Aufklärung, Band 8/2: Hermeneutik der Aufklärung 9783787334896, 9783787341849

Gegenstand des Jahrbuches Aufklärung« ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedank

99 34 22MB

German Pages 128 [129] Year 1995

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Aufklärung, Band 8/2: Hermeneutik der Aufklärung
 9783787334896, 9783787341849

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske, Rudolf Vierhaus

Jahrgang 8, Heft 2, 1993

Thema: Hermeneutik der Aufklärung Herausgegeben von Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1994. ISBN 978-3-7873-1187-3· ISBN eBook 978-3-7873-3489-6 · ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 1994. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.  www.meiner.de/aufklaerung

INHALT

Einleitung Axel Bühler, Luigi Cataldi Madonna: Hermeneutik der Aufklärung .. „ ... „......

3

Abhandlungen Oliver R. Scholz: Der Niederschlag der allgemeinen Hermeneutik in Nachschlagewerken des 17. und 18. Jahrhundens . „ „ „ „ „ „ . „ „ „ „ „ . „ „ „ . „ „ „ „ „ „ „ „ „ . „ .

7

Lutz Danneberg: Probabilitas henneneutica. Zu einem Aspekt der InterpretationsMethodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundens „ „ „ „ „ „ „ . „ •. „ . „ „ „ „ .

27

Axel Bühler, Luigi Cataldi Madonna: Von Thomasius bis Sernler. Entwicklungslinien der Hermeneutik in Halle „ .. „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ .. „ „ „ „ „ . „ „ „ ... „ .. „ „ . „

49

Luigi Marino: Der "Geist der Auslegung". Aspekte der Göttinger Hermeneutik (am Beispiel Eichhorns) ... „ . „ „ „ „ „ „ ... „ ... „ . „ „ . „ „ .. „ . „ . „ „ . „ „ „ „ „ „ . „ „ ... „ „ . .

71

K urzbiographie Axel Bühler: Georg Friedrich Meier ( 1718- 1777)

91

Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Nützliche Künste. Kultur- und Sozialgeschichte der Technik im 18. Jahrhundert. Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts vom 17. bis 19. November 1993 in der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel „ „ „ . „ „ „ „ „ „ „ „ . „ „ . „ „ „ .• „ „ „ .. „ „ „ . „ „ . „ „ „ „ . „ .. „ .. „ . „ „ .

93

Rezensionen über Claus Altmayer (K. Petrus), Petra Blödom (K. Gerteis), Claudia Cesa, Norben Hinske (R. Theis), Luca Fonnesu (B. Bianco), Thomas Kempf (R. Wild), Martin Pott (H. Mani), Günter Schenk (R. Pozzo), Werner Troßbach (R. Beickle), Followard Wendland (W. Weber) „ . „ „ „ . „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ . „ „ „ „

99

AUFKLÄRUNG ISSN 0178-7128, Jahrgang 8, Heft 2 , 1993. ISBN 3-7873-1187-4 lnterdisziplinlre Halbjahresschrift zur Erforschu.ng des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Günter Binsch, Karl Eibl, Klaus Geneis. Norbert Hinske, Rudolf Vierbaus. - Redaktion: Prof. Dr. Klaus Geneis, Universität Trier, Fachbereich III - Neuere Geschichte, 54286 Trier, Telefon (06SI) 201 -2200 O Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1994. Printcd in Gennany . - Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. - Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenun des Urhcbcrrcchtsgesc!Ze$ ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vcrviclfiltigungcn , Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

EINLEITUNG

AXEL BÜHLER , LUIGI CATALDI MADONNA

Hermeneutik der Aufklärung

Ein zentrales Thema der Aufklärung war das Selbstdenken. Dabei ging es nicht allein darum, eigene Einsichten in theoretische Begründungszusammenhänge zu gewinnen, sondern auch um den Rückgriff auf verschiedene Traditionen und die Kritik an ihnen. Wie bedeutsam gerade der Rückgriff auf die Tradition war, können wir zum Beispiel aus den Scholien in Christian Wolffs lateinischen Werken ersehen, in denen die eigene Position zumeist in einer Gegenüberstellung mit traditionellen Auffassungen erklärt wird. Selbstdenken in diesem Sinne führte nun auch zu Reflexionen, die allgemein die Möglichkeit der Rezeption und Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen Traditionen betrafen, noch allgemeiner die Grundlagen des zwischenmenschlichen Kommunizierens. Aus diesem Grunde mußte die Hermeneutik - das heißt Theorie und Methodenlehre des Auslegens von Rede und Text- ein zentraler Untersuchungsgegenstand des Denkens der Aufklärung werden. In der Tat wurde im 18. Jahrhundert die Entwicklung der Hermeneutik in verschiedene Richtungen vorangetrieben. So wurde in dieser Zeit die Zielvorstellung des historisch-kritischen Herangehens an die Tradition klar formuliert. Texte seien aus der Situation heraus zu verstehen, in der sich ihre Produzenten befanden, unter Berücksichtigung der Absichten dieser Personen, auf ihre Zeitgenossen in mannigfacher Weise einzuwirken. Auslegungen könnten nur dann methodisch kontrollierbar sein, wenn diese historische Bedingtheit ihrer Hervorbringung ständig beachtet wird. Zum anderen wurde die Universalität der Prozesse des Auslegens und Verstehens betont, und dabei wurde versucht, das Ideal der mathematischen Wissensorganisation des klassischen Rationalismus auch auf die Methodenlehre der Auslegung auszudehnen. In diesem Zusammenhang zielte man darauf ab, die rationale Grundlage allen Interpretierens freizulegen , unabhängig von den einzelnen Disziplinen, in denen es ausgeübt wird. Diese Entwicklungen fanden aber nicht in einem theoretischen Freiraum statt, sondern wurden in der Erkenntnistheorie und der Metaphysik verankert. So entstanden theoretisch reflektierte, philosophisch begründete Konzeptionen zur Methodenlehre des Auslegens von Rede und Text. Deswegen erscheint die Behauptung voll gerechtfertigt, daß bereits die Aufklärung über eine 'philosophische' Hermeneutik verfügte. Die Geschichtsschreibung der Hermeneutik hat die Hermeneutik der Aufklärung bislang stark vernachlässigt, und deswegen konnten auch viele unzutreffende Urteile über sie gefällt werden. So hat sich unter dem Einfluß von Schlei-

Aufklärung 8/2

C Felix Meiner Verlag, 1994, ISSN 0178-7128

4

Axel Bühler, Luigi Cataldi Madonna

ermachers Selbstdarstellung und von Diltheys Schriften zur Geschichte der Hermeneutik die Meinung verfestigt, daß erst Schleiermacher eine universelle Hermeneutik von philosophischem Interesse ausgearbeitet hätte. Gadamer hat etwa die Hermeneutiken der Aufklärung zur „ Vorgeschichte der romantischen Hermeneutik" gerechnet, die ihrerseits zur „Ausbildung einer Wissenschaft der Hermeneutik" durch Schleiermacher geführt habe. 1 Eine Beschäftigung mit Hermeneutiken der Aufklärung macht aber deutlich, daß diese historische Einschätzung revidiert werden muß. Denn einer der Grundzüge der Hermeneutiken der Aufklärung war- wie eben angedeutet wurde - gerade ihre Universalität, aufgrund derer wir ihnen durchaus Wissenschaftscharakter zusprechen können. Hermeneutiken der Aufklärung wird außerdem gerne vorgeworfen, sie seien formal und schematisch.2 Eine nähere Betrachtung erweist, daß auch dieses Urteil unhaltbar ist. Obzwar durchaus systematischen Charakters, waren die in der Zeit der Aufklärung üblichen Regelhermeneutiken durchweg mit der rechten Berücksichtigung der Individualität des Gegenstands der Interpretation wie auch mit Flexibilität in der Anwendung verbunden. Wenn wir nun allmählich ein korrekteres Bild von der Hermeneutik der Aufklärung erhalten, werden wir uns fragen müssen, wie Schleiermachers ungerechtfertigte Selbstdarstellung über~aupt möglich wurde. Und wir werden mit dem bislang noch völlig ungeklärten Problem konfrontiert, begreiflich zu machen, wie es im späteren 18. Jahrhundert zum allmählichen Auslöschen der hermeneutischen Tradition der Aufklärung kommen konnte. Eine Revision des historischen Urteils über die Geschichte der Hermeneutik sollte möglicherweise auch mit Überlegungen über die heutige Situation der Hermeneutik verbunden werden. So wäre zu überprüfen, welche in Hermeoeutiken der Aufklärung formulierten Ideen auch weiterhin als tragfähige Problemlösungen gelten könnten, welche Ideen dagegen wegen eines verfehlten Ansatzes oder einer zu geringen Problemlösungskraft zurückzuweisen sind. Dies könnte mit einer Rückbesinnung auf wichtige Positionen der Aufklärungshermeneutik verbunden sein: auf ihr Ideal historischer Objektivität, auf die Rolle der Autorintention für die Ziele der Interpretation, auf die Einordnung des hermeneutischen Problems in die allgemeine Problematik des Zeichenverstehens. Ebenso sind Beziehungen genauer zu untersuchen, die zwischen der Aufklärungshermeneutik und modernen sprachphilosophischen Konzeptionen - vor allem innerhalb der analytischen Philosophie - vorliegen. Zum einen erstaunen etwa die Parallelen, die zwischen dem in der Aufklärung so wichtigen Billigkeitsprinzip und dem von Quine und Davidson verfochtenen „principle of charity" bestehen. 3 Auffallend sind zum anderen auch Ähnlichkeiten zwischen der Analyse der Texthervorbringung als zielgerichteter Aktivität etwa bei Wolff und Meier und Gedan-

1 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (11960), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1986, 177 und 182. 2 Den Formalismusvorwurf macht etwa Joachim Wach, Das Verstehen, 3 Bde., Tübingen 1926- 1933 [Nachdruck: Hildesheim 1966), Bd. l, 16f. 3 Willard Van Orman Quine, Word and Object, Cambridge (Mass.) 1960, Kap. II; Donald Davidson, Truth and Interpretation, Oi1ford 1984.

Henneneutik der Aufklärung

5

ken über Sprechen als rationales Handeln insbesondere bei Grice. 4 Dies weist darauf hin, daß die Hermeneutik der Aufklärung heute noch über ein beträchtliches Problemlösungspotential verfügt. Daß dabei die Berührungspunkte zwischen Henneneutiken der Aufklärung und zeitgenössischen Ausrichtungen wie der sogenannten Philosophischen Hermeneutik oder dem Dekonstruktionismus eher gering sind, spricht vielleicht nicht gegen die Hermeneutiken der Aufldärung, sondern eher gegen diese in unserem Jahrhundert ersonnenen Positionen.

4 Paul Grice, Studies in the Ways of Words, Cambridge (Mass.) u. London 1988, vor allem Teil I.

ABHANDLUNGEN

OLIVER R. SCHOLZ

Der Niederschlag der allgemeinen Hermeneutik in Nachschlagewerken des 17. und 18. Jahrhunderts*

!. Einleitung Von der ersten Hälfte des 17. bis in den zweiten Teil des 18. Jahrhunderts war ein philosophisches Projekt lebendig, welches, in unterschiedlichen Gestalten und unter mehr als einer Bezeichnung („hermeneutica generalis", „hermeneutica universalis", „hermeneutica profana", „ars interpretandi" , „Auslege-Kunst", „Auslegungskunst", „allgemeine/philosophische Auslegungskunst", „Auslegungswissenschaft", „Erklärungskunst"), bei allen kleinen und großen Differenzen, eine Art sachlichen oder wenigstens geschichtlichen Zusammenhang bildet, bevor es in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts weitgehend zerfällt und in Vergessenheit gerät. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebt es - möglicherweise aber auch etwas anderes - unter einem dieser Titel, nämlich „(allgemeine) Hermeneutik", bei Schleiermacher und anderen wieder auf - und zwar inszeniert mit einer " E~tmaligkeits-Emphase" 1 , über die man sich rückblickend nur wundern kann. Die Anstrengungen zugunsten einer allgemeinen Hermeneutik, die ihren Ursprung wohl im Aristotelismus hatten, erfaßten nach und nach auch die anderen Schulen und „Sekten", wobei sich die Vorstellungen von dem Projekt wandelten und unterschiedliche Paradigmen einer hermeneutica generalis oder universalis aufkamen. Es spricht vieles dafür, daß die späteren Gestalten kaum je wieder die „Höhenlage" 2 erreichten, auf der das erste durch Johann Conrad • Eine erste Fassung wurde im Juni 1992 im Rahmen der von Aitel Bühler geleiteten Tagung der Aufklärung" in Mannheim vorgetragen. Für hilfreiche Hinweise danke ich den Teilnehmern dieser Konferenz, insbesondere Hans Werner Arndt, Aitel Bühler, Luigi Cataldi Madonna, Lutz Danneberg, Gottfried Hornig und ganz besonders H. -E. Hasso Jaeger. t So Hübeners treffender Ausdruck; vgl. Wolfgang Hübener, Schleiermacher und die hermeneutische Tradition, in: Kurt-Victor Seige (Hg.), Internationaler ScbJeiermacher-Kongreß Berlin 1984 (= Schleiermacher-Archiv l), Berlin-New York 1985, 561-574, hier: 565. 2 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974), 35-84, hier: 51. Für die hier nur anzudeutenden Hintergründe der hermeneutica Dannhauers verweise ich auf Jaegers bahnbrechende Studie. Vgl. jetzt auch Werner Alennder, Hermeneutica Generalis, Stuttgart 1993, 46-122. Zur Frühgeschichte der Auslegungskunst vgl. auch die materialreichen Einleitungen von Lutz Geldsetzer in den von ihm besorgten Nachdrucken hermeneutischer Klassiker: Series Hermeneutica , 1- V, in: ders . (Hg.), Instrumenta Phi~Hermeneutik

