Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich: Entwicklung und Gegenwartsprobleme [1 ed.] 9783428477234, 9783428077236

Die österreichische Gesetzgebung auf den wichtigsten Gebieten des öffentlichen Rechts ist Inhalt dieses zweibändigen Wer

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Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich: Entwicklung und Gegenwartsprobleme [1 ed.]
 9783428477234, 9783428077236

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Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich Entwicklung und Gegenwartsprobleme Erster Teilband

Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich Entwicklung und Gegenwartsprobleme Erster Teilband

Herausgegeben von

o. Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Schambeck Präsident des Österreichischen Bundesrates

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich : Entwicklung und Gegenwartsprobleme / hrsg. von Herbert Schambeck. - Berlin : Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07723-7 NE: Schambeck, Herbert [Hrsg.] Teilbd.1 (1993) Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich: Entwicklung und Gegenwartsprobleme / hrsg. von Herbert Schambeck. - BerEn : Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07723-7 NE: Schambeck, Herbert [Hrsg.] Teilbd.2 (1993)

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07723-7

Inhaltsverzeichnis Gesamtübersicht ERSTER TEILBAND Vorwort des Herausgebers ............. . . . ......................................

XXXV

Bundespräsident Dr. Thomas Klestil Zum Geleit .......................................... . ...... . .... . . . ...... . .....

XXXIX

1. Werden und Funktion des österreichischen Staatsrechts

Herbert Schambeck Von den Staatszwecken Österreichs

3

Wilhelm Brauneder Der Beitrag des Parlaments zur Entwicklung des Verfassungsrechts vor 1918................................................................................

43

Christian Neschwara Zur Entwicklung des Verfassungsrechts nach 1918

83

Konrad Atzwanger Die Entwicklung des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts 1848 bis 1919 ...............................................................................

221

Werner Zögernitz Das parlamentarische Verfahren ab 1920

235

J ohannes Hengstschläger Das Budgetrecht und seine Entwicklung ......................................

263

Heribert Franz Köck Die Rolle des Parlaments in der Außenpolitik ................................

297

Bruno Primetshofer und Josef Kremsmair Die gesetzliche Entwicklung der Beziehungen von Kirche und Staat......

397

VI

Inhaltsverzeichnis IIo Verfahrensrecht und seine Entstehungsgeschichte

Franz Matscher Die Entwicklung des zivilprozessualen Rechts

475

Heinz Mayer Allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht

519

ZWEITER TEILBAND IIIo Ausgewählte Bereiche des öffentlichen Rechts unter besonderer

Berücksichtigung ihrer Entwicklungszusammenhänge

Felix Ermacora Der Beitrag des Parlaments zum Nationalitätenrecht und zum Minderheitenschutz 0000

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553

Gerhard Rauter Wehrgesetzgebung und Heer

637

Rudolf Szirba Das Recht der Polizeiverwaltung ..............................................

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831

Herbert Loebenstein Strafrecht und Strafprozeßrecht

973

J ohannes Hengstschläger Schulrecht

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Walter Brunner und Helmut Wohnout Hochschulrecht ..

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Heinz Schäffer Öffentliches Wirtschaftsrecht

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Walter Labuda Agrarrecht

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Heinz Schäffer Verkehrsrecht

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Inhaltsverzeichnis

VII

Gerhard Aigner Gesundheitswesen ...............................................................

1425

Herbert Hofmeister Sozialversicherungsrecht ........................................................ 1489 Brigitte Gutknecht Wohnrecht ........................................................................ 1575 Herausgeber- und Mitarbeiterverzeichnis .........................................

1653

Inhaltsverzeichnis

VIII

Einzelübersicht ERSTER TEILBAND Vorwort des Herausgebers ..................................................... .

XXXV

Bundespräsident Dr. Thomas Klestil Zum Geleit ......... . .................................. , .... ,............... ... ...

XXXIX

I. Werden und Funktion des österreichischen Staatsrechts Herbert Schambeck Von den Staatszwecken Österreichs

3

Definition des Begriffes Staat - die Bedeutung der Staatszwecke - die zwei Begriffspaare Rechts- und Machtzweck und Kultur- und Wohlfahrtszweck - über die Konkretisierung der Staatszwecke - die von Adolf Merkl verdeutlichte Stufenfolge der Staatsinteressen - die Staatszwecke im österreichischen Staatsrecht in einem historischen Überblick - vom Rechtsbewahrungsstaat zum Rechtswegestaat - die Entwicklung der Staatszwecke - die Verfassungsprinzipien im Text des B-VG - die Staatszwecke und die Kompetenzverteilung im B-VG - die Budgetgrundsätze - die Neutralität Österreichs - die umfassende Landesverteidigung - der umfassende Umweltschutz - die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks - die Haltung des österreichischen Bundesverfassungsrechts gegenüber den Staatszwecken - die Staatszwecke in den Landesverfassungen - der Rechtscharakter der Staatszwecke als Sozialgestaltungsempfehlungen - die Bedeutung der Staatszwecke für die Verwaltung als Interpretationsmaßstab und Abwägungsgebot - die Staatszwecke als Auftrag an den Gesetzgeber - die Entwicklung zur Mehrzweckeverwendung des Staates - die Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes im Zusammenhang mit den Verfassungsgrundsätzen Staatszwecke und neue Grundrechtsjudikatur - der Abwehrcharakter der Grundrechte - die Inhomogenität der Grundrechte in Österreich das materielle Verständnis des Gesetzesvorbehalts - die Frage nach dem Wert der Staatszwecke im österreichischen Verfassungsrecht. Wilhelm Brauneder Der Beitrag des Parlaments zur Entwicklung des Verfassungsrechts vor 1918 ............................................................................... Die Rolle des Parlaments im 19. Jahrhundert'- die Etappen der Verfassungsentwicklung in Österreich - die Verfassung 1848 - die "Pillersdorfsche Verfassung" - der quasi-konstitutionelle Ausschußlandtag der Zentralausschuß als provisorisches Gesamtstaatsparlament und seine Funktion als Beratungsorgan des Monarchen - das Oktoberdiplom 1860

43

Inhaltsverzeichnis

IX

- der "Verstärkte Reichsrat" - die Reichsverfassung 1861 - das erste parlamentarische Verfassungsergebnis österreichischer Abgeordneter: Die Frankfurter Grundrechte - die ersten österreichischen Parlamentswahlen und das erste Verfassungsgesetz - der" Kremsierer Verfassungsentwurf" mit dem Grundrechtsentwurf - das erste parlamentarische Verfassungsergebnis für Österreich: Die Verfassung 1867 - das verfassungsgebende Parlament - die Regierungsinitiativen - die parlamentarischen Initiativen - das Parlament und die Verfassungsfortbildung die Entwicklung der Verfassung von 1861 bis 1867 - die Bedeutung des Notverordnungsrechts - die Entwicklung des Verfassungsrechts zwischen 1867 und 1918 - die Parlamentsreformen in bezug auf das Abgeordnetenhaus mit dem Ziel der Einführung einer Volkswahl zum Abgeordnetenhaus - die Änderung der Stellung des Herrenhauses und der obersten Staatsorgane - die Entwicklung im Grundrechtsbereich - die verfassungsrechtlichen Schritte im Hinblick auf das Ende von Österreich-Ungarn. Christian Neschwara Zur Entwicklung des Verfassungsrechts nach 1918 Die "Entstehung" der Verfassungsordnung der neuen Republik (1918 bis 1920) beginnend mit der Entwicklung der "provisorisch-interimistischen" Verfassungsordnung Deutschösterreichs (1918/19) und den Entwicklungstendenzen - die "definitive" Verfassungsordnung Österreichs: Das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 - die konstituierende Nationalversammlung - der Ablauf außerhalb des Parlaments: der "Entwurf einer Bundesverfassung" von Hans Kelsen und die Verfassungsgespräche in den Ländern - der Ablauf im Parlament - die Vorarbeiten der Staatskanzlei zu einer definitiven Verfassung - die Richtlinien der Regierung für die Verfassungsarbeiten - die Einbeziehung der Länder in die Verfassungsarbeiten - die Initiativen der Länder auf den Länderkonferenzen in Salzburg und Linz - der Versuch eines Regierungsentwurfes - die Verhandlungen im Unterausschuß, im Verfassungsausschuß und im Plenum - der "Ausbau" der Verfassungsordnung (1920 bis 1929) - die Bundes-Verfassungsgesetznovelle 1925 - die "kleinen" Bundes-Verfassungsgesetznovellen 1926 bis 1929 - das Finanz-Verfassungsgesetz 1922 - der "Umbau" der Verfassungsordnung (die Bundes-Verfassungsgesetznovelle 1929), der Ablauf außerhalb und im Parlament - der Ausgangspunkt der Bundes-Verfassungsgesetznovelle 1929 und die Verhandlungen außerhalb des Parlaments die Behandlung des Verfassungsentwurfs im Parlament - vom "Umbau" bis zur "Beseitigung" der Verfassungsordnung (1929 bis 1933) - die "Beseitigung" der Verfassungsordnung (1933 bis 1945): die "Selbstausschaltung" des Nationalrates und das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz 1917 - die "Wiederherstellung" der Verfassungsordnung (1945) unter "alliierter Kontrolle" - das Verfassungs-Überleitungs- und das Rechts-Überleitungsgesetz - die Modifikation der Verfassungs ordnung nach "Inkrafttreten" der Verfassungsordnung von 1920/29 (bis 1955) - die "konti-

83

x

Inhaltsverzeichnis nuierliche Weiterbildung" der Verfassungsordnung seit 1955 - Entwicklungsablauf und -tendenzen 1955 bis 1966 - die Änderungen des Bundes-Verfassungsgesetzes zwischen 1966 und 1986 - weitere 10 B-VG-Novellen bis 1992.

Konrad Atzwanger Die Entwicklung des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts 1848 bis 1919 ...............................................................................

221

Grundsätzliches zur Geschäftsordnung des Nationalrates - die Geschäftsordnung des Reichsrates 1848 - der Inhalt der Geschäftsordnung von 1848 - die Geschäftsordnungen beider Häuser des Reichsrates ab 1861 - ein Geschäftsordnungsgesetz und eine autonome Geschäftsordnung für das Abgeordnetenhaus - die Geschäftsordnungsreform 1873/ 1875 - die Geschäftsordnungsreform 1917 - die Geschäftsordnung der Provisorischen und der Konstituierenden Nationalversammlung. Werner Zögernitz Das parlamentarische Verfahren ab 1920

235

Grundzüge des österreichischen Parlamentarismus in der Ersten Republik - die Geschäftsordnung des Nationalrates - fünf Novellen zur Geschäftsordnung des Nationalrates in der Ersten Republik - der Bundesrat in der Ersten Republik - die Geschäftsordnung des Bundesrates - das Parlamentarische Verfahren in der Zweiten Republik - der Parlamentarismus in der Zeit der Besatzung (1945 bis 1955) - die Phase der Großen Koalition nach Erlangung der vollen Souveränität Österreichs (1955 bis 1966) - die Periode der Alleinregierungen (1966 bis 1983) die Periode der Kleinen Koalition von SPÖ und FPÖ (1983 bis 1986) die neue Große Koalition und der Einzug einer vierten Partei in den Nationalrat (ab 1987) - der Nationalrat in der Zweiten Republik - die Reformen bzw. Änderungen der' Geschäftsordnung des Nationalrates seit 1945 - das Verfahren im Bundesrat - die Novellen zur Geschäftsordnung des Bundesrates seit 1945 - die grundsätzliche Bedeutung parlamentarischer Verfahrensregeln. J ohannes Hengstschläger

Das Budgetrecht und seine Entwicklung...................................... Allgemeines zum Budgetrecht und zur parlamentarischen Budgethoheit - die Entwicklung des Budgetrechts und der parlamentarischen Budgethoheit - die konstitutionelle Epoche: Von der Pillersdorf'schen Verfassung bis zur Dezemberverfassung 1867 - die "Verordnung des Finanzministeriums und der Obersten Rechnungs-Controlsbehörde" vom 17. Oktober 1863 - die jährliche Erstellung des Staatshaushaltsplanes in der konstitutionellen Ära - die Budgetnotverordnungen - das Budgetrecht in der Ersten Republik - die Rechtsnatur des Haushaltsplanes - die B-VG-Novelle 1929 - die Frage nach der Zuständigkeit zur Rege-

263

Inhaltsverzeichnis

XI

lung des Haushaltsrechts - das Verwaltungsentlastungsgesetz von 1925 - die Zweite Republik: das erste Budgetrechtserkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 19.12.1962 und das vorläufige Haushaltsverfassungsgesetz 1963 - die Geltung des Rechtsstaatsgebots des Art. 18 Abs. 1 B-VG - die Haushaltsverfassungsnovelle 1986. Heribert Franz Köck Die Rolle des Parlaments in der Außenpolitik. ... . ... . ..... . .... .. . . .. . . .... .

297

Grundsätzliches zum Verhältnis von Parlament und Außenpolitik in Österreich - die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Beteiligung des Parlaments an der Außenpolitik in der Monarchie - die verfassungsmäßigen Voraussetzungen in der Republik - die tatsächliche Rolle des Parlaments in der Außenpolitik - das Parlament und die Außenpolitik in der Monarchie (1867-1919): Der Konflikt mit dem Heiligen Stuhl um das Konkordat (1867-1874) - der deutsch-französische Krieg 1870/71 und die Gründung des Zweiten Deutschen Reiches - der Pontus-Fall und die Bündnisfrage (1871-1873) - der Berliner Kongreß (1878) und die Besetzung Bosniens und der Herzegowina - der Abschluß von Zweibund (1879) und Dreibund (1882) und die weitere Bündnisdiskussion die Annexionskrise 1908/09 und ihre Folgen - der Erste Weltkrieg und das Ende der Donaumonarchie - das Parlament und die Außenpolitik in der Republik (1918 ff.): Eine allgemeine politische Übersicht - der Staatsvertrag von St. Germain (1919) - die Genfer Protokolle von 1922 - das Zollunionsprojekt (1931) und die Lausanner Anleihe (1932) - das Warten auf den Staatsvertrag (1945 -1955) - Österreich als dauernd neutraler Staat: Die Übernahme des Statuts der dauernden Neutralität (1955) - vom Kalten Krieg zur Sicherheitspartnerschaft (1955-1991)der Weg Österreichs zu den Vereinten Nationen und seine Aufnahme 1955 - Österreich und die europäische Integration: Der Europarat (von der Beobachterrolle zur Mitgliedschaft 1952-1956) - die wirtschaftliche Integration Europas, Österreichs Weg von der EFTA zur EG - die Integrationsdebatten - der Abschluß des Globalabkommens zwischen Österreich und der EWGjEGKS - die Vision eines "Binnenmarktes" - die Variante eines Vollbeitritts Österreichs zur EG - die Diskussionen über die immerwährende Neutralität Österreichs in Zusammenhang mit dem EG-Beitritt - die Südtirolfrage - Österreich, die Europäische Sicherheitskonferenz (1973-75) und die Nachfolgekonferenzen (1977 ff.) - der Beitrag des Parlaments zur Fortbildung der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts. Bruno Primetshofer und J osef Kremsmair Die gesetzliche Entwicklung der Beziehungen von Kirche und Staat. . . . . . Schule und Konkordat von 1855 - die Konkordatsschule - das "Religionsedikt von Mühlfeld" - die Schulgesetzgebung in der liberalen Gesetzesära - die Schule unter der obersten Aufsicht des Staates - das Gesetz über das Verhältnis der Schule zur Kirche von 1868 und das Reichsvolksschulgesetz von 1869 - das "Gesetz, wodurch grundsätzliche

397

Inhaltsverzeichnis

XII

Bestimmungen über das Verhältnis der Schule zur Kirche erlassen werden" - antiliberale Strömungen - die Novelle zum Reichsvolksschulgesetz - Schulreformversuche in der Ersten Republik - Reformprogramm mit Ziel der Entkonfessionalisierung der Schule - die antikirchliche Agitation der Sozialdemokraten - die burgenländische Schulfrage - Kirche und Staat nach 1945 - zwei Entwürfe für eine Gesamtregelung des Schul- und Erziehungswesens im Jahre 1948 - das Religionsunterrichtsgesetz von 1949 und seine Novelle 1957 - die Schulgesetzgebung 1962 - der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen - das Privatschulgesetz 1962 - die Ehefrage in der liberalen Ehegesetzgebung - die liberalen Reformversuche des Jahres 1868 - die Notzivilehe - ein neues Mischehegesetz - Ehereformbestrebungen in der Ersten Republik - die Sonderstellung des Eherechts im Burgenland - die Praxis der Dispenseheschließung - eherechtliche Probleme der Zweiten Republik - die Übernahme der Großdeutschen Ehegesetzgebung (1938) - die Zwangszivilehe - die Laiennottrauung - die Frage der Geltung des Konkordats von 1933 in der Zweiten Republik. II. Verfahrensrecht und seine Entstehungsgeschichte

Franz Matscher Die Entwicklung des zivilprozessualen Rechts

475

Ein Überblick über die österreichischen Verfahrensgesetze - die Zivilprozeßreform der Jahrhundertwende - die Allgemeine Gerichtsordnung 1781-die Reformtätigkeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts-dieBehandlung der Zivilprozeßgesetzentwürfe - Grundlagen zur Anwendung der Zivilprozeßgesetze - die Neuregelungen des Insolvenzrechts - das zivilprozessuale Verfahrensrecht in der Gesetzgebung der Ersten Republik - die Novellen zum Gerichtsentlastungsgesetz und zur Exekutionsordnung - das zivilprozessuale Verfahrensrecht in der Gesetzgebung der ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik - einige Beispiele für die Gesetzgebungstätigkeit, wie etwa das Lohnpfändungsgesetz, das Verfahrenshilfegesetz, das Konsumentenschutzgesetz und das Zustellgesetz - das Insolvenzrechtsänderungsgesetz 1982 - die Verhandlungen zur "Zivilverfahrensnovelle" 1979 - das Gesetz über die Sachwalterschaft - die Entwicklung des zivilprozessualen Verfahrensrechts seit der Zivilverfahrens-Novelle 1983 - weitere Gesetzgebungsaktivitäten, wie z. B. die Zivilverfahrensnovelle 1986 und die Erweiterte Wertgrenznovelle 1989 - der Einfluß internationaler Verträge auf das österreichische Verfahrensrecht. Heinz Mayer Allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht Die Leitideen in der Entwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts die Errichtung des Verwaltungsgerichtshofes - die Gesetze zur Verein-

519

Inhaltsverzeichnis fachung der Verwaltung - die Behandlung der Regierungsvorlage betreffend die Verwaltungsverfahrensgesetze im Nationalrat - allgemeine Betrachtungen zur weiteren Entwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts - die Verwaltungsstrafgesetz-Novelle 1932 - die geplante Entlastung der Verwaltungsstrafbehörden - die VerwaltungsstrafgesetzNovelle 1971 - die Novelle zum Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz 1982 - die Verwaltungsstrafgesetz-Novelle 1984 - die Verwaltungsvollstreckungsgesetz-Novelle 1986 - die VerwaltungsstrafgesetzNovelle 1987 - die Novelle zum Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz und die Verwaltungsstrafgesetz-Novelle 1990 - die Grundpfeiler des Verwaltungsverfahrensrechts.

XIII

Abkürzungsverzeichnis A.

Antrag, Ausschuß

a. A., aA

anderer Ansicht

a. a. O.

am angegebenen Ort

AB

Ausschußbericht, Augsburger Bekenntnis

Abg.

Abgeordneter

ABGB

Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch

AbgH, AR

Abgeordnetenhaus

ABS-Handbuch

Vorschriftensammlung für das allgemein bildende Schulwesen

Abs.

Absatz

Abschn.

Abschnitt

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

a. D.

außer Dienst

ADB

Allgemeine Deutsche Biographie

ADV

Allgemeine Dienstvorschriften

AEZG

Auslandseinsatzzulagengesetz

AG

Aktiengesellschaft

AGO

Allgemeine Gerichtsordnung

AR

Abgeordnetenhaus

Ah.

Allerhöchste(r, s)

AHGB

Allgemeines Handelsgesetzbuch

AHS

Allgemeinbildende Höhere Schule

AHStG

Allgemeines Hochschulstudiengesetz

AI

Austrian Industries

AIDS

acquired immune deficiency syndrome (erworbenes Immundefektsyndrom)

AKB

Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis

AKH

Allgemeines Krankenhaus

AKHB

Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung

AkKR

Archiv für katholisches Kirchenrecht

AktG

Aktiengesetz

All. Rat

Alliierter Rat

AMA

Agrarmarkt Austria

Abkürzungsverzeichnis AMAG

Austria Metall-AG

Anm.

Anmerkung

Anm. d. V(erf).

Anmerkung des Verfassers

AntikorrG

Antikorruptionsgesetz

Antr.

Antrag

AnwBI a.

0.,

ao.

xv

Österreichisches Anwaltsblatt außerordentlich, -e, -er, -es

a.ö.

allgemein öffentlich

AÖF

Amtsblatt der österreichischen Finanzverwaltung

AOG

Akademie-Organisationsgesetz

AÖR

(deutsches) Archiv des öffentlichen Rechts

apostol.

apostolisch

ArbHG

Arbeitshausgesetz

Art.

Artikel

ASFINAG

Autobahn- und Schnellstraßen-FinanzierungsAG

ASGG

Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz

ASlg.

Amtliche Sammlung wiederverlautbarter österreichischer Rechtsvorschriften

ASOR

Übereinkommen über die Personenbeförderung im grenzüberschreitenden Gelegenheitsverkehr mit Kraftomnibussen

ASS

ACTA SANCTAE SEDIS

ASVG

Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

AUA

Austrian Airlines

Aufl.

= Auflage

AußStrG

= Außerstreitgesetz

AVA

= Allgemeines Verwaltungsarchiv

AVB Gas

Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung

AVG

Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz

B.

Beilage(n)

BAO

Bundesabgabenordnung

BBK

Bau- und Bodenkorrespondenz

Bd(e).

Band,Bände

BDG

Beamten-Dienstrechtsgesetz

BDStG

Bedarfsdeckungsstrafgesetz

BE

Berichterstatter

begr.

begründet

Beh.

Behörde(n)

Beh(-)ÜG

Behörden-Überleitungsgesetz

Beil., Big.

Beilage(n)

XVI BerRF RPL

Abkürzungsverzeichnis Berichte zur Raumforschung und Raumplanung

bes.

besonders

Beschl.

Beschluß

betr.

betreffend

bev.

bevollmächtigt

BewHG

Bewährungshilfegesetz

BF(in)G

Bundesfinanzgesetz

BG

Bundesgesetz, Bundesgymnasium

bg.

bezirksgerichtlieh

BGBl-G

Bundesgesetz blattgesetz

BGBL

Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich

BGH

(österreichiseher) Bundesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

Bgld.

Burgenland

BH

Bezirkshauptmannschaft, Bundesheer

BHG

Bundeshaushaltsgesetz

BHS

Berufsbildende höhere Schule

BK

Bundeskanzler

BKA

Bundeskanzleramt

BKGW

Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft

B-KUVG

Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz

B-KVG

Bauern-Krankenversicherungsgesetz

Blg.

Beilage(n)

BlgKonstNV

Beilagen zur Konstituierenden Nationalversammlung

BlgNR

Beilagen zu den Steno graphischen Protokollen des Nationalrates

BM

Bundesminister(ium)

BMBT

Bundesminister(ium) für Bauten und Technik

BM(f)AA

Bundesminister(ium) für Auswärtige Angelegenheiten

BM(f)F(in.)

Bundesminister(ium) für Finanzen

BM(f)G(u)U

Bundesminister(ium) für Gesundheit und Umweltschutz

BM(f)I

Bundesminister(ium) für Inneres

BM(f)U

Bundesminister(ium) für Unterricht

BM(f)UK(S)

Bundesminister(ium) für Unterricht und Kunst (und Sport)

BMfJ(ustiz)

Bundesminister(ium) für Justiz

BMHGI

Bundesminister(ium) für Handel, Gewerbe und Industrie

BMHW, BMH, BMHuW

Bundesminister(ium) für Handel und Wiederaufbau

BMLF

Bundesminister(ium) für Land- und Forstwirtschaft

Abkürzungsverzeichnis BMöWV

XVII

= Bundesminister(ium) für öffentliche Wirtschaft und Verkehr

BMS(V)

Bundesminister(ium) für soziale Verwaltung

BMV

Bundesminister(ium) für (öffentliche Wirtschaft u.) Verkehr

BMVV

Bundesminister(ium) für Verkehr und verstaatlichte Betriebe

BMwA

Bundesminister(ium) für wirtschaftliche Angelegenheiten

BMWF

Bundesminister(ium) für Wissenschaft und Forschung

BO

Betriebsordnung

BodenBG

Bodenbeschaffungsgesetz

böhm.

böhmisch

BPD

Bundespolizeidirektion

BPräs. B-PVG BR BRD

= Bundespräsident = Bauern-Pensionsversicherungsgesetz = Bundesrat

= Bundesrepublik Deutschland

BReg.

Bundesregierung

BSG

Bundesbediensteten-Schutzgesetz

BStG BSVG BT BT-DS BV B-VG

Bundesstraßengesetz

= Bauern-Sozialversicherungsgesetz = Bundestag = Drucksachen des Deutschen Bundestages

= Bundesverfassung, Bundesversammlung Bundes-Verfassungsgesetz

BVG

Bundesverfassungsgesetz

B-VN

Bundes-Verfassungsnovelle

B-VGN

Bundes-Verfassungsgesetznovelle

BWK

Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft

BWSFG

Bundes-Wohn- und Siedlungsfondsgesetz

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

CA

Creditanstalt

ca.

cirka

can.

canon

CCPR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

CIC

codex iuris canonici

CIM

Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

CIV

Übereinkommen über den Eisenbahn-Personen- und Gepäcksverkehr

CMR

Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr

CPBl

Christlich-pädagogische Blätter

CS

Christlich-Soziale

cs.

christlich-sozial

D.

Deutsch(es)

d.

der, die, das, des, den

d. B.

der Beilagen

dBIg.

der Beilagen

dBVerfG

deutsches Bundesverfassungsgesetz

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DDSG

Donau Dampfschiffahrts-Gesellschaft

dems.

demselben

ders.

derselbe

DF

Deutsch-freiheitliche

df.

deutsch-freiheitlich

DFB

Druckfehlerberichtigung

dgl.

dergleichen

d. h.

das heißt

d. i.

das ist

Dipl.-Ing.

Diplomingenieur

Dipl.-Vw.

Diplomvolkswirt

Diss.

Dissertation

d. J.

dieses Jahres

DJT

Deutscher Juristentag

Dkfm.

Diplomkaufmann

dn.

deutsch-national

DOKW

Donaukraftwerke

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

Dr.

Doktor

DRdA

Das Recht der Arbeit

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

d(r)zt.

derzeit

d. s.

das sind

DSG

Datenschutzgesetz

dt.

deutsch

D(t.)RGBl.

