschheit ausgesagt werden soll nur noch, ist dabei aber nicht von zentraler Bedeutung. Auch ohne diese Koppelung an den realen Autor geben fiktive Personen oft explizite Hinweise auf generische Propositionen, die durch den entsprechenden literarischen Text vermittelt werden. Beispiele gibt es viele,³⁰⁹ als ein weiteres lässt sich – willkürlich gewählt – E. A. Poes Erzählung The Fall of the House Usher anführen. Kurz nachdem der Ich-Erzähler auf dem Anwesen der Familie Usher angelangt ist, fühlt er sich sogleich von „unerträglicher Melancholie“³¹⁰ überfallen. Seine daraus resultierende schwermütige Stimmung bedingt einige Grübeleien, die ihn zu einem für die Erzählung selbst paradigmatischen Schluss führen. Er räsoniert, dass „es zwar ohne Zweifel Dinge gibt, die die Macht haben, uns derart anzugreifen, daß aber die Ergründung

 Searle 2007, 36.  Brecht 1953, 44.  Lamarque, Olsen 1994 nennen weitere Beispiele aus George Eliots Middlemarch, (vgl. 324 f.) Euripides’ Hecuba, (327 f.) Lamarque 2010 verweist auf Wordsworths Valedictory Sonnet to the River Duddon (vgl. 372), sowie Shakespeares Measure for Measure (vgl. 374) und Macbeth (vgl. 374).  Poe 2008b, 297.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

dieser Macht unserem Denken entzogen ist.“³¹¹ Wie Poes Erzählung dann exemplarisch vorführt, sind solche düsteren, rational nicht einholbaren „Dinge“, die sich als Neurosen, Depressionen, mystische Erfahrungen oder schlicht als Wahnsinn niederschlagen, existentiell problematisch für den Menschen. Die zitierte Stelle kann damit als explizite generische Proposition verstanden werden, die nicht nur etwas über einen spezifischen Sachverhalt innerhalb der fiktionalen Welt aussagt, sondern allgemein über die conditio humana auch außerhalb der fiktionalen Welt. Generische Propositionen müssen jedoch nicht immer explizit formuliert sein. In den meisten Fällen sind sie dies nicht, sie werden vielmehr „impliziert“ oder „angedeutet“ und müssen damit interpretativ aus dem Text gewonnen werden. In anderen Worten: Generische Propositionen werden meist im Rahmen eines Interpretationsprozesses von Interpreten aus dem Text abgeleitet.³¹² In solchen Fällen spreche ich von impliziten generischen Propositionen. Beispiele hierfür sind erneut leicht zu finden. Émile Zola konstatiert etwa, dass Balzacs La Cousine Bette exemplarisch die moralisch verheerenden Folgen zeige, „die der Hang zu amourösen Abenteuern bei einem Mann, bei seiner Familie und in der Gesellschaft nach sich zieht.“³¹³ Lamarque und Olsen verweisen auf George Eliots Middlemarch und erklären: „Thus the Lydgate story in Middlemarch can be understood as having the theme that ‚the best human hopes and aspirations are always thwarted by forces beyond human control‘.“³¹⁴ Selbst in dekonstruktivistischen Interpretationen, die charakteristischerweise versuchen, sich gegen jedwede Möglichkeit eines „geraden Sinns“³¹⁵ zu wenden, finden sich interpretative Aussagen, die den interpretierten Texten eindeutig solche impliziten

 Poe 2008b, 298.  Die Formulierung „aus dem Text abgeleitet“ soll dabei anzeigen, dass implizite generische Propositionen nicht willkürlich konstruiert sind, sondern im Rahmen einer Interpretation auch begründet werden müssen. Die Begrifflichkeit in Lamarque, Olsen 1994 und Lamarque 2010 ist an diesen Stellen etwas uneinheitlich. Die Rede ist neben „imply“ und „suggest“ außerdem davon, dass implizite generische Propositionen „extracted from the work“ (Lamarque, Olsen 1994, 324) oder von den Interpreten ‚constructed‘ oder ‚derived“ (Lamarque 2010, 374) würden. Searle 2007, 36 spricht davon, dass „ernsthafte (das heißt nichtfiktionale) Sprechakte durch fiktionale Texte vermittelt werden können, auch wenn der vermittelte Sprechakt im Text nicht selbst repräsentiert ist.“ [meine Hervorhebung] Die nach meiner Kenntnis konzisesten und Überlegungen zu diesem Problem der „Implikation“ generischer Propositionen finden sich in Mikkonen 2010.  Zitiert nach Damerau 2003, 291: „que le tempérament amoureux d’un homme amène chez lui, dans sa famille et dans la société.“ [meine Übersetzung]  Lamarque, Olsen 1994, 324 f.  Jahraus 2002b, 241.

3.1 Wahrheit

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generischen Propositionen zuschreiben. Oliver Jahraus erklärt in Bezug auf Kafkas Urteil etwa, „dass es in Kafkas Text sehr viel eher um die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Sinn selbst geht, um Ordnungen und um ihre Transformation und ihre Auflösung.“³¹⁶ Dieses Statement mag emphatischer formuliert sein als Zolas oder Lamarques und Olsens, läuft jedoch auf dasselbe hinaus. Dem Urteil wird unterstellt, insgesamt eine Aussage über „Sinn“ und „Ordnungen“ zu treffen und damit „das Verstehen überhaupt in Frage“³¹⁷ zu stellen. Gerade die Formulierungen „Unmöglichkeit von Sinn selbst“ und „das Verstehen überhaupt“ deuten diesen impliziten Bezug zur realen Welt im Allgemeinen an, der in dem Text entdeckt wird.³¹⁸ Solche in Literatur enthaltenen generischen Propositionen scheinen nun möglicherweise in den Kategorien wahr oder falsch beurteilbar zu sein, wie auch Lamarque zusammenfassend festhält: „Here we have plausible candidates for propositional truth of a kind recognizable in philosophy and the social sciences.“³¹⁹ Die Idee, generische Propositionen als Kanditaten für wahre Aussagen innerhalb fiktionaler literarischer Texte zu identifizieren und so indirekt auch eine Wahrheitsunterstellung im Kontext philologischer Interpretation zu rechtfertigen, ist jedoch mit dem Einwand konfrontiert, dass generische Propositionen kognitiv trivial und ästhetisch irrelevant seien.

3.1.2.3 Kognitive Trivialität und interpretative Irrelevanz Der Vorwurf der kognitiven Trivialität generischer Propositionen gründet auf dem Verdacht, dass die Ausformulierung des Gehalts eines fiktionalen literarischen Textes in propositionaler Form dazu tendieren muss, den Text unangemessen zu vereinfachen. Den kognitiven Gehalt von Goethes Faust mit einer generischen Proposition der Art „Es ist problematisch, junge Mädchen zu schwängern, sofern man nicht vor hat, sie anschließend zu heiraten“ zu beschreiben, wird dem Text ebenso wenig gerecht, wie „Stubborn pride and ignorant prejudice keep attractive

 Jahraus 2002b, 242 f.  Jahraus 2002b, 242.  Wem interpretative Aussagen wie diese zu ambitioniert erscheinen, dem steht durchaus die Möglichkeit einer Abschwächung offen, ohne deshalb den zentralen Punkt der potentiellen Wahrheitsfähigkeit generischer Propositionen aufgeben zu müssen. Für das Middlemarch-Beispiel könnte man dementsprechend anstelle von „the best human hopes and aspirations are always thwarted by forces beyond human control“ ebenso gut das schwächere Statement „the best human hopes and aspirations can sometimes be thwarted by forces beyond human control“ veranschlagen. Dieser Rückzug von einer Allaussage auf eine Existenzaussage tangiert die Frage nach der grundsätzlichen Wahrheitsfähigkeit von generischen Proposition nicht.  Lamarque 2010, 375.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

people apart“³²⁰ als wesentlichen Gehalt von Jane Austens Pride and Prejudice zu bestimmen. Stolnitz bezeichnet diese Aussage zurecht als „distressingly impoverished“.³²¹ Die exemplarisch für Faust und Pride and Prejudice formulierten generischen Propositionen sind offensichtlich eklatant unterkomplex bzw. kognitiv trivial, allerdings muss diese Trivialität muss kein prinzipielles Problem sein. Interpretationen von literarischen Texten, die generische Propositionen aus ihren Interpretanda ableiten, haben nach Lamarque zumindest grundsätzlich die Möglichkeit, die Komplexität der Texte auch in den abgeleiteten generischen Propositionen abzubilden. Lamarque bemerkt, dass an den Reflexionen über Verbrechen und Strafe in Dostojevskijs gleichnamigem Roman nichts trivial ist, und dass die Komplexität des Primärtextes durchaus auch in der literaturwissenschaftlichen Diskussion über den Text wiedergespiegelt wird: „The critical observation, for example, that ‚Man must suffer … because man, his intellect a delusion and its power demonic, trapped by his instinctive brutality and the conspiracy of his victims, does not will his destiny‘ is complex and, taken as a universal truth, far from uncontroversial.“³²² Die von Lamarque hier angeführte generische Proposition mag weniger trivial sein als die vorhergegangenen generischen Propositionen zu Faust und Pride and Prejudice, ob sie dem Verdacht der Trivialität jedoch vollständig entgehen kann, wäre zu diskutieren. Fraglich ist ohnehin, ob die Beantwortung dieser Frage eine wesentliche Rolle spielt. Selbst in dem Fall, dass generische Propositionen die Komplexität des interpretierten Textes tatsächlich angemessen wiederspiegeln könnten, besteht Unklarheit darüber, ob die Wahrheit der generischen Propositionen überhaupt für die Interpretation relevant sein kann. Der Wert eines fiktionalen literarischen Werks – so der Einwand der interpretativen Irrelevanz – sei nicht durch die Wahrheit von aus ihm ableitbaren Propositionen konstituiert. Da die philologische Interpretation die Aufgabe habe, ihrem Interpretandum den größtmöglichen ästhetischen Wert zuzuschreiben, spiele die Wahrheit bestimmter Aussagen schlichtweg keine Rolle. In Alan Goldmans Formulierung lautet der Einwand wie folgt: The aesthetic qualities of fiction do not lie in the historical or philosophical truths that it might convey. A novel makes great literature not if it describes a true moral theory or historical era, but if the moral beliefs and experiences of the characters, or the historical circumstances in which they find themselves, help to define them and relations between them in an aesthetically fulfilling way. Even the formal structure of the novel must structure our

 Stolnitz 2003, 338 f.  Stolnitz 2003, 338 f.  Lamarque 2010, 376. Die Stelle, auf die Lamarque in obigem Zitat verweist stammt aus Beebe 1975, 596.

3.1 Wahrheit

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experience of it, must help us to understand the characters and to experience through their points of view. Just as a bit of philosophical or historical exposition cannot substitute for the functions of these elements in a novel, so a diagram or chart, which may represent the structure in a novel with perfect accuracy, cannot substitute for the way the structure affects our experience in reading it. All these points supplement appeal to the sensuous nature of the language itself in a good piece of fiction or poetry, which once more may be of aesthetic value in the quasi-musical forms it creates and in the way it may intensify our experience in reading the work.³²³

Der Vorwurf interpretativer Irrelevanz ist als Grundsatzkritik zu verstehen, die die Relevanz einer Wahrheitsunterstellung im Rahmen philologischer Interpretation hinterfragt. Selbst wenn eine Wahrheitsunterstellung angemessen epistemisch kontextualisiert ist, und darüber hinaus zugestanden wird, dass bestimmte, in literarischen Texten enthaltene oder aus literarischen Texten ableitbare generische Propositionen in den Kategorien wahr oder falsch beurteilt werden können, ist es nach Meinung der „wertmaximierenden Interpretationstheorie“ dennoch nicht sinnvoll, innerhalb philologischer Interpretationsprozesse auch tatsächlich Gebrauch von einer Wahrheitsunterstellung zu machen. Interessant ist, dass wertmaximierende Interpretationstheorien aber nicht generell auf Billigkeitsprinzipien verzichten wollen, sondern lediglich gegen die inhaltliche Konkretisierung von Billigkeit als Wahrheit argumentieren. Stattdessen sei es angemessener, ein Billigkeitsprinzip als „principle of beauty (or aesthetic merit)“³²⁴ zu verstehen und dem Interpretandum statt Wahrheit größtmöglichen ästhetischen Anspruch zu unterstellen. Hierauf werde ich in Kapitel 3.3 noch ausführlich zurückkommen. Hinweise wie diese haben dazu geführt, dass die Wahrheit spezifischer oder generischer Propositionen im Kontext fiktionaler literarischer Texte oft kritisch gesehen wird. Eine gelegentlich vorgeschlagene Strategie,Wahrheit im Kontext der Literatur dennoch zu retten, besteht darin, einen alternativen Begriff literarischer Wahrheit einzuführen, der sich in seinem Gehalt von dem üblichen Wahrheitsbegriff teils deutlich unterscheidet. Sofern diese Position mit guten Gründen vertreten werden kann, hätte dies wohl auch Konsequenzen für die Frage nach der Plausibilität von Wahrheitsunterstellungen im Rahmen interpretativer Prozesse. Einem fiktionalen Text Wahrheit zu unterstellen müsste dann sinnvollerweise heißen, ihm literarische Wahrheit zu unterstellen.

 Goldman 1990a, 31. Goldmans Einwand ist einer Traditionslinie der Interpretationstheorie zuzuordnen, die Interpretation als Wertmaximierung versteht. Vgl. Stecker 1991, 243: “Goldman’s account belongs to a particular genus or genre of interpretation theory. […] we can call members of this genre value maximizing accounts of interpretation.” Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.3.  Goldman 1990a, 24.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

3.1.3 Literarische Wahrheiten Ein Literaturwissenschaftler, der auf diese Weise argumentiert, ist Ivor Armstrong Richards. Im 34sten Kapitel seines einflussreichen Buchs Principles of Literary Criticism, das 1972 auch ins Deutsche übersetzt wurde, hält er fest: Seine wissenschaftliche Bedeutung [des Wahrheitsbegriffs], jene nämlich, nach der Referenzen und davon abgeleitete Feststellungen, die Referenzen symbolisieren, („references, and derivatively statements symbolizing references“³²⁵) wahr sind, braucht uns nicht aufzuhalten. Eine Referenz ist wahr,wenn die Dinge, auf die sie sich bezieht, so angeordnet sind, wie die Referenz es impliziert. Andernfalls ist sie falsch. Dies ist eine Bedeutung, die in den einzelnen Künsten eine nur sehr geringe Rolle spielt.³²⁶

Interessant an Richards Statement ist, dass er gar nicht erst versucht, die „Grundfrage“ nach der Wahrheitsfähigkeit der Literatur zu beantworten, sondern diese dadurch umgeht, dass er die Relevanz eines üblichen Wahrheitsbegriffs für die Literatur bzw. die Literaturwissenschaft abstreitet. Die Frage, ob Literatur Wahrheiten enthalten oder vermitteln kann, wäre möglicherweise zu bejahen, allerdings nicht deshalb, weil die einschlägigen Vorbehalte und Einwände ausgeräumt werden können, sondern weil mit „Wahrheit“ im Kontext der Literatur einfach etwas anderes gemeint sei, als mit „Wahrheit“ im Kontext der Wissenschaft. Diese Sichtweise ist keineswegs ein literaturhistorisches Relikt, sie findet sich auch in einer ganzen Reihe von aktuellen Publikationen. Jan Urbich spricht etwa von einer „‚ästhetische[n] Wahrheit‘, die auch der Literatur zukommt“,³²⁷ auch Gerhard Poppenberg geht davon aus, dass die spezielle Wahrheit der Literatur „nicht in einem referentiellen Bezug zur Wirklichkeit, sondern in einer Deutung dieser Wirklichkeit“³²⁸ zu suchen sei. Konzeptualisierungen solcher literaturspezifischen Wahrheitsbegriffe gibt es viele. Eine Systematisierung ist nicht nur aufgrund der hohen Anzahl der im Lauf der Theoriegeschichte vertretenen Positionen schwierig. Die Definitionsvorschläge sind darüber hinaus hoffnungslos heterogen, dazu oft wenig trennscharf oder gänzlich vage.³²⁹ Die in der Folge

 Richards 1967, 212.  Richards 1972, 315.  Urbich 2010, 30.  Poppenberg 2009, S 161 f.  Abseitige oder vollständig unklare Vorschläge habe ich im Folgenden ignoriert. Ein Beispiel für einen solchen Fall ist der Definitionsversuch in Murdoch 1992, S. 321: „‚Truth‘ is something we recognize in good art when we are led to a juster, clearer, more detailed, more refined understanding. Good art ‚explains‘ truth itself, by manifesting deep conceptual connections. Truth is clarification, justice, compassion.“ Hier wird Wahrheit gleichermaßen als Klarheit bzw.

3.1 Wahrheit

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diskutierten fünf Varianten literarischer Wahrheit sind dementsprechend nur als Kategorisierungsversuch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, weder in systematischer noch historischer Hinsicht, zu verstehen.³³⁰ Außerdem handelt es sich bei den Punkten 3.1.3.1 bis 3.1.3.5 lediglich um Rekonstruktionen de facto vertretener Standpunkte, deren Plausibilität ich dann zusammengefasst in 3.1.3.6 evaluieren werde.

3.1.3.1 Wirklichkeitstreue Die erste Variante „Wirklichkeitstreue der Darstellung“ ist der üblichen Auffassung von Wahrheit als propositionaler Wahrheit noch am nächsten. Ihrem Verständnis entsprechend besteht literarische Wahrheit schlicht darin, dass ein literarischer Text die Wirklichkeit möglichst genau abbildet, dass er den real bestehenden Verhältnissen so nahe kommt wie nur möglich.³³¹ Anhand der Erläuterungen, die Zola der zweiten Auflage seines Romans Thérèse Raquin voranstellt, lässt sich dieses Verständnis exemplarisch deutlich machen. Zolas Roman sah sich nach seiner Veröffentlichung mit den Vorwürfen der Frivolität und Pornographie konfrontiert, was den Autor dazu veranlasste, sich anlässlich der Neuauflage in einem Vorwort zu rechtfertigen. Es sei keineswegs sein Anliegen gewesen, erklärt er dort, lediglich voyeuristisch „unzüchtige Bilder zu malen“,³³² er habe sich vielmehr als von „methodische[m] Geist“³³³ angetriebener „Analytiker“³³⁴ verstanden, der sich nüchtern wie ein „Arzt im Seziersaal“³³⁵ die unzen-

Verdeutlichung („clarification“), Gerechtigkeit („justice“) und Mitgefühl („compassion“) beschrieben, obwohl diese Substantive auf keine einsichtige Weise miteinander verknüpft sind. Andererseits soll „good art“ zusätzlich noch in der Lage sein, den Wahrheitsbegriff selbst zu erklären. Auf diesen Aspekt weist Murdoch 1992 sogar mehrmals hin, vgl. auch 86: „A study of good literature, or of any good art, enlarges and refines our understanding of truth“. Mir ist nicht klar, wie diese Erklärung zu verstehen ist, da gute literarische Texte offensichtlich nicht zwingendermaßen konzeptuelle Aussagen über Wahrheit als solche treffen müssen.  Lamarque 2010 unterscheidet in seiner überblicksartigen Darstellung lediglich vier Varianten literarischer Wahrheit, Strube 1981, der sich stark auf Ingardens Verständnis ästhetischer Wahrheit konzentriert, fünf Varianten, Damerau 2003 in seiner v. a. historisch sehr materialreichen Studie sieben Varianten.  Vgl. Damerau 2003, 292: „Demnach ist ein Text wahr, wenn alles auch in Details wirklichkeitsgetreu und wahrscheinlich in dem Sinne ist, daß dergleichen tatsächlich des öfteren geschieht. […] Es geschieht häufig, weil es den Regeln bzw. Gesetzen der Natur oder des Milieus entspricht.“  Zola 2002, 5.  Zola 2002, 7.  Zola 2002, 5.  Zola 2002 6.

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sierte Erforschung der Abgründe des menschlichen Daseins zur Aufgabe gemacht habe. Thérèse Raquin sei aufgrund der „peinlich genauen Wiedergabe des Lebens“³³⁶ dementsprechend als beinahe „wissenschaftliche Analyse“³³⁷ zu begreifen, die sich konkret die „Erforschung des Wahren“³³⁸ zum Ziel gesetzt habe. Dass die durch den Roman zu Tage geförderten „Wahrheiten […] Übelkeit verursacht haben“³³⁹ mögen, sei deshalb nicht Zola als Autor anzulasten, sondern liege in der Natur der Welt, die der Roman nur detailgenau abbilde. Diesem Verständnis von literarischer Wahrheit nach hat das Dargestellte immer empirisch möglich zu sein, eine Suspendierung etwa der Naturgesetze muss mit einem unmittelbaren Verlust des Wahrheitsanspruchs einhergehen. Darüber hinaus hat das Dargestellte möglichst detailliert zu sein, d. h. die Chance, dass ein fiktionaler literarischer Text diesem Verständnis nach wahr ist, steigt, je umfassender und präziser die fiktive Welt insgesamt präsentiert wird. Am konsequentesten wird dieses Konzept von literarischer Wahrheit als Wirklichkeitstreue der Darstellung im Naturalismus verfolgt. Seinen Kulminationspunkt findet es in der bekannten Formel Arno Holz‘ „Kunstwerk gleich Stück Natur minus x“,³⁴⁰ hinter der die Idee steht, dass im Idealfall die Darstellung realer Sachverhalte in der Kunst – vergleichbar mit der Abbildung realer Motive in der Photographie – so wirklichkeitsgetreu werden soll, dass der Unterschied lediglich durch das darstellende Medium selbst begründet ist. Damit wäre ein maximaler Grad von literarischer Wahrheit als Wirklichkeitstreue erreicht. Ein nur im Detail anderer Vorschlag sieht schon punktuelle Wirklichkeitstreue als hinreichendes Kriterium für literarische Wahrheit an. Ein Beispiel für dieses Verständnis von literarischer Wahrheit findet sich etwa bei Flaubert. Flaubert erklärt in einem Brief an Louise Colet, dass Literatur seiner Ansicht nach unter bestimmten Umständen so präzise sein könne wie die Geometrie, und dass in diesen Fällen das, was der Autor erfinde, wahr sei.³⁴¹ Als Beispiel dient ihm seine eigene Figur Emma Bovary, die in paradigmatischer Weise bestimmte, präzise umrissene Charakterzüge in sich vereine, die speziell unglücklich verheirateten Frauen zukämen. Aus diesem Grund kann Flaubert dann auch behaupten, seine Emma Bovary sei zeitgleich an mindestens zwanzig Orten Frankreichs anzutreffen, wo sie überall leide und weine: „Meine arme Bovary leidet und weint zu dieser

     

Zola 2002, 5. Zola 2002, 8. Zola 2002, 5 [meine Hervorhebung]. Zola 2002, 6 [meine Hervorhebung]. Holz 1892, 26. Flaubert 1995, 760: „Alles, was man erfindet, ist wahr, da sei sicher“.

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Stunde zweifellos in zwanzig Dörfern Frankreichs zugleich.“³⁴² Damerau expliziert den Begriff von vrai, den Flaubert hier auf seine Darstellung der Madame Bovary anlegt, zusammenfassend: „Seiner [Flauberts] Ansicht nach ist die Darstellung der fiktiven Emma auf literarische Weise wahr, weil sie vielen Frauen in bestimmten Hinsichten ähnelt: Ihre individualisierte Gestalt sowie ihre Geschichte weisen zugleich einige typische bzw. charakteristische Züge auf.“³⁴³ Die literarische Wahrheit liegt also gerade darin, dass bestimmte Aspekte der fiktiven Welt, in diesem Fall bestimmte psychologische Konstellationen einer fiktiven Figur, in wirklichkeitsgetreuer Weise dargestellt werden. Literarische Wahrheit in diesem Sinn kommt dem nahe, was Lamarque als „true to life“ bezeichnet: „To be true to life a fiction must offer recognizable characters and situations, must avoid implausibility in plot structure (a point emphasized by Aristotle), and must conform to norms of action and motivation.“³⁴⁴

3.1.3.2 Kohärenz Ein weiterer einschlägiger, in der Historie immer wieder anzutreffender Vorschlag ist, literarische Wahrheit als Kohärenz zu begreifen. Im Unterschied zu literarischer Wahrheit alias Wirklichkeitstreue haben innerhalb dieses Konzepts Texte, die empirisch Unmögliches darstellen, ebenfalls das Potential, literarisch wahr zu sein. Anhand einer historischen Kontroverse um Miltons Paradise Lost lässt sich dies beispielhaft nachvollziehen. Im sechsten Buch schildert Milton dort den Kampf zwischen dem Heer der rebellischen Engel unter der Führung Satans und dem Heer der Gott ergebenen, sozusagen regimetreuen Engel unter der Führung des Erzengels Michael. Auf dem Höhepunkt der Schlacht treffen schließlich die Heerführer selbst aufeinander und Michael gelingt es, Satan zu verwunden.³⁴⁵ Da Satan – wie die anderen Engel – jedoch unsterblich ist, heilt die Wunde schnell:

 Flaubert 1995, 760.  Damerau 2003, 296.  Lamarque 2010, 372. Damerau 2003, 296 spricht in diesem Kontext von dem „in diesem Zusammenhang gängige[n] Begriff der Lebenswahrheit“.  Vgl. Milton 2005, 178: „[…] then Satan knew first pain, And writhed him to and fro convoled; so sore The grinding sword with discontinuous wound Passed through him, but the ethereal substance closed Not long divisible, and from the gash A stream of nectarous humour issuing flowed Sanguine, such as celestial sprits may bleed“

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Yet soon he healed; for spirits that live throughout Vital in every part, not as frail man In entrails, heart or head, liver or reins, Cannot but by annihilating die; Nor in their liquid texture mortal wound Receive, no more than can the fluid air³⁴⁶

Eben diese Stellen zogen einige Kritik auf sich.Voltaire nennt die Kämpfe zwischen den Engeln bloße „batailles chimériques“,³⁴⁷ und auch einige andere Kritiker stoßen sich an dem martialischen Verhalten der Engel grundsätzlich und an der Folgenlosigkeit der Verwundungen durch die ätherischen Waffen.³⁴⁸ Pascal Bodmer versucht nun interessanterweise Milton mit Hilfe eines Kohärenzkonzepts literarischer Wahrheit gegen diese Angriffe zu verteidigen. Er ist der Meinung, dass der Darstellung trotz ihrer empirischen Unmöglichkeit durchaus das Prädikat „literarisch wahr“ zuzusprechen sei, und zwar aufgrund ihrer Folgerichtigkeit: „Demnach ist dieses poetisch Wahre nicht ohne eine gewisse Vernunft und Ordnung; es hat für die Phantasie und die Sinne seinen zureichenden Grund, es hat keinen Widerspruch in sich, ein Stück gründet sich in dem andern. […] Es ist gar nicht ungereimt, daß etherische Cörper mit etherischen Waffen aufeinander loßgehen, dergleichen Gewehr war dergleichen Natur gemäß.“³⁴⁹ Unter den gegebenen Ausgangsbedingungen der Annahme einer übersinnlichen, von Engeln bevölkerten Welt, bestimmter anatomischer Details der Engel etc. ist Miltons Darstellung in sich widerspruchsfrei und sogar aufeinander aufbauend, also kohärent. Eben diese Kohärenz legitimiert für Bodmer das Prädikat „poetischer Wahrheit“. Dass Wirklichkeitstreue der Darstellung ignoriert wird, spielt für Bodmer in diesem Kontext keine Rolle. Auch in der aktuelleren literaturwissenschaftlichen Debatte firmiert Kohärenz als Kriterium literarischer Wahrheit. Der oben schon zitierte I.A. Richards schlägt „Annehmbarkeit“³⁵⁰ („acceptability“³⁵¹) als für fiktionale Literatur relevanten Sinn des Wahrheitsbegriffs vor. Meines Erachtens verbirgt sich hinter diesem Begriff ebenfalls ein Kohärenzkriteriums literarischer Wahrheit. Richards erläutert: „Die ‚Wahrheit‘ des Robinson Crusoe besteht in der Annehmbarkeit dessen, was man uns erzählt, in seiner Annehmbarkeit im Interesse der Wirkungen der Erzählung, nicht in seiner Entsprechung in

 Milton 2005, 179.  Voltaire 1877b, 363.  Vgl. hierzu ausführlicher Damerau 2003, 71, der für weitere Kritik auf Constantin Magny, Madame de Staël und Jean Paul verweist.  Bodmer 1966, 47.  Richards 1972, 316.  Richards 1967, 212.

3.1 Wahrheit

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Hinsicht auf irgend welche wirklichen Tatsachen über Alexander Selkirk oder sonst jemand.“³⁵² Ein fiktionaler literarischer Text ist diesem Verständnis nach also literarisch wahr, wenn er in Hinblick auf seine Gesamtwirkung stimmig ist, d. h. wenn sich seine verschiedenen Teile zu einem homogenen Ganzen fügen. Dass er die Faktenlage in der realen Welt korrekt abbildet, ist dabei sekundär. Je mehr der Text so wirkt, als sei er aus „innerer Notwendigkeit“³⁵³ so gestaltet wie er es ist, desto eher wird man ihn – sofern man dieses Konzept literarischer Wahrheit vertritt – als wahr charakterisieren.³⁵⁴ Ein Beispiel für Unwahrheit im Sinne von Nicht-Annehmbarkeit bzw. Inkohärenz wäre beispielsweise dann gegeben, wenn Shakespeares King Lear oder Julien Greens Leviathan mit Happy Ends schließen würden, da dies aus den jeweiligen Handlungsverläufen unmöglich erklärt werden könnte.

3.1.3.3 Idealität Eine dritte Option ist, fiktionalen literarischen Texten genau dann literarische Wahrheit zuzusprechen, wenn diese bestimmte Einzelaspekte in idealer Weise darstellen. Es ist diesem Verständnis nach nicht entscheidend, ob die Darstellung wirklichkeitsgetreu ist und in charakteristischer Weise der Realität entspricht (ob sich etwa verheiratete Frauen in der realen Welt unter bestimmten Rahmenbedingungen üblicherweise auf die Art verhalten, auf die sich eine Romanfigur verhält), sondern, dass die Fiktion ideales Verhalten respektive ideale Figuren beschreibt. Ein erneutes literatur- bzw. philosophiehistorisches Beispiel ist geeignet, um diese Grundidee noch deutlicher machen: Giambattista Vico vertritt in Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker die Meinung, dass es bei literarischen Wahrheiten um die „Wahrheiten der Idee nach“³⁵⁵ gehen müsse und erklärt ergänzend, dass „wenn man es richtig bedenkt, das poetisch Wahre ein metaphysisch Wahres“³⁵⁶ sein müsse. Dieses Verständnis wendet er exemplarisch auf Tassos episches Gedicht Das befreite Jerusalem an. Gottfried von Bouillon, der Heerführer der Kreuzzugsarmee, die in Tassos Text schließlich in der Lage ist, Jerusalem zu befreien, verkörpert in Vicos Augen einen wahren bzw. idealen Heerführer. Er wird als „christlich, besonnen, tapfer, loyal

 Richards 1972, 316.  Richards 1972, 316.  Vgl. auch Damerau 2003, 154: „In diesem Sinne werden auch hyperbolische Aussagen, die dem Wortlaut nach als falsch gelten, ‚wahr‘ genannt, sofern sie sich schlüssig aus dem Charakter und dem Zustand der literarischen Gestalt bzw. des lyrischen Ichs ergeben.“  Vico 2009, 109.  Vico 2009, 109.

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und standhaft“³⁵⁷ charakterisiert und entspricht für Vico damit der metaphysischen Idee eines idealen Heerführers: Es werde deutlich, „daß der wahre Heerführer zum Beispiel der Gottfried ist, den Torquato Tasso ersinnt; und alle Heerführer, die nicht in allem und durchaus mit Gottfried übereinstimmen, sind nicht wahre Heerführer.“³⁵⁸ Damerau folgert aus Vicos Darstellung: „Das heißt, der in Tassos Epos dargestellte Heerführer ist einem kulturell entwickelten Begriff [des Heerführers] gemäß, weil er im Kreuzzug nach Jerusalem die entsprechenden Eigenschaften in ausgeprägtem Maß hat. […] In diesem Fall ist Gottfried mit seinen idealen Eigenschaften ein Inbild und zugleich ein allgemeiner gültiges Vorbild.“³⁵⁹ Die fiktive Figur des Gottfried von Bouillon ist dementsprechend ein literarisch wahrer Heerführer in normativem Sinn. Literatur ist diesem Verständnis von literarischer Wahrheit entsprechend speziell dann mit dem Prädikat „wahr“ auszuzeichnen, wenn sie normativ aufgeladene „Wahrheiten“ vermittelt, wenn sie etwa zeigt, wie Heerführer einem bestimmten kulturellen Verständnis gemäß sein sollen.

3.1.3.4 Suggestivität Eine weitere, von den bislang besprochenen Konzepten zu unterscheidende Variante literarischer Wahrheit ist Wahrheit als Suggestivität. Literarische Texte wären dementsprechend genau dann als literarisch wahr zu bezeichnen, wenn sie dem Leser aufgrund eines subjektiven Evidenzerlebnisses als wahr erscheinen. Wladimir Weidlé erläutert dahingehend, dass eine „Wahrheit des Erzählens“³⁶⁰ dann gegeben sei, wenn die dargestellten „Begebenheiten unsere Phantasie gefangennehmen“.³⁶¹ Diese spezielle Art von Wahrheit sei nicht „auf experimentellem Wege“³⁶² zugänglich, dennoch könne „die Evidenz, mit der [sie] sich unserem Geist einprägt, jeder anderen Art von Evidenz ebenbürtig sein.“³⁶³ Die Wahrheit eines literarischen Textes wird damit an die Wirkung, die er beim Rezipienten erzielt, gebunden und weitgehend subjektiviert. Carl Einstein kontrastiert in seinem Essay Diese Ästhetiker veranlassen uns korrespondenztheoretische Wahrheit mit einem für ihn weit eher ästhetisch relevanten Wahrheitsbegriff, der

 Damerau 2003, 156.  Vico 2009, 109. Auf die hier deutlich zu Tage tretende, platonische Dimension der Konzeption von literarischer Wahrheit als Idealität geht Strube 1981, 332 f. genauer ein.  Damerau 2003, 156.  Weidlé 1958, 42 f.  Weidlé 1958, 42 f.  Weidlé 1958,42 f.  Weidlé 1958, 42 f.

3.1 Wahrheit

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Wahrheit ebenfalls als suggestive Kraft versteht: „Wahrheit der Erkenntnis heißt nun Kraft der Suggestion“.³⁶⁴ Die suggestive Wirkung der Literatur kann auf verschiedene Weise erzeugt werden, d. h. es wäre durchaus denkbar, dass ein Werk gerade durch seine Wirklichkeitstreue besonders große Suggestivität erlangt und dann beiden Konzeptionen entsprechend als wahr zu bezeichnen wäre. Da dies aber für Wahrheit als Suggestivität nicht zwingend der Fall sein muss – denkbar wäre auch ein literarischer Text, der eher durch seine sprachliche Kraft als seine inhaltlichen Vorzüge suggestiv wirkt – ist Suggestivität als eigenständige Variante literarischer Wahrheit definierbar.

3.1.3.5 Aufrichtigkeit Ein letzter Vorschlag für den Gehalt literarischer Wahrheit ist Aufrichtigkeit. Richards spricht in diesem Kontext von „Ehrlichkeit“³⁶⁵ („Sincerity“³⁶⁶), und schlägt für seine Idee eine Definition ex negativo vor: „Wahrheit kann gleichbedeutend mit Ehrlichkeit sein. […] Vielleicht kann man diese Bedeutung vom Standpunkt des Kritikers aus am leichtesten negativ definieren – und zwar als Fehlen jedes offensichtlichen Versuchs auf seiten des Künstlers, Wirkungen beim Leser hervorzurufen, die bei ihm nicht funktionieren.“³⁶⁷ Positiv definiert findet sich dieselbe Idee bei Theodor Geiger: „Ein Kunstwerk ist wahr, nicht weil es eine objektive Wahrheit adäquat erfaßt, sondern weil es ‚echt‘ oder ‚ehrlich‘ ist, d. h. nicht bloß im artistisch Effektvollen steckenbleibt, vielmehr ein genuines Erleben des Künstlers zum Ausdruck bringt.“³⁶⁸ Literarische Wahrheit in diesem Sinn ließe sich vielleicht noch zutreffender als Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit auf Seiten des Autors charakterisieren. Ein fiktionaler literarischer Text ist diesem Verständnis nach literarisch wahr, sofern er authentisch formuliert ist, sofern er also ausschließlich tatsächlich Erlebtes (oder zumindest tatsächlich erlebte emotionale Konstellationen) beschreibt und nicht lediglich versucht, durch oberflächliche „Tricks“ die eine oder andere Stimmung im Leser wachzurufen.³⁶⁹ Aus systematischer Perspektive ist der entscheidende Aspekt im Rahmen dieses Ver Einstein 1992, 207.  Richards 1972, 317.  Richards 1967, 213.  Richards 1972, 317 f.  Geiger 1953, 160. Strube 1981, 333 benennt dieses Verständnis von literarischer Wahrheit als „psychologischen Wahrheitsbegriff“.  Lamarque 2010, 372 interpretiert Richards „Sincerity“-Kriterium auf vergleichbare Weise: „A work is ‚true‘ in this sense if it does not attempt to flatter or charm or soften the edges, if it confronts unpalatable facts with an unblinking eye, be they about the author‘ own hidden secrets or about worldly affairs.“

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

ständnisses literarischer Wahrheit die Verortung der Wahrheit auf der Autorseite. So wie es bei den Vorschlägen Wirklichkeitstreue, Kohärenz und Idealität die Texte selbst sind, die nach jeweils für relevant erachteten Kriterien als wahr oder unwahr beurteilt werden und bei dem Vorschlag Suggestivität der mentale Zustand des Lesers über die Wahrheit des in Frage stehenden Textes entscheidet, steht und fällt literarische Wahrheit als Aufrichtigkeit mit der psychologischen Disposition des Autors. ³⁷⁰

3.1.3.6 Kritik literarischer Wahrheiten Alternativkonzepte literarischer Wahrheit wie diese sollen allesamt einen Wahrheitsbegriff, der oft als „wissenschaftlicher“ Begriff von Wahrheit bezeichnet wird,³⁷¹ ersetzen. Dabei wird von den Verfechtern literarischer Wahrheitskonzepte darauf hingewiesen, dass ein solcher „wissenschaftlicher“ Wahrheitsbegriff im Fall fiktionaler literarischer Texte nicht nur problembehaftet sei, sondern ganz abgesehen davon ohnehin zu kurz greife.³⁷² Es sei eine positiv besetzte, genuine Fähigkeit der Literatur (oder der Kunst im Allgemeinen), die – tendenziell als interessanter präsentierten – alternativen Wahrheitskonzepte bedienen zu können. Damit wäre eine Wahrheitsunterstellung auch für die philologische Interpretation wenigstens potentiell sinnvoll, insofern sie als Unterstellung literarischer Wahrheit verstanden wird. Wie wir gesehen haben, sind die definitorischen Präzisierungen literarischer Wahrheit selbst dabei aber eher unscharf; deutlich wird in jedem Fall, dass eine wie auch immer genau ausbuchstabierte literarische Wahrheit wenig mit Wahrheit in dem alltäglichen, unter 3.1 spezifizierten Sinn zu tun hat. Es stellt sich konsequenterweise die Frage, welchen Sinn die in terminologischer Verwischung mündende Ausweitung bzw. Redefinition des Wahr-

 Problematisch ist hierbei, dass der Leser in charakteristischen Fällen der Rezeption literarischer Texte wenig oder gar nichts über den konkreten Erlebnishintergrund des Autors weiß, und dementsprechend lediglich vermuten kann, inwiefern er mit einer aufrichtige Darstellung konfrontiert ist. Diese Vermutung wird sich nach der zugänglichen Textgestalt selbst richten müssen, d. h. der Leser wird anhand der Darstellung auf ihre Wahrheit alias Aufrichtigkeit schließen müssen. Da somit die Entscheidungshoheit in der Praxis ebenfalls beim Rezipienten liegt – und unter Umständen bei den in der gegebenen epistemischen Situation gültigen literaturhistorischen Konventionen, nach denen der Rezipient seine Entscheidung richten wird – rückt literarische Wahrheit als Aufrichtigkeit in die Nähe von literarischer Wahrheit als Suggestivität.  Vgl. Richards 1972, 315, („wissenschaftliche Bedeutung“), Lamarque 2010, 372 („scientific paradigm“,“paradigm of truth familiar to science“).  So z. B. Richards 1972, 315.

3.1 Wahrheit

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heitsbegriffs grundsätzlich haben soll. Für mich ist nicht ersichtlich, wieso nicht einfach von Wirklichkeitstreue, Kohärenz, Idealität, Suggestivität oder Aufrichtigkeit gesprochen wird, sondern von Wahrheit als Wirklichkeitstreue, Kohärenz, Idealität, Suggestivität oder Aufrichtigkeit. Die Reflexionen über literarische Wahrheit verlieren auch dann nichts von ihrem eigentlichen Gehalt, wenn sie auf die Verwendung des Wahrheitsbegriffs verzichten und ihre Analyse etwa auf die Fragen beschränken, inwiefern sich Literatur durch suggestive oder ideale Darstellungen auszeichnet, oder inwiefern sie für den Leser aufgrund ihrer kohärenten Komposition annehmbar wird. Der Grund, aus dem Überlegungen wie diese oft in den Kontext der Frage nach Wahrheit gestellt werden, scheint mir auf einer Metaebene zu liegen. Möglicherweise steht das Bedürfnis im Hintergrund, Literatur als Kunst gegenüber dem als szientistisch und potentiell arrogant empfundenen Erklärungsanspruch der Philosophie bzw. anderer Wissenschaften zu verteidigen und gewissermaßen apologetisch auch für die Literatur das als ehrenvoll empfundene Prädikat „wahr“ reklamieren zu wollen.³⁷³ Terminologisch nüchtern betrachtet ist die literarisierte Redefinition des Wahrheitsbegriffs aber nicht mehr als eine Verunklärung eines wohldefinierten Konzepts.³⁷⁴ Dementsprechend scheint es mir sinnvoller, nicht von einer Unterstellung literarischer Wahrheit zu sprechen, sondern die potentiell interessanten Aspekte literarischer Wahrheiten unabhängig von einer Verknüpfung mit dem Wahrheitsbegriff zu diskutieren.

3.1.4 Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Unterstellung von Wahrheit in allen interpretativen Kontexten immer eine Unterstellung von epistemisch kontextualisierter Wahrheit sein sollte. Die unter 3.1.1.1 und 3.1.1.2 diskutierten Beispiele machen deutlich, dass es nicht überzeugend ist, dem Interpretierten Wahrheit zu unterstellen, sofern nicht erklärbar ist, wie der Interpretierte zu der  Eine ähnliche Vermutung äußert Morgan 1969, 227, der in solchen Fällen sogar eine „truth addiction“ bei den entsprechenden Interpreten diagnostiziert. Diese „truth addiction“ bringe den Verfechter literarischer Wahrheitskonzepte dann zu einer Ablehnung herkömmlicher Wahrheitsdefinitionen: „He [der besagte Verfechter literarischer Wahrheitskonzepte] disdainfully replies that we have been using a narrow, pedantic sense of truth. The truth he intends is some nobler thing, an occult poetic or pictorial or aesthetic sort of truth: a truth that is nonpropositional, non-deniable, non-translatable.“  Vgl. für ähnliche Kritik Lamarque 2010, 372: „If literary truth is too remote from philosophical (or scientific) truth then literature cannot seem to compete for the high-ground of truth which human cognition aspires.“

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

jeweiligen wahren Überzeugung gelangt sein könnte. In einigen Fällen ist es sogar angeraten, dem Interpretierten bewusst falsche Überzeugungen zu unterstellen. Diese Kontextualisierung einer pauschalen Wahrheitsunterstellung sollte auch für den Fall philologischer Interpretation übernommen werden. Allerdings ist auch ein als kontextualisierte Wahrheitsunterstellung verstandenes Billigkeitsprinzip im Rahmen philologischer Hermeneutik mit deutlich gravierenderen Problemen konfrontiert als in anderen interpretativen Kontexten. Der zentrale Grund dafür ist, dass fiktionale literarische Texte charakteristischerweise ohne Wahrheitsanspruch auftreten. Dass daraus nicht unmittelbar ein vollständiger Verzicht auf Wahrheitsunterstellungen an fiktionale literarische Texte folgt, liegt an mehreren Einschränkungen und Differenzierungen der allgemeinen These über die Wahrheitsunfähigkeit fiktionaler Literatur. Zunächst ist zu beachten, dass in bestimmten historischen Kontexten in Bezug auf die Wahrheitsfähigkeit nicht zwischen fiktionaler Literatur und Sachtexten unterschieden wurde und es dementsprechend in diesen Fällen durchaus sinnvoll sein mag, nachsichtigerweise von der Wahrheit eines entsprechenden Textes auszugehen. Hier wird letztlich eine einzelfallspezifische Analyse des historischen Kontexts über die Plausibilität einer Wahrheitsunterstellung entscheiden müssen. Eine wichtigere Einschränkung besteht darin, dass die von dem Interpreten vertretene Fiktionalitätstheorie Auswirkungen darauf haben wird, inwieweit eine Wahrheitsunterstellung als sinnvoll erachtet wird oder nicht. Kompositionalisten gehen davon aus, dass ein fiktionaler literarischer Text gewissermaßen patchworkartig aus fiktionalen und faktualen Passagen zusammengesetzt ist und dass, zumindest in paradigmatischen Fällen, der jeweilige Status der Passagen auch erkennbar ist. Damit wären zumindest einige spezifische Propositionen, die in faktualen Passagen innerhalb fiktionaler Texte vorkommen, durchaus als mit Wahrheitsanspruch vorgebrachte Äußerungen zu verstehen.Wenigstens in diesem Kontext könnten dann auch Wahrheitsunterstellungen sinnvoll sein. Vertreter einer autonomistischen Fiktionalitätstheorie verstehen fiktional im Gegensatz dazu als dissektives Prädikat und halten die Unterscheidung fiktional-faktual für eine alles-oder-nichts-Entscheidung. Dementsprechend lehnen Autonomisten auch das patchwork-Bild fiktionaler literarischer Texte ab und sprechen ihnen durchgehend fiktionalen Status zu. In diesem Fall wären auch sämtliche in einem fiktionalen literarischen Text enthaltenen spezifischen Propositionen ohne Wahrheitsanspruch geäußert und eine Wahrheitsunterstellung konsequenterweise eine sinnlose heuristische Hypothese. Neben spezifischen Propositionen enthalten fiktionale literarische Texte auch explizite und/oder implizite generische Propositionen, die keine spezifischen Aussagen über einzelne Sachverhalte, sondern allgemeine Aussagen über die Welt machen. Von solchen generischen Propositionen wird oft angenommen, dass sie

3.1 Wahrheit

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sich auf die reale Welt bezögen, und dementsprechend auch wahr sein könnten (vgl. 3.1.2.2). Literarische Texte von besonders hohem Rang zeichneten sich möglicherweise gerade dadurch aus, dass diese generischen Propositionen in besonders frappierender Weise auch wahr (und nicht nur wahrheitswertfähig) sind.³⁷⁵ Die Kritik an dieser Sichtweise, die vor allem darauf abhebt, dass generische Propositionen kognitiv trivial und/oder interpretativ irrelevant seien, hat eine Reihe von Theoretikern dazu veranlasst, den Wahrheitsbegriff für den Kontext fiktionaler Literatur zu reformulieren. Für die Frage nach der Plausibilität eines als Wahrheitsunterstellung verstandenen Billigkeitsprinzips ist dies deshalb relevant, da eine modifizierte Unterstellung literarischer Wahrheit deutlich an Attraktivität gewinnen würde, sobald gezeigt wird, dass fiktionale literarische Texte paradigmatischerweise auf eine ganz spezielle Art wahr sind. Die Diskussion einiger Alternativkonzepte zeigt jedoch nicht nur, dass literarische Wahrheit uneinheitlich und wenig trennscharf definiert ist, sondern auch, dass das Projekt einer Reformulierung des Wahrheitsbegriffs in literarischem Kontext auf fehlgeleiteten Annahmen beruht und damit grundsätzlich zu verwerfen ist. Summa summarum folgt, dass Wahrheit als Inhalt eines Billigkeitsprinzips im Kontext philologischer Hermeneutik eine untergeordnete Rolle spielen muss. In bestimmten, eng umrissenen Kontexten mag sie zwar sinnvoll sein (z. B. für Kompositionalisten in faktualen Passagen fiktionaler Texte) und auch genrespezifische Überlegungen mögen ihre Verwendung unter bestimmten Bedingungen rechtfertigen (z. B. ist ein historischer Roman eher auf die Wahrheit des Dargestellten festgelegt als ein Märchen). Eine Wahrheitspräsumtion – und dies war die formale Variante, auf die im Kontext philologischer Hermeneutik das zentrale Augenmerk gelegt werden sollte – lässt sich aber nicht in dem unter 2.4.1 bestimmten Sinn rechtfertigen. Es ist weder aus transzendentalen Überlegungen (wir sind problemlos in der Lage, auch fiktionale literarische Texte zu verstehen, die überwiegend aus falschen Aussagen bestehen), noch aus induktiv-probabilistischen Überlegungen (fiktionale literarische Texte werden charakteristischerweise gerade nicht mit Wahrheitsanspruch geäußert) sinnvoll, eine Wahrheitspräsumtion im Kontext philologischer Interpretation anzulegen. Auch normative Gründe sprechen nicht dafür (es ist keineswegs moralisch angezeigt, von der Wahrheit fiktionaler literarischer Texte auszugehen), genausowenig wie prozedurale Überlegungen (Prozesse philologischer Interpretation sind auch ohne eine Wahrheitspräsumtion legitimiert und praktikabel).

 Vgl. Lamarque 2010, 376.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Wenden wir uns dementsprechend als nächstes einer weiteren inhaltlichen Präzisierung von Billigkeitsprinzipien zu, die im Kontext philologischer Interpretation eine deutlich wichtigere Rolle spielt.

3.2 Kohärenz Dieser nächste Kandidat ist Kohärenz. Die Tradition der Annahme, dass eine nachsichtige Interpretation von Äußerungen oder Texten eine Interpretation sein müsse, die dem Interpretandum ein bestimmtes Maß an Kohärenz unterstellt, ist beinahe so umfassend wie die der analogen Annahme zu Wahrheit. Schon im Rahmen der Aufklärungshermeneutik weist Christian Crusius in seiner Schrift über den Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß auf diese Dimension des Billigkeitsprinzips hin: „So lange man von iemanden nicht zuverläßige Beweisgründe der Thorheit, Unbesonnenheit, oder eines Verstandes hat, welcher den vorhandenen Sachen nicht gewachsen ist; und seine Worte entweder eine bequeme Auslegung noch leiden, oder doch nicht erwiesen werden kann, daß sie derselben nach den allgemeinen Gründen der Auslegung unfähig sind: so muß man nicht präsumieren, daß er sich selbst widerspreche.“³⁷⁶ Auch noch einige hundert Jahre später setzen Untersuchungen über die theoretischen Grundlagen der Hermeneutik den Stellenwert der Kohärenzunterstellung im Rahmen interpretativer Prozesse außerordentlich hoch an. Emilio Betti legt nahe, davon auszugehen, dass jede „Schöpfung des Geistes in sich selber einen eigenen Zusammenhang und eine innere Kohärenz besitzt; ein Zusammenhang, der durch seinen Einheitsdrang deren Stil bestimmt und bei ihrer Auslegung dem Kanon der Ganzheit und des hermeneutischen Zusammenhangs die erforderte Grundlage bildet.“³⁷⁷ Uwe Japp sieht darin, dass „die hermeneutische Theorie auf der Ebene des Textes selbst eine Kohärenz annimmt“³⁷⁸ ebenfalls eine „zentrale hermeneutische These“,³⁷⁹ die er in seinen Ausführungen anschließend als Möglichkeitsbedingung von Interpretation überhaupt installiert. Derartige hermeneuti-

 Crusius 1747, 1091 f. Scholz 2005, 458 weist darauf hin, dass es sich hier strenggenommen um eine Unterstellung von Konsistenz, oder, noch strenger genommen, um das Verbot einer Unterstellung von Inkonsistenz handelt. Dieser Hinweis ist richtig – auf die Unterscheidung zwischen Kohärenz und Konsistenz wird Abschnitt 3.2.1 ausführlich zu sprechen kommen. Da es an dieser Stelle aber lediglich um grobe und einleitende Bemerkungen geht, lässt sich Crusius Aussage dennoch als relevant verstehen.  Betti 1967, 215.  Japp 1977, 66.  Japp 1977, 66.

3.2 Kohärenz

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sche Kohärenzunterstellungen haben schließlich ihren Weg gefunden bis in die aktuelle Einführungsliteratur zur Literaturtheorie. Arne Klawitter und Michael Ostheimer erklären exemplarisch: „Es gilt, nichts aus einem Text herauslesen zu wollen, was seiner Buchstäblichkeit und seiner Kohärenz widerspricht.“³⁸⁰ Auch Davidson stellt seinem alethisch aufgeladenem principle of charity ein principle of coherence zur Seite: „The Principle of Coherence prompts the speaker to discover a degree of logical consistency in the thought of the speaker.“³⁸¹ Ähnlich wie im Fall der Wahrheitsunterstellung geht Davidson davon aus, dass wir keine Möglichkeit haben, einen Sprecher überhaupt zu interpretieren, sofern wir ihn nicht als jemanden interpretieren, dessen Überzeugungssystem im Großen und Ganzen kohärent ist.³⁸² Auffallend ist, dass in keinem einzigen der zitierten Beispiele näher erläutert wird, was unter Kohärenz genau verstanden werden soll. Davidsons lakonische Definition „Coherence is nothing but consistency“³⁸³ zeigt dieses Defizit deutlich. Schon deshalb, weil Davidsons Reduzierung nicht nur sehr knapp, sondern außerdem falsch ist,³⁸⁴ halte ich es für angebracht, zunächst einige Überlegungen zur Präzisierung des Konzepts „Kohärenz“ anschließen.

 Klawitter, Ostheimer 2008, 40.  Davidson 2001c, 211.  In Davidsons Entwurf radikaler Interpretation rechtfertigt eine Kohärenzunterstellung die Erweiterung der Theorie des Interpreten über die Überzeugungen des Interpretierten. Hat der Interpret eine Reihe von Gelegenheitssätzen interpretiert, kann er mit Hilfe der einer Kohärenzpräsumtion seine Theorie auf Sätze ausdehnen, in denen nicht durch beobachtbares Zustimmungsverhalten darauf geschlossen werden kann, dass sie der Interpretierte für wahr hält (z. B. wenn diese logisch aus den für wahr gehaltenen Sätzen folgen). Vgl. Seide 2010, 98: „Wie man sich leicht überlegen kann, ist der Interpret, um sich seinen Weg in das Meinungssystem des zu interpretierenden Sprechers bis hin zu sehr allgemeinen und theoretischen Annahmen zu bahnen, darauf angewiesen, zahlreiche inferentielle Verbindungen zwischen den verschiedenen Meinungen zu unterstellen.“  Davidson 2001b , 155.  Seide 2010, 97 ff. versucht Davidsons befremdliche Definition dadurch zu erklären, dass er ihm einen unüblichen Konsistenzbegriff zuschreibt. In diesem Sinne reduziere Davidson Kohärenz nicht auf Konsistenz, sondern erweitere Konsistenz zu Kohärenz. Seides Interpretation mag zutreffend sein, allerdings scheint die semantische Erweiterung des Konsistenzbegriffs nicht viel überzeugender als die semantische Reduktion des Kohärenzbegriffs. Wie man es auch dreht: eine Synonymie zwischen den Begriffen Kohärenz und Konsistenz anzunehmen, ist nicht sinnvoll.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

3.2.1 Kohärenz von Systemen und Kohärenz von Texten Wie im Fall Davidsons wird Kohärenz nicht selten an die Begriffe Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit gekoppelt. Die Engführung der Begriffe postuliert eine weitgehende oder gar vollständige Synonymie und täuscht darüber hinweg, dass es Unterschiede im semantischen Gehalt zu berücksichtigen gilt.³⁸⁵ Synonymie besteht lediglich zwischen den Begriffen Konsistenz und Widerspruchsfreiheit, nicht jedoch zwischen den Begriffen Konsistenz und Kohärenz. Mit Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit ist gemeint, dass sich Aussagen nicht widersprechen.³⁸⁶ Die Kohärenz eines Überzeugungssystems oder Textes erschöpft sich jedoch nicht darin, dass in ihm enthaltene Überzeugungen respektive Aussagen nicht widersprüchlich sind, vielmehr erwartet man, dass sie auf die eine oder andere, darüber hinausgehende Weise miteinander verknüpft sind.³⁸⁷ Stellen wir uns zur Veranschaulichung zwei Überzeugungssysteme A und B vor. A enthält die Überzeugungen „Nilpferde sind Säugetiere“, „101 ist die kleinste dreistellige Primzahl“ und „Der 24. Dezember fällt 2013 auf einen Dienstag“. B enthält die Überzeugungen „Alle Menschen sind sterblich“, „Paul ist ein Mensch“ und „Paul ist sterblich“. Sowohl A als auch B sind offensichtlich konsistente Systeme, da sich die in ihnen enthaltenen Überzeugungen nicht widersprechen. Im Fall von A re BonJour 1985, 95 hält die Gleichsetzung von Kohärenz und Konsistenz für einen „serious and perennial mistake in discussing coherence“.  Vgl. Tarski 1965, 135: „A deductive theory is called CONSISTENT or NON-CONTRADICTORY if no two asserted statements of this theory contradict each other, or, in other words, if of any two contradictory sentences […] at least one cannot be proved.“  Bartelborth 1996, 136 illustriert diese Erwartung etwas ausführlicher durch das Beispiel eines „Superempiristen“. Der Superempirist ist dadurch charakterisiert, dass er keinerlei allgemeine Hypothesen (oder gar komplexere Theorien) über die Welt glaubt und lediglich eigene Wahrnehmungsberichte sammelt. Dieser Superempirist verzeichnet nun in seinem Wahrnehmungslogbuch im Sekundenabstand die Sätze „Vor mir steht ein Rolly Royce auf dem Wenzelsplatz“, „Vor mir steht ein Mercedes am Fuße des Empire-State-Building“ und „Vor mir liegt der leere Rote Platz.“ Einem Meinungssystem wie diesem würden wir, so Bartelborth, keine Kohärenz zusprechen, obwohl die in ihm enthaltenen Überzeugungen durchaus logisch konsistent sind: „Ein Meinungssystem, das so aufgebaut wäre, wäre aber offensichtlich kaum kohärent zu nennen. Und das, obwohl es logisch konsistent ist, denn es ist natürlich nicht logisch unmöglich im Sekundenabstand an so weit entfernten Plätzen der Welt zu sein, sondern höchstens physikalisch oder eher verkehrstechnisch unmöglich. Wenn wir davon absehen, daß uns die Aussagen als in hohem Maße widersprüchlich erscheinen, weil wir glauben, niemand könne sich so schnell von einem Platz zum anderen bewegen, bleibt immer noch, daß die Aussagen völlig zusammenhanglos nebeneinanderstehen. Das entspricht keinesfalls unserer Vorstellung eines kohärenten Überzeugungssystems. Schon deshalb verlangen die meisten Erkenntnistheoretiker für Kohärenz mehr als reine Konsistenz. Es bleibt nur offen, worin dieses Mehr bestehen soll.“

3.2 Kohärenz

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sultiert diese Konsistenz jedoch daraus, dass die einzelnen Überzeugungen nichts miteinander zu tun haben (und sich aus diesem Grund auch nicht widersprechen), im Fall von B daraus, dass die einzelnen Überzeugungen in einer gültigen Ableitungsbeziehung stehen. Obwohl das System A keine Widersprüche enthält, ist es im Gegensatz zu B nicht kohärent zu nennen, da die in A enthaltenen Überzeugungen im Gegensatz zu denen in B in keiner Weise positiv zusammenhängen oder untereinander vernetzt sind. Um von Kohärenz sprechen zu können, müssen die Bestandteile des Überzeugungssystems nicht nur nicht widersprüchlich sein, sondern enger zusammenhängen, so dass sich insgesamt ein strukturiertes Gesamtsystem ergibt, und nicht lediglich, wie sich BonJour ausdrückt, eine „helterskelter collection“³⁸⁸ von Überzeugungen wie im Fall A. Statt der bloßen Abwesenheit von Widerspruch ist gewissermaßen eine Anwesenheit von gegenseitiger Verstärkung gefordert. Konsistenz ist dementsprechend als notwendige Bedingung von Kohärenz aufzufassen, wohingegen das Umgekehrte nicht gilt. Jedes Überzeugungssystem bzw. jeder Text, der kohärent ist, ist ebenso konsistent, aber nicht jedes Überzeugungssystem bzw. jeder Text, der konsistent ist, ist gleichzeitig auch kohärent.³⁸⁹ Um ein positives Bild von Kohärenz zu gewinnen ist es nötig, Kohärenz nicht nur von Konsistenz zu unterscheiden, sondern konkret das von Bartelborth angesprochene „Mehr“, also die Art der über Nicht-Widersprüchlichkeit hinausgehenden „Zusammenhänge“ zu bestimmen, die die Kohärenz eines Systems konstituieren sollen. Eine Reihe von Bedingungen ist anzuführen:³⁹⁰ (i) Vernetzungsgrad: Ein System X ist umso kohärenter, je mehr inferentielle Beziehungen (deduktiver und induktiver oder auch abduktiver Art) die Propositionen in X vernetzen (ii) Erklärungsstärke: X ist umso kohärenter, je besser die Erklärungen sind, die X vernetzen (iii) Inkonsistenzgrad: X ist umso kohärenter, je weniger probabilistische Inkonsistenzen in X auftreten (iv) Anomalienbedingung: X ist umso kohärenter, je weniger Erklärungsanomalien in X auftreten

 Bonjour 1985, 93.  Vgl. Foley 1980, 53, der ebenfalls explizit darauf hinweist, dass Konsistenz notwendige Bedingung von Kohärenz sein müsse: „a set of beliefs is coherent only if the propositions believed are consistent.“ Kritisch zu dieser Auffassung im Allgemeinen vgl. BonJour, Sosa 2003, 47, kritisch direkt zu Foleys Auffassung vgl. Wiedemann 2004, 63.  Ich greife in der Folge die Überlegungen in BonJour 1985, 93 – 101, BonJour, Sosa 2003 46 – 48 und Bartelborth 1996, 192– 199 auf. Vgl. hierzu außerdem Wiedemann 2004, 61– 74 und Seide 2010, 224– 235, die ebenfalls auf die zuvor genannten Stellen rekurrieren.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

(v) Subsystembedingung: X ist umso kohärenter, je weniger Subsysteme X zerfällt, die untereinander relativ wenig vernetzt sind Zu (i) Vernetzungsgrad: Der Vernetzungsgrad ist das entscheidende Kriterium für die Zuschreibung oder Erhöhung der Kohärenz eines Systems. Er besteht in der Anzahl inferentieller Beziehungen zwischen den einzelnen Propositionen in X. Diese Propositionen können vernetzt sein durch logische Ableitungsbeziehungen oder durch Schlüsse auf die beste Erklärung. Die inferentiellen Beziehungen innerhalb von X gehen bestenfalls in zwei Richtungen. Einmal sollte eine Proposition p so oft und so gut wie möglich aus X abgeleitet oder erklärt werden können, andererseits sollte p es ermöglichen, so viele Propositionen aus X wie möglich so gut wie möglich zu erklären bzw. abzuleiten. Zu (ii) Erklärungsstärke: Abduktive Schlüsse können sich im Gegensatz zu logischen Ableitungen (die entweder gültig oder ungültig sind) graduell in ihrer Erklärungskraft unterscheiden. Deshalb ist es sinnvoll sie nach ihrer Erklärungsstärke weiter zu differenzieren, wobei bessere Erklärungen offensichtlich mehr zur Kohärenz von X beitragen als schlechtere Erklärungen. Zu (iii) Inkonsistenzgrad: Aussagen über den Inkonsistenzgrad mögen im Lichte der oben angestellten Überlegungen zu Konsistenz und Kohärenz tendenziell trivial erscheinen, da ich Kohärenz als Konsistenz schon voraussetzend verstehe. Die Bedingung des „Inkonsistenzgrades“ zielt jedoch nicht auf Inkonsistenzen in logischer, sondern in probabilistischer Sichtweise ab. BonJour gibt etwa die Nicht-Existenz logischer Inkonsistentenzen als notwendige Bedingung für Kohärenz an, hält es jedoch für möglich, dass ein kohärentes System probabilistische Inkonsistenzen beinhaltet.³⁹¹ Eine probabilistische Inkonsistenz wäre etwa dann gegeben, wenn ein Überzeugungssystem sowohl die Überzeugung enthält, dass p, als auch die Überzeugung, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass p. ³⁹² Derartige Konstellationen verringern die Kohärenz eines Systems. Zu (iv) Anomalienbedingung: Die Anomalienbedingung fordert eine möglichst geringe Zahl von nicht erklärbaren Propositionen innerhalb des kohärenten Systems. Eine Anomalie in diesem Sinn liegt dann vor, wenn irgendeine Proposition p nicht oder nur sehr schwach mit den anderen Propositionen in X vernetzt ist, d. h. wenn keine oder nur sehr schlechte Erklärungen für p vorliegen, andererseits jedoch bestimmte Hinweise (keine Erklärungsrelationen) p nahelegen. Ein

 Vgl. BonJour 1985, S. 95 und BonJour, Sosa 2003, 47.  Zudem ist zu berücksichtigen, dass es Fälle geben mag, in denen „reiche und komplexe Theorien, die einige Inkonsistenzen enthalten, besser sind als andere Theorien, die weniger reichhaltig, aber konsistent sind.“ (Wiedemann 2004, 63). In diesen Fällen ist der Inkonsistenzgrad ebenfalls relevant, um die Kohärenz dieser Theorien beschreiben zu können.