Aufklärung 8/2

Cl Fefü Meiner Verlag , 1994, ISSN 0178-7128

8

Oliver R . Scholz

Dannhauer (1603 - 1666) und sein Umfeld inaugurierte Muster einer „Hermeneutica" angesiedelt war. Offenkundig konnten in den nachfolgenden Generationen Status und Hintergründe der Dannhauerschen Hermeneutik - soweit die 'ldea boni interpretis' von 1630 (die immerhin 1670 eine fünfte Auflage erlebte) überhaupt noch sorgfältig studiert wurde - nur noch von wenigen erfaßt werden. Eine entscheidende Rolle für die weitere Entwicklung dürfte der Umstand gespielt haben, daß viele Gelehrte des ausgehenden 17. und dann des 18. Jahrhunderts zuerst durch die 1654 erschienene 'Logica vetus et nova' von Johannes Clauberg (1622-1665) auf Terminus und Projekt einer außerbiblischen, der Untersuchung des wahren Sinnes in jeglicher dunklen Rede gewidmeten „Hermeneutica" aufmerksam wurden. Nun lehnt sich Clauberg zwar eng an den Entwurf des von ihm hochgeschätzten Dannhauer an; wegen des Schulbuchcharakters unterblieb die Quellenangabe jedoch.3 Besserunterrichtete Gelehrte sahen die Verbindung zwar noch ohne weiteres; für viele andere war der Zugang zu dem wirklichen Ursprung der frühneuzeitlichen Hermeneutik jedoch bereits verstellt. So mag auf manchen Gelehrten, der bereits von Dannhauers Entwurf und dessen Quellen abgeschnitten war, bloß noch eine unscharf umrissene Idee von einer „Hermeneutica" genannten Kunst beziehungsweise Wissenschaft gekommen sein, die es· mit der Erkenntnis des Sinns dunkler Reden und Schriften zu tun hat. Wer keinen Zugang mehr zu den Begründungen hatte, die Dannhauer für die Zugehörigkeit der hermeneutica generalis zur Philosophie und insbesondere zur Logik gab, und wer nicht mehr wußte, wie dieser das Verhältnis seiner Hermeneutik zu der aristotelischen Schrift 'Peri hermeneias' ('de interpretatione') bestimmt hatte, sah sich genötigt, sich eine eigene Antwort auf diese kaum abzuweisenden Fragen zurechtzulegen (beziehungsweise dafür an andere Traditionen anzuknüpfen). Obwohl die von Dannhauer konzipierte „Hermeneutica" - wie angedeutet mehrfach „Rezeptionsunfällen" zum Opfer fiel, konnte diese eigentlich mißliche Lage in glücklichen Fällen auch fruchtbar sein. Gerade weil die Idee einer allgemeinen Hermeneutik im Barock und in der Aufklärung auf breitestes (und sicher auch aus heterogenen Motiven gespeistes) Interesse stieß, gleichzeitig jedoch die Einzelheiten des Dannhauerschen Entwurfs bald nur noch wenigen losophica, Düsseldorf 1965 - 1971 . Hauptergebnisse seiner Forschungen zur Hermeneutik und ihrer Geschichte hat Geldsetzer zusammengefaßt in: ders ., Che cos ·~ 1'ermeneutica?, in: Rivista di Filo· sofia Neo-Scolastica 75 (1983), 594-622; sowie ders ., Hermeneutik, in: Helmut Seiffert, Gerard Radnitzky (Hg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, 127-138. 3 Vgl. Johannes Clauberg, Logica vetus et nova, Amsterdam 1654, 75. Die Hermeneutik wird im dritten Teil von Claubergs Logik abgehandelt, vgl. auch die 'Prolegomena' . Auf den Einfluß Claubergs auf die weitere Hermeneutikgeschichte haben JosefBohatec , Die cartesianische Scholastik in der Philosophie und reformierten Dogmatik des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1912, 93 f.; Wilhelm Risse, Die Logik der Neuzeit , Bd. 2: 1640-1780, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 62; Jaeger, Studien (wie Anm. 2). 75; Manfred Beetz, Nachgeholte Hermeneutik. Zum Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981 ), 591 - 628; Hübener, Schleiermacher (wie Anm. 1), 564 und einige andere hingewiesen. Eine detaillierte Würdigung findet sich jetzt bei Alexander, Hermeneutica Generalis (wie Anm. 2), 46-122. Lutz Danneberg und Werner Alexander bereiten jetzt eine Übersetzung des der Hermeneutik gewidmeten Teils der 'Logica vetus et nova' vor.

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

9

Eingeweihten bekannt waren, konnte sich eine Vielzahl alternativer Konzeptionen einer derartigen Disziplin herausbilden, von denen manche verdienen, in ihrer Eigenart (sowohl neben dem ursprünglichen Paradigma als auch neben den Hermeneuti.ken des 19. und 20. Jahrhunderts) erforscht zu werden. Anführen möchte ich bei dieser Gelegenheit nur zwei Projekte, die meines Erachtens bis heute große historische und zum Teil auch systematische Beachtung verdienen: (i) das Vorhaben einer allgemeinen Hermeneutik als Theorie der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit, welches sich auf Leibniz berufen kann und von Philosophen wie Andreas Rüdiger (1673-1731), Adolph Friedrich Hoffmann (1703-1741) und Christian August Crusius (17 15 -1775) bearbeitet wurde; (ii) das Projekt einer zeichentheoretischen oder semiotischen Universalhermeneutik bei Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), Georg Friedrich Meier (1718-1777) und anderen, in welchem der Grundsatz der "hermeneutischen Billigkeit" ("aequitas hermeneutica ")als Prinzip aller hermeneutischen Prinzipien eine Schlüsselstellung innehat.4 Diesen Unternehmungen kann ich mich bei dieser Gelegenheit nicht widmen. Die bisherigen Andeutungen sollen vielmehr nur den Hintergrund abgeben für eine andere, viel bescheidenere Aufgabenstellung. Anhand weniger ausgewählter Beispiele soll den Spuren nachgegangen werden, welche die eifrigen und vielfältigen universalhermeneutischen Bestrebungen in Nachschlagewerken der Zeit hinterlassen haben. Bevor ich mich dieser Quellensorte - und dabei insbesondere den Artikeln in Enzyklopädien und in philosophischen Lexika - zuwende, möchte ich kurz andeuten, welche Aufschlüsse man sich von derartigen Untersuchungen erhoffen kann. Für viele henneneutikgeschichtliche Fragen wird man sich natürlich den primären Quellen zuwenden: (1) der langen Reihe selbständiger Schriften zur henneneutica generalis beziehungsweise universalis, zu denen neben Lehrbüchern auch Vorlesungskompendien sowie zahlreiche Disputationen gehören, (2) den allgemeinhermeneutischen Kapiteln in Spezial- oder Bereichshermeneutiken, (3) entsprechenden Kapiteln in den Logiken oder Vernunftlehren, (4) hermeneutischen Abschnitten in zeichentheoretischen Schriften, (5) desgleichen in Werken zur ars critica, in Rhetoriken und Poetiken, in Übersetzungslehren, Sprachlehrwerken, Leseanleitungen und dergleichen und (6) in geschichtstheoretischen Schriften (beziehungsweise entsprechenden Abschnitten in Geschichtswerken). Warum und zu welchem Ende sollen wir bei dieser Breite und Fülle der Quellen auch noch die Spuren und Reste studieren, die sie gegebenenfalls in den Nachschlagewerken hinterlassen haben? Zunächst nützt eine derartige Spurensuche

4 Zur Lehre von der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit vgl. den Beitrag von Lutz Danneberg in diesem Heft. Zur allgemeinen Auslegungskunst bei Georg Friedrich Meier vgl. Oliver R. Scholz, • Hermeneutische Billigkeit~ - Zur philosophischen Auslegungskunst der Auflclärung, in: Beate Niemeyer, Dirk Schütze (Hg.), Philosophie der Endlichkeit (FS Erich-Christian Schröder), Würzburg 1992, 286-309; ders„ Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, in: Axel Bühler (Hg.), Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Frankfurt am Main 1994, 158-191, und die dort gemachten Angaben.

10

Oliver R. Scholz

natürlich demjenigen, der erst noch nach den Namen der Hermeneutiker und nach den Titeln ihrer Schriften sucht. (Und einer der Hauptzwecke dieser Ausführungen ist auch tatsächlich die Wiedergewinnung der Quellen der frühneuzeitlichen Hermeneutik.) Aber auch der über die primären Quellen der frühen Hermeneutik schon anderweitig unterrichtete Historiker dieser Disziplin muß sich für manche brennende historische Frage gerade den Nachschlagewerken zuwenden: Welche hermeneutischen Schriften werden tradiert? Welche davon gelten als kanonisch, als Standardwerke oder ähnliches? Welche Schriften gerieten (wann) in Vergessenheit? Welche hermeneutischen Lehrstücke und welcher Anteil der Terminologie wurden Gemeingut unter den gebildeten Ständen? Wie schwer oder wie leicht wäre es für einen Hermeneutikinteressierten des 18. oder auch des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen, sich - mit Hilfe der Nachschlagewerke des 17. und 18. Jahrhunderts - einen Einstieg, einen ersten Überblick über Lehrstücke, Terminologie etc. sowie eine Arbeitsbibliographie mit den Namen der maßgeblichen Autoren und den Titeln der wichtigsten Schriften zu verschaffen?

ll. Bibliographien und ähnliches Ich konzentriere mich - wie angekündigt - auf die Enzyklopädien und Lexika. Von kaum geringerer Bedeutung für die Hermeneutikgeschichtsschreibung sind freilich die mehr oder weniger ausführlich kommentierten Bücherlisten in den Bibliographien der Zeit sowie die wissenschaftsgeschichtlichen Überblicke und polyhistorischen Synopsen, die unter Titeln wie 'Historie der Gelahrheit' (oder ähnlich) in ansehnlicher Zahl zur Verfügung standen. Was die philosophischen Bibliographien angeht, so bot es sich an, zunächst in den großen Werken von Martin Lipenius (1630-1692) und Burkhard Gotthelf Struve (1671-1738) nachzuschlagen.s Für das ausgehende 18. Jahrhundert konnte man beispielsweise in das von Michael Hißmann (1758-1784) besorgte Verzeichnis aus dem Jahre 1778 sehen. Aus den polyhistorischen Werken und den Geschichten der Gelehrsamkeit wären nach den Polyhistoren Daniel Georg Morhof, Johann Heinrich Alsted etc. später etwa Johann Andreas Fabricius, Johann Georg Sulzer, Wilhelm Traugott Krug oder Johann Joachim Eschenburg zu konsultieren. Nach kurzen Bemerkungen zu Lipenius soll uns die Bibliographie von Struve als Hauptbeispiel dienen. Martin Lipen (Martinus Lipenius) hatte mit bewundernss Martin Lipenius, Bibliotheca realis philosophica, Frankfurt am Main 1682; Burkhard Gotthelf Struve, Bibliotheca philosophica, 5., von Ludwig Martin Kahle verbesserte und vermehrte Ausgabe, Göttingen 1740 (Nachdruck mit einem Vorwort von Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1970). Vgl. auch Johann Andreas Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit, 3 Bde., Leipzig 1752-1754, der in Bd. I, 423 die Verfasser der wichtigsten .philosophischen Bibliotheken" nennt und dabei anmerkt: .Lipenius ist noch ietzo der beste; Struv der neueste." Zuvor hatte Fabricius bereits eine nützliche Übersicht über die verfügbaren philosophischen Lexika gegeben; ebd „ 422. Zur Geschichte der philosophischen Bibliographien vgl. Michael Jasenas, A History of the Bibliography of Philosophy, Hildesheim-New York 1973.

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

11

wertem Fleiße die wissenschaftliche Literatur zu den drei oberen Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin wie auch zur Philosophie gesammelt und thematisch geordnet. In der 1682 erschienenen ' Bibliotheca Realis Philosophica' führt Lipen unter dem Titel „Interpretatio. Interpres" immerhin bereits acht Bücher an, darunter auch Dannhauers Pionierarbeit ' ldea boni interpretis' (mit den Ausgaben 1630 und 1642). Im Anschluß daran wird unter einer separaten Überschrift die Literatur über die aristotelische Schrift 'de interpretatione' aufgereiht. Die ' Bibliotheca Realis Theologica', im Jahre 1685 in Frankfurt am Main erschienen, zählt unter der Rubrik „Interpretatio Scripturae" über zwanzig Werke auf, unter denen neben den Anleitungen zur Auslegung der Heiligen Schrift auch zwei Schriften zur allgemeinen Hermeneutik wiederkehren: neben Dannbauers 'Idea' (mit der Ausgabe 1652) die bereits in der philosophischen Bibliographie genannte Abhandlung 'de interpretatione' von Huetius. Von Dannhauer wird zudem die 1654 zuerst erschienene 'Hermeneutica sacra' angeführt, welche der hermeneutica generalis nicht nur zeitlich, sondern auch logisch nachgeordnet ist. Einen an weiterführenden Hinweisen besonders reichen Abschnitt zu den hermeneutischen Schriften und Schriftstellern enthält die 'Bibliotheca philosophica' des Historikers und Polyhistors Burkhard Gotthelf Struve, der längere Zeit in Jena als Universitätsbibliothekar tätig war. Diese kommentierte Bibliographie der philosophischen Literatur erschien zuerst im Jahre 1704 und erlebte 1707, 1712 sowie 1727 weitere Auflagen. Nach Struves Ableben veranstaltete der Philosoph und Rechtsgelehrte Ludwig Martin Kahle (1712-1775) eine fünfte verbesserte, fortgeführte und vermehrte Ausgabe („emendata et continuata et aucta"). In der fünften Ausgabe ist der fünf Seiten starke § XIV 'Scriptores Hermeneutici' des vierten Kapitels ' De Scriptoribus Logicis, Metaphysicis et Hermeneuticis' den Hermeneutikern gewidmet. Die ersten zwei Seiten beschäftigen sich mit den Fragen, die durch den Titel und den Inhalt der aristotelischen Schrift 'Peri hermeneias' aufgeworfen wurden. 6 Erst nach der Nennung einiger einflußreicher Kommentare zu 'de interpretatione' wendet sich Struve den Werken der frühneuzeitlichen Hermeneutik zu. Er erwähnt zunächst die Schrift 'de ratione studendi ac legendi interpretandique auctores' von Juan Luis Vives (1492-1540), sodann von Laurentius Humfredus (=Humphrey) das Werk 'de ratione interpretandi' (1559). An dritter Stelle wird Dannhauers ' Idea boni interpretis' genannt, mit der Ausgabe 1670, das heißt der fünften Auflage des 1630 zuerst erschiene6 Zu den Ansichten über das Bedeutungsspektrum von .interpretatio" beziehungsweise .hermeneia" sind die entsprechenden Einträge in den folgenden Lexika zu vergleichen: Joannes Altenstaig, Joannes Tytz, Lexicon Theologicum, Köln 1619, 446-447, vgl. besonders: .INTERPRETATIO est duplex, [.„] Una dicitur, ex una lingua in aliam facta traductio, & ista dicitur interpretatio linguarum. Altcra dicitur alicuius obscuri & aenigmatici sennonis facta declaratio, & ista dicitur intcrpretatio sennonum. • (ebd„ 446); Rudolph Goclenius, Lexicon Philosophicum Graecum, Marburg 1615, 86-89; Johannes Micraelius, Lexicon Philosophicum Terminorum Philosophis Usitatorum, Stettin 21662; dort im dritten Absatz der Hinweis: „Interpretatio in alio sensu dicitur, cum obscurius dicta dilucidius exponimus. • (ebd„ 640); Stephanus Chauvin, Lexicon philosophicum, Leeuwarden 21713, 330.