Deutsches Reichsgesetzblatt

DV

Durchführungsverordnung

Abkürzungsverzeichnis

XIX

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt

DVV

Dienstrechtsverfahrensverordnung

DWEV

Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Amtsblatt des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung, Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder)

E

Elektrizität

E.

Entscheidung, Erkenntnis

EB

Erläuternde Bemerkungen

ebda.

ebenda

EDU

Europäische Demokratische Union

EDV

Elektronische Datenverarbeitung

EFTA

European Free Trade Association (Europäisches Freihandelsabkommen)

EG

Europäische Gemeinschaften, Einführungsgesetz

EGBGB

Einführungsgesetz zum (deutschen) Bürgerlichen Gesetzbuch

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EGVG

Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen

EGzStVG

Einführungsgesetz zum Strafvollzugsgesetz

ehern.

ehemalig

einst.

einstimmig

EKHG

Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz

em.

emeritiert

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

engl.

englisch

Entw.

Entwurf

EnWG

Energiewirtschaftsgesetz

EO

Exekutionsordnung

Erg.Bd.

Ergänzungsband

Erk.

Erkenntnis

Erkl.

Erklärung

erl.

erläuternd(e)

ERP

Europäisches Wiederaufbauprogramm

EStG

Einkommensteuergesetz

et al.

et alii (und andere)

etc.

et cetera

EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

Europ.

Europäisch(e)

xx

Abkürzungsverzeichnis

e.V.

eingetragener Verein

EV

Einführungsverordnung

EVO

Eisenbahnverkehrsordnung

EVU

Elektrizitätsversorgungsunternehmen

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EZG

Einsatzzulagengesetz

f.

für, und der (die) folgende

FAG

Finanzausgleichsgesetz

ff.

und die folgenden

FGW

Forschungsgese11schaft für Bauen, Wohnen und Planen

FinStrG

Finanzstrafgesetz

FN

Fußnote

FP

Freiheitliche Partei

FPÖ

Freiheitliche Partei Österreichs

Frh(r).

Freiherr

FS

Festschrift

FSVG

Freiberuflichen-Sozialversicherungsgesetz

F-VG

Finanz-Verfassungsgesetz

G

Gesetz

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zo11- und Handelsabkommen)

GBl(f)Ö

Gesetzblatt für das Land Österreich

GBL f. d. L.

Gesetzblatt für das Land

Gbl.

Gesetzblatt

GD

Großdeutsche

gd.

großdeutsch

Gebr.

Gebrüder

GedBlg.

Gesetzesvorschlag der Bundesregierung der Beilagen

gern.

gemeinsam, gemäß

Gen.

Genossen, Genossenschaft

Gend.Ges.

Gendarmeriegesetz

Geo

Geschäftsordnung

Ges.Red.

Gesamtredaktion

GewO

Gewerbeordnung

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Bonner Grundgesetz)

GGRV

Gesetz zur Abänderung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung

Abkürzungsverzeichnis GGSt

XXI

Bundesgesetz über die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße

GH

Gerichtshof

GKW

Gemeinschaftskraftwerk

glz.

gleichzeitig

G(es)mbHG

Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung

GO GOG

Geschäftsordnung

GP

Gesetzgebungsperiode

GSKVG

Gewerbliches Selbständigen-Krankenversicherungsgesetz

GSPVG

Gewerbliches Selbständigen-Pensionsversicherungsgesetz

Geschäftsordnungsgesetz, Gerichtsorganisationsgesetz

GSVG

Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz

Gu

Gutachten

GÜG

Gehaltsüberleitungsgesetz

GVK-Ö

Österreichisches Gesamtverkehrskonzept

GZ

Geschäftszahl, Österreichische allgemeine Gerichtszeitung

H.

Heft

HA

Hauptausschuß, Handelsausschuß

hA

herrschende Ansicht

HB

Helvetisches Bekenntnis

HBDG

Heeresbeamtendisziplinargesetz

h. c.

honoris causa

HDAG

Heeresdisziplinarrechtsanpassungsgesetz

HdbkathKR

Handbuch des katholischen Kirchenrechts

HDG

Heeresdisziplinargesetz

HdSW

Handbuch der Sozialwissenschaften

HGB

Handelsgesetzbuch

HGG

Heeresgebührengesetz

HGM

Heeresgeschichtliches Museum

HH

Herrenhaus

HHStA

Haus-, Hof- und Staatsarchiv

hist.

historisch

Hl.

Heiliger

h. L.

herrschende Lehre

HM

Handelsminister

HME HMV

Erlaß des Handelsministers

= Verordnung des Handelsministers

XXII

Abkürzungsverzeichnis

HOG

Hochschul-Organisationsgesetz

Hptst.

Hauptstück

Hr(s)g.

Herausgeber

hrsg.

herausgegeben

HV

Hauptverhandlung

HVG

Heeresversorgungsgesetz

Hvhbg.

Hervorhebung

L

im, in

IA, In.A.

Initiativantrag

IAEO

Internationale Atomenergie-Organisation

La. R.

in aller Regel

ibid.

ibidem (ebendort)

IBV

Industrie- und Bergbauverwaltung

IBVG

Industrie- und Beteiligungsverwaltungs GmbH

ICD - CODE

von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte Internationale Klassifikation der Krankheiten

L d. F.

in der Fassung

L d. g. F.

in der geltenden Fassung

L d. R.

in der Regel

!DU

Internationale Demokratische Union

L e. L.

in erster Linie

L e. S.

im engeren Sinne, im eigentlichen Sinne

IFÖ

Informationsblatt des Instituts für Föderalismusforschung

IGH

Internationaler Gerichtshof

L J.

im Jahr

IKPO, ICPO

International Criminal Police Organization

ILO

International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation)

ImmZ

Österreichische Immobilien-Zeitung

Ing.

Ingenieur

inhaltl.

inhaltlich

insb(es).

insbesondere

Inst.

Institut, Installment

internat.

international

IPR

Internationales Privatrecht

LR.

in Ruhe

IRÄG

Insol venzrechtsänderungsgesetz

L S.

im Sinne

Ital.

Italien, Italienisch, Italiener

LV.m.

in Verbindung mit

Abkürzungsverzeichnis i. w. S.

im weiteren Sinne

JA

Justizausschuß

JAB

Justizausschußbericht

JABl Jahrb. JBl. JBö(ff)R (NF)

JfB Jg. JGG

= Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung

= Jahrbuch

= Juristische Blätter = Jahrbuch für öffentliches Recht (Neue Folge) = Journal für Betriebswirtschaft = Jahrgang

= Jugendgerichtsgesetz

JGPrÖ

= Jahrbuch der Geschichte des Protestantismus in

JGS

= Justizgesetzessammlung

Jh(er)JB

Österreich

Jherings Jahrbücher für Dogmatik des bürgerlichen Rechts

JMVBl

Verordnungsblatt des k.k. Justizministeriums

JN

Jurisdiktionsnorm

JStrAG

Jugendstrafrechtsanpassungsgesetz

Jud.

Judikatur

jurist.

= juristisch(e)

K

Kundmachung

KAG

Krankenanstaltengesetz

kais.

kaiserlich

Kais.V

Kaiserliche Verordnung

Kap.

Kapitel

Kdm.

Kundmachung

KDV

Kraftfahrgesetz-Durchführungsverordnung

KFG

Kraftfahrgesetz

KfLG

Kraftfahrliniengesetz

Kfr-ÜG

Kraftfahrrechts-Überleitungs gesetz

KFV

Kraftfahrverordnung

Kfz.

Kraftfahrzeug

KG

Kreisgericht

kgl.

königlich

k.k. KMG

XXIII

kaiserlich-königlich

= Bundesgesetz über die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial

KO

Konkursordnung

K(onst)NV

Konstituierende Nationalversammlung

Kontrollabk.

Kontrollabkommen

XXIV

Abkürzungsverzeichnis

KOVG

Kriegsopferversorgungsgesetz

KP

Kundmachungspatent

KPÖ

Kommunistische Partei Österreichs

Krnt. KSchG KSZE

Kärnten

KTS

Konsumentenschutzgesetz Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen

k.u.k.

kaiserlich und königlich

KVAE

Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa

KVG

Krankenversicherungsgesetz

KWEG

Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz

kW LandstrG

Kilowatt Landstreichergesetz

LB leg. cit.

Landbund legis citatae (des zitierten Gesetzes)

LFG

Luftfahrtgesetz

Lfg.

Lieferung

LG

Landesgesetz

LGBl.

Landesgesetzblatt

LGf

Landesgericht für Landesgesetz- und Verordnungsblatt

LGuVBl. LH

Landeshauptmann

LH-StV

Landeshauptmannstellvertreter

Lit. lit.

Literatur litera (Buchstabe), literarisch

LKW

Lastkraftwagen

LMG

Lebensmittelgesetz

LReg.

Landesregierung

LSG

Ladenschlußgesetz

LT

Landtag Landesverfassung

LV M

Minister(s)

MAG

Bundesgesetz über militärische Auszeichnungen

Mag. masch.schr.

Magister maschinenschriftlich

m.a.W. MBFR

mit anderen Worten Mutual Balanced Force Reductions (beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierung)

MedG

Mediengesetz

Abkürzungsverzeichnis

xxv

mehrh.

mehrheitlich

MGA

Manzsche Große Ausgabe der österreichischen Gesetze

MietG

Mietengesetz

MietRG

Mietrechtsgesetz

MilStG

Militärstrafgesetz

Min.Dir.

Ministerialdirektor

Min.Sekr.

Ministersekretär

Min.Vdg.

Ministerialverordnung

MinR(at)

Ministerialrat

MinR.

Ministerrat

MIÖG

Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung

Mitgl.

Mitglied

Mitt

Mitteilungen

MOG

Marktordnungsgesetz

MöSA

Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs

m.p.

manu propria (eigenhändig)

MRÄG

Mietrechtsänderungsgesetz

MRB

Ministerratsbeschluß

Mrd.

Milliarde(n)

MRK

Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten)

MRP

Die Protokolle des k.-k. Ministerrates, AVA, 18641867, K. 33, Abschriften von Prof. Redlich (1867) MRZ 180/181/189/193 (ungedruckt); die Protokolle des österr. Ministerrates 1848 -1867 (Hrsg.) Komitee für die Veröffentlichung der Ministerratsprotokolle (Hrsg.) Redaktion Helmut Rumpler -, Die Protokolle des österr. Ministerrates 1848 -1867 (Einleitungsband, Abteilungen III, V, VI), Wien 1970 f.

MVBl.

Ministerialverordnungsblatt

m.w.H.

mit weiteren Hinweisen

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NATO

North Atlantic Treaty Organization

neubearb

neubearbeitet

NF

Neue Folge

NFP

Neue Freie Presse

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

N+N-Staaten

neutrale und nichtpaktgebundene Staaten



Niederösterreich

nö.

niederösterreichisch( e )(n)

XXVI Nov.

Abkürzungsverzeichnis Novelle

NPA

Neues Politisches Archiv

NR

Nationalrat

Nr.

Nummer

NRGG

Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates

NRWO

Nationalratswahlordnung

NS

Nationalsozialismus, Nationalsozialisten

ns.

na tionalsozialistisch(e)(n)

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSG

Nationalsozialistengesetz

NV

Nationalversammlung

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NZ

Notariatszeitung

o

Ordnung

o

ordentlich(en)

o.

oben

o. ä

oder ähnlich

o. D.

ohne Datum

od.

oder

OECD

Organization for Economic Co-operation and Development

OEEC

Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit

OeNB

Österreichische Nationalbank

OGH

Oberster Gerichtshof

OGHG

= Bundesgesetz über den Obersten Gerichtshof

OICP, OIPC

Organisation inernationale de police criminelle

o. J. OLG ON OÖ. o.ö.,oö. ORF

ohne Jahr Oberlandesgericht Ordnungsnummer Oberösterreich oberösterreichische(n, r, s) Österreichischer Rundfunk

OStA

Oberstaatsanwalt

Ö.

Österreich

ÖA(f)KR

Österreichisches Archiv für Kirchenrecht

ÖAKT

Österreichischer Arbeiterkammertag

ÖAZ

Österreichische Anwaltszeitung

ÖBB

Österreichische Bundesbahnen

öff.

öffentlich

Abkürzungsverzeichnis

XXVII

ÖGB

Österreichischer Gewerkschaftsbund

ÖGZ

Österreichische Gemeindezeitung

ÖHW

Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich

ÖIAG

Österreichische Industrieverwaltungs-Aktiengesellschaft, Österreichische Industrieholding AG

ÖIG

Österreichische Industrieverwaltungs-Gesellschaft

ÖIGG

Bundesgesetz über die Ausübung der Anteilsrechte des Bundes an verstaatlichten Unternehmen

ÖJBPol

Österreichisches Jahrbuch für Politik

ÖJT

Österreichischer Juristentag

ÖJZ

Österreichische Juristenzeitung

ÖMV

Österreichische Mineralölverwaltung

ÖN(ot)Z

Österreichische Notariatszeitung

ÖNORM(EN)

Österreichische N orm( en)

(Ö)PSK

(Österreichische) Postsparkasse

ÖRZ

Österreichische Richterzeitung

öS

Österreichischer Schilling

ÖSD

Österreichische Staatsdruckerei

Öst(err).

Österreich

öst(err).

österreichische(e, en, er, es)

ÖStWB

Österreichisches Staatswörterbuch, Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes

ÖVA

Österreichisches Verwaltungsarchiv

ÖVP

Österreichische Volkspartei

ÖZ(f)Ö(ff)R

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht

ÖZG

Öffnungszeitengesetz

ÖZP, ÖZPW

Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft

ÖZW

Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

PAG

Pensionsanpassungsgesetz

Pag.

Pagina

parI.

parlamentarisch

PB

Privatbeteiligter

PGS

Politische Gesetzessammlung

phil.

philosophisch, philosophiae

Pkt.

Punkt

Pol.

Polizei

Pol.Vdg.

Polizei verordnung

polit.

politisch(e)

Präs.

Präsident

PresseG

Pressegesetz

XXVIII

Abkürzungsverzeichnis

PRG

Preisregelungsgesetz

Prof.

Professor

Prot.

Protokoll(e)

Prov.NV, PN

Provisorische Nationalversammlung

provo

provisorisch

PStG

Personenstands gesetz

PTV

Post- und Telegraphenverwaltung

PV

Parlamentarische Versammlung, Pensionsversicherung

RA

Rechtsanwalt

RAO

Rechtsanwaltsordnung

RBG

Rückzahlungsbegünstigungsgesetz

RdA

Recht der Arbeit

Rdf.

Rundfunk

RDS

Recht der Schule

RdW

Österreichisches Recht der Wirtschaft

R(d)z

Randzahl, Randziffer

Red.

Redaktion

Rep.

Republik

RG

Reichsgesetz

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RGV

Reisegebührenvorschrift

RH

Rechnungshof

RHG

Rechnungshofgesetz

RIW

Recht der internationalen Wirtschaft

(R)MBliV.

Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums

RRAHP

Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Reichsrathes

RstGB

Reichsstrafgesetzbuch

RT

Reichstag

R-ÜG

Rechts-Überleitungsgesetz

RV

Regierungsvorlage

RVO

Reichsversicherungsordnung

RZ

Richterzeitung

S

Schilling, Sitzung

S.

Seite, Salzburg

s.

siehe

s. a.

siehe auch

Sbg.

Salzburg

SchOG

Schulorganisationsgesetz

SchpflG

Schulpflichtgesetz

Abkürzungsverzeichnis SchUG

XXIX

Schulunterrichtsgesetz

SD

Sozialdemokraten

sd.

sozialdemokratisch

SdP

Sozialdemokratische Partei

SEH

Sonderabfall-Entsorgungs Holding

S(ekt)Chef

Sektionschef

sen.

senior

Sero

Series

Sess.

Session

SGG

Suchtgiftgesetz

Slg.

Sammlung

s. O. sog.

siehe oben sogenannt(e, er, es)

sogl.

sogleich

SozSi

Soziale Sicherheit

SP

Sozialdemokratische Partei, Sozialistische Partei

Sp.

Spalte

SPG

Sicherheitspolizeigesetz

SPÖ

Sozialdemokratische Partei Österreichs, Sozialistische Partei Österreichs

St.

Sankt

StA

Staatsanwalt(-schaft)

StA(mt)

Staatsamt

staatl.

staatlich(en)

Staatsreg.

Staatsregierung

StÄ

Staatsämter

Stb., StB, Stbg.

Der Staatsbürger (Beilage zu den "Salzburger Nachrichten")

StEG

Strafrechtliches Entschädigungsgesetz

StEG, STEG

Stadterneuerungsgesetz

stellv.

stellvertretend

Steno Prot.

Stenographische Protokolle

StG

Strafgesetz

StGB

Strafgesetzbuch

StGBl.

Staatsgesetzblatt

StGG

Staatsgrundgesetz

stilist. -redakt.

stilistisch-redaktionell

StKzlei

Staatskanzlei

Stmk.

Steiermark

StPAG

Strafprozeßanpassungsgesetz

xxx

Abkürzungsverzeichnis

StPG

Strafrechtliche Probleme der Gegenwart

StPO

Strafprozeßordnung

StPolG

Straßenpolizeigesetz

StRAG

Strafrechtsanpassungsgesetz

StRÄG

Strafrechtsänderungsgesetz

StReg.

Staatsregierung

StRH

Staatsrechnungshof

StRHG

Gesetz über den Staatsrechnungshof

StrRÄndG

Strafrechtsänderungsgesetz

StSekr.

Staatssekretär

StV

Staatsvertrag

StVAG

Strafvollzugsanpassungsgesetz

StvG

Strafvollzugsgesetz

StVO

Straßenverkehrsordnung

StVZO

Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung

SV-ÜG

Sozial versicherungs-Überleitungs gesetz

SVP

Südtiroler Volkspartei

szt.

seinerzeit

teilw.

teilweise

ThpQS

Theologisch-praktische Quartalschrift

Tir.

Tirol

TV

u.

Television

= und

UA

Unterausschuß

u. a.

unter anderem

u. a. (m.) u. ä. (m.)

UbG

und andere(s) mehr

= und ähnliche(s).mehr Unterbringungsgesetz

udgl.

und dergleichen

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

ÜG

Übergangsgesetz

UH

Untersuchungshaft

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

ungar.

ungarisch

ungedr.

ungedruckt

Univ.

Universität

Univ.-Prof.

U niversi tätsprofessor

UNO

United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen)

Abkürzungsverzeichnis UNRRA-Hilfe

United Nations Relief and Rehabilitation Administration

UnvbkG

Unvereinbarkeitsgesetz

UOG

U niversitäts-Organisationsgesetz

u. ö.

und öfters

ursprgl.

ursprünglich

US

United States

USchG

Unterhaltsschutzgesetz

USIA

Verwaltung sowjetischer Güter in Österreich

usw.

und so weiter

u. U .

unter Umständen

u. v. a.

und viele(s) andere

UVG

Unfallversicherungsgesetz

UVS UWG

Unabhängige Verwaltungssenate in den Ländern

= Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

u . z(w).

und zwar

V(en)

Verordnung(en)

v.

vom, von, vor

v. a.

vor allem

VA

Verfassungsausschuß

VAG

Versicherungsaufsichtsgesetz

VBl.

Verordnungsblatt

VD

Verfassungsdienst

Vdg.

Verordnung

VdU

Verband der Unabhängigen

VEG

Verwaltungsentlastungsgesetz

Verf.

Verfassung, Verfasser

Verf.Ges. Veröff. Vers. Gesetz

XXXI

Verfassungsgesetz

= Veröffentlichung = Versammlungsgesetz

VEW

Vereinigte Edelstahlwerke

V(er)fGH

Verfassungsgerichtshof

V(er)f(GH)Slg.

Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes

VG

Verfassungsgesetz

vgl.

vergleiche

v.H.

von Hundert

VK

Vizekanzler

VKK

Vergabekontrollkommission

XXXII

Abkürzungsverzeichnis

VKSE

Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa

Vlbg.

Vorarlberg

VO

Verordnung

VOEST

Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke

Vol. VOöB vorl.Vf.

Volumen

= Vergabeordnung für öffentliche Bauträger = vorläufige Verfassung

VP

Volkspartei

VStG

Verwaltungsstrafgesetz

VU

Voruntersuchung

V-ÜG

Verfassungs-Überleitungsgesetz

VVG

Verwaltungsvollstreckungsgesetz

V(er)w(GH)Slg.

Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes

VwGG

Verwaltungsgerichtshofgesetz

V(er)wGH

Verwaltungsgerichtshof

VWO

Vorläufige Wehrordnung

WAnfG

Wohnungsanforderungsgesetz

WÄG

Wohnrechtsänderungsgesetz

WB WBFG

Wehrbund

WdU

Wahlpartei der Unabhängigen

WEG

Wohnungseigentumsgesetz

WFG WG WGG WGN

WHO WIFO

Wohnbauförderungsgesetz

Wohnbauförderungsgesetz

= Wehrgesetz = Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz = Erweiterte Wertgrenzennovelle = Weltgesundheitsorganisation

= Wirtschaftsforschungsinstitut

WiVerw

Wirtschaftsverwaltung

WipolBl.

Wirtschaftspolitische Blätter

wirtschaftl. Wiss.-Min.

wirtschaftlich

= Wissenschaftsminister

wiss.

wissenschaftlich

WP

Wahlperiode

Wr.

= Wiener

WRG

Wasserrechtsgesetz

WSG

Wohnhaussanierungsgesetz

WV

Wiederverlautbarung

Abkürzungsverzeichnis wvb

wiederverlautbaren

WVerbG

Wohnungsverbesserungsgesetz

WVG

Wiederverlautbarungsgesetz

WWG

Wohnhauswiederaufbaugesetz

Z

Ziffer, Zahl, Zeile

z.

zur, zu

ZAS

Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht

z. B.

zum Beispiel

ZfV

Zeitschrift für Verwaltung

ZfVB

Beilagen zur Zeitschrift für Verwaltung

Zif(f).

Ziffer

XXXIII

Zit.

Zitat

zit.

zitiert

Zl.

Zahl

ZNR

Zeitschrift für Neue Rechtsgeschichte

ZNStR

Zum neuen Strafrecht, Referate bei der Österreichischen Richterwahl 1973 (I) und (II)

ZÖR

Zeitschrift für öffentliches Recht

ZP

Zusatzprotokoll

ZPO

(österreichische ) Zivilprozeßordnung

Zs.

Zeitschrift

ZStRW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

z.T.

zum Teil

zugl.

zugleich

ZVN

Zivilverfahrensnovelle

ZVR

Zeitschrift für Verkehrsrecht

ZZP

Zeitschrift für Zivilprozeß

Vorwort Der Parlamentarismus * ermöglicht den Gesetz gewordenen Ausdruck politischen Wollens eines Volkes; er zeigt sich sowohl in der Einrichtung der Gesetzgebung als auch in dem Inhalt ihrer Tätigkeit, d. h. sowohl institutionell als auch materiell. Der jeweiligen Staatsform nach, nämlich ob Monarchie oder Republik, werden die Bedingungen der Rechtssetzung jeweils verschieden und auch für das Regierungssystem mit ausschlaggebend sein. In dieser Sicht bestimmt der Parlamentarismus in gleicher Weise die Konstituierung der Staatsgewalt und die Repräsentation des Volkes; er gibt in einem demokratischen Rechtsstaat, dem Gesetzesstaat, dem Handeln des Staates die normative Grundlage. Diese für den Staat wegweisende Funktion des Parlamentarismus zeigt sich besonders auf den Gebieten des öffentlichen Rechts, in welchen der Aufbau und die Aufgaben des Staates sich verdeutlichen. Der Parlamentarismus ist für das Leben in einem Staat von grundlegender Bedeutung und zeigt im gesetzten, insbesondere auch im öffentlichen Recht das Wollen der jeweiligen Politik an. Das öffentliche Recht läßt die Ordnung eines Staates und auch auf einfachgesetzlicher Ebene dessen Ziele und Zwecke erkennen. In dieser Sicht gibt das Verfassungsrecht und das übrige öffentliche Recht auf einfachgesetzlicher Ebene sowohl die Zuständigkeit und Verantwortung des Staates als auch die Beziehung des Staates zum Einzelnen jeweils wieder. Dabei ist es bemerkenswert, wie nach der jeweiligen staatspolitischen Entwicklung eines Staates sich das Verfassungsrecht nach der Staatsform, dem Staatsaufbau, der Staatsorganisation und dem politischen Ordnungssystem, auch mehr oder weniger unter Wahrung der Rechtskontinuität, ändern kann, während das einfachgesetzliche Recht oft auch eine längere dauernde Geltung besitzt; darin zeigt sich auch die politische Entwicklung eines Staates und seines Volkes. Diese mehr allgemein gehaltenen Feststellungen gelten im besonderen auch für Österreich. Österreich hat eine Beziehung von Parlamentarismus und öffentlichem Recht, welche in die Zeit zurückreicht, als nach der Märzrevolution 1848

* Siehe näher Helmut Widder, Parlamentarische Strukturen im politischen System - Zu Grundlagen und Grundfragen des österreichischen Regierungssystems, Berlin 1979.