3.2 Kohärenz

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Beispiel wären wiederholt auftretende Beobachtungen, die nicht durch Erklärungsrelationen mit dem Gesamtsystem verbunden werden können.³⁹³ In diesem Sinne lässt sich z. B. die beobachtete Perihelanomalie des Merkur als Erklärungsanomalie innerhalb des Systems der Newton’schen Gravitationstheorie verstehen. Zu (v) Subsystembedingung: Zerfällt X in mehrere Subsysteme, die ihrerseits zwar als kohärent einzuschätzen sein mögen, untereinander jedoch nicht im Sinne von (i) vernetzt sind, schwächt dies ebenfalls die Kohärenz des übergeordneten Gesamtsystems X. Selbst wenn eine Klassifizierung der Subsysteme mit Hilfe der Kriterien (i) bis (iv) ergeben würde, dass sie als solche in einem außerordentlichen hohen Maß als kohärent einzustufen wären, ist es das Ungleichgewicht in der Verteilung inferentieller Beziehungen, das dazu führt, dass der Kohärenzgrad von X dennoch abnehmen muss. X verlöre in diesem Fall – trotz der möglicherweise hohen Anzahl an Vernetzungen aus absoluter Perspektive – die systemische Geschlossenheit, was es im Einzelfall sinnvoller machen würde, von einzelnen kohärenten Subsystemen zu sprechen und nicht von einem kohärenten Gesamtsystem.³⁹⁴ Diese fünf Kategorien respektive Bedingungen bilden einen allgemeinen Rahmen für ein Verständnis von Kohärenz, das in gegebenen Kontexten inhaltlich weiter konkretisiert werden kann. Da für meine Belange in erster Linie Kohärenzunterstellungen im Rahmen philologischer Interpretation von Interesse sind, sollte angestrebt werden, die allgemeinen epistemologischen Überlegungen auf Texte anzuwenden. In einem zweiten Schritt muss die Anwendung dann noch weiter auf die Kohärenz literarischer Texte zugespitzt werden. Allgemeine Überlegungen zur Kohärenz von Texten finden sich in der sprachwissenschaftlichen Subdisziplin der Textlinguistik. Textlinguisten verstehen Kohärenz als notwendiges Kriterium für Textualität. Nur diejenigen Sprachvorkommnisse, die „die Eigenschaft der Kohärenz besitzen“³⁹⁵ werden überhaupt als Texte bezeichnet.³⁹⁶ Dass ein Interpret  Vgl. BonJour 1985, 99 und Seide 2010, 68.  Bartelborth 1996, 197 f. analogisiert diese Überlegungen mit einem Bild von verschiedenen Landkarten: „Man könnte die Subsysteme […] mit getrennten Teillandkarten vergleichen, die nur wenige Berührungspunkte untereinander aufweisen. Wenn sich eine dieser Landkarten als zuverlässig für ihr Gebiet erwiesen hat, gibt uns das nur wenige Hinweise auf die Zuverlässigkeit der anderen. Bei einer umfassenden zusammenhängenden Landkarte haben wir hingegen mehr Anlaß, von einem Passen der Landkarte in einem Gebiet auf ihre allgemeine Brauchbarkeit und damit auf andere Gebiete zu schließen.“  Agricola, Viehweger 1983, 218. Vgl. außerdem Brinker 1985, 12: „Das Merkmal der Kohärenz (im inhaltlichen Sinn) muß somit als grundlegend für den alltagssprachlichen Textbegriff gelten.“

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

im Umgang mit Texten diese Kohärenz speziell dann, wenn sie nicht augenscheinlich gegeben ist, präsumtiv unterstellen muss, bzw. dass fraglich sein könnte, inwiefern der Interpret zu einer derartigen Kohärenzpräsumtion berechtigt ist, wird dabei oft nicht weiter problematisiert, sondern lediglich als Faktum präsentiert: „TextrezipientInnen ‚denken mit‘. Sie ergänzen Textbausteine, wo solche fehlen, sie konstruieren Beziehungen zwischen Textelementen, auch wo diese nicht signalisiert sind, sie ordnen und gliedern die in einem Text gegebenen Informationseinheiten in sinnvoller Art und Weise, auch wenn an der Textoberfläche (aus welchen Gründen auch immer) eine andere Anordnung gegeben ist.“³⁹⁷ Ein großer Teil der Textlinguistik befasst sich dementsprechend eher mit der Kohäsion von Texten und untersucht die grammatischen oder syntaktischen Mittel, durch die einzelne Textbausteine verknüpft werden.³⁹⁸ Insgesamt scheint mir jedoch auch innerhalb der Textlinguistik Konsens darüber zu bestehen, dass die semantische Kohärenz von Texten als noch wichtigeres Kriterium für die Textualität eines Sprachvorkommnisses aufgefasst werden muss. Exemplarisch lässt sich diese Einschätzung durch Aussagen wie die Angelika Linkes, Markus Nussbaumers und Paul Portmanns belegen: „Wenn es also darum geht zu entscheiden, ob wir bei einer Reihe von Sätzen einen zusammenhängenden Text vor uns haben, sind nicht die semantisch-syntaktischen Verknüpfungen, die sich an der Textoberfläche festmachen lassen, ausschlaggebend, sondern es kommt darauf an, ob wir eine zusammenhängende – also eben kohärente – Tiefenstruktur erschließen können.“³⁹⁹ Bevor ich zu der Frage komme, wie diese Erschließung einer textuellen Kohärenzstruktur unter Einbeziehung der ober entwickelten Kategorien (i) bis (v) genau ablaufen kann, möchte ich einige Überlegungen anschließen, die die von der Textlinguistik zu Unrecht vernachlässigte Frage nach der Rechtfertigung von Kohärenzpräsumtionen thematisieren.

 Einige Definitionen in textlinguistischer Forschung schließen neben der Kohärenz auch paralinguistische Mittel (wie z. B. Gestik, Mimik) oder semiotische Einheiten (wie z. B. Symbole, Formeln) in ihre Textbestimmungen ein. Für einen Überblick vgl. Feng 2003, 101 f.  Linke et al. 2004, 256.  Vgl. Heinemann, Viehweger 1991, 76: „[Kohäsion] reflektiert auf die Zusammengehörigkeit von Oberflächeneinheiten eines Textes und beruht auf grammatischen Abhängigkeiten.“ Nach Linke et al. 2004, 245 – 253 fallen unter diese grammatischen Abhängigkeiten die Aspekte Rekurrenz, Substitution, Pro-Formen, Deixis, metakommunikative Textverknüpfung, Tempus und Konnektive (Konjunktionen und Pronominaladverbien).  Linke et al. 2004, 255.

3.2 Kohärenz

125

3.2.2 Philologische Rechtfertigung von Kohärenzpräsumtionen Bei der Frage nach der Rechtfertigung von Kohärenzpräsumtionen haben wir es mit einer Frage nach der Rechtfertigung einer bestimmten Präsumtion zu tun, nicht mit der Frage nach der Rechtfertigung einer allgemeinen Präsumtionsregel.⁴⁰⁰ Im Anschluss an die in 2.4.1 angestellten Überlegungen können wir exemplarisch versuchen, die vier dort entwickelten Kategorien von potentiellen Begründungsstrategien, nämlich (i) transzendentale Begründungen, (ii) induktivprobabilistische Begründungen, (iii) normative Begründungen und (iv) prozedurale Begründungen, auf den speziellen Fall von Kohärenzpräsumtionen in Interpretationsprozessen anzulegen. (i) Transzendentale Begründungen Die Meinung, dass die Unterstellung von Kohärenz Möglichkeitsbedingung von Interpretationsprozessen sein könnte, wird durchaus vertreten. Wenig überraschend läßt sich erneut Davidson als Gewährsmann heranziehen. Wie im bisherigen Verlauf der Überlegungen schon ausführlich thematisiert wurde, versteht Davidson seine Version des principle of charity explizit als Möglichkeitsbedingung für jedwede Art von Interpretation. Teil des principle of charity ist nun unter anderem ein von Davidson so genanntes principle of coherence, für das Davidson dieselbe transzendentale Begründung veranschlagt, wie für die alethische Seite seines principle of charity, das an dieser Stelle sogenannte principle of correspondence: „The Principle of Coherence prompts the interpreter to discover a degree of logical consistency in the thought of the speaker; the Principle of Correspondence prompts the interpreter to take the speaker to be responding to the same features of the world that he (the interpreter) would be responding to under similar circumstances. Both principles can be (and have been) called principles of charity“.⁴⁰¹ Auf eine stark an Davidson erinnernde Weise plädiert Japp dafür, „Kohärenz [als] eine Bedingung der Möglichkeit von Sprache“⁴⁰² aufzufassen. Japp entwickelt seine leider etwas knapp bleibende Argumentation in Reaktion auf Michel Foucault, aus dessen Archäologie des Wissens er folgende Passage zitiert:

 Vgl. Kapitel 2.4. Vgl. außerdem Petraschka 2012, 151– 156 Scholz 1999, 158 f., UllmannMargalit 1983a, 161 f.  Davidson 2001c, 211. Offensichtlich hat Davidson hier die alethische Hälfte des principle of charity radikal an den Vorwurf der mangelnden Sensitivität für epistemische Kontexte (vgl. Kapitel 3.1.1) angepasst. In dieser Form erinnert Davidsons Principle of Correspondence stark an Lewis’ improved principle of charity.  Japp 1977, 68.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Gewöhnlich gewährt die Ideengeschichte dem Diskurs, den sie analysiert, einen Kohärenzkredit. Widerfährt es ihr, eine Unregelmäßigkeit im Wortgebrauch, mehrere unvereinbare Propositionen, ein Spiel von Bedeutungen, die nicht zueinander passen, und Begriffe, die nicht zusammen in ein System gebracht werden können, festzustellen, so macht sie es sich zur Aufgabe, auf einer mehr oder weniger tiefen Ebene ein Kohäsionsprinzip zu finden, das den Diskurs organisiert und ihm eine verborgene Einheit wiedergibt. Dieses Gesetz der Kohärenz ist eine heuristische Regel, eine Verpflichtung im Vorgehen, fast ein moralischer Zwang der Forschung.⁴⁰³

An dieser Stelle ist lediglich durch die Korrelierung einer ideengeschichtlich relevanten Kohärenzpräsumtion mit einer Art „moralische[m] Zwang“ angedeutet, dass Foucault dem benannten Vorgehen kritisch gegenübersteht. Erst im weiteren Verlauf von Foucaults Argumentation wird deutlich, dass er tatsächlich der Ansicht ist, eine Interpretationsweise, die von einer unhintergehbaren Kohärenzpräsumtion ausgeht, müsse zwingendermaßen hinter der von ihm propagierten „archäologische[n] Analyse“⁴⁰⁴ zurückstehen. Der Grund liegt für Foucault darin, dass es in Diskursen „zwei Ebenen von Widersprüchen“⁴⁰⁵ geben soll: Die erste Ebene besteht aus eher uninteressanten Widersprüchen, die „nichts weiter als ein Schillern der Oberfläche sind“.⁴⁰⁶ In diesen Fällen mag eine Kohärenzpräsumtion durchaus ihre Berechtigung haben und den Interpreten in Stand setzen, zu erkennen, dass es sich bei scheinbaren diskursiven Inkohärenzen lediglich um kontingente „Zufälle, Defekte, Versagen“⁴⁰⁷ handelt, die durch einen mittels einer Kohärenzpräsumtion legitimierten, gesteigerten hermeneutischen Aufwand aufgelöst werden können. Dass keine transzendentalen Gründe für eine allgemeine Kohärenzpräsumtion sprechen können, ist darin begründet, dass neben diesen unspektakulären Inkohärenzen laut Foucault noch eine weitere Ebene von Widersprüchen existiert, die fundamentalerer Art ist: „Ein solcher Widerspruch, weit davon entfernt, Erscheinungsform und Zufälligkeit des Diskurses zu sein, weit davon entfernt, das zu sein, wovon man ihn befreien muß, damit er endlich seine entfaltete Wahrheit enthüllt, bildet das eigentliche Gesetz seiner Existenz: denn aus ihm taucht der Diskurs hervor“.⁴⁰⁸ Derartige Widersprüche stehen als „or-

 Foucault 1973, 213. Aus textlinguistischer Sicht gebraucht Foucault den Kohäsionsbegriff hier uneindeutig. Foucault geht es in diesem Zusammenhang nämlich gerade nicht nur um grammatische Verknüpfungsphänomene, sondern um tiefergehende semantische Verweisungszusammenhänge, weshalb er eher einheitlich von Kohärenzprinzipien sprechen sollte.  Foucault 1973, 216.  Foucault 1973, 216.  Foucault 1973, 215.  Foucault 1973, 215.  Foucault 1973, 215.

3.2 Kohärenz

127

ganisatorisches Prinzip, als geheimes und begründendes Gesetz“⁴⁰⁹ hinter Diskursen und bringen diese gewissermaßen erst hervor. Sie sind dementsprechend im Rahmen interpretativer Prozesse nicht auflösbar, weswegen eine Interpretation, die präsumtiv von der Kohärenz des betreffenden Diskurses ausgeht, schon die Grundlage des Diskurses auflöst. Solchen fehlgeleiteten Interpretationen gegenüber zu bevorzugen sei Foucaults Art der archäologischen Analyse, für die diese „Widersprüche weder zu überwindende Erscheinungen, noch geheime Prinzipien, die man herauslösen müßte“,⁴¹⁰ sind. Vor diesem etwas erweiterten Hintergrund wird Japps speziell auf die erste oben zitierte Passage aus der Archäologie des Wissens bezogene Kritik klar. Japp klagt gerade die transzendentale Dimension der Kohärenzunterstellung ein, die Foucault ablehnen will: Aber man sieht sogleich, daß hier die Kohärenz noch nicht radikal genug gedacht ist. Denn es handelt sich gerade nicht um eine heuristische Regel, sondern um eine notwendige, konstitutive Voraussetzung, die immer über Sprache oder Nichtsprache entscheidet. Das Kohäsionsprinzip, das den Diskurs organisiert, befindet sich tatsächlich auf einer noch tieferen Ebene als Foucault angenommen hat. Insofern kann es bei der Behauptung der Kohärenz gar nicht um eine Glättung der tatsächlich im Text vorhandenen Widersprüche gehen, sondern allererst um die Beschreibung des Systems des Bedeutenden,von dem aus sich Widersprüche als Widersprüche erkennen lassen.⁴¹¹

Meines Erachtens ist diese Kritik an Foucault zutreffend. Im Kern sind in ihr zwei Punkte enthalten. Der erste, wie angesprochen nah an Davidsons unter 2.1.2 besprochene Argumentation angelehnte Punkt ist, dass Widersprüche erst vor dem Hintergrund eines gewissen Maßes an Kohärenz als solche erkennbar werden. Die Postulierung fundamentaler, diskursbegründender Widersprüche ändert daran nichts. Ohne eine grundlegende Etablierung eines kohärenten Fundaments kann ein inkohärenter Diskurs nicht als inkohärent begriffen werden, da die Unterscheidung zwischen Kohärenz und Inkohärenz gar nicht erst sinnvoll getroffen werden kann. Der zweite, damit zusammenhängende Aspekt in Japps kritischer Bemerkung scheint mir zu sein (und der Seitenblick auf textlinguistische Forschung stützt diese Annahme), dass ein radikal inkohärenter Diskurs oder Text grundsätzlich überhaupt nicht als Diskurs bzw. Text identifiziert werden kann. In dieser Hinsicht ist die transzendentale Begründung einer Kohärenzunterstellung in Bezug auf Texte (oder Diskurse) noch plausibler als es die transzendentale Begründung einer

 Foucault 1973, 216.  Foucault 1973, 216.  Japp 1977, 68.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Wahrheitsunterstellung sein kann. Während Davidsons auf Wahrheit zentrierte Argumentation möglicherweise auf Fälle der radikalen Interpretation eigeschränkt ist, ist eine Kohärenzunterstellung für Interpretationsprozesse jedweder Art konstitutiv. In anderen Worten: Sobald ein Interpret die Situation radikaler Interpretation überschritten hat und damit sozusagen bereits einen Fuß in der Tür der interpretierten Sprache hat, kann er einen Text, der nur aus falschen Aussagen besteht, durchaus verstehen.⁴¹² Wie ein vollständig inkohärenter Diskurs bzw. Text zu verstehen sein soll ist hingegen nicht ersichtlich, da die Eigenschaft, Diskurs respektive Text zu sein, schon per definitionem ein Mindestmaß an Kohärenz voraussetzt. In diesem Sinn ist Japps Verdikt also zuzustimmen: „Völlige NichtKohärenz dagegen kann nicht verstanden werden; insofern bedeutet sie auch nichts.“⁴¹³ Auf Foucault zurückbezogen heißt das, dass sein Einwand gegen eine transzendentale Begründung einer Kohärenzpräsumtion nicht überzeugen kann. Es ist nicht ersichtlich, wie es möglich sein soll, Inkohärenzen oder Widersprüche auf die von Foucault vorgeschlagene Weise als fundamental bzw. konstitutiv für Diskurse zu verstehen. Dies heißt aber keineswegs, dass faktisch in der Ideengeschichte vorhandene Widersprüche in hermeneutischen Interpretationsprozessen zwingendermaßen aufgelöst und auf eine höhere Kohärenz zurückgeführt werden müssten. Den Streit zwischen der „fixistischen“ Naturbeschreibung Linnés und der „evolutionstheoretischen“ Naturbeschreibung Buffons oder Diderots, den Foucault als Beispiel heranzieht, als Widerspruch in der Weltanschauung zu beschreiben, ist kein Privileg der „archäologischen Analyse“, sondern Aufgabe jeder Interpretation.⁴¹⁴ Dass die Widersprüche der beiden Beschreibungssysteme jedoch als Widersprüche von Beschreibungssystemen beschreibbar sind, ist nur deshalb möglich, da jedes der Systeme, ungeachtet seiner faktischen Richtigkeit, den oben unter 3.2.1 explizierten Kategorien systemischer Kohärenz unterliegt. Linné versucht ebenso gewisse Erklärungsrelationen zu etablieren oder Erklärungsanomalien zu vermeiden wie seine evolutionstheoretischen Gegner – ohne ein gewisses Maß an Kohärenz wäre dementsprechend nicht einmal der sachliche Konflikt erkennbar, den Foucault unaufgelöst konstatieren will. Dies gilt in glei-

 Vgl. in diesem Sinne Hösle 2004, 128: „Understanding something cannot imply holding it to be true, as it is easy to show with transcendental arguments – otherwise, the difference between truth-values would be eliminated (for all intelligible sentences would be true), and the method of apagogical proof that is indispensable to philosophy would break down. The de dicto / de re distinction that Brandom has so impressively advanced, presupposes, for instance, that I can ascribe to someone an identification that I do not share myself.“  Japp 1977, 67.  Vgl. Foucault 1973, 216 ff.

3.2 Kohärenz

129

chem Maß für die Ideengeschichte wie für literarische Texte. Analog lässt sich argumentieren, dass ein konsequent inkohärenter literarischer Text entweder nicht verstehbar, oder nicht einmal als Text erkennbar ist. Meines Erachtens ist eine transzendentale Begründung einer Kohärenzunterstellung im Rahmen interpretativer Prozesse dementsprechend durchaus attraktiv. Die sich hier jedoch unmittelbar stellende, offensichtliche Anschlussfrage ist, wie weit diese Begründung reichen kann. Anders gesagt: Wie viel Kohärenz muss der Interpret dem Interpretandum unterstellen? Dieses bereits auf den mit Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation befassten Teil 4 vorausweisende Problem ist gerade im konkreten Interpretationsvollzug wichtig. Sofern der Interpret aus transzendentalen Gründen dazu angehalten ist, dem betreffenden Interpretandum lediglich ein verschwindend geringes Mindestmaß an Kohärenz zu unterstellen, das nicht mehr aussagt, als dass es sich bei einem bestimmten Interpretandum um einen Text und nicht um kontingentes Sprachwirrwarr handelt, ist für spezifische philologische Interpretationsprozesse nicht viel gewonnen. Die Frage, ob es gerechtfertigt ist, davon auszugehen, dass ein literarischer Text kohärent genug ist, um ihn sinnvoll als Text ansehen zu können, ist in typischen philosophischen oder literaturwissenschaftlichen Interpretationsprozessen nicht relevant. Eher zentral sind Fragen nach konkreteren Kohärenzbedingungen, z. B. ob es angemessen sein kann, ein bestimmtes in einem philosophischen Text enthaltenes Argument als Enthymem oder als fehlerhaft zu interpretieren, oder ob es angemessen sein kann, oberflächlich nicht verknüpfte Gedichtzeilen als einzelne Aspekte eines kohärenten Gesamtbilds zu begreifen. Die Annahme, dass es Möglichkeitsbedingung von Interpretation sein müsse, präsumtiv davon auszugehen, dass jedes Argument oder jede literarische Beschreibung in diesem starken Sinn kohärent sein müsse, ist problematisch. Jede hermeneutische Praxis sollte es erlauben, einem Interpretandum Defizienz – in diesem Fall: Inkohärenz – zuschreiben zu können. Transzendentale Begründungen einer nachsichtigen Kohärenzunterstellung sind dementsprechend als überzeugend charakterisierbar, allerdings primär auf einer sehr basalen Ebene. Die grundsätzliche Annahme eines Mindestmaßes an Kohärenzbeziehungen liefert erst die Rechtfertigung, überhaupt hermeneutische Ressourcen auf ein Interpretandum zu verwenden, für die Rechtfertigung weitreichender und konkreter Kohärenzunterstellungen sind andere Begründungstypen zentraler. (ii) induktiv-probabilistische Begründungen Das Verhältnis von transzendentalen und induktiv-probabilistischen Begründungsstrategien für interpretative Kohärenzunterstellungen sowie deren Geltungsbereich lässt sich anhand der plastischen, von Alan Gabbey vorgebrachten Kritik veranschaulichen:

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

[A] philosopher’s doctrines create problems not only for contemporaries and successors, but often also for his/her own philosophical system. This might seem an obvious point, but it implies, less obviously, that it is not necessarily advisable for the historian or philosopher to attach overriding importance to the presence of inconsistency or incoherence in a philosophical system, nor is it necessarily appropriate to try to remove the blemish through subtle and ingenious exegesis. How many articles have we read that have been devoted entirely to an attempt to remove this or that inconsistency in this or that philosopher! ‘Philosopher X says P in this section of the work, yet he seems to say, or at least comes close to saying, not-P in section such-and-such of the same work: in this paper I offer a reading of both passages that I think will show that the inconsistency is only apparent.’ However, I know of no a priori reason why a given philosophical system should be consistent, though the principle of charity decrees that we work on the initial assumption that the philosopher is presenting us with a harmonious body of doctrine. In any case, the whole of the history of philosophy provides us with abundant a posteriori evidence that no (historically real) philosophical system is in fact consistent. […] Accordingly, the task of the historian […] is to find somehow a middle way between triumphantly detecting inconsistency only to equate it with weakness or failure, and transmuting detected inconsistency with overwrought exegesis into the conceptual harmony that many unaccountably expect of a Great or Favorite Philosopher.⁴¹⁵

Gabbeys Kritik richtet sich wie Foucaults Anmerkungen gegen Kohärenzannahmen, allerdings geht es Foucault, wie wir gesehen haben, um allgemeine diskurskonstitutive Prinzipien, Gabbey hingegen um ganz konkrete Inkohärenzen zwischen den Aussagen P und nicht-P an bestimmten Stellen eines Textes oder eines philosophischen Systems. Auch wenn sich Gabbey selbst dazu nicht explizit äußert, scheint es mir legitim zu vermuten, dass er einer grundsätzlichen und tendenziell schwachen Kohärenzpräsumtion keineswegs so ablehnend gegenüberstehen würde wie Foucault. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass Gabbey für einen interpretativen „Mittelweg“ plädiert, der das Interpretandum weder gegen Inkohärenzen immunisiert, noch entdeckte Inkohärenzen unmittelbar als Schwäche oder Versagen verbucht, und nicht versucht, hermeneutische Interpretation insgesamt durch eine „archäologische Analyse“⁴¹⁶ oder andere Alternativkonzeptionen zu ersetzen. Dementsprechend ist Gabbeys Kritik eher aus

 Gabbey 1997, 73. Gabbey spricht hier zumeist von „consistent“ und „inconsistent“. Der Hinweis, dass ein konsistentes System als „harmonious body of doctrine“ zu beschreiben respektive durch „conceptual harmony“ ausgezeichnet sei, legt jedoch nahe, dass er „consistent“ in einem weiten, eigentlich besser mit „coherent“ zu bezeichnenden Sinn versteht. Ein Überzeugungssystem das konsistent ist, ist allein deshalb noch keineswegs als „harmonious body of doctrine“ zu charakterisieren. Zu Gabbeys Kritik vgl. ebenfalls Spoerhase 2007, 434– 437, der Gabbeys Hinweis im Kontext von allgemeinen Überlegungen zum Abbruch hermeneutischer Prozesse diskutiert und nicht im Kontext speziellerer Überlegungen zu Kohärenzpräsumtionen.  Foucault 1973, 216.

3.2 Kohärenz

131

induktiv-probabilistischer Sicht interessant. Sollte Gabbeys Hinweis, dass „the whole of the history of philosophy provides us with abundant a posteriori evidence that no (historically real) philosophical system is in fact consistent“,⁴¹⁷ zutreffend sein, wäre es unter induktiv-probabilistischen Gesichtspunkten falsch, von einer Kohärenz interpretierter philosophischer Texte bzw. Denksysteme auszugehen – zumindest von einer Kohärenz, die über das transzendental gerechtfertigte Maß hinausgeht.⁴¹⁸ Wenn kein einziges reales philosophisches System als kohärent zu beurteilen ist, ist es offensichtlich sinnlos, anzunehmen, dass die Kohärenz eines Systems wahrscheinlicher ist als seine Inkohärenz. Gabbeys Feststellung ist jedoch in dieser Form nur von einem überzeitlichen und idealen Standpunkt aus zu treffen. Lediglich wenn man den Maßstab eines unfehlbaren Philosophen anlegt, kann ein System absolut kohärent sein, in dem Sinne, dass es durch ein maximales Maß von bestmöglichen Ableitungsbeziehungen verknüpft ist und keinerlei probabilistische Inkonsistenzen, Erklärungsanomalien oder Subsysteme beinhaltet. In einem gegebenen historischen Kontext ist nichts Spektakuläres an der Aussage zu finden, dass kein philosophisches System de facto in diesem idealen Sinn kohärent ist. Die Relativierung bestimmter Inkohärenzen auf die Fehlbarkeit realer menschlicher Autoren vergrößert die Fehlertoleranz und legitimiert die Zuschreibung von Kohärenz auch an nicht-ideale Interpretanda. Gibt man einen idealisierten Kohärenzbegriff auf, ist Gabbeys Kritik deutlich weniger überzeugend und induktiv-probabilistische Überlegungen sprechen deutlich für die Unterstellung von Kohärenz: Die meisten philosophischen oder naturwissenschaftlichen Systeme sind nämlich weitgehend kohärent. Der Versuch, offensichtliche Inkohärenzen interpretativ zu erklären, oder sie als nur scheinbare Inkohärenzen zu erklären, ist dementsprechend keineswegs eine verfehlte Interpretationsstrategie. Zu kritisieren ist sie nur dann, wenn dem Interpreten keinerlei Abbruchkriterien zur Verfügung stehen, d. h. wenn der Interpret immer dazu angehalten ist, im Interpretationsprozess Inkohärenzen zu korrigieren. In diesem Sinn ist Gabbeys Hinweis durchaus wichtig: Es muss sinnvoll möglich sein, jedem Autoren oder Philosophen Fehler oder Inkohärenzen zuzuschreiben, eine durchgängige Apotheose des Interpretandums ist schon deshalb nicht überzeugend, da, wie Gabbey völlig richtig bemerkt, auch die besten Philosophen de facto für einzelne Inkohärenzen oder andere Fehler anfällig sind.

 Gabbey 1997, 73.  Eine basale Form von Kohärenz in den philosophischen Systemen muss auch Gabbey annehmen, da er sie zuallererst als Systeme identifiziert.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

(iii) normative Begründungen Ich denke, dass analog zu den Ausführungen in 2.4.1 auch normative Begründungen für interpretative Kohärenzunterstellungen in einer allgemeinen Form konstruiert werden können. Grundsätzlich davon auszugehen, dass die Überzeugungen anderer Personen in kohärenter Weise zusammenhängen, scheint mir eine Interaktion zwischen Personen zu garantieren, die auch in normativem Sinn besser ist, als eine Interaktionsform, die auf diese Annahme verzichtet oder die Inkohärenz von Überzeugungen unterstellt. Vor allem kantianisch inspirierte Rationalitätstheorien (wie etwa Habermas‘ Diskurstheorie) verstehen die Kohärenz von Überzeugungen qua Kriterium der Rationaltiät eines Agenten als zentral für das Personsein.⁴¹⁹ Auf eine allgemeine Kohärenzpräsumtion zu verzichten, hieße dann möglicherweise gefährden, dass der Interpretierte (als Urheber einer interpretierten mündlichen bzw. schriftlichen Äußerung) in angemessener Weise als Person wahrgenommen wird. (iv) prozedurale Begründungen Auch prozedurale Überlegungen in dem in Kapitel 2.4.1 spezifizierten Sinn sprechen für die präsumtive Unterstellung von Kohärenz in Interpretationsprozessen. Unter einem rein prozeduralen Gesichtspunkt ist die Unterstellung von Kohärenz schon deshalb sinnvoller als die Unterstellung von Inkohärenz, da Inkohärenz eine viel unbestimmtere Eigenschaft ist als Kohärenz.⁴²⁰ Der Inkohärenz unterstellende Interpret weiß nicht einmal genau, was seine Präsumtion überhaupt beinhalten soll, weswegen sie auch wenig aussagekräftig ist. Die Kohärenz eines Interpretandums lässt sich durch die fünf oben vorgeschlagenen Kriterien nachvollziehen, während sich die Inkohärenz eines Interpretandums durch alles Mögliche äußern kann. Es ist außerdem hermeneutisch uninteressant, etwa die allgemeine Inkohärenz der Sätze in einem Text zu unterstellen – die Interpretation des Textes würde zu einer beliebigen Tätigkeit verkommen. Erkenntnisse über die Kohärenz einzelner Passagen hingegen sind nicht nur präziser umrissen, sondern auch hermeneutisch interessantere Einsichten, etwa in dem Sinne, dass wir uns deutlich mehr für die Aussage „Die Wolkenformation dort sieht aus wie ein Krokodil“ interessieren, als für die Aussage „Die Wolkenformation dort sieht nicht aus wie ein Krokodil“.

 Vgl. Steinfath 2001, insbesondere 23 – 29, 368 – 373 und 455 – 459.  Die Alternative einer passiven Nicht-Unterstellung von Kohärenz (im Unterschied zu einer aktiven Unterstellung von Inkohärenz) führt zurück zu der in 2.4.3, Abschnitt (1) zurückgewiesenen These, dass es sinnvoll möglich sei, eine hermeneutische Theorie frei von Präsumtionen welchen Inhalts auch immer anzulegen.

3.2 Kohärenz

133

3.2.3 Philologische Konkretisierung von Kohärenzpräsumtionen Wie sich in 3.2.2 gezeigt hat, ist der Interpret literarischer Texte auf einer basalen Ebene durch eine ganze Reihe von Gründen berechtigt, die Kohärenz des Interpretandums präsumtiv zu unterstellen. Diese Einsicht ist im Kontext interpretationstheoretischer Überlegungen zweifellos signifikant – immerhin wird sie, wenn die obige Argumentation überzeugend ist zu Unrecht – von einer Reihe von Literaturwissenschaftlern und Philosophen bestritten. Die Relevanz für den konkreten Interpretationsvollzug ist allerdings zunächst nur mittelbar, da es mir bislang lediglich um die Fundierung einer sehr grundsätzlichen Form von Kohärenz zu tun war. Um hilfreich für einzelne philologische Interpretationsprozesse sein zu können, muss diese allgemeine Kohärenzpräsumtion konkretisierbar sein. Eine derartige Konkretisierung kann nun nicht allein aufgrund von textinternen Erkenntnissen vollzogen werden, da der Begriff der Kohärenz variabel ist.⁴²¹ Ohne Einbeziehung des soziokulturellen und historischen Kontexts ist nicht abzusehen, welche Konkretisierung die allgemeine Kohärenzpräsumtion erfahren soll. Auch wenn man die fünf oben eingeführten Kohärenzkriterien systematisch als einigermaßen robust ansehen kann, ist allein textintern nicht absehbar, ob in der gegebenen epistemischen Situation der Entstehung des interpretierten Textes etwa die Subsystembedingung generell weniger berücksichtigt, oder ganz besonderer Wert auf den Vernetzungsgrad gelegt wurde. Stattdessen ist eine weitergehende textexterne Konkretisierung nötig, die auf den soziokulturellen und historischen Hintergrund des betreffenden Interpretandums rekurriert. Was das für den Fall der Interpretation literarischer Texte heißt, hat Japp zuteffend formuliert: „Dann zeigt sich, daß die Kohärenz eines barocken Romans verschlungener ist als die Kohärenz eines klassischen Dramas, daß die romantische Kohärenz einen größeren Spielraum der Widersprüche, Sprünge und Brüche zuläßt als die klassische.“⁴²² Japps Hinweis legt nahe, dass man für die angesprochenen Konkretisierungen einer allgemeinen Kohärenzpräsumtion Erkenntnisse literaturhistorischer Bemühungen fruchtbar machen kann. So wäre beispielsweise aus literaturhistorischer Perspektive zu explizieren, was die literarturhistorischen Epoche der Romantik als „bessere Erklärung“ im Sinne der Erhöhung der Erklärungsstärke versteht und wie sich dieses Verständnis von dem unterscheidet, was die literaturhistorische Epoche der Klassik als „bessere Erklärung“ im Sinne der Erhöhung der Erklärungsstärke begreift. Ein romantischer Text wird im Detail auf andere Weise kohärent sein als ein klassischer, beide werden sich jedoch inner-

 Vgl. Hirsch 1972, 240.  Japp 1977, 68.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

halb des durch die unter 3.2.1 eingeführten Kategorien vorgegebenen Rahmens bewegen, d. h. es werden immer Beziehungen im Sinne von 3.2.1 zwischen den einzelnen Textteilen bestehen. Nun ließe sich einwenden, dass Kohärenzunterstellungen – auch wenn es sich um an die jeweilige epistemische Situation angepasste Kohärenzunterstellungen handelt – nur für einen recht geringen Teil der Literatur relevant seien. Man könnte argumentieren, dass sich gerade die Literatur der Moderne durch eine Subversion kohärenter Erzählmuster auszeichne, was dazu führen müsse, das eine Interpretation, die den entsprechenden Texten dennoch Kohärenz unterstellt, in die Irre gehen wird. Michael Titzmann skizziert diesen Einwand im Kontext seiner Überlegungen zu interpretativen Kohärenzunterstellungen auf eine sehr ähnliche Weise: Nun mag unser hypothetischer Lieblingsleser schon anhand von (6) [Kafkas kurzem Prosastück Die Bäume] gegen IR 14 [Interpretationsregel 14: „Die „Text“-Analyse muß davon ausgehen, daß der „Text“ – auf welche Weise auch immer, auf welcher strukturellen Ebene auch immer – eine „logisch-semantische Kohärenz“ aufweist“] mißtrauisch geworden sein. Denn selbst wenn sich, so argumentiert er, im Falle von (6) vielleicht auch der Widerspruch in irgendeiner Weise so auflösen läßt, daß sich eine befriedigende semantische Kohärenz ergibt, so gibt es doch schließlich genügend – zumal auch lyrische – Texte der Moderne, z. B. Vers- oder Prosagedichte etwa Mallarmés oder Rimbauds oder Trakls, die in einem solchen Ausmaß ‚dunkel‘ und ‚inkohärent‘ scheinen, daß wir erstens IR 14 zwar noch postulieren, aber sicher nicht erfüllen können, und daß zweitens unsere strukturalen Verfahren semantischer Analyse, so wie sie sich bisher andeutungsweise abzeichneten, kaum mehr anwendbar sein dürften, und auch wir, somit entgegen unseren theoretischen Erklärungen, hier zu assoziativ-konnotativen Deutungsverfahren zurückkehren müßten.⁴²³

Titzmann weist nach seiner Skizze des möglichen Einwands diesen unmittelbar mit den Worten „Doch hier irrt unser Leser“⁴²⁴ zurück – meiner Einschätzung nach völlig zu Recht. Der Hinweis auf irgendwie „inkohärente“ Texte Kafkas oder „dunkle“ Gedichte Mallarmés, Rimbauds oder Trakls greift nicht weit genug und mißversteht den Gehalt einer hermeneutischen Kohärenzpräsumtion. Die Präsumtion von Kohärenz ist keineswegs gleichbedeutend mit der Unterstellung, dass sämtliche Texte in derselben Weise oder auch nur auf derselben Ebene kohärent sein müssten. Es ist damit nicht einmal angenommen, dass literarische Interpretanda auf der Ebene kohärent sein müssen, auf der normalsprachliche Äußerungen oder nicht-literarische Texte kohärent sind.⁴²⁵ Es soll gar nicht bestritten

 Titzmann 1977, 188.  Titzmann 1977, 188.  Vgl. Titzmann 1977, 188.

3.2 Kohärenz

135

werden, dass Texte der von Titzmann genannten Autoren Kafka, Trakl, Mallarmé oder Rimbaud, oder anderer, noch extremerer Fälle wie Joyce oder Ball in einer bestimmten Hinsicht sehr offensichtlich nicht kohärent sind. Mit dieser Beobachtung ist allerdings nicht gesagt, dass diese Texte in keiner Hinsicht bzw. auf keiner Ebene kohärent sind. Titzmann weist mit Recht darauf hin, dass sich „selbst beim scheinbar ‚dunkelsten‘ und ‚inkohärentesten‘ Text […] immerhin analysieren [lässt], auf welchen Strukturen diese ‚Dunkelheit‘ oder ‚Inkohärenz‘ basiert, d. h. es lassen sich die Verfahren, deren er sich zu ihrer Herstellung bedient, und die sprachlichen (lexikalischen und syntaktischen) Materialien, mit deren Hilfe er sie aufbaut, analysieren.“⁴²⁶ Die Präsumtion von Kohärenz spielt in solchen Fällen insofern eine Rolle, als die Interpretation solcher Texte nicht einfach nur Inkohärenz konstatieren, sondern die Inkohärenz als Datenmaterial verstehen soll, das unter Einbeziehung textexterner Faktoren dazu beitragen kann, eine kohärente Bedeutung auf einer höheren Ebene zu etablieren. Mit anderen Worten: Die Erkenntnis, dass ein Text in einer bestimmten Hinsicht inkohärent ist, kann durch den Nachweis der Kohärenz des Textes in einer anderen Hinsicht expliziert werden.⁴²⁷ Ohne den Interpretanda präsumtiv Kohärenz zu unterstellen, ist bereits unklar, wodurch diese aufwändige hermeneutische Suche nach Kohärenz auf einer höheren Ebene legitimiert sein soll.

3.2.4 Drei Beispiele Wie dies im Einzelfall zu verstehen ist und wie sich allgemeine Kohärenzpräsumtionen an textexterne Faktoren anpassen lassen, lässt sich am besten anhand einiger Beispiele zeigen, die bewusst Texte oder Textausschnitte als Interpretanda auswählen, bei denen die Kohärenz des Textes auf verschiedenste Art und Weise suspendiert zu sein scheint.

3.2.4.1 Franz Kafka: Der Jäger Gracchus Als erstes Beispiel, das auf eine vereinfachte Weise zeigen kann, wie Interpreten Kohärenzunterstellungen nutzen können, um zu sinnvollen Interpretationen literarischer Texte zu kommen, mag der Beginn von Kafkas kurzer Erzählung Der Jäger Gracchus dienen.⁴²⁸ Der Text beginnt wie folgt:  Titzmann 1977, 188.  Vgl. Titzmann 1977, 189.  Auch Dominique Maingueneau wählt in einem Kapitel zu „Kohärenz und Literatur“ Kafkas Erzählung als Beispiel. Vgl. Maingueneau 2000, 192– 194.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus. In der Tiefe einer Kneipe sah man durch die leeren Tür- und Fensterlöcher zwei Männer beim Wein.⁴²⁹

Dominique Maingueneau geht im Kontext seiner leider nur sehr knappen Analyse der Kohärenz literarischer Texte im Unterschied zur Kohärenz nicht-literarischer Texte davon aus, dass in puncto textueller Kohärenz „dem literarischen Diskurs stets besondere Freiheiten zugestanden werden“.⁴³⁰ Den Beginn von Kafkas Erzählung kommentiert er mit dem Hinweis, dass der Zusammenhang der einzelnen Sätze zunächst problematisch erscheinen müsse: „Es gibt hier weder eine klare thematische Progression noch ein erklärtes Hyperthema, noch lexikalische oder pronominale Wiederaufnahme. Zwischen einem Satz und dem nächsten, so scheint es, besteht keinerlei Kontinuität. Obwohl jedoch die Kohäsion problematisch ist, käme man nicht auf die Idee, zu behaupten, hier läge Inkohärenz vor.“⁴³¹ Die interessante, von Maingueneau in der Folge jedoch nicht gestellte Frage ist, wieso wohl kein Interpret des Textes auf die Idee käme, zu behaupten, dass hier ein Fall von Inkohärenz vorliege⁴³² – obwohl, wie von Maingueneau zutreffend bemerkt wird, die Oberflächenstruktur des Textabschnitts so verfasst ist, dass sie keine Belege für die Gegenthese liefern kann. Dass eine global gerechtfertigte Kohärenzpräsumtion nicht durch die Oberflächenstruktur des Textbestands unmittelbar bestätigt wird, führt nicht direkt zu ihrer Aufgabe, sondern zu dem hermeneutisch aufwändigeren Versuch, die Kohärenz des Textes auf einer höheren Ebene zu lokalisieren. Der Interpret kann ausgehend von einer Kohärenzpräsumtion etwa annehmen, dass die Beschreibungen zu Beginn des Jäger Gracchus womöglich von einer bestimmten Erzählinstanz berichtet werden, was nahelegt, dass sie zumindest in der Hinsicht zusammenhängend bzw. kohärent sind, dass sie sich innerhalb des Wahrnehmungshorizonts einer erzählenden Person befinden.⁴³³ Außerdem ist die anaphorische Struktur der Passage auffällig,

 Kafka 2006b, 769.  Maingueneau 2000, 192  Maingueneau 2000, 192.  Maingueneau beschränkt sich dahingehend auf den knappen und wenig informativen Hinweis, dass der Leser die Kohärenz selbst herstelle. (vgl. Maingueneau 2000, 192).  Da über die Fokalisierung zu diesem Zeitpunkt noch keine Aussagen getroffen werden können, mag dieser Horizont sehr weit oder sehr eng sein, was an dieser Stelle aber vernachlässigt werden kann, da für diese Belange auch ein extrem weiter Horizont etwa im Fall einer nullfokalisierten Erzählperspektive eine gewisse Strukturierung liefert.

3.2 Kohärenz

137

was die Sätze zwar nicht direkt grammatisch, aber zumindest stilistisch miteinander verknüpft und die szenische Beschreibung eines insgesamt kohärenten settings andeutet. Ergänzt man zu diesen konkreten Hinweisen noch die Häufung von Begriffen aus einem thematisch zusammenhängenden Wortfeld wie „Quaimauer“, „Denkmal im Schatten“, „Obstverkäufer“, „Blick auf den See“ oder „zwei Männer beim Wein“, scheint die interpretative Hypothese begründet, dass es sich bei den fünf Sätzen zu Beginn des Textes um die Beschreibung ein und desselben Ortes handelt, möglicherweise um ein kleines maritimes Hafenstädtchen am Ufer eines Sees. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird diese Hypothese durch die Nennung der am Gardasee gelegenen Stadt Riva explizit bestätigt werden. Sofern die Kohärenz eines Interpretandums problematisch erscheint – und Maingueneaus oben schon angesprochener Hinweis, dass literarische Texte als Interpretanda hier geradezu notorisch problematisch sind, ist völlig richtig – muss die hermeneutische Strategie des Interpreten darin bestehen, soweit als möglich zu versuchen, den Text als kohärent auf einer höheren Ebene zu erklären. Der Zusatz „soweit als möglich“ ist hier ernst zu nehmen, da es sowohl faktisch möglich sein kann, auf einen Text zu treffen, der in keiner Weise als kohärent beschrieben werden kann, als auch methodologisch wünschenswert ist, einem Text sowohl Kohärenz als auch Inkohärenz zuschreiben zu können. Auf die Kriterien, die zum Abbruch interpretativer Bemühungen führen, werde ich in Kapitel 4 noch eingehen. Dass die Identifizierung von Riva bzw. einer Hafenstadt als Handlungsort in Kafkas Jäger Gracchus keine spektakuläre interpretative Erkenntnis ist, spielt hier keine Rolle.Was das Beispiel deutlich machen sollte, ist die legitimierende Funktion, die global gerechtfertigte Kohärenzpräsumtionen für konkrete interpretative Hypothesen haben. Ohne die Unterstellung, dass der Text trotz fehlender Kohäsion auf sinnhafte Weise zusammenhängen wird, wäre schon nicht erklärbar, wieso ein rationaler Interpret überhaupt gesteigerten hermeneutischen Aufwand auf den Text verwendet. Da der Prozess einer interpretativen Kohärenzherstellung nicht immer so weitgehend problemlos ablaufen wird wie in diesem Fall, ist ein zweites Beispiel sinnvoll, dass darüber hinaus zeigen kann, wie der Mechanismus einer Modifikation und Konkretisierung allgemeiner Kohärenzpräsumtionen ablaufen kann.

3.2.4.2 James Joyce: Finnegan’s Wake Ein anspruchsvollerer Beipielfall ist James Joyce Finnegan’s Wake. Finnegan’s Wake ist ein Text, der aufgrund seiner linguistischen Komplexität und seines enormen Anspielungsreichtums oft als einer der kompliziertesten literarischen Texte überhaupt bezeichnet wird. Auch Davidson äußert sich zu Joyce, er sieht den Interpreten von Finnegan’s Wake in der selben Situation wie seinen berühmt-be-

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

rüchtigten „jungle linguist“, der in der für die radikale Interpretation paradigmatischen Situation versucht, eine vollständig unbekannte Sprache zu lernen.⁴³⁴ Für die Zwecke dieses exemplarischen Seitenblicks soll die erste Seite des notorisch komplexen Texts genügen, an der sich die hier relevanten Aspekte bereits ausführlich deutlich machen lassen. Joyces Text beginnt wie folgt: riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. […] The fall (bababadalgharaghtakamminarronnkonnbronntonnerronntuonnthunntrovarrhounawnskawntoohoohoordenenthurnuk!) of a once wallstrait oldparr is retaled early in bed and later on life down through all christian minstrelsy. The great fall of the offwall entailed at such short notice the pftjschute of Finnegan, erse solid man, that the humptyhillhead of humself prumptly sends an unquiring one well to the west in quest of his tumptytumtoes: and their upturnpikepointandplace is at the knock out in the park where oranges have been laid to rust upon the green since devlinsfirst loved livvy.⁴³⁵

Wie nach diesem Ausschnitt schon deutlich wird, scheint Kohärenz beileibe keine der hervorstechendsten Eigenschaften von Finnegan’s Wake zu sein. Diverse Publikationen der Joyce-Forschung weisen mehr oder minder explizit auf diesen Eindruck mangelnder Kohärenz hin. Roland McHugh spricht von einer „fragmented nature of [the] text“, von Passagen, die „in no special order“, nachgerade „randomly throughout the volume“⁴³⁶ erschienen und laut Joseph Campbell und Henry Morton Robinson sogar scheinbar die „necessities of common logic“⁴³⁷ aufgäben.⁴³⁸ Schon zu Lebzeiten Joyces stieß der Text (bzw. vorab erschienene Auszüge) auf ein geteiltes Echo. Joyces Freude und Anhänger, allen voran Samuel

 Davidson 2005c, 157.  Joyce 1939, 3. Da Absätze, Trennungen etc. im Text meist nicht beliebig, sondern für das Verständnis relevant sind, wird der Text von Finnegans Wake üblicherweise in der Gestalt der 1939 erschienenen Erstausgabe abgedruckt. Die Joyce-Forschung nutzt dementsprechend eine eigene Notation für Seiten und Zeilen der Textzitate. Nach dieser Notation ist die Zitatangabe für die obige Stelle 003.1– 24.  McHugh 1976, 1.  Campbell, Robinson 1944, 13.  Auch die post-strukturalistische Literaturtheorie, speziell in Person von Jacques Lacan, Hélène Cixous, Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Julia Kristeva, hat immer wieder versucht, Finnegan’s Wake dahingehend zu verstehen. Einen Überblick über diese Lektüren bietet Lernout 1990.

3.2 Kohärenz

139

Beckett, sahen sich schon vor der Veröffentlichung dazu genötigt, in einem Aufsatz zu erklären, dass Joyce sich keineswegs dazu entschlossen habe, nach dem Ulyssses bloß noch unzusammenhängenden Unsinn zu verfassen. Vielmehr sei Finnegan’s Wake ein Text, der vom Leser einen zugegeben horrenden hermeneutischen Aufwand erfordere, dann aber durchaus verständlich sei.⁴³⁹ Peter Mahon rät dem Joyce-Leser in einer aktuellen, passenderweise mit A Guide for the Perplexed betitelten Einführung ebenfalls, nicht allzu schnell frustriert aufzugeben und sich auf eine geduldige Lektüre einzulassen.⁴⁴⁰ Dieser allgemeine Ratschlag, der den Text seit Bekanntwerden begleitet, lässt sich meines Erachtens auch als Aufforderung verstehen, eine Kohärenzpräsumtion im Interpretationsprozess nicht vorschnell aufzugeben, sondern diese vielmehr äußerst sorgfältig anzupassen.Was das konkret heißen soll, lässt sich an der zitierten Passage deutlich machen:⁴⁴¹ Schon der erste Satz des Textes wirft eine Reihe von Problemen auf. Zunächst fällt auf, dass er eingerückt ist und nicht mit einem Großbuchstaben beginnt. Es ist

 Vgl. Beckett et al. 1962, 169: „If his latest work presents titanic difficulties it is because of the reader’s insufficient equipment rather than because Joyce has turned to writin gibberish.“ Diese hier ersichtliche per aspera ad astra-Metaphorik ist typisch für die Literatur zu Finnegan’s Wake. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die enorme Mühsal der Interpretation durch einen „unimaginable prize of complete understanding“ (Campbell, Robinson 1944, 7) wettgemacht werde. Exemplarisch ist hierfür schon die Introduction von Joseph Campbells und Henry Morton Robinsons A Skeleton Key to Finnegan’s Wake, das der erste ausführliche Kommentar zum Orginaltext war: „The vast scope and intricate structure of Finnegan’s Wake give the book a forbidding aspect of impenetrability. It appears to be a dense and baffling jungle, trackless and overgrown with wanton perversities of form and language. Clearly, such a book is not meant to be idly fingered. It tasks the imagination, exacts discipline and tenacity from those who would march with it. Yet some of the difficulties disappear as soon as the well-disposed reader picks up a few compass clues and gets his bearings. Then the enormous map of Finnegans Wake begins slowly to unfold, characters and motifs emerge, themes become recognizable, and Joyce’s vocabulary falls more and more familiarly on the accustomed ear. Complete understanding is not to be snatched at greedily at one sitting; indeed, it may never come. Nevertheless the ultimate state of the intelligent reader is certainly not bewilderment. Rather, it is admiration for the unifying insight, economy of means, and more-than-Rabelaisian humor which have miraculously quickened the stupendous mass of material. One acknowledges at last that James Joyce’s overwhelming macro-microcosm could not have been fired to life in any sorcerer furnace less black, less heavy, less murky than this, his incredible book.“ (Campbell, Robinson 1944, 13).  vgl. Mahon 2009, 151.  Die folgenden Überlegungen sollen keine erschöpfende Interpretation der Anfangspassage von Finnegan’s Wake liefern. Dementsprechend gehe ich auf einige Abschnitte auch nur kurz oder gar nicht ein und konzentriere mich auf die hier im Zentrum stehenden Aspekte zur Kohärenz des betreffenden Abschnitts.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

nicht unmittelbar einsichtig, was ein „commodius vicus of recirculation“ sein könnte, genauso unklar ist, wieso davon gesprochen wird, nach Howth Castle zurückzukehren („back to Howth Castle“), obwohl der Text ja eben erst beginnt und noch gar kein setting der Handlung etabliert ist, zu dem man zurückkehren könnte. In der Folge werden die Probleme eher noch größer. Der Sturz Finnegans, der in der christlichen Tradition wohl oft überliefert sein soll („retaled […] through all christian minstrelsy“) wird angesprochen – wobei auch zu dieser Hypothese schon einiges an interpretativem Bemühen nötig ist, da das Wort „retale“ im Englischen in dieser Form nicht existiert. Der folgende Hinweis auf Finnegan’s Sturz wird darüber hinaus von einem eingeklammerten unverständlichen Wordmonstrum begleitet, dessen Funktion zunächst ebenso opak bleibt. Ohne den Bezug zu den aus der Epistemologie entlehnten Kohärenzkriterien überstrapazieren zu wollen, lässt sich in Bezug auf die textuelle Kohärenz der Eingangspassage also zunächst festhalten: Der Vernetzungsgrad der einzelnen Bestandteile des Textes erscheint gering, es lassen sich kaum inferentiellen Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen ausmachen, die mehr sind als oft nur rudimentäre syntaktische Verbindungen – dementsprechend ist auch die Erklärungsstärke sehr niedrig. Außerdem scheint der Text in diverse Subsysteme zu zerfallen, etwa dadurch, dass große Teile in der englischen Sprache, andere Teile in anderen Sprachen verfasst sind respektive aus Neologismen bestehen. Um den Text angemessen verstehen zu können, muss der Interpret versuchen, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Dies wird unter anderem dadurch geschehen, dass er eine allgemeine Kohärenzpräsumtion nicht aufgibt, sondern sie im Lichte der verfügbaren Informationen zunächst zu modifizieren versucht. Um die Parameter der Modifikation bestimmen zu können, ist es sinnvoll, sich anfänglich über den Autor und die Entstehung des Textes zu informieren. Finnegan’s Wake ist ein moderner Text, was ganz allgemein heißt, dass gewisse Abweichungen von traditionell linearen Erzählmustern zu erwarten sind. Die Identifikation von Joyce als Autor wird die dahingehende Sensibilität des Interpreten nicht nur noch weiter erhöhen, sondern auch erste konkret interpretationsrelevante Ergebnisse zeitigen. In den Joyce-Texten The Wandering Rocks und Sirens finden sich nämlich ebenfalls einige fragmentierte Textpassagen, die an anderer Stelle wieder aufgegriffen und fortgesetzt werden. Dies impliziert zumindest die Möglichkeit, den unvermittelten und zusammenhanglosen Beginn des Textes ebenfalls als kohärente Fortsetzung einer anderen Stelle aufzufassen – eine Vermutung, die sich bei vertiefter Lektüre als zutreffend offenbart. Der erste Satz des Textes ist eine Fortsetzung des ebenso unvermittelt abbrechenden letzten Satzes, was dem Text insgesamt eine zyklische Form gibt. Zusammengefügt ist der Schluss- bzw. Anfangssatz lesbar als: „The keys to. Given! A way a lone a last a loved a long the // riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of

3.2 Kohärenz

141

bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs.“ Damit lassen sich weitere Erklärungsbeziehungen etablieren. Da der Text kreisförmig konzipiert ist, ist erklärbar, wieso der Leser „back“ nach Howth Castle gebracht wird – er war in einem vorhergehenden Durchlauf des Zyklus Finnegan’s Wake gewissermaßen schon einmal da. Diese Idee einer zyklischen Konstruktion wird nochmals unterstützt durch die zunächst unklare Formulierung „commodius vicus of recirculation“. Der Ausdruck „recirculation“ greift nicht nur allgemein die Idee der Zirkularität auf, Joyce verwendet den Ausdruck „recirculation“ statt „circulation“ um – wie in der Formulierung „back to Howth Castle“ – den Eindruck eines weiteren Durchlaufs durch den Text zu generieren. Der Ausdruck „commodius vicus“ verweist nicht nur auf den lateinischen Ausdruck für „Dorf“, sondern, in unserem Kontext noch interessanter, auf Giambattista Vico, dessen Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker eine entscheidende Einflussgröße für Joyce war.⁴⁴² Die Referenz ist nicht nur als kontingentes Zitat zu verstehen, sie verstärkt vielmehr erneut die inferentiellen Zusammenhänge (und damit die Kohärenz) der einzelnen Textteile.Vico postuliert nämlich in seiner umfangreichen Untersuchung unter anderem eine kreisförmig verlaufende Geschichte. Ausgehend von einem mythosfixierten Zeitalter schildert Vico den Aufschwung zu einem auf Reflexion basierenden „Zeitalter der Menschen“. Vicos Idee des Fortschritts verläuft allerdings nicht linear weiter, das „Zeitalter der Menschen“ endet durch einen Rückfall in frühere Phasen, aus denen dann ein erneuter Aufschwung möglich ist. Diese zyklische Struktur greift Joyce mit dem Beginn von Finnegan’s Wake auf.⁴⁴³ Auch der in der Folge angesprochene Fall Finnegans lässt sich in eine kohärente Erklärungsbeziehung mit den monströsen Neologismus bringen, der im Text unmittelbar darauf folgt. Joyces Wortschöpfung ist nicht lediglich – wie es zunächst den Anschein haben wird – ein bestenfalls onomatopoetisch interessantes Gebilde. Der Neologismus besteht vielmehr aus einer auf das anfängliche „bababa“ folgenden Aneinanderreihung des Wortes „Donner“ in den Sprachen Irisch, Französisch, Japanisch, Hindi, Deutsch, Griechisch, Dänisch, Schwedisch, Portugiesisch, Rumänisch und Italienisch.⁴⁴⁴ Es besteht eine direkte Erklärungsbeziehung: Finnegans „donnernder“ Fall wird illustriert durch den Ausruf des Wortes „Donner“ in diversen Sprachen.

 Mahon 2009, 150 weist darauf hin, dass sogar Joyce selbst mit seinem Finnegan’s Wake kämpfenden Lesern die Lektüre von Vico ans Herz gelegt hat: „One of the texts that Joyce recommended to readers grappling with the Wake – The New Science by Giambattista Vico“.  Genauer erläutert werden diese Anspielungen auf Vico und dessen Idee der zyklischen Geschichte in Mahon 2009, 150, 153– 155, 163 f. und 166.  vgl. McHugh 1980, 3.

142

3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Schon diese rudimentären Anmerkungen zu den ersten Zeilen von Finnegan’s Wake zeigen, dass auch in äußerst komplexen und augenscheinlich völlig inkohärenten Texten durch einen auf einer Kohärenzpräsumtion beruhenden, gesteigerten hermeneutischen Aufwand eine ganze Reihe von Kohärenzbeziehungen auf höherer Ebene aufgedeckt werden kann.

3.2.4.3 Graham Priest: Sylvan’s Box Das dritte Beispiel soll einen notorischen Extremfall ansprechen, der ganz bewusst offensichtliche Probleme für interpretative Kohärenzpräsumtionen aufwirft. In der Kurzgeschichte Sylvan’s Box von Graham Priest treffen sich der Erzähler Graham und sein Freud Nick in der Wohnung ihres kürzlich verstorbenen Kollegen Richard Sylvan, um dessen intellektuellen Nachlass zu verwalten. Richard hinterlässt eine Menge philosophischer Texte, die der Erzähler mit seinem Freund überarbeiten will, um sie unter Umständen posthum veröffentlichen zu können. Zwischen einem Stapel von Papieren zum Thema parakonsistenter Logik und einem anderen Stapel von Texten zu Meinong trifft Graham schließlich auf eine unscheinbare Schachtel, die mit der Aufschrift Impossible Object versehen ist. Als er sie öffnet passiert folgendes: Carefully I broke the tape and removed the lid. The sunlight streamed thorough [sic, lege: through] the window into the box, illuminating its contents, or lack of them. For some moments I could do nothing but gaze, mouth agape. At first, I thought that it must be a trick of the light, but more careful inspection certified that it was no illusion. The box was absolutely empty, but also had something in it. Fixed to its base was a small figurine, carved of wood, Chinese influence, Southeast Asian maybe. I put the lid back on the box and sat down hard on an armchair, my mental states in some disarray. I focused on the room. It appeared normal. My senses seemed to be functioning properly. I focused on myself. I appeared normal. No signs of incipient insanity. Maybe, I thought, it was some Asian conjuring trick. Gently, I reopened the box and gazed inside. One cannot explain to a congenitally blind person what the color red looks like. Similarly, it is impossible to explain what the perception of a contradiction, naked and brazen, is like. Sometimes, when one travels on a train, one arrives at a station at the same time as another train. If the other train moves first, it is possible to experience a strange sensation. One’s kinesthetic senses say that one is stationary; but gazing out of the window says one is moving. Phenomenologically, one experiences what stationary motion is like. Looking in the box was something like that: the experience was one of occupied emptiness. But unlike the train, this was no illusion. The box was really empty and occupied at the same time.⁴⁴⁵

 Priest 1997, 575 f.

3.2 Kohärenz

143

Diese Szene aus Priests short story thematisiert explizit eine offensichtliche Inkonsistenz. Die vom Erzähler geöffnete Schachtel ist zur selben Zeit leer und nicht leer. Sofern man nicht auf eine zweiwertige Logik verzichten will, ist diese Darstellung logisch widersprüchlich. Wie Priest in den auf die Erzählung folgenden 10 Morals erläutert, will er mit seiner Geschichte eine ganze Menge an Dingen verdeutlichen, unter anderem, dass es logisch unmögliche fiktionale Welten gibt, die sich im ontologischen Status nicht von möglichen Welten unterscheiden sollen, dass es logische Inkonsistenzen in allen möglichen Welten geben könnte (z. B. auch in unserer realen Welt) etc. Priest formuliert mit seiner Erzählung und der gleich mitgelieferten Erläuterung dem eigenen Anspruch nach außerdem einen direkten Angriff auf die Anwendung von als Kohärenzunterstellungen gefassten Varianten des principle of charity: „In particular, anyone who misapplied the principle of charity to interpret the story in a consistent way, would have entirely misunderstood it.“⁴⁴⁶ Priests Erzählung könnte also ein Fall sein, in dem schon mehrfach angesprochene Abbruchkriterien greifen. Sylvan’s Box wäre dann eine Erzählung, bei deren Interpretation der Interpret aufgrund der im Interpretationsprozess gewonnenen Information die Präsumtion von Kohärenz aufgeben muss. Zweitens könnte sogar damit gemeint sein, dass Kohärenzpräsumtionen in Interpretationsprozessen generell verfehlt seien, da ihre Verwendung, wie in diesem Fall, zu „gravierendem Missverstehen“ führen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob Priest nicht sogar diese zweite Lesart vertreten würde, da seine seine etwas polemische Redeweise, dass man in der Interpretationstheorie üblicherweise annehme, ein Text müsse durch irgendwelche Manipulationen oder Taschenspielertricks als konsistent dargestellt werden („It is commonly claimed that an inconsistent fiction […] must be gerrymandered into consistency somehow“⁴⁴⁷), dies durchaus nahelegt. Wie die Überlegungen unter den Abschnitten 2.4.1 und 3.2.2 gezeigt haben, ist Priests Angriff für Kohärenzpräsumtionen an sich aber ungefährlich, da die Revision einer Präsumtion in Einzelfällen nicht die globale Rechtfertigung der Präsumtion tangiert. Selbst wenn Priest mit seiner eigenen Erläuterung der Sachverhalte in Sylvan’s Box Recht haben sollte (was meines Erachtens nicht der Fall ist), stellt die Erzählung immer noch einen keinesfalls für Literatur paradigmatischen, sondern eher abseitigen Einzelfall dar, der keinerlei weitere Auswirkung auf die globale Rechtfertigung von Kohärenzpräsumtionen durch transzenden-

 Priest 1997, 579 f.  Priest 1997, 579.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

tale, induktiv-probabilistische, normative und prozedurale Argumente haben wird. Interessanter ist die schwächere Behauptung, dass der Text einen Einzelfall darstelle, in dem nachsichtige – genauer: Kohärenz unterstellende – Interpretation fehl am Platz sei. An dieser Behauptung ist zunächst einmal wenig Spektakuläres zu finden. Wie schon erläutert ist es methodologisch ohnehin wünschenswert, bestimmte Abbruchkriterien für die nachsichtige Interpretation zu etablieren, um nicht jedem Text die unterstellten Inhalte zuschreiben zu müssen. Meiner Einschätzung nach ist Priests Erzählung jedoch – ungeachtet seiner eigenen Beteuerungen – kein geeignetes Beispiel für einen derartigen Fall. Sein Text scheint mir, wenn man so will, nur auf eine sehr oberflächliche Weise problematisch zu sein. Welches Problem er für die interpretative Präsumtion von Kohärenz aufwerfen will, formuliert Priest im Anschluss an seine Erzählung selbst: It is commonly claimed that an inconsistent fiction must be incoherent, or at least must be gerrymandered into consistency somehow, before one can make sense of it. In the light of this the following can be noted. […] The story above concerns objects and events some of which are inconsistent. The inconsistency is no accident but is essential to the plot. Yet it is a coherent story. There is a determinate plot: not everything happens in the story; and people act in intelligible ways, even when the inconsistent is involved. […] In particular, anyone who misapplied the principle of charity to interpret the story in a consistent way, would have entirely misunderstood it.⁴⁴⁸

An dieser Aussage ist zunächst der unter Abschnitt 3.2.1 schon ausführlich thematisierte Zusammenhang von Konsistenz und Kohärenz erläuterungsbedürftig. Priest fasst Konsistenz offensichtlich nicht als notwendige Bedingung für Kohärenz auf. Wie schon ausgeführt halte ich diese Meinung für falsch. Priests Erzählung zwingt uns außerdem keineswegs dazu, Inkonsistenzen innerhalb kohärenter Systeme zuzulassen. Stattdessen lässt sich das aufgeworfene Problem auf zwei andere Arten lösen. Eine Möglichkeit ist anzuzweifeln, dass man es de facto mit einer logischen Inkonsistenz zu tun hat. Dies lässt sich durch die Annahme eine unzuverlässigen Erzählers erreichen.⁴⁴⁹ Die interpretative Annahme eines unzuverlässigen Erzählers hätte zur Folge, dass Graham keine Schachtel entdeckt hat, die eine Figur enthält und dennoch vollständig leer ist, sondern dass er eben nur glaubt, eine ebensolche unmögliche Schachtel entdeckt zu haben. Anders formuliert: die Geschichte vermittelt, dass die Schachtel leer ist und dass es so scheint, als ob die Schachtel nicht leer ist (oder vice versa). Dies ließe sich als probabilistische In-

 Priest 1997, 579 f.  Auf diese Lesart hat unter anderem Daniel Nolan hingewiesen. Vgl. Nolan 2007, v. a. 669.