12

Oliver R. Scholz

neo Buches. Es folgt das auch sonst ständig angeführte Opus 'de interpretatione' von Huet. Als „egregia" wird die 'Ars Critica' von Jean le Clerc (Johannes Clericus) bewertet, die bei vielen7 , die sich zur Kritik und zur Hermeneutik geäußert haben, ein hohes - vielleicht unverdient hohes - Ansehen genoß. Empfohlen werden ferner Johann Heinrich Emestis Kompendium der Profanhermeneutik sowie Johannes von Feldens Abhandlung 'de scientia interpretandi ', in welcher eine allgemeine und eine juristische Auslegungswissenschaft vereinigt sind. Hinzugefügt wird ein Hinweis auf Johann Gottlieb Meisters Dissertation 'de interpretatione' aus dem Jahre 1691. Besonders wertvoll sind schließlich die Verweise auf den dritten Teil der Logik von Clauberg sowie auf die Logik von Christian Thomasius. Für weitere logische Schriftsteller erlaubt sich Struve, auf diesbezügliche Angaben in einem früheren Werk zu verweisen. Halten wir fest, daß bereits aus den Bibliographien von Lipenius und Struve ein schönes Verzeichnis der allgemeinen Hermeneutiken des 17. Jahrhunderts (sowie etlicher Vorläufer) zu ziehen war. Der Dannhauersche Prototyp, das Werk, in dem die Konzeption einer philosophischen, als Teil der Logik gedachten hermeneutica wirklich greifbar wurde, ist bei beiden Polyhistoren genannt. Struve erfaßt mit den Logiken von Clauberg und von Thomasius überdies zwei Schriften, die zur Etablierung der allgemeinen Hermeneutik als eines eigenständigen Teils der Logik maßgeblich dürften beigetragen haben. In den philosophischen Bibliographien des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts werden die Hinweise tendenziell spärlicher. Dies dürfte zum Teil damit zu tun haben, daß sich der Charakter dieser Werke selbst wandelte; vermutlich läßt sich an diesem Schwund jedoch auch ablesen, wie die frühen Gestalten der allgemeinen Hermeneutik bereits in Vergessenheit geraten. Als Beispiel sei an dieser Stelle nur Michael Hißmanns 'Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie' aus dem Jahre 1778 kurz betrachtet. Der Paragraph 105 dieser Bibliographie ist der „Allgemeine[n] Auslegungskunst" gewidmet. Daß Hißmann, ein Schüler Johann Georg Heinrich Feders (1740-1821), eine extrem psychologistische Logikauffassung hegt, schlägt sich schon in der Zusammenfassung der „Litteratur der Psychologie oder der Logik" in einem gemeinsamen Fach nieder; in dieses fällt auch die allgemeine Hermeneutik. Wie sich in der folgenden Stelle zeigt, führt Hißmanns auch in der Bedeutungstheorie durchgehaltener Psychologismus zu einer skeptischen Haltung gegenüber den Möglichkeiten der Hermeneutik: „Ganz unmöglich und bloße Pralerey ist es, wenn man einen mittelst hermeneutischer Regeln gar in den Stand setzen will, sich völlig dieselbigen Begriffe in allen ihren Bestimmungen bey den Wörtern eines Schriftstellers zu denken, die dieser sich dabey

7 Daß es auch andere Beurteilungen gab, zeigt sich beispielsweise in der allgemeinen Hermeneutik des Johann Martin Chladenius, in welcher sich die folgende Einschätzung findet: .Scioppius hat, vielleicht zuerst, eine etwas weitläufftige Abhandlung hiervon heraus gegeben, und zugleich seiner Vorgänger Schriften mit beygefüget. Hundert Jahr darnach hat Johann Clericus eben diese Regeln in seiner Critick vorgetragen, iedoch sie mit andern Exempeln erläutert, und durch Beyfügung anderer Dinge weitläufftig gemacht.• (Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742, 251).

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

13

gedacht hat. So wenig ein Paar Menschen denselbigen Gegenstand völlig auf dieselbige Art empfinden; so wenig knüpfen ein Paar Menschen an dasselbige Wort genau denselben Begriff. " 8 An Schriften nennt er das uns schon bekannte Werk von Huetius, sodann Joachim Ehrenfried Pfeiffers 'Elementa Henneneuticae universalis' (Jena 1743) und Georg Friedrich Meiers 'Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst' (Halle 1756).

III. Philosophische Wörterbücher Eines der illustresten9 und auch am weitesten verbreiteten philosophischen Nachschlagewerke ist zweifellos das von Johann Georg Walch (1693-1775) konzipierte und herausgegebene 'Philosophische Lexicon'. Es erschien zuerst 1726. Weitere Ausgaben folgten 1733 und 1740. Im Jahre 1775 erschien das ursprünglich einbändige Werk in zwei Teilen „mit vielen Zusätzen und Artikeln vermehret und bis auf gegenwärtige Zeiten fortgesetzet, wie auch mit einer kurzen kritischen Geschichte der Philosophie aus dem Bruckerischen Werke versehen von Justus Christian Hennings". Das Lexikon befaßt sich in alphabetischer Ordnung mit den „Materien und Kunstwörtern", die in der Philosophie vorkommen; es liefert aber keine Artikel zu Personen. Allerdings brachte die zweite Ausgabe im Anhang Kurzbiographien der wichtigsten Philosophen. In der vierten Auflage tritt Hennings Auszug aus Bruckers Philosophiegeschichte an diese Stelle; überdies enthält das Lexikon ein Register der „Personen, Völker und Secten, deren besondere und vornehmste Meynungen angeführet worden". In Walchs 'Lexicon' wird man zunächst10 den Artikel 'Auslegungskunst' konsultieren, der sich bereits in der ersten Auflage fand und bis auf wenige, durch eckige Klammem gekennzeichnete Zusätze in der vierten Auflage (1775) seine Gestalt behalten hat. Er umfaßt rund neun, mit den Zusätzen knapp zehn Spalten und enthält eine Fülle wertvoller Angaben. Besonders hilfreich sind die circa zwanzig Literaturhinweise, deren Wert für den Leser, der sich eine Arbeitsbibliographie zur allgemeinen Hermeneutik zusammenstellen will, sich noch beträchtlich dadurch erhöht, daß am Schluß des Artikels auf Struves schon genanntes Verzeichnis verwiesen wird. Der Artikel beginnt mit einer Worterklärung: Die Auslegungskunst, so heißt 8 Vgl. Michael Hißmann, Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie, Göttingen u . Lemgo 1778, 196f. 9 Vgl. dazu den Walch betreffenden Artikel in Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle-Leipzig 1732-1750, hier: Bd. 52, 1747, 1108-1125, bes. 1113; sowie den Eintrag "Philosophisches Lexicon", ebd„ Bd. 27, 1741, 2137 - 2140. Über philosophische Wörterbücher unterrichtet: William Gerber, Philosophical Dictionaries and Encyclopedias, in: Paul Edwards (Hg.), The Encyclopedia of Philosophy, New York u. London 1967, Bd. 6 , 170-199. 10 Das 'Philosophische Lexicon' enthält darüber hinaus zahlreiche weitere Einträge, die von hermeneutischem und hermeneutikgeschichtlichem Interesse sind, etwa 'Bücher' , 'Consequenzmacherey' , 'Critic' , 'Dunkelheit' , 'Gelehrsamkeit', ' Parallelismus', ' Philologie' , 'Polyhistorie', 'Rede' , 'Undeutlichkeit', ' Verstand der Rede' , 'Won' , ' Zeichen', 'Zweydeutigkeit' und vor allem 'Wahrscheinlichkeit', da dort ein Unterabschnitt der .hermeneutischen Wahrscheinlichkeit" gewidmet ist.

14

Oliver R.

Scholz

es, ist „diejenige Geschicldichkeit; oder Wirkung des Verstandes, da man aus eines anderen Reden; oder Schriften dessen eigentliche Gedanken zu erforschen und zu erkennen suchet" . 11 Der weitere Aufbau des Artikels ist den deutlichen Gliederungshinweisen des Verfassers leicht zu entnehmen. Zugrunde gelegt wird zunächst die Unterscheidung zwischen einer theoretischen und einer praktischen Betrachtung der Auslegungskunst. Die theoretische geht auf das Wesen und die verschiedenen Arten der Auslegung; die praktische beschäftigt sich mit der Frage, „wie man einen guten Ausleger abgeben könne" 12, wobei ausführlich von den Mitteln zu handeln ist, derer man sich bedienen muß, um ein solcher bonus interpres zu sein. Auf den etwa zwei Spalten umfassenden theoretischen Teil und den fünf und eine halbe Spalten langen praktischen Teil folgt noch eine knappe, aber sehr aufschlußreiche Erörterung der Streitfrage „zu was vor einer Disciplin die Auslegungskunst gehöre?" 13 In diesem Zusammenhang werden etliche zeitgenössische Schriften zur Hermeneutik aufgelistet, woran sich ein kurzer Blick auf das frühere Schicksal der Hermeneutik (vor allem in der Philosophie) anschließt. In der theoretischen Betrachtung wird - genauer als in der vorausgeschickten Nominaldefinition - der Gegenstand der Hermeneutik genannt: „das Objectum, womit ein Ausleger umgehet" ist „die dunkle Rede eines andern, sie mag mündlich; oder schriftlich seyn" .14 Wie etabliert das Projekt einer allgemeinen (insbesondere außerbiblischen) Hermeneutik zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits war, zeigt sich in der vollkommenen Selbstverständlichkeit, mit welcher bei der Angabe des Gegenstandsbereichs von einer Beschränkung auf bestimmte Texte (die heilige Schrift; das Corpus Juris) oder Textgattungen abgesehen wird. Ebenso selbstverständlich ist die Einbeziehung der mündlichen Rede, welche sogar an erster Stelle genannt wird. Frühzeitig wird der Wahrscheinlichkeitscharakter von Auslegungen betont: „Wir können in der Erkänntniß des eigentlichen Verstandes es selten weiter, als auf eine Wahrscheinlichkeit bringen, indem eine dunkele Rede aus verschiedenen Umständen zugleich deutlich muß gemacht werden, woraus nur ein wahrscheinlicher Schluß erfolget, und also hier die Grundregeln einer unfehlbaren Wahrheit nicht statt haben, wiewohl sich zuweilen eine Wahrscheinlichkeit äußert, die von einer gewissen Wahrheit nicht viel unterschieden ist." 15 Der Verfasser befindet sich damit in Übereinstimmung etwa mit Christian Thomasius 16 sowie Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon, 4. Auflage in zwei Teilen, Leipzig 1775, 256. Ebd. , 258. Ebd „ 263 f. 14 Ebd. , 256; zum Begriff der .Dunkelheit" vgl. auch den Eintrag unter diesem Stichwon; siehe ferner s .v.•Rede". 1s Ebd., 257. In der Vorrede der ersten Auflage war grundsätzlich der Wahrscheinlichkeitscharakter der meisten unserer Überzeugungen betont und vor einem .pruritu demonstrandi" gewarnt worden (vgl. ebd „ Vorrede der ersten Auflage , nicht paginiert). 16 Vgl. zum Beispiel die Definition in der 'Außübung der Vernunfft-Lehre ': . Die Auslegung (interpretatio) ist hier nichts anders als eine deutliche und in wahrscheinlichen Muthmassungen gegründete Erklährung desjenigen, was ein anderer in seinen Schrifften hat verstehen wollen und welches zu verstehen etwas schwer oder dunckel ist." (Christian Thomasius, Außübung der Vernunfft-Lehre , Halle 1691 , 163f.; Kap. 3, 25). 11 12 13