XXXVI

Vorwort

in Österreich das Streben nach einer Verfassung und einer demokratischen Staatswillensbildung Platz griff. Erst 1867 hat dieses Bemühen um demokratische Verfassungsstaatlichkeit in den fünf Staats grundgesetzen der sogenannten Dezemberverfassung einen dauerhaften Erfolg erzielt, der den österreichischen Teil der habsburgischen Donaumonarchie, die in ihrer Pluralität den Namen "die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" führte, bis 1918 der Staatsform nach als konstitutionelle Monarchie und ihrem Aufbau nach als dezentralisierter Einheitsstaat kennzeichnete. In dieser Zeit entwickelte sich Österreich über die Wahrung des Rechts- und Machtzweckes hinaus zur allmählichen Anerkennung auch des Kultur- und Wohlfahrtszweckes und wurde vom absolutistischen und konstitutionellen zum demokratischen Wohlfahrtsstaat, in dem nicht die Güte des Monarchen, sondern das politische Wollen der Volksvertretung auf dem Weg parlamentarischer Staatswillensbildung das Wohlergehen des Volkes bestimmen sollte. Diese vor allem in die Regierungszeit von Kaiser Franz Joseph und später Kaiser Karl, unter dem es 1917 zur Errichtung des Sozialressorts kam, fallende Entwicklung hat mit der Schaffung eigener parlamentarischer Einrichtungen schließlich im Reichsrat mit seinen zwei Kammern, dem Abgeordnetenhaus und dem Herrenhaus, eine Form der Gesetzgebung und der parlamentarischen Kontrolle gefunden, die nach der Ausrufung der Republik 1918 auch für den Weg des Parlaments der Republik mitbestimmend wurde. In diesem Zusammenhang sei auch nicht unerwähnt, daß z. B: wichtige Grundsätze der Geschäftsordnung des Kremsierer Reichstages von 1848/49 noch bis zur Geschäftsordnungsreform des Nationalrates 1975 weitergewirkt haben und in bestimmter Weise auch heute noch von Einfluß sind. Diese Entwicklung des österreichischen Parlamentarismus und seiner Einrichtungen hat in dem von mir 1986 im Verlag Duncker & Humblot herausgegebenen Sammelband" Österreichs Parlamentarismus - Werden und System" ihre gesamtstaatliche Darstellung gefunden. Der Parlamentarismus der österreichischen Länder, nämlich der Kronländer der Monarchie und der Bundesländer der Republik, sowohl was die Einrichtungen der Landesgesetzgebung als auch den Inhalt ihrer Tätigkeit betrifft, wurde in dem 1992 in der Österreichischen Staatsdruckerei von mir herausgegebenen Sammelband "Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich" beschrieben. In dem gegenständlichen Sammelband soll der Inhalt der gesetzgebenden Tätigkeit des österreichischen Parlaments vor und nach 1918, also der Monarchie und der Republik, in den wichtigsten Sachbereichen des öffentlichen Rechts dargestellt werden. Hiebei stand die sachbezogene Kontinui-

Vorwort

XXXVII

tät der einzelnen Gesetzesbereiche bei aller Unterschiedlichkeit der Formen des Aufbaues und des politischen Systems Österreichs, welche die österreichische Gesetzgebung begleiteten, im Vordergrund. So weit wie möglich sollte dabei der Anteil der Regierung an der Vorbereitung der parlamentarischen Staatswillensbildung in Form der Regierungsvorlagen ebenso hervorgehoben werden wie der der Initiativen und Beiträge von seiten der gesetzgebenden Körperschaften und der einzelnen Parlamentarier selbst, wie etwa durch Gesetzesinitiativen und die parlamentarische Behandlung der Vorlagen. Da der österreichische demokratische Parlamentarismus, ausgenommen die Zeit der Nationalversammlungen 1918 bis 1920, stets durch ein Zweikammernsystem, nämlich die Tätigkeit von Abgeordnetenhaus und Herrenhaus des Reichsrates der Monarchie und von Nationalrat und Bundesrat der Republik Österreich, gekennzeichnet ist, kam es auch darauf an, im Rahmen des Möglichen den Anteil der jeweiligen gesetzgebenden Körperschaft an der jeweiligen Gesetzesmaterie zu verdeutlichen. Im Hinblick darauf, daß in Österreich in der Zeit seiner Verfassungsstaatlichkeit der Begriff Parlament niemals etwas anderes als eine Gebäudebezeichnung war und daher auch niemals im Verfassungstext stand, weil die gesetzgebenden Körperschaften der Monarchie und der Republik in Österreich immer eigene Bezeichnungen führten, war es in all den einzelnen Beiträgen dieses Sammelbandes wichtig, die gesetzgeberische Aktivität in der jeweiligen parlamentarischen Kammer beispielsweise zu nennen. Sachlich bedingte Entwicklungstendenzen, parteipolitische Einstellungen, berufsständische Interessen, weltanschauliche Grundhaltungen, religiöse Überzeugungen und ethnische Bedingtheiten wurden in der österreichischen Gesetzgebung entweder organisiert, repräsentiert oder individuell aktiviert und in den einzelnen Beiträgen zu den wichtigsten Gebieten des öffentlichen Rechts, soweit es möglich war, thematisiert. Da dieses gegenständliche Buch ein Sammelwerk ist, ist die Behandlung und Darstellung der einzelnen Themen von verschiedenen Autoren in jeweils eigener Prägung erfolgt. Ich danke allen Autoren für die Mühen um die Erarbeitung ihrer Beiträge, die fast in jedem Fall in gleicher Weise eine historisch und systematisch dogmatische Behandlung des jeweiligen Themas verlangten. Es wäre wünschenswert, wenn diese Darstellung der gesetzgeberischen Tätigkeit der parlamentarischen Kammern Österreichs in gesamtstaatlicher Sicht das Maß der Verantwortung des Parlaments für den Weg Österreichs erkennen ließe.

XXXVIII

Vorwort

Wie schon so oft habe ich auch bei dieser Publikation dem Verleger von Duncker & Humblot, Herrn Prof. Norbert Simon, für die verständnisvolle Annahme dieser Schrift zur Veröffentlichung ebenso zu danken wie seinem Mitarbeiter Herrn Dieter H. Kuchta für dessen bewährtes Bemühen um die Herstellung des Buches. Am Institut für Staatsrecht und Politische Wissenschaften der Universität Linz haben sich um die redaktionelle Betreuung des Buches Frau Amtssekretärin Gabriele Langer, Frau Univ.-Ass. Mag. Karin Lanser sowie die Herren Univ.-Ass. Mag. Marcus Bergmann und V.-Ass. Mag. Stefan Grabner sehr verdient gemacht. Wien und Linz, im Dezember 1992 Herbert Schambeck

Zum Geleit Der Präsident des Österreichischen Bundesrates, o. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Schambeck, hat als langjähriger Spitzenrepräsentant der Länderkammer des Österreichischen Parlaments und als akademischer Lehrer für öffentliches Recht die Initiative zur Herausgabe eines umfassenden Werkes übernommen, in welchem der österreichische Parlamentarismus und seine Legislativakte im öffentlich-rechtlichen Beispiel wissenschaftlich aufgearbeitet und dokumentiert werden. Ich danke sowohl dem Herausgeber als auch den vielen Experten aus den Bereichen der Wissenschaft und der Praxis, die durch ihre Mitarbeit an dem Werk den Benützern vielfältige Zugänge zu wichtigen Teilbereichen der parlamentarischen Arbeit ermöglicht haben, sowie Prof. Norbert Simon für die Übernahme dieser umfangreichen Publikation in seinen Verlag Duncker & Humblot, der damit einmal mehr seine Verbundenheit mit Österreich bekundet. Die vorliegende Darstellung bietet aber auch Gelegenheit, über die vielfältigen Aufgaben nachzudenken, die Parlamente im Zusammenhang mit ihrer Gesetzgebungsfunktion wahrzunehmen haben. Jedes Parlament eines demokratischen Staates hat bei seinen Rechtssetzungsakten um einen Interessenausgleich zwischen dem Gemeinwohl und den berechtigten Wünschen und Erwartungen einzelner Bevölkerungsgruppen bemüht zu sein. Wichtigster Maßstab für diesen Interessenausgleich ist das in vielen Fällen nur schwer realisierbare Gerechtigkeitsgebot. Der Gesetzgeber hat bei seinen Rechtssetzungsakten - in der heutigen, sehr komplexen gesellschaftlichen Realität mehr noch als in früheren Epochen des Parlamentarismus - um die Erlassung von Normen bemüht zu sein, die in der Praxis so vollzogen werden können, daß sie den Intentionen des Gesetzgebers entsprechen und das Zusammenleben der Bürger unter Berücksichtigung aller berechtigten Interessen erleichtern. Aktuelle Diskussionen zeigen, daß auch die Erfüllung dieser Aufgabe für den Gesetzgeber nicht immer einfach ist. Schließlich fällt den Parlamenten auch die besonders wichtige Aufgabe zu, öffentlich-rechtliche Normen, die bereits dem Rechtsbestand angehören, immer wieder im Hinblick auf ihre Bewährung in der Praxis und in vielen Fällen sicherlich auch hinsichtlich der weiteren Notwendigkeit

Zum Geleit

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ihres Bestandes, kritisch zu überprüfen. Die Novellierung von Bestimmungen, die sich in der Praxis bewährt haben, und die Aufhebung obsolet gewordener Normen sind Tugenden des Gesetzgebers, die zu Recht von der interessierten Öffentlichkeit vermehrt gefordert werden. Möge das vorliegende Werk über Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich verständnisvolle Aufnahme finden und wichtige Denkanstöße für eine Weiterentwicklung des österreichischen Parlamentarismus in einem künftigen, integrierten Europa liefern. Wien, im Dezember 1992 Dr. fhomas Klestil Bundespräsident der Republik Österreich

I. Werden und Funktion des österreichischen Staatsrechts

1 Parlamentarismus

Von den Staatszwecken Österreichs Von Herbert Schambeck

Zweckmäßigkeit verlangt jedes Gebilde, das nicht um seiner selbst willen besteht, sondern Verantwortung übernommen hat. Verantwortung wieder verlangt Antwort zu geben auf die Sinnfragen eines Seinsbezuges. Diese mehr allgemeine Feststellung gilt im besonderen auch tür den Staat. I.

Der Staat ist der den Einzelnen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktionen erfüllt. Die Verantwortung des Staates zeigt sich in ihrer Aufgabenstellung. In den Staatsaufgaben rechtfertigt sich die staatliche Verantwortung; 1 sie hat so auch die Möglichkeit, Autorität zu begründen 2 und Ordnung zu ermöglichen. 3 Je mehr der Staat im Laufe seiner Entwicklung demokratisiert wurde, desto mehr nahm die Bedeutung der Erkenntnis von Staatsaufgaben, der Einsicht in die Staatsverantwortung und die Verdeutlichung von Staatszwecken zu. 4 1 Näher Peter Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, Bem und Stuttgart 1984, besonders auch S. 77: "Die Rede vom verantwortlichen Staat setzt allerdings voraus, daß er nicht als den Menschen vor- und übergeordnet, daß er im Gegenteil als Gemeinschaft von Menschen und damit als Vergemeinschaftung von je persönlicher Verantwortung gedacht wird." 2 Dazu Rudolf Zorn, Autorität und Verantwortung in der Demokratie, Würzburg 1960; Theodor Eschenburg, Über Autorität, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1969 und Herben Schambeck, Ethik und Staat, Berlin 1986, S. 83 ff. 3 Beachte Herben Schambeck, Ordnung und Geltung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band XI N. F., Heft 3-4, Hans Kelsen zum 80. Geburtstag, 1961, S. 470 ff. 4 Der Ausdruck Staatszwecke wird hier in einem umfassenden Sinn gebraucht; es werden darunter die für den Staat, seinen Aufbau und seine Aufgaben wichtigen Bestimmungen verstanden, welche für den Staat zielführend sind. Die Terminologie unterscheidet in der allgemeinen Staatslehre in bezug auf manche Staaten, wie z. B. die Bundsrepublik Deutschland, nicht zu Unrecht zwischen Staatszwecke, Staatsziele und Staatsaufgaben;'siehe z. B. Georg Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat nach 40 Jahren Grundgesetz, ,Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 48, Berlin-New York 1990, S. 62 sowie Detlef Merten, Über Staatsziele, Die Öffentliche Verwaltung, 1993, Heft 9, S. 368 ff. In meinem Beitrag seien unter Staatszwecke alle finalbezogenenVerfassungsbestimmungen von grundsätzlicher Bedeutung verstanden, die nicht alleine die Staatsorganisation betreffen.

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Staatszwecke haben eine konstituierende, legitimierende, limitierende und im letzten auch motivierende Bedeutung. Im Verfassungsrecht soll die Angabe von Staatszwecken durch positives Recht höchsten Ranges die normative und damit auch die politische Ordnung eines Staates mitbegründen und so auch konstituieren. Dem politischen Wollen in einem Staat wird Richtung gewiesen. Das Handeln der Staatsorgane erhält einen Grund zur Zurechnung; es wird zulässig und erlaubt. In dem von der Verfassung in ihren Staatszwecken angegebenen Rahmen kann der Staat durch seine Organe tätig werden; auf diese Weise ermöglichen und begrenzen die Staatszwecke das Staatshandeln in gleicher Weise. Je mehr oder je weniger Staatszwecke im Verfassungsrecht angegeben werden, desto mehr oder weniger ist diese konstituierende, legitimierende und limitierende Wirkung durch eine Verfassung im Leben eines Staates, das bei der Mehrzweckeverwendung des modernen Staates sowohl das öffentliche wie das private Leben in gleicher Weise erfaßt, deutlich und erkennbar. Je mehr der Staat Verfassungsstaat und je mehr er als solcher auch demokratisiert wurde, desto mehr nahm die Erwartung der Einzelmenschen und der Gesellschaft gegenüber dem Staat und somit auch die Verantwortlichkeiten des Staates zu. Die Staatszwecke können zur Transparenz des politischen Wollens eines Staates und so auch zur Erfüllung der Antwortfunktion einer Verfassung beitragen. 5 Die Angabe von Staatszwecken vermag Antwort auf die Anerkennung der Verpflichtung eines Staates zu geben; sie nimmt damit Bezug auf die Erwartungshaltung gegenüber einem Staat. Gleich dem Verfassungsrecht stehen auch mögliche Staatszwecke mitten im Zeiten lauf, d. h. in der Entwicklung eines Staates; sie sind das mehr oder weniger erkennbare Ergebnis der Auseinandersetzung mit der aus der Geschichte übernommenen Tradition, den Erfordernissen der Gegenwart sowie den Erwartungen in die Zukunft. Je deutlicher Staatszwecke in einem Verfassungsrecht sind, desto direkter ist die Richtung für das Staatshandeln bestimmt und im anderen Fall durch die mehr neutrale Haltung des Verfassungsgesetzgebers gegenüber den Staatszwecken eine größere Freiheit für den einfachen Gesetzgeber gegeben. Sie sind daher auch mehr oder weniger auf ein bestimmtes Menschen- und Staatsbild abgestellt,6 welches sich besonders in den 5 Siehe Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, hrsg. von Adolf J. Merkl, Rene Marcic, Alfred Verdross und Robert Walter, Wien 1971, S. 211 ff. 6 Siehe Herben Schambeck, Menschenbild und Staatsform, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1977, Köln 1978, S. 26 ff.

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Grundrechtsbestimmungen eines demokratischen Verfassungsstaates zeigt.7 Je mehr der Staat auf die Gesellschaft - bei aller Unterschiedlichkeit beider - bezogen und diese plural wurde, desto schwieriger wurde es aber, bei einer pluralen Gesellschaft in einem demokratischen Staat ein einheitliches Menschenbild in einer Verfassungs- und Grundrechtsordnung zum Tragen zu bringen und genauso schwierig auch, Staatszwecke und im Falle deren Mehrzahl deren Rang anzugeben.

Die Staatszwecke treten zumeist in zwei Begriffspaaren auf, nämlich als Rechts- und Machtzweck, dem Primärzweck des Staates, der auf die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit gerichtet ist, und als Kultur- und Wohlfahrtszweck, dem es um kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit geht. Im demokratischen Verfassungsstaat mit seinem Gebot der Gesetzesstaatlichkeit soll dieser Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaat immer auch Rechtsstaat sein,8 das heißt das Handeln des Staates soll an Hand von Gesetzen im formellen und materiellen Sinn vorhersehbar und berechenbar sein. Aus der Gesetzesbindung des demokratischen Verfassungsstaates ergibt sich die mehr oder wenig ·deutlich vorgeschriebene Verpflichtung des Gesetzgebers zur Konkretisierung der Staatszwecke. Diese finden daher auf dem Wege der parlamentarischen Staatswillensbildung ihre Ausführung und Erkennbarkeit. Im Gesetzgebungsakt findet die Anpassung der Staatszwecke an die jeweiligen zeit- und ortsgebundenen Umstände und der Interessenausgleich statt, ohne den eine plurale Gesellschaft nicht demokratisch bestehen kann. Die Zwecke des Staates, die öffentlichen Interessen der Gesellschaft und die persönlichen Anliegen der Einzelmenschen befinden sich in einem demokratischen Verfassungsstaat in einem engen Zusammenhang, der geradezu als schicksalshaft bezeichnet werden muß und der in einer entsprechenden Bezogenheit zum Stufenbau der Rechtsordnung steht. Schon 1919 hat Adolf Merkl in seiner Abhandlung "Staatszweck und öffentliches Interesse" 9 treffend festgestellt: "Fragt man etwa an der Hand 7 Näher Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose, Rudolf Weiler, Valentin Zsifkovits, Herbert Schambeck, Berlin 1976, S. 445 ff. 8 Dazu Hans R. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Konfrontationen 2, Wien-Freiburg-Basel 1967, bes. S. 13 ff. und Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 38, Berlin 1970. 9 Adolf Merkl, Staatszweck und öffentliches Interesse, ein Beitrag zur Nomenklatur der Verwaltungsrechtslehre, Verwaltungsarchiv, 28. Band, 1919, S. 268 ff., zitiert hier nach dem Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, hrsg. von Hans Klecatsky, Rene Marcic und Herbert Schambeck, Band 2, Wien - Salzburg 1968, S. 1559 ff.

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der Staatsverfassung, ob dieser Staat mehr dem sogenannten Rechts-, dem Macht- oder dem Kulturzwecke huldige, so muß man oft antworten: An seinen Werken wirst du ihn erkennen. Es wird sich erst in der Folge zeigen. Die Tatsachen, an denen es sich zeigt, sind die Gesetzgebungsakte. Im Gesetzgebungsstadium tritt meist erst die Differenzierung der Staatszwekke ein; in diesem Stadium hat sich der formelle Gesetzgebungszweck, wie er aus der Verfassung herauszulesen ist, gewissermaßen verlebendigt, mit bestimmten Inhalt erfüllt. Sozialversicherungsgesetze, Arb~iterschutzgeset­ ze lassen z. B. auf den Staatszweck der sozialen Fürsorge schließen, während ein solcher Zweck dem Verfassungstext unmöglich zu entnehmen wäre. Aber auch auf der Gesetzesstufe sind noch nicht alle im Rahmen einer bestimmten Rechtsordnung möglichen Staatszwecke gegeben. Auch die Ver~rdnungsgewalt hat die Fähigkeit, verschiedenerlei Staatszwecke, die in Verfassung und Gesetz nur in nuce enthalten waren, zwar nicht neu zu kreieren, aber doch gewissermaßen zu entfalten, mit Inhalt zu füllen. Es ist z. B. etwas Alltägliches, daß Polizeivorschriften innerhalb des Rahmens des Gesetzes und seines Programms der Abhaltung von Störungen der guten Ordnung ganz bestimmte Güter unter ihre Obhut nehmen, während andere des Polizeischutzes fähige, vielleicht auch bedürftige Interessen schutzlos bleiben. Und nicht zuletzt werden in der sogenannten Rechtsanwendung Staatszwecke, die ihr gewissermaßen unfertig vorliegen, determiniert und konkretisiert. Ist z. B. dem Strafgesetze nur das allgemeine Programm des Schutzes von Leben, Gesundheit, Sittlichkeit und Ehre der Menschen zu entnehmen, so zeigt sich erst an der Hand der Strafrechtspflege, wem dieser gesetzlich vorgesehene Schutz besonders zugute kommt. Und man kann hiernach wohl sagen, daß sich, während auf der Gesetzesstufe Schutz dieser menschlichen Güter im allgemeinen der Staatszweck sei, auf der Rechtsanwendungsstufe der betreffende Staatszweck zum Schutze ganz bestimmter Menschen im besonderen fortgebildet habe. Und während aus dem Gesetz oft noch nicht zu erkennen ist, welcher Strafrechtstheorie es huldigt, wird man auf Grund der Strafjustiz meist zu erkennen in der Lage sein, der Staat verfolge im Rahmen des allgemeinen Strafzwecks durch die Person des bestimmten Richters etwa den Besserungs- oder den Abschreckungszweck. Und so ist namentlich das freie Ermessen die Pforte, durch die eine Fülle neuer, in ihrem Anwendungsgebiete zwar meist sehr begrenzter, aber inhaltlich sehr spezialisierter Staatszwecke in Rechtsordnung und Staatswesen eintreten. Die Staatszwecke sind also nicht bloß einer transzendenten Änderung, sondern auch einem immanenten Ausbau unterworfen. Es ist nicht so, daß heute ein gesellschaftliches Interesse staatsfremd und daß es morgen schlechthin Staatszweck sei. In der Regel sind gesellschaftliche Interessen zunächst nur in sehr entferntem Grade potentielle Staatszwecke, indem eine Rechtserscheinung zunächst bloß die Möglichkeit offen läßt, daß sich

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aus ihr ein bestimmter Staatszweck entwickle; und es dauert oft sehr lange, ehe der fragliche Staatszweck in dem betreffenden Rechtssystem Aktualität erlangt, das heißt, ehe der Rechtserzeugungsprozeß eine Rechtserscheinung zutage fördert, die den fraglichen Inhalt (als Staatszweck) aufweist. Von gegebenen Staatszwecken muß man also mit demselben Vorbehalte sprechen wie von geltendem Rechte. Aus einem undifferenzierten Ursprunge kommend, können sie noch zu einem überaus weitgehend differenzierten Ende gelangen. Wie die Einheit der Verfassung zu Mannigfaltigkeit der Gesetze und diese wieder zur Fülle der Rechtsanwendungsakte niedersteigt, so entfaltet sich der in der Verfassung inhaltlich ungeklärte Staatszweck in der Gesetzgebung bald zur Verfolgung öffentlicher bald privater Interessen, und in der Rechtsanwendung tritt uns eine bunte Fülle höchst verschieden orientierter Staatszwecke entgegen. Es gibt also beim Staatszwecke kein apriori gegenüber dem Rechte, namentlich kein apriori des öffentlichen Interesses. Erst mit dem Rechte, in gleicher Stufenfolge wie das Recht, werden die einzelnen Staatszwecke geschaffen. Man kann hiernach sehr wohl verschiedene Grade von Staatszwecken unterscheiden. Diese Ordnung der Staatszwecke bestimmt sich aber nicht nach dem Gewichte der zugrundeliegenden, der vom Staate im Wege Rechtens rezipierten gesellschaftlichen Interessen, sondern nach der Rechtsform, in der ein Staatszweck auftritt, nach dem Grade der mit der Rechtskonkretisierung einhergehenden materiellen Ausgestaltung. In dieser Hierarchie der Staatszwecke ist das öffentliche Interesse nicht apriori Staatszweck, hat es nicht einmal einen Vorrang unter den Staatszwecken, sondern nur jenen Rang, der der Rechtserscheinung zukommt, in der das fragliche öffentliche Interesse vom Staate rezipiert wurde." 10

Durch die Normierung als Staatszweck wird ein öffentliches Interesse und politisches Wollen zu einem rechtlichen Sollen im Staat. Der von Adolf Merkl verdeutlichten Stufenfolge der Rechtsordnung entspricht eine Stufenfolge der Staatsinteressen sowie eine solche der Staatszwecke. "Es gibt aber nichtsdestoweniger eine juristisch feststellbare Stufenfolge von Staatszwecken. Die Stufenfolge läuft mit der Reihe der Rechtserscheinungsformen parallel." 11 Hier ist aber jene Stelle am deutlichsten im Rechts- und Staatsleben, bei der sich das Verfassungsrecht, wie es Adolf Merkl gerne ausdrückte, als kodifizierte Politik erweist. Die Entscheidung, ob ein Verfassungsrechtssystem Staatszwecke verdeutlicht oder nicht und wenn ja, welche positiviert werden und dann bei deren Mehrzahl in welcher Rangfolge, im demokratischen Verfassungs staat zunächst im Hinblick auf das Erfordernis der Gesetzesbindung der Rechts10

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Merkl, Staatszweck, S. 1569 ff. Merkl, Staatszweck, S. 1569.

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und Machtzweck und hemach der Kultur- und Wohlfahrtszweck, ist eine politische, deren Normierung eine rechtliche Entscheidung. Die juristisch feststellbare Stufenfolge der Staatsinteressen und Staatszwecke bedarf daher auch eine solche der politischen Entscheidungen. Es zeigt sich darin auch, ob ein Staat mehr expansive Staatszwecke oder mehr limitierende Staatszwecke sein eigen nennt. 12 All dies verlangt als Voraussetzung für die Aufnahme als Staatszweck in das Verfassungsrecht eine politische Entscheidung, der bejahendenfalls und nur dann ein Rechtsakt zu folgen hat. Ein Automatismus des unbedingt Erforderlichen ist nicht gegeben. Anschaulich hat bereits Georg Jellinek bemerkt: "So wenig bloß mitteIst logischer Gesetze Erkenntnis, mitteIst ästhetischer Gesetze Kunstwerke erzeugt werden können, so wenig läßt sich durch bloße Deduktion aus dem Staatszwecke irgendeine positive politische Aufgabe lösen. Setzt man Verwirklichung des Rechtes als Staatszweck, so sagt uns diese Formel niemals, was als Recht zu gelten habe, weil die konkrete Gestaltung des Rechtes immer von den jeweiligen sozialen Verhältnissen eines bestimmten Volkes abhängig ist. Da derselbe oberste Zweck durch zahllose Mittel erreicht werden kann, so belehrt uns die Kenntnis des Zweckes keineswegs über die ihn verwirklichenden Mittel." 13 Die jeweilige Entscheidung des Ob und des Wie betreffend der Staatszwecke ist ein entscheidender Beitrag zur Rechtfertigung des Staates in seiner Existenz und die Erklärung seines politischen Wollens. Die Primärentscheidung hiezu trifft im heutigen demokratischen Verfassungsstaat der Gesetzgeber, zunächst der Verfassungsgesetzgeber und hemach der einfache Gesetzgeber, das heißt der parlamentarische Raum bestimmt die Normierung in der Konstitutionalisierung und hemach die Konkretisierung der Staatszwecke. Die Staatszwecke stellen sich daher zunächst dem Gesetzgeber und dann allen übrigen Organen als Zielnormen dar. 14

11. Fragt man nach den Staatszwecken im österreichischen Staatsrecht, so haben diese, wenn überhaupt, dann nur eine ansatzweise Bedeutung gehabt, ohne ein eigenes Programm oder System an Staatszwecken vorweisen zu können, das einen Katalog oder ein System an Werten beinhaltet. Mehr oder weniger deutlich eigens ausgedrückt stand als Primärzweck des Staates die Herstellung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit im Vordergrund, 12 Dazu Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck, Darmstadt 1960, S. 242 ff. 13 Jellinek, Staatslehre, S. 238. 14 So auch Ress, Staatszwecke, S. 108.

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ohne daß auch expressis verbis angegeben wurde, wozu Ruhe, Ordnung und Sicherheit im Staat genutzt werden.