3.2 Kohärenz

145

konsistenz verstehen, die auch innerhalb eines kohärenten Systems – oder Textes – auftreten kann. Je unzuverlässiger der Erzähler ist, desto weniger problematisch wird die Inkonsistenz sein, da ein schlichter Irrtum des Erzählers relativ zum Grad der Unzuverlässigkeit immer wahrscheinlicher wird. Was spricht im Fall von Sylvan’s Box für diese interpretative Annahme? Zunächst ist der Erzähler was parakonsistente Logik betrifft gewissermaßen vorbelastet. Er arbeitet sich durch Stapel von Papieren des verstorbenen Philosophenkollegen Richard Sylvan, die sich mehr oder weniger alle um die Möglichkeit von unmöglichen Objekten oder Sachverhalten drehen. Nimmt man die australische Hitze und die zahlreichen Flaschen Wein, die bei der Nachlasssichtung konsumiert werden, hinzu, ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass sich der Erzähler trotz seiner expliziten Beteuerungen, bei bestem Verstand zu sein, schlicht und einfach täuscht. Die Fragen, ob es so etwas wie das Impossible Object aus Priest Erzählung in irgendwelchen möglichen Welten geben mag, oder ob logisch unmögliche fiktionale Welten zumindest vorstellbar sind, ist eine Frage, die der philologische Interpret von Sylvan’s Box nicht beantworten muss. Die Antworten werden von den philosophischen Überzeugungen des Interpreten abhängen. Während der reale Graham Priest die Meinung vertritt, dass logische Widersprüche wahr und irgendwie vorstellbar sein sollen, mag ein konservativerer Logiker mit diesem Hinweis wenig anfangen können. Die Frage nach der Plausibilität einer parakonsistenten Logik oder nach der Wahrheit und Vorstellbarkeit von logischen Widersprüchen ist jedoch zu unterscheiden von der Frage nach der Rechtfertigung von Kohärenzpräsumtionen im Interpretationsprozess. Selbst wenn man den Erzähler unbedingt als verlässlich charakterisieren möchte, lässt sich die Erzählung dennoch als kohärent interpretieren. Man könnte etwa eine These der folgenden Art vertreten: „Der Autor Graham Priest vertritt in seinem Leben als Philosoph abseitige Auffassungen über parakonsistente Logik und die Vorstellbarkeit unmöglicher Welten und liefert hier ein Beispiel, das seine Thesen zu diesen Punkten bestätigen soll. Zu eben diesem Zweck hat er eine Inkonsistenz in die fiktive Welt seiner Erzählung eingebaut.“ Diese Interpretation mag die Aussage implizieren, dass es inkonsistente fiktionale Welten gibt, allerdings nur in dem trivialen Sinn, dass es möglich ist, inkonsistente Behauptungen aufzustellen. Dass solche Behauptungen dann auch innerhalb fiktionaler Texte zu finden sein können, ist ebenso trivial. Damit ist aber noch keine Entscheidung über die Fragen getroffen, ob Inkonsistenzen wie Priests Impossible Object vorstellbar oder dreiwertige Logiken sinnvoll sind.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Priests Behauptung, dass die Erzählung insgesamt „essentially inconsistent“⁴⁵⁰ und trotzdem „a coherent story“⁴⁵¹ sei, ist dementsprechend zu präzisieren. Die Erzählung ist nicht als Ganzes inkohärent, sie enthält lediglich eine Inkonsistenz, die der Interpret aber als kohärenten Bestandteil der Erzählung explizieren kann. Ob Priest konservative Logiker vor ein Problem gestellt, oder die Frage nach der Möglichkeit unmöglicher fiktionaler Welten pointiert aufgeworfen hat, sind andere interessante Fragen, das jedoch nichts mit der Erkenntnis zu tun haben, dass seine Erzählung als kohärent interpretierbar ist. Der philologische Interpret kann das Impossible Object in seine Interpretation aufnehmen, ohne darüber Auskunft geben zu müssen, ob es denn so etwas geben kann, ob so etwas für den menschlichen Geist vorstellbar sein könnte und stattdessen explizieren, wie das Auftreten der als solcher nicht erklärbaren Inkonsistenz im Kontext des gesamten Textes erklärbar ist. Eben dies ist möglich durch eine Interpretationshypothese wie die obige.

3.2.5 Zusammenfassung Im Gegensatz zu einem als Wahrheitsunterstellung konkretisierten Billigkeitsprinzip fällt das Fazit zu einem als Kohärenzunterstellung konkretisierten Billigkeitsprinzip im Kontext der philologischen Hermeneutik positiver aus. Der Begriff „Kohärenz“ lässt sich in Anlehnung an erkenntnistheoretische Überlegungen differenziert darstellen (vgl. 3.2.1) und in dieser differenzierten Form auch auf literarische Texte beziehen. Eine Kohärenzpräsumtion lässt sich in allgemeiner Form durch transzendentale und normative Begründungen rechtfertigen, in einer konreter gefassten Form durch induktiv-probabilistische und prozedurale (vgl. Abschnitt 3.2.2). Da die philologische Interpretation nicht denselben Beschränkungen unterliegt wie etwa die radikale Interpretation, ist es möglich, im Rahmen einzelner Interpretationsprozesse Kohärenzpräsumtionen zu konkretisieren, z. B. durch sozialgeschichtliches oder literaturhistorisches Hintergrundwissen. Wie sich anhand eines exemplarischen Blicks auf kurze Textabschnitte von Kafka, Joyce und Priest zeigt, ist die Rolle einer Kohärenzpräsumtion zentral für die philologische Interpretation der jeweiligen Texte. Gerade weil die Textbeispiele in unterschiedlicher Art und Weise zunächst inkohärent zu sein scheinen, legitimiert erst eine Kohärenzpräsumtion einen gesteigerten hermeneutischen Aufwand und gibt zugleich die Richtung vor, in die die Bemühungen des Interpreten gehen

 Priest 1997, 579 f.  Priest 1997, 579 f.

3.2 Kohärenz

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sollten. Der Interpret sollte so lange wie möglich an der Präsumtion von Kohärenz festhalten und diese wenn möglich modifizieren, anstatt sie vollständig aufzugeben. Selbst in den komplexen Beispielfällen zeigt sich, dass literarische Texte als kohärente Systeme verstanden werden können, auch wenn dies zunächst nicht den Anschein hat. Die Vermutung, dass literarische Texte des Öfteren inkohärent sein könnten, lässt sich damit in einem Sinn präzisieren, den auch Japp nahelegt: „Gebrochen kann wohl die Linearität der Erzählstruktur sein, nicht aber die Kohärenz dessen, was überhaupt zu verstehen ist.“⁴⁵² Japps Hinweis ist im Kern richtig und kann dahingehend erweitert werden, dass in einigen Fällen nicht nur lineare Erzählstrukturen suspendiert sind, sondern andere oberflächliche Kohärenzstrukturen.⁴⁵³ Im Fall Kafkas würde darunter etwa der Zusammenhang einzelner szenischer Beschreibungen fallen, im Fall von Joyce auch linguistische Zusammenhänge oder inferentielle Beziehungen einzelner Syntagmen. Auch auf Priest lässt sich diese Erkenntnis anwenden. Priests Erzählung beinhaltet zwar eine Inkonsistenz, die als solche nicht auflösbar sein mag, was aber wiederum nicht dazu führt, dass die Erzählung insgesamt nicht als kohärente verstanden werden könnte.⁴⁵⁴ Es verhält sich vielmehr so, dass gerade an Stellen, die für den Interpreten unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz zunächst problematisch sind, eine Kohärenzpräsumtion von besonderer Relevanz ist. Trifft der Interpret im Rahmen der philologischen Interpretation eines Textes auf eine solche Stelle, fordert ihn die Präsumtion von Kohärenz gewissermaßen auf, unter weiterem hermeneutischem Aufwand dennoch Kohärenz herzustellen und damit dem Text (bzw. einer speziellen Textpassage) Sinn zu verleihen. Das heißt, dass der philologische Interpret gerade die scheinbaren Inkohärenzen des interpretierten Textes nutzen kann, um die Darstellung des Textes als auf höherer Ebene kohärentes Interpretandum zu plausibilisieren. Diese Konstellation verdeutlicht auch

 Japp 1977, 67.  Außerdem scheint Japps Aussage zu implizieren, dass die Kohärenz „dessen, was überhaupt zu verstehen ist“ überhaupt nie suspendiert sein kann. Diese auch von Titzmann 1977 vertretene Position halte ich nicht für plausibel. Trotz der großen Stärke einer Kohärenzpräsumtion sollte die Möglichkeit bestehen, diese unter bestimmten Umständen aufgeben zu können. Vgl. hierzu detailliert Kapitel 4.  An dieser Stelle ist Priest also zuzustimmen, wenn er selbst über seine Erzählung schreibt: „The story […] concerns objects and events some of which are inconsistent. The inconsistency is no accident but is essential to the plot. Yet it is a coherent story.“ Nicht zuzustimmen ist Priest allerdings bei der Aussage: „In particular, anyone who misapplied the principle of charity to interpret the story in a consistent way, would have entirely misunderstood it.“ Dass die Erzählung eine Inkonsistenz beinhaltet, verhindert nicht eine konsistente Interpretation der gesamten Erzählung, die durch das principle of charity in einer als Kohärenzpräsumtion konkretiserten Form fundiert ist.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Wolfgang Iser, der allgemein „Leerstellen“ in literarischen Texten als „elementaren Ansatzpunkt“ für die Interpretation versteht: Die Leerstellen eines Textes sind nun keineswegs, wie man vielleicht vermuten könnte, ein Manko, sondern bilden einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung. […] Das aber heißt, der Leser wird die Leerstellen auffüllen beziehungsweise beseitigen. Indem er sie beseitigt, nutzt er den Auslegungsspielraum und stellt selbst die nicht formulierten Beziehungen zwischen den einzelnen Ansichten her.⁴⁵⁵

In Isers Bemerkung ist die Herstellung von Kohärenz implizit als interpretative Aufgabe vorhanden. Nicht umsonst konkretisiert Iser die allgemeine Rede von einem Auffüllen von Leerstellen durch den Hinweis, dass dieses Auffüllen durch die Herstellung von „nicht formulierten Beziehungen“ zu bewerkstelligen sei. Gerade die Stellen von Finnegan’s Wake, die zunächst unzusammenhängend erscheinen, lassen sich durch verstärkte hermeneutische Anstrengung als wesentlich für das kohärente Verständnis des Textes explizieren und laden, mit Peter Tepe gesprochen, den Interpreten dazu ein, „den direkt behandelten Aspekt mit einem anderen zu verbinden“.⁴⁵⁶ Fotis Jannidis schlägt in diesem Zusammenhang vor, Abweichungen von der anfänglichen Kohärenzunterstellung – Jannidis spricht allgemeiner von einem an Grice angelehnten „Kooperationsprinzip“⁴⁵⁷ – nicht unmittelbar als Verstoß oder Defizit des Interpretandums aufzufassen, sondern als „Aufträge an den Leser, nach einem neuen Verständnis des Textes zu suchen, das nicht mehr als Verstoß zu sehen ist.“⁴⁵⁸ Das allgemeine Beispiel, das Jannidis gibt, ließe sich in eine Reihe mit den oben gegebenen stellen. Es illustriert Japps schon zitierte Aussage, dass eine Kohärenzverletzung wie die Brechung der „Linearität der Erzählstruktur“ durchaus möglich ist, nicht aber eine Brechung der „Kohärenz dessen, was überhaupt zu verstehen ist.“⁴⁵⁹ Nehmen wir einen Roman, dessen erstes Kapitel eine Handlung mit einigen Figuren wiedergibt, und im zweiten Kapitel finden sich weder Anschlüsse an die Handlung noch an die Figuren wieder. Der Leser kann nun annehmen, daß der Autor wirres Zeug geschrieben hat, und das Buch zur Seite legen, die meisten werden aber vermuten, daß er nicht gegen das narrative Kooperationsprinzip verstoßen hat und nur ihre Annahme revidieren, worin denn

 Iser 1971, 15. Vgl. ebenfalls in diese Richtung argumentierend Japp 1977, 67: „Die Kohärenz kann zum Teil gerade in der reflektorischen oder ironischen Durchbrechung der linearen Erzählstruktur zu finden sein. Diese scheinbare Inkohärenz ist als solche gekennzeichnet und läßt sich folglich in einer konsistenten Interpretation explizieren.“  Tepe 2007, 175.  Jannidis 2004, 55.  Jannidis 2004, 56.  Japp 1977, 67.

3.2 Kohärenz

149

das interessante Geschehen besteht, von dem berichtet werden soll. Es ist dann nicht mehr in der einsträngigen Handlung einiger weniger Figuren zu suchen, sondern in dem Kontrast und dem Gemeinsamen, das durch die Zusammensicht der verschiedenen Handlungsstränge entsteht.⁴⁶⁰

Es lässt sich als grundlegende Konvention des literaturwissenschaftlichen Diskurses festhalten, dass Abweichungen von einer anfänglichen Kohärenzpräsumtion eine Reinterpretation der betreffenden Textpassagen als kohärent auf einer höheren Ebene veranlassen. Die in diesem Zusammenhang freilich zu Recht gestellte Frage nach der „hermeneutischen Legitimität dieser Interpretationsstrategien“⁴⁶¹ lässt sich, wie oben erläutert, durch einen Verweis auf die globale Rechtfertigung einer Kohärenzpräsumtion durch transzendentale, induktiv-probabilistische, normative und prozedurale Überlegungen beantworten. Diese grundlegende und globale Rechtfertigung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein wunder Punkt bestehen bleibt, den Spoerhase in aller Klarheit formuliert: „Da es immer möglich ist, durch eine Reinterpretation oder Rekategorisierung des Interpretationsobjekts das, was zunächst als ein Verstoß des Interpretationsobjekts gegen die einschlägigen Normen narrativer Kommunikation erschien, letztlich doch als normkonform zu konzipieren, stellt sich […] die Frage, unter welchen Voraussetzungen von einer derartigen Reinterpretation bzw. Rekategorisierung abzusehen ist.“⁴⁶² Auch wenn es grundsätzlich gerechtfertigt sein mag, bestimmte, augenscheinlich inkohärente Stellen unter Beibehaltung einer anfänglichen Kohärenzpräsumtion als kohärent zu reinterpretieren (wie in den oben besprochenen Beispielen), muss es bestimmte Kriterien geben, die den Abbruch nachsichtiger Reinterpretation ermöglichen.Wäre dies nicht der Fall, könnte (oder müsste) jeder beliebige Text solange reinterpretiert werden, bis ihm der Interpret schließlich Kohärenz zuschreiben kann. Die Zuschreibung von Inkohärenz wäre nicht länger möglich, da diese immer als Defizienz auf Seite des Interpreten verstanden werden müsste, der nur noch nicht in der Lage war, die versteckte Kohärenz des Interpretandums zu begreifen und angemessen zu explizieren. Dieses Problem stellt sich meines Erachtens aber nicht nur für die Präsumtion von Kohärenz, sondern auch für andere Inhalte des Billigkeitsprinzips, weshalb ich seine Thematisierung noch etwas zurückstellen werde. Bevor ich mich eingehend mit der Frage nach Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation beschäftige, soll erst noch ein Blick

 Jannidis 2004, 55 f.  Spoerhase 2007, 424.  Spoerhase 2007, 424.

150

3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

auf einen dritten Kandidaten für die inhaltliche Präzisierung von Billigkeitspräsumtionen geworfen werden.

3.3 Künstlerischer Wert Eine weitere zu thematisierende inhaltliche Dimension von Billigkeitspräsumtionen im Kontext philologischer Hermeneutik ist künstlerischer Wert. Auf der Annahme, dass es eine – oder unter Umständen sogar die – zentrale Aufgabe von Interpreten literarischer Texte zu sein hat, das Interpretandum so zu interpretieren, dass es als das künstlerisch bzw. ästhetisch wertvollste erscheint, das es sein kann, beruht eine ganze Tradition von Ansätzen, die gemeinhin unter dem Label wertmaximierende Interpretationstheorie firmiert.⁴⁶³

 Stecker 2008, 49 und Davies 2006, 242 etwa sprechen von einer „value-maximizing view“. Die Termini „künstlerischer Wert“ und „ästhetischer Wert“ stehen hier nebeneinander, da sie in der Diskussion gelegentlich synonym gebraucht werden, d. h. dass kaum weniger oft von einer Maximierung ästhetischen Werts gesprochen wird als von einer Maximierung künstlerischen Werts. Stecker 1997, 270 weist neben anderen auf diese ab und an suggerierte Synonymität hin: „‚Aesthetic value‘ is frequently used to refer to whatever is valuable about art, that is, as a synonym of ‚artistic value‘.“ Ich halte diese Begriffsverwendung allerdings für ungenau und werde in der Folge zwischen dem künstlerischen und dem ästhetischen Wert eines Interpretandums unerscheiden. Wie Budd 1995, 4 implizit nahelegt, kann „künstlerischer Wert“ als weiterer Begriff aufgefasst werden: „For you to experience a work with (full) understanding your experience must be imbued with an awareness of (all) the aesthetically relevant properties of the work – the properties that ground the attribution of artistic value.“ Einem Kunstwerk, das möglichst viele „ästhetisch relevante Eigenschaften“ besitzt, kann laut Budd auch künstlerischer Wert zugeschrieben werden. Nach dieser Sichtweise können neben dem ästhetischen Wert prima facie aber auch andere Eigenschaften den künstlerischen Wert eines Artefakts steigern, z. B. die Innovativität, bzw. die gelungene Umsetzung eines Kunstprogrammes, das nicht zwingend ästhetischen Kriterien verpflichtet sein muss – man denke an Marcel Duchamps ready-mades oder die Arbeiten der Wiener Aktionisten Hermann Nitsch oder Rudolf Schwarzkogler. Andere Möglichkeiten der Steigerung künstlerischen Werts können institutioneller Erfolg, Aufnahme in einen Kanon etc. sein. Hierauf weist Lamarque 2009, 258 hin: „If literary works are cultural artifacts grounded by categorial intentions […] inviting and rewarding a distinctive kind of appreciation as works of art, then their value within the norms of the institution wil rest on how well they fulfill conventional expectations. In this sense literary value is internal to and defined by the institution.“ [meine Hervorhebung] Wie wichtig diese nicht-ästhetischen Kriterien für den künstlerischen Wert eines Artefakts sein mögen, ist genauer zu diskutieren, die Annahme einer Synonymie der Begriffe von „ästhetischem Wert“ und „künstlerischem Wert“ leugnet jedoch schon die prinzipielle Möglichkeit eines Artefakts, das ästhetisch wertlos und dennoch künstlerisch wertvoll ist. Das ist eine unzulässige Verkürzung. Für eine vertieftere Diskussion dieser Aspekte vgl. Abschnitt 3.3.2.2.

3.3 Künstlerischer Wert

151

Stecker fasst die Zielsetzung dieser Sichtweise von philologischer Interpretation prägnant zusammen: „On this view, literary interpretation has essentially one central aim: to enhance the aesthetic appreciation of literary works, or to maximize the aesthetic value of our experience of them.“⁴⁶⁴ Dass diese Zielsetzung der Maximierung ästhetischen Werts als Variante nachsichtiger Interpretation zu rekonstruieren ist, die den Inhalt angelegter Billigkeitspräsumtionen eben als ästhetischen Wert versteht, wird von den entsprechenden Theoretikern zumeist nicht explizit deutlich gemacht. Implizit scheint diese Verwandtschaft aber durchaus an einigen Stellen auf. Alan Goldman etwa formuliert den hermeneutischen Kredit, der dem zu interpretierenden Text gegeben werden sollte, salopp als nachsichtige Forderung: „[I]nterpretations of works ought to give them their best run for the money“.⁴⁶⁵ An anderer Stelle spricht er – hier sogar in wörtlicher Anspielung auf ein principle of charity – von einem grundsätzlichen „charitable instinct to view [the] work in the best light possible.“⁴⁶⁶ Jerrold Levinson verortet die Unterstellung ästhetischen Werts ebenfalls im Kontext hermeneutischer Billigkeitsprinzipien. Eine Interpretation sei nicht zuletzt dann „in accord with a principle of charity“, wenn sie sich für Hypothesen entscheide, die ein Werk „artistically better“⁴⁶⁷ erscheinen lassen.

3.3.1 Werkimmanente Interpretation als wertmaximierende Theorie avant la lettre Wie Lutz Danneberg gezeigt hat,⁴⁶⁸ ist eine vergleichbare Idee bereits in der sogenannten werkimmanenten Interpretationstheorie, die als das dominante Interpretationsparadigma in der Germanistik der 50er und frühen 60er Jahre bezeichnet werden kann, zu beobachten. Danneberg rekonstruiert „den ästhetischen Charakter des Interpretandums“⁴⁶⁹ als programmatische Kernannahme werkimmanenter Interpretation und kategorisiert diese Unterstellung als – die Terminologie der angelsächsischen Diskussion aufgreifend – Maximierungsannahme: Die zu wenig beachtete, in ihren Auswirkungen auf die Interpretation kaum zu überschätzende Pointe bei der Annahme zum ästhetischen Charakter besteht darin, daß sie als ein Bündel von Maximierungsannahmen zur Orientierung der Interpretation wirksam wird: Das

     

Stecker 2008, 44. Goldman 1995, 107. Goldman 1995, 114. Levinson 1996b, 179. Vgl. Danneberg 1996. Danneberg 1996, 316.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

literarische Kunstwerk ist im höchsten Maße (zum Beispiel) einheitlich, kohärent, bedeutungsträchtig, gestalthaft. Dem gilt es bei der Interpretation zu folgen, und hierin liegt ihr Ziel, das nach Staiger ‚unumstößlich‘ ist.⁴⁷⁰

Die Annahmen über den zu maximierenden ästhetischen Charakter des Interpretandums sind auch im Kontext werkimmanenter Interpretationstheorie eng mit einem spezifischen Verständnis literaturwissenschaftlicher Textinterpretation verschränkt. Erstens wird in der Betonung des ästhetischen Moments die Besonderheit literaturwissenschaftlicher Interpretation verortet – die Konzentration auf die ästhetischen Qualitäten des Interpretandums wird zu einer Art „Alleinstellungsmerkmal der Literaturwissenschaft“⁴⁷¹ stilisiert. Damit zusammenhängend wird zweitens angenommen, dass die Berücksichtigung textexterner Faktoren nicht Sache der Literaturwissenschaft sein kann, da ein Rekurs auf Kontext, Autorintention etc. mit der zentralen literaturwissenschaftlichen Aufgabe der Maximierung ästhetischen Werts nicht unmittelbar zusammenhängt.⁴⁷² Der werkimmanent verfahrende Interpret ist konsequenterweise in Hinsicht auf die Frage, wie er mit solchen textexternen Faktoren im Rahmen einer Interpretation umzugehen hat, stark festgelegt: Das gesamte zum Interpretandum angesammelte Wissen erfüllt für den werkimmanenten Interpreten in zweifacher Weise eine (lediglich) heuristische Aufgabe: Es soll ihn zu Bedeutungs- und Formelementen der analysierten Dichtung führen, aber auch seine interpretatorische Willkür beschränken. Dieses Wissen ist lediglich subsidiär, es wird zum ‚Hilfsmittel‘, weil der Interpret nicht verpflichtet ist, das vorliegende Wissensangebot unabhängig von dem heuristischen Zugewinn für die Interpretation als relevant zu erachten,

 Danneberg 1996, 316. Dass Danneberg davon spricht, dass davon ausgegangen werde, dass das betreffende Werk unter anderem „im höchsten Maße […] kohärent“ sei, ist dadurch zu erklären, dass Kohärenz hier im Gegensatz zu den Überlegungen unter 3.2 nicht als an sich zentrale Eigenschaft des Interpretandums begriffen wird, sondern vielmehr als Eigenschaft, die insofern interessant ist, als sie dem künstlerischen Wert des Interpretandums zuträglich ist.  Martus 2007, 115.  Vgl. Martus 2007, 115: „Zum anderen meint Staiger, dass in der Konzentration auf diese ästhetischen Qualitäten das Alleinstellungsmerkmal der Literaturwissenschaft zu finden ist und dass Perspektivierungen etwa psychologischer oder sozialhistorischer Art das Ziel der Interpretation verfehlen, weil sie dem Ästhetischen nur eine mittelbare Bedeutung zumessen.“ Ebenso Danneberg 1996, 316: „Die Annahme zur Eigenständigkeit der ’Interpretation’ zerfällt in zwei Teile: Im Anschluß an die ästhetische Auszeichnung des zu interpretierenden Textes wird zunächst angenommen, daß in ihr das Besondere des Gegenstandes und damit das eigentliche Ziel der Beschäftigung mit Literatur liege; dann, daß die ’außerliterarische’ Behandlung dieser Texte – von rassenkundlich infiltrierten bis zu psychoanalytisch ausgerichteten – dieses Ziel von vornherein verfehlen muß.“

3.3 Künstlerischer Wert

153

und weil die Möglichkeit besteht, den Konflikt mit Teilen dieses historischen Kontextwissens zugunsten der Interpretation zu schlichten.⁴⁷³

Sofern textexterne Faktoren in dieser Art und Weise zu einem subsidiären Hilfsmittel degradiert werden, sind interpretative Abwägungen generell zu Gunsten der Unterstellung von ästhetischem Wert zu entscheiden. Im Konfliktfall, in dem etwa die Autorintention für eine Lesart des Textes spricht, nach der einem Text geringerer ästhetischer Wert zugesprochen werden müsste, als nach einer alternativen Lesart, die die Intention des Autors ignoriert, ist der werkimmanent verfahrende Interpret angehalten, sich immer für letztere zu entscheiden.⁴⁷⁴ In der Formulierung Dannebergs: Das ‚wahre‘ dichterische Kunstwerk gilt nach dem ihm zugschriebenen ästhetischen Charakter als ‚vollkommen‘ und ‚makellos‘. Die Ästhetik wird durch Maximierungsannahmen zur Stifterin der principia hermeneutica und damit zur Anleiterin der Interpretation. Die Maximierung vorausgesetzter (ästhetischer) Eigenschaften wird so zum Kriterium für den richtigen Interpretationsweg.⁴⁷⁵

Wie sich schon an der äußerst kritischen Einschätzung der Werkimmanenz ab den späten 60er Jahren ablesen lässt, ist eine so konzipierte Interpretationstheorie mit zumindest drei zentralen Fragen bzw. Fragegruppen konfrontiert. 1) Welches Verständnis von Interpretation steht hinter diesen Theorie? Lässt sich so verstandene Interpretation von Evaluation unterscheiden? 2) Wie ist die Unterstellung von maximalem künstlerischem bzw. ästhetischem Wert zu präzisieren? Worin besteht dieser Wert genau? 3) Wie geht die Werkimmanenz (und die wertmaximierende Interpretationstheorie) mit schlechten Texten um? Wie werden solche Texte zuallererst identifiziert? Gibt es Bedingungen, unter denen einem Interpretandum Defi-

 Danneberg 1996, 317.  Für einen konkreten Beispielfall zweier Interpretationen, die in diesem Sinne miteinander konkurrieren vgl. die Diskussion von Henry James Das Durchdrehen der Schraube in Abschnitt 3.3.2.3.  Danneberg 1996, 318. Analog auch Martus 2007, 115: „Die Annahmen über die Eigenständigkeit des Gegenstands und über die Eigenständigkeit der Beobachtung laufen lediglich darauf hinaus, dass Kontextinformationen allein heuristischen Wert haben und dass im Fall eines Konflikts zwischen einer Deutung, die Kontexte des Werks privilegiert, und einer Interpretation, die das Ästhetische des Werks priviliegiert, die Ausrichtung am Eigensinn der Dichtung ausschlaggebend ist. Anders formuliert: Staiger nimmt sich die ‚Lizenz‘, ‚Kontextwissen‘ zu ‚annullieren‘, wenn die mit ihm unvereinbare Interpretation dem literarischen Kunstwerk zu einem ästhetischen Zugewinn verhilft.“

154

3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

zienz im Sinne von mangelnder ästhetischer Qualität zugeschrieben werden sollte? Welcher Art sind diese Bedingungen? Die werkimmanente Interpretationstheorie beantwortet – stark verkürzt – Fragegruppe 1 mit den Hinweisen auf eine Sonderstellung literaturwissenschaftlicher Interpretation, Fragegruppe 2 mit Hinweisen auf Kriterien wie „Stimmigkeit“,⁴⁷⁶ „Spannungsweite“,⁴⁷⁷ „Situationsangemessenheit“⁴⁷⁸ oder einer Korrespondenz mit „immanenten Anforderungen eines Werkes“.⁴⁷⁹ Dass diese Kriterien problematisch sind, wird schon daran deutlich, dass Wolfgang Kayser dem Werk Kafkas ästhetischen Wert mit dem Hinweis abspricht, dass dessen Texte an mangelnder „Spannungsbreite“ litten.⁴⁸⁰ Frage 3 wird zumeist dadurch beantwortet, dass schlicht geleugnet wird, dass ein Text jemals mit Recht als künstlerisch defizient bezeichnet werden könne.⁴⁸¹

3.3.2 Wertmaximierende Interpretationstheorie in der angelsächsischen Diskussion Da die in der analytischen Ästhetik aktuell vor allem im angelsächsischen Raum geführte Debatte in der Beantwortung dieser Fragestellungen ausführlicher ist als die werkimmanente Theorie, werden sich die folgenden Erläuterungen größtenteils auf aktuellere Diskussionsbeiträge beziehen. Wie schon erwähnt besteht die strukturelle Analogie zwischen der werkimmanenten Interpretationstheorie und den verschiedenen Spielarten wertmaximierender Interpretationstheorie darin,  Vgl. Kayser 1952, 19 f.  Vgl. Kayser 1952, 19 f.  Vgl. Kayser 1952, 19 f.  Vgl. Kayser 1952, 19 f.  Vgl. Kayser 1952, 19 f.  Besonders deutlich etwa bei Burckhardt 1967, 15, der davon ausgeht, dass keine Interpretation dadurch verteidigt oder plausibilisiert werden könne, dass „ich irgenwelche Unstimmigkeiten, die sich zwischen ihr und dem Gedicht ergeben, als Fehler des Dichters beiseite räume. Nicht das Gedicht, sondern meine Deutung ist durch solche Unstimmigkeit in Frage gestellt; und wenn ich trotz ehrlichster Anstrengung zu keiner Deutung gelange, die ganz ’stimmt’ so darf ich nur sagen: ‚Bis hierher hab ich’s gebracht; weiter habe ich nicht gekonnt‘.“ Diese Weigerung, dem Interpretandum jemals Definzienz zuzuschreiben wird von Danneberg 1996, 324 zu Recht als Schwäche der Theorie angesehen: „Die immanente Schwäche dieser Auffassung läßt sich auch so aufzeigen: Sofern das literarische Kunstwerk als Kunstwerk vollkommen ist, ist jede Interpretation, die ihm einen Makel zuschreibt, eo ipso zurückzuweisen.“ Für eine ausführlichere Rekonstruktion der Antworten der werkimmanenten Theorie auf die oben formulierten Fragen vgl. Danneberg 1996, 322– 326.

3.3 Künstlerischer Wert

155

dass dem Interpretandum ein Höchstmaß an ästhetischem Wert unterstellt wird. Diese Kernthese wird auch in der aktuellen Debatte an diversen Stellen nicht weniger eindeutig formuliert als in den Überlegungen der werkimmanenten Theorie. Ronald Dworkin schlägt beispielsweise eine interpretationsleitende „aesthetic hypothesis“ der folgenden Form vor: „[A]n interpretation of a piece of literature attempts to show which way of reading […] the text reveals it as the best work of art.“⁴⁸² Goldman sieht in der Maximierung ästhetischen Werts den „fundamental purpose of interpretation itself“, deren Kernaufgabe darin bestehe „to guide perception toward maximal appreciation and therefore fair evaluation of a work.“⁴⁸³ Die beste Interpretation sei immer diejenige, die den künstlerischen Wert des Interpretandums maximiere: „I have suggested that an interpretive explanation is best when it sucessfully aims to maximize the artistic value of the interpreted work.“⁴⁸⁴ Die eben an die werkimmanente Interpretationstheorie gerichteten Fragen bilden dementsprechend eine sinnvolle Ausgangsbasis auch für die vertieftere Analyse wertmaximierender Interpretationstheorien. Ich werde in der Folge kritisch rekonstruieren, welcher Interpretationsbegriff von diesen Theorien veranschlagt wird, was sich genau hinter der Formulierung „künstlerischer Wert“ verbirgt und in welcher Beziehung die Unterstellung ästhetischen Werts zu anderen nachsichtigen Unterstellungen und zu anderen potentiell interpretationsrelevanten Faktoren wie Autorintention, Kontext, Textbestand etc. steht.

3.3.2.1 Der Interpretationsbegriff in der wertmaximierenden Interpretationstheorie Wie an den bis hierhin angeführten Textstellen schon deutlich wurde, geht die wertmaximierende Interpretationstheorie von der These aus, dass das Kernziel der Interpretation literarischer Texte darin bestehe, die Wertschätzung des Interpretandums so weit wie möglich zu steigern. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Definition des Interpretationssziels oft als Ausgangspunkt dafür verwendet wird, die philologische Interpretation literarischer Texte scharf von der Interpretation alltagssprachlicher Äußerungen abzugrenzen. Das Faktum, dass es sich bei literarischen Texten im Gegensatz zu alltagssprachlichen Äußerungen um Kunstobjekte handle, resultiere, so die Argumentation, in einem verschiedenen Zugang zu den jeweiligen Interpretanda. Davies

 Dworkin 1985, 149.  Goldman 1995, 102.  Goldman 1990b, 207.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

geht etwa davon aus, dass der Interpret literarischer Texte charakteristischerweise ein „value seeker“⁴⁸⁵ sei, dessen primäres Interesse darin bestehe, herauszufinden, „what ways of reading works are valuable“.⁴⁸⁶ Die Interpretation von literarischen Texten unterscheide sich demzufolge von der Interpretation alltagssprachlicher Äußerungen: Weil der Interpret literarischer Texte primär daran interessiert sei, was ein Text potentiell alles bedeuten könne, sei die tatsächliche Bedeutung eines Textes – sofern überhaupt sinnvollerweise von der Existenz einer definitiven Bedeutung literarischer Texte gesprochen werden kann – nicht unmittelbar entscheidend: „The value-maximizing view supposes that the interpretation of literary works differs in its goals from the mode of interpretation applied to ordinary communications, because the focus for literature is on what the work could mean rather than what was meant by it.“⁴⁸⁷ Die wertmaximierende Interpretationstheorie grenzt sich damit von einem Verständnis von Literatur als Kommunikationsform ab.⁴⁸⁸ Sinnvoll sei im Gegenteil ein Verständnis von Literaturinterpretation, „which sees the point of interpretation as concerned with maximizing the work’s artistic value rather than with understanding it as a communication.“⁴⁸⁹ Die Analogisierung der Interpretation von Literatur und Alltagssprache führe zu einer Profanisierung literarischer Texte, die das charakteristischerweise Literatur als Kunst entgegengebrachte Interesse nicht richtig abbilde: If we were interested in artworks as we standardly are interested in other forms of ‚utterance‘ – that is, if our concern was to discover the ‚utterer’s‘ meaning – then, finally, the ‚utterer’s‘ intentions would be determinative, and the conventions used in conveying them would be their servants. Our interest in artworks, I have suggested, does not seem to be of this kind. Our interpretation of art would seem to be guided by a pursuit for enjoyable aesthetic experience.⁴⁹⁰

Ähnlich argumentiert Lamarque, der ebenfalls unmissverständlich klarmacht, dass seiner Ansicht nach im Rahmen der Interpretation literarischer Texte die Dimension der Bedeutung eines Textes weniger zentral ist als die Dimension der Wertschätzung: „The idea I seek to promote is that a central component of literary interpretation properly so called – the part which makes it distinctive of literature

     

Davies 2006, 241. Davies 2006, 225. Davies 2006, 242. Ein derartiges Verständnis vertritt etwa Jannidis 2004. Davies 2006, 122. Davies 1991, 204.

3.3 Künstlerischer Wert

157

– has less to do with meaning as such, or with understanding, than with appreciation of a special kind.“⁴⁹¹ Wertmaximierende Theorien neigen dazu, diese Zielsetzung der Interpretation (potentiell) künstlerisch wertvoller Interpretanda über Gebühr stark zu machen und Wertmaximierung zum alleinigen Ziel interpretativen Umgangs mit Literatur bzw. Kunst im Allgemeinen zu erklären.⁴⁹² Sobald sich die Interpretation von Literatur darauf konzentriere, die Bedeutung des Textes oder einzelner problematischer Passagen nachvollziehbar zu machen, werde die künstlerische Dimension des Textes gezwungenermaßen negiert, da eine plausible Bedeutungszuschreibung nicht unbedingt mit der Zuschreibung maximalen ästhetischen Werts einhergehen müsse. Damit sei aber die übliche Praxis unseres Umgangs mit künstlerischen Artefakten falsch abgebildet: First, if interpretation were simply the disclosure of verbal meaning, then artistic or literary value would be irrelevant, since the most probable meaning of a term or a phrase in context need not be the one that maximizes its artistic value. But critics do ponder which reading makes a poem or novel most interesting or aesthetically best, especially when considering whether to interpret terms or phrases ironically or metaphorically.⁴⁹³

Damit ist ein im Kern richtiger und für die Interpretation literarischer Texte zentraler Sachverhalt angesprochen, der allerdings nicht in eine scharfe Trennung von literaturangemessener Interpretation, die sich auf den künstlerischen Wert des Textes konzentriert und literaturunangemessener Interpretation, die sich auf die Bedeutung des Textes konzentriert, münden sollte. Dass die beiden Dimensionen der Interpretation literarischer Texte mindestens in einer Hinsicht zusammengehören, zeigt sich schon in der Verschränkung von Bedeutung und äs-

 Lamarque 2002, 290. Die Klärung von Bedeutungsfragen versucht Lamarque im Rekurs auf Beardsley 1981, v. a. 401– 403 in die der eigentlichen Interpretation vorgelagerten Tätigkeiten von „explication“ und „elucidation“ auszulagern. Vgl. hierzu Lamarque 2002, 291– 297, außerdem 298: „Appreciation of a literary work, qua literary work, is constituted by […] a reconstruction of the work’s underlying themes; the exercises of explication and elucidation are subordinate to this ulterior aim“.  Vgl. Stecker 2003, 36, insbesondere: „If one thinks there is a single supreme artistic value – such as the provision of aesthetically valuable experiences – then it becomes more plausible to think that art interpretation too has a single dominant or primary aim, which in the case at hand would be to satisfy aesthetic interest in artworks.“ Diese Einschätzung trifft auf Davies eher zu als auf Lamarque, der einen interpretativen Pluralismus grundsätzlich anerkennt: „But I do not believe […] that the „aesthetic“ approach to interpretation is the only acceptable approach, because I am resigned to acknowledge that there are legitimate alternative interpretive aims and that the concept is, and will be, contested.“ (Lamarque 2002, 306).  Goldman 1995, 103.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

thetischem Wert eines Textes, die auch die wertmaximierende Theorie anerkennt. Dass wertmaximierende Interpretation die Bedeutungsdimension literarischer Texte als sekundär begreift, heißt nämlich nicht, dass sie damit auf ein theoretisch unterkomplexes Interpretationsverständnis zurückfällt. Vielmehr ist damit gemeint, dass die Bedeutung eines Textes im Rahmen philologischer Interpretation nicht Selbstzweck sein kann, sondern eine nur mittelbare Rolle spielt, und zwar insofern, als sie neben anderen Kriterien wie der Struktur, dem lautlichen Klang, der Komposition, dem Rhythmus, der Metrik etc. wesentlich zur Steigerung des ästhetischen Werts beiträgt.⁴⁹⁴ Im Bereich der Lyrik mag dieser Beitrag tendenziell kleiner ausfallen als im Bereich der Prosa, von einer Irrelevanz der Bedeutung kann aber nur in Extremfällen – etwa in dadaistischen Lautgedichten – gesprochen werden. Der Unterschied zwischen einer Interpretation, die die Bedeutung eines Textes verstehen will und einer Interpretation, die auf eine gesteigerte Wertschätzung des Textes abzielt, liegt darin, dass Verstehen ohne Wertschätzung möglich ist, Wertschätzung jedoch nicht ohne Verstehen.⁴⁹⁵ Die evaluative Interpretationsdimension als einzig relevante Art von Interpretation auszuzeichnen ist dementsprechend zu radikal, da sie der verstehenden Dimension nachgeordnet ist und da prima facie nicht einsichtig ist,wieso eine Interpretation eines literarischen Textes nicht nach dem Verstehen des Textes enden können sollte, ohne Fragen nach dem ästhetischen Wert des Verstandenen anzuschließen. Womit die wertmaximierenden Ansätze jedoch Recht haben, ist, dass im Fall philologischer Interpretation die Eigenschaft des Interpretandums, ein Kunstwerk zu sein, nicht völlig aus den Augen verloren werden darf. Diese Einsicht hält selbst Kritiker wertmaximierender Theorien wie Stecker dazu an, zuzugestehen, dass zwar eine Unterscheidung zwischen Verstehen und Wertschätzung zu treffen sei, die aber im Bereich der Interpretation künstlerischer Artefakte nicht völlig trennscharf sein müsse: „There is a distinction to be drawn between understanding and appreciation, but it is not hard or fast“.⁴⁹⁶ Typisch sei hier vielmehr eine Mischform: „The typical aim of art interpretation might be best described as appreciative

 Hierauf weist Goldman 1995, 104, ein eher radikaler Vertreter wertmaximierender Interpretationskonzepte, explizit hin: „But certainly words and passages often have a value in a text largely because of the meanings they convey.“  Vgl. Stecker 2003, 75: „One can say with perfect intelligibility, ‚Now I understand what you are saying (doing), but I do not know yet what I think (how I feel) about it.‘ That is a case of understanding without appreciation.“  Stecker 2003, 75. Vgl. ebd.: „Sometimes, perhaps, ‚appreciation‘ can be used to mean understanding.“ Außerdem Stecker 2003, S. 76: „Normally, we do not sharply distinguish between seeking understanding and seeking appreciation. We typically are aiming for both realizing that the latter usually accompanies the former“.

3.3 Künstlerischer Wert

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understanding or an understanding that leads to appreciation.“⁴⁹⁷ Versucht man Steckers wie ich finde überzeugendem Fazit nachzukommen, gilt es dementsprechend vor allem gegen radikale Varianten wertmaximierender Interpretationstheorie zu argumentieren. Darunter sind in der Folge jene subsumiert, die einen Interpretationsbegriff vertreten, der Wertmaximierung als „single dominant or primary aim“⁴⁹⁸ begreift. Gegen diese radikale Sichtweise sprechen mehrere Punkte. Zunächst ist fraglich, ob das von der wertmaximierenden Theorie und speziell von Goldman insinuierte Bild der Praxis unseres Umgangs mit künstlerischen Artefakten wie z. B. literarischen Texten tatsächlich überzeugend ist.⁴⁹⁹ Es ist eine empirisch zu klärende Frage, ob ein wesentlicher Teil philologischer Interpretation – theoretisch legitimiert oder nicht – nicht doch gerade damit beschäftigt ist, dunkle Stellen eines Textes zu erläutern, bzw. eine nicht unmittelbar ersichtliche Textbedeutung offenzulegen, ohne dies nur zu tun, um das übergeordnete „ulterior aim“⁵⁰⁰ der gesteigerten Wertschätzung eines Textes zu befördern. Zu behaupten, dass „unser“ Interesse an Literatur damit nicht richtig abgebildet sei, ist eine Übergeneralisierung, die durchaus legitime und de facto in der literaturwissenschaftlichen Praxis akzeptierte Spielarten von Textinterpretation nicht ausreichend berücksichtigt. Davies‘ und Goldmans Darstellung des Umgangs mit potentiell künstlerisch wertvollen Artefakten wie literarischen Texten ist noch in einer weiteren Hinsicht fragwürdig. Es ist nach meinem Dafürhalten nicht eindeutig klar, dass Interpreten im Allgemeinen tatsächlich versuchen herauszufinden, „which reading makes a poem or novel most interesting or aesthetically best“.⁵⁰¹ Der durch die Superlative angezeigte Maximierungsgedanke scheint mir zu dominant zu sein. Typischerweise versuchen auch Interpreten künstlerischer Artefakte nicht, zu einer maximalen Wertschätzung eines Interpretandums zu gelangen, sondern zu einer angemessenen Wertschätzung des Interpretandums. Damit ist nicht nur die Notwendigkeit eines fundamentalen Bezugs zu dem konkreten Textbestand ein-

 Stecker 2003, 75. Stecker 2003, 35 weist zu Recht darauf hin, dass auch eine Geringschätzung der evaluativen Dimension der Interpretation künstlerischer Artefakte durch einen Verweis auf die Praxis nicht aufgefangen werden kann: „However, there is plenty of critical practice that does not pursue this goal, and aims at other things such as value maximization.“  Stecker 2003, 36.  Vgl. Davies 1991, 204: „Our interest in artworks, I have suggested, does not seem to be of this kind. Our interpretation of art would seem to be guided by a pursuit for enjoyable aesthetic experience.“  Lamarque 2002, 298.  Goldman 1995, 103 [meine Hervorhebungen].

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

geklagt, den auch die wertmaximierende Theorie nicht leugnen würde.⁵⁰² Das Desiderat einer angemessenen Wertschätzung weist außerdem darauf hin, dass Bedingungen definiert werden sollten, unter denen der Interpret von weiteren Versuchen der Steigerung seiner Wertschätzung absehen kann. Jede Interpretationstheorie sollte eine Unterscheidung in Texte, die maximale ästhetische Wertschätzung verdienen, Texte, die mittlere ästhetische Wertschätzung verdienen und Texte, die minimale oder überhaupt keine ästhetische Wertschätzung verdienen, erlauben. Es zeigt sich, dass die Auffassung einer Unterstellung von maximalem ästhetischem Wert erneut am besten präsumtiv aufgefasst werden sollte. Der Interpret ist dazu angehalten, so lange von dem unter Umständen noch nicht offengelegten ästhetischen Wert seines Interpretandums auszugehen, bis er gute Gründe hat, diese Präsumtion aufzugeben.⁵⁰³ Des Weiteren reduzieren sich die Unterschiede zwischen einer von Vertretern wertmaximierender Theorie vorgeschlagenen wertmaximierenden Interpretation und einer auf die Bedeutung eines Textes konzentrierten Interpretation in der Praxis oft auf bloße terminologische Querelen. Ein Blick auf Lamarque und Stecker kann diese Einschätzung verdeutlichen helfen. Lamarque zitiert im Rahmen seiner Verteidigung einer Variante wertmaximierender Interpretation eine Passage aus Robert Alan Donovans Interpretation von Daniel Defoes Roman Moll Flanders, die er als „typical of the literary treatment of a text“⁵⁰⁴ einschätzt.⁵⁰⁵ In diesem Zusammenhang bezieht er sich auf Stecker, um dessen Vorschlag, dass Interpretationen das Verstehen des Textes befördern und sich auf die als „utterance meaning“⁵⁰⁶ präzisierte Bedeutung des Textes beziehen sollten, zu relativieren:

 Dworkin 1985, 150 etwa fordert, dass auch die wertmaximierende Interpretation den Textbestand nicht aus den Augen verlieren darf: „Interpretation of a text attempts to show it as the best work of art it can be, and the pronoun insists on the difference between explaining a work of art and changing it into a different one.“  Die hier virulent werdenede Problematik hermeneutischer Abbruchbedingungen wird ausführlich in Abschnitt 4 diskutiert.  Lamarque 2002, 301.  Die in Lamarque 2002, 301 zitierte Passage Donovans ist die folgende: „There is, for example, the irony in Moll’s assumption that the guilt of her life is her own rather than that of the heartless and venal society that has produced her. There is also an irony of a particularly devastating kind in Moll’s innocent acknowledgement … that an immoral act is nullified if the perpetrator is ignorant of its moral bearings. The agent’s ignorance, in other words, not only excuses him, it changes the nature of his act. … But the fundamental, shaping irony of Moll Flanders is the double vision of the heroine.“ Für die Orginalstelle vgl. Donovan 1966, 403.  Lamarque bezieht sich hier vor allem auf Stecker 1997, dort insbesondere auf 157– 168.

3.3 Künstlerischer Wert

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We could say, following meta-critics like Stecker, that the comments involve “work meaning” and help increase “understanding”. But we are not forced to use this idiom, and as I have suggested, to emphasize meaning, especially “utterance meaning,” in the content of works, is only misleading. What we are brought to understand is not the work’s meaning but its interest. With the help of the critics we come to understand why it is worth reflecting further on the novel. The interpretive comments enhance appreciation on the novel’s literary, or aesthetic, features. These features might be entirely missed by someone who follows the story in all its details and is fully apprised of all the sentence meanings in the work.⁵⁰⁷

Sowohl ein Blick auf die Passage aus Donovans Interpretation von Moll Flanders als auch auf Lamarques daran anschließende Reaktion auf Stecker zeigt, dass das, was sich Lamarque unter Interpretation vorstellt, in der Sache nicht weit von dem entfernt ist, was Stecker selbst unter Interpretation versteht. Der terminologische Antagonismus der Positionen erweist sich in der Umsetzung als kaum mehr zu erkennen. Für Lamarque besteht die Beförderung der Wertschätzung („appreciation“) eines Textes unter anderem darin, dass man herausfindet, welche Mechanismen des Textes das Interesse steigern, vertiefte intellektuelle Auseinandersetzung auslösen oder charakteristische literarische Eigenschaften des Textes sind. Diese und andere von Lamarque unter dem Begriff „appreciation“ subsumierten Eigenschaften sind nun aber Dinge, die auch eine mit der Bedeutung eines literarischen Textes befasste Interpretation berücksichtigen würde.⁵⁰⁸ Stecker selbst, der in einer aktuellen Arbeit auf Lamarques Einlassungen reagiert hat, ist derselben Ansicht: Lamarque virtually gives the game away when he acknowledges that one could say of the interpretations mentioned above that they refer to ‘work meaning and help increase understanding. But we are not forced to use that idiom […]’. No indeed, we can usually find different ways of saying the same thing, but the point is that, since appreciation for Lamarque seems to just consist in finding what is for him the characteristically literary properties (features) of works, he hasn’t marked a clear difference between what he calls ‘appreciations’ and what others call ‘understanding’ or ‘meaning’. In fact, so far, I see no discernible difference in our conception of literary interpretation.⁵⁰⁹

 Lamarque 2002, 302.  Zu dieser Einschätzung kommt auch Stecker 2008, 45, nach einer etwas ausführlicheren Rekonstruktion von Lamarques Verständnis von Wertschätzung: „To appreciate a work of literature for Lamarque is to see how a theme, i. e., a matter of broad human concern, is developed through a plot (incident), a series of recurring images (symbol), character development and a texture of language, to see how these various subordinate elements hang together around such theme, and how the latter provides a raison d’etre for the former.“  Stecker 2008, 46.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf den Interpretationsbegriff in der wertmaximierenden Interpretationstheorie festhalten: Die wertmaximierende Interpretationstheorie trägt einer im Kontext der Interpretation literarischer Texte vollkommen plausiblen Intention Rechnung. Sie legt Wert darauf, dass es sich bei den Interpretanda in paradigmatischen Fällen um Kunstwerke handelt, die auch als solche zu interpretieren und zu wertschätzen sind. Die Behauptung, dass im Rahmen einer angemessenen Interpretation literarischer Texte deren Bedeutungsdimension weitgehend zurückgestellt werden sollte, ist allerdings in dieser Form weder überzeugend noch notwendig. Statt Interpretationsformen, die die Wertschätzung ihrer Interpretanda zu befördern versuchen, strikt von Interpretationsformen, die eher Fragen nach der Bedeutung der Texte zu klären versuchen, zu trennen und dabei letztere als unangemessen zu disqualifizieren, sollte eine umfassende philologische Hermeneutik beide Dimensionen vereinen. Möglich ist dies, sofern man im Anschluss an Steckers Vorschläge philologische Interpretation als „appreciative understanding“⁵¹⁰ oder als „understanding that leads to appreciation“⁵¹¹ begreift und künstlerischen Wert als einen von mehreren Inhalten interpretativer Billigkeitspräsumtionen rekonstruiert, die abhängig von der Zielsetzung spezifischer Einzelinterpretationen unterschiedliche Gewichtung erfahren können. Diese wünschenswerte Konstellation ist allerdings nur dann gegeben, wenn sich nachweisen lässt, dass „künstlerischer Wert“ bzw. „ästhetischer Wert“ sinnvoll als Inhalt von Billigkeitspräsumtionen verstanden werden kann. Diesen Nachweis versuchen die folgende Abschnitte zu erbringen.

3.3.2.2 Was ist ästhetischer Wert? Um eine fundiertere Einschätzung der Frage abgeben zu können, ob eine präsumtive Unterstellung von künstlerischem bzw. ästhetischem Wert auch außerhalb des engen Rahmens wertmaximierender Interpretationstheorie im Rahmen philologischer Interpretation generell eine Rolle spielen sollte (und wenn ja, welche Rolle dies sein kann), ist zu klären, was genau unter dem Terminus „künstlerischer Wert“ bzw. „ästhetischer Wert“ verstanden werden sollte. Da die wertmaximierende Interpretationstheorie davon ausgeht, dass einem Artefakt hoher künstlerischer Wert in erster Linie dann zugesprochen wird, wenn ihm eine Reihe von ästhetisch relevanten Eigenschaften – und damit ein hoher ästhetischer Wert – zukommt, werde ich mich in der Folge auf die Frage nach dem Gehalt von „ästhetischem Wert“ beschränken. Leider ist der Begriff „ästhetischer Wert“, der,

 Stecker 2003, 75.  Stecker 2003, 75.

3.3 Künstlerischer Wert

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wie unter 3.3 bereits angedeutet, oftmals auch noch zu Unrecht synonym mit „künstlerischem Wert“ gebraucht wird,⁵¹² ebenfalls problematisch. Stecker ist der Ansicht, dass der Begriff „ästhetisch“ einen doppelten Nachteil habe: „[T]he term ‚aesthetic‘ has the double disadvantage of being a technical expression, having been introduced into philosophy in the eighteenth century, but lacking the chief virtue of technical terms: a clear and generally agreed upon meaning.“⁵¹³ Um das übergeordnete Interesse an den Grundlagen philologischer Hermeneutik nicht aus den Augen zu verlieren, werde ich mich in der folgenden Rekonstruktion einiger einschlägiger Explikationsversuche auf die weniger allgemeine Frage konzentrieren, worin genau der ästhetische Wert von literarischen Texten begründet sein könnte. Diese Einschränkung erlaubt es, einige Diskussionsstränge auszublenden, die sich in erster Linie auf die Bereiche von bildender Kunst oder Malerei bzw. von Musik beziehen, im Fall von Literatur aber nur von untergeordneter Relevanz sind. Malcolm Budd versucht die Frage nach dem ästhetischen Wert von Artefakten zunächst dadurch einzugrenzen, dass er eine ganze Reihe von Funktionen auflistet, die Kunst wertvoll machen könnten, ohne sie dabei jedoch im engeren Sinne ästhetisch wertvoll zu machen: So a work of art can have many different kinds of value – a cognitive value, a social value, an educational value, a historical value, a therapeutic value; it can possess as many kinds of value as there are points of view from which it can be evaluated.⁵¹⁴

Der ästhetische Wert sei davon grundlegend zu unterscheiden: „What an artist tries to do is to create a product with a distinctive kind of value. She attempts to make something that is valuable as art, or, more specifically, as art of such-andsuch a kind. I shall call this value ‚artistic value‘ or ‚the value of a work of art as a work of art‘.“⁵¹⁵ Budd versteht diesen „Wert eines Kunstwerks als Kunstwerk“ als intrinsisch: „My claim is that the value of a work of art as a work of art is intrinsic to the work in the sense that it is (determined by) the intrinsic value of the experience the work offers“.⁵¹⁶ Jemand, der ein Buch deshalb wertschätzt, weil es den wa-

 Zur Unterscheidung von künstlerischem und ästhetischem Wert vgl. Anmerkung 463.  Stecker 1997, 270.  Budd 1995, 1.  Budd 1995, 1 f. Budd spricht hier nicht von ästhetischem Wert, sondern von künstlerischem Wert („artistic value“). Die Unterscheidung zwischen den beiden Termini ist jedoch auch bei Budd nicht trennscharf. Tendenziell fallen bei Budd ästhetischer und künstlerischer Wert zusammen, da er den in Anmerkung 463 angesprochenen Möglichkeiten, ein Artefakt gleichzeitig als künstlerisch wertvoll und ästhetisch wertlos zu begreifen, keine Aufmerksamkeit zuwendet.  Budd 1995, 4.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

ckeligen Schreibtisch ausbalanciert, oder jemand, der (um ein Beispiel aus Budds Liste aufzugreifen) Literatur deshalb schätzt, weil ihre Lektüre die Nerven nach einem anstrengenden Arbeitstag in therapeutischer Art und Weise beruhigt, misst Literatur einen instrumentellen Wert zu. Es schätzt die Texte als Mittel zum Zweck, als Balancehilfe oder als therapeutisches Medium, nicht aber als Kunstwerke. Dementsprechend, so Budd, tragen all diese nur aus instrumenteller Perspektive interessanten Funktionen von Literatur nicht zu ihrem ästhetischen Wert bei, der lediglich durch den intrinsischen Wert des betreffenden Artefakts definiert sein soll. Wichtig ist, dass sogar der Wert des kognitiven Gehalt eines Textes („cognitive value“) nicht als intrinsisch wertvoll und damit nicht als zuträglich für den ästhetischen Wert des Kunstwerks verstanden wird. Wäre das der Fall, müsste Literatur laut Budd zu einem austauschbaren Medium werden: The value of a poem as a poem does not consist in the significance of the thoughts it expresses; for if it did, the poem could be put aside once the thoughts it expresses are grasped. You grasp what matters in philosophical argument, a treatise on economics, a school report, if you can express in other words the thoughts contained in these texts. You then have no need of the texts, of the words in which the thoughts were originally formulated. But what matters in poetry is the imaginative experience you undergo in reading the poem, not merely the thoughts expressed by the words of the poem; […] [I]t is never the sole object of poetry as poetry to convey a message; rather, the function of a poem as poetry is that it itself should be experienced, which is to say that its function is to provide an experience that cannot be fully characterized independently of the poem itself.⁵¹⁷

 Budd 1995, 83 f. Budds Aussage ist im ersten Teil stärker als im zweiten Teil. Zunächst wird nahegelegt, dass der intrinsische Wert nicht in der Bedeutung begründet liege („does not consist“), später heißt es, es sei nicht allein das Ziel eines Gedichts, eine Aussage zu machen („never the sole object“). Sofern Budd mit seiner nicht ganz eindeutigen Aussage lediglich darauf hinweisen will, dass eine bloße Paraphrase nicht ausreicht, um den ästhetischen Wert eines Gedichts interpretativ zu erschließen, ist ihm durchaus zuzustimmen. Nicht zuzustimmen ist Budd jedoch, wenn er darauf hinaus will, dass die Bedeutung der im Gedicht gemachten Ausagen keinen Beitrag zu dem ästhetischen Wert des Gedichts machen können soll. Vgl. ähnlich Kieran 2001, 301: „Lord of the Flies may illustrate the Hobbesian nature of mankind but if this was why we valued such works as art, then surely they would be equally replaceable by works of philosophy or psychology that articulated such views. Indeed two art works may afford the same cognitive insight, and yet one may be poorly and clumsily written while the other’s poetic imagery is beautiful, complex and appealing. The difference in artistic value of the two works as art cannot be a cognitive matter. The cognitivist is confusing what art may incidentally illustrate with what its distinctive value is, which concerns its aesthetic aspect.“ Stecker 2010, 229 sieht hinter diesen Ausführungen primär eine (unbegründete) Angst, dass Kunst in ein Konkurrenzverhältnis mit anderen Disziplinen oder Kontexten gerückt werden könnte: „[F]ear, in particular, that the valuable properties artworks offer could be offered by other things. If so, it is

3.3 Künstlerischer Wert

165

Dass der intrinsische Wert eines Gedichts nicht in der Bedeutung der ausgedrückten Gedanken liegen kann („[t]he value of a poem as a poem does not consist in the significance of the thoughts it expresses“), ist lauf Budd darin begründet, dass es Erfahrungen geben soll, die unmittelbar und unablöslich an den Text geknüpft sind und einzig und allein diesem Text zukommen. Kognitiver Gehalt liege außerhalb derartiger Erfahrung und sei dementsprechend als instrumenteller Wert von dem intrinsischen Wert eines Textes zu unterscheiden. Sofern man Budds Argumentation folgt, ist für einen Interpreten im Umgang mit einem literarischen Text eine Grundsatzentscheidung zu treffen. Entweder er konzentriert sich als Hermeneutiker auf den kognitiven Gehalt des Textes und vernachlässigt damit den ästhetischen Wert, der nicht instrumentell sondern intrinsisch ist, oder er folgt den Anleitungen wertmaximierender Theorie und versucht, den Text so darzustellen, dass ihm maximaler ästhetischer Wert zukommt. Es scheint sich mithin um zwei verschiedene Formen des interpretativen Zugangs zu literarischen Texten zu handeln. Diese Trennung ist in ihrer strikten Form jedoch nicht zwingend, vor allem deshalb, weil Budds Argumentation nicht stichhaltig ist. Gerade durch die Analyse interpretativer Billigkeitsprinzipien zeigt sich, dass es strukturelle Analogien zwischen Hermeneutik und Wertmaximierung gibt, die es erlauben, auch den Ansatz der wertmaximierenden Interpretationstheorie unter die philologische Hermeneutik zu subsumieren. Ich werde versuchen zu zeigen, dass der ästhetische Wert eines Textes sich nicht nur aus intrinsischen Eigenschaften erklärt, sondern dass vielmehr auch ein „cognitive value“⁵¹⁸ und die von einem Text ausgedrückten Gedanken („the thoughts it [the text] expresses“⁵¹⁹) die Zuschreibung ästhetischen Werts fundieren. Nehmen wir also Budds Unterscheidung zwischen dem intrinsischen Wert und dem instrumentellen Wert literarischer Texte genauer in Augenschein. Um sein Verständnis von instrumentellem Wert zu etablieren, erweitert Budd seine Überlegungen zunächst auf die Erfahrung („experience“), die man im Umgang mit Kunstwerken macht, und die Effekte („effects“), die diese Erfahrungen zeitigen: „My claim therefore implies that the instrumental value of a work of art, its beneficial or harmful, short- or long-term effects or influence, either on a given person or people in general – where the effects are consequences of the experience and not elements or aspects of the experience itself – is not the value of the work of art as a work of art.“⁵²⁰ Es ist nicht leicht zu sehen, wie diese Unterscheidung genau

conceivable that these other things might do a better job at offering these valuable properties, and thus art could be replaced, superseded by these other things.“  Budd 1995, 1.  Budd 1995, 83 f.  Budd 1995, 5.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

aussehen soll. Da Budd selbst kein Beispiel angibt, versuchen wir seine Unterscheidung an dem oben bemühten Entspannungs-Leser zu verdeutlichen. Der an dem instrumentellen (hier: an dem therapeutischen) Wert von Literatur interessierte Leser macht durch seine Lektüre nach einem stressigen Arbeitstag eine bestimmte Erfahrung, die wiederum die Konsequenz eines beruhigenden Effekts auf ihn hat. Die Krux für Budd ist, dass der beruhigende Effekt eine Folge der Erfahrung ist („where the effects are consequences of the experience“⁵²¹) und nicht ein Bestandteil der Erfahrung selbst („not elements or aspects of the experience itself“⁵²²). Wäre der Effekt Teil der Erfahrung selbst, könnte von einem intrinsischen Wert der Erfahrung gesprochen werden, welcher wiederum einen intrinsischen Wert des Textes bedingen würde: „So a work of art is valuable as art if it is such that the experience it offers is intrinsically valuable;“⁵²³ Um diese Differenzierung – auf deren Plausibilität ich gleich zu sprechen kommen werde – griffiger zu machen, ergänzt Budd zwei „considerations“,⁵²⁴ die es leichter machen sollen, seiner Argumentation zu folgen. Hier ist die erste: The first is, that many of what are thought of as benefits of the experience of art are intrinsic to the experience, not merely products of it. The experience a work of art offers can involve the invigoration of one’s consciousness, or a refined awareness of human psychology or political or social structures, or moral insight, or an imaginative identification with a sympathetic form of life or point of view that is not one’s own; it can be beneficial in these and countless other ways. But since such benefits are aspects, not consequences, of the experience the work offers, the irrelevance of the actual effects of the experience to the work’s artistic value does not imply the irrelevance of these kinds of benefits. On the contrary, such benefits contribute to making the experience intrinsically valuable and partly constitute the ways in which it is so.⁵²⁵

Die Gründe, aus denen der Gewinn („benefit“) einer moralischen Einsicht („moral insight“) oder einer verfeinerten Auffassungsgabe für die Psychologie des Menschen („a refined awareness of human psychology“) direkte Bestandteile einer Erfahrung sein sollen, die man bei der Lektüre eines Textes machen kann, sind mir nicht einsichtig. Weshalb die Beruhigung der Nerven des Entspannungs-Lesers nicht als ein Gewinn in diesem Sinn verstanden werden kann, sondern stattdessen als Folge („consequence“) der Erfahrung und damit als lediglich zu instrumentellem Wert beitragend aufgefasst werden muss, bleibt unklar. Gerade wenn man

    

Budd Budd Budd Budd Budd

1995, 5. 1995, 5. 1995, 5. 1995, 7. 1995, 7 [meine Hervorhebung].