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

15

mit Andreas Rüdiger und dessen Schule (Adolph Friedrich Hoffmann, Christian August Crusius, August Friedrich Müller (1684-1761]). Im restlichen Teil der theoretischen Behandlung der Auslegungskunst nennt der Autor die Haupteinteilungen der Auslegung: (1) die Trennung von "grammatischer" und "logischer" (das heißt hier: auf die Sache und deren Umstände bezogene) Auslegung; (2) die aus der Rechtsauslegung stammende Einteilung in die (2.1) authentische, die (2.2) gebräuchliche, gewohnheitsmäßige (usualis) und die (2.3) doktrinale Interpretation. Letztere zerfällt wiederum in (2.3.1) die deklarative, (2.3.2) die extensive (erweiternde) und (2.3.3) die restriktive (einschränkende) Auslegung. Als dritte Haupteinteilung wird die zwischen (3) buchstäblicher und geheimer Interpretation genannt, wobei die erstgenannte auf den unmittelbar zu erkennenden, die andere auf einen verborgenen Sinn geht. Den größten Raum nimmt die praktische Betrachtung der Auslegungskunst ein. Sie behandelt die Erfordernisse zu einem guten Ausleger in zweifacher Hinsicht: erstens in Ansehung des Verstandes und zweitens in Ansehung des Willens. Die den Willen betreffenden Voraussetzungen werden in einem Satz abgehandelt, so daß das Hauptgewicht der Ausführungen auf den Verstandeseigenschaften eines guten Auslegers liegt. Bevor die Mittel durchgegangen werden, die zu einer guten Auslegung gebraucht werden müssen, nennt der Verfasser als die grundlegenden Verstandesfähigkeiten, die bei der Interpretation anzuwenden sind: Gedächtnis, Ingenium und Iudicium. Die kurzen Bemerkungen zur Rolle von Gedächtnis, Ingenium und ludicium werfen ein Licht darauf, wie sich der Autor den Auslegungsvorgang denkt. „Das Ingenium braucht man zur Aussinnung und Erfindung allerhand Muthrnaßungen, welche nachgehends das Iudicium nach den dazu nöthigen Umständen prüfen, und daraus die wahrscheinlichste wählen muß [ ... ]" 17 Es wird betont, daß für eine gute Auslegung alles auf ein richtiges Zusammenspiel von Erfindungsgabe und Beurteilungsvermögen ankommt. Die Auslegungsmittel werden eingeteilt in (a) die philologischen, das heißt die Sprachkenntnis betreffenden, (b) die historischen, von denen der eine Teil (b. l) "den Scribenten" 18 betrifft, der andere (b.2) "die Sachen, wovon er schreibt" 19, sowie (c) die philosophischen Mittel, „und zwar die auf den Gebrauch und auf die Anwendung einer gesunden Vernunftlehre ankommen. " 20 Die größte Neugierde erwecken wohl die „philosophischen Mittel". Sie betreffen (a) „die Lehre von den Ideen" 21 , sodann (b) die „Lehre von den Propositionen, darinn ein Ausleger seinen Text resolvieren muß" 22 und schließlich (c) die „Lehre von der logischen Analysi " 23 , die auf eine ganze zusammengesetzte Rede geht. Bei den beiden letzten Punkten tritt die starke logische Orientierung der vorgetragenen Hermeneutikkonzeption deutlich zutage. 17 18 19 20 21 22 23

Walch, Philosophisches Lexicon (wie Anm. 11), 258. Ebd„ 259. Ebd., 259 und 261. Ebd., 261. Ebd., 261f. Ebd., 262. Ebd„ 263.

16

Oliver R. Scholz

Das größte Interesse für die Historiographie der Hermeneutik haben wohl die abschließenden Ausführungen, die mit den Worten anheben: „Es ist schon längst gefragt worden: zu was vor einer Disziplin die Auslegungskunst gehöre?" 24 Bei dieser Frage handelt es sich, wie das folgende zeigt, um eine Streitfrage, zu der es weit auseinander gehende Ansichten gibt. Die Einleitungsfloskel kennzeichnet sie überdies als alte und wohl notorische Streitfrage. Tatsächlich spricht der Autor des Artikels hier ein Problem an, welchem für das Schicksal der Hermeneutik - und zwar besonders der allgemeinen oder philosophischen Hermeneutik - herausragende Bedeutung zukam. Ist die Auslegungskunst eine eigenständige philosophische Wissenschaft, oder - falls dies nicht der Fall ist - welcher philosophischen Teildisziplin ist sie zuzuordnen? Oder gehört sie, wie viele meinten, überhaupt nicht in die Philosophie, sondern in außerphilosophische Disziplinen (wie etwa Grammatik, Philologie, Kritik etc.)? Der Autor bemüht sich zunächst um eine Klärung der Frage: „Sie kan aufzweyerley Weise betrachtet werden: entweder nach ihren allgemeinen Regeln an und vor sich; oder nach ihrer Application"2S. Orientiere man sich an letzterem Gesichtspunkt, so sei sie freilich der Disziplin zuzuordnen, welcher das Anwendungsobjekt zugehört. Nach der Meinung des Autors ist die entscheidende Frage jedoch die, „wohin sie nach ihren allgemeinen Grundsätzen zu bringen sey?" 26 Nachdem er die Möglichkeit erwähnt hat, sie unter die Kritik zu subsumieren, wozu nur bemerkt wird, dann würde dieses Wort in einem weiteren Sinne gebraucht, konzentriert sich der Artikelschreiber auf die Spielarten, die Auslegungskunst in die Philosophie einzugliedern. Die Einordnung der Hermeneutik in die 'Philosophia instrumentalis' bei Johann Franz Budde (1667-1729), Walchs Schwiegervater, wird zuerst genannt. Es folgt ein Hinweis auf Andreas Rüdiger, der in der Wahrscheinlichkeitslehre (die selbstverständlich zur Logik gerechnet wurde) auch von der probabilitas hermeneutica handelte. Daran schließt sich eine nicht weiter kommentierte Aufzählung von Abschnitten in Logiken beziehungsweise Vernunftlehren an. Neben schon wenig später in Vergessenheit geratenen Logiken werden die von Clauberg, von Thomasius und von Wolff (allerdings nur dessen deutsche Logik) genannt. Leider hat der Bearbeiter der vierten Auflage von 1775 nur wenig von dem ergänzt, was inzwischen auf diesem Gebiet erschienen war. Er begnügt sich mit dem pauschalen Hinweis : „Es gehören fast alle Neuere, welche eine Logik geschrieben, hieher. " 27 Immerhin nennt er in einem weiteren Zusatz Pfeiffers 'Hermeneutica universalis', deren ausführlicher Titel 'Elementa Hermeneuticae Universalis Veterum atque Recentiorum et proprias quasdam Praeceptiones complexa' lautet. Wer dieser Empfehlung folgte, konnte bei dem Eindringen in die allgemeine Hermeneutik der Zeit einen mächtigen Schritt tun. Insbesondere wäre er auf Dannhauers epochemachendes Werk gestoßen worden, auf welches PfeifEbd., 263f. Ebd., 264. Ebd. 27 Ebd.

24 2S 26

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

17

fer ständig mit präzisen Zitierungen zurückgreift. Wer allein nur die 'Prolegomena' bis zum §XI durchblätterte, fand dort Hinweise auf Budde und Wolff, deren Beiträge ja bereits bei Walch gewürdigt wurden, aber eben auch - viel wichtiger - auf Dannhauers Pionierarbeit, welche die erste eigene Abhandlung zur allgemeinen Hermeneutik sei, sowie auf Hermann von der Hardts 'Elementa exegeseos universalis', Johann Georg zur Lindens 'Ratio Meditationes Hermeneuticae' und schließlich sogar schon auf die erst kurz zuvor erschienene Auslegungskunst von Johann Martin Chladenius. 28 Halten wir fest, daß allein vom Artikel •Auslegungskunst' aus zwei Wege direkt zu Dannhauers 'ldea' (und den anderen frühen Hermeneutiken) führen: zunächst der Verweis auf Struves Bibliographie, sodann der 1775 hinzugekommene Rat: "Pfeifer seine Hermeneutica universalis ist besonders den Philosophen zu empfehlen. " 29 (Eine dritte, mittelbare, Spur ist durch die Auflistung von Claubergs Logik gelegt, in der jedoch das Vorbild nicht namentlich erwähnt ist.) In dem sich anschließenden knappen Überblick über die frühere Geschichte der Hermeneutik ist immerhin bemerkenswert, daß der Verfasser die besondere Rolle der „Logikenschreiber" sowie der Rechtsgelehrten, namentlich Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und Christian Thomasius, für die Verbesserung der Auslegungslehre hervorhebt. Wirft man einen Blick in eines der bekanntesten philosophischen Lexika des frühen 19. Jahrhunderts, Wilhelm Traugott Krugs 'Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften', zuerst erschienen in Leipzig in den Jahren 1827 bis 1829, so wird man deutliche Unterschiede feststellen. Ein eigener Artikel zur Hermeneutik oder Auslegungskunst fehlt; diese Disziplin wird unter dem nur knapp anderthalb Seiten umfassenden Eintrag 'Auslegung •30 mit abgehandelt. An Literatur werden nur noch wenige Titel genannt: Neben Aristoteles 'de interpretatione' die gleichnamige Schrift von Huetius, Pfeiffers 'elementa' sowie Meiers 'Versuch'. Interessant sind immerhin noch einige zusätzliche Bemerkungen über das Studium und die Interpretation der alten Philosophen, wobei insbesondere auf Christian Garves einflußreiche Abhandlung 'Legendorum Philosophorum Veterum praecepta nonnulla et exemplum' (Leipzig 1770) verwiesen wird. In dem Artikel über Georg Friedrich Meier wird der Zitierung von dessen allgemeiner Hermeneutik in Klammern hinzugefügt: „Ist der erste Versuch dieser

28 Vgl. Joachim Ehrenfried Pfeiffer, Elementa hermeneuticae universalis, Jena 1743, bes. Prolegomena, nicht paginiert. Die vollständigen bibliographischen Angaben zu den erwähnten Werken lauten: Hermann von der Hardt, Universalis exegeseos elementa, Helmstedt 1691, 21708; Johann Georg zur Linden, Ratio mediationis hermeneuticae, Jena u. Leipzig 1735; Chladenius, Einleitung (wie Anm. 7), Leipzig 1742. 29 Vgl. Walch, Philosophisches Lexicon (wie Anm. 11), 264. 30 Vgl. Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte, Bd. 1, Leipzig 1827, 221f.; sowie den späteren Zusatz, in: ebd., Bd. S (enthaltend die Supplemente von Abis Z und das Generalregister), Leipzig 1829, 29. (In den Jahren 1832 bis 1834 erschien eine zweite, verbesserte und vermehrte Auflage nebst zwei Bden. Suppl. 1838; in dieser Ausgabe findet sich der Artikel .Auslegung" auf S. 260 f.) Zu Krugs Einordnung der Hermeneutik vgl. auch: ders., Versuch einer systematischen Enzyklopädie der Wissenschaften, Erster Theil, Wittenberg u . Leipzig 1796, 32-36.

18

Oliver R. Scholz

Art, indem bis dahin noch niemand den Gedanken gehabt hatte, eine philosophische Theorie der Auslegung zu entwerfen oder die Henneneutik als eine besondere Wiss. systemat. zu behandeln; denn Arist. p.herm. ist keine solche. " 31 Die Erstmaligkeitsthese in bezug auf Meier trifft, wie wir inzwischen sahen, nicht zu; darüber hinaus steht sie auch in merkwürdiger Spannung zu den Angaben im Artikel "Auslegung" (dort war ja unter anderem Pfeiffers philosophische Hermeneutik genannt worden).

W. Enzykloptidien Nach den philosophischen Wörterbüchern, unter denen uns das Walchsche als Hauptbeispiel beschäftigte, sollen nun exemplarisch einige Universallexika beziehungsweise Enzyklopädien daraufhin befragt werden, in welcher Form und in welchem Maße das eingangs skizzierte Projekt einer allgemeinen Hermeneutik sich in solchen Werken niederschlug. Zwei der größten deutschsprachigen Nachschlagewerke, ein sehr bekanntes und ein fast vergessenes, werden im Vordergrund stehen; weitere Beispiele können bei dieser Gelegenheit nur beiläufig erwähnt werden. Anhand der Artikel in den Werken dieser Gattung läßt sich besser noch als anhand der philosophischen und theologischen Fachwörterbücher - vor Augen führen, daß die Idee einer hermeneutica generalis oder universalis im 18. Jahrhundert keineswegs bloß eine Okkupation weniger einzelner Gelehrter, sondern vielmehr in weiten Kreisen der gebildeten Bevölkerung bekannt und bestens etabliert war.

1. Johann Heinrich Zedlers 'Universal-Lexicon' Wenden wir uns zunächst dem 'Großen vollständigen Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste' zu, welches im Verlag Johann Heinrich Zedlers (1706-1763) erschienen ist. Bekanntlich handelt es sich um eines der umfangreichsten enzyklopädischen Werke, die je abgeschlossen wurden. Aus den zunächst geplanten zwölf Bänden wurden schließlich 64 Folio-Bände, die von 1732 bis 1750 rasch aufeinanderfolgten. (Zwischen 1751und1754 wurden vier Supplementbände hinzugefügt, die freilich nur die Buchstaben A-Caq umfaßten.) Das Zedlersche Lexikon enthält neben Artikeln zu Begriffen und Sachen in reichhaltigem Maße Einträge zu Personen; es soll die erste Enzyklopädie sein, welche Biographien lebender Personen einbezog .32 Wie Walchs 'Philosophisches Lexicon' enthält das Zedlersche 'Universal-Lexicon' einen Reichtum an Informationen über die Hermeneutik des Barock und der Aufklärung (und ihrer frühen Wirkungsgeschichte). 31 Vgl. Wilhelm Traugott Krug , Allgemeines Handwörterbuch (wie Anm. 30), Bd. 2, Leipzig 1827, 712. (In der zweiten Auflage, Leipzig 1832: Bd. 2, 823.) 32 Knappe Informationen zum 'Zedler' bei Robert Collison, Encyclopaedias: Thcir History throughout the Ages, New York-London 1964, XV und 104f.