Otto Stolz 15 hat bereits darauf verwiesen, daß in Gesetzen österreichischer Länder seit dem 13. Jahrhundert "der Frieden und Gemach, der Nutz und Frommen von Land und Leuten" und "der Gemein Nutzen" als Zweck und wichtigste Aufgabe der Landesfürsten angegeben wird. 16 "Der Friede bedeutet die Sicherheit des Landes nach innen und außen, der Gemach das ruhige, sichere Leben seiner einzelnen Bewohner unter dem Schutz des Rechtes, Nutz und Frommen das Wohl und das wirtschaftliche Gedeihen derselben." 17 Stolz bemerkt mit Recht, daß diese Zielsetzung sich bereits in der Schrift "De regimine principis" des Abtes Engelbert von Admont, der um 1300 auch Landeshauptmann der Steiermark war,18 und auch in der Einleitung zum großen Privileg des Hauses Österreich von 1453 und 1530 befindet. In dem Privileg von 1530 wird "die Beschirmung des christlichen Glaubens, die Beförderung des gemeinen Nutzens, die Erhaltung des guten Wesens, Friedens und löblicher Polizei" angegeben. 19 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang mit der Herrschaftspflicht der damaligen Zeit der Monarchie, die prägend auch für die Zwecke und Ziele des Staates ist, das Testament Kaiser Ferdinand II. von 1621, in dem er als Empfehlung für seine Nachfolger festhält: "Gott habe ihm und seinen Erben die Königreiche und Länder nicht zu ihrem eigenen Nutzen und zur weltlichen Pracht, sondern zur Ehre seines Namens und zur sorgfältigen Beförderung ewiger und zeitlicher Wohlfahrt für Land und Leute anvertraut und daß sie diese bei ihren Freiheiten und Rechten und bei guter Justizia halten." 20 Nicht unerwähnt soll es auch sein, daß schon Herzog Rudolf in seiner Stadtordnung von Wien 1361 die "angeborene Milde" hervorhebt und ein Akt der oberösterreichischen Regierung von 1674 die "bekannte österreichische Clemenz und Milde" betont und dem folgend die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion von 1720 durch die Landstände "die aller milde15 Siehe über Der allgemeine Staatszweck und der besondere Staatsgedanke in der Geschichte Österreichs, in: Qtto Stolz, Grundriß der Österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Innsbruck-Wien 1951, S. 138 ff. 16 Dazu Ernst Freiherr von Schwind, Alfons Dopsch, Ausgewählte Urkunden zur Verfassungsgeschichte der deutsch-österreichischen Erblande im Mittelalter, Innsbruck 1895, Neudruck Aalen 1968, S. 25, 26, 42, 142, 148, 190 und 203 sowie Qtto Stolz, Die Begriffe Volk und Gemeinschaft in den Tiroler Urkunden, in: Österreichische Volkskultur, hrsg. von Anton Dörrer u. a., Band 1, Wien 1947, S. 254 ff. 17 Stolz, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 138. 18 Dazu Andreas Pasch, Die staats- und kirchenpolitische Stellung Engelberts von Admont, Paderborn 1920 und Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Stuttgart 1938, unveränderter Nachdruck 1952, S. 329. 19 Codex Austriacus, 1704, Band 2, S. 96. 20 Gustav Turba, Die Grundlagen der Pragmatischen Sanktion, Leipzig-Wien 1912, Band 2, S. 348 f.

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ste, mildreichste und mildväterliche Regierung des Hauses Österreich" nennt. 21 Stolz 22 weist auch darauf hin, daß das Reskript, mit dem Kaiser Karl VI. den Landständen der einzelnen Länder 1720 die Pragmatische Sanktion zur Anerkennung vorlegte, als Zweck dieses Grundgesetzes angibt außer der Regelung der Erbfolge, "die unzertrennbare Vereinigung und Beisammenhaltung aller Länder des Hauses Österreich, weil davon auch das Heil, die Ruhe und der Wohlstand aller Stände und Untertanen abhänge"; in ähnlicher Weise erklärt die ungarische Fassung dieses Gesetzes als Zweck der Vereinigung des ungarischen Königreiches mit den österreichischen Ländern "die öffentliche Wohlfahrt und die Sicherung gegen fremde Gewalt und die Aufrechterhaltung der inneren Ruhe". 23 Die Wohlfahrt tritt neben die Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren und der Sicherheit auch nach außen in der Folgezeit immer stärker als Zweck des Staates hervor, wobei diese Staatlichkeit zur Zeit des Absolutismus noch ganz vom Willen des jeweiligen Monarchen bestimmt war und sich anerkennenswerterweise auch in den Dienst der Sozialverantwortung stellte; auf diese Weise entstand eine Form absolutistischer Wohlfahrtsstaat. Die Beweggründe für die Zwecke dieses Staates waren mannigfach. Sicher war die Prägung und Erhaltung eines gehorsamen Bürgers in Untertänigkeit mitbestimmend. Daneben entstand aber ein wachsendes Maß an bestimmter Form des Gemeinwohldenkens, das die Zeit Maria Theresias und Joseph II. mitkennzeichnete. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Errichtung von Manufakturen, die Beseitigung der Zünfte, die Einführung einer freien Ordnung und Verwaltung des Gewerbewesens, der Beginn der Verstaatlichung und Verwaltung der Schulen, Maßnahmen auf dem Gebiet des Gesundheitswesen und der Armenpflege seien als Beispiele genannt. 24 In diesem absolutistischen Wohlfahrtsstaat war trotz aller beginnenden Gestaltungsbemühungen das Erhaltungsstreben stärker, es ist daher diese Staatlichkeit Österreichs als eine Form des Rechtsbewahrungsstaates zu bezeichnen. 25 Die Politik dieses Staates ist als konservativ zu bezeichnen, seine Verwaltung erfolgt noch nicht nach den Grundsätzen des Rechts-, 21 Otto Stolz, Rechtsgeschichte des Bauernstandes und der Lan,dwirtschaft in Tirol und Vorarlberg, Bozen 1949, S. 143 sowie Ferdinand Hirn, Die Annahme der Pragmatischen Sanktion durch die Stände Tirols, Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, Band 47, 1903, S. 155 f. 22 Stolz, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 139. 23 Gustav Turba (Hrsg.), Die Pragmatische Sanktion, Wien 1913, S. 88 ff. 24 Dazu näher Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl., Wien-New York 1974, S. 287 ff. 25 Beachte Herbert Schambeck, The Development of Austrian Administrative Law, in: Revue Internationale des Science Administratives, Vol. XVIII - 1962, Nr. 2, S. 215 ff.

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sondern des Polizeistaates. Adolf Merkl hat es bereits festgehalten: "Der Polizeistaat bedeutet für manche dasselbe wie der Wohlfahrtsstaat des neuzeitlichen, mitteleuropäischen Absolutismus. Doch ist dieser nur eine bestimmte, historische, wenngleich besonders bemerkenswerte Realisierung des polizeistaatlichen Ideales. Im absoluten Polizeistaat wirkt sich der einzige geltende Satz der materiellen Verfassung: ,regis voluntas suprema lex' auch, ja gerade in der Verwaltung, dahin aus, daß das geschieht, ,quod regi placuit'. Freilich kann der Fürst nicht die ganze Verwaltung höchstpersönlich besorgen, sondern muß sie den verschiedenen von ihm eingesetzten Obrigkeiten überlassen. Diese Obrigkeiten haben die damals zum größten Teil als Polizei bezeichnete Verwaltung nach ihrem Ermessen zu führen, soweit sie nicht an entweder generell erteilte oder im Einzelfall ergehende fürstliche Instruktionen gebunden sind. Es ist im Wesen der absolutistischpolizeistaatlichen Verwaltung als eines rein persönlichen Regimentes begründet, daß sie von Fall zu Fall eine Wandlungsfähigkeit aufweist, die der durch objektive materiellrechtliche Normen determinierten rechtsstaatlichen Verwaltung notwendig fehlt. Schwankt der Charakter des absoluten Polizeistaates zwischen den polaren Gegensätzen einerseits eines von Weisheit und Würde getragenen Regimes eines idealen Selbstherrschers, das sich freilich häufiger in monarchistischen Märchenbüchern als in wahren Büchern der Geschichte findet, und dem aus Brutalität und Frivolität gemischten Regime etwa der Ludwige in Frankreich und eines Metternich in Österreich, so schwanken die Leistungen der absolutistisch-polizeistaatlichen Verwaltung objektiv zwischen Wohltat und Plage. Subjektiv wirkt sich diese Ordnung der Verwaltung derart aus, daß sich der Untertan zum willenlosen Objekt eines fremden Willens, der vom Selbst bewußten unvermeidlich als Willkür empfunden wird, erniedrigt sieht. Dieser fremde Wille mit allen seinen Willkürlichkeiten wird freilich von einer fürstendienerischen Wissenschaft als der Weg zur ,Beförderung der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes' (Christian von Wolff) gerechtfertigt, und Fürsten und Obrigkeiten fühlen und gefallen sich selbst oft in der Rolle teils wirklicher, teils eingebildeter Beglücker ihrer Untertanen. Der in seiner Verwaltungspraxis an der eudämonistischen Staatszwecktheorie orientierte Polizeistaat heißt daher auch Wohlfahrtsstaat.... Das Eigentümliche dieser geschichtlichen Form des Wohlfahrtsstaates war nur eben, daß der Untertan ohne Spur von Selbstbestimmung zu seinem Wohl, d. h. zu dem, was der hohen Obrigkeit jeweils als Wohl des Untertanen erschien, gezwungen wurde." 26 Der Wandel zur demokratischen Selbstbestimmung des Einzelnen im Staat setzt in Österreich mit der Märzrevolution 1848 ein 27 • 26 Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, Neudruck Darmstadt 1969, S. 68 f.

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Bis zur Märzrevolution des Jahres 1848 war der österreichische Staat vor allem auf die Selbstbehauptung und Verteidigung des durch die immer näherkommende Revolution bedrohten Absolutismus bedacht2 B, während die Wohlfahrt vor allem auf die Existenzsicherung der bestehenden staats-, wirtschafts- und sozialpolitischen Verhältnisse ausgerichtet war. Erst als sich nach absolutistischen Zwischenspielen im Jahre 1867 der allmählich demokratisch werdende Konstitutionalismus in der sogenannten Dezemberverfassung mit seinen liberalen und demokratischen Grundrechten des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142, endgültig durchgesetzt hatte, anerkannte dieser Staat allmählich die sich aus dem Kultur- und Wohlfahrtszweck ergebenden Aufgaben: aus einem absolutistischen Wohlfahrtsstaat wurde ein konstitutioneller Wohlfahrstsstaat, der sich u. a. auch sozialreformatorische und wirtschaftspolitische Eingriffe gestattete. Diese Maßnahmen wurden sogar von Vertretern des Liberalismus in gewissen Grenzen bejaht, da sie nach Ablegung ihres Doktrinarismus nicht bloß die Freiheit und Existenzberechtigung der eigenen Person verteidigten, sondern auch die des Mitmenschen wahrnahmen. In diese Zeit fallen die Ansätze einer sozialpolitischen Gesetzgebung in Österreich. Bereits im Hofkanzleidekret vom 11. Juni 1842 wurde die Fabriksarbeit von Kindern unter 9 Jahren verboten und bei gleichzeitigem Verbot der Nachtarbeit für Kinder bis zum 12. Lebensjahr eine zehnstündige und für Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr eine zwölfstündige Höchstarbeitszeit festgelegt. Wir finden die ersten Arbeiterschutzbestimmungen in der Ir. Novelle zur Gewerbeordnung vom 8. März 1885 29 . In dieser Novelle wurde die Fabriksarbeit für Kinder bis zum 14. Lebensjahr verboten; Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr durften keine schwere Arbeit und Frauen und Jugendliche keine Nachtarbeiten mehr verrichten. Wenn diese Schutzbestimmungen auch nur für die fabriksmäßigen Betriebe galten, so waren sie doch die Grundlage für alle die weiteren Maßnahmen, die einen sozialen Fortschritt anbahnten 30. Bereits 1883 war es zur Errichtung von 27 Dazu näher Herbert Schambeck, Vom Sinn und Zweck des Parlamentarismus, in: Österreichs Parlamentarismus - Werden und System, hrsg. von demselben, Berlin 1986, S. 2 ff. 2B Adolf Merkl, Österreichisches Recht Verwaltungsrecht, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, hrsg. von Fritz Stier-Somlo und Alexander Elster, Berlin und Leipzig 1927, S. 326. 29 RGBI. Nr. 22/ 1885. 30 Beachte Wilhelm Weber, Sozialpolitik und Sozialrecht von 1848 bis 1945, und derselbe, WirtschaftsWlssenschaft und Wirtschaftspolitik in Österreich ~848= 1948, in: Huiidert Jahre Österreichischer Wirtschaftsentwicklung 1848-1948, hrsg. von Hans Mayer, Wien 1949, S. 577 ff. und S. 624. Alois Brusatti, Österreichische Wirtschaftspolitik vom Josephinismus zum Ständestaat, Schriftenreihe des Instituts für angewandte Sozial- und Wirtschaftsforschung, 1965, Heft 7, insbesondere die Zusammenstellung der einschlägigen Rechtsquellen im Anhang S. 141 ff.

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Gewerbeinspektoraten 31 gekommen, 1887 wurde das Unfallversicherungsgesetz 32 und 1888 das Krankenversicherungsgesetz 33 beschlossen. Im Jahre 1895 wurde die Sonn- und Feiertagsruhe im Gewerbebetrieb gesetzlich eingeführt 34. 1906 kam es zur Einführung einer Pensionsversicherung der Privatangestellten 35, der 1914 eine Novellierung 36 folgte. Das Arbeitsrecht erhielt 1910 durch das Handlungsgehilfengesetz 37 einen grundlegenden Ansatz, auf dem 1919 das Arbeitszeitgesetz 38 und 1921 das Angestelltenge, ,setz 39 aufbauen konnten. Die Entwicklung des Arbeitsrechtes, des Arbeitsschutzes, der Sozialversicherung sowie die sonstigen anlaufenden sozialpolitischen Maßnahmen ließen die Errichtung eines eigenen Ministeriums als geboten erscheinen. So kam es am 1. Juni 1917 zur Schaffung eines Ministeriums für soziale Fürsorge, welches wertvolle Vorarbeiten für die sozialpolitische und sozialrechtliche Entwicklung in der folgenden Republik Österreich leisten konnte 40 . Gerade die Errichtung dieses Sozialministeriums zeigt deutlich, welch wachsende Bedeutung der ,Kultur- und Wohlfahrtszweck des Staates neben dem traditionellen Ordnungs- und Machtzwecke erhalten hat. Es stehen nun verschiedene Staatsaufgaben konkurrierend nebeneinander. Die Aufgaben des Staates sind nicht mehr ausschließlich auf den Friedenszweck beschränkt, der Staat hat also aufgehört, ein Staat mit einem extrem limitierten Zweck zu sein. Österreich war Rechtsstaat in einem anderen Sinne geworden. Ein neuer Typ des Rechtsstaats präsentiert sich: der Rechtswegestaat. Während Österreichs Rechtsstaatlichkeit bis zur Dezemberverfassung des Jahres 1867 vor allem an der Wahrung des Friedenszweckes zu erkennen ist, der den Schutz der herkömmlichen Ordnung postulierte und Österreich als einen Rechtsbewahrungsstaat bezeichnen ließ, haben sich im Zuge der Entwicklung die Qualifikationsbedingungen des Rechtsstaates geändert. "Der Grad der Rechtsstaatlichkeit - denn in der Praxis gibt es Steigerungen dieses Staatstypus - bestimmt sich nicht mehr nach dem Umfang der RGBl. Nr. 117 / 1883. RGBl. Nr. 1 / 1888. 33 RGBl. Nr. 33/1888. 34 RGBl. Nr. 21/1895. 35 RGBl. Nr. 1/1907. 36 RGBl. Nr. 138/1914. 37 RGBl. Nr. 20/1910. 38 StGBl. Nr. 282/1919. 39 BGBl. Nr. 292/1921. 40 Siehe Franz Wlcek, Die sozialpolitische Gesetzgebung im neuen Österreich, in: Hundert Jahre Österreichiseher Wirtschaftsentwicklung, S. 600 ff., und die Festschrift 50 Jahre Ministerium für soziale Verwaltung, hrsg. vom Bundesministerium für soziale Verwaltung, Wien 1968. 31 32

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Staatstätigkeiten, sondern nach dem Umfang und der Intensität rechtlicher Regelung des Staatshandeins" 41. Nicht der Umfang, sondern die Form obrigkeitlichen Handeins kennzeichnet nun den Staat als Rechtsstaat. Der Staat darf nur auf Grund von in Gesetzesform ergehenden Ermächtigungen tätig werden. Diesem Rechtsstaat moderner Prägung liegt eine Restringierung der staatlichen Wirkungsmöglichkeiten fern. Mit diesen Möglichkeiten des Rechtswegestaates ist Österreich auf parlamentarischen Weg, besonders deutlich auf Grund der Dezemberverfassung 1867 ein demokratischer Wohlfahrtsstaat geworden, in welchem sich das Volk die Qualität und Quantität seiner Wohlfahrt selbst bestimmt; am deutlichsten zeigte sich später diese Möglichkeit in dem ersten Satz des Art. 1 Bundes-Verfassungsgesetz 1920: "Österreich ist eine demokratische Republik; ihr Recht geht vom Volke aus". Der Weg hiezu hatte aber auch aus der Sicht der Staatszwecke seine eigene Entwicklung. Betrachtet man aus der Sicht der Staatszwecke den Weg Österreichs vor der Ausrufung der Republik 1918, so waren expressis verbis die Staatszwekke kaum thematisiert. Der Rechts- und Machtzweck, dem das positive Recht fast ausschließlich diente, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt und keiner näheren Erörterung für notwendig erachtet. Diese Tatsache hatte in der Entwicklung des österreichischen Staatsrechts überhaupt zur Folge, daß später auch im Bundes-Verfassungsgesetz 1920 Begriffe wie Rechts- oder Gesetzesstaat überhaupt bis heute nicht vorkommen. 42 Die Bestimmung des Kultur- und Wohlfahrtszweckes war anfangs nur eine Angelegenheit der monarchischen Staatsspitze und ging später auf das Parlament über, ohne aber auch in der Folgezeit als konkreter Staatszweck ausdrücklich definiert, proklamiert und positiviert zu werden. Rückblickend sei darauf verwiesen, daß die sogenannte Pillersdorj'sche Verfassung für Österreich vom 25. April 1848, die namens Kaiser Ferdinand I. verkündet wurde, noch majestätisch die Erklärung beinhaltet:

" ... Unsere Sorgfalt für ihr Wohl und Unser Bestreben an den Tag legen, ihnen Rechtszustand zu sichern und ihnen eine ihre Interessen sichernde Teilnahme an der Regelung der Angelegenheiten des Vaterlandes einzuräumen." 43 Der Kremsierer Entwurf vom März 1849 enthält im "Entwurf der 41 Adolf Merkl, Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens, Österreichisches Verwaltungsblatt, 1937, S.179, zitiert hier nach dem Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 2, S. 1963. 42 Beachte auch Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V., Heft 38, Berlin 1970 und derselbe, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, Juristische Blätter 1980, S. 225 ff. 43 Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, hrsg. von Edmund Bematzik, 2. Aufl., Wien 1911, S. 102.

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Grundrechte des österreichischen Volkes" die Feststellung "Der Staat erklärt den Schutz der angeborenen und erworbenen Rechte seiner Angehörigen und die nur durch Zusammenwirkung aller Staatsbürger mögliche Förderung ihres Gemeinwohles für seine Aufgabe". 44 Auch Kaiser Franz Josef 1. hebt im Patent von Sylvester 1851 "die Wohlfahrt aller Schichten Unserer verschiedenen Völker, die Befestigung der äußeren und inneren Sicherheit und die Einheit und Macht des Staates" 45 hervor. Diese Zielsetzungen begleiten in den folgenden Jahrzehnten auch ohne ausdrückliche Positivierung das politische Wollen des Staates, der nach der Dezemberverfassung 1867 "die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" heißt, aus welchen nach Ausrufung der Republik 1918 die heutigen österreichischen Bundesländer hervorgegangen sind.

m. Während Österreich als Teil der Habsburger Donaumonarchie von einer ethnischen Pluralität gekennzeichnet war, welche die Nationalitätenfrage 46 entstehen ließ, trat in der Zeit der Republik Österreichs in Fortsetzung der mit der Demokratisierung Österreichs schon in der Zeit der Monarchie beginnenden Pluralität eine solche an ideologischen, weltanschaulichen und beruflichen Standpunkten, welche sich in der Pluralität politischer Parteien und Interessenverbände äußerte 47 , hervor. Diese politische Pluralität verlangte bei dem Wechsel der Staatsform Österreichs von der Monarchie zur Republik 48 den Kompromiß. Dieser Kompromiß war bei der Vorbereitung der Verfassung der neu entstandenen Republik Österreich mehrfach erforderlich; er war erforderlich zwischen dem Staatsrecht der Monarchie und dem der Republik,49 zwischen den verschiedenen Vorstellungen der politischen Parteien den Aufbau Österreichs mehr einheits- oder bundesstaatlich zu gestalten 50 und er war letztlich auch erforderlich bezüg44 Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 133.

Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 209. Dazu Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Völker des Reiches, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band III, Wien 1980. 47 Siehe Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, eingeleitet und herausgegeben von Klaus Berchtold, Wien 1967. 48 Beachte Adolf Merkl, Gedanken zur Entstehung und der Entwicklung der Republik Österreich und ihrer Verfassung, in: Festschrift für Ernst earl Hellbling, hrsg. von Hans Lentze und Peter Putzer, Salzburg 1971, S. 517 ff. 49 Dazu Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht - ein Grundriß entwicklungsgeschichtlich dargestellt, Tübingen 1923, S. V f. 50 Näher Herbert Schambeck, Zum Werden und zu den Aufgaben des österreichischen Föderalismus, in: Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich, hrsg. von demselben, Wien 1992, S. 17 ff. 45

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lieh der Frage, ob Wertaussagen in das Bundes-Verfassungsgesetz als normative Grundordnung der neu entstandenen Republik aufgenommen werden sollen oder nicht. Der Verfassungsgesetzgeber der Republik hat sich 1920 anscheinend dafür entschieden, nur jene Begriffe expressis verbis in das Bundes-Verfassungsgesetz aufzunehmen, die neu in das österreichische Verfassungs recht eingefügt wurden. Da viele Grundsätze der Dezemberverfassung 1867 der Monarchie in das Verfassungsrecht der Republik Österreich übernommen wurden, hat Rene Marcic nicht zu Unrecht einmal über "Das beredte Schweigen der Verfassung" geschrieben. 51 Österreich hatte bereits in der ausgehenden Monarchie beginnend mit der Märzrevolution 1848 52 in Etappen den Weg zur Demokratie angetreten und war schon bei Ausrufung der Republik 1918 ein Staat mit demokratischen Strukturen, die aber noch entwicklungsbedürftig waren; 53 deshalb bestand für die konstituierende Nationalversammlung anscheinend keine Notwendigkeit den Begriff Demokratie anders als nur eigenschaftswörtlich im Art. 1 B-VG bei der Angabe der neuen Staatsform der Republik aufzunehmen. Hingegen enthält das Bundes-Verfassungsgesetz in Art. 2 den Staatsaufbau als Bundesstaat ausdrücklich angegeben, da Österreich vor 1918 ein dezentralisierter Einheitsstaat war und nach Ausrufung der Republik erstmals eine Föderalstruktur annahm. 54 Der Aufbau Österreichs als Bundesstaat und die Staatsform Republik sind die einzigen grundlegenden Verfassungsprinzipien, welche prägend für die Staatsstrukturen 55 waren und ausdrücklich im Text des Bundes-Verfassungsgesetzes angeführt sind. Das ist hingegen nicht der Fall in bezug auf die Begriffe wie Rechts- und Gesetzesstaat, die im ganzen Text des BundesVerfassungsgesetzes an keiner einzigen Stelle verwendet werden, aber die Konsequenzen dieses Verfassungsbegriffes sind prägend aus dem Inhalt des Bundes-Verfassungsgesetzes deutlich erkennbar, genauso wie die Demo51 Rene Marcic, Das beredte Schweigen der Verfassung, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, hrsg. von Anton Burghardt u. a., Wien 1965, S. 403 ff. 52 Dazu He,llbling, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 345 ff und Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., Wien 1992, S. 113 ff. 53 Vgl. Herbert Schambeck, Die Demokratie, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von demselben, Berlin 1980, S. 149 ff. 54 Dazu Ludwig K. Adamovich - Bernd-Christian Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 3. Aufl., Wien-New York 1985, S. 71 ff., 122 ff. und 159 ff. sowie Robert Walter - Heinz Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 7. Aufl., Wien 1992, S. 67 f., 100 ff. und 284 ff. 55 Beachte Herben Schambeck, Staatsstrukturbestimmungen und österreichisches Bundesverfassungsrecht, in: Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky, hrsg. von Ludwig Adamovich und Peter Pernthaler, 2. Teilband, Wien 1980, S. 867 ff.

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kratie. In diesem Zusammenhang gilt es auch darauf zu verweisen, daß der Begriff Grundrecht im ganzen Bundes-Verfassungsgesetz keine Verwendung findet und unterschiedlos in dem im Art. 144 B-VG im Zusammenhang mit der Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofes verwendeten Begriff der "verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte" aufgeht. 56 Der Grund für diese mangelnde Verwendung des Begriffs Grundrechte im Bundes-Verfassungsgesetz vermag vielleicht darin zu liegen, daß die Grundrechte im österreichischen Verfassungsrechtssystem 1920 nicht erstmals aufgenommen, sondern vielmehr auf Grund von Art. 149 B-VG aus der Dezemberverfassung 1867 der Monarchie in das Verfassungsrecht der Republik Österreich auf dem Weg der Rezeption übernommen wurden. Trotz der 1918 erfolgten Diskontinuität und Neustaatsgründung Österreichs 57 läßt das österreichische Verfassungsrecht historisch gesehen in seiner gesamten Entwicklung von der Monarchie zur Republik Österreich in bestimmter Weise eine Kontinuität erkennen, die neben der Weiterentwicklung bestimmter Verfassungsgrundsätze, wie der der demokratischen Rechtsstaatlichkeit, in einem bestimmten Maß an gleich bleibender Distanz zur ausdrücklichen Erklärung von Wertaussagen, wozu die von Staatszwecken zählt, liegt!

Gleich dem Staatsrecht der Monarchie enthält auch das der Republik Österreich im Bundes-Verfassungsgesetz 1920 keine eigene Angabe von ausdrücklich bezeichneten Staatszwecken. 58 Das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 gibt den Organen des Staates die formellen Bedingungen für die Rechtssetzung und hernach für die Rechtskonkretisierung an, ohne aber über den Inhalt und die Ziele des staatlichen Handeins selbst eine Angabe zu machen. Das Bundes-Verfassungsgesetz schreibt dem staatlichen Handeln ausdrücklich nur die Form, nicht den Zweck, dem Rechtsweg nur die Art seiner Anlage, nicht aber das Ziel selbst vor 59 • Auch Adolf Merkl hat diesen Staat daher als Rechtswegestaat bezeichnet. 6o Es ist jener Staat, "dem außer den Aufgaben des sogenannten 56 Beachte 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Österreich Grundlagen, Entwicklung und internationale Verbindungen, hrsg. von Rudolj Machacek, Willibald P. Pahr und Gerhard Stadler, Kehl-Straßburg-Arlington 1991. 57 Dazu Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, S. 74 ff., bes. S. 79 ff. 58 Siehe Herbert Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Die Republik Österreich - Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, hrsg. von Hans R. Klecatsky, Wien 1968, S. 243 ff. 59 So bereits in meinem staatspolitischen Referat am Österreichischen Katholikentag 1962 in Salzburg, siehe Herbert Schambeck, Die Verantwortung für den Staat - die Grenzen des Staates, in: Löscht den Geist nicht aus, 2. Aufl., Innsbruck-WienMünchen 1963, S. 353. 60 Adolj Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens. Reine Rechtslehre und Moralordnung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band XI N. F., 1961, S.303.