3.3 Künstlerischer Wert

167

das etwas krude Entspannungs-Leser-Beispiel abwandelt und sich stattdessen einen Dostojevskij-Leser vorstellt, der die Mechanismen von Schuld und Sühne durch Lektüre des gleichnamigen Romans besser verstehen lernen will, verschwimmt der Unterschied zwischen dessen Interesse an einem lediglich instrumentell verstandenem „social value“⁵²⁶ oder „educational value“⁵²⁷ und dem zum intrinsischen Wert beitragenden Gewinn einer geschärften Auffassungsgabe für die menschliche Psychologie. Auch Stecker bringt – wie mir scheint vollkommen zutreffend – „benefits“ dieser Art explizit in Zusammenhang nicht mit intrinsischem, sondern mit instrumentellem Wert: „Benefits, by definition, make a work instrumentally valuable.“⁵²⁸ Die zweite von Budds als hilfreich angekündigten „considerations“ ist gleichermaßen schwer zu verstehen: „The second consideration is that an experience can be such as to be conductive to a beneficial effect on people – people who are concerned to profit from the word that affords the experience.“⁵²⁹ Der Unterschied zu einer instrumentell wertvollen Erfahrung soll bei einer intrinsisch wertvollen Erfahrung, die trotzdem Gewinne wie die eben thematisierten abwirft, also darin liegen, dass letztere so verfasst ist, dass sie einem gewinnbringenden Effekt zuträglich sein kann („can be such as to be conductive to a beneficial effect“). Zu sagen, dass Dostojevskijs Schuld und Sühne eine verfeinerte psychologische Auffassungsgabe zu Folge hat, hieße dementsprechend das Werk auf seinen instrumentellen Wert reduzieren, zu sagen, dass Dostojevskijs Schuld und Sühne so verfasst ist, dass es dem gewinnbringenden Effekt einer verfeinerten psychologischen Auffassungsgabe zuträglich sein kann, hieße den intrinsischen Wert des Textes zu betonen. Auch wenn in erstem Fall eine de facto Aussage und im zweiten Fall nur eine (umständliche) Aussage über eine potentielle Fähigkeit des Textes gemacht wird, scheint mir dieser Unterschied allein nicht substantiell genug zu sein, um Budds Thesen argumentativ stützen zu können. Stecker ist ebenfalls nicht überzeugt: „The difference is real, but just does not serve the purpose of the argument. This is because having a capacity to bestow a benefit is just as much an instrumentally valuable property of artworks as the property of producing a benefit.“⁵³⁰ Ein einfaches Beispiel kann deutlich machen, wie wenig zielführend Budds Unterscheidung ist: Tennis zu spielen sorgt für körperliche Fitness. Das heißt, die

 Budd 1995, 1.  Budd 1995, 1.  Stecker 2010, 227.  Budd 1995, 8. Hilfreich in der Rekonstruktion von Budds Argumentation ist Stecker 2010, 226 – 233, zu diesem Aspekt insbesondere 226 – 228.  Stecker 2010, 227.

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Sportart Tennis ist so verfasst, dass sie der körperlichen Fitness dessen, der sie ausübt (sprich dessen, der Tennis spielt), zuträglich ist. Das wiederum heißt, dass die Sportart Tennis die Fähigkeit hat, den Effekt gesteigerter körperlicher Fitness zu zeitigen. Legt man Budds Kriterien an, hieße das, dass Tennis intrinsisch wertvoll ist, da die Sportart – analog zu Literatur und deren Fähigkeiten („capacities“) – die Fähigkeit hat, den Effekt gesteigerter körperlicher Fitness zu zeitigen. Tennis zu spielen hingegen wäre demzufolge lediglich instrumentell wertvoll, da dies de facto körperlicher Fitness zuträglich ist. ⁵³¹ Eine derartige Behauptung ist schwerlich nachvollziehbar – Stecker hält sie sogar für „absurd“.⁵³² Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Unterscheidung in instrumentelle und intrinsische Werte von Kunstwerken bzw. literarischen Texten nicht trennscharf ist. Budds Behauptung, dass lediglich intrinsisch wertvolle Eigenschaften des Textes zu einer Steigerung des ästhetischen Werts beitragen könnten, verliert dementsprechend ihre Überzeugungskraft. Welche Folgen hat diese Zurückweisung der Position Budds für die Frage nach der positiven Definition des ästhetischen Werts von Literatur? Wie, wenn nicht durch intrinsische Eigenschaften allein, soll der ästhetische Wert literarischer Texte definiert sein? Die plausibelsten Ausführungen hierzu stammen nach meiner Einschätzung von Stecker. Stecker vertritt ein Konzept ästhetischen Werts, der nicht nur äußerliche Merkmale dem ästhetischen Bereich zuordnet, sondern ganz explizit auch die Bedeutung der Texte für ästhetisch relevant erachtet:⁵³³ Such [aesthetic] experience does involve attending to appearances: the sound of the words; the rhythm of lines, sentences, stanzas, and paragraphs; the appearance of a poem on paper. […] However, this leaves out the most important object of aesthetic experience in most works of literature: what the work presents to the imagination rather than the senses. Recognizing that the appearances interact with and contribute to the meaning presented to the imagination, I nevertheless call the latter the core aesthetic experience in literature.⁵³⁴

 Vgl. Stecker 2010, 227.  Stecker 2010, 227. Möglicherweise könnte man versuchen, Budds These dadurch zu stützen, dass jemand, der von vorneherein an einem bestimmten Ziel im Umgang mit Literatur interessiert ist, dieser nur instrumentellen Wert zumisst. Jemand, der sich gewissermaßen unbefangen auf den Text einlässt und dann mehr oder weniger als Nebeneffekt den Gewinn daraus zieht, den andere Rezipienten bewusst anstreben, wäre dann an dem intrisischen künstlerischen Wert des Textes interessiert. Da diese Erklärung Ignoranz gegenüber bestimmten Qualitäten eines Textes fordern würde (z. B. Ignoranz gegenüber dem Faktum, dass Schuld und Sühne ein Text ist, der minutiös die Untiefen menschlicher Psychologie auslotet), bin ich mir nicht sicher, inwieweit diese Rechtfertigungsstrategie (die Budd selbst nicht explizit verfolgt) hilfreich sein könnte.  Konzeptionen, die auch in Bezug auf Literatur speziell die formalen Aspekte als zentral für den ästhetischen Wert ansehen, sind neben Budd 1995 etwa Beardsley 1977 und Olsen 1987.  Stecker 1997, 274 f.

3.3 Künstlerischer Wert

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Für Stecker ist es nicht nur die perzeptuelle Dimension der Sinne, auf der sich eine ästhetische Erfahrung abspielt, sondern auch die Vorstellung, für die die Bedeutungsdimension nicht nur in rudimentärer Form relelvant ist. Ästhetisches Vergnügen („pleasure“) an einem Text zu empfinden bzw. ästhetische Wertschätzung („appreciation“) für einen Text zu empfinden, hängt von einer „contemplation of […] forms and meanings“⁵³⁵ ab. Ästhetische Qualitäten, die Stecker anhand eines Shakespeare-Gedichts expliziert, sind unter anderem die „vivid conception“⁵³⁶ des Dargestellten, oder die Eigenschaft des Gedichts, gedankliche Tiefe zu haben⁵³⁷ und „suggestive“⁵³⁸ zu sein. Lamarque ergänzt dazu eine „imaginativeness or creativity evident in the design of the work“⁵³⁹ und „richness of its content at both subject and thematic levels“.⁵⁴⁰ Kategorien wie diese erörtert Stecker anhand von Shakespeares Love’s Labour’s Lost und zieht dann ein generalisierendes Fazit, das zu einem Verständnis des ästhetischen Werts literarischer Texte im Allgemeinen führt: This can be generalized into an account of the core aesthetic experience of any literary work: it consists in the taking in or contemplating, for the sake of the enjoyment one gets from doing so, the conceptions the work presents to the imagination.⁵⁴¹

Steckers Formulierung von einem sich-Befassen mit dem Text um des Vergnügens Willen, versucht nicht eine fragwürdige Trennung in intrinsischen und instrumentellen Wert zu etablieren, von denen dann nur ersterer zu dem Vergnügen beitragen dürfen soll, um dem Text das Prädikat „ästhetisch wertvoll“ zusprechen zu können. Das ästhetische Vergnügen an einem Text kann vielmehr sowohl durch eine starke emotionale Reaktion auf den Text befördert werden, (ohne dieser jedoch zu bedürfen), als auch durch die Interpretation des Textes. Beide Dimensionen waren, wie wir gesehen haben, von Budd als instrumentell und damit als irrelevant für den ästhetischen Wert von Literatur kategorisiert worden. Für Stecker kommt aber gerade der Interpretation eines Textes eine Schlüsselrolle zu.⁵⁴² Der ästhetische Wert eines Textes liege nämlich „in its capacity to produce aes-

 Stecker 1997, 274 [meine Hervorhebung].  Stecker 1997, 276.  Vgl. Stecker 1997, 276.  Stecker 1997, 276.  Lamarque 2009, 259.  Lamarque 2009, 259.  Stecker 1997, 276.  Vgl. Stecker 1997, 279: „The first thing that has to be realized ist that aesthetic enjoyment will always be mediated by an understanding or interpretation of the literary work.“

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

thetic enjoyment in those who understand it“,⁵⁴³ wobei dieses Verstehen durchaus nicht subjektiv oder idiosynkratisch gedacht ist, sondern auf einer angemessenen Interpretation zu basieren hat. Damit ist ein enger Zusammenhang von Hermeneutik und Ästhetik markiert, der eben darin begründet liegt, dass erst eine angemessene Interpretation des betreffenden literarischen Textes ästhetisches Vergnügen ermöglicht. Vergnügen an einem Text zu empfinden, das auf einem Missverstehen des Textes basiert, kann laut Stecker nicht sinnvoll als ästhetisches Vergnügen bezeichnet werden. Genauso wenig sei es gerade im Fall literarischer Texte angemessen, sich primär auf eine gewissermaßen prä-hermeneutische Empfindung zu verlassen, die auf die formalen Eigenschaften des Textes zentriert ist, ohne näher auf die Bedeutung des Inhalts einzugehen: Though formal features are typically the vehicle for the expression of content (conceptions), they can be noted while paying little attention to the conception they express. One can enjoy doing this for its own sake. I would not deny that this is aesthetic enjoyment any more than I would deny that enjoying the sound of words and the rhythm of lines is aesthetic. What I deny is that such enjoyment is, typically, adequate to the work that is their object. The reason they are inadequate is that they, typically, leave out too many important features of the writing.⁵⁴⁴

Diese Position hat vielversprechende Konsequenzen für die Klassifizierung einer interpretationsleitenden Unterstellung ästhetischen Werts an einen literarischen Text, von dem dieses Kapitel seinen Ausgang genommen hatte. Sofern die Unterstellung (maximalen) ästhetischen Werts nicht kategorial verschieden ist von anderen Unterstellungen wie Wahrheit oder Kohärenz, kann sie in den Rahmen eines umfassenden hermeneutischen Interpretationsprozesses eingegliedert werden. Da ästhetischer Wert nicht sinnvoll ohne die angemessene Interpretation eines Textes maximiert werden kann, gibt es keine plausible nicht-hermeneutische Methode, die, auf welchen Wegen auch immer, allein den ästhetischen Wert eines literarischen Textes thematisiert. Ästhetischer Wert ist zu verstehen als eine Größe unter mehreren, deren Unterstellung nicht unabhängig, sondern analog zu der Unterstellung anderer Inhalte konzipiert werden kann. Dass ein Zusammendenken der Unterstellung ästhetischen Werts mit anderen präsumtiven Unterstellungen und weiteren interpretationsrelevanten Faktoren durchaus möglich ist, lässt sich anhand einiger Beispiele aus der interpretativen Praxis deutlicht machen.

 Stecker 1997, 279 [meine Hervorhebung].  Stecker 1997, 278.

3.3 Künstlerischer Wert

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3.3.2.3 Ästhetischer Wert und konkurrierende interpretationsrelevante Faktoren Nachdem sich in den vorhergehenden Abschnitten herausgestellt hat, dass eine Bezugnahme auf den ästhetischen Werts eines Textes nicht mit einer kategorialen Differenzierung von evaluativer wertmaximierender Theorie und interpretativer Hermeneutik einhergehen muss, stellt sich konkret die Frage, in welches Verhältnis die Unterstellung ästhetischen Werts mit anderen Unterstellungen bzw. allgemeiner, mit anderen interpretativ relevanten Faktoren zu setzen ist. Eine in diesem Zusammenhang radikale Variante stellt die in Abschnitt 3.3.1 schon thematisierte werkimmanente Interpretationstheorie dar. Sigurd Burckharts plastisches Diktum macht klar, dass die werkimmanente Theorie nicht bereit ist, die Unterstellung maximalen künstlerischen Werts als revisionsfähig aufzufassen. In dem interpretierten Text etwas anderes als künstlerische Perfektion verwirklicht zu sehen oder gar einen „Fehler des Dichters“ zu entdecken, ist nicht akzeptabel: „Nicht das Gedicht, sondern meine Deutung ist durch solche Unstimmigkeit in Frage gestellt; und wenn ich trotz ehrlichster Anstrengung zu keiner Deutung gelange, die ganz ‚stimmt‘ so darf ich nur sagen: ‚Bis hierher hab ich’s gebracht; weiter habe ich nicht gekonnt‘.“⁵⁴⁵ Damit verliert die Unterstellung künstlerischen Werts ihren präsumtiven Charakter, was eine ganze Reihe gravierender Probleme nach sich zieht. Da diese Probleme aber nicht nur dann auftreten, wenn die Unterstellung ästhetischen Werts dogmatisch verstanden wird, sondern analog für andere Inhalte von Billigkeitsprinzipien wie Wahrheit oder Kohärenz virulent sind, werde ich in Kapitel 4 darauf zurückkommen. Konzentrieren wir uns einstweilen auf weniger radikale Varianten, die in der aktuellen Debatte auch deutlich häufiger vertreten werden. Gemäßigte Varianten der wertmaximierenden Theorie erkennen die Notwendigkeit einer Abwägung verschiedener Aspekte im Rahmen einer Interpretation durchaus an. Allaussagen wie die, dass eine Interpretation immer dann die beste sei, „when it sucessfully aims to maximize the artistic value of the interpreted work“⁵⁴⁶ werden dementsprechend auch oft relativiert. Derartige Relativierungen schlagen auch Dworkin und Davies vor. Dworkin geht, wie zu Beginn des Kapitels bereits kurz erwähnt, von einer für die Literaturinterpretation grundlegenden Annahme aus, die er die „aesthetic hypothesis“ nennt: „[A]n interpretation of a piece of literature attempts to show which way of reading […] the

 Burckhardt 1967, 15.  Goldman 1990b, 207. Goldman tendiert nach meinem Eindruck eher dazu, auf eine Relativierung seiner Aussagen zu verzichten. Vgl. z. B. auch Goldman 1995, 102: „The best interpretive explanations are those that guide the perception of an audience toward maximal appreciation of a work, those that maximize its value for the audience.“

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

text reveals it as the best work of art.“⁵⁴⁷ In diesem Kontext interessant ist nun speziell die Einschränkung bzw. Präzisierung, mit der Dworkin seine Hypothese qualifiziert: An interpretive style will also be sensitive to the interpreter’s opinions about coherence or integrity in art. An interpretation cannot make a work of art more distinguished if it makes a large part of the text irrelevant, or much of the incident accidental, or a great part of the trope or style unintegrated and answering only to independent standards of fine writing. So it does not follow, from the aesthetic hypothesis, that because a philosophical novel is aesthetically more valuable than a mystery story, an Agatha Christie novel is really a treatise on the meaning of death. This interpretation fails not only because an Agatha Christie, taken to be a tract on death, is a poor tract less valuable than a good mystery, but because the interpretation makes the novel a shambles.⁵⁴⁸

Dworkin versucht die grundlegende interpretationsleitende Annahme maximalen künstlerischen Werts an mehrere andere Faktoren zu knüpfen. Der künstlerische Wert ist für ihn nur unter bestimmten Bedingungen und in Übereinstimmung mit anderen Faktoren zu maximieren. Diese Faktoren lassen sich im Einzelnen aus Dworkins Ausführungen isolieren. Der erste Faktor ist eine Abstimmung mit anderen Inhalten von Billigkeitspräsumtionen. Dworkin hält auch die Erwartung des Interpreten bezüglich der Kohärenz des Interpretandums für ausschlaggebend („the interpreter’s opinions about coherence […] in art“) und sieht eine Maximierung künstlerischen Werts konsequenterweise gerade dann als problematisch an, wenn sie die Handlung als unzusammenhängend respektive als inkohärent rekonstruiert. Auch wenn eine Interpretation, die den interpretierten Text als kohärent zeigt, diesen damit zumeist auch als künstlerisch wertvoller verstehen wird als eine Interpretation, die den interpretierten Text als inkohärent begreift, muss diese Abwägung zwischen einer Kohärenzpräsumtion und einer Präsumtion maximalen künstlerischen Werts nicht immer unproblematisch sein. Da beispielsweise ein Kriterium wie hohe Komplexität unter bestimmten Umständen das ästhetische Vergnügen an einem Text steigern kann, sind durchaus Fälle denkbar, in denen eine Kohärenzpräsumtion für eine Lesart spricht, eine Präsumtion maximalen künstlerischen Werts für eine andere. Der zweite Faktor, der in Dworkins Darstellung die Gültigkeit einer Präsumtion maximalen ästhetischen Werts einzuschränken scheint, ist der Textbestand. Wie er anhand seines Agatha Christie-Beispiels verdeutlicht, hat auch eine Interpretation, die den künstlerischen Wert des Interpretandums zu maximieren versucht, ihre Thesen an den Text anzubinden. Die Folgen dieser Verpflichtung sind nicht

 Dworkin 1985, 149.  Dworkin 1985, 150.

3.3 Künstlerischer Wert

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immer so offensichtlich wie es Dworkins Beispiel nahelegt. Natürlich würde wahrscheinlich niemand eine Agatha Christie-Erzählung mit einem Verweis auf den höheren ästhetischen Wert als Traktat über die Bedeutung des Todes interpretieren. Die Abwägung zwischen einer Berücksichtigung des vorliegenden Textbestands und einer Präsumtion maximalen Werts wird in diesem Fall dementsprechend immer zu Gunsten des Textbestands ausfallen. Doch es gibt auch weniger eindeutige Fälle, von denen ich einige unter 4.2.2 ausführlicher diskutieren werde. Da die meisten Literaturinterpretationen ohnehin nicht auf die Idee kommen würden, den Textbestand weitgehend zu ignorieren, scheint es mir an dieser Stelle auszureichen, sich einfach einen Roman vorzustellen, dem (nehmen wir an, dies sei unkontrovers) durch die Bank hoher künstlerischer Wert zugesprochen werden kann. Das Ende des Romans allerdings ist vollkommen misslungen. Der wertmaximierende Interpret stünde vor der Frage, ob er das Ende weitgehend zu ignorieren versucht, oder zumindest die Relevanz des Endes für die Interpretation des Gesamttextes herunterspielt, oder ob er dem Werk als ganzem beispielsweise nur noch mittleren ästhetischen Wert zuspricht.⁵⁴⁹ Deutlich kontroverser wird die Debattenkonstellation in der wertmaximierenden Interpretationstheorie wenn es um die Abwägung der Präsumtion maximalen künstlerischen Werts gegen andere Faktoren, wie beispielsweise die Intention des Autors, geht. Hierzu nun ein ausführlicheres Beispiel. In Henry James‘ Erzählung Das Durchdrehen der Schraube (The Turn of the Screw) berichtet ein namenloser Erzähler von einer Begebenheit, die ein gewisser Douglas am Kaminfeuer nach dem Manuskript einer ihm gut bekannten Gouvernante wiedergibt. Es handelt sich dabei um den Bericht eben dieses Kindermädchens, das eine Stelle als Erzieherin zweier Kinder auf einem einsamen englischen Landsitz annimmt. Im Laufe der Arbeit dort sieht sich das Kindermädchen unvermittelt mit rätselhaften Geistererscheinungen konfrontiert. Nach Rücksprache mit der Haushälterin Mrs. Grose stellt sich heraus, dass es sich bei den Geistergestalten um die ehemaligen Bediensteten Quint und Miss Jessel handelt, die vor ihrem nicht aufgeklärten Tod ein Verhältnis hatten und in enger Beziehung zu den Kindern standen. Das Kindermädchen ist davon überzeugt, dass es die beiden Geister auf die Kinder abgesehen haben und dass diese sich dessen auch bewusst sind, jedoch aus Rücksicht auf ihr Kindermädchen nicht über die Geistererscheinungen sprechen wollen. Im Lauf der Erzählung steigert sich die Gouvernante in eine zunehmende Paranoia und überwacht die Kinder beinahe rund um die Uhr, obwohl bis zum Ende nicht klar

 Wem dieses nur skizzierte Beispiel zu knapp und zu allgemein ist, der sei hier schon auf die Abschnitte 4.2.2.1, 4.2.2.2, und 4.2.2.3 verwiesen, wo sich die oben angesprochenen ausführlicheren Beispiele zu Thomas Bernhard und Edward Wood finden.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

wird, ob die Geistererscheinungen real sind, oder lediglich einer psychischen Störung entspringen. Der Bericht endet mit der Abreise des an einem Nervenfieber erkrankten Mädchens Flora und dem Tod des Jungen Miles, der am Schluss der Erzählung zusammenbricht, als das Kindermädchen erneut den Geist Quints wahrzunehmen glaubt. Es ist auch hier nicht klar, ob Miles an dem Schrecken über die ebenfalls wahrgenommene Erscheinung, oder an dem Stress angesichts der Panik des Kindermädchens stirbt. Die umfangreiche Rezeption dieser Erzählung hat zwei konkurrierende Interpretationsvarianten hervorgebracht, von denen – grob gesprochen – die erste davon ausgeht, dass es sich um eine Geistergeschichte handelt, während die zweite behauptet, der Text sei als Fallstudie einer psychologischen Selbstzerstörung zu lesen.⁵⁵⁰ Von besonderem Interesse ist, wie sich die wertmaximierende Interpretationstheorie in dieser Debatte positioniert hat. Davies lässt keinen Zweifel, welche der beiden Varianten vorzuziehen sei: His The Turn of the Screw might be read as a simple ghost story, in which ghosts threaten the children the governess is charged with looking after. Alternatively, the ghosts are figments of the governess’s imagination and the book is not a moral fable about the protection of innocence from evil but is instead a tale about psychological disintegration. The second account, which is no less compatible with the story’s text than the first, is superior, because it deals with a more complex and provocative theme.⁵⁵¹

Davies weist zunächst, im Sinne der obigen Überlegungen über eine Abwägung der Präsumtion maximalen ästhetischen Werts gegen den Textbestand, darauf hin, dass die psychologische Interpretationsvariante ebenso textkonform sei wie die Geistergeschichtenvariante. An dieser Stelle sei also – im Gegensatz etwa zu Dworkins Agatha Christie-Beispiel – keine Revision der Präsumtion maximalen künstlerischen Werts angezeigt. Da nun die psychologische Interpretation des Textes diesem die Kriterien Komplexität und Provokativität in der Themenwahl zuweist und ihn damit als Text mit höherem künstlerischen Wert auszeichnet, sei diese Interpretation der Geistergeschichtenlesart überlegen. Das Problem an dieser Sichtweise ist jedoch, dass die von Davies favorisierte Interpretation nicht mit den Intentionen des Autors kompatibel ist. Davies weist auch selbst auf diese

 Goldman 2002, 9 ist der Ansicht, dass The Turn of the Screw durch die extrem umfangreiche Rezeption und die lange Karriere des Textes als Beispiel für interpetationstheoretische Fragen sogar „somewhat stale“ geworden sei. Dem kann man zustimmen oder nicht, die Eignung des Textes als Anwendungsbeispiel für die hier unmittlebar relevanten theoretischen Probleme ist dadurch nicht tangiert. Da speziell wertmaximierende Positionen immer wieder auf den Text zurückkommen, scheint es mir sinnvoll, bei dem Beispiel zu bleiben.  Davies 2006, 121 f.

3.3 Künstlerischer Wert

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Problematik hin: „Nevertheless, James claimed he intended no more than a ghost story.“⁵⁵² Tatsächlich ist dieser Beispielfall besonders interessant, da sich der Autor Henry James selbst recht explizit zur Deutung von Das Durchdrehen der Schraube geäußert hat. Im Rahmen einer 1908 in New York erschienenen Sammlung von James‘ Erzählungen nimmt der Autor in dem Vorwort zu Band XII Stellung zu seinem Text. Er erläutert, dass er sich entschlossen habe, die Idee zu der Geschichte, die er laut einer Notiz vom 12. Januar 1895 nach einem Bericht des Erzbischofs von Canterbury hatte, in Form eines „einfachen Märchens“ („a fairytale pure and simple“⁵⁵³) umzusetzen. Weiterhin erläutert James, dass er gerade nicht vorhatte, eine Geistergeschichte zu verfassen, die dem Stand der Psychologie und Parapsychologie seiner Zeit entsprochen hätte. Psychologischen Pathologien entsprungene Geister seien für ihn als Schriftsteller nämlich schlicht ungeeignetes Personal: I had for instance simply to renounce all attempt to keep the kind and degree of impression I wished to produce on terms with the today so copious psychical record of cases of apparitions. Different signs and circumstances, in the reports, mark these cases; different things are done – though on the whole very little appears to be – by the persons appearing; the point is, however, that some things are never done at all: this negative quantity is large – certain reserves and proprieties and immobilities consistently impose themselves. Recorded and attested ‘ghosts’ are in other words as little expressive, as little dramatic, above all as little continuous and conscious and responsive, as is consistent with their taking the trouble – and an immense trouble they find it, we gather – to appear at all. […] I had to decide in fine between having my apparitions correct and having my story ‘good’ – that is producing my impression of the dreadful, my designed horror. Good ghosts, speaking by book, make poor subjects, and it was clear that from the first my hovering prowling blighting presences, my pair of abnormal agents, would have to depart altogether from the rules.⁵⁵⁴

Da es James Hauptanliegen („the essence of the matter“) gewesen sei, die Schändlichkeit der heraufbeschworenen Kreaturen darzustellen, seien seine Geister dementsprechend nicht als Geistererscheinungen im Sinne der aktuellen

 Davies 2006, 122.  James 1969b, 171. Das Verständnis der Erzählung als fantastische und märchenhafte Anekdote wird weiter bestärkt durch den Vergleich von Das Durchdrehen der Schraube mit Texten wie Blaubart oder Aschenputtel: „It [das Durchdrehen der Schraube] is an excursion into chaos while remaining, like Blue-Beard and Cinderella, but an anecdote – though an anecdote amplified and highly emphasised and returning upon itself; as, for that matter, Cinderella and BlueBeard return.“  James 1969b, 174 f.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

psychologischen Erkenntnisse zu verstehen, sondern als Geister im fantastischen Sinn, als direkte Verwandte von Goblins, Elfen, Kobolden, Dämonen oder Feen: This is to say, I recognise again, that Peter Quint and Miss Jessel are not ‘ghosts’ at all, as we now know the ghost, but goblins, elves, imps, demons as loosely constructed as those of the old trials for witchcraft; if not, more pleasingly, fairies of the legendary order, wooing their victims forth to see them dance under the moon. […] The essence of the matter was the villainy of motive in the evoked predatory creatures; so that the result would be ignoble – by which I mean would be trivial – were this element of evil but feebly or inanely suggested.⁵⁵⁵

Die Intentionen des Autors sind in diesem Fall also weitgehend klar formuliert – den ebenfalls denkbaren Fall, dass James seine Intentionen bewusst falsch formuliert, um seine Leser zu täuschen, wollen wir hier vernachlässigen, da es hierfür, soweit ich sehen kann, keine Anhaltspunkte gibt. Radikale Vertreter wertmaximierender Interpretationstheorie wie Goldman lassen nun keinen Zweifel daran, dass James’ Intentionen ignoriert werden können, sofern ihre Nichtbeachtung den künstlerischen Wert des Textes steigern sollte – und dass dies der Fall sei, hatte Davies ja oben behauptet: „If The Turn of the Screw makes an interesting work under a naturalistic (as opposed to a supernaturalistic) framework, or Hamlet can be understood and explained in detailed Freudian terms, these interpretations would not be ruled out by the recognition that their authors did not or even could not have intended them.“⁵⁵⁶ Goldmans Aussage ist in ihrer Radikalität äußerst kompromisslos. Die Intentionen des Autors werden nicht einmal mehr im Rahmen einer fundamentalen raumzeitlichen Verortung des Textes und eine dadurch zu garantierende Vermeidung von interpretativen Anachronismen berücksichtigt. Sogar Interpretationen, die vom Verfasser des betreffenden Textes nicht einmal intendiert werden hätten können, sind für Goldman zulässig. Um nicht bei einer von Dworkin skizzierten, hanebüchenen Position zu landen, die es nahelegt einen Agatha Christie-Krimi als Traktat über die Bedeutung des Todes zu interpretieren, versucht Goldman dann aber dennoch, wertmaximierenden Interpretationen einige Beschränkungen aufzuerlegen. Interpretationen müssten zumindest immer „Charakter und Inhalt“ des interpretierten Textes im Auge behalten: „Interpretations must reveal works in their best light, but they must also be true to their character and content. […] Thus, the claim that interpretations of works ought to give them their best run for the

 James 1969b, 175.  Goldman 1995, 112.

3.3 Künstlerischer Wert

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money is compatible with the admission that final evaluations of them can be strongly negative and can show that others overrate them.“⁵⁵⁷ Davies‘ Kommentare zu Das Durchdrehen der Schraube führen ihn zu nicht ganz so radikalen, im Kern aber vergleichbaren Ergebnissen. Er versucht sogar, aus der Kontroverse ein Argument gegen einen starken Autorintentionalismus abzuleiten. Wie oben schon gezeigt geht Davies davon aus, dass die psychologische Lesart der Erzählung dem Text größeren künstlerischen Wert zumesse als die von James intendierte Lesart als Geistergeschichte. Ein (aktualer) Intentionalist müsse nun dieses „artistically superior reading“⁵⁵⁸ zurückweisen, obwohl aufgrund des Textbestands allein nicht zwischen den Interpretationsvarianten unterschieden werden könne. Die wertmaximierende Interpretation sei hingegen – genauso wie der hypothetische Intentionalismus – nicht in dieser Form eingeschränkt. Allerdings versucht auch Davies, ähnlich wie Dworkin und Goldman, bestimmte Beschränkungen für wertmaximierende Interpretationen einzuführen. Einige Faktoren seien im Interpretationsprozess unhintergehbar, selbst wenn aufgrund dieser Parameter die Präsumtion künstlerischen Werts revidiert werden müsse: [T]o be truly represented as being of the given work, the interpretation is constrained to respect the work’s identity-conferring features and contexts. Among these are its title, what it represents, and its genre. The maximizing interpretation cannot depart from these and continue to be of the work in question. […] In other words, the maximizing theory, like others that take the artist’s creation as the interpretation’s target, accept the relevance of the artist’s intentions where these are crucial in fixing the identity of the work that is to be interpreted.⁵⁵⁹

Meines Erachtens widersprechen Davies’ Ausführungen an dieser Stelle seiner Einschätzung der Kontroverse um James‘ Das Durchdrehen der Schraube. Davies hält die Intention des Autors in den Fällen für relevant, in denen sie entscheidend sind, um die Identität des interpretierten Textes zu fixieren („accept the relevance of the artist’s intentions where these are crucial in fixing the identity of the work that is to be interpreted“). Der Fall von James‘ Erzählung scheint mir genau ein solcher Fall zu sein, schließlich unterscheiden sich die konkurrierenden Inter-

 Goldman 1995, 107.  Davies 2006, 122.  Davies 2006, 122. In früheren Arbeiten ist Davies tendenziell radikaler. In Davies 1991, 187 erklärt er etwa, dass Intentionen im Gegensatz zu anderen textexternen Faktoren grundsätzlich nicht bestimmend seien: „I maintain that artists’ intentions are not determinative of what we must understand if we are to understand their works aesthetically, although I accept that external factors are relevant in determining the character of aesthetically relevant properties.“

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

pretationsmöglichkeiten nicht nur im Detail, sondern grundsätzlich. Die Frage, ob es sich um eine Geistergeschichte oder um die Fallstudie einer bestimmten Form von Psychose handelt, ist eine Frage, die die Identität der Erzählung betrifft. Eigentlich hätte Davies, seinen eigenen Vorgaben folgend, in diesem konkreten Fall also die Relevanz der Autorintention anerkennen sollen. Davon abgesehen ist interessant, dass Davies anderen textexternen Faktoren wie dem Titel, dem Genre, oder, an anderer Stelle, allgemeinen Sprachkonventionen⁵⁶⁰ durchaus zubilligt, interpretativ relevant zu sein. Damit gewinnt seine Variante der wertmaximierenden Interpretation ein gewisses Maß an Flexibilität und ist nicht mehr darauf festgelegt, die Unterstellung maximalen künstlerischen Werts unter allen Umständen durchzuhalten.

3.3.3 Zusammenfassung Die wertmaximierende Interpretationstheorie neigt dazu, die Verstehensdimension der Interpretation hinter einer Wertschätzung der Texte zurückzustellen. Darin wird ein Alleinstellungsmerkmal der philologischen Interpretation ausgemacht, das zudem die Praxis der Interpretation künstlerischer Artefakte zutreffend abbilde. Wie sich bei einer Analyse des Interpretationsbegriffs der wertma-

 Vgl. hierzu Davies 1991, 195: „To ignore what the poet intended is not to render the poem into gibberish, any more than a painting is to be made abstract by our paying no special heed to that which the artist intended to represent, because in either case the conventions of linguistic meaning and of pictorial representation remain effective in allowing an interpretation (more than one interpretation) of the work’s meaning, or allusive character, or representational character, and so on. The conventions, as given within the history of artistic activity, constrain how any artwork is to be interpreted, while allowing for the possibility of a variety of interpretations of the work in question. An interest in the readings that might be put on an artwork, as allowed by the sets of conventions in terms of which its significance might be interpreted appropriately, takes its focus not primarily from the desire to understand the work as its artist intended but rather to understand and appreciate the work aesthetically in a way that makes that experience the more pleasurable. We are interested in discovering the more aesthetically rewarding readings of artworks, and readings that ignore artists’ intentions, but that do not ignore the context of the conventions against which artists work, might be more rich and more interesting than the readings intended by the artists.“ Dieser Rekurs auf Konventionen scheint mir auch theorieimmanent problematisch. Der künstlerische Wert mancher Texte – man denke an die Lyrik Mallarmés oder die Sprachexperimente der Züricher Dadaisten – definiert sich gerade durch die Verletzung etablierter Sprachkonventionen. Sofern diese aber den Rahmen für zulässige Interpretationen angeben, scheidet eine Interpretation, die ihre poetische Suspendierung beinhaltet, von vorneherein aus – was in Widerspruch zum Grundsatz der Maximierung künstlerischen Werts stehen muss.

3.3 Künstlerischer Wert

179

ximierenden Interpretationstheorie jedoch zeigt, sind beide Thesen abzuschwächen. Einmal ist die gängige Praxis der Interpretation künstlerischer Artefakte eher dadurch abgebildet, dass Interpreten versuchen, den entsprechenden Interpretanda angemessenen künstlerischen Wert beizumessen und nicht maximalen künstlerischen Wert. Des Weiteren suggeriert die Redeweise der wertmaximierenden Theorie oft ein Primat der eigenen Vorschläge, die durchaus übliche, allein auf die Bedeutungsdimension bezogene Interpretationen in unzulässiger Weise marginalisiert. Auch der Versuch einer Abgrenzung philologischer Interpretation von Interpretation in nicht-philologischen Kontexten ist durch den Rekurs auf Kriterien wie den künstlerischen Wert nicht ausreichend motiviert. Zwar ist der Impetus der wertmaximierenden Theorie, der in erster Linie darin besteht, die künstlerische Dimension der Interpretanda auszuzeichnen, völlig plausibel, allerdings muss damit kein Verzicht auf rationale Kriterien bzw. die Verstehensdimension der Interpretation einhergehen. Vielversprechend ist vielmehr der Versuch einer synthetisierenden Zusammenführung beider interpretativen Dimensionen, die sich gerade auf der Basis einer Analyse des Rekurses auf Billigkeitsprinzipien erreichen lässt.⁵⁶¹ Der philologische Interpret sollte im Idealfall sowohl auf im engeren Sinn rationale Inhalte von Billigkeitsprinzipien wie Kohärenz oder (in eingeschränktem Sinn) Wahrheit zurückgreifen, als auch auf eher ästhetische Inhalte, wie eben ästhetischen Wert. Dass diese Synthese keineswegs unmöglich erscheint, liegt an zwei Dingen: Erstens erweist sich die Differenz der Interpretationsbegriffe von wertmaximierender Theorie und verstehender Hermeneutik als in der Praxis wesentlich geringer, als es den Anschein haben mag (vgl. die Analyse der Kontroverse zwischen Lamarque und Stecker in Abschnitt 3.3.2.1). Diese de facto bestehende Nähe der terminologisch so antagonistischen Positionen legt nahe, dass eine Synthese der Positionen durchaus möglich ist. Zweitens lassen sich die interpretationsleitenden Größen Wertschätzung und Verstehen in der von Stecker geprägten Formel des „appreciative understanding“⁵⁶² sinnvoll zusammenführen. Einem literarischen Text durch Interpretation Wertschätzung zukommen zu lassen, ohne ihn dabei angemessen verstehen zu wollen ist widersinnig, genauso sollte aber der Eigenschaft litera-

 Zumindest angedeutet ist diese Idee auch in Spoerhase 2007, 294: „Die Berücksichtigung ästhetischer Kategorien macht gerade im Hinblick auf die Interpretation ästhetischer Artefakte den Blick dafür frei, dass nicht nur Rationalitätsmaßstäbe im engeren Sinn […], sondern auch ästhetische Maßstäbe […] das Textverstehen im Sinne eines Prinzips hermeneutischer Billigkeit anleiten können.“  Stecker 2003, 75.

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

rischer Texte, Kunstwerke zu sein, Rechnung getragen werden, indem ihre ästhetische Dimension im Interpretationsprozess nicht ignoriert wird.⁵⁶³ Die Gelenkstelle zwischen der wertmaximierenden Theorie und der primär an Textverstehen interessierten Hermeneutik ist nun eben der gemeinsame Rekurs auf präsumtive Unterstellungen. Die Maßgabe, den künstlerischen Wert eines literarischen Textes im Interpretationsprozess zu maximieren, lässt sich rekonstruieren als Präsumtion, die künstlerischen bzw. ästhetischen Wert zum Inhalt hat. Wie sich in einer kritischen Diskussion der Überlegungen Budds erweist (vgl. Abschnitt 3.3.2.2), muss die inhaltliche Kategorie ästhetischen Werts (der nicht vollständig, aber doch zum weitaus größten Teil den künstlerischen Wert des Interpretandums ausmachen wird), außerdem nicht als verstehensunabhängige Größe definiert werden, sondern kann im Anschluss unter anderem an Stecker, Lamarque und Lamarque und Olsen weitgehend klar gefasst werden (vgl. die Vorschläge in 3.3.2.2). Welche Eigenschaften literarischer Texte letztlich unter die Unterstellung ästhetischen Werts genau fallen, ist von der ästhetischen Theorie noch näher zu bestimmen, die Vorschläge an den eben genannten Stellen bilden jedoch eine nach meiner Einschätzung durchaus tragfähige Basis für solche noch zu erarbeitende Präzisierungen. Damit ist klar, dass in dem Rekurs auf Billigkeitspräsumtionen nicht nur eine strukturelle Gemeinsamkeit der Interpretationstheorien besteht, sondern dass die differenten Inhalte innerhalb eines umfassenderen interpretativen Abwägungsprozesses gegeneinander abgewogen werden können. Im Gegensatz zu den Annahmen der werkimmanenten Interpretationstheorie bedingt die Präsumtion (maximalen) künstlerischen Werts mithin keine kategorische Abwertung der interpretativen Relevanz textexterner Faktoren (wie Kontext, Autorintention etc.) oder inhaltlich anderweitig gefüllter Präsumtionen. Die weniger radikalen Vertreter der wertmaximierenden Interpretationstheorie erkennen dies zumindest implizit auch an. In der exemplarischen Analyse der Kontroverse um die Interpretation von James’ Das Durchdrehen der Schraube erweist sich, dass die Differenzen in den Ergebnissen nicht darin begründet liegen, dass kategorial zu unterscheidende Interpretationstheorien am Werk sind, sondern dass allgemein interpretationsrelevante Faktoren unterschiedlich gewichtet werden. Auch die wertmaximierende Interpretationstheorie versucht, die Unterstellung maximalen künstlerischen Werts an das Interpretandum nicht als irreversibles Dogma zu konstruieren, sondern nur insofern aufrecht zu erhalten, als diese Aufrechterhaltung nicht zu unauflösbaren Konflikten mit anderen interpretati-

 Auch Detel 2011, 417 hält die ästhetische Dimension der Interpretation von Literatur für „notorisch schwierig[] – und zugleich wichtig[]“.

3.3 Künstlerischer Wert

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onsrelevanten Faktoren führt. Welche diese interpretationsrelevanten Faktoren sind, differiert von Spielart zu Spielart. In allen Varianten ist der Textbestand eine Größe, die die Unterstellung künstlerischen Werts einschränkt. Einem ästhetisch defizienten Text kann im Rahmen einer Interpretation nur so viel künstlerischer Wert zugesprochen werden, wie sich auf Grundlage des Textbestands plausibel machen lässt. Dazu kommen Kontextfaktoren, die in ihrer Relevanz unterschiedlich gewichtet werden. Die Intention des Autors etwa wird zumeist nur für sehr bedingt relevant erachtet, soziale und historische Hintergründe oder Zugehörigkeit zu bestimmten ästhetischen Kontexten für durchaus relevant, sofern sie – so die etwas ungenaue Bedingung Davies‘ – entscheidend für die Bestimmung der Identität des Interpretandums („crucial in fixing the identity of the work that is to be interpreted“⁵⁶⁴) sind. Die Plausibilität dieser Hierarchisierung textexterner Kategorien im Rahmen von Interpretationsprozessen wäre im Einzelnen noch weiter zu hinterfragen – aus metatheoretischer Sicht ist entscheidend, dass wertmaximierender Interpretationstheorie keine Sonderrolle innerhalb (oder gar ein Standpunkt außerhalb) der Interpretationstheorie zugemessen werden muss. Eine Nichtbeachtung mit dem Hinweis auf eine evaluative Dimension wertmaximierender Interpretation, die einer dem eigentlichen literaturwissenschaftlichen Kerngeschäft zuzuschlagenden bedeutungsklärenden Interpretation entgegengesetzt sei, ist nicht nur – wie oben gezeigt – aufgrund der im Bereich der philologischen Interpretation wenig sinnvollen strikten Trennung von Verstehen und Evaluieren abzulehnen, sondern auch deshalb, weil die wertmaximierende Interpretation strukturell analog zu anderen Interpretationsvarianten verfährt.⁵⁶⁵ Unterschiede gibt es lediglich in der Gewichtung interpretationsrelevanter Faktoren. Wo ein Intentionalist präsumtiv unterstellt, dass das Interpretandum der Intention des Autors entsprechen wird, und bereit ist, die Präsumtion künstlerischen Werts im Zweifelsfall zurückzu-

 Davies 2006, 122  Vgl. auch Stecker 2008, 49: „Davies mentions this as part of an attempt to show that hypothetical intentionalism is really a variant on the value-maximizing view, since he thinks that in choosing among hypotheses, they will need to conform to the point just made. However, this argument will work only if the initial hypothesis he refers to makes clear the essentially value-maximizing nature of literary interpretation, distinguishing it from interpretation in other contexts. But it shows nothing of the sort. The assumption we make about the intention and skill of authors is exactly similar to assumptions we make when we interpret in ordinary conversational and other communicative contexts. We apply the usual pragmatic maxims assuming that the speaker or writer is intending to produce something to the point and has the skills needed to accomplish this. This assumption is always defeasible in all contexts including literary ones. […] So the fact that we start out with the hypothesis Davies mentions when interpreting literary works does not favor any particular conception of literary interpretation.“

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3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

stellen, verfährt der wertmaximierende Interpret auf die entgegengesetzte Weise. Geht man davon aus, dass alle weiteren, von beiden Positionen anerkannten textexternen interpretationsrelevanten Faktoren gleichermaßen mit den unterschiedlich spezifizierten Billigkeitspräsumtionen in Einklang zu bringen sind (wie im Fall von James‘ Das Durchdrehen der Schraube, wo der Textbestand mit beiden Deutungen übereinstimmt, auch der soziohistorische Kontext eine Interpretation als Geistergeschichte und als psychologische Fallstudie zulassen würde etc.), werden sich die metatheoretischen Debatten in Bezug auf die beiden Positionen letztlich um die Gewichtung der jeweils interpretationsanleitenden Präsumtionen drehen. Der Struktur nach lassen sich aber beide Arten der Interpretation als vergleichbare Abwägungsprozesse begreifen, die – eben auf unterschiedliche Weise – eine Reihe von interpretationsrelevanten Faktoren in Einklang zu bringen versuchen, um so zu einer sinnvollen Interpretation ihres jeweiligen Interpretandums zu kommen. Nimmt man diese strukturelle Analogie ernst, spricht nichts dagegen, von einer Multidimensionalität präsumtiver Unterstellungen auszugehen, die sich nicht nur auf im engeren Sinn rationale Kategorien beschränkt, sondern auch ästhetische Kategorien mitberücksichtigt. Jerrold Levinson tut genau das in Anwendung auf die hypothetische Zuschreibung von Autorintentionen. Seine Überlegungen lassen sich auch auf die präsumtive Unterstellung bestimmter Inhalte in Prozessen philologischer Interpretation generell ausweiten. Nicht zufällig verweist Levinson in diesem Kontext wörtlich auf ein principle of charity: This is a good point to remark how the idea of a best hypothetical attribution of intention to an author is itself best understood. I have in mind that this be done with a certain duality. Principally, a best attribution is one that is epistemically best – that has the most likelihood of being correct, given the total evidence available to one in the position of ideal reader. But secondarily, a best attribution of intention to an author might involve, in accord with a principle of charity, choosing a construal that makes the work artistically better, where there is room for choice, so long as plausibly ascribed to the author given the full context of writing. In other words, if we can make the author out to have created a cleverer or more striking or more imaginative work, without violating the image of his oeuvre underpinned by the total available textual and contextual evidence, we should perhaps do so. That is then our best projection of intent – ‘best’ in two senses – as informed and sympathetic readers.⁵⁶⁶

Damit können wir erneut auf die zu Beginn des Kapitels an die werkimmanente Interpretationstheorie gerichtete Kritik zurückkommen. Der werkimmanenten Art der Interpretation muss tatsächlich ein Sonderstatus zugesprochen werden, da sie sich auf eine radikal einseitige Strategie zur Auflösung von interpretativen Problemen festlegt. Die Feststellung, dass ein bestimmter Text ästhetisch defizient

 Levinson 1996b, 179.

3.4 Philologisches Fazit II

183

bzw. künstlerisch wertlos ist, kann die Werkimmanenz in dieser Form nicht treffen, während die wertmaximierende Interpretationstheorie diese Möglichkeit prinzipiell anerkennt.⁵⁶⁷ Interpretationstheorien, die bestimmte Lösungsstrategien prinzipiell ausschließen, laufen jedoch Gefahr, zu bloßen Verbesserungshermeneutiken zu werden. Bevor ich dieses zentrale Problem im Einzelnen erläutern werde, soll analog zu Kapitel 2.5 ein zusammenfassendes Fazit zum inhaltlichen Zuschnitt eines philologischen Billigkeitsprinzips gezogen werden.

3.4 Philologisches Fazit II: Der inhaltliche Zuschnitt eines philologischen Billigkeitsprinzips Wie sich im Rahmen von Abschnitt 3.1 herausgestellt hat, erweist sich die nachsichtige Unterstellung von Wahrheit, die für radikale Übersetzung bzw. radikale Interpretation im Sinne Quines und Davidsons zentral ist, für die philologische Hermeneutik nur in äußerst eingeschränktem Sinn als relevant. Der Wahrheitswert eines literarischen Interpretandums ist – sofern überhaupt sinnvoll von einem Wahrheitswert fiktionaler literarischer Texte, bzw. genauer: von einem Wahrheitswert von in fiktionalen literarischen Texten enthaltenen Propositionen gesprochen werden kann, (vgl. hierzu 3.1.2) – für den philologischen Interpreten charakteristischerweise von bestenfalls untergeordnetem Interesse. Da sich philologische Interpretation auf die höheren Verstehensstufen beschränkt und damit Interpretationsgegenstände betrifft, die in einem grundlegenden Sinn bereits verstanden sind, ist die Funktion der Wahrheitsunterstellung als hermeneutischer Türöffner, die ihr etwa bei Davidson zukommt, im Fall philologischer Interpretationsprozesse hinfällig. Als zentralste Rationalitätsunterstellung erweist sich die Unterstellung von Kohärenz (vgl. 3.2). Eine Kohärenzpräsumtion lässt sich in ihrer grundlegendsten Form durch transzendentale und normative Überlegungen rechtfertigen, in spezifischeren Formen durch induktiv-probabilistische und prozedurale Begründungen. Die Unterstellung von künstlerischem bzw. enger gefasst: von ästhetischem Wert bildet die im Rahmen philologischer Interpretation nicht zu ignorierende Tatsache ab, dass die Interpretanda charakteristischerweise Kunstwerke sind und auch als solche wahrgenommen werden sollten. Dieser Intuition zu folgen führt jedoch nicht dazu, eine Sonderstellung für die philologische Interpretation annehmen zu müssen, die sie kategorial von anderen Bereichshermeneutiken un-

 Vgl. Goldman 1995, 105, insbesondere: „But an interesting interpretation might be acceptable even though it dismisses some parts of a work as mistakes on the artist’s part“.

184

3 Inhaltliche Bestimmung von Billigkeitsprinzipien

terscheidet. Wie sich in Abschnitt 3.3 gezeigt hat, ist es möglich, die Unterstellung ästhetischen Werts in das Arsenal potentieller inhaltlicher Konkretisierungen von Billigkeitsprinzipien aufzunehmen. Dass es sich dabei dann nicht um eine im engeren Sinn rationale, sondern um eine ästhetische Ausformung handelt, ändert nichts an der analogen Struktur des interpretativen Rekurses auf Billigkeitsprinzipien. Ein an Stecker angelehntes Verständnis von philologischer Interpretation als „appreciative understanding“⁵⁶⁸ bzw. als „understanding that leads to appreciation“⁵⁶⁹ bildet diese doppelte Fundierung philologischer Hermeneutik in rationalen und ästhetischen Grundlagen angemessen ab. Von besonderem Interesse auch für die noch folgenden Überlegungen sind die unter 3.2.3 am Beispiel der Kohärenzpräsumtion diskutierten Spezifikationen allgemeiner Präsumtionen. Je mehr der Interpret zu Beginn eines Interpretationsprozesses über sein Interpretandum weiß, desto mehr kann er die allgemeine Präsumtion von Kohärenz (oder auch die Präsumtion von ästhetischem Wert) etwa in sozialgeschichlicher oder literaturhistorischer Hinsicht konkretisieren (vgl. die Erläuterungen zu den drei Beispielen unter 3.2.4). Die basale Unterstellung des abstrakten Kriteriums Kohärenz bildet ein theoretisches Fundament, auf das der Interpret im gegebenen Fall zurückfallen kann – in den meisten Fällen wird er dies nicht tun müssen. Im Gegenteil, in vielen Fällen sind philologische Interpreten in Bezug auf ihre Interpretationsgegenstände so umfassend informiert, dass die interpretativen Erwartungen bereits enger umrissen sind. In diesen Fällen konkretisieren sich die allgemeinen Unterstellungen von Kohärenz und ästhetischem Wert beispielsweise zu genrespezifischen Erwartungen, die noch konkreter sind, als literaturhistorisch spezifizierte Erwartungen. Deutlich wird dieser Mechanismus anhand eines Beispiels, das Jannidis gibt: Wenn etwa ein Buch, das als Kriminalroman angekündigt ist, längere Ausführungen über die Architektur und die historischen Hintergründe des Ortes enthält, an dem sich die Handlung ereignet, dann kann man eine Verletzung des narrativen Kooperationsprinzips konstatieren. […] Offensichtliche Verstöße gegen dieses Kooperationsprinzip sind dann sozusagen Aufträge an die Leser, nach einem neuen Verständnis des Textes zu suchen, das nicht mehr als Verstoß zu sehen ist.⁵⁷⁰

Jannidis’ Version des hermeneutischen Billigkeitsprinzips, auf das ich insbesondere in 4.1 zurückkommen werde, beinhaltet an dieser Stelle die genrespezifische Unterstellung, dass sich Kriminalromane nicht allzu lange mit Details aufhalten,

 Stecker 2003, 75.  Stecker 2003, 75.  Jannidis 2004, 56.

3.4 Philologisches Fazit II

185

die in keinem Zusammenhang mit der unmittelbaren Handlung (etwa des aufzuklärenden Mordes) stehen. Weicht der interpretierte Text dann von dieser Erwartung dadurch ab, dass er lange Ausführungen über Architektur enthält, ist diese Abweichung wenn möglich interpretativ aufzulösen. Dies könnte etwa dadurch erreicht werden, dass die Architektur des Handlungsraumes in Verbindung gebracht wird mit der Architektur der im Roman begangenen Verbrechen. Analog lesen wir z. B. historische Romane mit einer recht klar definierten Erwartung, dass die Handlung mindestens in groben Zügen den historischen Fakten entspricht, während wir dies bei anderen Textsorten (etwa Märchen oder Science-FictionRomanen) nicht tun würden. Nach meiner Einschätzung gehen auch solche genrespezifischen Unterstellungen auf die oben diskutierten grundlegenden Unterstellungen von Kohärenz, ästhetischem Wert oder Wahrheit zurück. Für eine noch umfassendere Konkretisierung könnte es ergiebig sein, literaturhistorisch detailliert zu eruieren, welche Erwartungen für welche literarischen Genres typisch sind.⁵⁷¹ Von der Art und Weise, auf die die grundlegenden Unterstellungen an literarische Interpretanda spezifiziert sind, wird auch abhängen, welche Textstellen als Anomalien bzw. als Abweichungen von interpretativen Erwartungen und damit als a fortiori nachsichtiger Interpretation bedürfende Stellen charakterisiert werden können. Diese Problematik werde ich in Abschnitt 4.2.3 ausführlich diskutieren – sie ist einzuordnen in den größeren Problemzusammenhang von Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation. Sofern nämlich keine Unterscheidungskriterien angegeben werden, ist es für den Interpreten nicht möglich, zu entscheiden, ob er mit einer Abweichung von Unterstellungen konfrontiert ist, die durch nachsichtige Interpretation als Konformität mit eben diesen Unterstellungen auf einer höheren Ebene erwiesen werden kann, oder mit Abweichungen, die aus einer schlichten Defizienz des Textes resultieren. Über die unmittelbare Relevanz dieses Problems kann auch der Befund, dass eine Theorie hermeneutischer Abbruchregeln bislang Desiderat der Forschung geblieben ist, nicht hinwegtäuschen.⁵⁷² Der folgende Abschnitt versucht konsequenterweise, diesem Desiderat Abhilfe zu schaffen.

 In Ansätzen und bezogen auf Wahrheit tut dies Lamarque 2010.  Explizit wird dieses Desiderat etwa formuliert von Spoerhase 2007, 430, Anm. 152: „Gegenwärtig steht keine Theorie hermeneutischer Abbruchregeln zur Verfügung“.

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation Wie schon mehrfach angesprochen ist es im Rahmen hermeneutischer Prozesse prinzipiell möglich, jede Stelle, an der ein Interpretandum von wie auch immer inhaltlich konkretisierten präsumtiven Erwartungen abweicht, nachsichtig zu reinterpretieren, um dadurch die Verletzung der unterstellten Norm als bloß scheinbar bzw. oberflächlich beschreiben zu können. Spoerhase fasst diesen Sachverhalt mit dem zutreffenden Hinweis zusammen, dass die „Exemplifikationsstrategie, sprachliches Material, das keinen Sinn hat, als Exemplifikation von Sinnlosigkeit zu reinterpretieren, immer wählbar [ist]. Eine unkontrollierte Handhabung dieser Exemplifikationsstrategie würde aber zur Konsequenz haben, dass nicht-exemplifizierende Sinnlosigkeit grundsätzlich nicht zugeschrieben würde.“⁵⁷³ Ebenso grundsätzlich immer wählbar ist die Option, problematische Stellen durch eine Bedeutungsverlagerung zu erklären, d. h. die Abweichungen von bestimmten Unterstellungen als Übereinstimmungen mit ebendiesen Unterstellungen auf einer anderen Ebene zu identifizieren.⁵⁷⁴ Die Folge der Anwendung dieser interpretativen Strategien in jedem Fall führt aber direkt zu dem Problem, dass defiziente Texte unmöglich als solche qualifiziert bzw. überhaupt als solche identifiziert werden könnten. Das Prädikat „defizient“ ist in diesem Kontext übrigens nicht auf ästhetischen Anspruch restringiert, es wäre entsprechend der konkreten Abweichung von den unter 3.1, 3.2 und 3.3 spezifizierten Inhalten Wahrheit, Kohärenz und ästhetischem Wert zu konkretisieren als „falsch“ bzw. „unwahr“, „inkohärent“ oder eben „ästhetisch defizient“. Defizienzen könnten in jedem Fall auf der Seite des Interpreten verortet werden, der den gewissermaßen immunisierten Text eben nur noch nicht angemessen verstanden habe, um eine nachsichtige Reinterpretation leisten zu können.⁵⁷⁵ An dieser Stelle unterscheidet sich das hermeneutische Verfahren der radikalen Interpretation im Sinne Quines und Davidsons deutlich von der philologischen Interpretation. Die Argumentation Quines und Davidsons, dass eine einseitige Zuschreibung von Defizienzen auf Seiten des Interpreten notwendig sei, um überhaupt in den Interpretationsprozess einsteigen zu können, greift im Fall der Interpretation literarischer Texte nur bedingt. Die Texte, die der Literaturwissenschaftler üblicherweise interpretiert, sind in paradigmatischen Fällen in grundlegender Hinsicht bereits verstanden, weswegen sich die asymmetrische

 Spoerhase 2007, 424.  Vgl. auch Jannidis 2004, 53 – 56 und Spoerhase 2007, 424 f.  Wie unter 3.3.1 gezeigt, wurde diese Haltung etwa im Rahmen der werkimmanenten Interpretationstheorie offensiv vertreten. Vgl. die schon zitierte Passage in Burckhardt 1967, 15.

4.1 Das Problem der Verbesserungshermeneutik

187

Konstruktion einer Zuschreibung von Defizienzen nicht vollständig mit der Situation des radikalen Interpreten analogisieren lässt.⁵⁷⁶

4.1 Das Problem der Verbesserungshermeneutik Eine in der eben erläuterten Art und Weise festgelegte Hermeneutik ist ungeeignet für die philologische Interpretationspraxis, schon deshalb, weil sie die in der Realität faktisch anzutreffende Situation nicht richtig abbildet. Spoerhase bringt die Problematik auf den Punkt: Eine derartige Hermeneutik wäre empirisch insensitiv und müsste als eine Verbesserungshermeneutik rekonstruiert werden; als eine Hermeneutik also die darauf abzielt, alle Verstöße der Interpretationsobjekte gegen das Kooperationsprinzip mittels interpretativer Strategien zu minimieren oder ganz aufzulösen. […] Misslungene Gedichte kann es aus dieser Perspektive schon rein begrifflich nicht geben; es gibt vor diesem Hintergrund allenfalls Artefakte, denen es misslingt, ein Gedicht zu sein. Das Problem, das sich hier ergibt, ist, dass die meisten Gedichte (auf die eine oder andere Weise) misslungen sind, ohne dass diese Gedichte darum ihren Gedichtcharakter verlieren würden.⁵⁷⁷

Ich werde dieses Problem im Anschluss an Spoerhases Formulierung als das Problem der Verbesserungshermeneutik bezeichnen. Es gibt verschiedene Arten mit ihm umzugehen. Die erste Option ist, es aus methodologischen Gründen als unlösbar einzustufen und die daraus folgenden Konsequenzen für die Interpretationspraxis zu akzeptieren bzw. offensiv zu vertreten. Für diese Variante argumentiert Michael Titzmann. Titzmann schlägt in seiner grundlegenden Untersuchung Strukturale Textanalyse eine Reihe von Interpretationsregeln vor, von denen Nummer 16 lautet wie folgt: „IR 16: Die ‚Text‘-Analyse muß davon ausgehen, daß alle wahrnehmbaren ‚Text‘-Daten bedeutungstragend/semantisiert sind.“⁵⁷⁸ Selbst in dem Fall, dass es

 Es ist anzumerken, dass sich Davidson dieser Problematik einer unreflektierten Analogiserung von radikaler Interpretation und philologischer Interpretation durchaus bewusst war, auch wenn es leider keine ausführlichen Äußerungen Davidsons hierzu gibt (der vom Titel her vielversprechendste Aufsatz Locating Literary Language enthält wenig Brauchbares). In einem Interview mit Thomas Kent äußert sich Davidson zurückhaltend auf die Frage der Anwendbarkeit radikaler Interpretation auf die Interpretation von Literatur und erklärt, dass es sich dabei um eine „very tricky question“ handle, über die er noch nicht genug nachgedacht habe. (Davidson 1994, 23 f.).  Spoerhase 2007, 425. Vgl. auch Danneberg 1996, 324.  Titzmann 1977, 191.

188

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

sich hier um eine ungenau formulierte Präsumtionsregel handeln sollte (was, wie sich im Verlauf von Titzmanns Ausführungen zeigt, nicht der Fall ist), bleibt fraglich, inwieweit die inhaltliche Ausdifferenzierung als Unterstellung vollständiger Semantisierung sinnvoll ist. Damit wäre jedem Textbestandteil gleichermaßen Interpretationswürdigkeit, oder sogar Interpretationsbedürftigkeit zuzuschreiben. Sofern nicht wenigstens eine graduelle Unterscheidung bezüglich der Relevanz einzelner Textbestandteile getroffen wird, ist ein Interpretationsprozess praktisch wohl kaum mehr durchführbar. Auch Peter Rabinowitz geht davon aus, dass sowohl die Annahme der analogen Interpretationswürdigkeit eines jeden textuellen Details absurd ist, als auch davon, dass es sogar unmöglich sei, einen Text unter dieser Voraussetzung zu interpretieren: „If one assumes that all features of a text are to recieve close attention from an interpreter, then a text (even a lyric poem, certainly a novel) becomes an infinite and impenetrable web of relationships.“⁵⁷⁹ Es sei viel eher angezeigt, sich im Interpretationsprozess auf die Textpassagen zu konzentrieren, die Leerstellen⁵⁸⁰ offen lassen oder einen nicht unmittelbar erklärbaren Informationsüberschuss⁵⁸¹ anbieten. Speziell Passagen, die dadurch von interpretativen Erwartungen abweichen, dass sie „apparently irrelevant textual features“⁵⁸² oder „contradictory information“⁵⁸³ beinhalten, seien interpretativ zu erklären. Entscheidend für die Überlegungen zu Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation ist aber vor allem der Zusatz, den Titzmann zu seiner fraglichen Interpretationsregel ergänzt: Aus der Tatsache, daß ein Interpret einem bestimmten Datum keine Bedeutung zuordnen kann, folgt nur, daß ihm nichts (Nachweisbares) eingefallen ist, – nicht aber, daß das Datum keine Bedeutung habe. Diese Behauptung könnte überhaupt erst bei totalem und abgeschlossenem Wissen, d. h. am Ende aller Tage, aufgestellt werden: bis dahin aber müssen wir annehmen, daß alle Daten eine Bedeutung haben, wenn wir diese auch in bestimmten Fällen nicht finden.⁵⁸⁴

 Rabinowitz 1987, 51. Analog plädiert Todorov 1977, 239 dafür, bestimmte Textstellen als für die Interpretation zentral auszuzeichnen und andere als peripher zu verstehen: „[W]e must not assume that there is only a monotonous reading which attributes an equal importance to every sentence of the text, to every part of the sentence.“  Rabinowitz 1987, 154: „gaps that we need to fill in“.  Rabinowitz 1987, 154: „[W]e are supposed to interpret it [the surplus of information] in one way ore another, transforming the text so that it is no longer excessive“.  Rabinowitz 1987, 154.  Rabinowitz 1987, 155.  Titzmann 1977, 191.