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

19

Vorrangig soll uns der Artikel 'Hermeneutic' beschäftigen. (Unter dem Stichwort 'Auslegungs-Kunst'33 wird bereits auf einen geplanten Artikel 'Hermeneutica' verwiesen.) Eine eingehendere Untersuchung des Niederschlags der allgemeinen Auslegungskunst im 'Zedler' könnte Dutzende weiterer Einträge heranziehen. Besonders einschlägig sind die Stichwörter 'Calumnia', 'Calumniator', 'Interpretatio iuris', 'Parallelismus', 'Philologie', 'Philologische Dunckelheit', ' Verdrehung der Worte', 'Verstand' (insbesondere 'Verstand der Rede'), 'Uibersetzung' (sie!) , 'Wahrscheinlichkeit' und 'Wort-Erklärung, oder die Deutung und Auslegung der Worte'. Das 'Universal-Lexicon' bietet neben den Artikeln zur hermeneutischen Terminologie Artikel zu manchen Gelehrten, die sich um die Hermeneutik verdient gemacht haben. Für den Anfang kann man unter den Namen der hermeneutischen Schriftsteller nachsehen, die bei Lipenius, Struve und Walch vorkamen, um zu überprüfen, welche Wirkung diesen Autoren und ihren Hermeneutiken beschieden war. Der Artikel 'Hermeneutic' steht in dem zwölften Band (H-He) des monumentalen Lexikons34 ; er erschien 1735, also neun Jahre nach der ersten Auflage von Walchs Opus. Im Unterschied zu anderen Stichwörtern, bei denen die Artikel in beiden Nachschlagewerken manchmal bis in die kleinsten Einzelheiten übereinstimmen, haben die Einträge 'Auslegungskunst' (Walch) und ' Hermeneutic' (Zedler) eine völlig unterschiedliche Anlage und Ausgestaltung. Nach kurzen Bemerkungen zum "Namen", zum Wort, "Hermeneutic" geht der Autor zur Sacherörterung über. Der Ausgangspunkt ist bemerkenswert. Wie sich nach dem überraschenden Auftakt - "Die menschliche Natur ist gesellig: wenn wir glückselig leben wollen, so gebrauchen wir die Kräfte anderer" - langsam herauskristallisiert, schickt der Verfasser eine knappe Skizze einer Sprachentstehungstheorie35 (und dann auch einer Theorie der Schriftentstehung) voraus. Diese Darlegungen sollen schließlich zeigen, wie "die Ungewißheit der Sprache" entstehen mußte, clie in folgendem besteht: „der eine hat bald dieses, der andere bald jenes, bey einem Worte gedacht. "36 Nach der Ansicht des Verfassers kommt es zu dieser Sprachungewißheit, weil weder die gesprochenen und geschriebenen sprachlichen Zeichen noch "die Zusammenfassung gewisser Begriffe"37 eine notwendige Verbindung mit den Gedanken und den Sachen haben, sondern der Willkür der Menschen entspringen. Auf diese Weise glaubt der Autor gezeigt zu haben, es sei "nötig, daß man den rechten Zusammenhang derer Gedanken mit denen Worten untersuchen möge. "38 Offenbar liegt darin für ihn die wesentliche Aufgabe der Hermeneutik. Welche Plausibilität die Be-

33

Zedler, Universal-Lexicon (wie Anm. 9), Bd. 2 , 1732, 2239.

34 Ebd„ Bd. 12, 1735, 1729-1733; der Setzer hat fälschlich .Hermenraetic" geschrieben. 3S Ebd„ 1729f. Im Anschluß daran macht der Verfasser unvermittelt die Angabe .Ridiger sens. Veri et Falsi 1. 8", womit die Schrift: Andreas Rüdiger, De sensu veri et falsi, Halle 1709, 2. Auflage Leipzig 1722, gemeint sein dürfte . 36 Zedler, Universal-Lexicon (wie Anm. 34), 1730. 37 Ebd„ 1730. 38 Ebd., 1730.

20

Oliver R. Scholz

hauptungen zur Sprach- und Schriftentstehung sowie zur Entstehung der „ U ngewißheit der Sprache" auch haben mögen, die Darlegungen widerlegen einmal mehr das spätere Vorurteil, die hermeneutische Reflexion dieser Zeit sei über ein planloses Sammeln von Regeln nicht herausgekommen. Der Verfasser berichtet weiter, daß die Hermeneutik „zu der Logic, und zwar zu denen Arten der Wahrscheinlichkeit gerechnet worden" 39 ist; und er schließt sich dieser Meinung an. (Als Ausnahmen waren zuvor Titius und Budde erwähnt worden - wie schon bei Walch.) Auch der Artikel im 'Zedler' bietet eine sehr nützliche Bibliographie, wenngleich manche Namen und Titel so abgekürzt zitiert werden, daß ihre Aufschlüsselung einen gewissen Aufwand nötig macht, den man aber nicht scheuen sollte. Neben Claubergs Logik'° und den bereits von Walch her vertrauten Logiken von Thomasius und Wolff sind die von „Jo. Bair" {=Johann Bayer) und die des Rüdiger-Schülers August Friedrich Müller genannt. Der gesamte Artikel ist in seiner Anlage an der erkenntnistheoretischen Diskussion um die Gewißheit, Ungewißheit und Wahrscheinlichkeit der Ermittlung des Sinns einer Rede orientiert. Als Ausgangspunkt dient die folgende Bestimmung: „Es ist aber die hermeneutische Wahrheit eine Wahrscheinlichkeit, durch welche man, daß eine Rede oder ein Text dem Sinne seines Urhebers gemäß , diesen oder jenen Verstand habe, aus der Übereinstimmung mit den hermeneutischen Umständen schlüsset. " 41 Breiten Raum nimmt die Aufzählung einiger hermeneutischer Grundregeln42 ein, für die sich der Autor meistenteils auf die diesbezüglichen Sektionen in der 'Ars Critica' von Clericus berufen kann. Das unterstreicht die hohe Autorität dieses verbreiteten Werkes nicht nur für die Fragen der Textkritik43 , sondern auch der Hermeneutik. Erwähnenswert ist noch, daß abschließend aus Lockes 'Essay' 44 die Klage darüber zitiert wird, daß manche Ausleger - sei es: der Gesetze, sei es: der Heiligen Schrift - die zu interpretierenden Texte durch ihre Auslegungen vollends unverständlich machen. 2. Die 'Deutsche Encyclopädie' Als letztes Beispiel wollen wir kurz eine Folge von Artikeln betrachten, die (weitgehend unbeachtet) in der sogenannten 'Frankfurter Enzyklopädie', das ist: der

Ebd„ 1730. Ebd „ 1730. Auf Claubergs Logik dürfte sich die kryptische Angabe .Claus. Logic. P. II. c. 4 et 5." beziehen. Sonderbar bleibt, daß - wie bei Walch - auf das 4. und 5. Kapitel des zwei· ten Teils verwiesen wird. Dort wird die Hermeneutik zwar bereits angekündigt; die Durchführung folgt jedoch erst im dritten Teil, wie bei Struve korrekt zu lesen war. 41 Ebd. , 1730. 42 Ebd., 1731 f. 43 Vgl. auch die Artikel 'Critik' und 'Philologie' im 'Zedler' . 44 Ebd., Bd.12, 1733. Die Klage Lockes findet sich im zwölften Paragraphen des zehnten Kapi· tels des dritten Buches seines 'Essay'; vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understan· ding, hg. von Peter H. Nidditch, Oxford 1975, 496. 39

40

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

21

von 1778 an in Frankfurt erschienenen ' Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften', schlummerten und schlummern. Wegen ihrer geringeren Bekanntheit sind ausführlichere Hinweise zum Charakter dieser Enzyklopädie angebracht. Um das Bedauerlichste zuerst zu nennen: Sie blieb unvollendet. Sie erreichte nur den Buchstaben „K". Zwischen 1778 und 1804 erschienen 23 Bände; im Jahre 1807 folgte noch ein Band mit Kupferstichen. Ursprünglich sollte die 'Deutsche Encyclopädie' nur zwölf Bände umfassen. Laut der Vorrede im ersten Band wollte man ein Werk ausarbeiten, „das zwischen den größem und kürzem Werken dieser Classe in der Mitte stehet, das bey der äußersten Vollständigkeit die möglichste kleinste Masse und Ausdehnung hat. " 4 s Als durchaus anerkennenswertes Beispiel für die kürzeren Lexika nennen die Verfasser der Vorrede Johann Theodor Jablonskis 'Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften' , welches in seiner neuen, um die Hälfte vermehrten Auflage von 1748 immer noch mit zwei Bänden auskam.46 Als paradigmatisch für die größeren Werke dieser Gattung werden Chambers 'Cyclopaedia', die große französische 'Encyclopedie'47 sowie das Zedlersche 'Universal-Lexicon' genannt. Man mag es bedauern oder begrüßen, der Vorsatz, zwischen den genannten Formaten die Mitte zu halten, scheiterte; die 'Deutsche Encyclopädie' gravitierte, wie von Band zu Band deutlicher wurde, eindeutig zur Seite der „monströsen" Lexika. Zwar wurde in der 'Nachricht an das Publicum' , die dem sechsten Band vorangeschickt wurde, gegenüber den potentiellen Subskribenten nochmals das Vorhaben wiederholt, mit zwölf Bänden auszukommen. Zu diesem Zeitpunkt (1782) war dieses Ziel freilich bereits illusorisch, wie schon dem Umstand zu entnehmen war, daß dieser sechste Band die Einträge von „Coa-Dec" umfaßte. Und tatsächlich war man bei Erscheinen des zwölften Bandes (1787) noch nicht über den Buchstaben „G" hinausgelangt. Tendenziell wurde das Nachschlagewerk sogar immer ausführlicher; die Einträge zu dem letzten bearbeiteten Buchstaben „K" verteilen sich schließlich auf sechs Bände: Sie beginnen in Band 18 „Jo-Kal" (1794) und erstrecken sich bis zum Band 23 „Kre-Ky" , der 1804 erschien. Wäre das Werk in dieser Weise fortgesetzt und zum Abschluß gebracht

4S Henrich Martin Gottfried Köster, Johann Friedrich Roos (Hg.), Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, 23 Bde., Frankfun 1778-1804 (ein Kupferband, Frankfurt 1807), hier: Bd. 1, 1778, Vorrede, nicht paginiert. 46 Johann Theodor Jablonski, Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften, neue, um die Hälfte verm. , und durchgehends verb. Auflage, Königsberg u. Leipzig 1748. Das 1721 zuerst erschienene Werk enthält auch einen kurzen Artikel zur Hermeneutik: .Hermeneutica, auslegungskunst, ist die wissenschaft, so da lehret, wie man aus eines andern reden oder schrifften dessen eigent· l.icbe gedanken nach gewissen regeln erforschen soll" (ebd., 449). 47 Da dieses Faktum kaum bekannt zu sein scheint, sei der Hinweis gestattet, daß in den Supplementbänden der 'Encyclopedie' ein eigener Artikel 'HERMENEUTIQUE(ART)' erscheint; vgl. Supplement a l' EncyclopCdie, Bd. 3, Amsterdam 1777, 365 f. In dem ursprünglichen Werk mußte man einschlägige Darlegungen noch unter Stichwörtern wie 'Ecriture-Sainte', ' Interpretation', 'Jurisconsulte' etc. suchen.

22

Oliver R. Scholz

worden, so wären schätzungsweise fünfzig Folio-Bände (vielleicht auch mehr) zusammengekommen. Damit hätte es zu den umfangreichsten Enzyklopädien der Welt gehört. Die Schwierigkeiten bei der Fortführung des ehrgeizigen Projekts sind zum Teil den neuen Vorreden zu entnehmen, die einigen der späteren Bände vorangestellt sind. Das Ausufern des Umfangs war dabei nur eines der Hindernisse. Verzögerungen ergaben sich durch das Hinscheiden wichtiger Mitarbeiter. In den Bänden 18 (1794) und 19 (1796) wird das langsame Fortkommen zudem auf die Behinderungen durch die Revolutionskriege zurückgeführt. Schließlich gab es sicherlich auch Finanzierungsprobleme. Der Kern der Mitarbeiter setzte sich aus Professoren der Gießener Universität zusammen. Die Vorrede zum ersten Band wurde unterzeichnet von Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Christoph Ludwig Nebel, Johann Ludwig Friederich Diez, Andreas Böhm, Erich Christian Klevesahl sowie Henrich Martin Gottfried Köster. (Die Artikel der ersten beiden Bände wurden leider noch nicht signiert; vom dritten Band an steht am Ende der meisten Artikel eine Ziffer, mit deren Hilfe die Verfasser zu ermitteln sind, wenn man die zu Beginn des 15. Bandes abgedruckte Liste entdeckt hat, die den Ziffern die Verfassernamen zuordnet. Einige Mitarbeiter zogen es freilich vor, anonym zu bleiben.) Noch als Torso gehört die 'Deutsche Encyclopädie' zu den bedeutendsten Werken ihrer Art. Von anderer Seite wurde in jüngster Zeit auf die Bedeutung der ökonomischen und staatswissenschaftlichen sowie der technischen und naturwissenschaftlichen Artikel hingewiesen. 48 Für die Theorie der Geschichtswissenschaft sind die umfangreichen Artikelfolgen zur Historie und historischen Erkenntnis aufschlußreich. 49 Für die Philosophie und die Philosophiegeschichte sind ebenfalls zahlreiche Einträge von Interesse. Alle philosophischen Disziplinen sind durch ausführliche Artikel gewürdigt worden (leider nur bis zum Buchstaben „K"). Die philosophiehistorischen Beiträge wurden zu einem erheblichen Teil von dem bekannten Kasseler Professor und späteren Marburger Ordinarius Dietrich Tiedemann (1748-1803) verfaßt. So enthält die 'Deutsche Encyclopädie', um nur ein Beispiel herauszugreifen, im neunzehnten Band (1796) einen 46 Seiten (a zwei Spalten) umfassenden Artikel zur 'Kantischen Philosophie' aus der Feder Tiedemanns.50 Für unsere Zusammenhänge ist natürlich von besonderem Belang, welche Schriften, Lehrstücke und Begriffe der allgemeinen Hermeneutik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiterhin präsent waren. Die 'Deutsche Encyclopädie' enthält viele Einträge zu Begriffen aus den Gebieten Hermeneutik und Kritik, beispielsweise unter den Stichwörtern 'Accomodation' , 'Allegorischer Sinn' ,

48

Vgl. Uwe Declcer, Oie Deutsche Encyclopädie (1778- 1807), in: Das achtzehnte Jahrhundert

14 (1990), 147-151, hier: 151. 49 Vgl. dazu Horst-Walter Blanke, Dirk Fleischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, 2 Bde., Stuttgart-Bad Caoostadt 1990, bes. 400-415 , 79lf., 823f. so Köster, Roos (Hg.), Deutsche Encyclopädie (wie Anm. 45), Bd. 19, 1796, 127-173.