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Rechts- und des Machtzweckes auch der Wohlfahrts- und Kulturzweck freistehen, freilich nur unter der Voraussetzung, daß diese Zwecke rechtlich vorgesehen, im besonderen im Staat mit parlamentarischen Einrichtungen formellgesetzlich ermächtigt und in einer Weise inhaltlich geregelt sind, daß der staatliche Eingriff vorhersehbar und berechenbar wird". 61 Die durch die Gesetze gewährleistete Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit ist die Grundvoraussetzung für staatliches Handeln in Österreich. In Ausführung und damit Übereinstimmung mit diesen Gesetzen erfolgt die Rechtskonkretisierung durch die Vollziehung, die in allen Stadien ihres HandeIns kontrolliert wird. Die im Bundes-Verfassungsgesetz sich ausdrückende Rechtsstaatlichkeit erlaubt dem Staat sowohl die Entsprechung des Rechts- und Machtzweckes wie des Kultur- und Wohlfahrtszweckes; sie spricht aber in keiner Weise aus, in welchen Bereichen der einfache Gesetzgeber den Staat in den Dienst des Kultur- und Wohlfahrtszweckes zu stellen und damit an die Gesetze zu binden hat. Weder das BundesVerfassungsgesetz 1920 noch irgendeine andere ·österreichische Verfassungsbestimmung gebraucht etwa die Ausdrücke Rechtsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat oder Wirtschaftsstaat selbständig oder in Kombination, wie kultureller, wirtschaftlicher oder sozialer Rechtsstaat. Das ist alles nicht der Fall. Aus diesem Unterlassen der Nennung von Staatszwecken kann aber nicht auf ihr Negiertwerden geschlossen werden. So läßt der ganze Aufbau des demokratischen Rechtsstaates in Österreich mit all seinen eben skizzierten Imperativen und Institutionen auf eine Anerkennung des Rechts- und Machtzweckes auch dann schließen, wenn er selbst nicht genannt wird; denn die Macht des Staates wird in den Dienst des Rechtes gestellt und trägt somit zur Gesetzesautorität bei. Durch dieses Gebot des etwa an keiner Stelle der Verfassung gleich dem Bundesstaat ausdrücklich genannten Rechtsstaates wird auch der Dienst am Kultur- und Wohlfahrtszweck nicht ausgeschlossen. Da diese Staatszwecke nicht ausgeschlossen wurden, sind sie als mögliche Staatszwecke auch potentiell gegeben; so ihnen der Staat in Gesetzesform entspricht, sind auch sie möglicher Gesetzesinhalt. Ihre Grenzen finden diese möglichen, weil nicht ausgeschlossenen Staatszwecke nur an den Grundrechten, nicht nur des Staatsgrundgesetzes, das durch Art. 149 B-VG rezipiert wurde, sondern etwa auch der Europäischen Menschenrechtskonvention, woraus eine klare Wertentscheidung, nämlich eine Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen erblickt werden kann. In Zusammenschau von Bundes-Verfassungsgesetz und allen österreichischen und in das österreichische Recht transformierten Grundrechtsbestimmungen ergibt sich daher, daß in Österreich jedem Staatszweck 61

Merkl, Reine Rechtslehre und Morafordnung, S. 303.

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entsprochen werden kann, sofern dies in Gesetzesform geschieht und mit den Geboten der Grundrechte vereinbar ist. Diese Annahme der Neutralität des österreichischen Verfassungsrechtes gegenüber dem Kultur- und Wohlfahnszweck findet geradezu ihre Bestätigung in den Kompetenztatbeständen des Art. 10 ff B-VG, in welchen die Gesetzgebung und die Hoheitsverwaltung auf Bund und Länder aufgeteilt wird und ausdrücklich die Sachgebiete angegeben werden, welche in die Zuständigkeit des Bundes- oder des Landesgesetzgebers gehören. In diesen Kompetenztatbeständen finden sich nämlich sowohl mögliche Erfordernisse im Dienste des Rechts- und Machtzweckes, 62 als auch mögliche Lebenstatbestände des Kultur- und Wohlfahrtszweckes. 63 Sie stehen alternierend, gleichsam als eine vom Verfassungsgesetzgeber dem einfachen Gesetzgeber erteilte Blankovollmacht, nebeneinander. 64

Aus der Kompetenzveneilung des Bundes-Verfassungsgesetzes kann zwar ein Neben- und Miteinander verschiedener möglicher Staatszwecke, aber weder bei deren mehrzähliger Zuerkennung deren Rangordnung noch auch im geringsten eine Pflicht zu deren Beachtung und Ausführung abgelesen werden. Da die Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit als grundlegende Aufgabe des Staates anzusehen ist, kommt auch dem Rechts- und Machtzweck die Funktion des Primärzweckes in Österreich zu, selbst dann, wenn er begrifflich nicht expressis verbis ausgedrückt ist. Alle übrigen Aufgabenerfüllungen erfolgen auf einfachgesetzlicher Ebene nach entsprechenden freiwilligen politischen Entscheidungen aufgrund von Kompetenzermächtigungen. Hier kann aus der einfachgesetzlichen Rechtsetzung, insbesondere aus dem Inhalt des Budgets 65 selbst ersehen werden, welche Aufgaben im Staat zeit- und orts bedingt gerade von Wichtigkeit sind, wobei die zu dieser Aufgabenerfüllung vorgesehenen finanziellen Mittel auf eine bestimmte Rangordnung schließen lassen. Im Zusammenhang mit dem Budget sei auf eine durch die B-VG Novelle 1986, BGBl. Nr. 212, eingefügte Verfassungsbestimmung hingewiesen, die im Art. 13 Abs. 2 B-VG für Bund, Länder und Gemeinden vorschreibt, daß sie bei ihrer Haushaltsführung die Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts anzustreben haben. 66 Hans Klecatsky und Siegben Z. B. Art. 10 Abs. 1 Z. 1, 3, 6 und 7 sowie Art. 11 Abs. 1 Z. 1 und 4 B-VG. Beachte etwa Art. 10 Abs. 1 Z. 5, 8 und 13 sowie Art. 11 Abs. 1 Z. 3 B-VG. 64 Beachte Herbert Schambeck, Die Kompetenzzuteilung als rechtsphilosophisches Problem im öffentlichen Recht, Rechtstheorie, 16. Bapd, Heft 2/3, 1985, S. 163 ff. 65 Siehe Johannes Hengstschläger, Das Budgetrecht des Bundes, Berlin 1977. 66 Näher dazu Bundeshaushaltsrecht. Mit Erläuterungen und Verweisen von Friedrich Rödler, Wien 1992, S. 12 ff., insb. S. 15 f. 62

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Morscher zählen in ihrer B-VG-Ausgabe diese Vorschrift zu jenen Verfassungsbestimmungen, die für sie die Bedeutung einer Staatszielbestimmung haben und "deren Beachtlichkeit zumindest für die Auslegung zu bejahen ist".67 Diese Bestimmung des verfassungsrechtlich verankerten Gesamtziels "gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" kommt auch die Bedeutung eines Staatszweckes zu, dessen nähere Umschreibung durch § 2 Abs. 2 Bundeshaushaltsgesetz erfolgt.68 Danach soll ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einem hohen Beschäftigungsstand, einem hinreichend stabilen Geldwert, der Sicherung des Wachstumspotentials und der Wahrung des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts angestrebt werden. 69 Der Bericht des Verfassungsausschusses des Nationalrates hatte im Zusammenhang mit dem "gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht" im Art. 13 Abs. 2 B-VG von einem "neuen" wirtschaftswissenschaftlichen Begriff gesprochen. 70 Johannes Hengstschläger hat aber zu Recht darauf hingewiesen, daß "in den Wirtschaftswissenschaften die Auffassungen über diese determinierenden Kriterien und ihre Wirkungen weit auseinander" gehen 71 und meint, "daß die gutgemeinte Formel in der Praxis doch nicht mehr sein kann als ein frommer Wunsch." 72 Für Heinrich Neisser wieder sind die obgenannten Ziele der Haushaltsreform "die normative Verankerung dieses magischen Vierecks wirtschaftspolitischer Wunschvorstellung ... für die österreichische Haushaltsrechtsordnung ein absolutes Novum",73 für ihn bedeutet "die Verpflichtung, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht anzustreben, '" eine Aufforderung zu einer verbesserten gegenseitigen Information. Sie beinhaltet jedenfalls keine Einschränkung des budgetären Entscheidungsspielraumes der Gebietskörperschaften; die Budgetautonomie der Länder und Gemeinden bleibt weiterhin gewährleistet." 74 67 Die österreichische Bundesverfassung, hrsg. von Hans R. Klecatsky und Siegbert Morscher, 6. Aufl., Wien 1993, S. 1 f. 68 Siehe dazu Walter Schwab, Die Haushaltsrechtsreform des Bundes, Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich, 1986, S. 9 f. 69 Dazu Gerhard Lehner, Ökonomische Implikationen des neuen Haushaltsrechts, Wirtschaftspolitische Blätter, 1984, S. 432. 70 Bericht des Verfassungsausschusses 875 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XVI. GP, S. 2. 71 Johannes Hengstschläger, Das Haushaltsrecht des Bundes aus juristischer Sicht, in: Manfred Gantner, Handbuch des öffentlichen Haushaltswesens, Wien 1991, S. 54. 72 Hengstschläger, Haushaltsrecht, S. 55. 73 Heinrich Neisser, Die Bundeshaushaltsrechtsreform in Österreich, Die Verwaltung 1988, S. 347. 74 Neisser, Bundeshaushaltsrechtsreform, S. 348; siehe dazu auch die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Heinrich Neisser in der Debatte des Nationalrates am 4. April 1986, Stenographisches Protokoll über die 140. Sitzung, XVI. GP, S. 12168.

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Wie immer man diese obgenannten Budgetgrundsätze beurteilen und ihren Inhalt ausloten mag, man wird sich der Beurteilung Michael Holoubeks anschließen können, daß mit dem Art. 13 Abs. 2 B-VG, der im Zusammenhang mit Art. 51a Abs. 1 B-VG zu sehen ist, welcher ausdrücklich die Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit zu Grundsätzen der Gebarung erklärt, "das Bundes-Verfassungsgesetz nunmehr ausdrücklich einer liberal ordnungs staatlichen Staatsauffassung, die in der wirtschaftspolitischen Realität der letzten Jahrzehnte ohnehin jeglicher Entsprechung ermangelte" entsagte. "Der Bundesverfassungsgesetzgeber hat durch Art. 13 Abs. 2 B-VG einen weiteren Schritt weg von der Verfassung verstanden als ,Spielregel' im Sinn einer grundsätzlichen Organisations- und Verfahrens ordnung hin zu einer Verfassung als materielle Wertordnung mit Aufträgen zur Verwirklichung bestimmter Ziele getan." 75 Über den Bereich des Rechtsnormativen hinaus kann aus dem Partei-, Grundsatz- und Wahlprogrammen der politischen Parteien 76 genauso wie aus der Regierungserklärung eines Regierungschefs und der Budgetrede des Finanzministers auf ein politisches Wollen geschlossen werden, das sich mehr oder weniger deutlich auch auf die Anerkennung bzw. Berücksichti-

gung von Staatszwecken bezieht.

IV. Die mehr der Wertindifferenz zuneigende grundsätzliche Haltung bezüglich der Staatszwecke in Österreich, die sich besonders deutlich im BundesVerfassungsgesetz 1920 zeigte, hat in den letzten Jahrzehnten eine Modifikation auf Bundes- und Landesebene des österreichischen Verfassungsrechts erfahren.

So erfolgte durch die Beschlußfassung des Bundesverfassungsgesetzes vom 26. Oktober 1955, BGBl. Nr. 211, über die Neutralität Österreichs eine Bestimmung des Standorts Österreichs in der Völkergemeinschaft77, der 75 Michael Holoubek, Das neue Haushaltsrecht des Bundes, Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich 1989, S. 174; beachte dazu auch Adamovich-Funk, Verfassungsrecht, S. 23 f. 76 So auch Felix Ermacora, Österreichische Verfassungslehre, Wien-Stuttgart 1970, S. 225. 77 Heribert Franz Köck, Die europäische Integration, die Neutralen und der Friede, Wiener Blätter zur Friedensforschung, Nr. 15/16, 1977 / 78, S. 20 ff.; derselbe, Der Beitrag der dauernden Neutralität zum Weltfrieden, Wiener Blätter zur Friedensforschung, 24 / 5, 1980, S. 37 ff.; vgl. auch Felix Ermacora, 20 Jahre österreichische Neutralität, Frankfurt a. M. 1975, S. 35 ff.; Man/red Rotter, Die dauernde Neutralität, Berlin 1981, S. 96 ff.; Sigmar Stadlmeier, Dynamische Interpretation der dauernden Neutralität, Berlin 1991, S. 84 ff.; vgl. auch Bundeskanzler Ing. Julius Raab anläßlich der Beschlußfassung über das Neutralitätsgesetz im Nationalrat am 26. 10. 1955, Stenographisches Protokoll über die 80. Sitzung, VII. GP, S. 3690 ff.

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sowohl für die Innen- wie für die Außenpolitik Österreichs von Bedeutung ist. Artikel I des Neutralitätsgesetzes proklamiert: "Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. Österreich wird zur Sicherung diese Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen." Diese Erklärung ist, was ihr Zustandekommen und ihren Inhalt anbetrifft, ein freiwillig abgegebenes und verfassungsgesetzlich gesichertes Bekenntnis zur Neutralität, das sich primär auf die Landesverteidigung bezieht, aber auch mit Konsequenzen darüber hinaus verbunden ist; sie läßt Österreich aber weiter den sogenannten Staaten mit freier Demokratie pluralistischer Prägung zugezählt sein und hat Österreich in keiner Weise in die Nähe der neutralistischen und blockfreien Staaten gebracht. 1975 erfolgte die weitere Erklärung einer Staatszwecksetzung durch den Beschluß der B-VG Novelle vom 10. 6. 1975, BGBl. Nr. 368, über die umfassende Landesverteidigung. 78 Während die Neutralitätserklärung Österreichs Teil eines eigenen Bundesverfassungsgesetzes wurde, ist die umfassende Landesverteidigung Inhalt einer Verfassungsbestimmung, die als Art. 9a in das Bundes-Verfassungsgesetz selbst integriert wurde: ,,(1) ... Ihre Aufgabe ist es, die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität. Hiebei sind auch die verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihre Handlungsfähigkeit sowie die demokratischen Freiheiten der Einwohner vor gewaltsamen Angriffen von außen zu schützen und zu verteidigen. (2) Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung. " Umfassende Bedeutung soll auch eine weitere positivierte Staatszwecksetzung haben, nämlich der Umweltschutz 79. Während die umfassende 78 Zum Begriff vgl. Peter Pernthaler, Umfassende Landesverteidigung, Wien 1970; zu Art. 9a B-VG vgl. Gerhard Rauter, Die österreichische Wehrgesetzgebung, Wien 1989, S. 110 ff.; Hubert Kempf, 15 Jahre Umfassende Landesverteidigung im Bundeskanzleramt, Österreichische Militärische Zeitschrift, 1989, S. 97 ff.; Sigmar Stadlmeier, Dynamische Interpretation, S. 165 ff. 79 Dazu Joseph Marko, Umweltschutz als Staatsziel, Österreichische Juristenzeitung 1986, S. 289 ff.; Bruno Binder, Wirtschaftsrecht, Wien-New York 1992, S. 321 ff.; Wolfgang Pesendorfer, Umweltschutz und Umweltnutzung - Rechtsanspruch oder Ideologie: Bürgerbeteiligung auf dem Prüfstand, Zeitschrift für Verwaltung, 1989, S. 441 ff. und Peter Pernthaler, Bemerkungen zum Recht auf Umwelt-

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Landesverteidigung Teil eines eigenen Artikels im B-VG selbst wurde, ist der umfassende Umweltschutz, gleich der Neutralitätserklärung Österreichs Inhalt eines eigenen Bundesverfassungsgesetzes vom 27. November 1984, BGBl. Nr. 491, § 1: ,,(1) Die Republik Österreich (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich zum umfassenden Umweltschutz. (2) Umfassender Umweltschutz ist die Bewahrung der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schädlichen Einwirkungen. Der umfassende Umweltschutz besteht insbesondere in Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm." 80 Teil einer eigenen BVG-Novelle, nämlich der über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks vom 10. Juli 1974, BGBl. Nr. 396, wurde die Erklärung des Rundfunks als "eine öffentliche Aufgabe "81. Damit wurde, wie Adamovich-Funk auch erklären, "die besondere Verantwortlichkeit des Staates als Garant der Medienfreiheit betont und festgelegt, daß die Erfüllung dieser Aufgabe nicht (ausschließlich) der privaten Initiative und dem Markt überlassen bleiben soll". B2 Betrachtet man diese zweckorientierten Aussagen im österreichischen Bundesverfassungsrecht, so fällt auf, daß diese nur im Fall der umfassenden Landesverteidigung im Art. 9a Teil des Bundes-Verfassungsgesetzes wurden, in allen anderen Fällen neben dieser Hauptquelle des österreichischen Verfassungsrechtes positiviert wurden. Auf diese Weise zeigt sich auch bei diesen Staatszwecksbestimmungen, daß das österreichische Verfassungsrecht in einer Art "Gemengelage" die Pluralität ihrer Rechtsquellen dokumentiert; in diesem Zusammenhang hat schon Hans Klecatsky nicht zu Unrecht von der inneren Ruinenhaftigkeit der Bundesverfassung geschrieben. 83 In diesen besonderen Staatszweckbestimmungen werden bestimmte Aufgaben des österreichischen Staates hervorgehoben, ohne aber daß damit auch Wertaussagen getroffen werden, die mit einem bestimmten Menschenoder Gesellschaftsbild verbunden sind, welches religiös, philosophisch, weltanschaulich oder ideologisch begründet wäre. Auf diese Weise bleibt trotz der verfassungsrechtlichen Vorschreibung bestimmter Zwecke des

schutz, in: Reinhard Rack (Hrsg.), Grundrechtsreform, Wien-Köln-Graz 1985, S. 205 ff., insb. S. 207 ff. BO Siehe dazu auch Brigitte Gutknecht, Michael Holoubek, Stephan Schwarzer, Umweltverfassungsrecht als Grundlage und Schranke der Umweltpolitik, Zeitschrift für Verwaltung, 1990, S. 553 ff., insb. S. 554 ff. BI Wiederverlautbart als Rundfunkgesetz 1984, BGBl. Nr. 379. 82 Adamovich-Funk, Verfassungsrecht, S. 411. 83 Hans R. Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in: Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 83.

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Staates, die auch als Staatsziele bezeichnet werden 84, die grundsätzliche Neutralität des österreichischen Bundesverfassungsrechtes gegenüber den Staatszwecken erhalten! Es ist zwar, wie schon betont wurde, die Ausführung des Rechts- und Machtzweckes in der Wahrung der Ordnungsfunktion des Staates gegeben und die Ermächtigung auch zur Beachtung des Kulturund Wohlfahrtszweckes in den Kompetenzbeständen eingeräumt worden, ohne daß aber diese Staatszwecke selbst konkret genannt und für den Fall der Mehrzahl der Rang auch angegeben worden wäre. Das österreichische Verfassungsrecht stellt übrigens auch inhaltlich eine ziemliche Undifferenziertheit im Wortlaut zu dem dar, was in der Theorie und Praxis des Staates auch in Österreich über Baugesetze des Staates 85, Staatszwecke 86, Staatsziele 87, Staatsaufgaben 88 und Staatsstrukturbestimmungen 89 zu lesen ist. Der Text des Bundes-Verfassungsgesetzes selbst gibt keinem dieser Begriffe den Vorzug. Der Verfassungsgesetzgeber gebraucht bloß im Zusammenhang mit der obligatorischen Volksabstimmung durch das gesamte Bundesvolk im Art. 44 Abs. 3 B-VG den Ausdruck Gesamtund Teiländerung der Bundesverfassung, ohne aber selbst anzugeben, wann eine solche Änderung gegeben ist.

Hans R. Klecatsky und Siegbert Morscher aber bemerken mit Recht in ihrer Ausgabe "Die österreichische Bundesverfassung", "unter Gesamtänderung der Bundesverfassung wird unter Bedachtnahme auf Sinn und Wortlaut des Art. 44 Abs. 3 (bis zur Nov. BGBL 1984/490 Abs. 2) B-VG eine solche Veränderung verstanden werden müssen, die einen der leitenden Grundsätze der Bundesverfassung im Kern berührt. Als solche Grundsätze kommen das demokratische, das rechtsstaatliche, das bundesstaatliche, das republikanische, das parlamentarische und das gewaltenteilende Prinzip, ferner die Existenz von Grund- und Freiheitsrechten, liberales Prinzip und das Vorhandensein einer Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts in BeSiehe etwa Adamovich-Funk, Verfassungsrecht, S. 6, 23 f., 39, 94, 377, 411. Beachte Adolf Merkl, Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung, in: Die Republik Österreich - Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, hrsg. von Hans R. Klecatsky, Wien 1968, S. 77 ff. 86 Siehe z. B. Peter Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, Wien-New York 1986, S. 87 ff. 87 Dazu etwa Ulrich Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, hrsg. von Roman Schnur, München 1972, S. 325 ff., Neudruck in: Ulrich Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, hrsg. von Joseph List! und Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, S. 223 ff. sowie Joseph Marko, Umweltschutz, S. 289 ff. 88 Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl., München 1984, S. 79 ff. 89 Näher Herben Schambeck, Staatsstrukturbestimmungen und österreichisches Bundesverfassungsrecht, S. 867 ff. 84

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tracht."90 Nur der Art. lAbs. 3 BVG-Rdf., BGBl. 1974/396, verwendet den Ausdruck "öffentliche Aufgabe". 91 Wenngleich der Bundesverfassungsgesetzgeber in Österreich mehr undifferenziert in bezug auf Grundaussagen des Staatsrechtes vorgeht, kann aber angenommen werden, daß nur für den Fall der Gesamtänderung der obgenannten leitenden Grundsätze des österreichischen Bundesverfassungsrechtes eine obligatorische Volksabstimmung erforderlich ist, nicht aber für die mehr oder weniger deutlich ausgedrückten Staatszwecke, unabhängig ob diese auch nach der Beliebigkeit der jeweils getroffenen Unterscheidung als Aufgaben, Strukturen oder Ziele des Staates angesehen und gewertet werden. 92 Der Verfassungsgesetzgeber ist daher an diese Staatszwecke, soweit sie von ihm mehr oder weniger deutlich angegeben oder erkennbar sind, nicht gebunden und könnte diese auch nachträglich abändern. Hervorzuheben ist aber in diesem Zusammenhang auch die Verfassungsbestimmung im Art. I des Parteiengesetzes vom 2. Juli 1975, BGBl. Nr. 404, in dem erklärt wird, daß die Existenz und Vielfalt politischer Parteien wesentliche Bestandteile demokratischer Ordnung der Republik Österreich (Art. 1 B-VG) sind. Jegliche Änderung dieser Pluralität würde das demokratische Baugesetz betreffen und obligatorisch eine Volksabstimmung verlangen. In den anderen Fällen obliegt ihr Bestand und ihre etwaige Abänderung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Rahmen dessen, was ihm das Bundes-Verfassungsgesetz an Disposition außerhalb seiner Grundsätze, die eine obligatorische Volksabstimmung für den Fall dessen Abänderung verlangt, offenläßt. Was die dauernde Neutralität Österreichs betrifft, so zählt diese ja nicht zu den leitenden Grundsätzen des Bundes-Verfassungsgesetzes, in dem sie auch gar nicht steht, ist aber als Inhalt eines bedeutenden Bundesverfassungsgesetzes Teil des österreichischen Staatsbewußtseins von solch grundlegender Bedeutung geworden, daß auch dann, wenn sie nicht zu den obgenannten auf Art. 44 Abs. 3 B-VG bezogenen leitenden Grundsätzen der Bundesverfassung gezählt werden, aufgrund ihres hochrangigen Stellenwertes eine Volksabstimmung als wünschenswert erscheinen ließen. 93 90 Die österreichische Bundesverfassung, hrsg. von Hans R. Klecatsky und Siegberl Morscher, 6. Aufl., Wien 1993, S. 61. 91 Siehe auch Bernd-Christian Funk, Rundfunkrecht im Lichte öffentlich-rechtlicher Grundlehren, Österreichische Juristenzeitung, 1977, S. 589. 92 Siehe auch Adamovich-Funk, Verfassungsrecht, S. 100 ff. 93 Vgl. Peter Avancini (Red.), Verhandlungen des Dritten Österreichischen Juristentages Wien 1967, Band 11 / 2, Der österreichische Status der dauernden Neutralität und seine Rückwirkung auf das interne Recht des dauernd neutralen Staates, Wien 1969, und den Diskussionsbeitrag des damaligen Ministerialsekretärs Willibald Pahr, der die dauernde Neutralität als Grundprinzip der Verfassungsordnung ansah, S. 23 ff., bes. S. 25, darin von Ernst C. Hellbling, unterstützt, S. 52 f., aber von Robert

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Es wäre aber falsch, wenn man vor allem im Hinblick auf die föderale Struktur Österreichs die Frage nach den Staatszwecken der Republik Österreichs nur auf die Ebene des Bundes und nicht auch auf die der Länder beziehen würde. Es zählt zu den Fortschritten im österreichischen Verfassungsdenken, daß die österreichischen Bundesländer in den letzten Jahren die ihnen im Hinblick auf die durch das Bundes-Verfassungsgesetz normierte relative Verfassungsautonomie der Länder 94 eingeräumten Möglichkeiten genutzt haben und sogar in manchen Bereichen, wie dem der direkten Demokratie 95 , wegweisend auch für den Bund wurden. 96 Besonders deutlich zeigt sich diese Lebendigkeit der österreichischen Bundesländer in der Entwicklung des Landesverfassungsrechtes und dabei besonders im Hinblick auf grundsätzliche Bestimmungen, die man unterschiedlich bezeichnen kann 97, die aber auch den Charakter von Staatszwecken haben. So ist nach Art. 1 Abs. 1 der burgenländischen Landesverfassung 98 das Burgenland "ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat" und gründet nach Abs. 2 "auf der Freiheit und Würde des Menschen"; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft. Art. 4 der niederösterreichischen Landesverfassung 99 erklärt: "Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, daß die Lebensbedingun-

Walter, S. 54 ff., Karl Marschall, S. 42 ff., und Peter Berger, S. 57 f., kritisiert wurde. Schon aus den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des Neutralitätsgesetzes, 598 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates VII. GP, ergibt sich, daß die dauernde Neutralität nicht zu den Baugesetzen der Bundesverfassung gehört. Vgl. auch Heribert Franz Köck, Die Neutralität als Bestandteil der österreichischen Verfassungsordnung, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F. / Band 30, 1981, S. 223 ff. mit einer ausführlichen Darstellung der diesbezüglichen Diskussion auf S. 234 ff. sowie derselbe und Sigmar Stadlmeier, EG-Beitritt und Volksabstimmung, in: Arbeit, Recht und Gesellschaft, Festschrift für Walter Schwarz, hrsg. von Oswin Martinek, Wien 1991, S. 731 ff., bes. S. 737 f. Siehe aber auch Felix Ermacora (Hrsg.), Österreichische Bundesverfassungsgesetze, 1. Aufl. (12. Aufl. nach Rec1am), Wien-Köln 1989, S. 12 ff. 94 Siehe Richard Novak, Die relative Verfassungsautonomie der Länder, in: Landesverfassungsreform, hrsg. von Reinhard Rack, Wien-Köln-Graz 1982, S. 35 ff., bes. S. 44 ff. 95 So bereits in meiner Festrede zum 40. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik, siehe Protokoll der Festsitzung des Nationalrates und des Bundesrates der Republik Österreich am 27. April 1985, S. 11. 96 Wie weit diese positive Fortschreibung des Landesverfassungsrechtes reicht, zeigt auch im Vergleich die 1. und 2. Auflage des Buches von Friedrich Koja, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer: 1. Auflage als Band 1 der Reihe Forschungen aus Staat und Recht, Wien 1967; 2. Auflage, Wien-New York 1988. 97 Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 82 ff., spricht von Staatszielbestimmungen, Grundsätzen staatlichen Handeins und von Programmsätzen. 98 Burgenländisches LGBl. Nr. 42 / 1981, i. d. F. LGBl. Nr. 21/1984,36/1990 und 19/1992. 99 Niederösterreichisches LGBl. Nr. 0001-0, i. d. F. LGBl. Nr. 0001-1, 0001-2, 0001-3 und 0001-4.