4.1 Das Problem der Verbesserungshermeneutik

189

Durch diese Apotheose des Interpretandums wird jenes hermeneutische Ungleichgewicht installiert, das eben als Kern einer problematischen Verbesserungshermeneutik bestimmt wurde. Die Unmöglichkeit einer Defizienzzuschreibung auf Seiten des Interpretandums gilt laut Titzmann aber nicht nur bei der Frage nach der Semantisierung der Textelemente. Der Interpret ist nicht nur gezwungen, eine vollständige Semantisierung jedes Textelements anzunehmen und Problemfälle dem eigenen Nicht-Verstehen anzulasten, auch in Hinsicht auf die in Kapitel 3.2 ausführlich diskutierte Kohärenzunterstellung ist eine Abweichung immer durch die Defizienz des Interpreten zu begründen: „Wiederum können wir also niemals definitiv behaupten, ein ‚Text‘ weise einen irreduziblen, unauflösbaren Widerspruch auf, sondern nur, daß wir keine widerspruchsfreie semantische Funktion des Widerspruchs gefunden haben.“⁵⁸⁵ Die Folgen von Titzmanns Ausführungen für die Methodologie der philologischen Hermeneutik sind weitreichend. Die einzige Möglichkeit, nachsichtige Interpretation mit einem Verwies auf die Defizienz des Interpretandums einzustellen ist das „Ende aller Tage“, das mit „totalem und abgeschlossenem Wissen“ einhergehen soll. Damit ist ein epistemischer Standard formuliert, der realiter nicht eingelöst sein kann. Dies hat wiederum zur Folge, dass es in der Praxis keine Abbruchkriterien für nachsichtige Interpretation in der durch Titzmanns Interpretationsregeln spezifizierten Form gibt: es gibt im Alltagsgeschäft der Literaturwissenschaft keine schlechten (z. B. im Sinne von: keine inkohärenten, ästhetisch defizienten) Texte, es gibt immer nur Texte deren Qualität (z. B. im Sinne von: Kohärenz, ästhetischem Wert) noch nicht erwiesen werden konnte. Für Titzmanns Interpretationsregeln heißt dies, dass ihnen nicht der Status von Präsumtionen zugeschrieben werden kann, für die in Kapitel 2.4 Revidierbarkeit als notwendige Bedingung definiert wurde. Titzmanns Interpretationsregeln sind, sieht man von einem für die Interpretationspraxis irrelevanten „Ende aller Tage“ ab, irreversibel und dogmatisch. Im Alltagsgeschäft der literaturwissenschaftlichen Textinterpretation kann keine Rede von „totalem und abgeschlossenem Wissen“ sein, Entscheidungen müssen vielmehr auf der Grundlage von bestimmten revisions- oder ergänzungsfähigen Informationen getroffen werden.⁵⁸⁶

 Titzmann 1977, 192. Dementsprechend ist auch die Interpretationsregel IR 17b „Die ‚Text‘Analyse muß also versuchen, aus jedem Widerspruch zweier Terme einen dritten Term zu folgern, der selbst mit keinem anderem Term des ‚Textes‘ in Widerspruch steht“ nicht als revidierbare Präsumtion aufzufassen, sondern als irreversibel-dogmatische Anweisung.  Gerade in diesem defizienten Wissensstand des Interpreten zu Beginn des Interpretationsprozesses liegt der Sinn eines Rekurses auf Billigkeitspräsumtionen (vgl. Abschnitt 2.4.2). Da auch der Wissenstand eines Interpreten nach dem Durchlauf eines Interpretationsprozesses

190

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

Dementsprechend führt eine Anwendung von Titzmanns Vorschlägen gezwungenermaßen dazu, dass Textinterpretation zu einem rein affirmativen Akt degradiert würde, der lediglich die immer schon im Vorhinein feststehenden Qualitäten des Textes akzentuiert.⁵⁸⁷ Titzmanns Programm vorzuziehen sind die alternativen Vorschläge Fotis Jannidis’ im Einleitungskapitel seines Buchs Figur und Person. Jannidis geht im Gegensatz zu Titzmann nicht von einer vollständigen Semantisierung aller Textbestandteile aus, sondern versteht vor allem jene Textbestandteile als interpretationsbedürftig, die als sekundäre Zeichen verstanden werden können.⁵⁸⁸ Jannidis ist der Meinung, dass nicht jeder Textbestandteil in diesem Sinn als sekundäres Zeichen verstanden werden kann: „Nicht jedes erzählte Phänomen der erzählten Welt ist ein sekundäres Zeichen, im Gegenteil, wahrscheinlich sind die meisten Phänomene außer in einem sehr vagen Sinn kein sekundäres Zeichen bzw. Teil eines solchen. Die Frage, was ein Zeichen als Zeichen kenntlich macht, stellt sich besonders bei solchen sekundären Zeichen.“⁵⁸⁹ Primäre Zeichen können laut Jannidis schon aufgrund des Kontexts erkannt werden, auch wenn man ihren semantischen Gehalt nicht versteht. Sein Beispiel ist, dass der Leser eines Buchs die Wörter auf den bedruckten Seiten auch dann als (primäre) Zeichen versteht, wenn er die Bedeutung der Wörter nicht verstehen kann – eben weil es sich um ein Buch handelt, und in Büchern üblicherweise Zeichen enthalten sind.⁵⁹⁰ Im Sinne von Verstehensstufe 2 kann der Interpret also zumindest den Verweisungscharakter der ihm unbekannten Wörter konstatieren. Im Fall von sekundären Zeichen ist dies schwieriger. Jannidis Idee ist, dann von sekundären Zeichen zu sprechen, wenn fragliche Textbestandteile mit einem „semiotischen Trigger“⁵⁹¹ versehen sind: Im Fall von sekundären Zeichen ist dies aber sehr viel unbestimmter. So kann die Reise einer Figur von einer Stadt in die nächste einfach nur die Handlung verlagern oder auch Zeichen

sensitiv für bislang unbekannte Informationen bleiben muss, kann in der Praxis nie von dem „totalem und abgeschlossenem Wissen“, das Titzmann vorschwebt, die Rede sein.  Vgl. das übereinstimmende Fazit in Spoerhase 2007, 433 f: „Verliert diese Konzeption einer hermeneutischen Parusie an Plausibilität, geht die kriteriale Dimension der hermeneutischen Optimierungsstrategie allerdings vollständig verloren: Dann steht bereits unabhängig vom Interpretationsvorgang fest, dass es sich beim Interpretationsobjekt um ein vollkommenes literarisches Kunstwerk handelt, und dem Interpreten kommt dann allenfalls die Aufgabe zu, dieses Vorwissen hermeneutisch zu entfalten.“  Vgl. die einleitenden Überlegungen zu Verstehensstufe 10 in Abschnitt 1.1.  Jannidis 2004, 78.  Vgl. Jannidis 2004, 78.  Jannidis 2004, 78.

4.1 Das Problem der Verbesserungshermeneutik

191

für etwas anderes sein. Semiotischer Trigger könnte in solch einem Fall z. B. die Länge der Reisebeschreibung sein, da zur Handlungsverlagerung eigentlich schon die Angabe des Ortswechsels genügt.⁵⁹²

„Semiotische Trigger“ funktionieren also als eine Art Marker, die eine nachsichtige Reinterpretation von in irgendeiner Weise auffälligen Textstellen legitimieren. Dass eine derartige Interpretation grundsätzlich gerechtfertigt ist, wird von Jannidis analog zu den bisherigen Überlegungen im Rekurs auf Prinzipien interpretativer Billigkeit erklärt. Jannidis geht von einem auf Grice rekurrierenden „Kooperationsprinzip der narrativen Kommunikation“⁵⁹³ aus, das die Grice’schen Konversationsmaximen auf die Literaturinterpretation überträgt und damit durchaus als Variante des hermeneutischen Billigkeitsprinzips verstanden werden kann. Es ermöglicht dem Interpreten allgemein, Abweichungen von kooperativen Bemühungen innerhalb der interpretierten Texte zu erklären, was laut Jannidis auch im Fall literarischer Kommunikation sinnvoll ist: Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber heraus, daß auf diese Weise eine Norm entstanden ist, von der ständig abgewichen wird, die aber die Abweichungen spezifiziert. Anders gesagt: es entsteht ein Hintergrund, vor dem erst die regelhafte Gestalt des jeweiligen sprachlichen Verhaltens sichtbar wird. Die bekannten Konversationsmaximen der Qualität, Quantität, Relation und Modalität ermöglichen die Herstellung einer regelhaften Beziehung zwischen der Oberflächenbedeutung der Äußerung, die dem Prinzip zu widersprechen scheint, und der eigentlichen Bedeutung, die dem Prinzip folgt.⁵⁹⁴

Weicht das Interpretandum also etwa in Bezug auf seine Kohärenz von den präsumtiv unterstellten Erwartungen des Interpreten ab, legitimiert das „Kooperationsprinzip“ in den Fällen, in denen diese Abweichung durch einen semiotischen Trigger gekennzeichnet ist, eine Reinterpretation der betreffenden Stelle als kohärent auf höherer Ebene.⁵⁹⁵ Analog ist zu verfahren, sofern das Interpretandum z. B. von genrespezifischen Erwartungen abweicht.⁵⁹⁶ Damit ist auch Jannidis mit dem Problem einer Verbesserungshermeneutik konfrontiert. Es besteht grundsätzlich die Gefahr, jede Abweichung von Kohärenzerwartungen oder genrespezifischen Erwartungen als Auftrag an den Leser zu verstehen, Kohärenz oder Genreadäquatheit auf einer höheren Ebene herzustellen. Es ist ein Kriterium nötig, das dem Interpreten eine Möglichkeit an die Hand gibt,

    

Jannidis 2004, 78. Jannidis 2004, 52. Jannidis 2004, 54. Vgl. Jannidis 2004, 55 f. Vgl. Jannidis 2004, 56.

192

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

rational zu entscheiden, wann er es mit „wirre[m] Zeug“⁵⁹⁷ zu tun hat und wann mit durch nachsichtige Interpretation zu erschließendem „interessante[n] Geschehen“.⁵⁹⁸ Anders als Titzmann versucht Jannidis, dieses Problem zu lösen. Nachsichtige Interpretation devianter Textstellen ist seiner Ansicht nach eben speziell dann (oder sogar: nur dann) gerechtfertigt, wenn die betreffenden Stellen den Status eines sekundären Zeichens haben. Diese Eigenschaft soll der Interpret wiederum durch an den fraglichen Stellen zu entdeckende semiotische Trigger erschließen können. Damit wäre auch ein Kriterium gefunden, das anzeigt, wann kein Bedeutungsaufstieg angebracht ist: Immer dann, wenn kein semiotischer Trigger gefunden werden kann, ist auf eine nachsichtige Reinterpretation zu verzichten und die Anomalie bzw. Abweichung des Interpretandums von einer unterstellten Normerwartung wäre als solche zu akzeptieren.⁵⁹⁹ Positive Konsequenz dieser Idee ist, dass der Interpret nicht mehr dazu gezwungen ist, auf das „Ende aller Tage“ zu warten, um die Defizienz des Interpretandums feststellen zu können. Sofern eine inkohärente Passage nicht mit einem semiotischen Trigger versehen ist, ist sie schlicht und einfach als inkohärent zu qualifizieren und eben nicht als kohärent auf einer höheren Ebene. Damit wird der Interpret in die Lage versetzt, schlechte Texte als schlechte Texte qualifizieren zu können und nicht nur als Texte, deren Qualität aufgrund der Inkompetenz des Interpreten noch nicht erwiesen werden konnte. Allerdings krankt Jannidis’ Vorschlag an zwei entscheidenden Problemen: Das erste Problem ist, dass Jannidis’ Vorschlag abhängig ist von einer halbwegs präzisen Bestimmung semiotischer Trigger. Sofern nicht klar ist, was unter einem solchen Trigger verstanden werden kann, ist fraglich, wieviel durch die Einführung des Begriffs überhaupt gewonnen ist. Leider bietet Jannidis in dieser Hinsicht so gut wie gar keine Präzisierungen an. Es bleibt bei dem wenig hilf-

 Jannidis 2004, 55 f.  Jannidis 2004, 55 f.  Ich bin mir bewusst, dass die obige Interpretation der Überlegungen Jannidis’ wie ein klassischer Fehlschluss (Verneinung des Antezedens) aussehen könnte. Der Schluss (P1) Nachsichtige Interpretation ist legitim, wenn es einen semiotischen Trigger gibt. (P2) Es gibt keinen semiotischen Trigger. (K) Nachsichtige Interpretation ist nicht legitim. ist natürlich fehlerhaft. Das heißt, dass Jannidis zumindest aus logischen Gründen nicht die These vertreten müsste, dass nachsichtige Interpretation ohne semiotischen Trigger illegitim ist. Ich habe den Eindruck, dass er es trotzdem tut. Spoerhase 2007, 429 teilt diese Sichtweise und liest Jannidis ebenfalls als jemanden, der der Ansicht ist, dass „der Interpret in der hermeneutischen Ausgangsstellung annimmt, dass kein Bedeutungsaufstieg angebracht ist, und einen Bedeutungsaufstieg nur unter der Voraussetzung versucht, dass dieser semiotische Aufstieg von einem positiven Auslöser in der Erzählung (‚trigger‘) initiiert wird.“ [meine Hervorhebung].

4.1 Das Problem der Verbesserungshermeneutik

193

reichen Hinweis, dass semiotische Trigger, gerade als Marker, die sekundäre Zeichen als solche erkenntlich machen, „sehr viel unbestimmter“⁶⁰⁰ seien als in den Fällen, in denen es um das Erkennen primärer Zeichen geht. Wenn aber in einem gegebenen Kontext prima facie alles als semiotischer Trigger verstanden werden kann, wird unklar, inwiefern innerhalb des Konzepts Abbruchkriterien interpretativer Bemühungen spezifiziert werden können. Es steht die prinzipielle Möglichkeit im Raum, jede textuelle Abweichung von Jannidis’ Prinzip narrativer Kommunikation als mit einem wie auch immer spezifizierten Trigger versehen aufzufassen, womit die ganze Idee, semiotische Trigger als Differenzierungsmerkmal interpretationswürdiger und nicht interpretationswürdiger Abweichungen im Text einzuführen, redundant wird. Das zweite Problem ist, dass fraglich bleibt, inwieweit semiotische Trigger in der von Jannidis vorgeschlagenen Form konsistent in eine hermeneutische Interpretationstheorie, die auf präsumtive Unterstellungen an das Interpretationsobjekt gegründet ist, integriert werden können. Semiotische Trigger sind bei Jannidis zu rekonstruieren als positive Evidenz, die die nachsichtige Interpretation eines Textes oder einer bestimmten Passage in einem Text rechtfertigen. Dies hat aber zur Folge, dass der Ausgangszustand, in dem sich der Interpret zu Beginn eines Interpretationsprozesses befindet, ein Zustand ist, in dem er noch keine allgemeinen nachsichtigen Unterstellungen anlegt. Er geht solange davon aus, dass eine Stelle nicht interpretationswürdig ist, bis ihn positive Evidenz in Form eines semiotischen Triggers dazu führt, die Normabweichung des betreffenden Textes interpretativ zu korrigieren. Nimmt man den präsumtiven Charakter von Billigkeitsprinzipien im Kontext philologischer Interpretation ernst, sollte der Interpret textuelle Anomalien aber nicht erst dann legitimerweise reinterpretieren dürfen, wenn er positive Evidenz in Form eines semiotischen Triggers entdeckt, sondern grundsätzlich von der Interpretationswürdigkeit einer bestimmten Stelle ausgehen können, die in welchem Sinne auch immer von präsumtiv unterstellten Erwartungen abweicht. In Analogie an die Unschuldspräsumtion in der Rechtssprechung hätte eine Stelle dann so lange als kommunikativ relevant bzw. übereinstimmend mit einer unterstellten Norm zu gelten, bis ihre Irrelevanz bzw. Defizienz in Hinblick auf die unterstellte Norm erwiesen ist.⁶⁰¹

 Jannidis 2004, 78.  Ich denke, dass das Einfordern positiver Evidenz als Auslöser eines Interpretationsprozesses auch Jannidis 2004, 52 eigenem „Kooperationsprinzip der narrativen Kommunikation“ zuwiderläuft. Dieses legt nach Jannidis’ Explikation nahe, grundsätzlich und von vorneherein von einer grundlegenden Relevanz kommunikativer Beiträge respektive literarischer Texte auszugehen und nicht erst dann, wenn scheinbar irrelevante Passagen durch semiotische Trigger als relevant auf einer höheren Ebene ausgezeichnet werden.

194

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

Aus meiner Sicht befinden sich sowohl Titzmann als auch Jannidis in einem Dilemma: Titzmanns Konzeption erlaubt es, einen wünschenswerten Ausgangszustand des Interpreten zu vertreten, in dem von der grundsätzlichen Interpretationswürdigkeit devianter Textelemente ausgegangen werden kann, zwingt den Interpreten jedoch dazu, in dieser Lage zu verharren und macht es dadurch unmöglich, die Defizienz einer gegebenen Textstelle (oder eines gegebenen Textes) zu konstatieren. Jannidis löst dieses Problem dadurch, dass er Texten so lange Defizienz zuschreibt, bis ein semiotischer Trigger die interpretative Korrektur dieser Defizienzen legitimiert, kommt damit nolens volens aber in die mißliche Lage, einen Ausgangszustand des philologischen Interpreten annehmen zu müssen, in dem so lange pessimistisch von der Defizienz einer Passage (oder eines Textes) ausgegangen wird, bis ein semiotischer Trigger entdeckt wird. Möglicherweise ist die enorm weite Fassung des Begriffs „semiotischer Trigger“ in diesem Zusammenhang dadurch zu erklären, dass in dem Fall, in dem ohnehin alles als Trigger verstanden werden kann, die Forderung nach positiver Evidenz so weit aufgeweicht wird, dass gewissermaßen durch die Hintertür doch wieder jener auf positive Präsumtionen zurückgreifende Ausgangszustand eingeführt wird, der es dem Interpreten erlaubt, grundsätzlich von der Interpretationswürdigkeit potentiell abweichender Textstellen auszugehen.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien Meines Erachtens lässt sich das Dilemma wie folgt auflösen: Zunächst muss die Idee verworfen werden, innerhalb eines literarischen Texts bestimmte Stellen, die auf eine hermeneutisch „korrigierbare“ Art und Weise von interpretativen Erwartungen abweichen, durch Marker, Trigger oder sonstige Kennzeichen als sekundäre Zeichen identifizieren zu können. Eine derartige Identifikation und die damit einhergehende Differenzierung in interpretativ auflösbare Devianz von unterstellten Normen und schlichte Defizienz in Hinblick auf unterstellte Normen ist nicht a priori möglich. Über die Eigenschaft einer abweichenden Textstelle, interpretativ erklärbar zu sein, ist erst im Interpretationsprozess selbst zu entscheiden. Gerade weil sich der Interpret zu Beginn eines Interpretationsprozesses in dieser Hinsicht in einem epistemisch defizitären Zustand befindet, ist es sinnvoll, auf präsumtive Unterstellungen zu rekurrieren, die ihm anfänglich sozusagen den interpretativen Weg weisen, bis nach Abschluss des Interpretationsprozesses, jetzt von einem verbesserten epistemischen Standpunkt aus, über ihre eventuell angebrachte Revision entschieden werden kann. Statt zu versuchen, bestimmte Trigger zu identifizieren, die schon im Vorfeld die interpretativen An-

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

195

strengungen zweifelsfrei legitimieren, ist der Interpret angehalten, tentativ jede Abweichung von interpretativen Erwartungen an sich schon als Aufforderung zu verstehen, eine interpretative Erklärung zu suchen. Dieses Vorgehen muss jedoch nicht unmittelbar zu einer Titzmann’schen Verbesserungshermeneutik zurückführen, da es bestimmte Umstände gibt, die einen Abbruch der nachsichtigen Interpretation erlauben. Der Interpret gibt abweichenden Textpassagen lediglich eine Art hermeneutischen Kredits, dessen Laufzeit jedoch nicht bis zum „Ende aller Tage“ andauern muss. Stattdessen entscheidet der Interpret auf Grundlage der im Interpretationsprozess gewonnenen Erkenntnisse, ob es angemessen ist, den in Gestalt von nachsichtigen Unterstellungen gewährten hermeneutischen Kredit aufzukündigen. Die Gretchenfrage ist natürlich, aufgrund welcher Anhaltspunkte der Interpret darüber entscheiden kann, dass es angemessen ist, die Suche nach einer interpretativen Erklärung bestimmter auffälliger Textstellen abzubrechen und der entsprechende Passage damit eine nicht auflösbare Defizienz zuzuschreiben. Auch auf diese Frage gibt es keine a priori feststehende Antwort. Die Entscheidung liegt letztlich in der Urteilskraft des Interpreten, der aufgrund aller im Interpretationsprozess zu berücksichtigenden Belege abzuwägen hat, ob es möglich ist, eine gegebene Abweichung als Normkonformität auf einer höheren Ebene zu erklären, oder nicht. Um diese Idee anschaulicher zu machen und gleichzeitig zu überprüfen, inwiefern sie praktikabel ist, ist es angezeigt, sie anhand einiger exemplarischer Überlegungen durchzuspielen.

4.2.1 Fehler im fiktionalen Diskurs Ein griffiges Beispiel für Fälle, in denen der Interpret angehalten ist, seine anfänglichen präsumtiven Unterstellungen zu revidieren und die hermeneutischen Bemühungen einzustellen, sind Fehler im fiktionalen Diskurs. Das Problem von Fehlern im Kontext fiktionaler Texte bedarf zunächst einiger allgemeiner Bemerkungen. Es ist klarzustellen, dass im Folgenden mit „Fehlern“ keine hermeneutisch uninteressanten Phänomene wie Tippfehler oder ökonomisch-strategische Fehler in der Wahl eines Buchtitels oder Verlags etc. gemeint sind. Der Begriff „Fehler“ ist im engeren Sinn auf Unstimmigkeiten, Widersprüchliches etc. innerhalb der fiktiven Welt zu beziehen. So definiert ist jedoch nicht einmal eindeutig klar, ob es im fiktionalen Diskurs überhaupt Fehler geben kann.Vertritt man die Meinung, dass der Autor eines fiktionalen Textes gewissermaßen allmächtig eine Textwelt mitsamt in ihr geltender Naturgesetze, Figuren und deren Eigenschaften etc. erschafft und zusätzlich eine starke Version des Nonkognitivismus,

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

der einen Realitätsbezug fiktionaler Texte leugnet, wird es schwierig, den Begriff „Fehler“ auf fiktionale literarische Texte anzuwenden, wie auch Wolfgang Huemer zusammenfassend festhält: „Der literarische Antikognitivismus führt also zu einem Auseinanderdriften von Fiktion und Wirklichkeit; er spricht der Literatur jeden Weltbezug ab. […] Wenn aber fiktionalen Texten jedweder Bezug zur realen Welt abgesprochen wird, dann verlieren wir damit auch das Kriterium für das Vorliegen eines Fehlers.Wenn der Autor seine eigenen fiktionalen [sic; lege: eigene fiktionale] Welt entwirft, so unterliegt er keinerlei Einschränkungen in der Ausgestaltung eben dieser; der Dichter kann die Details festlegen wie er will; er ist demnach unfehlbar (zumindest was die im fiktionalen Kontext getätigten Aussagen betrifft).“⁶⁰² Ein kurzer Blick auf einen Beispielfall zeigt jedoch, dass diese Position nicht überzeugend ist.⁶⁰³ In William Goldings The Lord of the Flies gibt es eine Szene, in der dem Jungen Piggy von den anderen mit ihm auf einer Insel gestrandeten Jugendlichen die Brille abgenommen wird. Piggy ist so stark kurzsichtig, dass er ohne seine Brille nicht einmal den Stein auf sich zukommen sieht, mit dem ihn die anderen im Zuge der zunehmenden Brutalisierung der gestrandeten Gruppe schließlich umbringen. Im weiteren Verlauf machen sich die Jugendlichen daran, mit Hilfe von Piggys Brillengläsern Sonnenlicht zu bündeln, um so ein Feuer entfachen zu können. Das Problem an dieser Szene ist, dass Kurzsichtige wie Piggy Brillen mit konkaven Gläsern tragen – und konkave Linsen bündeln das Licht nicht, sondern streuen es. Das heißt, es ist unmöglich, dass die Gestrandeten tatsächlich mit Hilfe von Piggys Brillengläsern ein Feuer hätten entzünden können. Der Interpret hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit dieser Stelle umzugehen: Ohne die Annahme hermeneutischer Abbruchregeln ist er dazu angehalten, fortgesetzt nach einer sinnvollen Interpretation dieser Widersprüchlichkeit im Text zu suchen, da – etwa nach Titzmann – niemals begründetermaßen davon ausgegangen werden kann, dass es schlicht keine gute Erklärung für die Abweichung eines Textes von einer unterstellten Norm gibt. Im Fall von The Lord of the Flies bringt dies den Interpreten in eine schwierige Lage: Um die Lichtbündelung durch eine konkave Linse interpretativ zu explizieren, bedarf es Erklärungen, die im Kontext des Romans nicht plausibel zu machen sind. Das Entfachen des Feuers mit Piggys Brille müsste irgendwie als vage Metapher für den wachsenden Gemeinschaftssinn der Gruppe gedeutet werden, oder als eine spontane Selbstentzündung des Brennmaterials simultan zu dem Versuch der Entzündung, oder die

 Huemer 2010, 214 f.  Das folgende Beispiel findet sich ebenfalls in Ricks 1996b und Huemer 2010, v. a. 220 f.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

197

Geschichte müsste in einer fiktiven Welt verortet werden, die der unseren bis ins Detail gleicht, mit der Ausnahme, dass durch irgendwelche verqueren physischen Gesetzte, die Golding erfunden hat, konkave Linsen Licht bündeln können. Diese Interpretationen sind nicht begründet vertretbar. Geht der Interpret von der Existenz hermeneutischer Abbruchregeln aus, kann er den geschilderten Fall anders einschätzen, und zwar in der Weise, dass es legitim ist, auf nachsichtige Reinterpretation der betreffenden Stelle zu verzichten. Das Faktum, dass es trotz fortgesetzter Anstrengungen unmöglich ist, die textuelle Anomalie (dass konkave Linsen Licht bündeln können) im Rahmen einer plausiblen Interpretation zu erklären, spricht für einen Abbruch interpretativer Bemühungen. Es wird hier schon deutlich, dass die Entscheidung über den Abbruch hermeneutischer Bemühungen immer im Kontext zu treffen ist – der Grund dafür, dass man dem Text hier eine Defizienz, genauer: einen Fehler, zuschreiben kann, der als Auslöser für einen Abbruch interpretativer Bemühungen spricht, ist, dass das betreffende Detail im Kontext des Gesamttextes in keiner Weise interpretationsrelevant ist. Passierte dieselbe Szene im Rahmen eines Romans der systematisch die Gesetze der Physik suspendiert, wäre die unmögliche Lichtbündelung nicht zwingend analog zu bewerten; stattdessen müsste der Interpret weiterhin versuchen, diese Abweichung interpretativ zu erklären. Huemer schlägt ein Kriterium zur Bestimmung von Fehlern im fiktionalen Kontext vor, dass mit diesen Überlegungen in Einklang gebracht werden kann. Er hält es für sinnvoll, von einem Fehler zu sprechen, wenn der Autor ein Element selektiert hat, das, im Zusammenspiel mit den anderen Elementen des Textes, keinerlei Intentionen erkennen lässt oder in krassem Widerspruch zu der Textintention, die aus den anderen Teilen des Werkes hervorgehen würde, steht, ohne dabei eine neue Bedeutungsebene zu eröffnen. Ein Fehler im fiktionalen Kontext liegt demnach dann vor, wenn die selektierten Aspekte (in Bezug auf eine bestimmte Interpretation) auf willkürliche, unplausible oder unvollständige Weise aus ihrem jeweiligen Kontext gelöst und mit anderen kombiniert werden.⁶⁰⁴

Diese erfreulich umfassende Definition von Fehlern im fiktionalen Kontext bestimmt gleichzeitig hermeneutische Abbruchkriterien im oben bestimmten Sinn. Sofern der Interpret zu dem begründeten Schluss kommt, es mit einem Fehler zu tun zu haben, ist er dazu angehalten, das betreffende Textelement, mit Titzmann gesprochen, nicht länger als „semantisiert“ bzw. mit Jannidis gesprochen, nicht länger als „sekundäres Zeichen“ zu verstehen. Allgemeiner formuliert: der mit einem Fehler konfrontierte Interpret ist gerechtfertigt, die nachsichtige Interpre-

 Huemer 2010, 226 [meine Hervorhebungen].

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

tation des betreffenden Punkts abzubrechen und stattdessen dem Text in diesem Fall Defizienz zuzuschreiben.

4.2.2 Drei Beispiele Diese Überlegungen zu hermeneutischen Abbruchregeln sind nicht lediglich auf eine verschwindend geringe Anzahl von Sonderphänomenen beschränkt. Ein etwas ausführlicherer Blick auf Thomas Bernhards Romane Korrektur und Der Untergeher, sowie auf Ed Woods Film Plan 9 from Outer Space wird deutlich machen, inwiefern Entscheidungen über die Zuschreibung von Defizienz und den damit einhergehenden Abbruch interpretativer Anstrengungen zu fundieren sind. Die Wahl von Thomas Bernhards Romanen als exemplarischen Interpretationsgegenständen ist nicht kontingent. Gerade da Bernhards Werk in einem im Großen und Ganzen ähnlichen Stil verfasst ist und darüber hinaus oft sehr ähnliche Themen behandelt, tendiert die Literaturwissenschaft oft etwas vorschnell dazu, allgemeine Aussagen über die einzelnen Texte zu treffen, die sich bei einem genaueren Abgleich mit den konkreten Einzeltexten als problematisch erweisen. Ein Beispiel: Das Chaotische der Welt, die Tatsache, daß das Leben als ein einziger Zug in den Tod erscheint, daß es sich als ‚Totenmaskenball‘ und ‚Schlachthaus‘ erweist, nimmt der menschlichen Existenz ihr Fundament. Denn ein Leben, das lediglich den Zweck verfolgt, sich selbst aufzulösen, entpuppt sich als monströses Nichts. Davon geht Bernhard aus, dies ist das Thema, mit dem er sich in fast allen epischen Arbeiten befaßt, dies verbindet auch die kleineren Erzählungen untereinander und mit den Romanen. Überall begegnen Figuren, die, wo sie gehen und stehen, die Sinnlosigkeit des Daseins hervorheben.⁶⁰⁵

Diese Feststellung Jürgen Petersens mag in ihrer allgemeinsten Form plausibel sein oder nicht (was wohl letztlich davon abhängen wird, wie genau der Ausdruck „fast alle Arbeiten“ zu verstehen sein soll), sie verleitet allerdings dazu, einzelne Stellen in Bernhards Werken so zu interpretieren, als seien sie immer nur als Beleg für eine derartige allgemeine These zu verstehen. Wie ich zeigen werde, ist dies jedoch nicht immer der Fall, es ist notwendig, von hermeneutischen Abbruchregeln Gebrauch zu machen, um nicht jedes textuelle Phänomen vorschnell und fälschlicherweise zur Erklärung einer externen Erwartung, hier in Form einer allgemeinen Hypothese, zu verwenden.

 Petersen 1981, 146.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

199

4.2.2.1 Thomas Bernhard: Korrektur Ein erster Fall, in dem Widersprüche bzw. Fehler im Text durchaus interpretationsrelevant und damit keine Legitimation eines Abbruchs interpretativer Bemühungen sind, ist der 1975 erstveröffentlichte Roman Korrektur. In dem Roman macht sich ein namenloser Ich-Erzähler daran, den Nachlass seines Freundes Roithamer zu ordnen. Roithamer war – wie der Ich-Erzähler selbst – ein in England lehrender Naturwissenschaftler, der sich kurz vor Beginn der im Text wiedergegebenen Handlung umgebracht hat. Die zu ordnenden Texte und Textfragmente befinden sich in der Dachkammer des gemeinsamen Freundes Höller, wo Roithamer vor seinem Selbstmord viel Zeit verbracht hat, um an seinem großen letzten Projekt, dem Bau eines Wohnkegels für seine Schwester, zu arbeiten. Nach der Fertigstellung dieses monumentalen Bauprojekts und der Übergabe des Kegels an seine Schwester stirbt diese und Roithamer geht, wie schon angesprochen, kurz darauf ebenfalls in den Tod. In dem Kontext der obigen theoretischen Überlegungen ist nun gerade dieses „kurz darauf“ zentral. Der Ich-Erzähler bietet im Text nämlich zwei sich ausschließende Varianten der letzten, zwischen dem Begräbnis der Schwester und dem Selbstmord liegenden Tage Roithamers an.⁶⁰⁶ Zunächst erfährt der Leser auf unmißverständliche Weise, dass sich der Erzähler und Roithamer nach dem Begräbnis von Roithamers Schwester in Österreich noch einmal in England wiedergetroffen hätten: „Mir selbst war Roithamer noch einmal in London begegnet, ich hatte ihn, der mir ein Telegramm geschickt hatte, auf dem Victoriabahnhof abgeholt und in seine Wohnung gebracht gehabt, wo er mir von dem Begräbnis seiner Schwester berichtet hatte, mit seinen kurzen Sätzen, die keinen Widerspruch duldeten.“⁶⁰⁷ In der Folge geht der Erzähler jedoch zu einer anderen Version der Geschichte über und impliziert ohne ersichtlichen Grund, dass Roithamer die zwischen dem Begräbnis seiner Schwester und seinem Selbstmord liegenden Tage ausnahmslos in Österreich verbracht habe: „Nichts hatte bei seiner Abreise aus England darauf hingedeutet, daß er nicht mehr nach England zurückkommen wird, dachte ich, meinen im Spital staubig gewordenen Rock ausbürstend und in den Kasten hängend, ich hatte ihn naturgemäß schon kurze Zeit nach dem Begräbnis seiner Schwester, zu welchem er nach Altensam gefahren war, zurückerwartet, noch höre

 Vgl. Mittermayer 1995, 79. Eine detaillierte Analyse der Widersprüche in der chronologischen Ordnung des Romans bietet Kohlenbach 1986, 63 – 68.  Bernhard 1988a, 24. In dieselbe Richtung deuten die Kommentare des Erzählers bzgl. der Arbeit Roithamers nach dem Tod der Schwester, die dieser „mit der größten Energie in England und zwar in seinem gerade für diese Arbeit in Cambridge gemieteten Zimmer“ (Bernhard 1988a, 16) vorangetrieben haben soll.

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

ich wie er sagt, ich bleibe nur die allerkürzeste Zeit“.⁶⁰⁸ Es bleibt dabei durchaus nicht bei dieser Redeweise, die zunächst nur nahelegt, dass Roithamer nicht mehr nach England zurückgekommen sei, im weiteren Verlauf des Textes stellt der Erzähler noch weit deutlicher klar, dass er vergebens auf die Rückkehr Roithamers nach England gewartet habe: „[I]ch bin zwei Tage in Reading gewesen und wartete auf Nachricht von Roithamer, denn wir hatten ausgemacht, daß er, Roithamer, mir jeden zweiten Tag eine Nachricht zukommen läßt, wann er zurückkomme, hatte ich vor allem wissen wollen, aber ich hörte vierzehn Tage nichts, dann plötzlich hatte ich und zwar nicht aus Altensam, sondern vom Höller Nachricht bekommen, daß Roithamer nicht mehr am Leben sei“.⁶⁰⁹ Diese widersprüchliche Darstellung der Ereignisse wird dadurch kompliziert, dass der Erzähler nicht einfach nur das anfänglich erwähnte Treffen zwischen ihm und Roithamer in England im Verlauf seines Berichts zu vergessen scheint, sondern dass er vielmehr im letzten Abschnitt des Textes plötzlich wieder die Variante vom Romananfang vertritt und erneut erklärt, dass Roithamer nun doch nach England zurückgekehrt sei: „Ich erinnere mich einer kleinen Arbeit über den Stechapfel, den sogenannten Datura stramonium, die ihm, nach dem Tod der Schwester aus Altensam nach Cambridge zurückgekommen, Gelegenheit zur Beruhigung gewesen ist, während ich in die Tategallery gegangen bin“.⁶¹⁰ Wie kann ein Interpret mit dieser eklatant widersprüchlichen Darstellung umgehen? Oder genauer formuliert: wie ist die Frage nach Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation in diesem Fall zu beurteilen? Handelt es sich um einen „Fehler“, der den Interpreten zum Abbruch seiner hermeneutischen Anstrengungen berechtigt? Meines Erachtens ist dies nicht der Fall, da sich die problematischen Passagen in Bernhards Korrektur von der oben exemplarisch diskutierten Szene des Feuerentfachens mittels konkaver Brillengläser in Goldings The Lord of the Flies in mehrerlei Hinsicht unterscheiden. Gemeinsam haben beide Problemstellen, dass sie gewissermaßen echte Probleme sind, in dem Sinn, dass

 Bernhard 1988a, 80. Ein weiterer Textbeleg, der nahelegt, dass der Erzähler über die ausgebliebene Rückkehr Roithamers verwundert ist, findet sich kurz darauf: „Er war möglicherweise, dachte ich aufeinmal, am Fenster stehend, schon in der Absicht nach Österreich und nach Altensam gefahren, um sich umzubringen, aber für diese Annahme gibt es andererseits keinerlei Beweis, Tatsache ist, daß er nach dem Begräbnis seiner Schwester gleich wieder nach England habe zurückkommen wollen, ohne Umwege und also weder über Südtirol, noch über Frankreich oder Belgien nach Cambridge, ich höre ihn noch, wie er sagt, durch augenblickliches Hineinstürzen in die Arbeit rette ich mich vor diesem größten Unglück, er hatte diesen Satz wörtlich gesagt, ich glaube, es ist sein letzter zu mir gesprochener Satz gewesen“. (Bernhard 1988a, 84)  Bernhard 1988a, 84 f.  Bernhard 1988a, 301.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

201

sie nicht durch präzisere Lektüre etc. aufgelöst werden können. Die Berhardphilologie, exemplarisch etwa Margarete Kohlenbach, erwägt zwar die Variante, dass ein „hektisch reisende[r] Roithamer“⁶¹¹ theoretisch die Möglichkeit gehabt haben mag, nach dem Tod oder sogar während des Sterbens der Schwester kurz nach England zu fahren, sich dort mit der Arbeit über den Stechapfel zu beschäftigen, um dann zum Begräbnis der Schwester wieder nach Österreich zurückzukehren und sich dort umzubringen. Diese Version kann die widersprüchlichen Aussagen des Erzählers aber kaum verständlicher machen. Schließlich hätte er in diesem Fall Roithamer entweder getroffen (wenn möglicherweise auch sehr kurz), oder eben nicht getroffen (falls Roithamer seinen Kurzbesuch zwischen dem Tod und dem Begräbnis der Schwester geheim gehalten haben sollte). Egal welcher der beiden Fälle zutreffend sein mag, die Darstellung des Erzählers in den oben zitierten Passagen wäre nach wie vor widersprüchlich. Da es zudem im Text selbst keinen einzigen positiven Beleg für diese – ohnehin in ihrer Erklärungskraft sehr eingeschränkte – Hypothese gibt, verwirft sie schließlich auch Kohlenbach selbst⁶¹² und kommt zu dem Fazit: „Die widersprüchlichen Versionen sind nicht hypothetische Annäherungsversuche an eine zweifelhafte Realität, mit ihnen wird nicht ausprobiert, wie es gewesen sein könnte. Sie werden jeweils ohne den geringsten Zweifel und mit größter Endgültigkeit vorgetragen. […] Diese Apodiktizität unterscheidet die Versionenproblematik in der ‚Korrektur‘ von ähnlichen Phänomenen in der zeitgenössischen Literatur anderer Autoren.“⁶¹³ Dass es dennoch nicht legitim erscheint, die Widersprüche des Erzählers über Roithamers Aufenthaltsort vor seinem Selbstmord als Abbruchkriterium aufzufassen, liegt daran, dass sie im Gegensatz zu dem Beispiel aus The Lord of the Flies sehr wohl interpretationsrelevant sind. Es ist signifikant, dass sich der potentielle „Fehler“ nicht auf eine einzige Stelle beschränkt, sondern den gesamten Roman durchzieht. Sein Wirkungsbereich ist somit deutlich umfangreicher, was einen zufälligen oder zumindest von Bernhard nicht intendierten Widerspruch unwahrscheinlich macht.⁶¹⁴ Außerdem ist der Widerspruch zwischen den Aussagen „Roithamer war nach dem Tod seiner Schwester noch einmal in England“ und „Roithamer war nach dem Tod seiner Schwester nicht noch einmal in England“

 Kohlenbach 1986, 66.  Kohlenbach 1986, 66 f.  Kohlenbach 1986, 68.  Vgl. Kohlenbach 1986, 65: „Der Widerspruch läßt sich in seiner Relevanz für das Textgefüge nicht einschränken […]. Zum einen läßt Bernhard so den Versionenwiderspruch auf allen Textebenen unaufgelöst, der Erzähler ist in ihm verfangen, ohne sich seiner bewußt zu werden. Zum anderen beschränkt Bernhard den ‚Spannungsherd‘, den dieser Widerspruch für den Leser darstellt, nicht auf einzelne Romanteile.“

202

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

deutlich offensichtlicher, als die Ignoranz gegenüber dem Faktum, dass Sonnenlicht ausschließlich mit konvexen Linsen gebündelt werden kann. Eine Revision der grundlegenden Kohärenzpräsumtion, die im Fall von Bernhards Text augenscheinlich verletzt wird, ist jedoch nicht notwendig, da es im Kontext des Romans eine plausible Möglichkeit gibt, die Abweichung davon interpretativ zu erklären und damit die Kohärenz des Textes auf einer höheren Ebene zu bewahren. Der Versuch einer Erklärung kann seinen Ausgang nehmen von der Passage, in der der Widerspruch zwischen den beiden Versionen über Roithamers Aufenthaltsort kurz vor seinem Selbstmord zum ersten Mal manifest wird. Während der Erzähler gemeinsam mit Höller und dessen Familie zu Abend isst, beginnen die Gedanken des Erzählers immer deutlicher um den Aspekt zu kreisen, der sukzessive in das Zentrum seines Denkens rückt: der Selbstmord Roithamers und die Suche nach einer Erklärung dafür.⁶¹⁵ Der Erzähler sieht sich auch von Seiten Höllers mit dem Anspruch konfrontiert die „tieferen und tiefsten Ursachen“⁶¹⁶ aufzuklären, da er „mit Roithamer doch die längste Zeit und aufs engste, wie sie wissen, zusammengewesen war und zwar in der intensivsten Weise, die sehr oft von Außenstehenden als absolutes Aufgehen in einem anderen Menschen bezeichnet wird“.⁶¹⁷ Angesichts dieser Überforderung mit der Erwartung, im Besitz eines „entscheidenden Wissen[s]“⁶¹⁸ zu sein, das einer Einsicht in Roithamers Motivationen entspricht, die dem Erzähler trotz intensivster gedanklicher Verwandtschaft nicht ohne weiteres möglich ist, beginnt dessen Erzählung Brüche in ihrer Kohärenz aufzuweisen. Der Erzähler ist verwirrt, da er doch selbst von Höller „mehr über Roithamer erfahren habe wollen, von ihnen und vor allem von Höller selbst, der doch wie ich glaubte wenigstens über die letzten vierzehn Tage Roithamers, mehr wußte als ich, denn schließlich hatte der Höller die letzten Tage, wenn auch nicht immer mit ihm zusammen, so doch immer in der Nähe Roithamers verbracht“.⁶¹⁹ Hier vertritt der Erzähler zum ersten Mal die Alternativversion, die von einem durchgehenden Aufenthalt Roithamers in Österreich, hier an der Seite Höllers, ohne Aufenthalt in England ausgeht. Die Überforderung des Erzählers mit einem uneinlösbaren Erkenntnisanspruch bedingt damit einen Rückzug in die Leugnung eines Treffens mit Roithamer, was nach dem Dafürhalten des Erzählers eben dazu führen würde, dass nicht er, sondern Höller derjenige sei,

    

Vgl. Mauch 1979, 215. Bernhard 1988a, 110. Bernhard 1988a, 110. Bernhard 1988a, 110. Bernhard 1988a, 110.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

203

„der am Ende möglicherweise sogar der Vertrauteste Roithamers gewesen“⁶²⁰ ist. Damit wiederum fiele nicht ihm selbst die psychisch zermürbende Aufgabe der Suche nach den „tieferen und tiefsten Ursachen“⁶²¹ des Selbstmordes zu, sondern Höller. Diese psychologische Abwehrhaltung des Erzählers führt dazu, dass sich Widersprüche in seinen Bericht einschleichen. Im weiteren Verlauf beginnt der Erzähler, der sich mittlerweile in der höllerschen Dachkammer einquartiert hat, die mit Notizen, Zetteln und anderen Aufzeichnungen Roithamers vollgestopft ist, auch immer mehr die zerstörerische Gewalt des Roithamerschen Denkens auf seine eigene, ohnehin stark angegriffene physische und psychische Verfassung zu reflektieren.⁶²² Er ist sich bewusst, dass alles „in der höllerschen Dachkammer zweifellos schädlich ist“⁶²³ und spricht ihr eine „zerstörerische Wirkung“⁶²⁴, sogar eine „tödliche Wirkung“⁶²⁵ zu. Die Beschäftigung mit dem Manuskript von Roithamers Hauptwerk „Über Altensam und alles, das mit Altensam zusammenhängt, unter besonderer Berücksichtigung des Kegels“⁶²⁶ greift ihn „auf zerstörerische, mich oder wenigstens meinen Geisteszustand verheerende Weise“⁶²⁷ an, er hat „fortwährend Angst vor dem Einlassen mit diesem seinem Nachlaß“,⁶²⁸ da er fürchten muss, „von dieser Beschäftigung vernichtet oder wenigstens zerstört oder wenigstens für immer dadurch irritiert zu sein, irreparabel.“⁶²⁹ Er bemerkt immer stärker den „verheerenden und zerstörenden Einfluß“⁶³⁰ der „mit Roithamer zusammenhängenden Gedanken“,⁶³¹ fühlt

 Bernhard 1988a, 110. Diese Einschätzung vertritt auch Kohlenbach 1986, 70 – 75, deren philologisch äußerst sorgfältige Analyse in diesem Kontext sehr hilfreich ist.  Bernhard 1988a, 110.  Diese Vorbelastung wird schon im ersten Satz von Bernhard 1988a, 7 deutlich gemacht: „Nach einer anfänglich leichten, durch Verschleppung und Verschlampung aber plötzlich zu einer schweren gewordenen Lungenentzündung, die meinen ganzen Körper in Mitleidenschaft gezogen und mich nicht weniger als drei Monate in dem bei meinem Heimatort gelegenen, auf dem Gebiete der sogenannten Inneren Krankheiten berühmten Welser Spital festgehalten hatte, war ich, nicht Ende Oktober, wie mir von den Ärzten angeraten, sondern schon Anfang Oktober, wie ich unbedingt wollte und in sogenannter Eigenverantwortung, einer Einladung des sogenannten Tierpräparators Höller im Aurachtal Folge leistend, gleich in das Aurachtal und das Höllerhaus […] um den mir nach dem Selbstmord meines Freundes Roithamer […] zugefallenen […] Nachlaß zu sichten, möglicherweise auch gleich zu ordnen.“  Bernhard 1988a, 138.  Bernhard 1988a, 138.  Bernhard 1988a, 138.  Bernhard 1988a, 7.  Bernhard 1988a, 140.  Bernhard 1988a, 141.  Bernhard 1988a, 141.  Bernhard 1988a, 141.

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

sich aber dennoch „aufeinmal nurmehr aus solchen Gedanken zusammengesetzt“⁶³² und diagnostiziert schließlich sogar in der ihm und Roithamer gemeinsamen Schlaflosigkeit eine wesensverwandte Geisteskrankheit: „Solche wie Roithamer (und wie ich) konstruierten und tatsächlich immer ungeschützten Charaktere, Wesen, was immer, sind keine Schlafbefähigten, sie schlafen ein und wachen auf, das ganze Leben lang, aber sie schlafen niemals. […] Sie suchen zeitlebens ein Mittel gegen diesen unerträglichen Zustand und finden ein solches Mittel nicht, weil es kein Mittel gegen diese Krankheit, die tatsächlich nichts anderes als eine Geisteskrankheit ist, gibt.“⁶³³ Diverse Male denkt er darüber nach, dass er sich „im Grunde in einer verzweifelten Situation“⁶³⁴ oder einer „aussichtlosen Lage“⁶³⁵ befinde, möglicherweise sogar schon „in einer ernsthaften Verrücktheit“⁶³⁶ oder einer „totalen Sinnesverwirrung“.⁶³⁷ Die Liste von Textstellen, die auf die psychisch prekäre Lage des Erzählers hindeuten, ließe sich noch weiter verlängern. Klar ist, dass die Auseinandersetzung mit Roithamers Selbstmord und die Herkulesaufgabe des Sichtens und Ordnens von Roithamers Nachlass derart das ohnehin sensible Nervenkostüm des Erzählers zerrütten, dass die Widersprüche in seiner Wiedergabe der Ereignisse durchaus nachvollziehbar werden. Die Inkohärenzen in der Rekapitulation der letzten Tage vor Roithamers Selbstmord sind damit Abweichungen von der Kohärenzpräsumtion, die als interpretationsrelevant zu kategorisieren sind. Sie markieren Einschnitte, die die geistige Entwicklung des Erzählers einsichtig werden lassen und geben dem Leser damit Aufschluss über die Zuverlässigkeit des Berichts, den der Erzähler liefert, und über das Ausmaß der gedanklichen Verstrickung des Erzählers mit Roithamer und dessen Arbeit. Dieser Versuch, einige „Anomalien“ in Bernhards Roman interpretativ zu explizieren, ist dabei nur ein Fingerzeig, der keinen Anspruch auf eine umfassende Interpretation der Korrektur hat, oder auch nur deren Inkohärenzen erschöpfend erklären will. Kohlenbach stellt insgesamt acht Vermutungen an, wie mit den Widersprüchen im Text zu Recht zu kommen sein könnte.⁶³⁸ Welche davon plausibel sein mögen und welche nicht, soll hier gar nicht entschieden werden. Für den Kontext hermeneutischer Abbruchregeln ist zentral, dass im Fall von

       

Bernhard 1988a, 141. Bernhard 1988a, 141. Bernhard 1988a, 146 f. Bernhard 1988a, 151. Bernhard 1988a, 161. Bernhard 1988a, 151. Bernhard 1988a, 161. Vgl. Kohlenbach 1986, 76 – 81.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

205

Bernhards Korrektur eine ganze Reihe von schlüssigen interpretativen Erklärungen der in Frage stehenden Problempassagen gegeben werden kann, und dass damit eine Einschätzung der Passagen als interpretationsirrelevant nicht überzeugend ist.

4.2.2.2 Thomas Bernhard: Der Untergeher Ein Beispiel für interpretationsirrelevante Anomalien findet sich im Untergeher. Der 1983 veröffentlichte Roman dreht sich um das Schicksal dreier befreundeter Klaviervirtuosen. Neben dem Erzähler sind dies Glenn Gould und Wertheimer, den Gould im Laufe ihrer Freundschaft mit dem titelgebenden Beinamen „Untergeher“ belegt. Erneut ist der Roman arm an äußerer Handlung und besteht im Wesentlichen aus der Rekonstruktion des gemeinsamen Lebenswegs der drei, der im Rahmen eines Studiums bei dem Salzburger Musikprofessor Horowitz beginnt. Nachdem Wertheimer und der Erzähler erkennen, dass sie beide nie das genialische Niveau von Glenn Goulds Virtuosität erreichen werden, geben sie das Klavierspiel auf. Gould stirbt einige Jahre später auf dem Höhepunkt seiner Könnerschaft und seines Ruhms, Wertheimer flüchtet sich in geisteswissenschaftliche Studien und bringt sich schließlich um, während der Erzähler nach Madrid auswandert und versucht, eine Studie über Glenn Gould zu verfassen. Diesen Erinnerungen hängt der Erzähler nach, während er sich nach dem Besuch von Wertheimers Beerdigung in einem Gasthaus in Wankham aufhält und kurz darauf Wertheimers Anwesen in Traich besucht. Ein genauerer Blick auf den Untergeher scheint mir nun – gerade nach den Überlegungen zu Bernhards Korrektur – deutlich zu zeigen, dass der Versuch, bestimmten Passagen unter allen Umständen interpretativen Relevanz zuzuschreiben, weniger überzeugend ist als die unter 4.1 vorgeschlagene Variante, unter bestimmten Bedingungen hermeneutische Bemühungen abzubrechen. Auch im Fall des Untergehers haben die Inkohärenzen im Text die Literaturwissenschaftler umgetrieben. Für Eva Marquardt sind diese im Fall des Untergehers sogar von ganz besonderem Interesse: „Wiederholtes Lesen […] führt hier zu einem verblüffenden Ergebnis: Widersprüche in der Darstellung von Sachverhalten, paradoxe Raumverhältnisse, Irrtümer des Erzählers sind so zahlreich, daß sie hier gar nicht alle mitgeteilt werden können. Gleichzeitig sind diese Widersprüche so gut im Text verborgen, daß sie bisher von der Kritik nicht bemerkt wurden – eine Tatsache, die für Bernhard sicher Anlaß zu Späßen gewesen ist.“⁶³⁹ Was Marquardt dann an Widersprüchen etc. aufdecken will, ist jedoch weit weniger

 Marquardt 1990, 51.

206

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

spektakulär als es ihre Ankündigung erwarten lässt. Für Marquardt ist es unter anderem ein Widerspruch, dass Wertheimer zunächst als mit „dickem Lodenzeug, einer Filzkappe auf dem Kopf“⁶⁴⁰ bekleidet beschrieben wird, es später jedoch heißt, ihm seien „Tiroler Loden […] zutiefst zuwider“.⁶⁴¹ Außerdem, so Marquardt, gäbe es Ungereimtheiten im Rahmen des Aufenthalts des Erzählers in dem Gasthaus in Wankham: „Zu einem Zeitpunkt, da der Leser den Erzähler noch immer allein in der Gaststube wähnen muß, hält dieser bereits eine ‚Schale Tee‘ in den Händen, die er erst später in seinem Zimmer oben bestellt und dann wieder in der Gaststube sitzend erhält.“⁶⁴² Marquardt ist der Meinung, dass diesen Aspekten „eine besondere Bedeutung“⁶⁴³ zukomme, die sie zwar nicht explizit formuliert, aber mit einigen Bemerkungen zumindest andeutet. So hegt sie den Verdacht, dass der sich ihrer Ansicht nach oft widersprechende Erzähler wie der im Leben gescheiterte Wertheimer ebenfalls ein Gescheiterter sei,⁶⁴⁴ und seine Glaubwürdigkeit dementsprechend als erschüttert eingeschätzt werden müsse.⁶⁴⁵ Wenn man so will, folgt Marquardt damit dem Titzmann’schen Diktum und versucht, jedwedes textuelle Faktum unter allen Umständen als bedeutungstragend respektive interpretativ relevant zu begreifen – was schließlich dazu führt, dass sie die Erzählerfiguren im Untergeher und in Korrektur analogisiert. Im Fall des Untergehers ist dieses Vorgehen aber nicht überzeugend. Im Gegensatz zur Korrektur, sind die Unstimmigkeiten im Text nämlich nicht interpretationsrelevant. D.h., der Interpret kann mit guten Gründen an einigen Stellen seine hermeneutischen Bemühungen abbrechen und dem Text Defizienz, in diesem Fall präzisiert als nicht erklärbare Inkohärenz bestimmter textueller Eigenschaften, zuschreiben. Unter Bezugnahme auf die Überlegungen zu Korrektur, sowie auf die Ausführungen Marquardts lässt sich wie folgt für diese These argumentieren: Zunächst ist der Beobachtung zu widersprechen, dass Paradoxien oder „Irrtümer des Erzählers […] so zahlreich“ seien, dass sie „gar nicht alle mitgeteilt

 Bernhard 1988b, 41.  Bernhard 1988b, 229.  Marquardt 1990, 53.  Marquardt 1990, 53.  Vgl. Marquardt 1990, 54: „Der Umstand, daß die meisten Vorwürfe des Erzählers auch auf ihn selbst Anwendung finden könnten, nährt den Verdacht, hier mit bloßen Projetionen des Erzählers konfrontiert zu sein.“ Vgl. außerdem ebd. S. 55: „Die Geschichte der Selbstfindung und also Abgrenzung gegenüber dem Untergeher und dem Genie lebt von der Spannung zwischen der expliziten positiven Selbsteinschätzung des Erzählers und dessen tatsächlichem Scheitern in seiner Rolle.“  Vgl. Marquardt 1990, 55.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

207

werden können.“⁶⁴⁶ Viele der von Marquardt angeführten Widersprüche sind entweder wenig aussagekräftig oder schlicht falsch wiedergegeben. Dass der Erzähler Wertheimers Aversion gegenüber der Tiroler Tracht erwähnt und ihn später als mit „dickem Lodenzeug, einer Filzkappe auf dem Kopf“⁶⁴⁷ beschreibt, ist ein äußerst schwaches Argument für die Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur. Es erfordert keinen Aufwand, sich eine Reihe von unspektakulären Erklärungen vorzustellen: Wertheimer mag einen besonderen Anlass gehabt haben, sich in die sonst so ungeliebte Tracht zu kleiden, (an der zitierten Stelle hat Wertheimer übrigens tatsächlich vor, eine längere Wanderung zu unternehmen), Wertheimer mag, seiner (auto)aggressiven Art entsprechend, sich selbst durch das Tragen der verhassten Tracht auf verquere Weise bestraft haben, Wertheimer mag seine Einstellung zu Tracht irgendwann geändert haben, etc. Selbst wenn der Erzähler sich über Wertheimers Einstellung in modischen Fragen täuschen sollte, wäre der Schluss, dass der Erzähler sich dann auch über relevantere Aspekte in Bezug auf Wertheimer, Glenn Gould oder sich selbst täuschen muss, oder sogar nicht mehr in der Lage ist, die vergangenen Ereignisse korrekt zu rekonstruieren, wenig überzeugend. Die oben schon angesprochene Episode mit der Tasse Tee ist von Marquardt mißverständlich rekonstruiert, so dass fälschlicherweise der Eindruck erweckt wird, es handle sich um ein „Sprengen der zeitlichen Abfolge“, das „Konsequenzen für die Einordnung der protokollierten Gedanken“⁶⁴⁸ haben müsse. Noch einmal Marquardts Darstellung der Szene mitsamt Seitenangaben im Untergeher: „Zu einem Zeitpunkt, da der Leser den Erzähler noch immer allein in der Gaststube wähnen muß, hält dieser bereits eine ‚Schale Tee‘ (U 110) in den Händen, die er erst später in seinem Zimmer oben bestellt (U 179) und dann wieder in der Gaststube sitzend erhält (U 189).“⁶⁴⁹ Auf Seite 110 im Untergeher spricht der Erzähler jedoch über weit in der Vergangenheit liegende Treffen mit dem damals noch lebenden Wertheimer: „[…] nach Traich gehen, bedeutete nur, mich aus meinem fürchterlichen Geisteselend abzulenken und Wertheimer zu stören, Austauschen von Jugenderinnerungen, dachte ich, bei einer Schale Tee, und immer Glenn Gould als Mittelpunkt, nicht Glenn, Glenn Gould, der uns beide vernichtet hat, dachte ich.“⁶⁵⁰ Der Erzähler hält die Tasse Tee also nicht in der Erzählgegenwart, „allein in

 Marquardt 1990, 51.  Bernhard 1988b, 41.  Marquardt 1990, 53.  Marquardt 1990, 53. Die Seitenangaben Marquardts decken sich mit denen der von mir zitierten Ausgabe.  Bernhard 1988b, 110.

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

der Gaststube“⁶⁵¹ in den Händen, sondern pflegte in der Vergangenheit bei einem Tee Jugenderinnerungen mit Wertheimer auszutauschen. Dass er dann später – als äußere Handlung – in seinem Zimmer bei der Wirtin Tee bestellt und kurz darauf in die Gaststube geht, um diesen zu trinken, ist offensichtlich eine völlig normaler zeitlicher Ablauf und kein „Sprengen der zeitlichen Abfolge“.⁶⁵² Der Grund für Marquardts gewagte These ist schlicht philologische Ungenauigkeit. Es lässt sich festhalten, dass einige der angeführten Belege für die Unzuverlässigkeit des Erzählers nicht überzeugend sind. Vollkommen anders als in Korrektur gibt es im Untergeher sogar positive Hinweise, die die Erzählerfigur als jemanden ausweisen, der trotz aller Probleme und existentieller Krisen letztlich Halt im Leben hat und nicht unmittelbar vor der geistigen Zerrüttung oder dem Selbstmord steht. Der Erzähler ist sich nicht nur über die destruktive Wirkung von Menschen wie Wertheimer durchaus bewusst, sondern er ist darüber hinaus in der Lage, diesen Lebensentwurf des Untergehers kritisch zu reflektieren:

 Marquardt 1990, 53.  Marquardt 1990, 53. Dies ist meiner Einschätzung nach übrigens nicht der einzige Fehler, der Marquardt in ihrer Interpretation des Untergehers unterläuft. Ihre Schlussfolgerungen sind generell schon deshalb so wenig überzeugend, da sie durchgängig auf einer philologisch unsorgfältigen Arbeitsweise beruhen. Ein weiteres Beispiel: Marquardt führt neben den oben schon genannten Szenen auch Wertheimers Reaktion auf den Auszug seiner Schwester aus der gemeinsamen Wohnung als bedeutenden Widerspruch auf: „Über das Verhalten Wertheimers nach dem Auszug der Schwester werden gleich mehrere Versionen mitgeteilt. Gemäß der ersten habe er zunächst reglos im Sessel gesessen, um dann durch die Zimmer zu laufen, schließlich sei er nach Traich ins Jagdhaus (U 38). Der zweiten Fassung blieb er monatelang in der Wohnung und sei dann erst wieder durch die Straßen Wiens geirrt (U 40). Schließlich heißt es, Wertheimer habe zwei Wochen bei geschlossenen Vorhängen verbracht und habe erst „am vierzehnten Tag“ (U 43) das Haus verlassen, um durch die Straßen Wiens zu laufen.“ An dieser Darstellung sind mehrere Dinge problematisch: Selbst wenn Marquards Darstellung philologisch einwandfrei wäre, handelte es sich immer noch um einen wenig spektakulären „Widerspruch“, der sich womöglich einfacher durch die etwas salopp-hyperbolische Sprachverwendung des Erzählers erklären ließe als durch die These, dass der Erzähler als radikal unzuverlässig einzuschätzen sei. Marquardts Darstellung ist aber auch philologisch unsorgfältig. Sie übersieht bedauerlicherweise, dass im Text an den von ihr zitierten Stellen zwischen dem Auszug und der Heirat von Wertheimers Schwester unterschieden wird. Diese beiden Ereignisse bedingen sich zwar, allerdings sind sie nicht identisch und Wertheimer reagiert unterschiedlich auf sie. Nach dem „Auszug der Schwester“ sitzt er „tagelang in einem Sessel“ (Bernhard 1988b, 38, meine Hervorhebung), und „Monate, nachdem seine Schwester geheiratet hatte“ nimmt er seine ausgedehnten Spaziergänge durch Wien wieder auf (Bernhard 1988b, 40, meine Hervorhebung). Die von Marquardt gegenübergestellten „Fassungen“ oder „Versionen“ sind also nicht im eigentlichen Sinn Versionen ein und desselben Ereignisses, und schon gar nicht Versionen, die in so augenfälligem Widerspruch stehen wie die Varianten über Roithamers Englandaufenthalt in Korrektur.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

209

Wir haben die größte Mühe, uns vor diesen Untergehern und Sackgassenmenschen zu retten, denn diese Untergeher und Sackgassenmenschen setzen alles daran, ihre Umwelt zu tyrannisieren, ihre Mitmenschen abzutöten, sagte ich mir. […] Wertheimer ist immer unter falschen Voraussetzungen an sein Leben herangegangen, sagte ich mir, zum Unterschied von Glenn, der immer unter den richtigen Voraussetzungen an seine Existenz herangegangen ist.⁶⁵³

Der Erzähler mag keine Ikone konsequenter Lebensführung sein und da er ebenfalls, vernichtet durch Glenn Goulds monumentale Genialität, das Klavierspiel aufgegeben hat, mag es auch einige Plausibilität für sich haben, ihn in dieser Hinsicht als gescheitert zu beschreiben.⁶⁵⁴ Ihn jedoch mit der Person Wertheimer gleichzusetzen und damit seine Zuverlässigkeit zu untergraben,⁶⁵⁵ ist abwegig. Nicht nur Glenn Gould behält sich das Prädikat „Untergeher“ für Wertheimer vor, während er vom Erzähler immer als dem „Philosophen“⁶⁵⁶ spricht, auch der Erzähler selbst hält an der zentralen Stelle in der Mitte des Romans unmittelbar vor dem Eintreten der Wirtin fest: „Theoretisch hat er immer nur gegen den Selbstmord gesprochen, ihn aber ohne weiteres mir zugetraut, ist er immer wieder auf mein Begräbnis gegangen, praktisch hat er sich umgebracht, und ich bin auf sein Begräbnis gegangen. […] Fazit ist: er hat sich umgebracht, nicht ich“.⁶⁵⁷ Obwohl es viele Parallelen zwischen dem Erzähler und dem „Untergeher“ geben mag, lässt sich eine Analogisierung der beiden gerade mit dem Ziel, die Zurechnungsfä-

 Bernhard 1988b, 210.  Vgl. Marquardt 1990, 54 f.  Vgl. Marquardt 1990, 55, v. a.: „Insgesamt ist das Verhalten des Ich-Erzählers von großer Inkonsequenz geprägt, die der Wertheimers in nichts nachsteht.“  Vgl. v. a. Bernhard 1988b, 26.  Bernhard 1988b, 163 f. Auch an Stellen, an denen der Erzähler sich selbst mit Wertheimer und Glenn Gould vergleicht, wird eine deutliche Differenz erkennbar, die nicht wie von Marquardt nahegelgt durch eine beschönigende Verklärung seitens des Erzählers entsteht, sondern eher durch eine offene und durchaus auch selbstkritische Analyse: „Wertheimer hat sich das ganze Leben lang immer wieder durchsetzen wollen, was ihm nie gelungen ist, in keiner Beziehung, unter keinen Umständen. Deshalb hat er sich ja auch umbringen müssen, dachte ich, denn Glenn hatte sich niemals durchzusetzen gehabt, er hat sich immer und überall und unter allen Umständen durchgesetzt. Wertheimer wollte immer mehr, ohne die Voraussetzungen dazu zu haben, dachte ich, Glenn hatte für alles alle Voraussetzungen. Ich selbst stelle mich hier nicht in Rechnung, was mich betrifft, kann ich aber sagen, daß ich immer wieder alle Voraussetzungen für alles mögliche gehabt, diese Voraussetzungen aber meistens ganz bewußt nicht ausgenützt habe, immer aus Indolenz, Hochmut, Faulheit, Überdruß, dachte ich.“ (Bernhard 1988b, 135 f.) Weitere Stellen, die Vergleiche zwischen dem Erzähler und Wertheimer bzw. zwischen dem Erzähler, Wertheimer und Gould beinhalten und zeigen, wie weitreichend die Unterschiede zwischen ihnen sind, finden sich auf den Seiten 7, 10, 23, 82, 112, 117, 119, 133, 145, 153, 158 – 162 und 223.