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

23

'biblische Critic', 'Conjectura critica', 'Critic', 'Deutlichkeit', 'Interpolirte Stellen' und anderen; besonders zu beachten ist ferner der Artikel 'Aesthetik', da dort Bemerkungen zum Regelbegriff gemacht werden, die auch für die Hermeneutik von Belang sind. Bei dieser Gelegenheit muß ich mich mit wenigen Hinweisen zu der Artikelfolge nach dem Stichwort 'Auslegung' im zweiten, 1779 erschienenen, Band begnügen. Als Verfasser der zentralen Artikel läßt sich Henrich Martin Gottfried Köster (1734-1802) ermitteln, welcher seit Ende der 1770er Jahre die Herausgabe der 'Deutschen Encyclopädie' als erster Redakteur leitete. 51 (Von Band 18 an war Johann Friedrich Roos [1757-1804) Hauptredakteur des Werks.) Aufschlußreich ist bereits die Komposition der Artikelfolge und die Bezeichnung der einzelnen Lemmata: 'Auslegung', 'Auslegung der Gesetze', 'Auslegung des Lebnrechts und der Lehnsgesetze', 'Auslegung der Reichsgrundgesetze', 'Auslegung in der Musik', 'Auslegungskunst (Hermeneutik)', 'Auslegungskunst, die allgemeine oder philosophische', 'Auslegungskunst, claßische', 'Auslegungskunst der heiligen Schrift (catholisch) ', 'Auslegungskunst der heiligen Schrift, biblische, Hermeneutica sacra (protestantisch)', 'Auslegungskunst der heiligen Schrift, nach der Meynung der Rabbinen', 'Auslegungskunst Uuristische)'. 52 Zusammengenommen bilden die knapp hundert Spalten (auf fünfundvierzig zweispaltigen Seiten) eine durch viele Querverweise vernetzte, überaus informative Darstellung der allgemeinen Hermeneutik wie auch der wichtigsten Spezialhermeneutiken. Besonders bemerkenswert ist für unseren Zusammenhang natürlich die Absetzung eines eigenen Teils mit der Betitelung 'Auslegungskunst, die allgemeine oder philosophische'. Er umfaßt allein bereits zehn Spalten und soll uns im folgenden vorrangig beschäftigen. (Auffällig sind ferner freilich die Einführung eines Eintrags über 'Auslegung in der Musik' und nicht minder die separate Würdigung der katholischen, protestantischen und rabbinischen Schriftauslegung. Dieses Vorgehen entspricht der bereits in der Vorrede des ersten Bandes betonten Absicht, eine Enzyklopädie vorzulegen, die "allen Religionspartheyen, allen philosophischen Secten, allen Ständen und Klassen von Lesern in gleichem Grade brauchbar" sein sollte; insbesondere war den Herausgebern daran gelegen, "daß wir keiner Religionsparthey zu nahe treten wollen". 53) Die Auslegungskunst wird überhaupt definiert als „die Wissenschaft, welche uns lehrt, den mündlichen oder schriftlichen Vortrag eines andern zu verstehen, und mit seinen Worten den nemlichen Sinn zu verknüpfen, den er damit verknüpft hatte. "S4 Bemerkenswerter als diese Definition ist vielleicht der Zusatz: "Man 51 Vgl. Friedrich Wilhelm Strieder, Grundlage zu einer Hessischen Gelehnen- und &:hriftstellerGeschichte seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten, Bd. 7, Kassel 1787, 243-255, bes. 254 f. sowie die Angaben bei Blanke, Fleischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie (wie Anm. 49), 791 f. und in der von Pandel besorgten Bibliographie ebd. , 823f. Zur 'Deutschen Encyclopädie' vgl. Robert Collison, Encyclopaedias (wie Anm. 32), 110 und Uwe Decker, Die Deutsche Encyclopädie (1778-1807) (wie Anm. 48). 52 Köster, Roos (Hg.), Deutsche Encyclopädie (wie Anm. 45), Bd. 2, 1779, 452-496. 53 Ebd., Bd. 1, 1778, Vorrede, nicht paginiert. 54 Ebd., Bd. 2, 1779, 455.

24

Oliver R. Scholz

sollte Auslegungswissenschaft sagen, da Kunst eigentlich die Fertigkeit bedeutet eine Sache regelmäßig zu verrichten. " 55 Zur Rechtfertigung des Terminus „philosophische Auslegungskunst", dessen sich übrigens auch Chladenius mehrfach bedient, genügt dem nüchternen Verfasser ein Satz: „Die allgemeine Auslegungskunst heißt auch die philosophische, weil man oft alles das Philosophie nennt, was allgemeine Erkenntniß, allgemeine Theorie ist. "56 Neben'tlen systematisch angelegten Überblicken enthalten die Artikel gedrängte Überblicke über die Geschichte der jeweiligen Disziplin. Der Eintrag 'Auslegungskunst, die allgemeine oder philosophische' bietet einen Abriß der Geschichte der allgemeinen Hermeneutik. Dieser Abriß beginnt mit Aristoteles, dessen Arbeit jedoch noch „sehr unvollständig" geblieben sei, da in ihr nur „die Lehre von den Sätzen"" abgehandelt ist. In bezug auf das 17. und 18. Jahrhundert werden neben den Theologen gerade die Juristen in ihrer Schlüsselrolle auch für die allgemeine Auslegungskunst erkannt. Besonders Grotius und Pufendorf hätten (in ihren juristischen Hauptwerken) „verschiedene Regeln vorgebracht[ ...] , die entweder allgemein auf alle Schriften paßten, oder doch leicht allgemein gemacht werden konnten. "58 Weiter heißt es: „Es wurden jedoch selten Bücher über die allgemeine Auslegungskunst geschrieben. " 59 Als die „vornehmsten" nennt Köster drei Werke: Dannhauers ' Idea boni Interpretis', Joachim Ehrenfried Pfeiffers ' Hermeneutica universalis' sowie den ersten Teil des Traktats 'de interpretatione' von Huetius. Wie schon bei Walch und Zedler wird gesondert auf Buddes Instrumentalphilosophie hingewiesen, in welche die Auslegungskunst als ein besonderer Teil aufgenommen wurde. Eine summarische Auskunft beschließt den Überblick: „Die Philosophen handeln seit Wolfs Zeit hiervon durchgehends in den Logiken, [ •• • ]" 60 Zusätzliche Angaben finden sich in einigen der anderen Artikel; so wird etwa im Artikel zur 'klassischen Auslegungskunst' auf Ernestis Profanhermeneutik und auf die 'Ars Critica' von Clericus hingewiesen. 6I Die Regeln, die anschließend vorgetragen werden, können wir hier nicht im einzelnen durchgehen.

V. Schlußbemerkung Für unsere abschließenden Bemerkungen können wir auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, wie schwer es für einen hermeneutisch oder hermeneutikgeschichtlich Interessierten gewesen wäre, sich über die Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts ins Bild zu setzen. Die Antwort kann auch nach den weni-

55 56 s1 58 59 60 61

Ebd. Ebd. Ebd., 456. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 461.

Allgemeine Hermeneutik in Nachschlagewerken

25

gen stichprobenartigen Ermittlungen nicht mehr zweifelhaft sein: Es wäre kinderleicht gewesen! Schon mit bescheidenstem Aufwand und mit den spärlichsten Vorkenntnissen hätte man in einer mittelmäßig ausgestatteten Bibliothek an einem Nachmittag bequem das Erste und Nötigste über die allgemeine Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts in Erfahrung bringen können. Für den Anfang brauchte man nicht mehr zu wissen, als daß es das Walchsche und das Zedlersche Lexikon gibt. Wer dort unter den Stichworten 'Auslegungskunst' und 'Hermeneutik' nachschlug, sah sich auf zahlreiche Schriften verwiesen, mit deren Hilfe man sich rasch weiterhangeln konnte. Wer das Glück hatte, in seiner Bibliothek auch noch den 'Struve' zur Hand zu haben, auf den bei Walch so nachdrücklich hingewiesen wird, hatte bereits gewonnen. Aus den wenigen Seiten bei Walch und Struve war alleine schon eine stattliche Bibliographie der „hermeneutica universalis" zu ziehen, welche viele der maßgeblichen Titel bereits enthielt und rasch Weiteres zu erschließen erlaubte. So leicht wäre es also gewesen. Warum versäumten Gelehrte wie Schleiermacher, Dilthey, Wach, Ebeling und viele andere es, so etwas zu unternehmen? Oder vermuten wir falsch und sie unterzogen sich dieser kleinen Mühe? Dies einmal angenommen - wie erklären sich dann Urteile wie der berühmte Auftakt der Schleiermacherschen Hermeneutik, demzufolge es „nur mehrere spezielle Hermeneutiken"62 gebe, oder das Diltheys, erst durch die glückliche Mischung der Anlagen und Talente Schleichennachers sei „die allgemeine Wissenschaft und Kunstlehre der Auslegung" 63 entstanden, ja sie habe nur so und erst dann entstehen können. 64 Wie erklärt sich das noch kühnere Urteil Joachim Wachs: „In Schleiermacher geriet zum erstenmal ein wirklicher, systematischer Denker, ein philosophischer Kopf über die Hermeneutik" 65 ? Wir können die - leicht zu verlängernde - Liste derartiger hermeneutikgeschichtlicher Fehlurteile hier abbrechen. Will man nicht in den Fehler der Scheinbilligkeit, der aequitas cerebrina, verfallen, bleiben vorläufig wohl nur die beiden - für die traditionelle Hermeneutikhistoriographie gleichermaßen unbequemen - Optionen, entweder von erstaunlicher Unkenntnis oder von einem mangelhaften Urteilsvermögen auszugehen. 66

62 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. v . Manfred Frank, Frankfurt 1977, 75. 63 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V: Die geistige Welt, Einleitung in die Philosophie des Lebens , Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart 1924, 329. 64 Ebd., 326. 65 Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorien im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen 1926- 1933, hier: Bd. 1, 1926, 85. 66 Ich bin mir darüber im klaren, daß die Gründe für die weitgehende Nichtbeachtung der Frühgeschichte der Hermeneutik bei Schleiennacher und späteren Autoren näher untersucht werden müssen. Insbesondere der Bruch zwischen den Aufklärungs-Konzeptionen der allgemeinen Auslegungskunst und dem andersartigen Ansatz Schleiermacbers verdiente, einmal gründlicher erforscht zu werden. Diese Aufgabe muß späteren Studien vorbehalten werden.

26

Oliver R. Scholz

Die Studie geht den Spuren nach, welche die Bemühungen um eine hermeneutica generalis in Nachschlagewerken des 17. und 18. Jahrhunderts hinterlassen haben. Konsultiert werden Bibliographien, philosophische Lexika und Enzykloptidien; neben bekannten Nachschlagewerken (Walch, Zedler etc.) sind heute weitgehend vergessene berücksichtigt worden, so zum Beispiel die 'Deutsche Encycloptidie '. Das reichhaltige Material wird zuntichst im Hinblick auf die Wiedererschließung der Quellen und der frühen Wirkung der allgemeinen Hermeneutik ausgewertet. Dabei treten zugleich eklatante Verstiumnisse der traditionellen Hermeneutikgeschichtsschreibung zutage. This study investigates the traces /eft by hermeneutica generalis on the reference works of the 17th and J8th centuries. Bibliographies, philosophical lexica and ency/opedias are consulted; besides well-known ones such as Wa/ch and Zedler, ones which are /argely forgotten today, such as the 'Deutsche Encycloptidie ', are taken into account. The material is evaluated with a view to rediscovery of the sources of general hermeneutics and investigation of its early injluence. A number ofjlagrant omissions in the historiography ofhermeneutics come to light thereby. Dr. Oliver R. Scholz, Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie, Habelschwerdter Allee 30, D-14195 Berlin

LUTZ DANNEBERG

Probabilitas hermeneutica Zu einem Aspekt der Interpretations-Methodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts*

Zu den zentralen und kontroversen Themen der Hermeneutik-Diskussion des 18. Jahrhunderts gehört die hermeneutische Wahrscheinlichkeit. Gegenstand der Untersuchung sind die Fragen Cn nach der Herkunft der Konzeption der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit, (In nach der Bestimmung eines Gegenbegriffs zur Wahrscheinlichkeit, nämlich dem der Notwendigkeit, (Ill) nach den Gründen, weshalb die hermeneutische Erkenntnis nur wahrscheinlich sei, schließlich (IV) nach der Integration der Gewißheit in die Grade der Sicherheit, die bei der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit unterschieden werden.

l. Zur Herkunft der Konzeption der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit Obwohl Erörterungen zur Wahrscheinlichkeit weitaus älter sind1 , gehören zu den bedeutenden Anfängen ihrer Behandlung im Deutschland des 18. Jahrhunderts Andreas Rüdigers Darlegungen zur probabilitas in seinem Werk 'De sensu veri et falsi' von 1709. Er unterteilt sie in theoretica und practica, von denen die erstere in memoralis und judiciosa, diese wiederum eine Aufgliederung in physica, po/itica und hermeneutica erfährt; wobei letztere nur sehr knapp behan-

• Ich danke Werner Alexander, Axel Bilhler, Hartmut Hecht, Luigi Cataldi Madonna, Patrick Schnepel, Oliver R. Scholz und Friedrich Vollhardt für ihre Kürzungs- und Verbesserungsvorschläge. 1 Vgl. mit Hinweisen zur einschlägigen Forschung Luigi Cataldi Madonna, La filosofia della probabilitA nel pensiero modemo. Dalla Logique di Port-Royal a Kant, Roma 1988, auch ders ., Wahrscheinlichkeit und wahrscheinliches Wissen in der Philosophie von Christian Wolff, in: Studia Leibnitiana 19 (1987) , 2 - 40. Zur Ergänzung Henry G. van Leeuwen, The Problem of Certainty in English Thought, 1630-1690 (Archives internationales d 'histoire des id6es, 3), The Hague (1963) 21970 ; Barbara J. Shapiro, Probability and Certainty in Seventeenth·Century England. A Study of the Relationships Between Natural Science, Religion, History, Law, and Literature, Princeton 1983; Lorraine Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988.