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gen der niederösterreichischen Bevölkerung unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet sind". Nicht unerwähnt seien in diesem Zusammenhang mit den öffentlichen Aufgaben eines Landes die mehr programmatischen, aber in ihrer Formulierung beachtenswerte Aussagen der Tiroler Landesverfassung 100 : "Der Landtag hat in Anerkennung des Beitrittes des selbständigen Landes Tirol zum Bundesstaat Österreich, in Anerkennung der Bundesverfassung, in Bewußtsein, daß die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe, die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes, die Freiheit und Würde des Menschen, die geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat die geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol sind, die zu wahren und zu schützen oberste Verpflichtung der Gesetzgebung und der Verwaltung des Landes Tirol sein muß, beschlossen". Konkret werden Zwecke staatlichen Wollens im Hinblick auf den Umweltschutz gesehen. So hat Kärnten ein eigenes Umweltverfassungsgesetz, nämlich das Landesverfassungsgesetz über die Grundsätze des Umweltschutzes in Kärnten 101 beschlossen. Danach haben das Land Kärnten und die Gemeinden gemäß § 1 Abs. 1 "durch Schutz und Pflege der Umwelt die Lebensbedingungen für die gegenwärtigen und die künftigen Generationen in Kärnten zu sichern". Nach § 1 Abs. 2 ist jedem Kärntner "in Eigenverantwortung die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen seiner Heimat anvertraut" . Als Ziele für die Umweltschutzmaßnahmen werden im § 2 angegeben: ,,1. Die natürlichen Lebensgrundlagen Boden, Wasser und Luft sind zu schützen; sie dürfen nur sparsam und pfleglich genutzt werden.

2. Die Leistungsfähigkeit der natürlichen Umwelt ist zu erhalten; eingetretene Schäden sind möglichst zu beheben oder durch ökologisch sinnvolle Pflegemaßnahmen zu mindern; Maßnahmen, die eine Beeinträchtigung des Klimas herbeiführen, sind zu vermeiden. 3. Die heimische Tier- und Pflanzenwelt ist in ihrem Artenreichtum und ihrer Vielfalt zu erhalten; ihre natürlichen Lebensräume sind zu schonen und zu bewahren. 4. Die Eigenart und die Schönheit der Kärntner Landschaft, die charakteristischen Landschafts- und Ortsbilder sowie die Naturdenkmale und Kulturgüter Kärntens sind zu bewahren.

100 101

Tiroler LGBl. Nr. 61/1988, i. d. F. LGBl. Nr. 50/1989. Kärntner LGBl. Nr. 42/1986.

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5. Grund und Boden sind sparsam und schonend zu nutzen; eine Zersiedelung ist zu vermeiden; Verkehrswege sind umweltgerecht zu planen und herzustellen. 6. Abfälle und Abwässer sind umweltschonend zu beseitigen oder zu verwerten; der Gefährdung von Boden, Wasser und Luft ist entgegenzuwirken. 7. Schädlicher und störender Lärm ist einzudämmen. 8. Das Umweltbewußtsein der Bewohner und Besucher unseres Landes und der sparsame Umgang mit Rohstoffen und Energie sind zu fördern." Nach § 3 dieses Umweltverfassungsgesetzes müssen "Landesgesetze, Maßnahmen der Landesvollziehung und Aufgaben, die vom Land, den Gemeinden und den Gemeindeverbänden als Träger von Privatrechten besorgt werden", "mit den Grundsätzen und Zielen dieses Landesverfassungsgesetzes in Einklang stehen." Der Umweltschutz findet seine landesverfassungsgesetzliche Zweckbestimmung auch in der Oberösterreichischen Landesverfassung 102 : Oberösterreich hat nach Art. 9 Abs.l seiner Landesverfassung "im Rahmen seines selbständigen Wirkungsbereiches die natürliche Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schädlichen Einwirkungen" zu schützen; es gehört nach Art. 9 Abs. 2 zu den Aufgaben aller Organe des Landes und der Gemeinden, "ihre Tätigkeit in Landesangelegenheiten zum Schutz der Umwelt so auszurichten, daß insbesondere die Natur und die Landschaft sowie die Luft, der Boden und das Wasser in ihrer natürlichen Beschaffenheit möglichst wenig beeinträchtigt und Störungen durch Lärm möglichst vermieden werden". Im Verhältnis besonders umfangreich sind die staatszweckbezogenen Bestimmungen in der Vorarlberger Landesverfassung 103 • So bekennt sich Vorarlberg nach Art. 1 Abs.l "zu den Grundsätzen der freiheitlichen, demokratischen, rechts staatlichen und sozialen Ordnung. Die Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt". Nach Art. 7 Abs. 3 erläßt das Land "Vorschriften und fördert Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, insbesondere zum Schutz der Natur, der Landschaft und des Ortsbildes sowie der Luft, des Bodens und des Wassers". Nicht unerwähnt soll es auch sein, daß nach Art. 8 Abs. 1 der Vorarlberger Landesverfassung das Land "die Ehe und die Familie als natürliche 102 103

Oberästerreichisches LGBl. Nr. 122/ 1991. Vorarlberger LGBl. Nr. 30/1984.

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Grundlagen der menschlichen Gesellschaft zu schützen und zu fördern" hat und nach Art. 8 Abs. 2 unterstützt das Land "die Eltern in ihrer Pflicht, die Kinder zu pflegen und zu erziehen. Es achtet die Vorrangigkeit des natürlichen Erziehungsrechtes der Eltern" 104.

V. Vergleicht man diese landesverfassungsgesetzlichen Regelungen, welche zweckcharakterliche Merkmale besitzen, mit denen des Bundes, dann fällt auf, daß diese auf Landesebene bisweilen, zum Beispiel was das Sozialstaatsprinzip betrifft, weitergehen als der Bundesverfassungsgesetzgeber. Sie sollten Verfassungsrechtsaussagen mit Zweckcharakter nur auf jenen Gebieten tun, auf welchen das Land eine Zuständigkeit besitzt. Ihrem Rechtscharakter nach erweisen sich diese zweckorientierten Verfassungsbestimmungen des Landes gleich denen des Bundes als Sozialgestaltungsempfehlungen, ohne daß der Einzelne daraus einen subjektiven Rechtsanspruch ableiten kann. Diese Sozialgestaltungsempfehlungen richten sich an den Gesetzgeber, der zu ihrer Konkretisierung legitimiert ist und geben auch gleichzeitig Maßstäbe für die Meinungs- und Urteilsbildung durch die Wählerschaft ab, die danach im Wahlakt durch ihre Stimmabgabe ihr Ja und Nein zur gesetzgeberischen Tätigkeit der politischen Parteien ausdrükken können. Adamovich - Funk sprechen in diesem Zusammenhang von verfassungsrechtlichen Staatszielbestimmungen und stellen fest, daß sie keineswegs nur unverbindliche Proklamationen, sondern echte Normen mit Bindungswirkung für die Gesetzgebung und Vollziehung sind. 105 In diesem Zusammenhang gilt es zum Beispiel auch auf den Kommentar zur niederösterreichischen Landesverfassung über die Erklärung betreffend die "Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung" zu verweisen, die von Selbstbindung der Gesetzgebungs- und Vollzugsorgane sprechen. 106 Im Motivenbericht zu Art. 7 Abs.3 der Vorarlberger Landesverfassung wieder wird erklärt, daß "der Verfassungsgesetzgeber den einfachen Gesetzgeber und über ihn auch die Vollziehung verpflichtet, im Sinne eines Schutzes der Umwelt tätig zu sein" .107 Der Verfassungsgesetzgeber Österreichs muß sich der Pluralität der Wünsche der Einzelmenschen, der organisierten Interessen der Gesellschaft 104 Dazu Werner Brandtner, Die reformierte Landesverfassung (1984), Monfort 36. Jg., 1984, Heft 1, S. 111 ff. 105 Adamovich-Funk, Verfassungsrecht, S. 101. 106 Niederösterreichische Landesverfassung 19~9 mit Erläuterungen nach dem Stand vom 1. Mai 1979, hrsg. von der niederösterreichischen Studiengesellschaft für Verfassungs- und Verwaltungsrechtsfragen, Wien 1979, S. 34. 107 Montfort 1984, S. 119.

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sowie der zeit- und ortsbedingten Umstände politischer Entscheidungen, die zu Akten der Gesetzgebung und in ihrer Ausführung auch letztlich der Verwaltung geführt haben, bewußt gewesen sein, da er in bezug auf den Inhalt von Verfassungsbestimmungen mit zweckorientiertem Charakter zurückhaltender war; auch dort, wo normative Wirkungen von derartigen Staatszwecken beabsichtigt waren, sind diese mehr oder weniger sanktionslos. Joseph Marko 108 und im Anschluß auch Friedrich Koja ist Recht zu geben, daß, solange der positive Gestaltungsauftrag der Verfassung an den einfachen Gesetzgeber nur das Ob, nicht aber auch das Was, Wann und Wie enthält, es der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen bleibt, "den politischen Prozeß zu determinieren, so daß hier kein unmittelbarer Gesetzgebungsauftrag an den einfachen Gesetzgeber vorliegt." 109 Die Sanktionsmöglichkeit für das Unterlassen des Gesetzgebers ist, wie bereits betont, der Stimmzettel des Wählers und die Möglichkeiten der direkten Demokratie, die jetzt auf Bundes- wie auf Landesebene gegeben sind. Wie schon Marko 110 und im Anschluß an ihn Koja l11 festgestellt haben, kommen derart ziel- bzw. zweckorientierten Verfassungsbestimmungen auch eine bestimmte Bedeutung für die Verwaltung zu, sie sind Interpretationsmaßstab für den Bereich der Gebundenheit und Abwägungsgebot für den Bereich des Ermessens mit derselben Wirkung wie der Gleichheitssatz, d. h. als Willkürverbot. Betrachtet man das österreichische Verfassungsrechtssystem in seiner Gesamtheit, d. h. sowohl in seiner bundes- und landesgesetzlichen Dimension wie in seiner Entwicklung, dann zeigt sich geradezu in Kontinuität das österreichische Verfassungsrecht als eine Form normativer Grundordnung des Staates, die neben der Staatsorganisation die Stellung des Einzelnen durch Grundrechte sichert und sich bei aller Neutralität gegenüber Wertaussagen nur dort zu Zweckbestimmungen des Staates herbeiläßt, wo dies durch die Weiterentwicklung des Staatsverständnisses unerläßlich und für die Anliegen des Einzelnen sowie die organisierten Interessen der Gesellschaft notwendig geworden ist. Diese Staatszwecke sind als Blankovollmacht an den Gesetzgeber des Bundes und der Länder in den Kompetenztatbeständen Österreichs in den Art. 10 ff. B-VG enthalten, und auch die Erklärung der dauernden Neutralität Österreichs vom 26. Oktober 1955, BGBl. Nr. 211, die Bekenntnisse 108 109 110

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Marko, Umweltschutz, S. 292. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 90 f. Marko, Umweltschutz, S. 293. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 91.

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Österreichs zur umfassenden Landesverteidigung im Art. 9a B-VG, zum umfassenden Umweltschutz auf Grund BVG vom 27. November 1984, BGBl. Nr. 491, zur Existenz und Vielfalt politischer Parteien in der Verfassungsbestimmung des Art. I des Parteiengesetzes vom 2. Juli 1975, BGBl. Nr. 404, die Erklärung des Rundfunks zur "öffentlichen Aufgabe" durch Art. I Abs. 3 des BVG vom 10. Juli 1974, BGBl. Nr. 396, über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks und der Auftrag zur Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts an Bund, Länder und Gemeinden bei ihrer Haushaltsführung nach Art.13 Abs.2 B-VG i. d. F. BGBl. Nr. 212/1986 dokumentieren zielsetzende Staatszwecke. ll2 Sie stellen einen Auftrag an den Gesetzgeber dar, konstituieren, dirigieren und limitieren das politische Wollen eines Staates, wie es in der Rechtsetzung grundgelegt und in der Vollziehung konkretisiert wird. Je nachdem, ob diese Staatszwecke mehr oder weniger mit den Verfassungsgrundsätzen der Republik Österreich, wie dem demokratischen, republikanischen, bundesstaatlichen und rechtsstaatlichen Prinzip und den Grundrechten im Zusamenhang stehen, verlangen diese bei einer Änderung nach Art. 44 Abs.3 B-VG eine Volksabstimmung. Im übrigen lassen sie einen weiten Bereich für eine zeit- und ortsbedingte Verfassungskonkretisierung. Der Inhalt des österreichischen Verfassungsrechts hat sich angesichts der zu verkraftenden Pluralität mannigfacher Art in Staat und Gesellschaft als eine Organisationsvorschrift für den Staatsaufbau und als eine Regelung des Verhältnisses von Staat und Einzelmenschen verbunden mit einem Minimalkonsens an Grundwerten für das private und öffentliche Leben der Menschen im Staat erwiesen. Unverkennbar ist in Österreich dabei der formelle Charakter der Rechtsstaatlichkeit ll3 und in der Folge der Charakter des Rechtswegestaates Österreichs, von dem schon Adolf Merkl im Hinblick auch auf die Mehrzweckeverwendung dieses Staates feststellte: "Bei der Herrschaft dieses interventionistisch und damit erst regierungsfähig gewordenen Liberalismus (als des Erben des vom Konservatismus legitimierten Absolutismus) wird auch nichthoheitliche Tätigkeit des Staates und sonstiger rechtlicher Erscheinungsformen der öffentlichen Hand gerechtfertigt und sogar gefordert, freilich bloß auf Grund rechtlicher, im besonderen formell-gesetzlicher Ermächtigungen, die die Möglichkeit und den finanziellen Aufwand solcher dem Wohlfahrts- oder Kulturzweck dienender öffentlicher Anstalten und Unternehmungen, wenn nicht durch So auch Klecatsky-Morscher, Bundesverfassung, S. 1 f. Siehe Adolf Merkl, Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens, Österreichisches Verwaltungsblatt 1937, S. 174 ff.; derselbe, Idee und Gestalt des Rechtsstaates, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, S. 126 ff. sowie Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates. 112 113

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Sondergesetze, so durch das alljährliche Budgetgesetz festlegen. Diese Rechtsentwicklung hat den Dienst der öffentlichen Hand für Kultur und Wohlfahrt trotz Verdammungsurteils unbelehrter Liberaler ermöglicht. Das Ergebnis dieses Bruchs des Wirtschaftsliberalismus sind rechtliche Lenkungsmaßnahmen gegenüber den grundsätzlich beibehaltenen privatwirtschaftlichen Unternehmungsweisen und Eigentätigkeit sogenannter öffentlichrechtlicher juristischer Personen durch öffentliche Anstalten oder mit besonderer Rechtspersönlichkeit ausgestatteter Unternehmungen und durch Betriebe, die rechtlich in Gebietskörperschaften eingegliedert sind, wie etwa Staatsbahnen, Staatsbanken, Staatsschulen, Stadtwerke: Ein wirtschaftliches und kulturelles Wirkungsfeld, das in bezug auf Personalund Sachaufwand die dem Rechts- und Machtzweck dienende Hoheitsverwaltung auch im sogenannten bürgerlichen, grundsätzlich privatkapitalistisch eingerichteten Staat übertrifft." 114 Im Hinblick auf diese Entwicklung zur Mehrzweckeverwendung des Staates und damit auch wertmäßig orientierter Ansprüche an den Staat von Seiten des Einzelnen und der Gesellschaft stellen Adamovich - Funk mit Recht die aktuelle Frage nach dem "Verfassungsrecht als Spielregel und materieller Wertordnung" und führen dazu aus: "Die verfassungspolitische Vorstellung vom Spielregelcharakter des Verfassungsrechts gründet sich auf die Erwartung, daß die Bindung des politischen Prozesses an Organisations- und Verfahrensvorschriften sowie an bestimmte inhaltliche Schranken eine ausreichende Gewähr für Konsensfindung und materielle Entscheidungsrichtigkeit bieten kann" .115

Im Konfliktsjall trifft die Kompetenz für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des österreichischen Rechtslebens und so auch für die Wahrung der mehr oder weniger transparenten Verfassungsgrundsätze Österreichs den Verjassungsgerichtshoj; in seinen Aufgaben steht er zwischen Recht und Politik 116 • In einer auch für die Frage nach Staatszwecken in Österreich beachtenswerten Weise läßt der Verjassungsgerichtshoj die Tendenz erkennen ll7 , daß der Zweck des Staates und damit auch seines positiven Rechts darin besteht, einen Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen und den öffentlichen Interessen herbeizuführen. Besonders deutlich wird dies in der neuen Grundrechtsjudikatur, durch welche die Gesetzesvorbehalte materiell gedeutet werden, sodaß sie echte inhaltliche Schranken für den Gesetz-

Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, S. 303 f. Adamovich-Funk, Verfassungsrecht, S.23; auch Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 92. 116 Näher Herbert Schambeck, Österreichs Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Im Dienst am Staat und Recht, Internationale Festschrift für Erwin Melichar, hrsg. von Heinz Schäffer, Wien 1983, S. 185 ff. 117 Siehe insbesondere die beiden auf den Umweltschutz bezogenen Erkenntnisse VfSlg. 11990 und 12009/1989. 114 115

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geber darstellen, d. h. daß ein Eingriffsgesetz nur dann verfassungskonform ist, wenn es einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den dahinterstehenden öffentlichen und den hinter dem Grundrecht stehenden privaten Interessen herbeiführt. In dieser Weise kann in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes eine Hinwendung zu einer wertorientierten Auslegung 118 festgestellt werden. Das soll aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß in Österreich in weiten Bereichen die sogenannte klassisch-liberale Grundrechtstheorie vorherrschend ist, die den Abwehrcharakter der Grundrechte gegenüber staatlichen Eingriffen betont. 119 Dies gilt auch für jene Grundrechte, die nach dem Jahre 1867 in die Verfassung eingefügt wurden. 120 Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland wurden verschiedene, das liberale Grundrechtsverständnis modifizierende Theorien entwickelt 121, die in der österreichischen Rechtssprechung bisher jedoch nur wenig Auswirkungen gezeitigt haben. So will die institutionelle Grundrechtstheorie aus einzelnen Grundrechtsbestimmungen einen institutionellen Bezug ableiten. 122 Die sogenannte sozialstaatliche Grundrechtstheorie beschäftigt sich mit dem Problem der verfassungsgesetzlichen Gewährleistung von Rechten des Einzelnen auf Leistungen des Staates. 123 Die im neueren 118 Lange Zeit beachtete der Verfassungsgerichtshof die Bedeutung der Grundrechte als Wertentscheidungen nicht entsprechend; siehe die diesbezügliche Kritik von Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation, Juristische Blätter, 1980, S. 234. 119 Beispielsweise im Fristenlösungserkenntnis (VfSlg. 7400/1974) und im Universitätsorganisationsgesetz-Erkenntnis (VfSlg. 8136/1977), in VfSlg. 6265 und 6266/1970 (keine Verpflichtung des Staates, Vorkehrungen zu treffen, um einem Untersuchungshäftling die Ausübung des Wahlrechts zu ermöglichen) verstand der Verfassungsgerichtshof die Grundrechte bloß als Abwehrrechte gegen den Staat, die keine Leistungsansprüche gegenüber dem Staat gewähren. 120 Es wurden auch grundsätzlich nur solche Grundrechtsbestimmungen in Verfassungsrang erhoben, die mit diesem Verständnis vereinbar sind. Die Europäische Sozialcharta beispielsweise mit ihren Ansprüchen auf Leistungen des Staates wurde nie ins Verfassungsrecht inkorporiert. Adamovich-Funk, Verfassungsrecht, S. 368 ff.; Felix Ermacora, Grundriß der Menschenrechte in Österreich, Wien 1988, Rz. 1061 ff. und Walter-Mayer, Bundesverfassungsrecht, S. 464 ff. 121 Siehe ausführlich Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III /1, München 1988, S. 200 ff., 506 f., 558 ff., insb. S. 897 ff. 122 Beispielsweise wollen Karl Wenger / Günther Winkler, Die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre. Eine verfassungsrechtliche Analyse der Bedeutung des Art. 17 StGG für die Hochschulorganisation, Wien 1974 oder Friedrich Koja, Wissenschaftsfreiheit und Universität, Salzburg 1976, S. 73 aus der Garantie der Freiheit der Wissenschaft weitreichende Folgerungen für die innere Struktur der Universitäten ziehen. 123 Es stellt sich die Frage, ob soziale Grundrechte als einklagbare subjektive Rechte sinnvollerweise überhaupt formuliert werden können. Zweifellos müßte aber der Einbau effektiver sozialer Grundrechte in die Verfassung zu einem grundlegenden Umbau des Rechtsschutzes und der Staatsstruktur führen. Vergleiche dazu

3 Parlamentarismus

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Schrifttum vertretene Werttheorie deutet die Grundrechte als Wertordnung oder Wertsystem. Nach diesem Verständnis bilden die Grundrechte nicht bloß eine Schranke 124, sondern feste inhaltliche Richtlinien für den einfachen Gesetzgeber, derart, daß ihm auch jene Beschränkungen verwehrt sind, die nicht durch die Wertentscheidung eines anderen Grundrechts gedeckt sind. Der Gesetzgeber ist angehalten, für eine möglichst weitgehende Realisierung der an den Grundrechten positivierten Wertentscheidungen Sorge zu tragen. 125 Wenngleich der Verfassungsgerichtshof sich niemals explizit auf die Werttheorie beruft, fließen "wertende" Überlegungen in den letzten Jahren vermehrt in seine Entscheidungen ein, das zeigt sich vor allem in der sehr dynamischen Rechtssprechung zum Gleichheitsgrundsatz. 126 Was aber die Anwendung der Werttheorie in Österreich erschwert, ist die Inhomogenität der Grundrechte 127, die das Grundrechtssystem nicht als "innere Einheit" erleben lassen. 128 Theodor Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, Recht und Staat, Heft 337 / 338, Tübingen 1967, S. 30 ff.; Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur Europäischen Sozialcharta, Berlin 1969, S. 99 ff. und Peter Oberndorjer, Soziale Verantwortung im österreichischen Verfassungsrecht, in: Alois Mock / Herbert Schambeck (Hrsg.), Verantwortung in Staat und Gesellschaft, Wien 1977, S. 297 ff. 124 Sogenannte Schrankentheorie: Die Grundrechte stellen wie jede andere verfassungsgesetzliche Regelung - nur eine Schranke dar, die der Gesetzgeber nicht überschreiten darf. 125 So Karl Korinek und Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 291 ff. 126 Beispielsweise VfSlg. 10367/1985; VfSlg. 11309 und 11368/1987. Zweifellos ist aber auch die neue Judikatur zur Erwerbsfreiheit, zur Kunstfreiheit und zur Meinungsfreiheit sowie zur Eigentumsfreiheit von wertenden Gesichtspunkten geprägt. Vgl. insb. Karl Korinek, Entwicklungstendenzen in der Grundrechtsjudikatur des Verfassungsgerichtshofes, Schriftenreihe der NÖ. Juristischen Gesellschaft, Heft 61, Wien 1992 (mit exemplarischen Hinweisen auf wichtige Judikate des VfGH). 127 So wurde das Staatsgrundgesetz 1867 im Jahre 1920 lediglich auf Grund eines Kompromisses ins Bundes-Verfassungsgesetz rezipiert, da sich die großen politischen Parteien auf keinen Grundrechtskatalog einigen konnten; siehe dazu auch Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht. Ein Grundriß entwicklungsgeschichtlich dargestellt, Tübingen 1923, S. 163 und 220. Im Bundes-Verfassungsgesetz selbst finden sich nur einzelne verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte, und zwar der Gleichheitsgrundsatz (Art. 7), das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 83 Abs. 2), die Wahlrechtsbestimmungen (Art. 26, 60, 95 und 117) sowie die Verfahrensgrundsätze; einige Grundrechte wurden im Laufe der Entwicklung garantiert (z. B. im Jahre 1974 das Datenschutzrecht). An der Formulierung der Menschenrechtskonvention als zweitwichtigster Grundrechtsquelle konnte Österreich nicht mitwirken und ist diese auch dem Verständnis der österreichischen Grundrechte fremd. 128 Die Forderung nach einer Gesamtreform des Grundrechtskatalogs wird zwar seit Jahrzehnten erhoben, bisher wurde aber lediglich das Recht auf persönliche Freiheit (Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988, BGBL Nr. 684) neu gefaßt. Zur Grundrechtsrefom allgemein beachte Peter Pernthaler, Die Grund-