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

higkeit des Erzählers zu untergraben, nicht mit dem Textbestand des Romans vereinbaren. Die wenigen verbleibenden widersprüchlichen Stellen im Text, die sich nicht ohnehin schon durch präzisere Lektüre erklären lassen, verlieren im Lichte dieser Überlegungen – ganz anders als in Korrektur – ihre interpretative Relevanz. Dass es etwa zunächst heißt, der Erzähler habe mit Gould und Wertheimer in einem Salzburger Haus mit „fünf bis sechs Meter hohen Räumen“⁶⁵⁸ gewohnt, und später eine „sechs Meter“⁶⁵⁹ hohe Engelsstatue in einem dieser Räume stehen soll, bedeutet nicht nur nicht, dass in der fiktiven Welt des Untergehers andere physikalische Gesetze gelten als in der wirklichen Welt, sondern auch nicht, dass die Aussagen des Erzählers generell unzuverlässig sind oder der Text einen generellen erkenntnistheoretischen Skeptizismus kommuniziert. Da sich derartige Hypothesen im Kontext des gesamten Romans nicht stützen lassen, ist es angebracht, an solchen Stellen nicht länger zu versuchen, eine interpretative Erklärung für den widersprüchlichen Textbestand zu finden. Gerade im Fall Bernhards ist es naheliegender, dem Text in dieser Hinsicht Defizienz zuzuschreiben.⁶⁶⁰ Die Defizienz liegt in den vereinzelten Kohärenzbrüchen, die aus einem allgemeinen Desinteresse des Autors für Details epischer Kontinuität resultieren, welches im Fall des Untergehers aber nicht zu einer bestimmten Interpretation des konkreten Textes führt. Wie Manfred Mittermayer ausführt, hatte selbst Bernhards Lektor Fellinger Probleme mit diesem eben angesprochenen allgemeinen Desinteresse Bernhards: „Raimund Fellinger, Bernhards letzter Lektor, hat in einem Interview (ORF, Ö 1, 5. 2. 1994) eigens darauf hingewiesen, daß der Autor auf die ‚Realien‘, auf die inhaltliche Kohärenz seiner Texte auffällig wenig Wert gelegt habe; die Überprüfung der logischen ‚Stimmigkeit‘ sei letztlich erst bei der Drucklegung durch den Verlag erfolgt.“⁶⁶¹ Auch Bernhards eigene programmatische Äußerungen stützen diesen Eindruck. In dem vielzitierten Interview Drei Tage äußert er sich über sein eigenes Schreiben wie folgt: Andererseits bin ich natürlich auch kein heiterer Autor, kein Geschichtenerzähler, Geschichten hasse ich im Grund. Ich bin ein Geschichtenzerstörer, ich bin der typische Geschichtenzerstörer. In meiner Arbeit, wenn sich irgendwo Anzeichen einer Geschichte bilden, oder wenn ich nur in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel die Andeutung einer

 Bernhard 1988b, 112.  Bernhard 1988b, 116.  Die Zuschreibung von Defizienz in Hinblick auf die Kohärenz des Textes muss übrigens nicht mit einer ästhetischen Abqualifizierung des Romans einhergehen. Es scheint mir zwar unplausibel, aber immerhin prinzipiell denkbar, dass Texte auch durch nicht interpretativ erklärbare Kohärenzbrüche ästhetischen Wert in einer bestimmten Hinsicht gewinnen mögen.  Mittermayer 1995, 79.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

211

Geschichte auftauchen sehe, schieße ich sie ab. Es ist auch mit den Sätzen so, ich hätte fast die Lust, ganze Sätze, die sich möglicherweise bilden könnten, schon im vorhinein abzutöten.⁶⁶²

Diese gegen eine traditionelle, linear und effizient erzählende Prosa gerichtete Selbstkonzeption Bernhards als Geschichtenzerstörer findet ihren Niederschlag nicht nur in der generell kargen Handlung seiner Texte, die in keinem Verhältnis zu dem monolithischen Prosablock steht, in dem sie erzählt wird, und auch nicht ausschließlich in der Tendenz zu ellenlangen und verwinkelten Satzkonstruktionen, die es schon durch ihre syntaktische Struktur schwer machen, die in ihnen enthaltene „Geschichte“ zu verstehen. Auch Fellingers Hinweis auf das Desinteresse Bernhards an der inhaltlichen Kohärenz seiner eigenen Texte lässt sich als Eigenschaft eines „Geschichtenzerstörers“ auffassen, für den Kohärenz eben nur von sekundärer Relevanz, oder sogar vollständig irrelevant ist. Insgesamt heißt dies für die Interpretation des Untergehers, dass Ungereimtheiten im Text – wie die Platzierung einer sechs Meter hohen Statue in einem womöglich nur fünf Meter hohen Raum – entgegen Titzmanns oben erläuterter Vermutung trotz ihrer expliziten Devianz von interpretativen Erwartungen eben nicht interpretationswürdig sind, und dass der Interpret diese Auffassung nicht erst am Ende aller Tage sinnvoll vertreten kann, sondern im Rahmen einer bestimmten Interpretation, relativ zu dem Wissensstand, den er am Ende eines Interpretationsprozesses erreicht hat. Während in Korrektur die Widersprüche nicht lediglich auf Bernhards Desinteresse zurückzuführen sind, sondern ein wesentliches Instrument zur Orchestrierung der intellektuellen Zerrüttung des Erzählers bilden, ist eine analoge Interpretation für den Untergeher unplausibel. Diese Einschätzung lässt sich treffen aufgrund der Abwägung verschiedener Faktoren wie dem gesamten Textbestand, programmatischen Äußerungen des Autors, textexterner Hintergrundinformationen etc., die innerhalb eines Interpretationsprozesses zu berücksichtigen sind. Sollten sich diese den Wissensstand des Interpreten bestimmenden Parameter ändern, wären die vorgeschlagenen Interpretationen dementsprechend zu modifizieren. Sollte sich etwa herausstellen, dass aufgrund einer ganzen Reihe von Zufällen der eigentlich essentielle zweite Teil des Untergeher-Romans verloren ging, in dem der Erzähler nicht nur irgendeine Möglichkeit erfindet, sechs Meter hohe Statuen in fünf Meter hohe Räume zu verfrachten, sondern sich zudem auch immer mehr Wertheimer annähert, seinen Verstand verliert und sich schließlich umbringt etc., wäre es in diesem neuen, veränderten Kontext nicht mehr plausibel

 Bernhard 1989b, 83 f.

212

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

möglich, den thematisierten Stellen Defizienz bzw. Irrelevanz für die Interpretation des Textes zuzuschreiben.

4.2.2.3 Ed Wood: Plan 9 from Outer Space Beispielfälle, in denen es angezeigt ist, aufgrund analoger Hinweise anstelle der Kohärenzpräsumtion die Präsumtion künstlerischen Werts zu modifizieren bzw. ganz aufzugeben und damit im Sinne hermeneutischer Abbruchregeln einem Interpretandum ästhetische Defizienz zuzuschreiben, lassen sich ebenfalls anbringen. Ergiebig ist ein Blick auf Edward Woods Film Plan 9 from outer Space. Woods 1959 veröffentlichter Streifen, der noch auf der eigenen Wikipedia-Seite als „widely considered the worst [movie] of all time“⁶⁶³ charakterisiert wird, ist ein low-budget B-Movie, in dem Außerirdische versuchen, durch das Erwecken von Zombies die Menschheit von der zukünftigen Konstruktion einer universumszerstörenden Superwaffe abzuhalten. In dem Film wimmelt es neben der hanebüchenen Handlung vor Fehlern und Schlampigkeiten im Skript, im Schnitt, in der Aufnahmetechnik, bei den Requisiten usw. Es ragen Mikrophone ins Bild, eine der Hauptfiguren wird plötzlich von einem anderen Schauspieler – dem Chiropraktiker von Woods Frau – gespielt, weil Bela Lugosi während der Drehzeit verstarb und Wood für andere Projekte abgedrehte Szenen noch verwerten wollte. Weiterhin hängen fliegende Untertassen klar ersichtlich an Schnüren und Grabsteine werden durch Luftstöße umgeworfen (übrigens während sich die daneben stehenden Personen lediglich wegdrehen). Angesicht all dieser „Anomalien“ bleibt einem Interpreten, der die Präsumtion künstlerischen Werts im Rahmen der Interpretation von Plan 9 nicht revidieren und die ästhetischen Defizite nicht als Abbruchkriterien begreifen will, die es legitimieren, den Film schlicht als künstlerisch wertlos aufzufassen, soweit ich sehe nur eine Möglichkeit: Er muss versuchen, Plan 9 from Outer Space als avantgardistische Subversion typischer Hollywood-Erzählmuster zu interpretieren, die durch die originelle Dekonstruktion etablierter filmischer Codes selbst einen gewissen künstlerischen Anspruch gewinnt. Ähnlich konstruiert auch Noel Carroll ein Argument, das die künstlerische Wertschätzung von Plan 9 rechtfertigen könnte: „[I]f a transgression interpretation of Plan 9 from Outer Space yields a more aesthetically satisfying encounter with the film, and our primary purpose in interpretation is in promoting maximum aesthetic satisfaction, why not […] take Plan 9 from Outer Space as a masterpiece of postmodernist disjunction à la lettre?“⁶⁶⁴

 http://en.wikipedia.org/wiki/Plan_9_from_Outer_Space (13.10. 2012)  Carroll 1992, 120 f.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

213

Gegen diese Interpretation sprechen jedoch mehrere Gründe. Carroll führt explizit vor allem einen Grund an, der schon im Kontext der Thematisierung von James‘ Erzählung Das Durchdrehen der Schraube unter 3.3.2.3 angeklungen war – Ed Wood hatte nicht die Intention, einen avantgardistischen Angriff auf die Filmindustrie Hollywoods im Stile des späten Godard zu fahren.⁶⁶⁵ Der Unterschied zu dem Henry James-Fall liegt darin, dass Wood nicht nur de facto keine Intention, einen avant-gardistischen Film zu drehen hatte, sondern nicht einmal prinzipiell diese Intention gehabt haben hätte können, da ein postmoderner Diskurs, in dessen Rahmen der Subvertierung etablierter filmischer Codes künstlerischer Wert zugesprochen wurde, noch gar nicht etabliert war.⁶⁶⁶ Damit spricht nicht nur die Intention des Autors gegen eine Interpretation von Plan 9 from Outer Space als avant-gardistisch und damit künstlerisch wertvoll, sondern auch andere text- bzw. filmexterne Faktoren wie der soziohistorische Hintergrund. Es ist sowohl angesichts der historischen Person Edward Wood, der – im Gegensatz etwa zu Godard – keine intellektuellen avant-gardistischen Tendenzen zugeschrieben werden können, als auch angesichts des historischen Hintergrunds, in dem die Subvertierung und Dekonstruktion bestimmter filmischer Muster auf die in Plan 9 praktizierte Weise schlicht nicht bekannt war, unplausibel, dem Film so spezifizierten künstlerischen Wert zuzuschreiben. Carrrols Fazit ist zuzustimmen: „Insofar as it is anachronistic to impute the requisite knowledge (of the discourse of avant-garde theory) or the desire to subvert Hollywood codes to Wood, it is better to regard his violations of certain norms as mistakes.“⁶⁶⁷ Die Zuschreibung künstlerischen Werts an Plan 9 from Outer Space kann – zum jetzigen Wissensstand – nicht im Rekurs auf nachvollziehbare Begründungsstrategien vollzogen werden, sondern nur durch subjektive Argumentation, die nicht nur literaturwissenschaftlich uninteressant ist, sondern laut Carroll sogar an esoterische Orakelgläubigkeit erinnert: „For, from the point of view of a genuine conversation we are being willfully silly in regarding Plan 9 as a transgression of Hollywood codes of filmmaking.We are behaving as if we believed that a randomly collected series of phrases, derived from turning the dial of our car radio at one Vgl. Carroll 1992, 119 f., insbesondere 120: „Given what we know of Edward Wood and the Bfilm world in which he practiced his trade, it is implausible to attribute to him the intention of attempting to subvert the Hollywood codes of filmmaing for the kinds of purposes endorsed by contemporary avant-gardists.“  Vgl. Carroll 1992, 120: „Those beliefs (and avant-garde desires) were not available in the film world Edward Wood inhabited, nor can we surmise that even if Wood could have formulated such beliefs, it would be plausible to attribute to him the intention to implement them. For it is at least uncharitable to assign to Wood the belief that his audiences could have interpreted his narrative discontinuities and editing howlers as blows struck against a Hollywood aesthetic.“  Carroll 1992, 120.

214

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

second intervals, harbored a message of an oracle, and simultaneously we agree that all forms of divination are preposterous.“⁶⁶⁸ Goldman versucht sich interessanterweise an einer Zurückweisung dieser Argumentation, die sich zwar vor allem darauf konzentriert, zu zeigen, dass die Intention des Autors nicht für den künstlerischen Wert des Films relevant sein soll, die aber auch im Kontext der Frage nach hermeneutischen Abbruchkriterien interessant ist: The deeper question here is whether the experience of this work really would be better if we thought that the disconcerting techniques were intentional affronts to the film establishment. Interpretation, I have maintained, is a guide to experiencing a work so as maximally to appreciate its value. Recognition of an interesting relation to a tradition may enliven the perception of a work whose qualities are interesting in themselves. But to think that all deviations from established methods, even when they are intentional, indicate positive values, is to place too high a value on mere originality. […] I doubt that interpreting as intentional deviations features of a film that appear to be mistakes precisely because they make the experience of it so unsatisfying would make that experience any better. Hence I deny that this example shows us that we must honor artists’ intentions at the expense of more satisfying experiences of their works.⁶⁶⁹

Goldman geht also davon aus, dass selbst dann, wenn es gelingen sollte,Wood die Intention zuzuschreiben, einen subversiven Avantgarde-Film produzieren zu wollen, der Film immer noch als künstlerisch wertlos einzuschätzen wäre. Nicht einmal die Intention könnte den Film also vor der Zuschreibung künstlerischer Wertlosigkeit retten. Für Goldman folgt daraus analog zu dem in oben diskutierten James-Beispiel erneut die prinzipielle Irrelevanz der Autorintention für die Interpretation. Selbst wenn man for the sake of argument zugesteht, dass es Goldman hiermit gelingt, die Aussagekraft des Beispiels im Kontext der Frage zur Relevanz von Intentionen für den künstlerischen Wert eines Interpretandums zu schmälern, hat seine Zurückweisung die umgekehrten Folgen für die Frage nach hermeneutischen Abbruchkriterien. Goldmans versuchte Zurückweisung des Beispiels spricht in diesem Kontext sogar für die von mir vorgeschlagene Einschätzung, im Fall Plan 9 from Outer Space die interpretativen Bemühungen abzubrechen und den Film als ästhetisch defizient zu qualifizieren.Wenn laut Goldman nicht einmal Carrolls ohnehin tendenziell übermäßig nachsichtiger Vorschlag, den künstlerischen Wert des Films zu retten, funktionieren kann und nicht einmal er selbst als einer der radikalsten Anwälte wertmaximierender Interpretationstheorie alternative Vorschläge anbieten kann, um den künstlerischen Wert des Films deutlich

 Carroll 1992, 121.  Goldman 1995, 114 f.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

215

zu machen, ist nicht abzusehen, wie in aller Welt Plan 9 from Outer Space noch als künstlerisch wertvoll angesehen werden könnte. Es handelt sich schlicht und einfach um einen schlechten bzw. künstlerisch wertlosen Film, und diese Einschätzung lässt sich sehr wohl mit guten Gründen relativ zu einem gegebenen Wissensstand treffen und nicht erst in einem idealisierten Zustand umfassenden Wissens. Analog zu der Analyse der Bernhard-Romane ist mir auch hier die Einschränkung relativ zu einem gegebenen Wissensstand wichtig. Sollte sich in der Zukunft herausstellen, dass Ed Wood, ohne dass es irgendjemand mitbekommen hätte, Jahrzehnte vor der Entwicklung subversiver Filmtheorien eine bislang unbekannte Gruppe von avantgardistischen Regisseuren um sich geschart hatte, die postmoderne Manifeste avant la lettre verfassten, sich köstlich über die Unwissenheit der Rezipienten von Plan 9 amüsierten etc., müssten die hermeneutischen Anstrengungen zur Interpretation des Films wieder aufgenommen werden und die Interpretation als ästhetisch defizient überdacht werden. Wichtig ist der abschließende Hinweis, dass die Defizienzzuschreibung relativ zu einem bestimmten Wissensstand nicht zum Kollabieren der Präsumtionskonzeption hermeneutischer Billigkeit führt. Dieser Verdacht wird von Spoerhase zur Sprache gebracht: Entweder man hält an der Konzeption fest, dass die Zuschreibung von Bedeutungsfreiheit (oder Widersprüchlichkeit usw.) nur im Rückgriff auf ein totales und abgeschlossenes Wissen legitim vorgenommen werden darf […] [o]der die Zuschreibung von Bedeutungsfreiheit (oder Widersprüchlichkeit usw.) kann immer relativ zu dem Wissensstand des Interpreten legitim vorgenommen werden, womit dann aber der Präsumtionscharakter […] kollabiert, weil nun der Wissensstand des Interpreten der gültige Referenzrahmen für Zuschreibungen ist – die Präsumtionskonzeption ist dagegen gerade dadurch charakterisiert, dass mit ihr unterstellt wird, der gültige Referenzrahmen sei im Fall eines scheinbar bedeutungsfreien oder widersprüchlichen Elements ein Wissensstand, der demjenigen des Interpreten überlegen ist (der Anschein von bedeutungsfreien oder widersprüchlichen Elementen wird schließlich dem defizienten Wissensstand des Interpreten zugeschrieben).⁶⁷⁰

Spoerhases Einwand kann zurückgewiesen werden, da er zwei zu differenzierende Wissensstände des Interpreten vermengt. Ein Interpret, der am Beginn eines philologischen Interpretationsprozesses steht, befindet sich tatsächlich in einer Situation, die epistemisch so defizient ist, dass ein Rekurs auf präsumtive Unterstellungen (die in Spoerhases Einwurf für einen Wissensstand stehen, der demjenigen des Interpreten überlegen ist) sinnvoll ist. Eine Zuschreibung von Defizienz auf Seiten des Interpretandums ist in dieser Situation legitimerweise

 Spoerhase 2007, 432.

216

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

noch nicht möglich ist, daher ist es, wie oben gezeigt, in diesem Zustand auch nicht möglich, eindeutig semiotische Trigger für sekundäre Zeichen zu identifizieren. Eine Defizienzzuschreibung – in Spoerhases Beispiel konkretisiert als Zuschreibung von Bedeutungsfreiheit oder Widersprüchlichkeit – wird vom Interpreten jedoch gerade nicht in dieser Ausgangssituation vorgenommen, sondern erst nach dem Durchlauf eines Interpretationsprozesses, in dessen Rahmen der Interpret eine Reihe von Abwägungen über die Modifikations- oder Revisionsbedürftigkeit der anfänglichen Präsumtion durchgeführt hat, die den Textbestand und andere potentiell interpretationsrelevante Faktoren wie historischen Kontext, Autorintention, Literaturprogramm etc. miteinbeziehen. An dem Zeitpunkt, an dem eine Defizienzzuschreibung auf Seite des Interpretandums als legitim erachtet werden kann, hat der Interpret seine epistemisch defiziente Ausgangslage also bereits hinter sich gelassen und seinen anfänglichen Wissensstand signifikant erweitert – der von Spoerhase angesprochene „gültige Referenzrahmen für Zuschreibungen“⁶⁷¹ hat sich mithin geändert. In diesem späten Stadium eines interpretativen Prozesses ist der Interpret nicht mehr auf präsumtive Unterstellungen angewiesen – eine Defizienzzuschreibung auf Seiten des Interpretandums entspricht ja gerade einer Revision der anfänglichen Präsumtion, die als heuristische Leitlinie den Interpretationsprozess angeleitet hatte. Spoerhases Einwand ist nur unter der Annahme schlagend, dass der Wissensstand eines Interpreten zu Beginn eines Interpretationsprozesses sich nicht von dem Wissensstand am Ende eines Interpretationsprozesses unterscheiden würde – diese Annahme ist jedoch nicht plausibel.⁶⁷²

4.2.3 Abweichungen und Anomalien in literarischen Texten Da in den obigen Überlegungen ebenso wie in den Beispielen zu Bernhard und Wood immer wieder die Rede von Abweichungen und Anomalien war, die als besonders interpretationsbedürftige Stellen zu verstehen seien, ist etwas ausführlicher darauf einzugehen, was im Kontext literarischer Texte unter Abwei-

 Spoerhase 2007, 432.  Die Formulierung „Ende eines Interpretationsprozesses“ geht nicht mit der Behauptung einher, dass nach so und so großen interpretativen Bemühungen zu einem absoluten und irreversiblen Ende von Interpretationsprozessen gelangt werden muss. Selbst eine ideale Interpretation, die auf eine in der Praxis kaum umsetzbare Weise alle möglichen interpretationsrelevanten Faktoren ausführlich miteinbezieht, kann wieder neu aufgerollt bzw. fortgesetzt werden, sofern sich die Rahmenbedingungen ändern (z. B. sobald neue Informationen zugänglich werden).

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

217

chungen bzw. Anomalien zu verstehen ist. Eine analoge Frage stellen im Kontext der Interpretation normalsprachlicher Äußerungen auch Davidson und Quine. Beide argumentieren dafür, Äußerungen des interpretierten Sprechers gerade dann mittels des principle of charity nachsichtig zu reinterpretieren, wenn sie nicht nur von bestimmten Unterstellungen abweichen bzw. im Lichte dieser Unterstellungen als anomal erscheinen, sondern wenn sie „offenkundig“⁶⁷³ falsch oder „evident“⁶⁷⁴ falsch sind, d. h. wenn der Interpret dem Interpretierten „glaring […] falsehood[s]“⁶⁷⁵ oder „offensichtliche Falschheit“⁶⁷⁶ zuschreiben müsste. Es stellt sich mithin das Problem, wann eine Abweichung so offensichtlich anomal ist, dass sie nachsichtig interpretiert werden sollte, und inwiefern sich dieses Kriterium offensichtlicher Abweichungen bzw. Anomalien auf die philologische Interpretation übertragen lässt. Die Frage, wann Aussagen bzw. mit Aussagen zu korrelierende Überzeugungen offenkundig abweichend und nicht nur abweichend sind, ist, wie Spoerhase festhält, nur innerhalb eines gegebenen Kontexts zu beantworten: „Die philosophische Diskussion aufgreifend, […] ließe sich sagen, dass die Frage, wann in einem Text Anomalien vorliegen, nicht unabhängig von Informationen über den soziohistorischen ‚Rahmen‘ des Textes beantwortet werden kann.“⁶⁷⁷ Spoerhases anschließende Forderung nach „einer plausiblen Charakterisierung der Voraussetzungen, unter denen Abweichungen so indiskutabel sind, dass sie eine Reinterpretation verlangen“⁶⁷⁸ ist vollkommen angebracht. Leider sind die sprachphilosophischen Überlegungen zu diesem Punkt nicht weitreichend genug, um für die philologische Hermeneutik einschlägig sein zu können.⁶⁷⁹ Anhand einer Überlegung Scholz‘ lässt sich dies anschaulich machen. Auch Scholz konstatiert zunächst die Notwendigkeit, ein „intersubjektiv akzeptables Kriterium dafür, wann etwas als ‚offenkundig falsch‘ zu beurteilen ist“⁶⁸⁰ zu finden. Dies sei – und hier ist Scholz zuzustimmen – schon deshalb wichtig, „weil die Behauptung, eine Aussage oder Meinung sei offensichtlich falsch, sonst leicht zur Motivierung

 Künne 2008, 72.  Künne 2008, 73.  Quine 1990, 46.  Scholz 1999, 201.  Spoerhase 2007, 435.  Spoerhase 2007, 435  Diese Einschätzung deckt sich mit der in Spoerhase 2007, 435: „Die bisherigen Versuche, ein Kriterium dafür zu liefern, wann offensichtliche Widersprüche oder eklatante Absurditäten vorliegen, können allerdings nicht überzeugen.“  Scholz 1999, 201.

218

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

willkürlicher Interpretationen mißbraucht werden kann.“⁶⁸¹ Zur Verdeutlichung dieses Punktes gibt Scholz unmittelbar darauf ein historisches Beispiel: Die Verfechter der allegorischen Interpretation des Alten Testaments etwa argumentierten typischerweise nach dem folgenden Muster: Wenn man Text X in der Bibel wörtlich versteht, dann besagt er, daß sich Gott ungerecht und grausam verhält. Eine solche Annahme wäre jedoch absurd, im Sinne von: offenkundig falsch. Also muß X anders zu verstehen sein, als sein buchstäblicher Sinn nahelegt; und zwar muß er den folgenden spirituellen Sinn haben: ‚…‘ (Es folgt ein Umdeutungsvorschlag, der nun nicht mehr das Merkmal der Absurdität aufweist.) – An solchen Argumentationen ist unter anderem zu beanstanden, daß ein wenig überzeugendes Kriterium der Absurdität oder offensichtlichen Falschheit zugrunde gelegt wird. Absurd wäre die fragliche Annahme nur für diejenigen, für die die Existenz und das wohltätige Wirken eines allgütigen Gottes bereits feststeht. (Und das ist, wenn man so sagen darf, nicht absurd genug).⁶⁸²

Diese Ausführungen Scholz‘ ziehen die Kritik Spoerhases auf sich, da sie eine Definition von offenkundiger Falschheit implizieren, die insensitiv gegenüber Kontextualisierungen ist: Anstatt die Möglichkeit zu nutzen, das Absurditätskriterium soziohistorisch zu kontextualisieren und sich damit zumindest in historiographischer Perspektive einem operationalisierbaren Interpretationskriterium anzunähern, wird ohne weitere Begründung vom Standpunkt gegenwärtiger ‚Wissensbestände‘ festgestellt, die Annahme eines ungerechten und grausamen Gottes sei ‚nicht absurd genug‘. Die Frage, ob die Annahme eines ungerechten und grausamen Gottes absurd ist oder nicht, lässt sich eben nicht grundsätzlich beantworten, sondern kann nur im Hinblick auf einzelne soziohistorische Formationen jeweils neu beantwortet werden.⁶⁸³

Es lohnt sich, diesen Dissens etwas näher zu analysieren. Dazu ist es hilfreich, sich anzusehen, was Scholz denn als einen „geeigneter[en] Maßstab“⁶⁸⁴ für die Definition eklatanter Absurdität vorschlägt. Scholz formuliert zwei Bedingungen, von denen die erste besagt, dass eine Aussage dann offenkundig falsch ist, wenn jede (oder zumindest fast jede) Person, die ein kompetenter Sprecher der interpretierten Sprache ist, den in dieser Sprache formulierten Satz p selbstverständlich als falsch ablehnt. Diese Bedingung wird von logisch und wahrscheinlich auch von analytisch falschen Aussagen erfüllt. Die zweite Bedingung nimmt die unter Punkt 3.1.1 ausführlich behandelte Notwendigkeit epistemischer Kontextualisierung von Wahrheitsunterstellungen auf und definiert eine Aussage p als offen-

   

Scholz 1999, 201. Scholz 1999, 201 f. Scholz entlehnt dieses Beispiel aus Künne 2008, 75 f. Spoerhase 2007, 436 f. Scholz 1999, 202.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

219

kundig falsch, sofern jede (oder fast jede) Person, die p versteht, p ablehnt, „wenn sie sich in der selben Wahrnehmungssituation wie der Sprecher befindet.“⁶⁸⁵ Damit lassen sich auch Verneinungen von synthetischen „Binsenwahrheiten“,⁶⁸⁶ wie zum Beispiel von „trivialen Beobachtungsaussagen“⁶⁸⁷ als offensichtlich falsch kategorisieren.⁶⁸⁸ Im Lichte dieser Definitionsvorschläge wird ersichtlich, was für Scholz das zentrale Problem der allegorischen Interpretation des Alten Testaments ist und worin der Kern der Kritik Spoerhases eigentlich liegt. Scholz will Bedingungen offensichtlicher Falschheit etablieren, die von jedem rationalen Agenten anerkannt werden, während für Spoerhase diejenigen Bedingungen offensichtlicher Falschheit zu rekonstruieren sind, die von der betreffenden Gruppe von mittelalterlichen Theologen oder Bibelinterpreten anerkannt werden. Diese unterschiedlich definierten Ziele, aus denen sich Spoerhases Vorwurf einer versäumten Kontextualisierung erklärt, gehen aus einem unterschiedlichen Verständnis von Interpretation hervor, das sich mittels der einleitend eingeführten Zuordnung zu niedrigen bzw. höheren Verstehensstufen nachvollziehen lässt. Scholz Argumentation ist überzeugend aus der Perspektive der unteren Verstehensstufen, sein Kriterium offensichtlicher Falschheit muss etwa den radikalen Interpreten dazu befähigen, Übersetzungshypothesen für eine bis dato unbekannte Sprache aufzustellen. Dementsprechend kann er nicht von weitreichenderen Gemeinsamkeiten zwischen Interpretem und Interpretiertem ausgehen, als seine Bedingungen spezifizieren. Diese Kriterien gehen nicht über logische oder analytische Aussagen oder triviale Beobachtungssätze hinaus – was für den radikalen Interpreten und dessen Einstig in den Interpretationsprozess ja auch ausreicht. Der philologische Interpret allerdings interessiert sich für die Interpretation von im Sinne der unteren Verstehensstufen bereits verstandenen Aussagen. Sich in diesem Kontext auf Scholz‘ Grundsatzdefinition offensichtlicher Falschheit zurückzuziehen, würde bedeuten, so gut wie nie zu einer Interpretation im philologischen Sinn berechtigt zu sein. Die allegorische Lektüre einer Bibelpassage wäre nur dann gerechtfertigt, wenn diese logische Gesetze verletzte, oder analytische Wahrheiten bzw. triviale Beobachtungssätze negierte. Dies tut die Aussage „Gott ist ein

 Scholz 1999, 202.  Scholz 1999, 202.  Scholz 1999, 202.  Diese beiden Bedingungen finden sich in nahezu identischer Form bei Künne 2008, 76: „Tendenziell jeder, der Z versteht […], verwirft diese Aussage stets ohne Zögern als falsch, und Wahrnehmung ist keine Rechtfertigungsinstanz für diese Ablehnung“ sowie „So gut wie jeder, der Z versteht, verwirft auf der Stelle die mit Z gemachte Aussage, wenn er sich in derselben Wahrnehmungssituation wie der Sprecher befindet“.

220

4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

grausamer Despot“ tatsächlich nicht – dementsprechend ist sie auch für Scholz „nicht absurd genug“.⁶⁸⁹ Allerdings verletzen literarische Texte generell eher selten derartige Anforderungen, was aber natürlich nicht mit einer Redundanz philologischer Hermeneutik einhergeht. Kafkas Verwandlung bedarf der philologischen Interpretation, obwohl der Satz „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ durchaus keine logischen Gesetze verletzt oder analytischen Wahrheiten zuwiderläuft. Dementsprechend ist für die philologische Hermeneutik Spoerhases Vorschlag, offensichtliche Falschheit kontextabhängig zu definieren, vorzuziehen. Um ein befriedigendes Verständnis literarischer Texte (ich subsumiere die Bibel hier unter diese Kategorie) erreichen zu können, muss es möglich sein, über die enge Definition Scholz‘ hinauszugehen. Eben diese Ausweitung kann eine Knüpfung des Verständnisses von Abweichungen an den gegebenen Kontext leisten. Aus Spoerhases Kritik lassen sich dahingehend mindestens zwei positive Anforderungen ableiten. Der zentrale Kritikpunkt betrifft die von Scholz versäumte soziohistorische Kontextualisierung. In einer gegebenen Epoche oder Gesellschaft mögen bestimmte Annahmen (etwa in Bezug auf die Eigenschaften einer Gottheit) ähnlich fest im sozialen Bewusstsein verankert sein wie die von Scholz aufgerufenen unhintergehbaren logischen Gesetze.⁶⁹⁰ In einem solchen Fall wäre die Interpretation eines Satzes der interpretierten Sprache mit „Gott ist ungerecht und grausam“ unter Umständen auch ähnlich (eklatant) absurd wie die Übersetzung eines anderen Satzes mit „p und non-p“. Diese notwendige soziohistorische Kontextualisierung lässt sich in einer anderen Hinsicht weiter präzisieren als Relativierung auf den jeweiligen Sprecher, im Fall philologischer Interpretation also auf den Autor des zu interpretierenden Textes. Die Informationen, die der Interpret über den Autor hat, können klare Anhaltspunkte darüber geben, was innerhalb eines Textes als absurd und damit reinterpretationsbedürftig zu gelten hat und was nicht. Weiß ein Interpret, dass Jonathan Swift im Irland des frühen 18. Jahrhunderts lebte und direkt von der damals virulenten Armutsproblematik betroffen war, so legt dies nahe, dass die Vorschläge für Infantizid und Kannibalismus unter benachteiligten Bevölkerungsschichten in seinem Text A Modest Proposal als absurd einzuschätzen sind und der Text konsequenterweise als Satire auf die grotesken Versuche der Regierung, die Armutsproblematik einzudämmen, interpretiert werden sollte. Handelte es sich bei dem Autor um das misanthrope Mitglied einer faschistoiden

 Scholz 1999, 201 f.  Vgl. auch Quine 1980, v. a. 114 f.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

221

und kannibalistischen Volksgruppe, wäre diese Einschätzung in dieser Form nicht unbedingt zu treffen. Dass fehlendes Wissen über den Autor und die soziohistorischen Hintergründe die Kategorisierung von offensichtlicher Falschheit erschwert, zeigt sich schon daran, dass Swifts Text in diversen Kulturkreisen als ernstgemeinte Aufforderung missverstanden wurde. Ein ähnlich gelagertes Beispiel gibt Svante Nordin, der darauf hinweist, dass ein Interpret, der Brecht kennt, seine Stücke nicht als Huldigung an die freie Marktwirtschaft verstehen sollte: „One rule for interpretation […] is that a text should not be interpreted in a way that makes its content absurd. But what is absurd is partly determined by who has written the text. It would be absurd, e. g., to take a play by […] Brecht as a tribute to the virtues of free enterprise.“⁶⁹¹ Nordins Beispiel legt noch einen weiteren Aspekt nahe, der als literaturwissenschaftsspezifische Konkretisierung des allgemeinen Begriffs von soziohistorischer Kontextualisierung bestimmter Absurditätskriterien verstanden werden kann. Die von Peter Tepe in Kognitive Hermeneutik eingeführte Terminologie aufgreifend lässt sich dieser als Bezugnahme auf ein bestimmtes Literaturprogramm verstehen. Tepe führt hierzu aus: Jedem Textkonzept liegt wiederum ein Literaturprogramm zugrunde, d. h. eine bestimmte werthaft-normative Auffassung davon, wie Literatur aussehen sollte. Naturalisten z. B. folgen einem anderen Literatur- und Kunstprogramm als Expressionisten. Das Literaturprogramm muss dem Textproduzenten ebenfalls nicht klar bewusst sein; auch die spontane Kunstproduktion gehorcht einer werthaft-normativen Literaturauffassung. Jeder literarische Text ist dadurch, dass er die Umsetzung eines Textkonzepts ist, immer auch die Umsetzung des Literaturprogramms, das der konkreten künstlerischen Zielsetzung zugrunde liegt.⁶⁹²

Der philologische Interpret sollte also im Rahmen seiner Interpretation eines bestimmten literarischen Textes versuchen, bestimmte Aussagen, Passagen etc. seines Interpretandums im Kontext eines Literaturprogramms zu verorten, um dementsprechend einschätzen zu können, ob eine bestimmte Aussage, Passage etc. als abweichend und damit interpretationsbedürftig einzuschätzen ist oder nicht. Offensichtlich existiert eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Literaturprogrammen, außerdem folgen selbstverständlich nicht alle literarischen Texte einer explizit formulierten Programmatik und versuchen, ein bestimmtes theoretisches Konzept umzusetzen.⁶⁹³ Der Begriff Literaturprogramm sollte dem-

 Nordin 1978, 89 [meine Hervorhebung].  Tepe 2007, 65.  Dass die Relevanz dieser Überlegungen – wie ab und an in der Forschung nahegelegt wird – durch literarische Texte eingeschränkt wird, die bestimmte Sinnerwartungen gezielt enttäuschen bzw. eine „Widerlegung aller Sinnerwartungen und –ansprüche“ (Kaiser 1978, 430) ver-

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

entsprechend weit verstanden werden. Allgemeine weltanschauliche Überzeugungen des Autors können dabei genauso unter diese Kategorie fallen (etwa im Fall der Interpretation eines Theaterstücks von Jean-Paul Sartre im Kontext seiner existentialistischen Philosophie) wie konkretere sozialpolitische oder individuell lebenspraktische Anschauungen (etwa für die Interpretation eines Brecht-Stücks im Kontext von dessen Sichtweise von Kapitalismus und Sozialismus oder die Interpretation eines Houellebecq-Romans im Kontext von dessen Überzeugungen über die Merkantilisierung des Privatlebens). Die Identifikation von Abweichungen von interpretativen Erwartungen, die aufgrund eines bestimmten Literaturprogramms näher bestimmt sind, kann aber auch in diesem weiteren Verständnis nicht ohne Weiteres einzelfallübergreifend durchgeführt werden. Der Grund dafür ist, dass Autoren in literarischen Texten einerseits ihre eigenen Literaturprogramme bewusst unterlaufen können und andererseits selbst die explizite Zuordnung eines Texts zu einem bestimmten Literaturprogramm durch den Autor nicht heißt, dass der Text die dort verankerten Kriterien überhaupt erfüllt. Ein Text kann theoretisch so defizient sein, dass seine Zuordnung zu einem Literaturprogramm A genauso sinnlos erscheint wie die Zuordnung zu einem Literaturprogramm B, in eben dem Sinn, in dem es sinnlos ist, von einem Haufen Bauschutt zu sagen, dass er eigentlich eher eine Hängebrücke ist als ein Fußballstadion. Die Kontextualisierung in Bezug auf ein Literaturprogramm muss sich also durch den Textbestand untermauern lassen. Sofern dies möglich ist (und in paradigmatischen Fällen ist dies der Fall), wird die Kontextualisierung in Bezug auf ein Literaturprogramm aber überaus hilfreich sein. Ein weiteres Beispiel kann diese These illustrieren helfen. Peter Handkes Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 27.1. 1968 ist als Text allein nicht von einer schlichten graphischen Mannschaftsaufstellung zu unterscheiden, die damals „im Sportteil Nürnberger Zeitungen und anderer Pressemitteilungen zu lesen“⁶⁹⁴ gewesen sein dürfte. Es werden lediglich die Namen der elf Spieler in einer damals üblichen taktischen Formation aufgelistet und auf den Spielbeginn um 15 Uhr hingewiesen.⁶⁹⁵ Das heißt, dass ohne einen Bezug zum institutionellen

suchen, halte ich nicht für plausibel. Oft sind derartige Texte eher Beispiele für die besonders engagierte Umsetzung eines (rudimentären) Literaturprogramms, das vereinfacht als „Protest gegen die Kategorien der narrativen Kohärenz, der semantischen Verfügbarkeit und der Entschlüsselbarkeit“ (Frank 1982, 138) formuliert werden könnte.  Martínez 1999, 474.  Dass die Aufstellung Handkes übrigens nicht ganz „korrekt“ ist, weil in dem Spiel gegen Leverkusen am 27.01.1968 Hilpert neben Popp in der Abwehr spielte und der von Handke aufgestellte, eigentliche Stammspieler Leupold erst in der 76. Minute eingewechselt wurde, steigert offensichtlich nicht den ästhetischen Wert der Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 27.1.

4.2 Interpretationsrelevante und interpretationsirrelevante Anomalien

223

Kontext und zum Literaturprogramm Handkes, der diesen Text eben in den Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt aufnimmt und nicht in einer Sportzeitung abdrucken lässt, der Text gar nicht als Kunstphänomen erkannt werden kann. Im Rahmen eines Gedichtbandes macht das Gedicht Handkes kritische Aussagen über die Austauschbarkeit, Beliebigkeit und Reproduzierbarkeit von Kunst, über die Steuerung des Rezipienten mittels institutioneller Rahmenbedingungen usw., im Rahmen einer Zeitung ist es die Aufstellung einer Fußballmannschaft, die nichts dergleichen tut, sondern lediglich angibt, welcher Spieler auf welcher Position spielen wird.⁶⁹⁶ Matías Martínez schließt zurecht, dass ein künstlerisches Werk „nicht nur als materiellen Eigenschaften […], sondern auch aus der zugehörigen künstlerischen Konzeption“⁶⁹⁷ besteht und „nur mit Bezug auf die künstlerische Konzeption […] überhaupt als Kunstwerk identifizier[t]“⁶⁹⁸ werden kann. Obwohl Handkes Text oder Marcel Duchamps ready-mades äußerst spezielle Kunstphänomene sind, ist die Notwendigkeit, eine Interpretation auf ein bestimmtes Literaturprogramm zu beziehen, um gerechtfertigte Annahmen über die interpretative Relevanz bestimmter „abweichender“ Textphänomene treffen zu können, nicht auf abseitige Fälle beschränkt.Wie oben von Tepe impliziert, sind vergleichbare Passagen in einem kanonisierten naturalistischen und einem kanonisierten expressionistischen Text jeweils anders zu interpretieren, was im Bereich ästhetischer Wertschätzung sogar dazu führen mag, dass ein identischer Text als besonders gelungenes naturalistisches Kunstwerk anzusehen ist, nach dem Literaturprogramm des Expressionismus jedoch völlig verfehlt wäre. Ich fasse diese Überlegungen kurz zusammen: Wie die Analyse des Dissenses zwischen Scholz und Spoerhase zeigen konnte, ist die Schwelle an Absurdität, die überschritten sein muss, um die nachsichtige Interpretation einer bestimmten Aussage aufgrund ihrer Klassifizierung als abweichend zu legitimieren, im Fall der philologischen Interpretation literarischer Texte deutlich niedriger als im Fall der (radikalen) Interpretation von nicht-literarischen Aussagen. Während im letzteren Fall den interpretierten Sprechern falsche Überzeugungen bezüglich logisch oder analytisch wahrer Sätze oder trivialer Beobachtungsaussagen zugeschrieben werden müssen, um nachsichtige Interpretation zu triggern, reichen im Fall lite-

1968 oder fügt ihr irgendwie eine Art von fiktionaler Dimension hinzu. Dass Fußballtrainer ihre angekündigten Aufstellungen oft kurzfristig ändern, ist ein Allgemeinplatz, Handkes Text hätte also durchaus auch in genau dieser Variante in jeder Sportzeitung abgedruckt sein können.  Analog ließe sich für die ready-mades von Marcel Duchamp argumentieren, die ohne jegliche künstlerische Bearbeitung der Alltagswelt entnommen sind. Vgl. auch Martínez 1999, 470.  Martínez 1999, 470 f.  Martínez 1999, 470 f.

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

rarischer Texte deutlich weniger eklatante Anomalien aus. Dieses Ergebnis deckt sich mit der Erfahrung aus der interpretativen Praxis, da sich die philologische Interpretation üblicherweise nicht darauf beschränkt, nur besonders offensichtlich anomale Textstellen zu interpretieren. Viel eher ist der Fall, dass tendenziell sogar sehr viele Stellen als Abweichungen von bestimmten Normvorgaben verstanden und damit Gegenstand der philologischen Interpretation werden. Der Grund dafür ist, dass literarische Texte viel eindeutiger und weitgehender kontextualisiert werden können als Aussagen von Sprechern in der radikalen Interpretationssituation. Diese Kontextualisierung sollte in dreierlei Hinsicht durchgeführt werden: 1) Generelle Verortung der literarischen Texte vor einem gegebenen soziohistorischen Entstehungshintergrund: Hiermit ist eine allgemeine Bestimmung der gesellschaftlichen, politischen, weltanschaulich-philosophischen Kontexte gemeint, eine Fixierung des Weltwissens, allgemein üblicher Verhaltenskodizes etc. 2) Kontextualisierung in Hinblick auf die Person des Autors: Durch einen engeren Bezug auf die Person des Autors können weitere Textpassagen als besonders interpretationsbedürftig ausgezeichnet werden. Es ist aufgrund von Interpretenwissen über die Person des Autors als absurd und damit interpretationsbedürftig einzustufen, wenn in einem Text Brechts ein Loblied auf den Kapitalismus gesungen wird oder in einem Text Swifts unterprivilegierten Bevölkerungsschichten Infantizid und Kannibalismus nahegelegt wird. In solchen Fällen wären die betreffenden Stellen etwa als ironisch oder satirisch zu interpretieren. 3) Kontextualisierung in Hinblick auf ein bestimmtes Literaturprogramm: Literaturprogramme bestimmter Autoren, Autorenkollektive oder ganzer literarischer Gruppierungen oder Strömungen können einen weitere Folie bilden, vor deren Hintergrund interpretationsbedürftige Stellen identifiziert und erklärt werden können. Die anomale Häufung des Personalpronomens „ich“ in Goethes Rede zum Shakespears-Tag wäre dann beispielsweise als stilistische Umsetzung der im Sturm und Drang propagierten Emphase einer subjektiv-individuellen Erkenntnis explizierbar. Mittels dieser Kontextualisierungen ergibt sich ein Rahmen, nach dessen Vorgaben weit mehr Interpretanda als interpretationswürdig respektive interpretationsbedürftig einzustufen sind, als im Fall (radikaler) erkenntnistheoretischer Interpretation. Das heißt, dass nachsichtige Interpretation, die auf Prinzipien hermeneutischer Billigkeit fußt, im Rahmen der philologischen Hermeneutik nicht nur in Sonderfällen notwendig ist, sondern dass philologische Interpretation generell als nachsichtige Interpretation zu rekonstruieren ist. Es sind nicht nur eklatante Abweichungen von grundlegenden Rationalitätsstandards, die im Rekurs auf Billigkeitsprinzipien interpretativ zu „korrigieren“ sind. Für den philologischen Interpreten sind auch viel spezifischere, in den obigen Hinsichten

4.3 Zur Schwierigkeit von Formalisierungen

225

kontextabhängig definierte Anomalien explikationsbedürftig, die der erkenntnistheoretische Interpret noch nicht einmal als Anomalien identifizieren wird.⁶⁹⁹ Davidsons Ansicht, dass jede Interpretation im Kern als nachsichtige Interpretation verstanden werden müsse und dass das principle of charity immer an der Interpretation von Äußerungen beteiligt sei,⁷⁰⁰ erweist sich im Fall der philologischen Interpretation damit als noch zutreffender als im Fall der Interpretation normalsprachlicher Äußerungen. Auch wenn dies im praktischen Interpretationsvollzug, in dem die grundlegender Präsumtionen in hohem Maß konretisiert sein können, nicht mehr explizit deutlich werden muss, erweisen sich Billigkeitsprinzipien als fundamentale methodische Grundlage philologischer Hermeneutik.

4.3 Zur Schwierigkeit von Formalisierungen Im Anschluss an dieses die Virulenz von Billigkeitsprinzipien unterstreichende Fazit einerseits und die vorhergegangenen Vorschläge zur Konkretisierung allgemeiner Rationalitätsunterstellungen andererseits ist ein kurzer Hinweis angebracht, der verdeutlicht, inwiefern das Desiderat, aus der Analyse von Billigkeitsprinzipien möglichst konkrete Anweisungen für den Interpreten literarischer Texte ableiten zu können, aufgrund einiger grundsätzlicher Beschränkungen an gewisse Grenzen stoßen muss. Dass auch eine detaillierte Analyse von Billigkeitsprinzipien im Kontext der philologischen Hermeneutik kein universell anwendbares Set von Regeln für Einzelfälle der Interpretation bestimmter literarischer Texte geben kann, ist nicht weniger zutreffend als die allgemeinere Einsicht, dass eine Analyse von Billigkeitsprinzipien im Kontext der philosophischen Hermeneutik kein universell anwendbares Set von Regeln für die Interpretation normalsprachlicher Aussagen geben kann. Diesen allgemeinen sprachphilosophischen Vorbehalt formuliert exemplarisch Künne: „Prinzipien der wohlwollenden Interpretation sind mithin keine Regeln, deren mechanische Befolgung Verständnis garantiert. Solche Regeln gibt es nicht.“⁷⁰¹ Nicht nur die analytische Sprachphilosophie, auch die traditionelle Hermeneutik ist sich schon seit ihren Anfängen bewusst, dass eine derartige Formalisierung von Interpretation prinzipiell nicht geleistet werden

 Vgl. Scholz 1999, 201 f.  Vgl. Davidson 1984e, 183.  Künne 1990, 231.

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4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation

kann. Exemplarisch verweist Schleiermacher – sogar in ähnlicher Wortwahl wie Künne – auf diese Unmöglichkeit der Mechanisierung von Interpretation: Sollte die grammatische Seite [der Interpretation] für sich allein vollendet werden, so müsste eine vollkommene Kenntnis der Sprache gegeben sein, im anderen Falle [bei Vollendung der psychologischen Dimension der Interpretation] eine vollständige Kenntnis des Menschen. Da beides nie gegeben sein kann, so muß man von einem zum anderen übergehen, und wie dies geschehen soll, darüber lassen sich keine Regeln geben. Das volle Geschäft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten, aber nicht, als ob die Ausführung in einem Kunstwerk endigte, sondern so, daß die Tätigkeit nur den Charakter der Kunst an sich trägt, weil mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d. i. nicht mechanisiert werden kann.⁷⁰²

Der erste Grund für die Unmöglichkeit einer Mechanisierung von Interpretationsprozessen durch Rekurs auf Prinzipien hermeneutischer Billigkeit ist unter 2.4.2 erstmals angesprochen und wird in der eben zitierten Passage auch von Schleiermacher betont: Ein Interpret befindet sich gemessen an Schleiermachers Ansprüchen immer – außer am Titzmann’schen „Ende aller Tage“ – in einer epistemisch defizienten Situation, er ist, in Schleiermachers Terminologie, weder allwissend im Sinne einer „vollkommene[n] Kenntnis der Sprache“⁷⁰³ noch im Sinne einer „vollständige[n] Kenntnis des Menschen“.⁷⁰⁴ Diese epistemische Defizienz wurde unter 2.4.1 und 2.4.2 als Argument für den Rekurs auf Präsumtionen eingeführt. Sie ist der Grund dafür, dass ein Interpret mit vorläufigen Annahmen hantieren muss, die er dann abhängig von einzelnen Interpretanda auf eine nicht a priori festzulegende Art und Weise im Laufe des Interpretationsprozesses zu modifizieren hat. Der zweite Grund liegt in der Unbestimmtheit der Ziele von Interpretationsprozessen. Dieser Aspekt ist gerade im Fall der philologischen Interpretation von besonderer Relevanz. Es gibt exorbitant viele verschiedene Aspekte, die ein literaturwissenschaftlicher Interpret an einem Text prinzipiell interessant finden kann. Diese Interessenlage, die unmittelbar auf die Feinjustierung interpretativer Ziele durchschlägt, wird sich ebenso auf den Verlauf der einzelnen Interpretationsprozesse auswirken. Sollten beispielsweise bestimmte Präsumtionen in verschiedene Richtungen deuten, wird es nicht zuletzt von der Präferenz des Inter Schleiermacher 2011, 81. Neben Schleiermacher verweist auch Dilthey 1981, 269, auf die Unmöglichkeit, Verstehensprozesse restlos zu formalisieren: „[Das Verstehen] kann durch keine Formeln logischer Leistungen repräsentiert werden.“  Schleiermacher 2011, 81.  Schleiermacher 2011, 81. Schleiermacher benennt damit in anderer Terminologie das Grunddilemma, das auch Davidson für den radikalen Interpreten ausmacht: Die simultane Bestimmung der Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke und der dadurch verbalisierten Überzeugungen des jeweiligen Sprechers. Vgl. 2.1.1.

4.3 Zur Schwierigkeit von Formalisierungen

227

preten abhängen, ob z. B. eher die Präsumtion von Kohärenz oder die Präsumtion von ästhetischem Anspruch in Bezug auf einen gegebenen Text aufgegeben wird. Aufgrund der großen Diversität der Einzelfälle ist es für eine allgemeine Theorie also prinzipiell schwierig, gehaltvolle und dabei gleichzeitig spezifische Aussagen zu machen, ohne dabei ihre Allgemeinheit zu verlieren: „[W]e shall probably have to do without a hermeneutical method, if that means a set of a priori rules to apply when interpreting texts and assessing interpretations. There are simply too many things that might prove interesting about a given text for us to say much that would be helpful without descending to specific cases.“⁷⁰⁵

 Stout 1982, 7.

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik Meines Erachtens sind es nicht zuletzt diese prinzipiell einer Formalisierung von philologischen Interpretationsprozessen entgegenstehenden Aspekte, die periodenartig zur Hinterfragung der methodischen Grundlagen in der Literaturwissenschaft geführt und das Schlagwort einer Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft immer wieder aktualisiert haben. Ohne auf diese weitläufige Diskussion einzugehen scheint es mir angesichts der wiederkehrenden wissenschaftstheoretischen Zweifel jedoch nicht angebracht, in eine Art fatalistisches Desinteresse zu verfallen und davon auszugehen, dass man als Literaturwissenschaftler „bis zum Ausgang dieses Streits der [wissenschaftstheoretischen] ‚Experten‘ getrost bei seiner Praxis verbleiben könne, ehe man sich ernsthaft mit der Frage nach ihrer Revision beschäftigen müsse.“⁷⁰⁶ Die prinzipiellen Zweifel an der Möglichkeit einer zum Algorithmus konkretisierten hermeneutischen Methode, die im Sinn von 4.3 formalisierte Regeln angibt, erzwingen nämlich weder einen Rückzug auf ein Verständnis von philologischer Hermeneutik als reiner Kunstform, noch eine Fundierung literaturwissenschaftlicher Argumentation auf wissenschaftstheoretisch letztlich uninteressanten Kategorien wie Evidenz ⁷⁰⁷ – dass

 Danneberg, Müller 1980, 18.  Diesen Rekurs schlägt prominent etwa Szondi 1962 vor. Vgl. paradigmatisch ebd., 160: „Evidenz aber ist das adäquate Kriterium, dem sich die philologische Erkenntnis zu unterwerfen hat. In der Evidenz wird die Sprache der Tatsachen weder überhört, noch in ihrer Verdinglichung mißverstanden, sondern als subjektiv bedingte und in der Erkenntnis subjektiv vermittelte vernommen, also allererst in ihrer wahren Objektivität.“ Sollte diese Einschätzung Szondis zutreffen, wäre das – trotz Szondis letztlich versöhnlicher Formulierung – verheerend für einen wissenschaftlichen Anspruch der Philologie. Dass wie auch immer erfahr- bzw. erlebbare Evidenz nämlich keinesfalls zur wissenschaftlichen Grundlegung von Erkenntnissen taugt, zeigt meines Erachtens vollständig überzeugend schon Schlick 1918, 129 f.: „[U]nmöglich aber läßt sich die Lehre aufrecht erhalten, daß es ein spezifisches unreduzierbares Evidenzerlebnis gebe, dessen Vorhandensein das ausreichende Kriterium und untrügliche Kennzeichen der Wahrheit ausmache. […] Dies wird erwiesen durch die Erfahrungstatsache, daß ein Evidenzerlebnis sich auch bei notorisch falschen Urteilen einstellt. Die Verteidiger der Evidenzlehre behaupten natürlich, daß in diesem Falle nicht die richtige, die echte Evidenz erlebt wurde, es handele sich vielmehr um eine Gewißheit ‚ohne Evidenz‘. Diese Behauptung aber verwickelt sich in einen unaufhebbaren Widerspruch. Entweder nämlich, die echte Evidenz wird von der unechten (der Gewißheit ohne Evidenz) als wesensverschieden erlebt, dann werden beide also gar nicht miteinander verwechselt; Evidenztäuschungen kommen dann gar nicht vor, und damit wäre der Tatbestand geleugnet, zu dessen Erklärung die ganze Lehre erfunden ward. Oder aber es besteht kein unmittelbarer Unterscheid zwischen den beiden Erlebnissen. Damit ist gesagt, daß es nur auf indirektem Wege, also durch nachträgliche Untersuchung möglich ist zu entscheiden, ob

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

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es keine „mechanisierten“ Algorithmen gibt heißt nicht, dass man nichts Erhellendes über die methodischen Grundlagen der philologischen Hermeneutik sagen könnte. Es ist vielmehr angebracht, einen methodischen Rahmen zu modellieren, der bestimmten wissenschaftlichen Adäquatheitsbedingungen zu genügen hat und der damit eine strukturierende Funktion für die Beschreibung interpretativer Prozesse übernehmen kann. Folgende Bedingungen sind dabei zu berücksichtigen:⁷⁰⁸ A1) Terminologische Klarheit: Ein Rahmenkonzept zur methodischen Strukturierung hermeneutischer Prozesse sollte möglichst wenig ambig formuliert sein und klar machen, worauf es sich genau bezieht. A2) Anwendbarkeit: Eine wünschenswertes Rahmenkonzept sollte auf Einzelfälle anwendbar und damit in der Lage sein, spezifische Interpretationsprozesse anzuleiten – soweit es die diskutierten prinzipiellen Beschränkungen erlauben. A3) Vergleichbarkeit: Die Forderung nach Vergleichbarkeit ist als doppelte Forderung zu präzisieren: Sowohl das Rahmenkonzept selbst sollte mit konkurrierenden Rahmenkonzepten vergleichbar sein, als auch die mittels des Rahmenkonzepts gewonnenen Einzelinterpretationen mit anderen Einzelinterpretationen. A4) Kritisierbarkeit: Auch die Adäquatheitsbedingung der Kritisierbarkeit ist analog zu A3 als doppelte Forderung aufzufassen. Nicht nur das Rahmenkonzept als solches muss kritischer Überprüfung zugänglich sein, auch die dadurch gezeitigten Interpretationen sollten kritisierbar bleiben. Damit ist ein Rekurs auf nicht weiter begründungspflichtige bzw. unhinterfragbare Evidenzen unterbunden. In dem folgenden abschließenden Kapitel werde ich versuchen, die Erkenntnisse über Billigkeitsprinzipien im Kontext philologischer Hermeneutik in den weiteren Kontext von interpretativen Rahmenkonzepten zu rücken. Obwohl ich es als zentrale Aufgabe literaturtheoretischer Grundlagenforschung ansehe, die methodologische Virulenz hermeneutischer Billigkeitsprinzipien auch in einer Gewißheit mit Evidenz oder Gewißheit ohne Evidenz vorgelegen hat. Damit ist dann aber zugestanden, daß das echte Kriterium der Wahrheit überhaupt gar nicht im Evidenzerlebnis zu suchen ist, sondern daß andere Kriterien die allein entscheidenden sind, diejenigen nämlich, welche bei jener nachträglichen Untersuchung befragt werden mußten. Evidenzerlebnisse können das nicht wieder sein, denn es ist klar, daß man sich sonst in einen Zirkel verstrickt.“ Aktuell bespricht die Rolle der Evidenzkategorie im Rahmen der Literaturwissenschaft ausführlich, wenn auch nicht kritisch genug Scherer 2006.  Die in der Folge vorgeschlagenen Adäquatheitsbedingungen richten sich im Wesentlichen nach Danneberg, Müller 1980, Danneberg, Müller 1981, und Spoerhase 2007, dort insbesondere 385 f.

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

Rahmentheorie abzubilden, die den genannten Adäquatheitskriterien entspricht, handelt es sich dabei um einen Problemkomplex, der von dem Ziel der Arbeit, die Struktur, den Inhalt und den Status von Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik zu klären, zu unterscheiden ist. Die folgenden Überlegungen haben dementsprechend eher tentativen Charakter und sollten als Ausblick und Anschlussoption für in dieser Hinsicht vertieftere Forschung verstanden werden.

5.1 Der hermeneutische Zirkel Traditionell wurde in der Hermeneutik oft das Modell des hermeneutischen Zirkels bemüht, um als Rahmenkonzept zur methodologischen Beschreibung philologischer Interpretation zu fungieren. Nach meinem Dafürhalten ist jedoch zu klären, ob das in verschiedenen Ausprägungen anzutreffende Zirkelmodell nicht in Konflikt mit den eben formulierten Adäquatheitsbedingungen kommen muss. Hinter dem meist pauschal als hermeneutischer Zirkel thematisierten Konzept verbergen sich eigentlich mehrere zu differenzierende Relationen. Mindestens vier Varianten lassen sich unterscheiden.⁷⁰⁹

5.1.1 Teil-Ganzes-Zirkel Die erste betrifft den Zusammenhang eines Textganzen T und einzelner Textteile P1… Pn. Der hermeneutische Zirkel in dieser Lesart besagt, dass (a) die Bedeutung von T durch die Teilbedeutungen von P1… Pn bestimmt ist und ebenso (b) die Teilbedeutungen von P1… Pn bestimmt sind durch die Bedeutung des Textganzen T. Die offensichtliche Zirkularität dieses Modells wird meist auf verschiedene Arten zu entschärfen versucht. Jürgen Bolten versucht etwa den hermeneutischen Zirkel als eine Art hermeneutischer Spirale zu verstehen: Denn de facto ‚läuft die Bewegung des Verstehens‘ nicht […] in der Form G – T – G, sondern in der Form Gn – Tn – Gn+1 […]. Die Eingangshypothese Gn wird, weil sie sonst als unkorrigierbar gesetzt und der Vorgang des Verstehens ad absurdum geführt würde, durch die Argumen-

 Die Ansichten der Forschung darüber, wie viele Typen von unterschiedlichen Dilemmata unter dem Begriff des hermeneutischen Zirkels subsumiert werden werden sollten, sind uneinheitlich. Teichert 2004 unterscheidet im Historischen Wörterbuch der Philosophie implizit nur zwei Varianten, Stegmüller 2008 unterscheidet explizit sechs.

5.1 Der hermeneutische Zirkel

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tation Tn induktiv […] modifiziert und in der qualitativ anderswertigen Form Gn+1 erneut zur Diskussion gestellt.⁷¹⁰

Andere Möglichkeiten bestehen darin, (a) und (b) zu modifizieren zu (a*): „Die Antizipation der Bedeutung des Gesamttextes T bestimmt die Bedeutung der Textteile P1… Pn“ und (b*): „Die sukzessiven Bedeutungszuschreibungen an P1… Pn bestimmen die Bedeutung des Gesamttextes T.“ Durch die Betonung des antizipatorischen Moments und des Moments der immer besser fundierten, sukzessiven Bedeutungszuschreibung kann versucht werden, ein Moment des Fortschritts in die Metapher des Zirkels zu integrieren und damit zu zeigen, dass es sich bei dieser Variante des hermeneutischen Zirkels um einen circulus fructuosus und nicht um einen circulus vitiosus handelt.⁷¹¹

5.1.2 Text-Intention-Zirkel Die zweite oft unter dem Begriff des hermeneutischen Zirkels subsumierte Relation betrifft die Verschränkung von Überzeugungen oder Intentionen des Autors und dem Textkorpus. Wolfgang Stegmüller veranschaulicht diese Version des hermeneutischen Zirkels anschaulich anhand von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen: „Um die Philosophischen Untersuchungen mit wirklichem Verständnis lesen zu können, müßte der Leser Wittgensteins Bedeutungstheorie kennen. Diese Theorie kann er aber auf keinem anderen Wege kennenlernen als durch ein verständnisvolles Studium dieses Buches.“⁷¹² Es ist also, abstrakter formuliert, denkbar, dass der Interpret (c) die Intention des Autors I kennen muss, um einen zu interpretierenden Text T richtig zu verstehen und (d) die Intention des Autors I nur aus dem zu interpretierenden Text T erschließen kann – er muss I kennen um T zu verstehen, kann aber T nur verstehen, wenn er I kennt. Auch in diesem Fall vermittelt das Modell eines Zirkels jedoch ein etwas ungenaues Bild

 Bolten 1985, 358. Boltens bezeichnet das Textganze mit G, Textteile mit T. Dass Boltens Formulierung im Detail nicht durchsichtig ist – mir ist nicht ersichtlich wieso er hier von einer „Argumentation“ Tn spricht – muss nicht weiter stören, zumindest die Idee der Modifikation eines hermeneutischen Zirkels zu einer Art hermeneutischen Spirale (so auch der Titel des Aufsatzes) wird an der Stelle ersichtlich. Der Begriff der hermeneutischen Spirale wird auch vorgeschlagen von Stegmüller 2008, S. 198 f. oder Teichert 1991, 154– 158.  Diese Auffassung des hermeneutischen Zirkels als eines circulus fructuosus steckt auch hinter der schon bei Schleiermacher 2011, 97 anzutreffenden Rede von einem „scheinbaren Kreise“.  Stegmüller 2008, 200.