Aufklärung 8/2

Q

Felix Meiner Verlag , 1994, ISSN 0178-7128

28

Lutz Danneberg

delt wird.2 Rüdiger ist verschiedentlich auf diese Unterscheidung zurückgekommenJ, und zahlreiche Vernunftlehren enthalten ausführlichere Behandlungen der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit - so die der Rüdiger-Schüler August Friedrich Müller4 oder Adolph Friedrich Hoffmann5 , des Lehrers von Christian August Crusius. Gleichwohl stellt diese elaborierte Diskussion der Wahrscheinlichkeit nicht zugleich die Einführung des Begriffs der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit in Deutschland dar. Bereits in Christian Thomasius' 'Auszübung der Vernunfft-Lehre' von 1691 heißt es: Die Auslegung (interpretatio) ist hier nichts anders als eine deutliche und in wahrscheinlichen Muthmassungen gegründete Erklährung desjenigen / was ein anderer in seinen Schrifften hat verstehen wollen / und welches zu verstehen etwas schwer oder dunckel ist. 6

Daß wir es bei der philologischen Argumentation immer nur mit einer demonstratio hypothetica1 zu tun haben, begründet sich für Thomasius daraus, daß uns bei der Erkenntnis der Gedanken anderer Menschen die für ihn einzigen sicheren Wege versperrt seien und damit die Erlangung „unstreitiger Wahrheit" zum unerreichbaren Ziel werde: Weder „vermittelst der allgemeinen Sinnligkeiten" können wir fremde Gedanken „unmittelbar begreiffen" noch „durch die ideas oder abstractiones die dem gantzen Menschlichen Geschlecht gemein sind".8 Im Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Interpretationen heißt es schließlich, daß wir die Gedanken aus Wörtern erkennen, aber auch gegebenenfalls aus „andern signis und Muthmassungen erforschen" müssen. 9 Weitere Erläuterungen zur hermeneutischen Wahrscheinlichkeit finden sich in seiner 'Vernunftlehre' nicht. 2 Vgl. Andreas Rüdiger, De sensu veri et falsi libri IV (1709). Editio altera, perpetvis scholiis, fere dvabis tertiis, ita avctior , vt non facile aliqvid, qvod ad artem ratiocinandi spectet, fverit praetermissvm , Lipsiae 1722, lib. III, cap. I, XV ff„ 437 ff„ . De probabilitate historica", cap. II, 1 ff„ 464, . De probabilitate hermeoeutica", cap. IV, 1-XV, 486-92: .HErmeneutica probabilitas est, qua ex antecedentium & consequentium coßßexione, de mente auctoris concludimus. Antecedentia illa & consequentia cum sint phra.ses atque vocabula, eo ipso patet, quod linguae, qua traditae sunt res eitplicandae, exactissime nosse genium debeas" (486). 3 Vgl. Andreas Rüdiger, lnstitutiones eruditionis, seu philosophia synthetica, Tribus libris, De sapientia, justitia et prudentia methodo matbematicae aemula, breviter et succincte, comprehensa (Editio secunda 1711). Editio tertia, posterioribus auctoris meditationibus accommodata, rnodisque concludendi aucta [ .. .] , Francofurti ad Moenum 1717, lib. I, tract. I, part. I, sec. III, cap. 1, 164, zur Unterscheidung der Wahrscheinlichkeitsarten, und cap. m, 173-175, zur hermeneutischen Wahrscheinlichkeit; ferner ders., Philosophia pragmatica methodo apodictica et quoad ejus Licuit mathematica conscripta [„.] (11723), Lipsiae 1729, sect. !, part. I, art. IV , cap. V, 256-261, 210-216. 4 Vgl. August Friedrich Müller, Einleitung in die philosophischen Wissenschaften in drei Theilen. Erster Theil, welcher [„.] die Logic [„ .) in sich enthält (1728). 2„ vermehrete und verbesserte Aufl. Leipzig 1733, 19. Kap„ 16, 580-585. s Adolph Friedrich Hoffmann, Vemunft = Lehre, Darißßen die Kennzeichen des Wahren und Paischen aus den Gesetzen des menschlichen Verstandes hergeleitet werden, Leipzig 1737, Theil 2, Kap . 8, 1122 ff. 6 Christian Thomasius, Auszübung der Vernunfft= Lehre [ „ .], Halle 1691 (ND Hildesheim 1968), 3. Hauptstück, 25, 163 f. (im Original hervorgehoben) . 1 Bbd„ 57, 175. 8 Ebd „ 56, 174. 9 Ebd „ 33, 166: auch 58, 175.

Probabilitas hermeneutica

29

Um der Herkunft des Begriffs der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit nachzugehen, bietet es sich an, die Einflüsse zu ermitteln, unter denen Thomasius' Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit und den Wegen der Erkenntnis stehen. 10 Die bisherigen Funde reichen nicht aus, die Herkunft der Verbindung von Wahrscheinlichkeit und Auslegung zu erhellen. Ein kleiner Umweg liefert einen weiterführenden Hinweis. Genau vierzig Jahre später, also 1731, erscheint die 'Logica envcleata' von Johann Heinrich Zopf, die 1735 eine zweite, vermehrte Auflage erlebt. Zopfs 'Logica' steht unter dem Anspruch, aufgrund ihrer „deutlichen Anmerkungen" eine „erleichterte Vemunft=Lehre" zu bieten. Ebenso wie Thomasius formuliert er Regeln einer allgemeinen Hermeneutik. Zwar sind die gewählten Beispiele zum größten Teil der Heiligen Schrift entnommen, dennoch handelt es sich um den Versuch zu einer hermeneutica generalis. 11 Zopfs Ratgeber sind in vielen hermeneutischen Fragen Johann Jacob Rambachs 'lnstitutiones Hermeneuticae Sacrae' - nicht indes bei der Charakterisierung der Auslegung „als eine deutliche, und in wahrscheinlichen Muthrnassungen gegründete Erklärung desjenigen was ein anderer in seinen Schriften hat verstehen wollen und welches zu verstehen etwas schwer und dunckel ist" 12 - es ist ein nicht gekennzeichnetes wörtliches Zitat des oben angeführten Passus von Thomasius. Zopf trägt diese Bestimmung wie selbstverständlich vor; das scheint für die weite Verbreitung der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit in den zeitgenössischen Interpretationslehren zu sprechen. Aber weder deshalb noch wegen der von ihm erörterten Interpretationsregeln, sondern wegen eines Hinweises zum Hintergrund ist Zopf im vorliegenden Zusammenhang aufschlußreich. Nachdem er bestimmt hat, worin die Auslegung besteht, kommt er zur Leistung der Logik bei der Erhellung dunkler Stellen. Diese bestehe im wesentlichen darin, „einige generale Regeln" zu geben, „ welche eine Wahrscheinlichkeit zu Grunde haben" , und er fährt fort: „Hugo Grotius [.„] nennet dieselben coniecturas, Muthmassungen." Ihnen komme - wie Zopf betont - in hohem Grade „moralische Gewißheit" zu:

10 Vgl. Cataldi Madonna , La filosofia (wie Anm. l ), 83 ff., sowie ders ., Wissenschafts- und Wahrscheinlichkeitsauffassung bei Thomasius, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd.11), Hamburg 1989, 115-136. Auch wenn die Formulierung Anklänge an Locke nahelegt, so ist gleichwohl Vorsicht geboten, vgl. Rita Widmaier, Alter und neuer Empirismus. Zur Erfahrungslehre von Locke und Thomasius vgl. ebd. , 95-114; vgl. auch Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung , Hildesheim (1945) 1964, 31 f.; Klaus P. Fischer, John Locke in tbe German Enlightenment: An Interpretation, in: Journal ofthe History ofldeas 36 (1975), 431-446, insb. 432; Frederick C. Beiser, The Pate of Reason. German Philosopby From Kant to Fichte, Cambridge u. London 1987, 169f. 11 Das wird unter anderem daran ersichtlich, daß die Auslegung nach der 'Ähnlichkeit des Glaubens' (analogiafidei) als Sonderfall der analogia doctrinae konzipiert wird, die gleichermaßen die Interpretation profaner Schriften umgreift und die anhand der Deutung einer Stelle bei Descartes illustriert wird, vgl. Johann Heinrich Zopf, Logica envcleata, Oder Erleichterte Vernunft= Lehre, Darinnen Der Kern Der alten und neuen Logic, Wie auch Der Hermeneutic, Methodologie und Disputir=Kunst, begriffen [„.]. Zweyte, vermehrte und verbesserte Aufl. Halle 1735, pars sec„ cap. I, XII, 244 f. (. Regula V") . (Das Werk erschien noch 1784 in der vierten Auflage). 12 Ebd„ II, 221.

Lutz Danneberg

30

Sie pflegen dabero nicht nur von den Juristen auf die Leges und pacta, sondern auch von den Theologis auf die Schrift adpliciret zu werden, zu deren rechter Erklärung sie gar viel beytragen können, wenn man dazumal die media domestica, welche die Schrift selbst darbietet, mit zu Hülfe nimmt. l3

Mit diesem Hinweis eröffnet sich als Hintergrund für die hermeneutische Wahrscheinlichkeit das, was sich in der Zeit als juristische Auslegungslehre ansprechen läßt. 14 Er gewinnt durch einen nochmaligen Blick auf Thomasius' Überlegungen zur Auslegungslehre in seiner Vernunftlehre weitere Plausibilität. Das, was Thomasius dort konzipiert, erfüllt nicht den Anspruch einer hermeneutica generalis 1s : Seine Interpretationsregeln stellen eine nur eingeschränkte Entfaltung der Bedeutungskonzeption dar - und das hängt mit ihrer Orientierung an einem bestimmten Interpretationsparadigma zusammen. Thomasius selbst weist darauf hin, daß die von ihm aufgestellten Regeln nicht für die Ermittlung des „geheimen und verborgenen Verstandes" ausreichen.1 6 Wie nicht zuletzt aufgrund der weiter unten angesprochenen Tradition eines sensus mysticus seu spiritualis in den protestantischen Hermeneutiken deutlich wird, ist mit dieser Vernachlässigung keine Kritik an zeitgenössischen Bedeutungskonzeptionen beabsichtigt, die einen sensus mysticus vorsehen. Sie ist vielmehr eine Konsequenz des gewählten Paradigmas der Interpretation: der juristischen"Auslegung. 17 Damit gewinnt die von Zopf gewiesene Spur zusätzliche Plausibilität. Prüft man Hugo Grotius' 'De Jure Belli ac Pacis', dann findet sich in dem großen Auslegungskapitel dieses Werkes die 'Conjectura '-, also Mutmaßungs-Konzeption zur Lösung von Schwierigkeiten, die bei der Auslegung von Gesetzen und Verträgen entstehen. 18 Dort heißt es unter anderem: Rectae interpretationis mensuar est collectio mentis ex signis maxime probabilibus. Ea signa sunt duoruum generum, verbn & conjecturne aliae: qune nut seorsim consideran-

tur, aut conjunctim.19 13 Ebd., IX, 237. 14 Zur Geschichte der juristischen Hermeneutik vgl. u.a. die Hinweise bei Lutz Geldsetzer, Einleitung, in: Anton Friedrich Justus Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts Düsseldorf 1966, insb. XV-XXIX. (lnstrumenta Philosophica. Series Hermeneutica 1s Vgl. auch Thomasius, Auszübung, 3. Hauptstück (wie Anm. 6), 126 ff., 215 ff. - Zu Aspekten der Hermeneutik des Thomasius, auf die hier nicht eingegangen wird, vgl. Luigi Cataldi Madonna, L'ermeneutica generale di Christian Thomasius. Un contributo alla storia delle fonti dell'ermeneutica di Schleiermacber, in: Giorgio Penzo, Marcello Farina (Hg.), F. D. E. Schleiermacher (1768-1834) tra filosofia e teologia, Trento 1990, 359 - 382. 16 Thomasius, Auszübung, 3. Hauptstück (wie Anm. 6), 140, 221. 11 Ebd., 126ff., 215 f. , formuliert Thomasius zudem Konstellationen, in denen keine "Muthmassung erreichen kan I wie die Worte heissen sollen.~ 18 Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis Libri Tres (1625), Francofurti ad Moenum 1696, lib. Il, cap. XVI, 503-528. Thomasius hat für die deutsche Ausgabe von 1707 eine Vorrede verfaßt. (Bei Andreas Rüdiger, De Sensu veri [wie Anm. 2), lib. m, cap. IV, II, 486, findet sich zwar im Kapitel "De probabilitate hermeneutica" ein Hinweis auf Grotius' 'De Jure Belli ac Pacis', aber nicht auf die einschlägigen Stellen.) - Zu prüfen ist - ich verdanke diesen Hinweis Klaus Weimar - auch die Verwendung von conjectura, certitudo und verisimilitudo bei Valentin Wilhelm Forster, Interpres sive De interpretatione juris, libri duo, Wittenberg 1613. 19 Grotius, De Jure (wie Anm. 18), I, 504. - Einen moderaten Probabilismus bei den Auslegungen findet sich bereits bei Desiderius Erasmus , Hyperaspistes diatribae adversus servum arbi-

m.