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Die Grundrechtsverbürgungen bilden vielmehr ein Konglomerat einander vielfach überschneidender, ergänzender und modifizierender Vorschriften l29, dem jegliche durchgehende Systematik mangelt. 130 Sicher ist diese Gegebenheit mit ein Grund, daß die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bisweilen einen inneren Zusammenhang vermissen läßt und sich für die einzelnen Grundrechte ganz unterschiedliche Entwicklungen ergeben haben. Nur zur Illustration sei auf die sehr strikt grammatikalisch-historische Interpretation zur Freiheit des Liegenschaftsverkehrs des Art. 6 StGG131 im Verhältnis zur sehr weitgehenden und offenen Auslegung von Gleichheitsgrundsatz und Recht auf den gesetzlichen Richter 132 verwiesen. Mit einem Schlagwort belegt, könnte man die neuere Judikatur des Verfassungsgerichtshofes als stärker "materiell" oder "inhaltlich" orientiert bezeichnen. 133 Sie geht nunmehr davon aus, daß die Verfassung

positivierte Wertentscheidungen enthält, die dem einfachen Gesetzgeber einen inhaltlich mehr oder weniger verbindlichen Rahmen setzen 134 und verstärkt auch inhaltliche Determinanten vorgegeben sind. Trotzdem bleibt aber dem Gesetzgeber innerhalb dieses Rahmens ein weiter Gestaltungsraum, dessen Grenzen je nach verfassungsgesetzlicher Regelungsdichte gezogen sind. 135

rechtsrefom in Österreich, Archiv des öffentlichen Rechts, 1969, Band 94, S. 31 ff. und Gerhart Holzinger, Grundrechtsrefom in Österreich, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F. / Band 38, 1989, S. 325 ff. 129 Beachte dazu schon Herbert Schambeck, Die Menschenrechte und das österreichische Verfassungsrecht, Wissenschaft und Weltbild 1969, S. 91 ff. 130 Manche Autoren behandeln daher die Grundrechte rein additiv, jeweils unter Zusammenfassung inhaltsähnlicher Grundrechtsverbürgungen, so Ermacora, Grundriß, Rz. 1061 ff. 131 Dieses wird vom Verfassungsgerichtshof lediglich als Verbot gewisser historischer, ständischer Einschränkungen des Liegenschaftsverkehrs verstanden, Ansätze eines "neuen" Verständnisses gibt es jedoch insoweit, als Art. 6 StGG es nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes auch verbiete, eine bevorrechtete Gruppe der Landwirte zu schaffen (beispielsweise VfSlg. 5374/1966). 132 Es ist bezeichnend, daß beide Grundrechte sind, deren veränderter Stellenwert bei Übergang der Staatsform von der konstitutionellen Monarchie zur Republik durch ihre ausdrückliche Aufnahme in den Text des Bundes-Verfassungsgesetzes verdeutlicht wurde; siehe dazu Korinek / Gutknecht, Grundrechtsschutz, S. 300. 133 Dazu Walter Barfuß, Neue Entwicklungen in der Rechtssprechung des Verfassungsgerichtshofes, Österreichische Juristen-Zeitung, 1989, S. 673 ff. 134 In diese Richtung bereits Hans Kelsen, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts I, Tübingen 1930, S. 147 ff., insb. S. 154 f.; "Verfassung ... stellt auch Richtlinien für den Inhalt der Gesetze auf." 135 Vgl. dazu Johannes Hengstschläger, Totaländerung der Verfassung durch Gesetzessanierung?, in: Heinz Mayer u. a. (Hrsg.), Festschrift für Robert Walter zum 60. Geburtstag, Wien 1991, S. 215 ff. 3"

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Innerhalb dieses Gestaltungsspielraumes kann der Verfassungsgerichtshof dem Gesetzgeber nicht entgegentreten 136, er kann insbesondere nicht die von ihm bevorzugte Lösung an die Stelle der Entscheidung des von Verfassungs wegen zuständigen Organs setzen. 137 Der entscheidende Wandel in der Grundrechtsinterpretation in Österreich ist sicher der von einer formellen zu einer materiellen Sicht des Gesetzesvorbehalts. Dieser liegt die bereits erwähnte stärker inhaltsbezogene Verfassungsanwendung als Konsequenz der in vermehrtem Maße eingesetzten teleologischen und systematischen Interpretationsmethoden zugrunde. Wenn man von Gesetzesvorbehalt spricht 138, assoziiert man damit oftmals automatisch eine Grundrechtseinschränkung. Dabei haben Gesetzesvorbehalte keineswegs ausschließlich das Ziel, die grundrechtlich verbürgten Freiheiten einzuschränken, sondern es soll deren Ausübung gegenüber den Freiheiten anderer Grundrechtsträger sowie gegenüber öffentlichen Interessen abgegrenzt, also ihr Gebrauch erst tatsächlich ermöglicht und geordnet werden. 139 Gesetzesvorbehalte sind nicht als schrankenlose Ermächtigung gedacht, würde doch in diesem Falle die grundsätzlich eingeräumte Freiheit inhaltslos und zur freien Disposition des einfachen Gesetzgebers gestellt. Die gesetzliche Ausführung soll nicht an die Stelle des Grundrechts treten; vielmehr ist Sinn des Gesetzesvorbehalts, zu Ausführungsgesetzen zu ermächtigen, die grundsätzlich im Dienst des betreffenden Grundrechts stehen,140 d. h. dieses aktualisieren und konkretisieren. 141 Es darf und soll überprüft werden, ob das ausführende Gesetz dieser Funktion gerecht wird. 142 136 Die Prüfungskompetenz des Gerichtshofes reicht so weit als die rechtliche Gebundenheit reicht. Vgl. Karl Korinek, Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 39, Berlin-New York 1981, S. 4l. 137 Befürchtungen in diese Richtung hegte Theo Öhlinger, Die Grundrechte in Österreich, Europäische Grundrechte-Zeitschrift, 1982, S. 216 ff., insb. S. 224. 138 Zur Funktion des Gesetzesvorbehalts vgl. Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, S. 27 ff. 139 Vgl. insb. Karl Korinek, Gedanken zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten, in: Max Imboden u. a. (Hrsg.), Festschrift für Adolf J. Merkl zum 80. Geburtstag, München-Salzburg 1970, S. 176 ff.; Schambeck, Möglichkeiten, S. 225 ff., insb. S. 233 ff.; Walter Berka, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die österreichische Grundrechtstradition, Österreichische Juristen-Zeitung, 1979, S. 365 ff. und 428 ff., insb. 372 ff. und 430 ff. 140 Korinek, Gedanken, S. 176 ff. 141 Dabei dürfen aber die Forderungen nicht überspannt werden, insbesondere darf der Gesetzgeber nicht verpflichtet werden, sozusagen die "verfassungsgerechteste" Lösung zu wählen, vgl. dazu u. a. Korinek, Verfassungsgerichtsbarkeit, S.44 und Öhlinger, Grundrechte, S. 216 ff., insb. S. 224.

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Bis vor wenigen Jahren sah man den Gesetzesvorbehalt überwiegend als Ermächtigung, das Grundrecht so weit zu beschränken, daß es nur nicht in seinem Wesen verändert oder in seinem Kern getroffen wird. 143 Diese als Wesensgehaltssperre bezeichnete Begrenzung wurde vom Verfassungsgerichtshof zwar nie genauer präzisiert,144 sie dürfte aber materiell mit einer faktischen Beseitigung der im Grundrecht verbürgten Freiheit gleichzusetzen sein. 145 Auf alle Fälle stellt der Wesensgehalt eine grundrechtliche Minimalgarantie dar, die der gesetzgeberischen Verfügung absolut entzogen ist. 146 Der daraus resultierende Gewinn für die Bestandskraft der Grundrechte war allerdings eher ein theoretischer denn ein tatsächlicher. Praktisch wurde eine Verletzung des Wesensgehalts nie expressis verbis zur Begründung einer aufhebenden Entscheidung verwendet. Nach neuerer Ansicht kann aber auch eine Beschränkung, die zwar nicht die Intensität einer faktischen Beseitigung erreicht, jedoch insofern weitgehend ist, als sie die Freiheit "über das Maß" beschränkt, grundrechtswidrig sein (sog. Übermaßverbot).147 Es ist dieser interpretative Ansatz,148 welcher von der Lehre vorbereitet und entwickelt wurde,149 der die jüngere Judikatur des Verfassungsgerichtshofes bestimmt. 142 Karl Korinek, Das Grundrecht der Freiheit der Erwerbsbetätigung als Schranke für die Wirtschaftslenkung, in: Karl Korinek (Hrsg.), Beiträge zum Wirtschaftsrecht, Festschrift für Karl Wenger zum 60. Geburtstag, Wien 1983, S. 243 ff., insb. S.248. 143 VfSlg. 3118/1956, 6116/1970, 7770/1976 u. v. a. 144 Der vom Verfassungsgerichtshof angesprochene Fall der Verstaatlichung der gesamten Unternehmungen mit großem Kapitalbedarf und der gesamten Grundstoffindustrie als Verletzung des Wesensgehalts der Erwerbsfreiheit (VfSlg. 3118/ 1956) stellte ja nur ein illustrationsbeispiel dar. 145 Der Verfassungsgerichtshof verwendet auch die Formulierung, das Gesetz dürfe das Grundrecht nicht auf einem Sektor praktisch beseitigen (VfSlg. 3118/ 1956), es dürfe nicht zu einer verfassungswidrigen Aushöhlung des Grundrechts führen (VfSlg. 7770/1956, 7996/1976). 146 Richard Novak, Verhältnismäßigkeitsgebot und Grundrechtsschutz, in: Bernhard Raschauer (Hrsg.), Beiträge zum Verfassungs- und Wirtschaftsrecht, Festschrift für Günther Winkler, Wien-New York 1989, S. 39 ff., insb. S.42. 147 Dazu (mit weiteren Hinweisen) schon Korinek, Gedanken, S. 182 sowie aus der jüngeren österreichischen Literatur insb. derselbe, Freiheit der Erwerbstätigkeit, S.249 ff. und Novak, Verhältnismäßigkeitsgebot, S.39 ff.; zum Grundsätzlichen: Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, Köln-Berlin-München-Bonn 1961, insb. S. 32 ff. 148 Vgl. etwa Günther Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, Wien-New York 1969. 149 Beachte beispielsweise Korinek, Gedanken, S. 171 ff.; Schambeck, Möglichkeiten, S. 225 ff., insb. S. 229 ff.; derselbe, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung in Österreich, in: Peter Oberndorfer / Herbert Schambeck (Hrsg.), Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft, Festschrift für Ludwig Fröhler zum 60. Geburtstag, Berlin 1980, S. 41 ff.; Peter Oberndorfer / Bruno Binder, Der verfas-

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Die Grenzen, die das Grundrecht dem einfachen Gesetzgeber steckt, werden nun enger gesehen: Er darf nicht ohne Notwendigkeit die in der Grundrechtsverbürgung enthaltenen Wertentscheidungen zu Lasten der Freiheit verändern.

Das materielle Verständnis der Gesetzesvorbehalte beruht zusammengefaßt wohl auf folgenden Ursachen: Wie oben aufgezeigt, greift eine andere methodische Sicht der Grundrechte Platz, die sich vom formalen Reduktionismus Kelsens ab- und dem wertorientierten gemäßigten Positivismus, wie er auf Basis der Lehren Merkls entwickelt wurde, 150 zugewandt hat. Weiters findet die Europäische Menschenrechtskonvention stärkere Beachtung, deren materiell formulierte Gesetzesvorbehalte eine Vorbildfunktion erfüllen, die das inhaltliche und abwägende Argumentieren zweifellos auch bei der Anwendung der Gesetzesvorbehalte des Staatsgrundgesetzes motiviert hat, und auch die richterliche, dynamische Ausformung der Grundrechtsverbürgungen der Menschenrechtskonvention durch die Straßburger Instanzen erhält stärkere Resonanz in Österreich. 151 Ebenfalls von Bedeutung ist die Öffnung gegenüber der internationalen Grundrechtsdogmatik, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, sowie allenfalls auch eine personelle Verjüngung des Verfassungsgerichtshofes, die den methodischen Einfluß der Reinen Rechtslehre in ihrer strikten Form zurückgedrängt hat. 152 Eine die Wertung der Grundrechtsordnung beachtende materielle Interpretation des Gesetzesvorbehalts verlangt eine interessenabwägende Anwendung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: 153 Ein Eingriff in das sungsrechtliche Schutz freier beruflicher, insbesondere gewerblicher Betätigung, in: Ludwig Adamovich / Peter Pernthaler (Hrsg.), Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky, 11. Band, Wien 1980, S. 677 ff.; Korinek / Gutknecht, Grundrechtsschutz, S. 291 ff. und Stefan Griller, Verfassungswidrige Schrottlenkung, Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 1985, S. 65 ff. 150 Dazu insb. Wolf-Dietrich Grußmann, Adolf Julius Merkl - Leben und Werk, Wien 1989, insb. S. 45 (m. w. H.) und Herben Schambeck, Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl, in: Robert Walter (Hrsg.), Adolf J. Merkl. Leben und Wirksamkeit, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Wien 1990, S. 267 ff. Als Beispiel für diese methodische Position seien aus dem Bereich des Verwaltungsrechts etwa Karl Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung, Wien 1970, aus dem Bereich der Grundrechtsdogmatik etwa Korinek, Gedanken, S. 176 ff.; derselbe, Freiheit der Erwerbsbetätigung, S. 243 ff.; Schambeck, Möglichkeiten, S. 225 ff.; Öhlinger, Grundrechte, S. 216 ff. oder Novak, Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 39 ff., genannt. 151 Vgl. etwa Kurt Heller, Judicial self restraint in der Rechtssprechung des Supreme Court und des Verfassungsgerichtshofes, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht, 1988, S. 89 ff., insb. S. 111 f. 152 Dazu Karl Korinek, Zur Interpretation von Verfassungsrecht, in: Festschrift für Robert Walter zum 60. Geburtstag. S. 363 ff.

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geschützte Rechtsgut ist nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nur in adäquater Weise zulässig. Einen Anknüpfungspunkt bietet auch der Gleichheitsgrundsatz, der nach der Rechtssprechung des Verfassungsgerichtshofes den Gesetzgeber an die sachlichen Grenzen der Materie bindet; auf diese Weise entwickelte sich die Gleichheitsprüfung immer mehr zu einer allgemeinen Sachlichkeitsprüfung. Diese muß aber - soll sie dem Anliegen der Grundrechte gerecht werden - unter Heranziehung auch der die materiellen Grundrechtsverbürgungen tragenden Wertungen der Rechtsordnung erfolgen. 154 Die materielle Auffassung, die hinter dieser skizzierten Judikaturentwicklung zu einzelnen Grundrechten steht,155 wirkt sich natürlich auch in vielen anderen Bereichen aus, etwa in der Judikatur zum Minderheitenschutz 156 oder zum Schutz vor erniedrigender und unmenschlicher Behandlung (Art. 3 MRK), 157 aber auch beispielsweise in Entscheidungen zu Art. 6 MRK,158 zum Rechtsstaatsprinzip 159 oder zur mittelbaren Bundesverwaltung 160 sowie aber auch in der Entscheidung zum Auslandsösterreicherwahlrecht. 161 Offensichtlich durchzieht die stärker rechtsinhaltlich argumentierende, wertorientierte Verfassungsinterpretation die gesamte verfassungsgerichtliche Judikatur. Sie läßt sich nicht auf einzelne Grundrechte beschränken, das beweist meines Erachtens, daß dahinter eine grundlegende methodische Weiterentwicklung steht. Wenn auch die Reaktionen auf diesen Wandel des Verfassungsverständnisses keineswegs durchgehend zustimmend sind,162 ist doch die Hinwen-

153 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entstammt ursprünglich dem Verwaltungsrecht und ist dort für Österreich seit langem anerkannt. Siehe dazu Novak, Verhältnismäßigkeitsgebot, S.40. 154 Ähnlich Karl Spielbüchler, Grundrecht und Grundrechtsformel, in: Oswin Martinek u. a. (Hrsg.), Arbeitsrecht und soziale Grundrechte, Festschrift für Hans Floretta, Wien 1983, S. 304, Anm. 50. 155 Dazu Herbert Schambeck, Zur Theorie und Interpretation der Grundrechte in Österreich, in: 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Österreich, S. 83 ff., bes. S. 93 ff. 156 VfSlg. 12245/1989. 157 VfSlg. 12190/1989. 158 VfSlg. 11506/1987; VfSlg. 12003 und 12162/1989 u. a. 159 Etwa VfSlg. 12186/1989. Beispielsweise ist auch die Nichtexistenz einer aufschiebenden Wirkung im Steuerverfahren verfassungswidrig, VfSlg. 11196/1986. Vgl. dazu auch Michael Lang, Die Rückwirkung von Abgabengesetzen, Österreichisches Recht der Wirtschaft, 1989, S. 404. 160 VfSlg. 11403/1987, auszugsweise abgedruckt und kommentiert von Karl Weber, Juristische Blätter, 1988, S. 30 ff. 161 VfSlg. 12023/1989.

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dung zu einer materiellen und damit grundrechtsfreundlicheren Auslegung jedenfalls für die Stellung des Einzelnen im Staatsgefüge sehr begrüßenswert. Seine Position und Absicherung in und gegenüber dem Staat erfahren eine Aufwertung, denn ein zwar verbürgter, aber formelhafter und inhaltsleerer Schutz wird der Funktion des Grundrechts nicht gerecht. Erst durch eine inhaltliche Wertung und Präzisierung werden das dem Grundrechtsgedanken innewohnende Menschenbild und Staatsverständnis 163 in die rechtliche Wirklichkeit umgesetzt. Die Frage nach den Staatszwecken hat sich damit im Letzten als Frage nach der Beziehung von Staatsorganisation und Stellung des Einzelmenschen im Staat erwiesen, dabei ist es notwendig, nach den Werten im Verfassungsrecht Österreichs zu fragen. Insbesondere im Hinblick auf die Situation der österreichischen Staatsrechtsordnung nach dem BundesVerfassungsgesetz 1920, das durch "eine äußerst diskrete Zurückhaltung gegenüber der Existenz von Verfassungsaufträgen und Verfassungswerten " 164 gekennzeichnet ist, ist diese Frage nur sehr schwer zu beantworten; Norbert Wimmer stellt nicht unbegründet eine "gedankliche Sparsamkeit des Gesetzgebers" 165 fest. Allmählich ist allerdings auf Grund der Weiterentwicklung der Anforderungen an den Staat und dem politischen Verständnis seiner Bürger eine Fortschreibung des Rechtsdenkens erfolgt, welche, in zweck-, ziel- und aufgabenorientierten Gesetzen beschlossen, auf der Ebene des Verfassungsrechts wie der des einfachen Gesetzesrechts Platz greift. Das gesamte öffentliche Recht sowohl des Bundes wie der Länder dokumentiert dies sehr anschaulich. Gerhart Wielinger meint sogar "eine Hinwendung zum politischen Verfassungsverständnis feststellen" 166 zu können. Im Grunde ist die Weiterentwicklung des Rechts- und insbesondere des Verfassungsdenkens in Österreich bei Kontinuität der Rechtsordnung und Identität der Staaten der Beweis einer offenen Liberalität im österreichischen Verfassungsrecht, die zwar konkrete Wertentscheidungen, welche ja in Staatszwecken beinhaltet sind, nicht im umfassenden Detail vorschreibt, aber auch im Grundsätzlichen nicht ausschließt. Dieser liberale Gedanke mit seiner in Österreich schon zur Tradition gewordenen Entwicklung hat, 162 Insb. Gesetzgebung und Verwaltung sehen die Gefahr, daß sich der Verfassungsgerichtshof zu einer "Nebenregierung" entwickeln könnte. Dazu Barfuß, Entwicklungen, insb. S. 673 f. und Walter-Mayer, Bundesverfassungsrecht, S. 468 f. 163 Schambeck, Menschenbild und Staatsform, S. 26 ff. 164 Norben Wimmer, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen Österreichs, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 42, Berlin-New York 1984, S. 83. 165 Wimmer, Kulturauftrag, S. 84. 166 Gerhan Wielinger, Gesamtreform der Bundesverfassung - Gesamtreform des Verfassungsverständnisses?, in: Reform des Rechts, Graz 1979, S. 572.

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wie schon Theo Mayer-Maly festzustellen wußte, Bedeutung für das Programm 167 einer humanistischen Jurisprudenz und damit auch für ein humanes Verfassungsverständnis, welches sich in den Grundrechten schon bisher äußerte 168 und in der Entwicklung der gesamten Rechtsordnung sich zeigt, in der Österreich ohne ausdrückliche Vorschreibung den Weg zum Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaat beschritten hat und diese Ziele auch als demokratischer Rechtsstaat erreichen will; der Beitrag des Parlamentarismus zum öffentlichen Recht in Österreich verdeutlicht dies.

167 Theo Mayer-Maly, Der liberale Gedanke und das Recht, in: Festschrift für Adolf J. Merkl zum 80. Geburtstag, S. 252. 168 Dazu auch Pernthaler, Staatslehre, S. 401.

Der Beitrag des Parlaments zur Entwicklung des Verfassungsrechts vor 1918 Von Wilhelm Brauneder

I. Grundsätzliches Die Frage nach der Rolle des Parlaments in der Verfassungsentwicklung stellte sich im 19. Jahrhundert wesentlich fundamentaler als nach dem Zusammenbruch der Monarchien Mitteleuropas im Jahre 1918. Die Existenz eines Parlaments - in welcher Ausgestaltung auch immer - ist zentrale Verfassungsfrage von oft revolutionärem Rang: 1848 erweist sich dies in Preußen, im cisleithanischen Österreich und in Ungarn, auch für Deutschland als Ganzes in Frankfurt / Main. Es geht, wenn nicht gar um die Begründung eines Staates wie schon 1830 in Belgien und 1848 für den Deutschen Bund, so doch um die Regierungsform: unbeschränkte bzw. altständisch umrahmte Monarchie ohne Parlament oder limitierte, nämlich konstitutionelle oder parlamentarische Monarchie mit einem solchen. Im Zusammenhang damit steht die Art des Inkrafttretens der Verfassung: Oktroy durch den Monarchen ohne parlamentarisches Mitwirken nach dem Muster der französischen Charte Constitutionelle von 1815 oder souveräner Parlamentsbeschluß nach dem Vorbild Belgiens von 1830, schließlich der Mittelweg des vom Monarchen sanktionierten Parlamentsbeschlusses wie in zahlreichen deutschen Staaten vor 1848 und in Österreich sodann 1867. Zu dieser verfassungsrechtlichen Weichenstellung im ganz Grundsätzlichen tritt erst sekundär die Frage hinzu, wo der verfassungsrechtliche oder verfassungspolitische Schwerpunkt innerhalb eines konstitutionellen oder parlamentarischen Systems in der Verfassungsgebung liegt. Anders als in einem republikanisch-parlamentarischen System erschöpft sich die Antwort nicht in der Alternative Parlament oder Regierung. Sie muß vielmehr meist auch die Existenz zweier Kammern berücksichtigen und sie in die Problemstellung miteinbeziehen, weiters auch "die Regierung" in ähnlicher Weise differenzieren, nämlich in den Monarchen und den Ministerrat. Mit dem Aufzeigen dieser Problemlagen ist zugleich gesagt, daß es sich bei dem in Rede stehenden Parlament primär oder überhaupt um das Zentralparlament handelt; so auch hier: Landtage und ab 1867 die "Delegationen" können außer Betracht bleiben.

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Österreich, näherhin: der cisleithanische Teil des Kaisertums Österreich im Sinne von 1804, widerspiegelt im 19. Jahrhundert mit seiner Verfassungsentwicklung alle diese Probleme in besonderem Maße: den Kampf um ein Parlament überhaupt in den Jahren 1848 und wieder ab 1861; das Hintanhalten eines Parlaments ab 1849 und dann ab 1850/51 seine offene Ablehnung; 1861 seine kompromißhafte Etablierung ohne gewählter Kammer - dazu schließlich die Rolle des Parlaments in der Verfassungsgebung der Jahre 1848/49, wieder 1867 und in den weiteren Jahren bis 1918. Vergleichsweise ruhig verlief hingegen die entsprechende Entwicklung in Preußen: Die 1848 oktroyierte Verfassung wurde zwar 1850 revidiert, aber sie blieb bis 1918 in Kraft und mit ihr auch das preußische Parlament stets existent, es überdauerte selbst den Verfassungskonflikt von 1862 bis 1866. Im chronologischen Ablauf lassen sich für Österreich folgende Etappen festhalten: die Entstehung von Österreichs erster (formeller) Verfassung 1848 unter bescheidender Mithilfe eines Ausschußlandtages; das Zustandekommen des Kremsierer Verfassungsentwurfs allein in mannigfaltiger parlamentarischer Arbeit, die aber zur Parlamentsauflösung führte; die Entstehung von Österreichs zweiter Verfassung 1849 als ausschließliche Regierungsarbeit; das Hinwenden zu einem antikonstitutionellen Verfassungsmuster neoabsolutistisch-neoständischer Prägung mit den Verfassungsgrundsätzen 1852, erarbeitet von der Bürokratie; die Modifizierung dieses Verfassungsmodells durch eine Art Ausschußlandtag 1860 und ihr Ausbau zur Reichsverfassung 1861 abermals durch die Bürokratie, schließlich 1867 deren Ergänzung durch parlamentarische Arbeit zur konstitutionellen Verfassung, die hinfort für die Verfassungsgebung das Wechselspiel zwischen Parlament und Regierung vorschrieb. Auf parlamentarischem Wege unter Mitwirkung auch von österreichischen Abgeordneten war übrigens noch eine Verfassung zustandegekommen: für den Deutschen Bund die Reichsverfassung der Konstituierenden Deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt / Main vor allem mit den vorweg in Kraft gesetzten Grundrechten. Von Österreichs insgesamt sieben Verfassungstexten des 19. Jahrhunderts - Verfassung 1848, Kremsierer Entwurf, Verfassung 1849, Verfassungsgrundsätze 1852, Oktoberdiplom 1860, Reichsverfassung 1861, Verfassung 1867 - sind somit drei ohne jegliches Mitwirken von Vertretungskörpem durch die Exekutive zustandegekommen: 1849, 1852 und 1861; an zwei weiteren waren parlamentsähnliche Vertretungen beteiligt: 1848 und 1860; zwei gehen auf parlamentarische Arbeiten zurück: nämlich der Kremsierer Entwurf und die Verfassung 1867. Somit sind (fast) je ein Drittel der Verfassungstexte unter Mitwirkung eines Parlaments bzw. unter der eines anderen Vertretungskörpers bzw. ohne beide entstanden.