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

des Interpretationsprozesses.⁷¹³ Der Interpret kann in Unkenntnis von I zunächst Annahmen über den Gehalt von I aufstellen, die grundlegend auf Billigkeitspräsumtionen beruhen werden. Diese Annahmen können dann aufgrund von Kriterien wie ihrer Passung zu möglicherweise vorhandenem Wissen über den Autor, ihres Bezug zu möglichst großen Teilen von T etc. konkretisiert werden, was im Idealfall zu einer geeigneten Rekonstruktion von I führen wird. Natürlich ist es möglich, dass mehrere konkurrierende Hypothesen über den Gehalt von I bestehen bleiben, zwischen denen mittels der eben genannten Kriterien nur bedingt oder gar nicht entschieden werden kann. Dies ist allerdings keine prinzipielle Konsequenz des hermeneutischen Zirkels in dieser Version, d. h. der „Zirkel“ ist keineswegs unüberwindbar, wie in der Literatur zum Teil nahegelegt wird.⁷¹⁴

5.1.3 Text-Kontext-Zirkel Die dritte Version des hermeneutischen Zirkels bezieht sich auf eine Verbindung von Text und Kontext:⁷¹⁵ Um einen Text angemessen verstehen zu können, müsse sich der Interpret auf den historischen Kontext des Autors des Textes einlassen. Er habe die Lebenspraxis der Zeit zu rekonstruieren, das Wissen der Zeit, die Sprache der Zeit etc., was sich aber schwierig bis unmöglich herausstellen müsse, da die betreffende Lebenspraxis, das betreffende Wissen und die betreffende Sprachverwendung vergangen sind.Von einem Zirkel wird hier also insofern gesprochen, dass (e) die Bedeutung eines zu interpretierenden Textes T in Abhängigkeit von dem historischen Kontext K, in dem der Autor des Interpretandums zu verorten ist, erschlossen wird, und (f) diese historischen Kontextbedingungen K nur durch den Text T selbst zugänglich sind und nicht unabhängig davon nachvollzogen werden können. Erneut ist fraglich, ob das Modell eines Zirkels dieses Teilproblem der Interpretation historischer Texte richtig beschreibt. Dies scheint mir schon deshalb nicht der Fall zu sein, da es keineswegs überzeugend ist, den Zugang zu K nur  Stegmüller spricht deshalb in diesem Zusammenhang von einem „Dilemma“ und nicht von einem „Zirkel“. Vgl. Stegmüller 2008, 200 – 202.  Vgl. Stegmüller 2008, 200 f. Auch Danneberg, Müller 1981, 133 machen in der literaturwissenschaftlichen Forschung eine signifikante Gruppe aus, die davon ausgeht, dass „die Zirkularität des Verstehens bei der Textinterpretation unvermeidbar ist“. Die Anhänger dieser Auffassung unterscheiden sich laut Danneberg und Müller darin, dass sie entweder an „die positiven Konsequenzen dieser Unvermeidbarkeit für die Interpretation“ glauben, oder „die negativen Folgen, die sich aus ihr [der unvermeidbaren Zirkularität der Interpretation] für den Wissenschaftscharakter der Literaturwissenschaft ergeben“, bedauern.  In diesem Verständnis wird der hermeneutische Zirkel zuerst bei Georg Anton Friedrich Ast eingeführt. Vgl. Ast 1808, 178 ff.

5.1 Der hermeneutische Zirkel

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über T ermöglichen zu wollen. Es ist durchaus Teil der interpretativen Praxis, sich über andere zeitgenössische Texte oder sonstige (etwa archäologische) Funde über den historischen Kontext des Interpretandums zu informieren und ausgehend von diesen Informationen den besonders interessanten Kontext K zu rekonstruieren. Wieso archäologische Ausgrabungen eines antiken Theaters inklusive Aufzeichnungen zur antiken Inszenierung, Bühnenbild usw. nicht helfen können sollen, den Kontext einer zu interpretierenden antiken Tragödie zu rekonstruieren, ist mir nicht einsichtig. Selbst wenn es sich bei diesem Aspekt tatsächlich um ein Problem für die Interpretation von bestimmten Texten handeln sollte – und in Abwesenheit textexterner historischer Informationen mag dies eingeschränkt der Fall sein – ist es immer noch uneindeutig, den Versuch der Überwindung dieses Problems in einem Interpretationsprozess mit dem Konzept des hermeneutischen Zirkels zu beschreiben.⁷¹⁶

5.1.4 Der Zirkel als Bestätigungsdilemma der Philologie Die vierte Version des hermeneutischen Zirkels lässt sich als Bestätigungsdilemma rekonstruieren. Dieses Dilemma wird ausführlich in Peter Szondis Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft erläutert. Szondi versucht anhand einer Diskussion widersprechender Hölderlin-Interpretationen zu zeigen, dass „in der Literaturwissenschaft jeder einzelne Beleg, bevor ihm Beweiskraft zugeschrieben wird, nicht weniger sorgfältig für sich interpretiert werden muß als die Stelle, für deren Deutung er als Argument oder Gegenargument herangezogen wird.“⁷¹⁷ Da der Streit unter den Hölderlin-Kennern hier nur mittelbar relevant ist, dazu nur ganz kurz: Friedrich Beißner, dessen Hölderlin-Interpretation Szondi zitiert, argumentiert dafür, dass eine bestimmte Stelle der ersten Strophe der Friedensfeier nicht metaphorisch gemeint sein kann, weil sich in Hölderlins ge-

 In einer radikalisierten Lesart wird der hermeneutische Zirkel in dieser Form besonders für die philosophische Hermeneutik in der Tradition Heideggers relevant. So weit ich sehe wird laut Heidegger die Lebenspraxis zu einer unhintergehbaren Vorstruktur der Interpretation, aus der kein Interpret herauskommen kann. Interpretation – von Heideger selbst Verstehen genannt – gewinnt damit eine quasi ontologische Dimension, in dem Sinn, dass nur das als seiend verstanden werden kann, was die Lebenspraxis als verstehbar auszeichnet. Detel 2011, 162 fasst nachvollziehbar zusammen: „Dieser Lebenszusammenhang stellt eine unhintergehbare Perspektive dar, die auf das Erfassen von Elementen der Welt durchschlägt und insbesondere bestimmt, was ‚bedeutend‘ (im Sinne von wichtig) ist. In dieser Weise bestimmt der zum Teil kontingente praktische Lebenszusammenhang, die Lebenspraxis mit all ihren Werten, Interessen und theoretischen Vorgriffen die ‚Bedeutungen‘.“  Szondi 1962, 155.

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

samtem Werk keine einzige Metapher in ähnlichem Kontext findet. Für unsere Belange ist dies vor allem deshalb interessant, da Szondi diese Argumentation aus grundlegenden methodologischen Überlegungen heraus ablehnt: Denn in der Behauptung, daß es in Hölderlins Gesamtwerk keine Metapher der Art gibt, wie es die Eingangsstrophe von ‚Friedensfeier‘ wäre, wird übersehen, daß solche Stellen vom sichtenden Blick als mögliche Belege gar nicht erkannt würden. Die Metaphorik der Friedensfeierstrophe vermöchten ja allein solche Beispiele zu bestätigen, die nicht deutlicher denn sie selbst als Metaphern gekennzeichnet sind.Wird diese Kennzeichnung aber als nicht ausreichend erachtet, so erlaubt sie auch nicht, die verwandten Stellen von dem übrigen, unmetaphorischen Material zu unterscheiden. Damit wird die Behauptung selber unhaltbar.⁷¹⁸

Etwas allgemeiner formuliert: Um einen Beleg b für eine Interpretation I anführen zu können, muss der Interpret schon davon ausgehen, dass I korrekt ist, sonst würde er b gar nicht als Beleg für I erkennen können.⁷¹⁹ Am deutlichsten wird die Argumentation Szondis in dem Abschnitt, der eine auf die Parallelstellenmethode zugespitzte Kritik vorbringt, die in ihrer Struktur aber verallgemeinerbar ist. Im Rahmen der Parallelstellenmethode, die nach Szondi als Beispiel für scheinbar objektives Belegmaterial gelten könnte, wird der Sinn eines Wortes geklärt „auf Grund anderer Stellen, in denen […] dasselbe Wort auftritt.“⁷²⁰ Nehmen wir also an, Interpret I1 ist der Meinung, dass ein Wort W eines literarischen Werks an der Stelle S1 b bedeutet, während sein Kollege I2 der Meinung ist, dass W an S1 nicht b, sondern b* bedeutet. Um seine Behauptung zu stützen, führt I1 nun eine Parallelstelle S2 an, an der W ebenfalls vorkommt. Sollte W an dieser Parallelstelle S2 b bedeuten, wäre aufgrund dieser Faktenlage wahrscheinlich, dass W auch an S1 b bedeutet. Szondis Einwand gegen dieses Vorgehen ist, dass diese Argumentation zirkulär sein muss, da eine Stelle nur dann als Parallelstelle in Frage kommt, wenn sie in dem Sinn parallel ist, dass an ihr W ebenso b bedeutet wie an S1. Diese Feststellung ist aber nur über einen interpretativen Akt zu treffen, oder wie Szondi formuliert: „Ob eine Stelle als Parallelstelle anzusehen ist, kann darum nicht etwa

 Szondi 1962, 158.  Detailliert aufgearbeitet ist Szondis Argumentation in Juhl 1980b. Vgl. zu diesem Aspekt v. a. 241: „Szondi argues (roughly) that an interpretation of a literary work cannot be objectively confirmed or disconfirmed because (a) any fact (f) that a critic might adduce for or against an interpretation (J) must itself be interpreted („understood“); in other words, before he can offer f in support of J, a critic must establish (or be able to assume) that f is in fact evidence for J; and (b) it is impossible to establish that f is evidence for J independently of establishing J – that is, in order to establish that f is evidence for J, it is necessary to establish that J is correct.“  Szondi 1962, 160.

5.1 Der hermeneutische Zirkel

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der Gliederung des Textes, auch nicht einer anderen Faktizität, sondern ausschließlich dem Sinn der Stelle entnommen werden. Dies aber geschieht in der Interpretation.“⁷²¹ Lehnt I2 also ab, dass W an S1 b bedeutet, ist für ihn eine andere Stelle gar nicht als Parallelstelle erkennbar. Erst wenn er ohnehin mit der Interpretation von I1 übereinstimmt, kann dessen Argumentation für ihn sinnvoll erscheinen. Die Parallelstellenmethode kann somit nur dann als Begründung für eine Hypothese herangezogen werden, wenn die Hypothese, die sie eigentlich begründen soll, schon als wahr anerkannt ist.⁷²² Diese Problematik ist laut Szondi nicht auf die Parallelstellenmethode beschränkt, sondern generalisierbar auf die gesamte philologische Interpretation. Auch im Fall der zerstrittenen Hölderlin-Exegeten ist der Hinweis, dass in Hölderlins Gesamtwerk Metaphern immer explizit gekennzeichnet sind und die fragliche Passage der Friedensfeier deshalb nicht metaphorisch gemeint sein kann nur dann sinnvoll, wenn man schon mit der zu beweisenden Hypothese übereinstimmt. Der „Beweischarakter des Faktischen wird erst von der Interpretation enthüllt“, folgert Szondi dementsprechend und ordnet dieses Bestätigungsdilemma als Erscheinungsform des hermeneutischen Zirkels ein: Diese Interdependenz von Beweis und Erkenntnis ist eine Erscheinungsform des hermeneutischen Zirkels. Wer nicht wahrhaben will, daß ein Faktum erst als gedeutetes die Richtigkeit einer Deutung zu beweisen vermag, verfälscht den Kreis des Verstehens in jenes Wunschbild der Geraden, die vom Faktischen stracks zur Erkenntnis führen soll.⁷²³

Diese knappe Bestandsaufnahme verschiedener Erscheinungsformen des hermeneutischen Zirkels offenbart einige Aspekte, die in Bezug auf die oben for-

 Szondi 1962, 161.  I1 muss also wie folgt argumentieren, um I2 mittels der „objektiven Belege“ von Parallelstellen von seiner Interpretationshypothese „W in S1 bedeutet b“ zu überzeugen: (P1) Eine Stelle S1 und eines zweite Stelle S2 sind Parallelstellen genau dann, wenn ein Wort W in S1 dasselbe bedeutet wie W in S2. (P2) W in S2 bedeutet b. (P3) S1 und S2 sind Parallelstellen. (K) W in S1 bedeutet b. Dieses Argument ist korrekt, jedoch ist (P3) in eine Prämisse, die I2 nicht anerkennen wird. Da I2 davon ausgeht, dass W an S1 eben b* (und nicht b) bedeutet, könnte er schlicht bestreiten, dass S1 und S2 Parallelstellen in Szondis Sinne sind. Die Prämisse (P3) ist nicht einfach ein unproblematisches Faktum, sondern selbst bereits das Ergebnis eines interpretativen Akts. Dementsprechend sind laut Szondi die „objektiven Belege“ nur scheinbar objektiv, sie sind nur für diejenigen Interpreten überzeugend, die ohnehin schon eine gemeinsame subjektive Interpretationshypothese teilen.  Szondi 1962, 159.

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

mulierten Adäquatheitsbedingungen näher zu bestimmen wären:⁷²⁴ Es sollte genauer erläutert werden, inwieweit die differenten Ausprägungen des hermeneutischen Zirkels im Interpretationsprozess ineinandergreifen, bzw. ob bestimmten Ausprägungen ein methodologisches Primat gegenüber anderen eingeräumt werden muss. Möglicherweise wäre etwa zunächst durch den Durchlauf des TextKontext-Zirkels zu klären, worum es denn in einem Text im Ganzen geht, um dann mittels einiger Durchläufe des Teil-Ganzes-Zirkels zu interpretativen Details vorzudringen. Eine dahingehende Ausarbeitung könnte dazu führen, dass das Zirkelmodell im Sinne von Adäquatheitsbedingung (A1) an terminologischer Klarheit gewönne. Weiterhin wäre im Kontext von (A1) zu fragen, inwiefern kritische Anmerkungen zu der „Zirkel“-Terminologie generell berücksichtigt werden sollten, und ob diese Kritik auf terminologischer Ebene bleibt, oder auf die dahinterstehenden methodischen Verfahren durchschlägt.⁷²⁵ Durch Präzisierungen in diesen Bereichen würde der hermeneutische Zirkel stärker als Methode im engeren Sinn profiliert und abgegrenzt von existentialontologisch aufgeladenen Varianten, die in Konflikt mit (A4) geraten müssen.⁷²⁶ Es sind nicht zuletzt Punkte wie diese, die hinter der teils scharfen Kritik an der Methode des hermeneutischen Zirkels stehen und zu so radikalen Forderungen geführt haben, wie derjenigen, „den überstrapazierten Begriff des Hermeneutischen Zirkels aus dem wissenschaftlichen Verkehr zu ziehen“.⁷²⁷ Ob es zwingend angeraten ist, dieser etwas brüsk wirkenden Forderung nachzukommen, oder ob sich durch vertiefte Ausarbeitung das Modell des hermeneutischen Zirkels nicht doch sinnvoll als Rahmenkonzept für interpretative Prozesse etablieren ließe, kann und soll hier nicht mehr ausführlich diskutiert werden. Im abschließenden Kapitel werde ich stattdessen versuchen, eine alternative Kandidatin für ein derartiges Rahmenkonzept in den Blick zu nehmen, der in der Fachdiskussion bislang noch nicht die Aufmerksamkeit zuteil wurde, die ihr eigentlich zukommen sollte. Neben einigen anderen Vorteilen – auf die ich gleich zu sprechen kommen werde – erfüllt sie nach meiner Einschätzung die zentralen Adäquatheitsbedingungen für eine interpretative Rahmentheorie tendenziell eher  Die avancierteste Darstellung eines interpretativen Rahmenkonzepts, das zuminest teilweise auf den hermeneutischen Zirkel rekurriert (dabei dem Modell des Zirkels jedoch ebenfalls wenig emphatisch gegenübersteht), und damit am ehesten den folgenden Vorschlägen entgegenkommt ist nach wie vor Danneberg, Müller 1980 und vor allem Danneberg, Müller 1981.  Für derartige Kritik vgl. Stegmüller 2008, 200 – 202.  Sofern der hermeneutische Zirkel, wie etwa bei Heidegger, als unhintergehbare Vorstruktur des Verstehens begriffen wird, ist er als solcher keiner Kritik zugänglich, die nicht schon selbst durch den hermeneutischen Zirkel vorgeprägt ist.  Göttner 1973, 170. Für weitere Kritik am Modell des hermeneutischen Zirkels vgl. Stierle 1985, Ströker 1990 und Rosen 1991.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

237

besser, als es das Modell des hermeneutischen Zirkels tut. Bei dieser Kandidatin handelt es sich um die Methode des Überlegungsgleichgewichts.

5.2 Überlegungsgleichgewicht Allgemein gesprochen bezieht sich der Begriff Überlegungsgleichgewicht auf den Endpunkt eines Abwägungsprozesses, in dessen Rahmen über bestimmte Probleme reflektiert wird. Die Methode des Überlegungsgleichgewichts beschreibt die methodischen Vorgaben, nach denen der Verlauf dieses Abwägungsprozesses organisiert ist: The method of reflective equilibrium consists in working back and forth among our considered judgments (some say our ‘intuitions’) about particular instances or cases, the principles or rules that we believe govern them, and the theoretical considerations that we believe bear on accepting these considered judgments, principles, or rules, revising any of these elements wherever necessary in order to achieve an acceptable coherence among them. The method succeeds and we achieve reflective equilibrium when we arrive at an acceptable coherence among these beliefs.⁷²⁸

Die grundlegenden Ausführungen zu den Fragen, wie sowohl dieser Endpunkt als auch die zu dem Endpunkt führende Methode zu konzipieren sein könnte, stammen im Wesentlichen aus zwei Bereichen: Zum einen aus der theoretischen Philosophie Nelson Goodmans, zum anderen aus der praktischen Philosophie John Rawls’. Goodmans These in Fact, Fiction, Forecast ist, grob gesprochen, dass sich logische Regeln dann rechtfertigen lassen, wenn sie sich im Überlegungsgleichgewicht mit der akzeptierten Praxis logischen Schließens befinden, d. h. wenn sie mit dieser Praxis in Einklang stehen. Rawls These in A Theory of Justice ist, ebenso grob gesprochen, dass moralische Grundsätze dann gerechtfertigt sind, wenn sie sich im Überlegungsgleichgewicht mit konkreten, in der Praxis gefällten moralischen Urteilen befinden, d. h. wenn sie mit diesen Urteilen übereinstimmen. In beiden Entwürfen ist das Überlegungsgleichgewicht eine Rechtfertigungsfigur, die eine Alternative zu fundamentalistischen oder kohärentistischen Rechtfertigungsstrategien bilden soll. Die in Frage stehenden Variablen – logische Schlussregeln bzw. moralische Prinzipien – sind dadurch gerechtfertigt, dass sie in einem ausführlichen Prozess von Anpassung, Adjustierung und Abstimmung so miteinander in Einklang gebracht werden, dass ein Zustand des Gleichgewichts zwischen ihnen und mit ihnen zusammenhängenden Größen

 Daniels 2011, Abschnitt 1.

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

– der Praxis logischen Schließens bzw. moralischen Urteilen – hergestellt ist. In der recht umfassenden Diskussion, die sich an Goodman und noch mehr an Rawls angeschlossen hat, wurde die Figur des Überlegungsgleichgewichts aus diesen Zusammenhängen von Logik respektive Moraltheorie gelöst und auf allgemeinere epistemische Kontexte bezogen.⁷²⁹ Die entkontextualisierte Kernidee der Methode des Überlegungsgleichgewichts fasst Georg Brun konzise zusammen: „At the core of the method of (so-called ‚wide‘) RE [reflective equilibrium] are two ideas. Epistemic justification is a matter of whether judgements, systematic principles and background theories are in equilibrium, and this state is reached through a process of mutual adjustment of judgements, principles and in some cases also background theories.“⁷³⁰ Der Rekurs auf das Rahmenkonzept des Überlegungsgleichgewichts verspricht eine Reihe von Vorteilen – auch gegenüber dem Rahmenkonzept des hermeneutischen Zirkels: Erstens ist das Modell des Überlegungsgleichgewichts etwas detaillierter ausgearbeitet als das des hermeneutischen Zirkels. Dies gilt, wie sich zeigen wird, allerdings nicht für alle Varianten. Ausgehend von einer einer Kritik an Rawls und Goodman, die das Überlegungsgleichgewicht in die Debatte eingeführt haben, lässt sich jedoch plausibel machen, dass die Arbeiten Catherine Elgins bis dahin bestehende Defizite teilweise ausgeräumt haben. Im Gegensatz zum Modell des hermeneutischen Zirkels, dass in uneindeutiger Weise verwendet wird, um ein Verhältnis von Textteilen zum Textganzen, von Textbedeutung und Autorintention, von Textbedeutung und Kontext, oder ein Bestätigungsdilemma zu beschreiben, ist die Methode des Überlegungsgleichgewichts zweitens eindeutiger bestimmt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Überlegungsgleichgewicht im Gegensatz zum hermeneutischen Zirkel auf dem Feld von Hermeneutik und Interpretationstheorie terminologisch nicht vorbelastet ist. Um zu überprüfen, ob diese Vorteile ausreichen, um die Methode des Überlegungsgleichgewichts als valide Alternative zum Modell des hermeneutischen Zirkels zu etablieren, ist eine ausführlichere Rekonstruktion der Konzeption nötig. Im Einzelnen soll dabei die Frage von Interesse sein, ob die Methode des Überlegungsgleichgewichts auch für die Interpretationstheorie, genauer: für die Frage nach der Konzeption eines interpretativen Abwägungsprozesses hilfreich sein kann, in dem der Interpret versuchen muss, präsumtive Erwartungen mit Erkenntnissen aus dem konkreten Umgang mit dem Interpretandum abzustimmen,

 Vgl. Hahn 2000, 16 f.  Brun 2011, 1. Dass Brun seine Definition auf die „weite“ Fassung des Überlegungsgleichgewichts bezieht liegt daran, dass er einen Bezug zu „background theories“ herstellt. Im „engen“ Überlegungsgleichgewicht würden Hintergrundtheorien außen vor bleiben. Vgl. ausführlicher zu diesem Punkt Kapitel 5.2.2.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

239

und diese gegebenenfalls mit der gängigen Interpretationspraxis oder einer bestimmten Literaturtheorie zu verschränken. Bevor ich diesen Transfer von der Erkenntnistheorie in die Interpretationstheorie anhand von Elgins Fortführung der Goodman’schen Vorschläge zum Überlegungsgleichgewicht näher entwickeln werde, sollen im Rekurs auf Goodman und Rawls zunächst die Grundlagen der Theorie des Überlegungsgleichgewichts etabliert werden.

5.2.1 Überlegungsgleichgewicht bei Rawls und Goodman Die chronologisch früheren Überlegungen zum Überlegungsgleichgewicht stammen von Goodman. Rawls führt erst 16 Jahre nach dem Erscheinen von Fact, Fiction, Forecast den berühmt gewordenen Begriff „Überlegungsgleichgewicht“ in seiner Theory of Justice ein, unter den in der Folge auch Goodmans frühere Arbeiten subsumiert wurden.⁷³¹ Da die für mich zentralen Ausführungen Elgins eher an Goodman anschließen als an Rawls, diskutiere ich diese Chronologie ignorierend zunächst Rawls, um dann über Goodman zu Elgin und zu den Aspekten zu gelangen, die für den angestrebten Bezug der Methode des Überlegungsgleichgewichts auf die Interpretationstheorie am wichtigsten sind.

5.2.1.1 John Rawls Rawls verwendet in der schon angesprochenen Theorie der Gerechtigkeit den Begriff „Überlegungsgleichgewicht“ im Kontext einer kontraktualistisch motivierten Etablierung bestimmter Gerechtigkeitsprinzipien.⁷³² Rawls versucht zunächst, einen fiktiven Naturzustand zu entwerfen, der bestimmten Bedingungen genügen muss. Erst in einem derart spezifizierten Naturzustand sei es möglich, vernünftig für bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien zu argumentieren. Diese Voraussetzung hält er für common sense.⁷³³  Die in der Forschung ab und an anzutreffende Aussage, dass Rawls das Überlegungsgleichgewicht sozusagen erfunden habe (vgl. beispielsweise Brink 1989, 110 ff.), ist dementsprechend nur in Bezug auf die erstmalige Verwendung des Begriffs „Überlegungsgleichgewicht“ zutreffend.  Die Einbettung von Rawls’ Überlegungen in den weiteren moralphilosophischen Kontext muss hier notgedrungen skizzenhaft bleiben. Eine ausführliche und hilfreiche Darstellung, die den Fokus auf systematische Aspekte des Überlegungsgleichgewichts legt, bietet Hahn 2000, 23 – 62. Noch ausführlicher ist Daniels 1996, v. a. Teil 1, 21– 178, der auch über Rawls hinausführende moralphilosophische Implikationen berücksichtigt.  Rawls 1979, 35 f.: „Ich gehe einmal davon aus, daß weithin Übereinstimmung darüber herrscht, daß Gerechtigkeitsgrundsätze unter bestimmten Bedingungen festgelegt werden soll-

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

Bedingungen, denen der Urzustand genügen muss, sind etwa die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen („Vernünftig erscheint die Annahme, daß die Menschen im Urzustand gleich seien“⁷³⁴), weiter die Rationalität der im Urzustand befindlichen Personen („bei jedem Menschen wird die Fähigkeit vorausgesetzt, die jeweils festgelegten Grundsätze zu verstehen und nach ihnen zu handeln“⁷³⁵) und der sogenannte „Schleier des Nichtwissens“⁷³⁶, der garantierten soll, dass die Individuen allgemeingültige Grundsätze etablieren, die nicht durch subjektive Vorteilsnahmen getrübt sind.⁷³⁷ Rawls fragt also nicht direkt danach, wie bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze gerechtfertigt werden können, sondern wie bestimmte Bedingungen zu rechtfertigen sind, denen der Urzustand genügen muss, um den aus dem Urzustand abzuleitenden Gerechtigkeitsgrundsätzen die Prädikate „fair“ und „rational“ verleihen zu können. In Rawls Terminologie sollen die entsprechenden Grundsätze als solche zu definieren sein, „auf die sich vernünftige Menschen, die ihre Interessen verfolgen, als Gleiche einigen würden, wenn von keinem bekannt ist, daß er durch natürliche oder gesellschaftliche Umstände bevorzugt oder benachteiligt ist.“⁷³⁸ Um zu dieser angestrebten formalen „Konkretisierung des Urzustands“⁷³⁹ zu gelangen, sollte man nach Rawls prüfen, „ob die Grundsätze, die gewählt würden, unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen oder sie auf annehmbare Weise erweitern.“⁷⁴⁰ Die von den Rahmenbedingungen des Naturzustands abhängigen, potentiell akzeptierten allgemeinen moralischen Grundsätze sind in Einklang mit intuitiven Einschätzungen konkreter moralischer Sachverhalte zu bringen, die als vorläufige Fixpunkte fungieren. Im Rahmen der Erklärung,wie dieses „in Einklang

ten. […] Man darf sich durch die etwas ungewöhnlichen Bedingungen, die den Urzustand kennzeichnen, nicht irreführen lassen. Der Gedanke ist einfach der, uns die Einschränkungen lebhaft vor Augen zu führen, die für die Argumentation über Gerechtigkeitsgrundsätze und damit für diese selbst als vernünftig erscheinen.“  Rawls 1979, 36.  Rawls 1979, 37.  Rawls 1979, 36.  Ein Beispiel gibt Rawls 1979, 36 gleich selbst: „Wenn zum Beispiel jemand weiß, daß er reich ist, könnte er es vernünftig finden, für den Grundsatz einzutreten, daß gewisse Steuern, die Wohlfahrtsmaßnamen dienen sollen, als ungerecht zu betrachten seien; weiß er, daß er arm ist, so würde er höchstwahrscheinlich für den entgegengesetzten Grundsatz eintreten. Zur Darstellung der gewünschten Einschränkungen stellt man sich eine Situation vor, in der niemand solche Kenntnisse besitzt.“  Rawls 1979, 37.  Rawls 1979, 37.  Rawls 1979, 37. Vgl. ebd.: „Wir können also eine Konkretisierung des Urzustands daran prüfen, wie weit sich ihre Grundsätze mit unseren festen Überzeugungen vertragen und wie weit sie uns da, wo es nötig ist, Anleitung geben.“

5.2 Überlegungsgleichgewicht

241

bringen“ denn genau aussehen könnte, kommt Rawls dann auf den berühmt gewordenen Begriff des Überlegungsgleichgewichts zu sprechen. Da diese Passage zentral für die Diskussion um Überlegungsgleichgewichte geworden ist und zugleich auch schon latente Probleme der Konzeption offenbart, ist es sinnvoll, Rawls hier in extenso zu zitieren: Bei der Suche nach der bevorzugten Konkretisierung dieser Situation gehen wir von beiden Enden her vor. Zunächst beschreiben wir sie so, daß sie allgemein akzeptierten und möglichst schwachen Bedingungen genügt. Dann prüfen wir, ob diese Bedingungen so stark sind, daß aus ihnen ein nicht-triviales System von Grundsätzen folgt. Wenn nicht, suchen wir weitere, ebenso vernünftige Voraussetzungen.Wenn das gelingt und die sich ergebenden Grundsätze unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen, ist es gut. Doch wahrscheinlich wird es Abweichungen geben. Dann können wir zweierlei tun. Wir können entweder die Konkretisierung des Urzustands oder unsere gegenwärtigen Urteile abändern, denn auch unsere vorläufigen Fixpunkte können ja revidiert werden. Wir gehen hin und her, einmal ändern wir die Bedingungen für die Vertragssituation, ein andermal geben wir unsere Urteile auf und passen sie den Grundsätzen an; so, glaube ich, gelangen wir schließlich zu einer Konkretisierung des Urzustandes, die sowohl vernünftigen Bedingungen genügt als auch zu Grundsätzen führt, die mit unseren – gebührend bereinigten – wohlüberlegten Urteilen übereinstimmen. Diesen Zustand nenne ich Überlegungs-Gleichgewicht. Es ist ein Gleichgewicht, weil schließlich unsere Grundsätze und unsere Urteile übereinstimmen; und es ist ein Gleichgewicht der Überlegung, weil wir wissen, welchen Grundsätzen unsere Urteile entsprechen, und aus welchen Voraussetzungen diese abgeleitet sind.⁷⁴¹

Rawls versucht also, eine Methode zu finden, die im Gegensatz zu fundamentalistischen Konzeptionen nicht auf die Annahme von unmittelbar evidenten Grundsätzen angewiesen ist, und dennoch rechtfertigende Kraft besitzt. Das Rechtfertigungspotential des Überlegungsgleichgewichts erklärt sich seiner Einschätzung nach aus dem Zueinanderpassen der verschiedenen Faktoren, aus der „gegenseitigen Stützung vieler Erwägungen, daraus, daß sich alles zu einer einheitlichen Theorie zusammenfügt.“⁷⁴² Im Rahmen der Theorie der Gerechtigkeit ist dies letztlich alles, was Rawls zum Überlegungsgleichgewicht, bzw. zur Methode des Überlegungsgleichgewichts sagt.⁷⁴³ Welchen Gehalt haben diese Ausführungen aus allgemein methodologischer Perspektive? Nüchtern betrachtet leider relativ wenig.⁷⁴⁴ Rawls Angaben  Rawls 1979, 37 f.  Rawls 1979, 39.  Der Begriff fällt noch einige weitere Male (auf 68 – 71, 142, 471– 473, 628), aber ohne dass dem oben zitierten Abschnitt an diesen Stellen noch signifikante Ergänzungen hinzugefügt würden – schon gar nicht aus allgemein methodologischer Perspektive.  Zu einem ähnlich kritischen Fazit kommt auch Hahn 2000, 60 nach der Analyse eines deutlich breiteren Textkorpus: „Die Durchsicht der Werke Rawls‘ unter der Perspektive des

242

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

bleiben in mehrerlei Hinsicht ungenau. Es ist nicht klar, was genau darunter zu verstehen sein soll, dass die abzuwägenden Größen gegeneinander zu „prüfen“ seien, außerdem bleibt im Dunkeln, wann es angezeigt ist, sie „abzuändern“ oder zu „revidieren“. Die Anweisung, „hin und her“ zu gehen und einmal Urteile, einmal Prinzipien zu „ändern“, ist ebenfalls reichlich vage.⁷⁴⁵ Vor einer detaillierteren Analyse der bei Rawls bestehenden Unklarheiten, lohnt ein Blick auf Goodmans Ausführungen, der sich, wie schon bei Rawls, weniger auf den spezifischen Kontext konzentriert, sondern auf die methodologisch verwertbaren Hinweise – Ziel der Analyse sollte ja die Beantwortung der Frage sein, ob die Methode des Überlegungsgleichgewichts sinnvoll auf Abwägungsprozesse im Rahmen der philologischen Interpretation bezogen werden kann. Dass die Methode des Überlegungsgleichgewichts nicht nur innerhalb des engeren Rahmens moralphilosophischer Forschung Anwendung finden kann legt auch Rawls selbst nahe, wenn er in einer Fußnote festhält: „Die wechselseitige Anpassung von Grundsätzen und überlegten Urteilen ist nicht auf die Moralphilosophie beschränkt. Siehe Nelson Goodman, Fact, Fiction, Forecast […], wo sich entsprechende Bemerkungen über die Rechtfertigung der Grundsätze des deduktiven und induktiven Schließens finden.“⁷⁴⁶

5.2.1.2 Nelson Goodman Der von Rawls angesprochene Text Goodmans stammt aus dem Jahr 1955, erscheint also deutlich vor Rawls Theorie der Gerechtigkeit. Interessanterweise verwendet Goodman den Terminus „Überlegungsgleichgewicht“ weder hier, noch in späteren, nach der Theorie der Gerechtigkeit erschienenen Schriften. Dies ist deshalb verwunderlich, da Goodman und Rawls zeitgleich in Harvard lehrten und die ebenfalls in Harvard arbeitende Catherine Elgin, die mit ihrer Forschung explizit an Goodman anschließt, dem Überlegungsgleichgewicht einen zentralen Stellenwert als philosophischer Methode beimisst. Dennoch spricht Goodman selbst – nach meinem Kenntnisstand – nie, nicht einmal in seinem Vorwort zu Überlegungsgleichgewichts als Rechtfertigungskonzept hat die Uneindeutigkeit der Konzeption und verschiedene Rechtfertigungsverständnisse ergeben. Mehrdeutig ist das Überlegungsgleichgewicht, insofern es als individuelles oder kollektives interpretiert werden kann; darüber hinaus bleibt die Charakterisierung der Adjustierungsebenen offen. Weitere Komplikationen ergeben sich durch die Verquickung dieser Konzeption mit dem Vertragsmodell und der Theorie der rationalen Entscheidung.“  Rawls scheint sich dieser Probleme durchaus bewußt zu sein, hält es aber aufgrund des nicht primär methodologischen Zuschnitts seiner Untersuchung für unnötig, genauer darauf einzugehen (vgl. Rawls 1979, 69).  Rawls 1979, 38.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

243

Elgins With Reference to Reference, von „Überlegungsgleichgewicht“.⁷⁴⁷ Im Gegensatz zu Rawls gewinnt bei Goodman „die Konzeption der Adjustierung von Praxis und Theorie“⁷⁴⁸ im Lauf der Zeit immer mehr an Bedeutung. An dieser Stelle lässt sich die Konzentration auf Tatsache, Fiktion, Voraussage im Anschluss an die Einschätzung Hahns dadurch rechtfertigen, dass „das genannte Buch die einschlägige Passage [enthält], die in den Folgedebatten immer wieder unter dem Titel ‚Überlegungsgleichgewicht‘ verhandelt wird“⁷⁴⁹ und dass sich die angesprochene Passage „durch Prägnanz und hohe Eingängigkeit“⁷⁵⁰ auszeichnet. Im Kontext der Passagen aus Tatsache, Fiktion, Voraussage geht es Goodman um das altehrwürdige philosophische Problem der Rechtfertigung von induktiven Schlüssen. Seiner Einschätzung nach lässt sich die Frage, wie man einen induktiven Schluss rechtfertigen könnte, analog zu der Frage beantworten, wie man einen deduktiven Schluss rechtfertigen könnte. Dies funktioniert laut Goodman recht einfach: „Wie rechtfertigt man eine Deduktion? Einfach dadurch, daß man zeigt, daß sie den allgemeinen Regeln des deduktiven Schließens entspricht.“⁷⁵¹ Diese allgemeinen Regeln, von denen Goodman hier spricht, müssen offensichtlich genauer bestimmt sein – durch die Entsprechung eines Schlusses mit irgendwelchen, womöglich willkürlich gewählten Regeln ist nicht viel gewonnen. Goodman ergänzt deshalb, dass eine Deduktion gültig ist genau dann, wenn sie mit gültigen Regeln übereinstimmt. Diese Gültigkeit ist selbst nicht durch evidente Axiome, durch die natürliche Ordnung der Welt oder des menschlichen Geistes zu begründen, sondern – einfacher – durch die Übereinstimmung mit der geläufigen Praxis des Schließens: „Die Regeln des deduktiven Schließens werden gerechtfertigt durch ihre Übereinstimmung mit der anerkannten Praxis der Deduktion.“⁷⁵² Die Zirkularität dieser Rechtfertigung beunruhigt Goodman nicht weiter. Er geht davon aus, dass es sich um einen „gute[n] Zirkel“⁷⁵³ handelt und fasst in der immer wieder zitierten Passage, auf die auch Rawls verweist, zusammen: Es ist eben so, daß sowohl die Regeln als auch die einzelnen Schlüsse gerechtfertigt werden, indem sie miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Eine Regel wird abgeändert, wenn sie zu einem Schluß führt, den wir nicht anzuerkennen bereit sind; ein Schluß wird verworfen, wenn er eine Regel verletzt, die wir nicht abzuändern bereit sind. Der Vorgang der Rechtfertigung besteht in feinen gegenseitigen Abstimmungen zwischen Regeln und aner-

      

Vgl. Hahn 2000, 62. Hahn 2000, 64. Hahn 2000, 64. Hahn 2000, 64. Goodman 1988, 85. Goodman 1988, 86. Goodman 1988, 87.

244

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

kannten Schlüssen; die erzielte Übereinstimmung ist die einzige Rechtfertigung, derer die einen wie die anderen bedürfen.⁷⁵⁴

Dieses Fazit bezieht Goodman dann auf das Problem der Induktion, was ihn zu einem analogen Ergebnis bringt: „Das alles gilt ebenso für die Induktion. Auch ein induktiver Schluß ist gerechtfertigt, wenn er mit allgemeinen Regeln übereinstimmt, und eine allgemeine Regel ist gerechtfertigt, wenn sie mit anerkannten induktiven Schlüssen übereinstimmt. Voraussagen sind gerechtfertigt, wenn sie gültigen Induktionsregeln entsprechen, und diese sind gültig, wenn sie die anerkannte Praxis der Induktion richtig wiedergeben.“⁷⁵⁵ Goodmans Version des Überlegungsgleichgewichts unterscheidet sich damit von Rawls‘ Version zunächst in dem verstärkten Bezug auf eine geteilte Praxis. Während Rawls Überlegungsgleichgewichte in der Theorie der Gerechtigkeit als tendenziell subjektiv begreift, geht es Goodman um die Abstimmung von Regeln mit einer Praxis von gemeinschaftlich „anerkannten Schlüssen“⁷⁵⁶, die „wir“ nicht abzuändern bereit sind. Diese Formulierungen legen eine gemeinschaftlich geteilte Akzeptanz nahe, von der allerdings unklar bleibt, wann sie genau erreicht sein könnte. So wäre im Detail zu fragen, ob eine rein numerisch mehrheitliche Akzeptanz unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft die Akzeptanz einer Schlusspraxis verbürgen kann, oder ob z. B. die Akzeptanz einer Expertenminorität wichtiger ist. Überhaupt ist analog zu den Passagen bei Rawls erneut festzuhalten, dass auch Goodmans Vorschlag aus methodologischer Perspektive eher vage bleibt. Auch bei Goodman ist eine genauere Ausarbeitung des Adjustierungsprozesses nicht vorhanden, es ist nicht ersichtlich, wie er sich das „miteinander in Übereinstimmung“⁷⁵⁷-Bringen bzw. die „feinen gegenseitigen Abstimmungen“⁷⁵⁸ im Einzelnen vorstellt.

5.2.1.3 Zusammenfassung der Defizite Diese methodologischen Defizite führen dazu, dass es sich bei Rawls‘ und Goodmans Versionen des Überlegungsgleichgewichts letztlich um Metaphern handelt, deren methodologische Attraktivität in dem Maß abnehmen muss, in dem der Anspruch auf detaillierte Aussagekraft erhöht wird. Um diesem methodologisch inakzeptablen Zustand Abhilfe zu schaffen, ist es sinnvoll, die Un-

    

Goodman Goodman Goodman Goodman Goodman

1988, 1988, 1988, 1988, 1988,

87. 87. 87. 87. 87.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

245

klarheiten, die Rawls und Goodman bestehen lassen, als Probleme zu reformulieren, deren Lösung als Desiderat einer belastbareren Konzeption des Überlegungsgleichgewichts zu gelten hat: (i) Anwendungsbereich: Weder Rawls noch Goodman lassen sich darüber aus, im Kontext welcher Fragestellungen das Überlegungsgleichgewicht sinnvoll anwendbar sein könnte. Dies ist für die diesen Überlegungen zugrunde liegende Idee eines Übertrags auf interpretative Abwägungsprozesse natürlich von besonderem Interesse. Rawls oben schon erwähnter Hinweis auf Goodman legt zwar nahe, dass ihm eine Ausdehnung über den Kontext der Moralphilosophie hinaus möglich erscheint, allerdings gibt es keine Aussagen darüber, inwiefern ein Transfer der Methode des Überlegungsgleichgewichts bestimmte Modifikationen der Methode nach sich ziehen muss. Goodman äußert sich in Tatsache, Fiktion, Voraussage zu dieser Frage nicht. (ii) Normative Kräfteverhältnisse: Es ist zu klären, wie es um die normativen Kräfteverhältnisse zwischen den auszutarierenden Größen bestellt ist. Könnte – um auf dem Feld der Moralphilosophie zu bleiben – unter bestimmten Bedingungen ein moralisches Urteil so revisionsresistent sein, dass eher eine ganze Reihe von moralischen Prinzipien abgeändert würde, nur um das Urteil beibehalten zu können? Daran schließt sich die Frage an, ob für die Abwägung formale Metakriterien bestimmend sind oder inhaltliche Kriterien: Wäre z. B. ein Überlegungsgleichgewicht als Endpunkt vorzuziehen, das durch minimale Adjustierung egal welcher Größen zustande kommt, dafür aber inhaltlich äußerst plausible Ansichten preisgibt, oder eines, das inhaltlich plausible Ansichten beibehält, selbst wenn dies nur durch umfangreiche Revisionen an anderen Stellen zu erreichen ist?⁷⁵⁹ (iii) Intersubjektive Verbindlichkeit: Auch in einer anderen Hinsicht ist die normative Dimension v. a. von Rawls Überlegungen nicht eindeutig. Es wird nicht deutlich, ob ein Überlegungsgleichgewicht in der von ihm skizzierten Form intersubjektiv verbindlich sein kann.⁷⁶⁰ Prinzipiell ist ohne weiteres denkbar, dass eine beliebige Anzahl von Personen nach ihren Reflexionsprozessen bei einer ebenso großen Anzahl von Überlegungsgleichgewichten angelangt ist, die zwar allesamt im Gleichgewicht sind, sich inhaltlich aber deutlich unterscheiden. Rawls beschäftigt sich auch mit diesem methodologischen Problem nicht direkt.

 Diese Thematik wird im Bezug auf Adäquatheitskriterien eines angemessenen Explikationsbegriffs auch in Danneberg 1989, 410 – 413 diskutiert.  Diese Unklarheit ist nicht nur bei Rawls auszumachen. Auch aktuellere Arbeiten wie Daniels 1996 sind in diesem Punkt uneinheitlich. Kritisch zu diesem Punkt vgl. Petterson 1998, v. a. 127: „Daniels’s theory seems to deal mainly with the personal level of justification, i. e. what a person is justified in believing, but his theory also aims at justification at the objective level.“

246

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

Er erklärt zunächst, dass er nicht untersuchen wolle, ob „die Grundsätze, die die wohlüberlegten Urteile eines Menschen kennzeichnen, dieselben wie bei einem anderen sind“,⁷⁶¹ was die Lesart nahelegt, dass es ihm in erster Linie um ein subjektives Überlegungsgleichgewicht zu gehen scheint. An anderen Stellen weist er jedoch darauf hin, dass die angestrebte Konkretisierung des Naturzustands allgemein akzeptiert sein soll.⁷⁶² Dies deutet eher darauf hin, dass es sehr wohl eine intersubjektive Dimension von Überlegungsgleichgewichten gibt, und dass man möglicherweise versuchen sollte, innerhalb einer Gruppe von Personen oder sogar innerhalb einer ganzen Gesellschaft ein geteiltes Überlegungsgleichgewicht zu etablieren. Goodmans Äußerungen legen eher nahe, dass eine Abstimmung von Regeln mit einer gemeinschaftlichen Praxis von Schlüssen anzustreben ist. Durch diese Stützung auf größere intersubjektive Verbindlichkeit ist die Gefahr solipsistischer Überlegungsgleichgewichte, für deren Hierarchisierung dann wiederum Kriterien zu finden wären, eingedämmt. (iv) Reichweite der Gleichgewichtsforderung: Das Problem der fraglichen intersubjektiven Verbindlichkeit führt direkt zu einem weiteren klärungsbedürftigen Punkt. Es ist festzustellen, wie groß die Reichweite der Gleichgewichtsforderung ist. Der Anspruch, nach einigem „hin und her“-Gehen zwischen den abzuwägenden Aspekten im Zustand eines reflektierten Gleichgewichts anzukommen, ist in einer Hinsicht als sehr schwach, in einer anderen Hinsicht als sehr stark verstehbar. Sehr schwach ist er in der von den bereits benannten Problemen implizierten Hinsicht, dass ein Gleichgewicht zwischen bestimmten Faktoren auf unterschiedlichste Weise hergestellt werden kann. Die Forderung nach einem Gleichgewicht sagt als solche noch nichts über die unter (ii) angesprochenen normativen Kräfteverhältnisse aus und lässt im Unklaren, ob es potentielle Geltungsprioritäten geben kann oder nicht. Die Beschränkung auf subjektive Überlegungsgleichgewichte verstärkt diese Tendenz, da nicht einmal mehr ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Gleichgewichten hergestellt werden muss. Andererseits kann die Gleichgewichtsforderung aber auch als sehr weitreichende Forderung verstanden werden. Dies tut etwa Danneberg, dem der Zustand des Überlegungsgleichgewichts „als zu starke Forderung“⁷⁶³ erscheint: „Sie bindet die Auszeichnung – als ‚gültig‘ o. dgl. – an Gleichgewicht, und das heißt, an vollständige Kohärenz.“⁷⁶⁴ Ein vollständiges Gleichgewicht, in dem es keinerlei Problemfälle gibt, ist offensichtlich äußerst kompliziert zu erreichen und dementsprechend als starke Forderung einzustufen.    

Rawls 1979, 69. Vgl. Rawls 1979, 69 f., und v. a. 630. Danneberg 1989, 411. Danneberg 1989, 411 f.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

247

Danneberg hält die in der Methode des Überlegungsgleichgewichts enthaltene Kohärenzforderung noch in einer zweiten Hinsicht für zu stark: „Die zweite Hinsicht, in der die Kohärenzforderung zu stark ist, bezieht sich auf eine implizite (normative) Konsequenz. Wenn die zu vermeidende Inkohärenz auf weiteren (Hintergrund‐)Annahmen beruht, […] dann hat die Kohärenzforderung zur Folge, daß diese (Hintergrund‐)Annahmen als entproblematisiert festzuschreiben sind – eine Folge, die nicht von vorneherein und sicherlich nicht bei beliebigen Hintergrundannahmen einsichtig ist.“⁷⁶⁵ Dieser Hinweis ist zweideutig. Einerseits scheint er darauf abzuzielen, dass durch die Idee des Überlegungsgleichgewichts möglicherweise zu Unrecht gerade ein als Kohärenz verstandenes Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen Größen als erstrebenswert innerhalb einer Theorie bzw. eines Rechtfertigungskontextes ausgezeichnet ist. Damit greift die Kritik, dass eine derartige Festlegung nicht bei allen „beliebigen Hintergrundannahmen“⁷⁶⁶ sinnvoll sei, aber nicht mehr. Die Idee des Überlegungsgleichgewichts rekurriert eben auf Kohärenz und nicht auf „beliebige[] Hintergrundannahmen“⁷⁶⁷ – gerade deshalb wird das Überlegungsgleichgewicht auch von Rawls oder Goodman als Alternative zu fundamentalistischen Rechtfertigungsfiguren etabliert. Ein Gleichgewicht durch „beliebige[] Hintergrundannahmen“⁷⁶⁸ – wie vielleicht möglichst große Inkohärenz – definieren zu wollen, ist schon begrifflich absurd. Dementsprechend sollte Dannebergs Kritik – sofern sie in dem eben explizierten Sinn zu verstehen ist – eindeutiger die wissenschaftstheoretische Frage stellen, inwieweit Kohärenz (und eben kein „beliebiges“ Kriterium) zwischen Überzeugungen eine plausiblere Rechtfertigung für das Haben dieser Überzeugungen sein kann, als z. B. Inkohärenz dieser Überzeugungen. So verstanden handelt es sich um einen ernstzunehmenden Einwand, der in 5.2.2 noch ausführlicher diskutiert werden wird. Sollte Danneberg eher darauf abzielen wollen, dass allgemeine theoretische Hintergrundannahmen, etwa in der Form metatheoretischer Rahmenbedingungen für Theorien, revisionsresistent sein könnten, ist der Hinweis durch eine Konzentration auf die Methode des sogenannten „weiten“ Überlegungsgleichgewicht zu entkräften, das explizit theoretische Hintergrundannahmen mit in den Abwägungsprozess aufnimmt. Die bisher diskutierten Varianten der Methode des Überlegungsgleichgewichts lassen offen, wie sie zwischen dieser doppelten Herausforderung, zu

   

Danneberg Danneberg Danneberg Danneberg

1989, 411 f. 1989, 411 f. 1989, 411 f. 1989, 411 f.

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

schwache respektive in mehrerlei Hinsicht zu starke Ansprüche zu stellen, zu positionieren sind. Sollten die Probleme des Anwendungsbereichs, der normativen Kräfteverhältnisse, der intersubjektiven Verbindlichkeit und der Reichweite der Gleichgewichtsforderung keiner Lösung zugeführt werden können, ist der Versuch eines Übertrags der Methode des Überlegungsgleichgewichts auf das Feld der Interpretationstheorie schon deshalb uninteressant, da nur im vagen Sinn überhaupt von der Methode des Überlegungsgleichgewichts gesprochen werden kann.

5.2.2 Überlegungsgleichgewicht bei Elgin Der nach meiner Einschätzung aktuell am besten ausgereifte Versuch, die Methode des Überlegungsgleichgewichts über den Status einer vielversprechenden Idee hinaus auszuarbeiten und damit als Methode im eigentlichen Sinn attraktiv zu machen, ist die Arbeit der Goodman-Schülerin Catherine Elgin. In Considered Judgement argumentiert Elgin für die erkenntnistheoretische Position des sogenannten epistemological constructionalism, den sie als „procedure for generating an unending series of increasingly tenable working hypotheses“⁷⁶⁹ verstehen will. Elgin spricht sich dezidiert gegen unverrückbare Wahrheiten, irreversible Evidenzen oder andere fundamentalistische Grundlagen in der Erkenntnistheorie aus und schlägt stattdessen vor, die Erkenntnistheorie insgesamt als als provisorisches Projekt zu begreifen, das zu ständigen Modifikationen bereit ist und sich darauf beschränkt, so praktikable Denksysteme wie möglich zu konstruieren, um den Menschen unter dem Begriff des Verstehens zusammengefassten kognitiven Zielen näher bringen. Dies ist laut Elgin am besten dadurch zu bewerkstelligen, dass man versucht, unmittelbar plausible Festlegungen („initially tenable commitments“⁷⁷⁰) immer weiter zu verfeinern und mit allgemeinen theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen abzustimmen. Kognitive Systeme versteht Elgin dementsprechend nicht als statische Gebilde aus ein für alle Mal sicheren Erkenntnissen, sondern als dynamische Matrix aus immer vorläufig bleibenden Annahmen. Bewähren müssen sich diese Systeme, wie eben schon

 Elgin 1996, 133 präzisiert diese Aussage im Anschluss weiter: „The claim to increasing tenability is grounded in the procedure’s continually testing accepted considerations, its using attempts to extend and deepen a system as a tool for rooting out recieved errors and other previously undetected inadequacies. Its claim to deliver nothing more than working hypotheses derives from the recognition that since its error-detection techniques are fallible, the results it sanctions remain provisional, subject to revision or rejection in the course of inquiry.“  Elgin 1996, 114.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

249

angesprochen, durch ihre „capacity to nurture understanding“⁷⁷¹, die durch den ständigen Abgleich mit neuen Erkenntnissen, neuen Erfordernissen bzw. geänderten Ansprüchen gewährleistet werden soll. Innerhalb dieses erkenntnistheoretischen Entwurfs, dessen generelle Überzeugungskraft hier nicht weiter thematisiert werden muss, nimmt die Methode des Überlegungsgleichgewichts eine zentrale Rolle ein. Sie gibt laut Elgin den Rahmen für die Verfeinerung, Anpassung und Abstimmung der einzelnen Theoriebestandteile vor. Um diesen Anspruch einzulösen zu können geht Elgin in mehrfacher Hinsicht über Rawls und Goodman hinaus.⁷⁷² Elgins Innovationen sind aus methodologischer Perspektive gerade deshalb so interessant, da sie sich unter anderem auf die weiter oben ausgemachten Problemfelder beziehen lassen.⁷⁷³ Im Einzelnen sehen Elgins Innovationen aus wie folgt: (i) Anwendungsbereich: Der Anwendungsbereich wird deutlich ausgeweitet. Elgin geht davon aus, dass die Methode des Überlegungsgleichgewichts nicht nur in der Moraltheorie oder der Logik angewendet werden kann, sondern grundsätzlich als Werkzeug für die Theoriebildung in allen Bereichen zu verstehen ist. Elgin spricht dezidiert nicht von konkreten moralischen Überlegungen oder von der Rechtfertigung logischer Schlüsse, sondern bewusst allgemein von gegeneinander abzuwägenden „commitments“⁷⁷⁴, „considerations“⁷⁷⁵, „sentences“⁷⁷⁶, „claims“⁷⁷⁷, „demands“⁷⁷⁸, „alternatives“⁷⁷⁹, „beliefs“⁷⁸⁰, „judgements“⁷⁸¹ oder

 Elgin 1996, 133 f.  Vgl. Brun 2009, 31, der ebenfalls der Ansicht ist, dass sich Elgins Überlegungen gegenüber Goodman „durch Erweiterungen, Änderungen und Radikalisierungen“ auszeichnen.  Vgl. Brun 2009, 31– 34. Brun nennt in anderer Schwerpunktsetzung vier Aspekte, die seiner Ansicht nach einen Fortschritt insbesondere gegenüber Goodman darstellen. Der vierte Aspekt Bruns, der hier nicht zur Sprache kommen wird, bezieht sich auf Elgins Reaktion auf klassische Einwände. Elgin versucht, dem Vorwurf, dass die Idee des Überlegungsgleichgewichts auf bloße Kohärenz zu reduzieren sei, dadurch zu begegnen, dass sie annimmt, dass nicht alle Ausgangsverpflichtungen simultan aufgegeben werden können. Der zu erwartende Einwand, dass diese Einschränkung dann doch wieder in einen Fundamentalismus münden müsse, soll durch den Hinweis entkräftet werden, dass es keinerlei bestimmte Sätze gibt, die revisionsresistent wären und nicht lediglich inferentiell gerechtfertigt werden könnten.  Elgin 1996, 107.  Elgin 1996, 104.  Elgin 1996, 104.  Elgin 1996, 104.  Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 106.

250

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

„generalizations“.⁷⁸² Die Methode des Überlegungsgleichgewichts soll durch die Abstimmung dieser Größen dann konsequenterweise nicht nur eine konkrete Moraltheorie oder konkrete logische Schlussregeln fundieren, sondern, erneut allgemeiner formuliert, ein „mutually supportive network“⁷⁸³, ein „acceptable system of thought“⁷⁸⁴, ein „tenable system“⁷⁸⁵ oder ein „system in reflective equilibrium“.⁷⁸⁶ Diese radikale Ausweitung des Geltungsbereichs bringt mit sich, dass die Beschränkung des Überlegungsgleichgewichts auf propositionale Elemente im engeren Sinn (wie Urteile, Prinzipien oder Überzeugungen) aufgehoben wird. Auch die Rawls’sche Idee einer Abwägung von konkreten Urteile gegen abstrakte Prinzipien wird damit erweitert und verallgemeinert. Der von Elgin am häufigsten verwendete Begriff der initially tenable commitments bezeichnet allgemein unmittelbar plausible Festlegungen, worunter auch nicht-propositionale Größen wie methodologisches know-how oder bestimmte wissenschaftliche Standards fallen können. (ii) normative Kräfteverhältnisse: Im Anschluss an Elgin lässt sich auch das notorische Problem normativer Kräfteverhältnisse auflösen. Eine präzise Hierarchisierung von Annahmen, die mittels der Methode des Überlegungsgleichgewichts gegeneinander abgewogen werden, ist nach Elgin nicht im Rahmen einer allgemeinen Methodologie zu beantworten, sondern in engerem disziplinären Kontext. Der Grund dafür ist folgender: Unterschiedliche Systeme oder Theorien, die auf die Methode des Überlegungsgleichgewichts zurückgreifen, können erstens vollkommen unterschiedliche Zielsetzungen haben, und zweitens vollkommen unterschiedlichen Metakriterien verpflichtet sein. Beide Aspekte sind für die potentielle Modifizierbarkeit einzelner Bestandteile maßgeblich. Daraus folgt, dass die normativen Kräfteverhältnisse innerhalb des Überlegungsgleichgewichts als relativ und kontextabhängig zu begreifen sind.⁷⁸⁷ Ein kurzes Beispiel: Nehmen wir an, Zoologe A hat durch ausdauernde empirische Beobachtungen, Abstimmung mit anerkannten Erkenntnissen über Geparden etc. eine ziemlich genaue Theorie zur Beschreibung des Jagdverhaltens von Geparden entwickelt. Sein Kollege B hat daran gearbeitet, eine Theorie über das Jagdverhalten von Großkatzen zu entwickeln und dementsprechend Beobachtungen und Forschung zu Geparden, Löwen, Leoparden, Jaguaren etc. in seine Überlegungen

 Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 104.  Elgin 1996, 104.  Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 106.  Vgl. Elgin 1996, 131: „Reflective equilibrium does not pretend to establish what is reasonable come what may, only what is reasonable in given epistemic circumstances.“

5.2 Überlegungsgleichgewicht

251

miteinbezogen. Beide Theorien erlauben es, Vorhersagen über Dinge wie Beuteschemata, Jagdtechniken etc. zu treffen. Der Unterschied zwischen den Theorien A und B ist jedoch der, dass es Theorie A erlaubt, mit großer Präzision die Jagdtechnik des Geparden zu analysieren, während Theorie B hier nur weitaus allgemeinere Aussagen treffen kann. Theorie A würde etwa auf die enorm hohe Laufgeschwindigkeit der jagenden Geparden eingehen, Theorie B würde das nicht tun, da sich eben nicht alle Großkatzen durch dieses Merkmal auszeichnen. Sie würde eher auf für Großkatzen im Allgemeinen relevante Tendenzen wie die Auswahl schwacher oder kranker Beutetiere usw. verweisen. Dies heißt jedoch offensichtlich nicht, dass Theorie A besser ist als Theorie B, oder dass alle Zoologen Theorie B verwerfen sollten, um fortan ausschließlich mit Theorie A zu arbeiten. Theorie B versucht erst gar nicht, die Präzision von Theorie A zu erreichen. Statt hoher Präzision setzt sie sich hohe Allgemeinheit als Ziel.Wo es Theorie B erlaubt, wenigstens allgemeine Aussagen auch über das Jagdverhalten vom Löwen zu machen, kann Theorie A hier keinerlei Erkenntnisse liefern, da sie sich nicht einmal am Rande mit Löwen beschäftigt. Die beiden Theorien sind nicht sinnvoll in den Kategorien besser oder schlechter zu evaluieren, ihre unterschiedliche Zielsetzung führt dazu, dass eine Hierarchisierung nicht unabhängig von speziellen Bedürfnissen möglich ist.⁷⁸⁸ Die Zielsetzung einer Theorie entscheidet damit über die normativen Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen Bestandteilen. Eine Theorie mag Bestandteil x sehr schnell aufgeben, während eine andere Theorie diesen Bestandteil x nur unter großem Druck modifizieren wird. Neben der Zielsetzung ist die normative Kraft einzelner Theoriebestandteile durch bestimmte Metakriterien bestimmt. Unter Metakriterien verstehe ich allgemeine wissenschaftstheoretische Ansprüche, denen eine Theorie zu genügen hat. Elgin nennt in diesem Kontext unter anderem „elegance, breadth, economy“,⁷⁸⁹ außerdem „systematization“⁷⁹⁰ und „simplicity, predictiveness, elegance, and

 Vgl. Elgin 1996, 106 und 132– 134., v. a. 134: „System building is informed by priorities – second-order commitments about the value of retaining various first-order commitments. Often these determine how conflicts are to be resolved. In empirical science, for example, evidence ordinarily overrides elegance. But our cognitive priorities are neither fine-grained nor regimented. They are unlikely to yield a well-ordered ranking of commitments. Competitors in some conflicts thus may have equal claims on our enduring epistemic allegiance. In that case, although different resolutions result in divergent systems, the systems that emerge are equally tenable. One system might sacrifice scope to achieve precision, another trade precision for scope.“  Elgin 1996, 108.  Elgin 1996, 110.