Probabilitas hermeneutica

31

In dem Kapitel 'De lnterpretatione' in Samuel Pufendorfs ' De Officio hominis & civis' wird zwar der Konjektur-Begriff von Grotius übernommen, der Hinweis auf den wahrscheinlichen Charakter der Interpretation fehlt allerdings. 20 Dies scheint zudem bei den Kommentaren zu Grotius' 'De Jure Belli ac Pacis' nicht selten der Fall zu sein. 21 Dennoch dürften diese juristischen Auslegungslehren der zeitgenössisch einflußreiche Ort für die Verbindung von Wahrschein-

trium Manini Lulheri. Liber primus (1526), in: Ders., Ausgewählte Schriften. 4. Band. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Winfried Lesowsky, Darmstadt 1969, 197-675, insb. 272. Dort wird die 'Skepsis' bei der Interpretation zurückgewiesen, sofern der Sinn der Schrift vollständig klar sei; ansonsten aber gelte bei der Interpretation im Unterschied zum Nichtskeptiker für den Skeptiker: .[...] verum quod alius sequitur ut certum, ille sequitur ut probabile. • 20 Samuel Pufendorf, Officio hominis & civis Legern Naturalem libri duo (11673). Selectis variorum Notis, maximeq; propriis illustravit, celeberrimi Buddei Historiam Juris Naturalis Notis adauctam praemisit, lndicemq; rerum subjunxit Tho. Johnson. Editio Secunda longe auctior & emendatior, London 1737, lib. I , cap. 17, 374-383. In dem Kommentar zu diesem Werk bei Johann Heinrich Reiher, Commentatio historico lheoretico practica in Sam. L. B. de Pufendorf De Officio Hominis et Civis juxta legem naturalem libros II [„ .], Lipsiae 1748, lib. I, cap. XVII, 1, 380 (vgl. auch die folgenden Seiten), heißt es: .Quid autem est interpretatio? Est collectio mentis ex signis & conjecturis maxime certis aut probabilibus, quae eo redit, ut rectum sensum verborum alterius indagemus. • 21 So etwa bei Johann Adam Osiander, Observationes Maximam partem Theologicae In Libros Tres De Jure Belli ac Pacis, Hugonis Grotii, Tubingae 1671, lib. 2, cap. XVI, 1028-1044. Das gleiche gilt für den m. W. knappsten Kommentar zu einem De-lnterpretatione-Kapitel, nämlich für Dieterich Hermann Kemmerich, Pufendorffius enucleatus, sive Elementa Juris Naturae et Gentium, per modum Observationum ad Samuelis L. B. de Pufendorff Librum de Officio Hominis et Civis [ ...], Lipsiae 1716, lib. I, cap. XVII, 174. - DieDe-lnterpretatione-Kapitel werden allerdings nicht Immer kommentiert, so zum Beispiel nlcht bei Johann Heinrich Boecler, In Hvgonls Grotll lus Belll ac Pacis [ ... ], Argentorati 1663. Diese Zurückhaltung wird nachvollziehbar, wenn der Ansicht entsprochen wird, die sieb bei Nicol. Hier. Gundling, Erläuterung über Samuelis Pufendorfii zwey Bücher De Officio hominis & civis secundum legem naturalem [ ...],zum Druck befördert von Christoph Friderich Ayrmann, Hamburg 1744, lib. I, cap. 17, 205, findet. Danach ist das, was in diesen Kapiteln abgehandelt wird, eine materia logica oder generalis, denn regulas interpretandi seien bei allen Disziplinen erforderlich: • Und gleichwie wir dem Hippocrati keine regulas interpretandi beyfügen, solche auch in der Theologie und sonst weglassen, so würde es wunderlich herauskommen, wenn wir hier diese Materie abhandeln weiten. Denn sie gehöret in die Logic. Weil jedoch ehedem in der gemeinen Logic nichts davon gelehret wurde, so hat Grotius ein Caput de lnterpretatione seinem Wercke [ .. .] angehänget. Dem auch Pufendorfius und Thomasius bierinnen nachgefolget haben.• Es war in der Zeit nicht unüblich, die .Auslegungs-Kunst" zur (angewandten) Logik zu rechnen, wie zum Beispiel Peter Ahlwardt, Vemünfftige und gründliche Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und deren richtigen Gebrauch in der Erkenntnis der Wahrheit, Greiffswald u. Leipzig 1741, 540, 444 f., und Johann Jakob Rambacb konstatiert lakonisch (ders., Erlaeuterung ueber seine eigene Institvtiones Hermeneuticae Sacrae, aus der eignen Handschrift des seligen Verfassers mit Anmerckungen und einer Vorrede von der Vortreflicbkeit der Rambacbiscben Hermenevtic [ ...]von Ernst Friedrich Neubauer, 2 Bde„ Giessen 1738, 1, Prolegomena, I, 8): .Die ars interpretandi per se gehöret ad Logicam•, während Johann Gottlieb Heineccius in ders., Praelectiones academicae in Hvg. Grotivm de ivre belli ac pacis (1744) (J. G. H., Opervm Tomus Nonus). Genevae 1771, cap. XVI, I, 231, für die .doctrina de interpretatione", die ortlos sei, einen Platz in der Logik fordert: .Doctrina de interpretatione veluti vaga ac incertae sedis est. Tbeologi eam sibi vindicant sub titulo lheologiae exegeticae. Clericus refert ad criticam. Grotius primus ad ius naturae retulit, eumque postea sequuti sund Pufendorffius, Tbomasius, et alii. Propria tarnen bu.ius doctrinae sedes ets in logica. •

32

Lutz Danneberg

lichkeit und Interpretation sein. 22 Zumal es in dem Interpretationskapitel des ein Jahr früher erschienenen Werkes ' De Jure Naturae et Gentium Libri Octo' Pufendorfs in weitgehend wörtlicher Übereinstimmung zu Grotius heißt: Est autem interpretationis rectae norma & mensura, collectio mentis ex signis maxime probabilibus. Signa sunt duorum generum, verba, & alia coniecturae; quae considerantur aut seorsim, aut coniunctim. 23

Für die späteren juristischen Erörterungen der Auslegung ist die Verbindung von Wahrscheinlichkeit und Interpretation weithin selbstverständlich. 24 So dient für Justus Henning Boehmer die interpretatio logica der „explicatio legis dubiae quoad mentem ex probabilibus coniecturis (elicit)" .25 Und Johann Gottlieb Heineccius erörtert in seinen 'Praelectiones academicae in Hugo Grotium de iure belli ac pacis' ausführlich die Regeln der Konjektur. 26 Nach ihm gelangt man aufgrund der hermeneutischen Wahrscheinlichkeit auch nur zu „ veritates probabiles" .27 Obwohl - wie bereits bemerkt - in Pufendorfs 'De Officio' der Ausdruck „wahrscheinlich" fehlt, verwendet Heineccius ihn in seinem Kommentar zu diesem Werk im Zusammenhang mit den Konjekturen. 28 Den Bezug stellt die Ermittlung der Umstände (circumstantiae) einer Rede her. 29 Hierauf wird bei der Erörterung der Gründe für den nur wahrscheinlichen Charakter von Auslegungen zurückzukommen sein. 30

22 Für den conjecrura-Begriff in der zeitgenössischen Textkritik vgl. Johannes Clericus, Ars Critica. Volvmina Tria (11697). Editio in Germania prima et novissima, Lipsiae 1713, pars III, sec. I, cap. XII, 44, 298 ff. Nach Silvia Rizzo, n lessico filologico degli umanisti (Sussidi eruditi, 26), Roma 1973, insb. 292, findet dieser Ausdruck bei Angelo Poliziano (also im 15. Jahrhundert) als rerminus rechnicus Eingang in die Philologie (seine Verwendung läßt sich in diesem Zusammenhnn~ nllerdings schon früher nachweisen) . Zu coniectura als Äquivalent für interpretatio bei Cicero

vgl. Manfred Fuhrmann, 1nterpretatio. Notizen zur Wortgeschichte, in: Detlef Liebs (Hg.), Sympotica Franz Wieacker. Sexagenario Sasbachwaldeni a suis libata, Göttingen 1970, 80-110, vor allem 85f. 23 Samuel Pufendorf, De Ivre Naturae et Gentium, Libri Octo (11672). Cvm integris commentariis virorvm clarissimorvm Io. Nie. Hertii, atque Io. Barbeyraci [... ), Francofurti u. Lipsiae 1759, cap. XII, 811. In der Anm. 4 heißt es: .Id est ita, vt coniecturae ducantur vcl ex verbis solis, vel ex affini circumstantia, quae ratione eorum contineatur. • 24 Eher die Ausnahme ist Christian Heinrich Eck.hard, Hermenevtica Ivris (!J 750). Recensvit perpetvisque notis illvstravit Car. Frid. Walchivs, Lipsiae 1779 (3. Aufl. 1802), in der zwar auch der konjekturale Charakter der Interpretation hervorgehoben wird (lib. 1, VIII, 5 f.), aber offenbar ohne Verbindung mit der Wahrscheinlichkeit. 2S Justus Henning H. Boehmer, Introdvctio in ivs digestorum, sensvm pariter ac vsvm hodiemvm singvlarvm doctrinarvm svccincte exhibens (1 1704). Vndecima editio emendiator, Halae u. Magdebvrgicae 1767, 4. 26 Vgl. Johann Gottlieb Heineccius, Praelectiones (wie Anm. 21), lib. ll, cap. XVI, 1 ff., 343-362. 21 Heineccius, Elementa Philosophiae rationalis & moralis, Ex Principiis admodum evidentibus justo ordine adornata [ ... J, Editio quinta accuratissima, Genevae 1744, II. Elementa philosophiae ralionalis, seu logicae, 107 und 108, 61, sowie L30ff„ 67ff. 28 Heineccius, Praelectiones academicae in Sam. Pufendorfii De Officio Hominis et Civis libros duos (!J742). Editio caeteris & Italicis, Neapoli 1766, lib. I, cap. XVI, 203 - 208. 29 Ebd.: "Conjecturae debent esse consentaneae circumstantiis orationis. • 30 Ergänzend wäre es erforderlich, sowohl auf den Skeptizismus als auch auf die Spielarten des Probabilismus (Probabiliorismus, Äquiprobabilisrnus, Laxismus usw.) einzugehen, doch ist dies aus

Probabilitas hermeneutica

33

II. Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit

Für die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit ist der Begriff der Notwendigkeit zentral: Durchweg wird die nichtprobable Erkenntnis mit Hilfe des in der Zeit traditionellen Notwendigkeitsbegriffs bestimmt. Allerdings kommt es im Hinblick auf den scepticismus exegeticus beziehungsweise pyrrhonismus hermeneuticus31 - den radikalen skeptischen Konsequenzen, die aus einem nur wahrscheinlichen hermeneutischen Wissen gezogen werden - zu begrifflichen Erweiterungen, die ihnen begegnen sollen. Sie prägen die Diskussion während des gesamten 18. Jahrhunderts. 32 An der frühen Kontroverse zwischen dem Übersetzer der Wertheimer Bibel, Johann Lorenz Schmidt, und Hermann Samuel Reimarus läßt sich die Erweiterung des Notwendigkeitsbegriffs in Verknüpfung mit der Frage nach der Gewißheit der Auslegung aufzeigen. 33 Dabei wird es zugleich zum Blick auf charakteristische Aspekte des Aufbaus von Hermeneutiken der Aufklärung kommen. Seine Übersetzung des Alten Testaments hatte Schmidt mit Kommentaren versehen, die auf heftige Kritik stießen. Ein Stein des Anstoßes, zugleich aber auch das hermeneutisch Interessante, lag darin, daß Schmidt gleichsam unter Mißachtung des Neuen Testaments kommentierte. Nicht im Blick auf die Erfüllung des Alten Testaments im Neuen oder der bereits damals umstrittenen Ausdeutungen im Neuen, sondern 'für sich' sollte das Alte Testament kommentiert und interpretiert werden. Hier soll allein Schmidts Begründung betrachtet werden, weshalb bei der Auslegung der Heiligen Schrift - denn die „göttlichen Wahrheiten Platzgründen nicht möglich (weiterführend zum Probabilismus ist u.a. Gerhard Otte, Der Probabilismus: Eine Theorie auf der Grenze zwischen Theologie und Jurisprudenz, in: Paolo Grossi [Hg.J, La seconda scolastica nella fonnazione del diritto privato modemo [Per la storia del pensiero giuiridico moderno, l], Milano 1973, 283-302); von den einschlägigen U ntersuchWJgen Richard H. Popkins vgl. u.a . ders ., Scepticism and Counter-Reformation , in: Archiv für Reformationsgeschichte 51 (1960), 58-87. - Vor dem Hintergrund des akademischen Skeptizismus wird nach Cicero über Konjekturen ein lediglich wahrscheinliches Wissen erreicht (Tusc. Disp., lib. I, cap. 9 ; meine Hervorhebung): • [ ... ] nec tamen quasi Pythius Apollo, C·e rta ut sint et fixa quae dixero, sed ut homunculus unus e multis probabilia coniectura sequens. ultra enim quo progrediar, quam ut veri similia videam non habeo; certa dicent i, qui et percipi ea posse dicunt et se sapientis esse profitentur. " Über die Beweisführung mit Wahrscheinlichkeit hat Cicero zudem in seiner Rhetorik gehandelt (vgl. u.a. De Invemione, lib. I, cap. XXX; Lucullus II , X, 32 sowie ebd. II, X, 34 - dies eine Übersetzung von Aristoteles , Rhetorica 1357a 38-42). Zur älteren Rhetorik (Gorgias, Antiphon) und Wahrscheinlichke it (sn