252

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

explanatory power“.⁷⁹¹ Je nach Kontext, in dem eine Theorie zu verorten ist, können diese sich potentiell ausschließenden Metakriterien unterschiedlich gewichtet sein. In der Naturwissenschaft sticht das Kriterium der Erklärungskraft das Kriterium der Einfachheit aus, im alltäglichen Lebensvollzug hingegen mag Einfachheit durchaus als wichtiger erachtet werden als Erklärungskraft. Um zu überschlagen, wieviel mich ein Einkauf in etwa kosten wird, ist es durchaus nicht abwegig, das Metakriterium der Einfachheit als zentral zu begreifen. Dies hat zur Folge, dass im Alltag eine minimale Abweichung von der präzisen Gesamtsumme der einzelnen Artikel nicht dazu führen wird, die Praxis des Auf- und Abrundens von Preisen zu revidieren, während im wissenschaftlichen Kontext die mangelnde Einfachheit einer detaillierten Addition in Kauf genommen wird, um die präzise Erklärungskraft der Theorie nicht einzuschränken. Elgin weist mit Recht darauf hin, dass aus dieser Abhängigkeit einzelner Theoriebestandteile von Zielsetzungen und Metakriterien folgt, dass es verschiedene Strategien geben kann, um ein Überlegungsgleichgewicht herzustellen: „A variety of strategies are available for reestablishing equilibrium. We might restrict a system’s range so that the conflict does not arise. […] Alternatively, we might reinterpret commitments so that conflict between them dissolves. […] Then again, we might compromise, modifying a variety of commitments to bring them into accord.“⁷⁹² Um zu verhindern, dass Zielsetzungen und Metakriterien in die Rolle fundamentalistischer Grundlagen rücken, die als eine Art archimedischer Punkt außerhalb der systemabhängigen Abwägungen stehen, muss die Methode des Überlegungsgleichgewichts präzisiert werden als Methode des weiten Überlegungsgleichgewichts. Die Methode des weiten Überlegungsgleichgewichts unterscheidet sich von der Methode des engen Überlegungsgleichgewichts dadurch, dass theoretische Hintergrundannahmen mit in die Abwägungsprozesse aufgenommen werden und nicht grundsätzlich durch eine festere epistemische Verankerung ausgezeichnet sind. Im Rahmen der abwägenden Reflexion und Abstimmung einzelner Annahmen können dementsprechend auch die nicht theoriespezifischen Zielsetzungen und Metakriterien auf den Prüfstand gestellt werden.⁷⁹³ Es ist prima facie genauso möglich, die allgemeine Überzeugung auf-

 Elgin 1996, 139.  Elgin 1996, 132.  Vgl. exemplarisch Daniels 1996, 22, der ein weites Überlegungsgleichgewicht (hier erneut im Kontext der Moralphilosophie) als „coherent ordered triple of sets of beliefs“ definiert, das aus „(a) considered moral judgements“, „(b) moral priciples“ und „(c) background theories“ besteht. Näher auf Daniels Verständnis des weiten Überlegungsgleichgewichts geht Petterson 1998 ein. Elgin 1996, 105 macht den zentralen Punkt noch deutlicher: „Theorizing is informed by

5.2 Überlegungsgleichgewicht

253

zugeben, dass Einfachheit ein erstrebenswertes Kriterium für Theorien ist, wie bestimmte Überzeugungen aufzugeben, die eine spezifische Theorie übermäßig kompliziert machen.⁷⁹⁴ Der Verzicht auf eine allgemeingültige Hierarchisierung normativer Kräfteverhältnisse innerhalb von Überlegungsgleichgewichten führt damit aber nicht zwingend zu einem unkontrollierten Relativismus, der willkürliche Strategien zur Auflösung von Gleichgewichtsstörungen in einzelnen Systemen legitimieren würde. Auch wenn es keine allgemeingültigen Anweisungen bzgl. der Hierarchisierung einzelner Annahmen geben mag, heißt dies noch nicht, dass alle Varianten, zu einem Überlegungsgleichgewicht zu kommen, gleich sinnvoll sind. Elgin versucht dies durch einen Verweis auf die reflektierte Dimension des reflective equilibrium zu verdeutlichen. Ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Annahmen herzustellen ist ihrer Ansicht nach zwar durch nicht weiter begründete ad hoc-Modifikationen möglich, ein überlegtes Gleichgewicht herzustellen jedoch nicht: „Although each of these strategies is sometimes effective, they cannot be implemented arbitrarily. For the equilibrium is a reflective one. Ad hoc modifications designed solely to eliminate conflicts are unlikely to yield a balance of considerations that we can on reflection accept.“⁷⁹⁵ Hier läßt sich eine Querverbindung zu den Überlegungen unter Abschnitt 4 absehen: Es mag wie erläutert möglich sein, jeden Text so lange unnachgiebig nachsichtig zu interpretieren, bis eine Abweichung von bestimmten Unterstellungen letztlich doch als Konformität mit diesen Unterstellungen auf einer höheren Ebene verstanden werden kann. Allerdings sind derartige Interpretationen nicht mehr im Sinne eines reflektierten Gleichgewichts begründbar, ohne auf ad hoc-Hypothesen zurückzugreifen, die nur dazu dienen, diese Konformität komme was wolle zu fundieren. Ein kurzer Blick zurück auf die unter 4. diskutierten Beispiele macht dies deutlich: Prinzipiell ließe sich im Fall von Thomas Bernhards Untergeher ein Gleichgewicht zwischen dem Textbestand, Billigkeitspräsumtionen und anderen, im Interpretationsprozess zu berücksichtigenden Faktoren⁷⁹⁶ auch durch die interpretative Hypothese herstellen, dass es aufgrund der speziellen Beschaffenheit der fiktiven Welt im Roman

(often inchorate) views about theorizing – about what constitutes evidence, argument, explanation, and the like. Such views have no special epistemic standing, they are, in principle, neither more nor less secure than other initially tenable commitments. […] Adjudication often is necessary to reconcile our various first- and second-order commitments. In the process any of them may be called into question.“  Vgl. Elgin 1996, 134 f., wo diese These anhand der Heisenberg’schen Unschärferelation veranschaulicht wird.  Elgin 1996, 132 [meine Hervorhebung].  Dazu genauer in Abschnitt 5.2.3.1.

254

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

möglich ist, sechs Meter hohe Statuen in fünf Meter hohe Räume zu verfrachten. Dies könnte als Kritik an der zeitgenössischen Physik zu verstehen sein etc. Eine solche Hypothese mag die textuelle Anomalie zwar in dem Sinn erklären, dass durch sie ein Gleichgewicht zwischen den angesprochenen interpretationsrelevanten Faktoren hergestellt wird. Da sie jedoch nicht durch andere Belege gestützt ist (es gibt keine vergleichbaren Szenen im Roman, Bernhard hat sich nie dahingehend geäußert etc.) ist sie als bloße ad hoc-Hypothese aufzufassen. Das durch sie erzeugte Gleichgewicht ist wohl kaum eines, „that we can on reflection accept.“⁷⁹⁷ Wie in 4.2.2.2 ausführlich erläutert, ist es deutlich plausibler, dem Text an dieser Stelle schlicht Defizienz im Sinne eines Fehlers zuzuschreiben. Für diese Hypothese sprechen der Kontext in Form von Aussagen Bernhards und Aussagen über Bernhard, und außerdem der übrige Textbestand des Romans, was in einem deutlich robusteren und in Elgins Sinn besser reflektierten Überlegungsgleichgewicht für das entsprechende Interpretationsergebnis resultiert. Elgins Argument gegen einen unkontrollierten Relativismus scheint mir weiterhin noch tragfähiger zu sein, als ihr selbst bewusst ist. Sie übersieht, dass das unscheinbare Wörtchen „we“ in ihrer Formulierung eine entscheidende Rolle spielt, und zwar in Hinsicht auf die intersubjektiver Verbindlichkeit der Überlegungsgleichgewichte. (iii) intersubjektive Verbindlichkeit: Dadurch, dass Elgin die Anzahl der für ein Überlegungsgleichgewicht epistemisch relevanten Personen auf >1 erhöht und sich nicht auf bloß subjektive Varianten beschränkt, wird die Gefahr, mit einer unübersehbaren Anzahl idiosynkratischer Überlegungsgleichgewichte konfrontiert zu werden, deutlich verringert. Dass einzelne Personen wirre Überzeugungen kohärent mit wirren Praktiken und wirren Hintergrundannahmen verbinden können, mag denkbar sein,⁷⁹⁸ dass diese Form von Überlegungsgleichgewicht intersubjektiv geteilt werden kann, ist unwahrscheinlich.⁷⁹⁹ Die Idee, der Methode des Überlegungsgleichgewichts eine intersubjektive Dimension zu verleihen, wird von Elgin nicht nur als potentielles Argument gegen  Elgin 1996, 132.  Je wirrer die Überzeugungen, Praktiken und Hintergrundannahmen sein sollen, desto unwahrscheinlicher erscheint mir übrigens die Annahme, dass sie sich im Gleichgewicht befinden, da die Idee des Gleichgewichts Kohärenz und damit zumindest ein rudimentäres Maß von Rationalität impliziert.  Nicht mehr im Kontext der Zurückweisung eines unkontrollierten Relativismus hebt Elgin diesen Aspekt noch deutlicher hervor: „The cognitive systems that underwrite my commitments are community property. Like a medieval tapestry, they are the work of many hands. It follows that the locus of tenability is the community, not the individual. […] If the community is the locus of tenability, it is also the source of initital tenability. An acceptable cognitive system must answer not just to my initially tenable commitments but to ours.“ (Elgin 1996, 116)

5.2 Überlegungsgleichgewicht

255

einen unkontrollierten Relativismus begriffen. Elgin ist der Ansicht, dass die Methode des Überlegungsgleichgewichts generell an eine Art epistemischer Arbeitsteilung geknüpft werden sollte: „[T]he method of reflective equilibrium favors an epistemology that recognizes the divison of cognitve labor. A social epistemology accomodates out initially tenable commitments better than a rugged epistemic individualism does.“⁸⁰⁰ Der Begriff der divison of cognitive labor ist näher zu erläutern. Ohne weitere Erläuterungen bleibt etwa die Frage bestehen, was denn genau unter intersubjektiv geteilten Annahmen verstanden werden soll, bzw. genauer: wessen Einschätzung für welche Annahmen im Rahmen einer Theorie einschlägig sein soll. Intersubjektive Übereinstimmung zwischen beliebigen Personen allein ist auch nach Elgins Auffassung nicht genug, um die anfängliche Plausibilität bestimmter Annahmen zu einer „full fledged tenability“,⁸⁰¹ also einer festeren Verankerung der entsprechenden Annahmen im Rahmen einer Theorie zu verstärken. Ein vertiefterer Blick auf Elgins Erläuterungen macht ersichtlich, dass sie die Formulierung divison of cognitive labor wohl nicht zufällig wählt: auch wenn sie nicht explizit darauf verweist, zitiert sie damit implizit die bekannte Formulierung einer divison of linguistic labor, die von Hilary Putnam geprägt wurde. Im Rahmen seiner Argumentation für einen semantischen Externalismus gibt Putnam das bekannt gewordene Beispiel zu Ulmen und Buchen. Die Tatsache, dass er selbst keine Ahnung habe, was denn der Unterschied zwischen Ulmen und Buchen sei, führe – so Putnam – nicht dazu, dass eine von ihm getroffene Aussage über Ulmen sich gleichermaßen auf Buchen beziehe.⁸⁰² Der Referent des von Putnam geäußerten Wortes „Ulme“ hängt nicht von den Überzeugungen des Sprechers ab, sondern kann nur durch externalistische Faktoren festgelegt werden. Dass aufgrund botanischer Unkenntnis für den Sprecher Ulmen und Buchen identisch sind, führt dementsprechend nicht dazu, dass der von ihm geäußerte Satz „Vor dem Rathaus steht eine Ulme“ wahr ist genau dann, wenn dort eine Buche steht. Putnams Folgerungen sind der Slogan des semantischen Externalismus „Man kann’s drehen und wenden, wie man will, Bedeutungen sind einfach nicht im Kopf!“⁸⁰³ und die auch von Elgin aufgegriffene „sprachliche Arbeitsteilung“:⁸⁰⁴ Die Referenz des Wortes „Ulme“ wird nicht von den Überzeugungen des Sprechers allein festgelegt, sondern von einer Sprechergemeinschaft, vor allem von in dieser Sprechergemeinschaft enthaltenen Experten, die über die Unterscheidung von Ulmen und

    

Elgin 1996, 114. Elgin 1996, 112. Vgl. Putnam 1979, 36 f. und 62 f. Putnam 1979, 37. Putnam 1979, 37.

256

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

Buchen detailliert Bescheid wissen und damit genaue Auskunft über das Referenzobjekt des Begriffs „Ulme“ geben können. Elgins Argumentation zur kognitiven Arbeitsteilung im Rahmen der Methode des Überlegungsgleichgewichts läuft weitgehend analog. Auch Elgin geht davon aus, dass eine intersubjektive Verständigung über die Modifikation oder Revision einzelner Annahmen nicht heißt, dass man die Sichtweise aller möglichen Personen für ein bestimmtes Überlegungsgleichgewicht in Betracht ziehen muss.⁸⁰⁵ Schließlich wird die Annahme, dass Wasser H2O ist, dadurch kaum plausibler, dass eine Reihe von anderen Personen, die chemisch ebenso wenig beschlagen sind wie man selbst, die identische Überzeugung haben. Wie Putnam verweist Elgin an dieser Stelle auf die Expertise einschlägiger Fachleute, deren Meinung die Ausgangsplausibilität bestimmter Annahmen sehr wohl untermauern kann: „That similarly situated epistemic agents concur then avails me little. But not all who share my convivtion that water is H2O are in my sorry epistemic state. Some of them have mastered chemistry. And because suitable lines of communication link me to them, I can draw on their expertise.“⁸⁰⁶ Elgin lässt keinen Zweifel daran, dass die Methode des Überlegungsgleichgewichts mit einer interpersonal gedachten Epistemologie einhergehen muss, da das Abwägen von Überzeugungen etc. nur in Ausnahmefällen eine Privatangelegenheit ist: „Advancement of understanding remains a matter of constructing, elaborating, and extending cognitive systems in reflective equilibrium. What social epistemology recognizes is that this is rarely a private enterprise.“⁸⁰⁷ (iv) Reichweite der Gleichgewichtsforderung: Mit Hilfe dieser Präzisierungen zu dem als klärungsbedürftig ausgezeichneten Punkt fraglicher intersubjektiver Verbindlichkeit der Methode des Überlegungsgleichgewichts lassen sich ebenfalls Unklarheiten bezüglich der Reichweite der Gleichgewichtsforderung ausräumen. Der Einwand, dass die Gleichgewichtsforderung als ein auf beliebige Weise zu erreichender und damit zu schwacher Anspruch aufzufassen sei, ist durch Elgins Zurückweisung der Sinnhaftigkeit willkürlicher ad hoc-Modifikationen und den Ausbau der intersubjektiven Dimension des Überlegungsgleichgewichts entkräftet. Auch die von Danneberg ins Feld geführte Kritik, dass die Gleichgewichtsforderung in zweierlei Hinsicht als zu starke Forderung aufzufassen sei, lässt sich im Anschluss an Elgins Überlegungen soweit ich sehe zwar nicht vollständig, aber zumindest weitgehend zurückweisen. Dass kognitive Systeme im Rahmen der

 Vgl. Elgin 1996, 117: „Not everyone’s views on every subject need to be taken into account.“  Elgin 1996, 112.  Elgin 1996, 118.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

257

Methode des Überlegungsgleichgewichts an Gleichgewicht, und damit laut Danneberg „an vollständige Kohärenz“⁸⁰⁸ gebunden werden sollen, zeigt sich bezogen auf Elgin als überdramatische Darstellung einer prozessoral gedachten Epistemologie. So wie Elgin die Methode des Überlegungsgleichgewichts entwirft, ist als konkretes epistemisches Ziel gerade nicht Idealität oder vollständige Kohärenz definiert, sondern eher ein bestmögliches Passen in einem gegebenen Kontext. Sollten sich ändernde Rahmenbedingungen, neue Erkenntnisse etc. das fragliche System aus dem Gleichgewicht bringen, wird ein weiterer deliberativer Prozess angestoßen. Das Endziel der Methode des Überlegungsgleichgewichts ist damit zwar – und hier ist Danneberg zuzustimmen – tatsächlich ein System in vollständigem Gleichgewicht, allerdings ist dieses Ziel eher als regulative Idee zu verstehen. Aufgrund des stets vorläufigen und immer schon revisionsbereiten Charakters der entwickelten Theorien ist das de facto erreichbare Gleichgewicht zwischen einzelnen Annahmen, zu dem die Methode des Überlegungsgleichgewichts führen wird, eher als ein unter gegebenen Umständen bestmögliches Gleichgewicht konstruiert. Dannebergs zweiter Hinweis ist für Elgins Version der Methode des Überlegungsgleichgewichts nur in einer Hinsicht gefährlich. Die Bedenken, dass theoretische Hintergrundannahmen festgeschrieben sein könnten, kann Elgin ganz explizit zerstreuen. Das Überlegungsgleichgewicht ist als weites Überlegungsgleichgewicht konzipiert, das Hintergrundannahmen ganz bewußt mit in die Abwägungsprozesse einbezieht.Was allerdings nach wie vor als Problem bestehen bleibt, ist Folgendes: Auch ein weites Überlegungsgleichgewicht, dass dem Anspruch nach alle theoretischen Hintergrundannahmen prinzipiell zur Disposition stellt, kann nicht die grundsätzliche erkenntnistheoretische Hintergrundannahme zur Disposition stellen, dass ein kohärentes Gleichgewicht zwischen Überzeugungen ein plausibles Kriterium zur Rechtfertigung eben dieser im Gleichgewicht befindlichen Überzeugungen ist. Würde diese Prämisse aufgegeben, würde die Methode des Überlegungsgleichgewichts, die ja eben versucht, ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Punkten herzustellen, sich selbst widerlegen bzw. sich selbst als sinnloses Unterfangen darstellen. Eine befriedigende Lösung dieses Problems sehe ich nicht, folgende Szenarien scheinen mir zu bedenken: Es ist wohl davon auszugehen, dass die radikale Ansicht, Kohärenz zwischen Überzeugungen sei für ihre Rechtfertigung irrelevant, im Rahmen der Methode des Überlegungsgleichgewichts nicht unmittelbar erlangt wird, da sie extrem unplausibel ist und – mit Elgin gesprochen – dementsprechend keineswegs als initially plausible commitment gelten kann. Es ist sinnvoll, deshalb nicht unmittelbar

 Danneberg 1989, 411.

258

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

eine komplette Revision der Kohärenzforderung zu erwägen, sondern eher subtilere Modifikationen bzw. Korrekturen am Kohärenzbegriff ins Auge zu fassen. Womöglich kann die Methode des Überlegungsgleichgewichts uns dazu anhalten, unser Verständnis von Kohärenz neu zu definieren und an gegebene Kontexte anzupassen, ohne dass damit ein vollständiger Verzicht auf den Kohärenzbegriff einhergehen muss. Inwiefern solche Veränderungen die Folge hätten, dass sich die Methode des Überlegungsgleichgewichts selbst widerlegt, hängt davon ab, wie gravierend diese Veränderungen sind.⁸⁰⁹

5.2.3 Das Überlegungsgleichgewicht in der Interpretationstheorie Nachdem im Anschluss an Elgin einige grundsätzliche Bedenken bezüglich der Methode des Überlegungsgleichgewichts ausgeräumt werden konnten, ist die spezifische Verwendung des Modells als konzeptioneller Rahmen für die Textinterpretation zu plausibilisieren. Philologische Interpretationsprozesse, die auf dem Prinzip hermeneutischer Billigkeit basieren, können, wie schon mehrfach angesprochen, als Abwägungsprozesse rekonstruiert werden. Gegeneinander abzuwägende Größen sind die im Hauptteil (speziell in Kapitel 3) thematisierten Inhalte präsumtiver Unterstellungen an das Interpretandum, der gemäß den unteren Verstehensstufen bereits verstandene Textbestand, sowie diverse textexterne Kontextfaktoren.⁸¹⁰

 Sollten sie sehr gravierend sein und uns zu dem Schluss führen, dass Rechtfertigung über Mechanismen ablaufen sollte, die auf wesentliche Momente der Methode des Überlegungsgleichgewichts verzichten, wären wir etwa bei einer Spielart des Fundamentalismus angelangt und hätten das Überlegungsgleichgewicht effektiv verabschiedet. Dies muss aber wohl nicht so sein, sofern wir unseren Kohärenzbegriff nur modifizieren und nicht vollständig revidieren. Für hilfreiche Hinweise zu diesem Detailproblem danke ich Georg Brun.  Dass die Anzahl und die Komplexität der im Interpretationsprozess einflussreichen Faktoren gelegentlich unterschätzt wird, betont Spoerhase 2007, 293: „Die Komplexität des Verhältnisses der im hermeneutischen Prozess involvierten Quellen wird gelegentlich unterschätzt. Nicht weniger problematisch ist, dass die untersuchte Anzahl der Quellen, die im Interpretationsvorgang eine Rolle spielen, oft stark reduziert ist. Gerade in der philosophischen Debatte wird neben dem Interpretationsobjekt meistens einzige eine anonymisierte Vernunft als Interpretationsnorm installiert, deren formalen Erfordernissen (etwa an Konsistenz oder Kohärenz) das Interpretationsobjekt idealerweise genügen muss. Die damit stattfindende Verkürzung hermeneutischer Normativität auf die ratio ist aber zu vermeiden. Neben scriptura und ratio lassen sich weitere Formen hermeneutischer Normativität auflisten: (I) Textuelle Normativität, darunter (1) intratextuelle, (2) metatextuell extratextuelle und (3) intertextuell extratextuelle; (II) Nicht-textuelle Normativität, darunter (1) institutionelle, (2) traditionale, (3) intern (’formal’) rationale, (4) extern (’material’) rationale und (5) kategoriale.“ Die unter 5.2.3.1 folgende Auf-

5.2 Überlegungsgleichgewicht

259

Elgin formuliert das Unternehmen, Faktoren wie diese in Einklang zu bringen, als allgemeines erkenntnistheoretisches Ziel, das laut ihrer Einschätzung mittels der Methode des Überlegungsgleichgewichts zu erreichen ist: „Our goal is to maximize the epistemic standing of the considerations we finally endorse. In forging connections among initially tenable claims we integrate them into a mutually supportive network. This enhances their tenability, each being more reasonable in light of the others than it was alone. It also confers tenability on the sentences we annex, transforming initially doubtful claims into integral parts of an acceptable system of thought.“⁸¹¹ Was Elgin hier für die Erkenntnistheorie im Allgemeinen formuliert, lässt sich versuchsweise auf die Hermeneutik übertragen und weiter konkretisieren. Ein Interpret kann auch in diesem Fall versuchen, eine so gut wie möglich fundierte Interpretation eines Textes zu erreichen, indem er die einzelnen interpretationsrelevanten Faktoren aufeinander bezieht und zeigt, dass sie sich gegenseitig stützen. Interessant ist, dass auch Elgin selbst zumindest implizit den Transfer der Methode des Überlegungsgleichgewichts auf die Hermeneutik nahelegt. Das epistemische Ziel, dass ihr besonders erstrebenswert erscheint, ist nicht im engen Sinn Wahrheit respektive auf Wahrheit basierendes Wissen, sondern ein deutlich weiter gefasster Begriff von Verstehen: ‘Understanding‘ is a better term for the epistemic achievement that concerns us here. Not being restricted to facts, understanding is more comprehensive than knowledge ever hoped to be. We understand rules and reasons, actions and passions, objectives and obstacles, techniques and tools, forms, functions, and fictions, as well as facts. We also understand pictures, words, equations, and patterns. Ordinarily these are not isolated accomplishments; they coalesce into an understanding of a subject, discipline, or field of study.⁸¹²

Die Methode des Überlegungsgleichgewichts ist nach Elgins Ansich hilfreich, um zu einem umfassenden Verstehen von Gegenständen zu gelangen, die zu einem Spektrum gehören, das von „rules and reasons“ über „pictures“ und „words“ bis zu „actions and passions“ und für den philologischen Interpreten besonders interessanten „fictions“ reichen kann. In der Beschreibung des allgemeinen Ablaufs einer Austarierung verschiedener Größen im Interpretationsprozess versucht Elgin zumindest, deutlicher zu werden als Rawls und Goodman, deren Rede von „[w]ir

listung interpretationstrelevanter Faktoren versucht ebenfalls in diesem Sinn über die alleinige Berücksichtigung von scriptura und ratio hinauszugehen und eine Reihe weiterer Normativitätsquellen in den Blick zu nehmen.  Elgin 1996, 104.  Elgin 1996, 123.

260

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

gehen hin und her“⁸¹³ bzw. von „feinen gegenseitigen Abstimmungen“⁸¹⁴ letztlich inhaltlich nicht gefüllt werden konnte. Elgin erklärt hierzu: In building a system of thought, we begin with a provisional scaffolding made up of the relevant beliefs we already hold, the aims of the project we are embarked on, the liberties and constraints we consider the system subject to, the values and priorities we seek to uphold. […] We proceed dialectically. We mould specific judgements to accepted generalizations, and generalizations to specific judgements. We weigh considerations of value against antecedent judgements of fact. We synchronize ends and means, reconcile principle and practice. A process of delicate adjustments occurs, its goal being a system in reflective equilibrium.⁸¹⁵

Später ergänzt sie: We interpolate, extrapolate, elaborate, and emend our initially tenable commitments; we mine them for analogies, disanalogies, insights, and strategies. We thereby generate additional candidates for our epistemic allegiance. If these candidates are unexceptionable, we provisionally endorse them and integrate them into a developing system. But if, on reflection, we cannot countenance the candidates we generate, we reject them and try again.⁸¹⁶

Dass Elgin in vielerlei Hinsicht über Rawls und Goodman hinausgeht und wichtige Defizite überwindet, habe ich oben deutlich gemacht – was das Monitum der mangelnden Konkretheit betrifft, sollte man angesichts dieser Passagen wohl weniger optimistisch sein. Die eben zitierten Hinweise sind nur unwesentlich griffiger und präziser als das, was sich bei Rawls und Goodman findet. Zurückbezogen auf die zu Beginn von Abschnitt 5 formulierten Adäquatheitsbedingungen heißt das insgesamt: (A1): Das Modell des Überlegungsgleichgewichts ist terminologisch im Bereich der Interpretationstheorie nicht vorbelastet und damit in dieser Hinsicht weniger ambig ist als das Modell des hermeneutischen Zirkels. Allerdings ist die innerhalb der Methode des Überlegungsgleichgewichts verwendete Begrifflichkeit nach wie vor noch nicht ausgearbeitet genug, um Bedenken hinsichtlich der terminologischen Klarheit vollends auszuräumen. Hahn kommt am Ende ihrer kritischen Evaluation der Methode des Überlegungsgleichgewichts zu dem Schluss, dass diesem Monitum prinzipiell abgeholfen werden könne und stellt

   

Rawls 1979, 37 f. Goodman 1988, 87. Elgin 1996, 106. Elgin 1996, 120.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

261

eine insgesamt positive Prognose für die methodologische Zukunft des Überlegungsgleichgewichts.⁸¹⁷ (A2): Anwendbarkeit auf konkrete Fälle ist gegeben, wie Beispiele aus der Wissenschaftstheorie bzw. -geschichte zeigen können.⁸¹⁸ Nach den oben angestellten Überlegungen steht auch einem Bezug auf konkrete Fälle philologischer Interpretation nichts entgegen – Abschnitt 5.2.3.2 wird dies abschließend zu zeigen versuchen. (A3) und (A4): Erkenntnisse, die mittels der Methode des Überlegungsgleichgewichts gewonnen werden, sind wie erläutert immer als revidierbar zu verstehen und können dementsprechend jederzeit zur Disposition gestellt werden. Da die Methode des Überlegungsgleichgewichts damit zu keinem Zeitpunkt auf unhinterfragte Evidenzen oder irreversible Dogmen rekurriert, erfüllt sie meines Erachtens die Adäquatheitsbedingungen der Verleichbarkeit und der Kritisierbarkeit in paradigmatischer Weise. Summa summarum: Die Methode des Überlegungsgleichgewichts ist insgesamt ein potentiell vielversprechender Kanditat für eine Rahmentheorie zur Strukturierung interpretativer Prozesse. Allerdings ist – so attraktiv sie prima facie für die Hermeneutik auch sein mag – noch einiges an explikativer Grundlagenarbeit zu leisten, um dieses Potential speziell in terminologischer Hinsicht auch abrufbar zu machen. Die abschließenden Versuche, die zusammengewürfelte Reihe von Kategorien oder Tätigkeiten, die Elgin im Rahmen des Konkreten „Abwägens“ benennt, für den Bereich der Textinterpretation zu gruppieren und inhaltlich zu füllen, sind nicht mehr als ein erster Schritt in diese Richtung.

5.2.3.1 Interpretationsrelevante Faktoren Statt eines allgemeinen „system of thought“⁸¹⁹ ist als Ziel philologischer Interpretation eine Interpretation (als Textsorte bzw. als Endprodukt eines Interpretationsprozesses) ausgezeichnet, „aims of the project“⁸²⁰ können als interpretationsspezifische Schwerpunktsetzungen konkretisiert werden. Ein solcher Schwerpunkt wäre z. B., besonders auf die Institution des Gerichts in Kafkas Proceß einzugehen. Die von Elgin angesprochenen allgemeinen Kategorien von „principle[s]“⁸²¹ und „values and priorities we seek to uphold“⁸²² entsprechen im

    

Vgl. Hahn (2000), insbesondere 241– 251. Vgl. Hahn (2000), 202– 240 für eine mathematikhistorische Anwendung. Elgin 1996, 106. Elgin 1996, 106. Elgin 1996, 106.

262

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

Interpretationsfall bestimmten Billigkeitspräsumtionen, deren fundamentale Rolle im Hauptteil bereits ausführlich expliziert wurde. Sie stellen textexterne Vorannahmen dar, die der Interpret nur unter bestimmten Umständen aufgeben wird, was in Elgins Fall durch die Formulierung „values and priorities we seek to uphold“⁸²³ nahelegt ist. Im Einzelnen wird der philologische Interpret etwa versuchen, dem Interpretandum möglichst großen ästhetischen Wert zuzusprechen, und nur von einer ästhetischen Defizienz des Interpretandums ausgehen, wenn seine ursprüngliche Präsumtion von ästhetischem Wert nicht mehr in ein Überlegungsgleichgewicht mit anderen interpretationsrelevanten Faktoren (etwa der Autorintention bzw. dem Textbestand im Fall von Woods Plan 9 from Outer Space, vgl. 4.2.2.3) gebracht werden kann. Unter der Formulierung „relevant beliefs we already hold“⁸²⁴ könnten in Bezug auf einen Interpretationsvorgang neben allgemeinen Billigkeitspräsumtionen auch konkretere Überzeugungen über ein bestimmtes Interpretandum oder Überzeugungen über den Vorgang der Interpretation im Allgemeinen verstanden werden. Die von Elgin immer wieder genannten „initially tenable commitments“⁸²⁵ und „accepted generalizations“⁸²⁶ sind im Fall der philologischen Textinterpretation mit unmittelbar einsichtigen Textbeobachtungen zu analogisieren, also mit einem Textverstehen im Sinne der unteren Verstehensstufen. Allgemein akzeptierte „Generalisierungen“ wären außerdem als schwache metatheoretische Annahmen rekonstruierbar, die beispielsweise aussagen, dass jede Textinterpretation den vorliegenden Textbestand berücksichtigen sollte (egal ob die konkret literaturtheoretischen Annahmen nun z. B. psychoanalytischer oder diskursanalytischer Theorie verpflichtet sind). Die letzte Gruppe der von Elgin benannten Größen bilden „specific judgements“⁸²⁷ oder „judgements of fact“.⁸²⁸ Dies ließe sich im Fall der Textinterpretation als einzelfallspezifische Interpretationshypothesen verstehen, z. B. die Hypothese, dass in Kafkas Verwandlung die fortschreitende Degeneration Gregor Samsas umgekehrt proportional zu einer fortschreitenden Verbesserung der Lebensumstände seiner Familie ist. Eine derartige textspezifische Hypothese ist gegen die anderen Größen abzuwägen und im besten Fall zu stützen, wodurch – im Sinn des Überlegungsgleichgewichts – ihre Zuverlässigkeit gestärkt werden wird.

 Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 106. Ebenfalls in diese Kategorie ist Elgins 1996, 106 allgemeine Rede von „considerations of value“ einzuordnen.  Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 120.  Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 106.  Elgin 1996, 106.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

263

Zusammengefasst ergibt sich damit folgende tentative und mit Sicherheit auszubauende Liste von Größen und Teilgrößen, die im Anschluss an Elgin im Rahmen der philologischen Interpretation abzuwägen sind. Um wenigstens etwas mehr Anschaulichkeit zu erreichen, versuchen die in petit gesetzten Ergänzungen die aufgeführten Kategorien exemplarisch für eine Interpretation von Kafkas Proceß zu konkretisieren: 1. Der Textbestand 1.1 Inhaltlich Im Proceß geht es um den Büroangestellten Josef K. der verhaftet wird, sich einer Reihe von Gerichtsverhandlungen unterwirft und schließlich in einem Steinbruch erstochen wird. Dabei wird zu keinem Zeitpunkt klar, worin seine Verfehlung bestanden haben könnte, noch worin die Legitimation der Gerichte besteht, noch wieso sich Josef K. trotz seiner immer wieder beteuerten Unschuld der Autorität der Gerichte und dem verhängten Urteil unterwirft.

1.2 Formal Kapitelgliederung, Textumfang (in anderen Fällen auch Strophenform, Reim, Metrik)

2. Billigkeitspräsumtionen 2.1 Präsumtion epistemisch kontextualisierter Wahrheit (nur in Sonderfällen) 2.2 Präsumtion von Kohärenz Präsumtion, dass der Proceß ein kohärenter Text ist (im Detail etwa: dass die verschiedenen Gerichtsepisoden auf eine nachvollziehbare Weise zusammenhängen)

2.3 Präsumtion von angemessenem ästhetischen Wert Präsumtion, dass es sich bei dem Proceß um einen ästhetisch wertvollen Text handelt

3. Textexterne Kontextfaktoren, darunter 3.1 Intention des Autors (rekonstruiert oder bekannt) Kafka intendierte, einen Text über die Unmenschlichkeit bürokratischer Apparate verfassen

3.2 soziohistorische Hintergründe des Textes und Autors Zwischen 1900 und 1930 gab es eine zunehmende Technologisierung der Arbeitswelt, die mit einem gesteigerten Bürokratieaufkommen einherging. Kafka konnte dies im Rahmen seiner Arbeit bei der Prager Arbeiter-Unfallversicherung miterleben

3.3 Literaturprogramm 4. Literaturtheoretische Hintergrundannahmen Bestimmte Theoreme etwa der psychoanalytischen Literaturtheorie nach Freud, des Strukturalismus, der Rezeptionsästhetik, der Gendertheorie, der Diskursanalyse, der Systemtheorie etc.

264

5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

5. Metatheoretische Hintergrundannahmen 5.1 Allgemein akzeptierte interpretationstheoretische Faustregeln zur Textinterpretation 5.2 Allgemeine Überlegungen zur Interpretationstheorie Interpretationshypothesen lassen sich durch ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen im Interpretationsprozess zu berücksichtigenden Normativitätsquellen besser rechtfertigen als durch den Rekurs auf die subjektive Kategorie der philologischen Evidenz

5.3 Zielsetzung des Interpretationsprozesses, thematisch und institutionell spezifiziert Interpretation von Kafkas Proceß, thematisch etwa spezifiziert als detaillierte Analyse der Institution des Gerichts (und damit z. B. nicht (oder nur mittelbar) der syntaktischen Besonderheiten, der biographischen Hintergründe, der intertextuellen Bezüge etc.), institutionell spezifiziert als Aufsatzbeitrag für einen Sammelband (davon abhängig die eingeschränkte Ausführlichkeit und Detailliertheit etc.)

In einem durch die Methode des Überlegungsgleichgewichts strukturierten Interpretationsprozess muss der Interpret versuchen, die hier benannten Größen auszutarieren und in ein Gleichgewicht zu bringen. So gut wie immer wird dies nur durch die Modifikation einzelner Bestandteile möglich sein. Die Entscheidung darüber, wann eine Modifikation welcher Art an welcher Stelle nötig ist, muss einzelfallspezifisch entschieden werden.⁸²⁹ Ein Blick auf interpretative Abwägungsprozesse anhand von Henrik Ibsens Peer Gynt soll zeigen, wie dies in einem konkreten Fall ablaufen kann.

5.2.3.2 Beispiel: Henrik Ibsen: Peer Gynt Wie speziell der Textbestand, die Präsumtion von ästhetischem Wert, und textexterne Kontextfaktoren gegeneinander abzuwägen sind, lässt sich anhand verschiedener Interpretationen der Figur des fremden Passagiers aus Henrik Ibsens

 Es bleibt zu klären, wie die genannten Faktoren im Sinne von normativen Kräfteverhältnissen zu hierarchisieren sind. Tendenziell wird wohl der Textbestand eine zentrale Rolle einnehmen müssen. Es wäre in den allermeisten Fällen wohl nicht überzeugend, ein Gleichgewicht zwischen den interpretationsrelevanten Faktoren dadurch herzustellen, dass beispielsweise bestimmte Textteile ignoriert werden, nur um so literaturtheoretischen Annahmen oder gar formalen Vorgaben an einen Interpretationstext entsprechen zu können.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

265

Drama Peer Gynt nachvollziehen, die Føllesdal im Rahmen seines Aufsatzes Hermeneutik und die hypothetisch-deduktive Methode aufführt.⁸³⁰ Daniel Haakonsen etwa kommt zu dem Interpretationsergebnis, dass der fremde Passagier als „Geist des englischen Dichters Lord Byron“⁸³¹ zu verstehen sei. Hier soll nicht in erster Linie für oder gegen die Plausibilität dieser Interpretation argumentiert werden, von besonderem Interesse ist eher, inwiefern die eben aufgeführten Größen gegeneinander abzuwägen sind, um zu einem diese Aussage beinhaltenden Interpretationsergebnis zu kommen, das sich im Überlegungsgleichgewicht befindet. Zunächst stützen einige Kontextfaktoren Haakonsens Interpretation. Es ist keine Seltenheit, dass Figuren in literarischen Texten die Verkörperung real existierender Personen sind, gerade für den Fall Byrons gilt dies sogar im Besonderen. Weiterhin hat Ibsen selbst sich nachweislich sehr intensiv mit Byron und dessen Werk auseinandergesetzt. Der Textbestand selbst, in dem der fremde Passagier an zwei Stellen vorkommt, gibt zunächst keinen direkten Hinweis auf Haakonsens Interpretation, da der Name Byrons im Stück kein einziges Mal fällt. Allerdings lassen sich einige Eigenschaften des Fremden mit Eigenschaften Byrons in Einklang bringen. Der fremde Passagier schwimmt etwa im fünften Akt bei stürmischer See neben dem Rettungsboot her, in dem sich Peer Gynt nach dem Sinken seines Schiffs befindet, und erklärt, er „schwimme mit dem linken Bein“.⁸³² Dieses Textfaktum passt zu der Kontextinformation, dass auch Byron ein guter Schwimmer war⁸³³ und, noch interessanter, dass Byron zeitlebens unter einem Klumpfuß am rechten Bein litt, der ihn bei vielen körperlichen Aktivitäten behinderte, so dass wohl auch Byron beim Schwimmen vor allem auf sein gesundes linkes Bein vertrauen musste.⁸³⁴  Vgl. Føllesdal 2008. Daniel Cohnitz übersetzt Føllesdals Text so, dass von der Figur „des Fremden“ die Rede ist, obwohl in der deutschen Übersetzung Ibsen 2006 diese Figur den Namen „Der fremde Passagier“ trägt.  Føllesdal 2008, 164. Føllesdal bezieht sich dabei auf Haakonsen 1975.  Ibsen 2006, 116.  Vgl. Føllesdal 2008, 164.  So einig wie Føllesdal 2008, 164 dies nahelegt ist sich die Byron-Forschung über die genauen Details von Byrons körperlicher Einschränkung übrigens nicht. Schmidt 2001, 133 erklärt zwar, dass Byron „mit den schönsten körperlichen Anlagen ausgestattet, aber durch einen Klumpfuß entstellt“ gewesen sei, auch Longford 1976, 4 spricht von einem „lame foot“, der entscheidend für Byrons Entwicklung gewesen sei. Althaus 2001, 54 hingegen bezeichnet diese Ansicht als Irrglaube und erläutert: „Lange herrschte die irrthümliche Ansicht, das körperliche Gebrechen eines Mannes, der übrigens in seinen besten Jahren durch vollendete Schönheit glänzte, sei ein Klumpfuß gewesen; und erst Byron’s Freund und Gefährte in Griechenland, Edward John Trelawney, gab in seinen 1878 veröffentlichten Records of Shelley, Byron and the Author über diesen Punkt authentische und endgiltige Aufschlüsse. Trelawney sah Byron’s Leiche in Missolonghi […] und entdeckte die Ursache seiner Lahmheit nicht in einem Klumpfuß,

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

Haakonsens Interpretation (die noch mehrere vergleichbare Beobachtungen aufführt, auf die ich hier nicht eingehe) kann an dieser Stelle also Kontextfaktoren und Textbestand in Einklang bringen. Allerdings wird dieses Gleichgewicht durch mehrere Faktoren gefährdet. Um das Gleichgewicht zwischen Kontextfaktoren und Textbestand halten zu können, revidiert Haakonsen nämlich implizit die Präsumtion ästhetischen Werts in Bezug auf Ibsens Stück. Da der Byronismus – also die Anspielungen auf Byron, der Bezug auf seine Person oder die Ausrichtung fiktiver literarischer Figuren nach seinem Vorbild – eine sehr zeitgebundene literarische Modeerscheinung war, die sich nach kurzer Zeit überlebt hatte, muss die Zuordnung Peer Gynts zu dieser Mode das Stück als Ganzes abqualifizieren bzw. mindestens die Figur des fremden Passagiers zu einem Fremdkörper im Stück degradieren, was ebenfalls den ästhetischen Anspruch des Werks senken würde. Haakonsen geht dementsprechend davon aus, dass Ibsen sich „wahrscheinlich verkalkuliert hat, was diesem Teil des Stückes schadet.“⁸³⁵ Angesichts dieser Situation kann man im Sinne der Methode des Überlegungsgleichgewichts mehrere Wege beschreiten: Erstens kann man die Präsumtion ästhetischen Werts für so zentral halten, dass man sie aufgrund der bisherigen Hinweise noch nicht revidieren will. Verweise auf den Rest des Stückes, in dem keine weiteren vergleichbaren Figuren auftreten, oder Vergleiche mit anderen Texten Ibsens, die anerkannt von hoher künstlerischer Qualität sind, können helfen, um die Verankerung der Präsumtion ästhetischen Werts für die Interpretation Peer Gynts weiter zu steigern. Um den ästhetischen Wert des Stücks zu garantieren, könnte man in diesem Fall die Figur des Fremden nicht als Bezug auf Byron interpretieren, sondern beispielsweise als Personifikation allgemeingültiger und überzeitlicher Phänomene wie der Angst oder des Todes. Sofern sich diese Interpretation mit dem Textbestand, Kontextinformationen etc. verträgt, wäre

sondern in der Contraction der Achillessehne, die ihn verhinderte, die Fersen fest aufzusetzen und ihn zwang, auf den Vorderfüßen zu gehen.“ Noel 1972, 29, berichtet ebenfalls nicht von einem Klumpfuß, sondern von einer Verkürzung der Achillessehne im rechten Fuß: „The right Achilles tendon was so contracted that he could never put the foot flat on the ground“.  Føllesdal 2008, 165 ist übrigens der Ansicht, dass „diese Art von Kritk an einem literarischen Werk zugleich gegen die vorgebrachte Interpretation selbst spricht. Dies jedenfalls dann, wenn man als Arbeitshypothese für die Interpretation von Kunstwerken akzeptiert, daß die Interpretation zu bevorzugen ist, in deren Licht das Kunstwerk am interessantesten und künstlerisch zufriedenstellendsten erscheint.“ Dies heißt, dass für Føllesdal die Präsumtion ästhetischen Werts deutlich widerständiger gegen Modifikationen zu sein scheint, als für Haakonsen.

5.2 Überlegungsgleichgewicht

267

damit wieder ein Gleichgewicht der verschiedenen Faktoren hergestellt.⁸³⁶ Zweitens könnte man die Präsumtion ästhetischen Werts modifizieren, um so auf eine alternative Art und Weise eine Übereinstimmung zwischen Billigkeitspräsumtionen, Kontextfaktoren und Textbestand herzustellen. In diesem Fall könnte man die Interpretation Haakonsens weiterhin vertreten, sofern man Ibsens Peer Gynt zumindest an den Stellen, an denen der fremde Passagier auftritt, als künstlerisch nicht völlig zufriedenstellend beurteilt und wie Føllesdal beispielsweise erklärt, dass „Ibsen durch sein Interesse für Byron bei der Abfassung seines Stückes zu einem 4. Akt verführt wurde, den wir heute als schwach einstufen.“⁸³⁷ Der Interpret wird im Rahmen derartiger Abwägungsprozesse immer bestimmte Entscheidungen im Rahmen seiner Urteilskraft zu treffen haben.⁸³⁸ Wie Elgin festhält, ist es unmöglich, im Rahmen einer idealen Interpretation alle Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen: „We can maximize one or the other or settle for something in between. But we cannot maximize both at once. To obtain a tenable system, we must moderate initially reasonable demands. Choosing among alternatives involves deciding what combination of features is best on balance.“⁸³⁹ Der Auftrag an den Interpreten ist dieser Auffassung nach eher, alle relevanten Faktoren möglichst gut abzustimmen und zu versuchen, ein möglichst reflektiertes und robustes Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen und nicht, eine einzige, ideale Interpretation zu finden. Die Methode des Überlegungsgleichgewichts lässt als Rahmenkonzept interpretativer Prozesse damit Raum für einen gewissen Pluralismus von Interpretationen und verhindert durch die Forderung

 Was in der Ibsen-Forschung durchaus getan wurde, vgl. Føllesdal 2008, 160 f. Dies ist natürlich nur sinnvoll, sofern man die Auffassung vertritt, dass eine Personifikation dieser Art ästhetisch wertvoller ist, als ein direkter Bezug zu einer realen Person.  Føllesdal 2008, 165. Lamarque 2009, 283 f. thematisiert eine analoge Abwägung in Bezug auf Charles Dickens Bleak House interessanterweise unter der Überschrift A hermeneutic circle. Lamarques Ausführungen ähneln stark denen, die ich oben anhand von Ibsens Peer Gynt exemplarisch vorgeführt habe, d. h. es findet sich auch bei Lamarque kein Rekurs auf substantielle Eigenschaften eines hermeneutischen Zirkels – wenn überhaupt wird vage auf die unter Abschnitt 5.1.1 thematisierte Teil-Ganzes-Version des hermeneutischen Zirkels angespielt. Auch in diesem Fall scheint es primär die lange Tradition des Begriffs zu sein, die Lamarque dazu bringt, sein Teilkapitel so zu betiteln, auch wenn zur Beschreibung der von Lamarque thematisierten Inhalte der Titel A reflective equilibrium ebenso gut geeignet gewesen wäre.  Brun, Rott 2013, 4062 weisen hierauf im Rahmen ihrer Überlegungen zur Rekonstruktion von enthymematischen Argumenten ebenfalls hin: „Ultimately, the result of an interpreter’s effort will depend on whether he judges it to be more likely that the author presents an argument that is not even enthymematically valid, or that he, the interpreter, needs to revise his current ascription of a belief state to her, the author. […] And the interpreter needs judgement, not a formal theory, to decide whether this amount of charity makes sense.“ [meine Hervorhebung].  Elgin 1996, 106.

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5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischen Hermeneutik

nach einem reflektierten Gleichgewicht gleichzeitig einen unkontrollierten Relativismus. Beides sind für die philologische Hermeneutik wünschenswerte Konsequenzen.

6 Schluss Nach diesen Überlegungen ist es nun an der Zeit, auf die wesentlichen Resultate zurückzublicken und weiterführende Anschlussfragen zu benennen. Die Untersuchung nahm ihren Ausgang von dem für die Hermeneutik integralen Zusammenhang zwischen Interpretation und Rationalität. Diese Verbindung wird manifest in einem Interpretationsprinzip, das in dem weiten Kontext der allgemeinen Hermeneutik traditionell als ebenso zentral verstanden wurde wie in dem engeren Kontext der (analytischen) Sprachphilosophie: dem Prinzip hermeneutischer Billigkeit. Hinter diesem Begriff steht die Annahme, dass der Interpret einem Interpretandum bestimmte Unterstellungen entgegenzubringen hat, um einen Interpretationsprozess zuallererst anstoßen und zu einem sinnvollen Ergebnis bringen zu können. Da das Prinzip hermeneutischer Billigkeit in vielen verschiedenen Varianten bereits zum Gegenstand ausführlicher Forschung geworden ist, habe ich eine Schwerpunktsetzung vorgenommen und den Fokus speziell auf das Feld der philologischen Interpretation gelegt.⁸⁴⁰ Die Bereichshermeneutik der Literaturinterpretation wirft einige besonders knifflige Fragen für die Anwendung von Billigkeitsprinzipien auf, die ich einleitend benannt habe. Zu deren umfassender Klärung ist es nötig, einerseits die formale Struktur von Billigkeitsprinzipien im Kontext philologischer Hermeneutik genau zu bestimmen, und andererseits deren Inhalt. Dieses doppelte Erkenntnisinteresse führte dann auch zu einer Zweiteilung des Hauptteils. Im Rahmen der Diskussion formaler Fragen (Kapitel 2) erwies sich die Option, Billigkeitsprinzipien innerhalb der philologischen Hermeneutik als Präsumtionsregeln mit revidierbaren Präsumtionen zu konstruieren – und nicht als transzendentale Annahmen, evaluative Maximen oder Daumenregeln – als die vielversprechendste. Damit ist eine wichtige Festlegung vollzogen, die allerdings noch nichts über den Inhalt der Präsumtionen aussagt. Demensprechend konzentrierte sich Kapitel 3 auf inhaltliche Fragen. Wie sich herausstellte, spielt die besonders in der Sprachphilosophie vorrangige Unterstellung von Wahrheit in der Literaturinterpretation nur eine untergeordnete Rolle. Als weit zentraler erweist sich eine Unterstellung von Kohärenz, die als grundlegende

 Die Untersuchung nimmt damit einen Hinweis der Grundlagenarbeit Scholz 1999 auf, in dem abschließend das Desiderat einer detaillierten Behandlung von spezifischen „Unterformen“ der Interpretation formuliert ist: „Fortsetzungen und Vertiefungen der hier begonnenen Untersuchungen lassen sich an vielen Punkten denken. So können und müssen weitere Verstehensformen im Detail untersucht werden. […] Um diesen Punkt nur am Beispiel des Verstehens von sprachlichen Gebilden zu illustrieren: Märchen, Witze, Gebete, argumentative Texte u. a. weisen allesamt Besonderheiten auf, die sich in einer Beantwortung der Frage, was es heißt, sie angemessen zu verstehen, niederschlagen müssen.“ (316 f.)

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6 Schluss

Ausdifferenzierung des allgemeinen Begriffs von Rationalität fungiert. Ergänzt werden sollte die interpretationsleitende Kohärenzpräsumtion um die Präsumtion ästhetischen Werts, die das Faktum abbildet, dass es sich bei den Gegenständen philologischer Interpretation paradigmatischerweise um ästhetisch wertvolle Objekte handelt. Die Berücksichtigung einer derart spezifizierten, nicht mehr im engsten Sinn rationalen Präsumtion muss nicht zwingend zu einer Aufgabe des interpretativen Interesses am Verstehen des Intertpretandums zugunsten eines rein evaluativen Zugangs führen. Da sich wertmaximierende Interpretationstheorien gerade in der Hinsicht als strukturell analog zu verstehenszentrierten Hermeneutiken erwiesen, dass beide auf (inhaltlich anders gefüllte) Billigkeitspräsumtionen rekurrieren, ist eine Verschränkung der Zugänge im Sinne der Stecker’schen Formel eines appreciative understanding möglich. Diese grundlegenden Gehalte von Billigkeitspräsumtionen sind in konkreten Interpretationsprozessen einzelfallspezifisch zu konkretisieren. Das heißt, dass philologische Interpreten nicht nur dann angehalten sind, bestimmte Passagen eines Textes als von interpretativen Erwartungen abweichend zu charakterisieren, wenn diese etwa den Gesetzen der Logik zuwiderlaufen. Eine interpretative „Korrektur“ abweichender Stellen ist vielmehr auch gerechtfertigt, wenn diese beispielsweise in Bezug auf den soziohistorischen Kontext anomal erscheinen. Die weite Fassung dessen, was im Rahmen philologischer Interpretation als abweichend und damit als a fortiori interpretationsbedürftig einzustufen ist, führt unmittelbar zu dem wichtigen Problem, dass Kriterien anzugeben sind, unter denen einem Text Defizienz zugeschrieben werden kann. Fehlen solche Kriterien, läuft eine auf Billigkeitspräsumtionen fußende Hermeneutik Gefahr, zu einer bloßen Verbesserungshermeneutik zu werden, die davon ausgehen muss, dass es keine de facto defizienten Interpretanda gibt, sondern nur defiziente Interpreten, die nur nicht in der Lage waren, eine sinnvolle Erklärung bloß scheinbarer textueller Defizienzen zu finden. Innerhalb einer so strukturierten Hermeneutik ließen sich Billigkeitsprinzipien nicht mehr als Billigkeitspräsumtionen auffassen, für die in Abschnitt 2.4 Revidierbarkeit als notwendige Bedingung definiert wurde. Mein in Kapitel 4 vorgestellter Vorschlag, mit diesem Problem umzugehen, war, Abbruchkriterien für die nachsichtige Interpretation fraglicher Textstellen anzugeben. Der Interpret hat zunächst davon auszugehen, dass Abweichungen beispielsweise von der Kohärenzpräsumtion als Übereinstimmungen mit der Kohärenzpräsumtion auf einer höheren Ebene erklärt werden können. Dies muss allerdings nicht immer der Fall sein. Sollte im Rahmen eines Interpretationsprozesses, in dem der Interpret seine anfänglich defiziente, sozusagen präsumtionsbedürftige epistemische Situation verlässt, nicht plausibel möglich sein, eine höherstufige Unterstellungskonformität zu plausibilisieren, kann der Interpret von der tatsächlichen Defizienz der fraglichen Stelle ausgehen. Wieviel herme-

6 Schluss

271

neutischen Aufwand der Interpret im Einzelfall zu investieren hat, oder, in anderen Worten, ab wann genau davon gesprochen werden kann, dass es plausibel möglich ist, Defizienz auf Seiten des Interpretandums – und eben nicht auf Seiten des Interpreten – anzunehmen, ist nicht durch eine formale Theorie zu klären, sondern in einzelfallspezifischer Abwägung zu entscheiden. Für diese Frage hat sich der Hermeneut nicht auf einen mechanischen Algorithmus zu verlassen, sondern auf seine Urteilskraft. Dass diese Rückbindung von Defizienzzuschreibungen an die Urteilkraft des Interpreten nicht mit subjektiver Beliebigkeit zusammenfällt, habe ich anhand von drei Beispielen zu zeigen versucht (4.2.2.1, 4.2.2.2 und 4.2.2.3). Die dort getroffenen Entscheidungen, Abweichungen von präsumtiv unterstellten Inhalten interpretativ zu erklären bzw. als interpretationsirrelevant und damit als Defizienz des Textes einzustufen, verstehen sich als argumentativ fundierte Entscheidungen, die dem Anspruch nach besser begründet sind als ihre Gegenpositionen. Ein Ausblickskapitel versuchte abschließend diese Erkenntnisse in den weiteren Rahmen einer Theorie zu rücken, die die Stuktur bzw. den Verlauf von Interpretationsprozessen genauer beschreibt. Nachdem ein kurzer Blick auf das hierfür traditionell vorgeschlagene Modell des hermeneutischen Zirkels einige latente Probleme mit wissenschaftstheoretischen Adäquatheitsbedingungen offenbarte, habe ich mich dazu entschieden, die Methode des Überlegungsgleichgewichts als Alternativmodell zu thematisieren. Diese Entscheidung – und damit wären wir bei über diese Untersuchung hinausführenden Aufgaben angelangt – war interpretationstheoretisch nicht zwingend. Nach meiner Einschätzung ließe sich das Zirkelmodell durch weitere Ausarbeitung möglicherweise so weit konkretisieren, dass eine darauf aufbauende Beschreibung der Struktur interpretativer Prozesse durchaus sinnvoll wäre. Die Methode des Überlegungsgleichgewichts wurde bislang im Rahmen der Interpretationstheorie aber kaum wahrgenommen, weswegen es mir sinnvoll erschien, zumindest tentativ ihr methodologisches Potential zu durchleuchten. An diesen Punkten besteht offensichtlicher Bedarf an vertiefterer Forschung, gerade aus Sicht der Literaturwissenschaft. Als Ausgangspunkt für weiterführende hermeneutische Untersuchungen kann die Erkenntnis dienen, dass sich das hermeneutische Billigkeitsprinzip in dem oben erarbeiteten Zuschnitt als methodologische Grundlage auch für die philologische Interpretation erweist.

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Personenregister In das Register wurden alle Personennamen aus dem Haupttext und den Fußnoten aufgenommen, sofern diese nicht nur zum Zweck eines Zitatnachweises genannt sind. Abel, Günther 5 Aristoteles 80, 96, 109 Ast, Georg Anton Friedrich 232 Austen, Jane 104 Austin, John Langshaw 75 Ball, Hugo 135 Balzac, Honoré de 102 Bartelborth, Thomas 120, 121 Baumgarten, Alexander Gottlieb 3, 4 Beckett, Samuel 64, 65, 67, 139 Beißner, Friedrich 223 Bernhard, Thomas VI, VII, 173, 198 – 202, 204, 205, 210, 211, 215, 216, 253, 254 Betti, Emilio 118 Bloom, Alfred 56, 57 Bloom, Harold 76 Bloor, David 55 – 57 Bodmer, Pascal 110 Bolten, Jürgen 230 Bolzano, Bernard 4, 82 BonJour, Laurence 121, 122 Brandom, Robert 128 Brandt, Reinhard 70, 71 Brecht, Bertolt 101, 221, 222, 224 Brun, Georg 238, 249, 258 Budd, Malcolm 150, 163 – 169, 180 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 128 Byron, George Gordon 265 – 267 Caesar, Gaius Julius 40 – 42 Campbell, Joseph 138, 139 Capote, Truman 95 Carnap, Rudolf 4 Carroll, Noel 212 – 214 Christie, Agatha 172 – 174, 176 Cixous, Hélène 138 Clauberg, Johannes 2, 4 Colet, Louise 108 Crusius, Christian August 4, 118

Damerau, Burghard 109, 112 Daniels, Norman 252 Danneberg, Lutz 96, 99, 151 – 153, 232, 246, 247, 256, 257 Dannhauer, Johann Conrad 2, 4 Davidson, Donald V, 3 – 5, 16, 17, 19 – 38, 44, 47 – 52, 54, 58, 59, 63, 68, 72 – 74, 77, 81, 82, 84 – 86, 90, 119, 120, 125, 127, 128, 137, 183, 186, 187, 217, 225, 226 Davies, Stephen 14, 155, 157, 159, 171, 174, 176 – 178, 181 Defoe, Daniel 160 Deleuze, Gilles 138 Dennett, Daniel 4 Derrida, Jacques 75, 76, 138 Detel, Wolfgang 11 Devitt, Michael 82 Dewey, John 4 Dickens, Charles 267 Diderot, Denis 128 Donovan, Robert Alan 160, 161 Dostojevskij, Fjodor Michailowitsch 104, 167 Duchamp, Marcel 150, 223 Dworkin, Ronald 155, 171 – 174, 176, 177 Eckermann, Johann Peter 100 Einstein, Carl 112 Elgin, Catherine VII, 238, 239, 242, 243, 248 – 263, 267 Eliot, George 92, 101, 102 Euripides 101 Evans-Pritchard, Edward 55, 56 Fellinger, Raimund 210, 211 Feyerabend, Paul 46 Fitzgerald, F. Scott 11 Flaubert, Gustave 108, 109 Foley, Richard 121 Føllesdal, Dagfinn 52, 85 – 88, 91, 265 – 267

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Personenregister

Foucault, Michel 125 – 128, 130 Frank, Anne 95 Frege, Gottlob 4, 81, 93 – 95, 97 Gabbey, Alan 129 – 131 Gadamer, Hans-Georg 3, 4, 83 Geiger, Theodor 113 Glock, Hans-Johan 34, 85 Godard, Jean-Luc 213 Goethe, Johan Wolfgang von 100, 103, 224 Golding, William 196, 197, 200 Goldman, Alan 104, 105, 151, 155, 159, 171, 176, 177, 214 Goodman, Nelson VII, 99, 237 – 239, 242 – 249, 259, 260 Gottfried von Bouillon 111, 112 Gould, Glenn 205, 207, 209, 210 Grandy, Richard 4, 36, 37, 52, 87, 88, 91 Grass, Günter 92 Green, Julien 111 Grice, Paul 83, 148, 191 Haakonsen, Daniel 265 – 267 Habermas, Jürgen 132 Hacking, Ian 14, 46 – 48 Hahn, Susanne 243, 260 Handke, Peter 222, 223 Heidegger, Martin 3, 5, 20, 22, 233, 236 Hemingway, Ernest 95 Hesiod 95, 96 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 66 Hölderlin, Friedrich 233 – 235 Holz, Arno 108 Homer 93 Huemer, Wolfgang 196, 197 Ibsen, Henrik VII, 264 – 267 Ingarden, Roman 107 Iser, Wolfgang 148 Jahraus, Oliver 103 James, Henry 153, 173, 175 – 177, 180, 182, 213, 214 Jannidis, Fotis 71, 148, 184, 190 – 194, 197 Japp, Uwe 118, 125, 127, 128, 133, 147, 148 Jean Paul 110 Joyce, James VI, 68, 135, 137 – 141, 146, 147

Kafka, Franz VI, 12, 13, 23, 26, 27, 72, 73, 103, 134 – 137, 146, 147, 154, 220, 261 – 264 Kayser, Wolfgang 154 Kent, Thomas 187 Klawitter, Arne 119 Kohlenbach, Margarete 201, 204 Kristeva, Julia 138 Künne, Wolfgang 30, 225, 226 Lacan, Jacques 138 Lamarque, Peter 100, 102 – 104, 109, 156, 157, 160, 161, 169, 179, 180, 267 Lambert, Johann Heinrich 4, 82 Levinson, Jerrold 151, 182 Lewis, David 34, 52, 88, 89, 125 Linke, Angelika 124 Linné, Carl von 128 Lueken, Gert-Lueke 46, 47 Lyotard, Jean-François 53 – 55, 58 Macauley, Thomas Babington 48 MacCabe, Colin 47 Magny, Constantin 110 Mahon, Peter 139 Mailer, Norman 95 Maingueneau, Dominique 135 – 137 Mallarmé, Stéphane 134, 135, 178 Marquardt, Eva 205 – 209 Martínez, Matías 223 McGinn, Colin 31, 74, 75 McHugh, Roland 138 Meier, Georg Friedrich V, 3, 4, 39, 42 – 44, 61, 78, 82 Meinong, Alexius 142 Milton, John 109, 110 Mittermayer, Manfred 210 Moore, George Edward 81 Müller, Hans-Harald 232 Müller-Vollmer, Kurt 5 Murdoch, Iris 98 Nietzsche, Friedrich 15 Nitsch, Hermann 150 Nolan, Daniel 144 Nordin, Svante 221 Nussbaumer, Markus 124

Personenregister

Obama, Barack 41, 42, 81 Olsen, Stein Haugom 100, 102, 103, 180 Ostheimer, Michael 119 Petersen, Jürgen 198 Platon 1, 64, 93, 95, 97 Poe, Edgar Allan 101, 102 Poppenberg, Gerhard 106 Portmann, Paul 124 Priest, Graham VI, 142 – 147 Putnam, Hilary 255, 256 Quine, Willard van Orman 4, 50 – 52, 64, 73, 773 81, 82, 86, 88, 90, 183, 186, 217 Rabelais, François 1 – 3, 139 Rabinowitz, Peter 188 Ramberg, Bjørn 35, 36, 90 Rawls, John VII, 237 – 245, 247, 249, 250, 259, 260 Reicher, Maria 98, 99 Richards, Ivor Armstrong 106, 110, 113 Rimbaud, Arthur 134, 135 Riou, Édouard 91 Robinson, Henry Morton 138, 139 Rott, Hans 44, 55, 57 Russel, Bertrand 81 Schleiermacher, Friedrich 5, 6, 226 Scholz, Oliver Robert 10, 12, 62, 64, 65, 67, 68, 83, 217 – 220, 223 Schwarzkogler, Rudolf 150 Searle, John 97 – 100 Seide, Ansgar 119 Selkirk, Alexander 111 Shakespeare, William 101, 111, 169 Sokrates 1, 93 Sontag, Susan 15, 15, 69 Spoerhase, Carlos 16, 32, 51, 61, 64, 65, 70, 96, 99, 149, 186, 187, 215 – 220, 223 Spree, Axel 5

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Staël, Anne Louise Germaine de 110 Staiger, Emil 152, 153 Stecker, Robert 13, 14, 151, 158 – 163, 167 – 170, 179, 180, 184, 270 Stegmüller, Wolfgang 231, 232 Sterelny, Kim 82 Stolnitz, Jerome 104 Swift, Jonathan 220, 221, 224 Sylvan, Richard VI, 142, 143, 145 Szondi, Peter 228, 233 – 235 Tarski, Alfred 23, 28, 81, 82 Tasso, Torquato 111, 112 Tepe, Peter 69, 148, 221, 223 Thoma, Ludwig 9 Thomasius, Christian 4 Titzmann, Michael 134, 135, 187 – 190, 192, 194 – 197, 206, 211, 226 Trakl, Georg 134, 135 Trelawney, Edward John 265 Ullmann-Margalit, Edna 64 Urbich, Jan 106 Verne, Jules 91, 92 Vico, Giambattista 111, 112, 141 Voltaire 110 Weidlé, Wladimir 112 Weimar, Klaus 6 Weise, Christian 2, 4 Williamson, Timothy 52, 89, 90 Wilson, Neil V, 4, 28, 39 – 42, 44, 78, 82 Wittgenstein, Ludwig 231 Wolff, Christian 4 Wolff, Siegfried 12, 13, 73 Wood, Edward VII, 173, 198, 212 – 216, 262 Wordsworth, William 101 Zola, Émile 102, 103, 107, 108 Zymner, Rüdiger 13

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im August 2013 an der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Für die von der DFG finanzierte Drucklegung wurde sie geringfügig gekürzt. Ihre Entstehung hat eine Reihe von Personen und Institutionen begleitet, denen ich meinen Dank aussprechen möchte. Zuallererst danke ich Jürgen Daiber und Hans Rott für die Übernahme des Erstrespektive Zweitgutachtens. Beide hatten immer ein offenes Ohr auch für literaturtheoretisch irrelevante Fragen. Ihre unnachgiebige Präzision im Denken hat außerdem – so hoffe ich – jedem Versuch, es sich vielleicht doch im Ungefähren bequem zu machen, einen Riegel vorgeschoben. Ursula Regener, an deren Lehrstuhl ich während der Promotion arbeiten konnte, hat dankenswerterweise ein Drittgutachten verfasst. Hilfreiche Fingerzeige zu einzelnen Aspekten habe ich erhalten von Oliver R. Scholz, Carlos Spoerhase und den Mitarbeitern des DFG-Projekts Wissen und Bedeutung in der Literatur. Besonders wertvoll waren die Hinweise von Rainer Barbey, Georg Brun, Benjamin Gittel und Eva-Maria Konrad, mit denen ich zum Teil ausführlichere Passagen der Dissertation diskutieren konnte. Lutz Danneberg danke ich für die Aufnahme in die Reihe Historia Hermeneutica. Bei De Gruyter waren Jacob Klingner, Maria Zucker und Angelika Hermann hilfsbereite Ansprechpartner. Charlotte Neubert und Christina Spichtinger waren mir bei verschiedenen Recherchen und bei der redaktionellen Überarbeitung des Manuskripts eine große Hilfe. Regensburg 2014

Thomas Petraschka