Parlamentsbeitrag zur Verfassungsrechtsentwicklung vor 1918

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Diese Entwicklungen gehen ineinander über. 1 Nur auf die Verfassung 1848 sowie die von 1849 folgt jeweils ein Neubeginn. Von 1852 bis einschließlich 1867 besteht Kontinuität. Ein ganz enger Zusammenhang verbindet überdies die Entwicklung ab 1861 und vor allem 1867 mit jener in den Jahren 1848/49. "Alles 1849" notierte Eduard Sturm als Referent des Grundrechts-Staatsgrundgesetzes von 1867 als Zusammenfassung zu seinem Entwurf: 2 Damit und mit dem Umstand, daß ,,1849" seinerseits auf den Kremsierer Verfassungsentwurf zurückgeht, wird kurz und bündig plakativ gemacht, daß die Verfassung 1867 eine Wiederbelebung des Konstitutionalismus von 1848/49 darstellt und bewußt darstellen sollte. Deutlich wird dies ferner in den Arbeiten des Verfassungsausschusses von 1867, die jenen des Verfassungsausschusses von 1848/49 entsprechen: Sie und wieder ihre Vorlagen sind daher als Vorspiel zu dieser Verfassungs entwicklung zu werten, und zwar in einem strengen Sinne, nämlich als Vorbild, und zwar auch für die Rolle des Parlaments. Miteinander verschränkt sind weiters die Repräsentativkörper Parlament - verstanden als Vertretung mit zumindest einer gewählten Volkskammer - und Ausschußlandtag. Hier soll vorerst nur darauf verwiesen sein, daß das Abgeordnetenhaus von 1861 bis 1873 einen Ausschußlandtag darstellte. So sind auch sie, wenngleich keine Parlamente, und ihre Rolle in unsere Betrachtung miteinzubeziehen.

11. Ausschußlandtag und Verfassung: 1848 und 1860 1. Verfassung 1848

a) Ablauf Am 15. März 1848 3 hatte Kaiser Ferdinand den Erlaß einer Verfassung

unter Mitwirkung der Landtage zugesagt und ihre Einberufung am 18. März ilngeordnet. Tage zuvor, am 17. März, wurde die Einsetzung eines verantwortlichen Ministerrates befohlen, und zwar unter anderem auch zur 1 Zu ihnen Wilhelm Brauneder. Österreichische Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., Wien 1992, S. 113 ff. 2 Zur Entwicklung 1867 im Detail unten III. 3. 3 Zur Entwicklung der Verfassung 1848 zuletzt Wilhelm Brauneder, Die Gesetzgebungsgeschichte der österreichischen Grundrechte, in: Rudol! Machacek-Willibald Pahr-Gerhard Stadler (Hrsg.), 70 Jahre Republik. Grund- und Menschenrechte in Österreich, Kehl-Straßburg-Parlington 1991, S. 199 ff.; Karl Hugelmann, Die Entwicklung der Aprilverfassung von 1848, in: Jahrb. f. Landeskunde v. NÖ 1918/19, S. 238: Friedrich Walter, Die Entstehung der ersten österreichischen Verfassung, in: Jose! Kisser / Ferdinand Kron es / Ulrich Schöndorfer (Hrsg.), Wissenschaft im Dienste des Glaubens, Wien 1965, S. 175 ff.

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Durchführung des Verfassungsversprechens. Überdies bildeten die Landtage durch Vertreter aus ihrer Mitte einen Ausschußlandtag, den "Ständischen Zentralausschuß", der sich erstmals am 10. April 1848 in Wien versammelte. Für die Beratungen der Gesamtstaatsverfassung gaben somit Ministerrat und Zentralausschuß den institutionellen Rahmen ab. Die Bezeichnung "Pillersdorfsche Verfassung" für die von 1848 verdunkelt den Umstand, daß an ihrem Zustandekommen zwei Organe beteiligt waren, nämlich Ministerrat und Zentralausschuß. Zu Recht erinnert sie zwar daran, daß der ressortmäßig zuständige Innenminister Franz v. Pillersdorf federführend die Verfassungs arbeiten leitete, läßt aber nicht nur vergessen, daß die Diskussionen im Ministerrat stattfanden, sondern vor allem, daß in diese auch der Zentralausschuß eingebunden war und selbst eine Verfassungsdiskussion aufgrund eines eigenen Verfassungsentwurfs geführt hat. Dieses Zusammenwirken zwischen Ministerrat und Zentralausschuß steht konstitutionellem Muster nicht ferne und wirft damit die Frage nach einer quasi-parlamentarischen Beteiligung am Zustandekommen der Verfassung 1848 auf, zumal selbst an der konstitutionellen Verfassung 1867 kein gewähltes Parlament beteiligt war. Freilich stammen sämtliche Vorentwürfe zur Verfassung 1848 von Pillersdorf: Nach einer Neun-Punkte-Erklärung zur Verfassung für den Ministerrat legte er diesem "Grundlinien der Verfassung" erst in Form eines Inhaltsverzeichnisses vor, sodann ausformuliert am 13. April einer Verfassungskonferenz, an der sowohl der Ministerrat wie auch Vertreter des Zentralausschusses teilnahmen. Das Ergebnis dieser Verfassungskonferenz teilte der Ministerrat in seiner Pressemitteilung der amtlichen Wiener Zeitung mit, gleichzeitig erstellte Pillersdorf einen weiteren Verfassungsentwurf, den nunmehr bloß der Ministerrat beriet und mit Zusätzen versah. Dies gab die Grundlage für den dritten Verfassungsentwurf Pillersdorfs ab, der am 18. April vom Ministerrat beraten und beschlossen wurde und zufolge kaiserlicher Sanktion vom 25. April 1848 an diesem Tag in Kraft trat.

b) Der quasi-konstitutionelle Ausschußlandtag Genau besehen stellte der "Ständische Zentralausschuß"4 weder ein Organ der Stände, noch einen Ausschuß der Landtage dar. Diese hatten ihn nur zum Teil beschickt. 5 Tirol wurde durch eine Deputation eigener Art vertreten, so auch Salzburg, da dieses über keinen Landtag verfügte; ein 4 Karl Bugelmann, Der ständische Zentralausschuß in Österreich im April 1848, in: Jahrb. f. Landeskunde (Anm. 3), 1913, S. 170 ff. 5 Bugelmann, (Anm. 4), S. 184 f.; ders., Die österreichischen Landtage im Jahre 1848, in: Archiv f. österr. Geschichte 111 1/1929, S. 329; ebda., 115 1/1940, S. 224.

Parlamentsbeitrag zur Verfassungsrechtsentwicklung vor 1918

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Drittel der niederösterreichischen Teilnehmer kam vom Wiener Bürgerausschuß. Schon allein auf diese Weise gab es im Gegensatz zur bisherigen Zusammensetzung der Landtage ein starkes bürgerliches Element im Zentralausschuß, dies aber durchgehend dadurch, daß jeder der übrigen Landtage neben Ständevertretern ausdrücklich solche des bisher auf ihnen kaum vertretenen Bürgerstandes und zum Teil auch nichtadeliger Großgrundbesitzer entsandte. Im Ergebnis standen den altständischen Vertretern ebensoviele "bürgerliche" Deputierte gegenüber. Dies verleiht dem Zentralausschuß einen ganz spezifischen, nämlich einen sogenannten neuständischen Charakter: zu den bisherigen Ständen traten neue hinzu, nämlich Bürger und nichtadelige Großgrundbesitzer. Damit wurde just jenes Muster erreicht wie es den meisten der schon im Vormärz vorhandenen Parlamenten deutscher Staaten zugrunde lag. Aber nicht nur dies: Nach den eigenen Vorstellungen des Zentralausschusses, niedergelegt in seinem Verfassungsentwurf, 6 sollte das künftige österreichische Parlament auch eine derartige Zusammensetzung aufweisen, nämlich auf "Besitz und Intelligenz" sowie "Aristokratie" beruhen, was der Zentralausschuß durchaus als "eine Vertretung des Volks" ansah. Sich selbst maß er diesen Charakter allerdings nicht bei, verstand sich vielmehr als eine "trotz aller Erweiterungen und Verbesserungen der Provinzialstände ungenügende Versammlung", die man "nicht als wahren Ausdruck des Volkes gelten lassen" könne: Dies gründet aber wohl weniger in seiner Zusammensetzung, sondern vielmehr im Mangel an Wahlen. Denn immerhin nannten sich seine Mitglieder ebenso "Abgeordnete" wie die des von ihnen vorgeschlagenen Parlaments und überdies benahmen sie sich wie ein solches, näherhin wie eine Konstituante. So beschäftigte sich der Zentralausschuß selbständig mit den Sachkomplexen Gemeindeordnung, Grundentlastung, Landesverfassung und Gesamtstaatverfassung und ließ hiefür von eigenen Referenten je einen Entwurf erstellen, den das Plenum diskutierte. Zum Sachkomplex Gesamtstaatsverfassung hat das niederösterreichische Ständemitglied Carl v. Kleyle ein sogenanntes "Referat" zu einer "Constitution (des Reiches)" verfaßt, das nach grundsätzlichen Überlegungen " Grundzüge einer solchen Constitution" enthält und von Kleyle im Zentralausschuß unwidersprochen als" Constitutions-Entwurf" bezeichnet wurde. 7 Dieser Verfassungsentwurf läßt sich in die Abschnitte Staatsgebiet, Parlamentsorganisation (erste und zweite Kammer), Grundzüge des Wahlrechts, Kompetenzverteilung, Ministerverantwortlichkeit und Stellung der Abgeordneten gliedern. Im engsten Zusammenhang damit stand das "Referat 6 Hugelmann, (Anm. 4), S. 228 ff. (Text), S. 188 ff. (Darstellung Hugelmanns); die folgenden Zitate ebda., S. 230, S. 234, S. 236, S. 239 ff. 7 Hugelmann, (Anm. 4), S. 228 ff., 234: "Constitution" o. ä. vgl. auch "Protokolle des ständischen Central-Ausschusses. April 1848" (NÖ Landesbibliothek Signatur 18.059-D) Pag. 2.

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über die Reform der Provinzial-Stände", der Entwurf einer "ProvinzialVerfassung", 8 so daß an die Themen des Gesamtstaats-Verfassungsentwurfs als weitere anschließen: Zusammensetzung und Kompetenz der Landtage. Zwar weist die Sprache beider "Referate" überwiegend keine normative Diktion auf, doch schmälert dies den Charakter von Verfassungsentwürfen keineswegs. "Verfassungen werden nicht am Tage der Revolution sogleich in die Form eines Gesetzbuches hineingegossen ... " hielt 1849 "Der neue Machiavel" 9 fest. Mit Kleyle sahen die Zeitgenossen dessen "Referat" als "Konstitutionsentwurf" an und auch Pillersdorfs erste Entwürfe wiesen keine normative Diktion auf. Vor allem sind die Entwürfe des Zentralausschusses wesentlich detaillierter und vollständiger als sodann die Verfassung 1848! Kurzum: Wir können getrost von (echten) Verfassungsentwürfen des Zentralausschusses sprechen. Wie eine Konstituante benahm sich der Zentralausschuß auch in formeller Hinsicht, nämlich in seinem Verkehr mit der Regierung. Beispielsweise sollte der Gesamtstaats-Verfassungsentwurf "dem Minister als die Ansicht der Mehrheit der Abgeordneten (!) vorgelegt werden", 10 schließlich beriet man sich ja tatsächlich mit dem Ministerrat. Allerdings gingen zahlreiche Vorschläge nicht in die Verfassung 1848 ein, nämlich sämtliche Details über die Zusammensetzung und Wahl der zweiten Kammer sowie der Landtage. Die Verfassung ersetzte diese Teile aber nicht durch andere, sondern verwies auf künftige Regelungen: Hierin könnte man übrigens einen materiellen Einfluß des Zentralausschusses insoferne sehen, als seinen Regelungen nicht sogleich andere vorgezogen wurden. c) Würdigung

So ist festzuhalten, daß Österreichs erste Verfassung zwar überwiegend im Schoße der Ministerialbürokratie entstand, sich diese aber nie völlig frei fühlen konnte: Das Einvernehmen mit den Landtagen war ihr durch das Verfassungsversprechen vom 15. März 1848, wie erwähnt, vorgeschrieben worden, das dann indirekt mit deren Ausschuß, dem Zentralausschuß, zustandekam. Dazu gesellten sich übrigens auch noch personelle Beziehungen zwischen Ministerratsmitgliedern und Zentralausschußangehörigen. Der Zentralausschuß fungierte also insgesamt als eine Art provisorisches Gesamtstaatsparlament: Das ähnliche Zustandekommen und Handeln des 8

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Hugelmann, (Anm. 4), S. 247 ff. (Anonym). Der neue Machiavel. Ein Buch für Fürsten aus den Papieren eines

gefallenen Ministers. Manuscript aus Wien, Leipzig, 1849, 15. 10 Hugelmann, (Anm. 4), S. 230, ähnlich S. 247; sowie: Protokolle über die Berathungen des provo n. ö. ständischen Ausschusses, Wien 1848.

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"Vorparlaments" in Frankfurt / Main war weitestgehend bekannt. 11 So konnte man denn auch das Entstehen der Verfassung 1848 als quasikonstitutionell ansehen: Der Ministerrat hatte sich mit einem provisorischen Repräsentativorgan abgesprochen, das Resultat der Kaiser sanktioniert. Die so deutbaren und zum Teil gedeuteten Tatsachen gerieten jedoch alsbald in Vergessenheit, nach der Stadtillumination aus Anlaß des Erlasses der Verfassung trat alsbald das Oktroy in den Vordergrund und damit Ernüchterung ein. 2. Oktoberdiplom 1860 - Reichsverfassung 1861

Das Mitwirken eines Organs mit Ausschußlandtag-Charakter an der Verfassungsentwicklung wiederholt sich, wenngleich sehr abgeschwächt, 1860. Dies nicht von ungefähr: 12 Mit den Verfassungsgrundsätzen 1852 kehrte das Kaisertum Österreich zu modifizierten und modernisierten vormärzlichen Zuständen zurück, wobei man zum Teil auch bewußt auf konservative Reformvorschläge vor 1848 zurückgriff. So sollten beratende Landtage eingerichtet werden, was allein in Lombardo-Venetien 1855 geschah, und man erwartete sich ein "Centralorgan" für den Gesamtstaat in der Form eines Ausschußlandtages. Geschaffen wurde es freilich erst 1860, und zwar dadurch, daß neben den bisherigen Kronrat, den Reichsrat, ein sogenannter" Verstärkter Reichsrat" trat, 13 der sich aus den Mitgliedern des fortbestehenden Reichsrats sowie aus "außerordentlichen Reichsräten" zusammensetzte, die in folgende Kategorien zerfielen: Erzherzöge, höhere kirchliche Würdenträger, um den Staat verdiente Männer und Mitglieder der Landtage. Der Verstärkte Reichsrat bestand demnach einschließlich des Präsidenten und Vizepräsidenten aus 12 ordentlichen Reichsräten und als außerordentliche Reichsräte aus einem Kardinal, fünf "zivilen" Geheimen Räten, vier Generälen und 38 vom Kaiser ernannten Kronlandsvertretern. Diese waren, wozu es aber nicht kam, nach Einrichtung der Landtage durch deren Mitglieder zu ersetzen. Betrachtet man diese Kategorien unter dem 11 Zu diesen waren Abgeordnete meist liberaler Fraktionen der einzelnen deutschen Landesparlamente zusammengetreten; zu ihm reisten auch 15 Österreicher an, die zum Teil dem provisorischen niederösterreichischen Ständeausschuß angehörten: Protokolle (Anm. 10), S. 16. 12 Zur Entwicklung 1852 -1861: Brauneder (Anm. 1), S. 134 ff; ders., From Constitutional Monarchies to Parliamentary Governments in Central Europe, in: Parliaments, Estates and Representation 8/2, S. 183 f.; Bemhard v. Meyer, Erlebnisse des Bernhard Ritter von Meyer I, Wien-Pest 1875 1875, S. 353; (anonym = Jose! v. Perlhaler), Neun Briefe über Verfassungs-Reformen in Österreich, Leipzig 1860, S.44. 13 Gerhard Silvestri (Hrsg.), Verhandlungen des österreichischen verstärkten Reichsrates 1860 I, Wien 1972, S. 2 f.; Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich I, Wien-Leipzig 1902, S. 30 ff.

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Aspekt von Parlamentskammern, dann entsprechen die Ländervertreter den Landtags- Deputierten einer föderativen Kammer, die übrigen Kategorien den Mitgliedern einer Pairskammer, die alle freilich in einer Kammer vereinigt sind. Die 38 Ländervertreter dominierten die übrigen 22 Mitglieder mit 63%, die außerordentlichen Reichsräte sogar mit fast 80%. Der überwiegende Charakter des Verstärkten Reichsrates entsprach somit einem (provisorischen) Ausschußlandtag, wobei den föderativen Aspekt die ungarischen ordentlichen Reichsräte verstärkten. Dies zeigt sich insoferne, als alle Ungarn gleichsam "als nationale Partei konstituiert" waren und entsprechend agierten, während es ansonsten kaum eine Parteibildung gab, lediglich die Hocharistokratie verfügte über ein eigenes "Clublokal" in einem Hotel in der Kärntner Straße, einige bürgerliche Reichsräte trafen sich an wechselnden Orten. 14 Der Einfluß des Verstärkten Reichsrats auf die Verfassungsentwicklung blieb aus mehreren Gründen ganz gering. Grundsätzlich war er für Verfassungsberatungen nicht zuständig, besaß überhaupt kein Initiativrecht, fungierte lediglich als Beratungsorgan des Monarchen durch das Erstatten von Gutachten; tatsächlich hielt er sich auch in diesen Grenzen. Verfassungsfragen diskutierte er aber im Zusammenhang mit seiner Hauptaufgabe, der Beratung des Staatsvoranschlages, dennoch in oft sehr ausgedehnter Weise, mußte sich aber kompetenzmäßig in seinem darüber erstatteten Gutachten äußerst zurückhalten. Dieses hatte ein hiezu eingesetztes Komitee erstellt, das ausschließlich wegen der Schlußbemerkungen zur Verfassungsfrage dem Plenum einen Majoritäts- und einen Minoritätsantrag vorlegen mußte. 15 Ersterer stand mit seinen staatsrechtlichen Äußerungen auf dem Boden des historischen Staatsrechts zufolge der Anregung, überkommene Institutionen der Länder weiter zu entwickeln, war also bestenfalls neoständisch, jedenfalls aber föderalistisch-aristokratisch orientiert; das Minoritätsgutachten sprach sich verklausuliert für eine konstitutionell-zentralistische Grundlage aus. Das Plenum nahm nach einer auch Verfassungsfragen berührenden Diskussion den Majoritätsantrag an. Damit war der Stellung des Verstärkten Reichsrats gemäß in der Verfassungsfrage nichts entschieden, aber selbst Wünsche nur allgemein angedeutet. Die Regierung konnte sich daher darin bestätigt sehen, das mit den Verfassungsgrundsätzen 1852 grundgelegte neoabsolutistisch-neoständische System prinzipiell beibehalten zu können und nur adäquat ergänzen zu müssen. Dies geschah im Oktober 1860 mit dem Erlaß der ersten Statute für neoständische Landtage und vor allem durch das Oktoberdiplom mit seiner Verheißung des abermals modifizierten Reichsrats als Zentralorgan für die Gesamtmo-

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Kolmer, (Anm. 13), S. 31. Silvestri, (Anm. 13), II, S. 122, S. 295.

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narchie. 16 Wie der Verstärkte Reichsrat sollte dieses aus zweierlei Arten an Mitgliedern bestehen, nämlich solchen mit Pairs-Charakter sowie den" von den Landtagen zu entsendenden", die auf 100 aufgestockt wurden und auf die Länder "im Verhältnisse der Ausdehnung, Bevölkerung und Besteuerung" zu verteilen waren. Diese Art Reichsrat hätte überwiegend Ausschußlandtags-Charakter besessen, und zwar durch seine Zusammensetzung wie auch durch seine fast ausschließlich beratende Funktion. Aber zur Realisierung dieses Projektes kam es zumindest nicht in dieser Weise: Die Reichsverfassung 1861 etablierte den Reichsrat funktional als Parlament mit Beschlußrecht und in zwei Kammern gegliedert. Darauf aber nahm kein Vertretungskörper Einfluß, die Reichsverfassung 1861 ist im wesentlichen das Werk dreier Männer, nämlich des Staatsministers Anton v. Schmerling und seiner beiden Mitarbeiter, der Ministerialräte Joset v. Lasser und Johann v. Perthaler. 17 Einer parlamentarischen Revision wurde dieses Verfassungswerk dann 1867 unterzogen (unten IH. 3.).

m. Parlament und Verfassung 1. Das erste parlamentarische Verfassungsergebnis österreichischer Abgeordneter: Die Frankfurter Grundrechte

Einen Tag nach seinem Beschluß über die Verfassung 1848, am 19. April, ordnete der Ministerrat aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundes die Ausschreibung der Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung nach Frankfurt / Main in den bundeszugehörigen Gebieten Österreichs an. 18 Als neues Organ des Deutschen Bundes für eine Übergangszeit sollte die Nationalversammlung vor allem eine neue Verfassung ausarbeiten, die den bisherigen Staatenbund in einen Bundesstaat umzuwandeln hatte. Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung stellten Österreichs erste Parlamentswahlen dar: Gegen Ende April entschieden die Urwähler über die Wahlmänner, diese wählten Anfang Mai die Abgeordneten. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung im Gebäude der säkularisierten Paulskirche zu ihrer Sitzung zusammen. Am 27. Dezember 1848 beschloß sie das "Gesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes" 19 und 16 Landtage: RGBl. 227, 232, 238, 254/1860; Oktoberdiplom: RGBl. 226/1860; vgl. Mayer (Anm. 12), S. 3; WilheZm Brauneder, Die Entstehung des Parlamentarismus 1861/1867 und seine Weiterentwicklung, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Österreichs Parlamentarismus. Werden und System, Berlin 1986, S. 87 ff. 17 Fritz Fellner, Das "Februarpatent" von 1861, in: Mitt. d. Inst. f. österr. Geschichtsforschung 63/1955, S. 549 ff., insbes. S. 552 f. 18 KarZ Obermann, Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1848, Berlin / Ost 1987, S. 18 ff. 19 Dazu und zum Folgenden Brauneder, (Anm. 3), S. 235 ff.

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legte damit ihr erstes legislatives Ergebnis vor. Es war dies gleichzeitig das erste Verfassungsgesetz, das von (auch) österreichischen Abgeordneten in einem Parlament erarbeitet, gründlich diskutiert und beschlossen werden konnte. Derartiges geschah erst wieder 1867, da der Kremsierer Reichstag vor seiner Beschlußfassung über die Verfassung aufgelöst worden war.

Im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung, der auch für die Grundrechte maßgeblich war, gehörten den 30 Mitgliedern drei Österreicher an, nämlich Prof. Gustav Schreiner (Graz), Eugen Megerle von Mühlfeldt (Wien) und Viktor v. Andrian (Niederösterreich) sowie später an dessen Stelle Franz v. Sommaruga (Wien). Im Grundrechts- Unterausschuß mit seinen drei Mitgliedern saß ein Österreicher, nämlich der eben erwähnte und ab 1861 im österreichischen Parlament gleichfalls sehr rührige Mühlfeld. An den Frankfurter Grundrechtsarbeiten beteiligte er sich äußerst intensiv und beeinflußte sie daher auch mit. Die österreichische Regierung ließ das Grundrechtsgesetz allerdings nicht publizieren. Die Frankfurter Grundrechte zeitigten dennoch große Wirkung. Zum einen beeinflußten sie die Grundrechtsdiskussion im Kremsierer Reichstag, zum anderen kamen sie in den Wahlbezirken mancher österreichischer Abgeordneter zur Frankfurter Nationalversammlung sogar "massenweise (zur) Verteilung" und wurden auch im Buchhandel vertrieben, wogegen die österreichische Regierung einschritt. 2. Parlamentarische Verfassungsarbeiten: Der "Kremsierer Entwurf"

Mit der Verfassungsnovelle vom 16. Mai 1848 kam es zur "Erklärung des ersten Reichstages als einen constituierenden nur mit einer Kammer", der damit den Charakter auch einer konstituierenden Nationalversammlung erhalten sollte. 20 So war die Verfassungsentwicklung ganz deutlich im Rahmen der fortbestehenden Verfassung 1848 von der Regierung - dem Monarchen mit seinem Ministerrat - zum Parlament hin verschoben: Bei diesem lag nun die inhaltliche Ausgestaltung der künftigen Verfassung. Nach der noch vom Ministerrat beschlossenen ersten Reichstags-Geschäftsordnung behielt sich dieser allerdings mit der Initiative inhaltliche Vorgaben vor, da seitens der Krone dem Reichstagspräsidenten der "VerfassungsEntwurf" zu übergeben und sodann "der reifen Berathung des Reichstages zu unterziehen" war. Die vom Reichstag selbst beschlossenen Geschäftsordnungen sahen derartiges nicht mehr vor, vielmehr trugen sie die Erarbeitung des Verfassungsentwurfes einem eigenen Verfassungsausschuß auf. 21 Zur folgenden Entwicklung Brauneder (Anm. 3), S. 215 ff. Siegbert Morscher (Hrsg.), Die Geschäftsordnungen des konstituierenden Reichstages 1848/1849, Innsbruck 1984, S. 17 (§ 36), bzw. S. 29 (§ 34) sowie S. 41 (§ 34) und S. 55 (§ 36). 20 21

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Dieser Reichstag, das erste ästerreichische Parlament, das erst in Wien und dann in dem mährischen Städtchen Kremsier tagte, das ihm auch seinen Namen "Kremsierer Reichstag" gab, ist durch sein Hauptprodukt berühmt geworden, nämlich den "Kremsierer Verfassungsentwurf". Da die Verfassungsarbeiten schon in Wien begonnen hatten, ist die Bezeichnung nicht ganz korrekt. Für die Verfassungsarbeiten setzte das Plenum geschäftsordnungsgemäß einen eigenen Verfassungsausschuß ein, der aus je drei Mitgliedern der zehn cisleithanischen Gouvernementsbezirke, den mittleren Verwaltungssprengeln des Staates und somit nicht der zahlreicheren Länder, bestand. Ein Unterausschuß aus drei Mitgliedern (Dreierausschuß: Franz v. Hein, Franz v. Rieger, Ernst Violand) wurde mit der Erstellung eines Grundrechtskatalogs, der andere aus fünf Mitgliedern (Fünferausschuß: Cajetan Mayer, Ferdinand Gobbi, Franz Smolka, Josef Goldmark, Frantisek Palacky) mit den Arbeiten am übrigen Verfassungstext beauftragt - damit entsprach man übrigens genau dem Muster der Nationalversammlung zu Frankfurt / Main. Vor der Beschlußfassung im Verfassungsausschuß waren noch die neun Abteilungen des Reichstags in die Verfassungsarbeiten eingebunden; es waren dies besondere Ausschüsse des Plenums, jeweils mit Abgeordneten aller Gouvernementsbezirke besetzt, die alle, also kumulativ ohne Verteilung auf einzelne Abteilungen, bestimmte Aufgaben zu erledigen hatten. Die parlamentarischen Verfassungsarbeiten begannen Mitte August, und zwar damit, daß sich der Dreierausschuß und knapp darauf der Verfassungsausschuß mit den Grundrechten beschäftigten. Vor Weihnacht 1848 war der Grundrechtsentwurf für das Reichstagsplenum fertiggestellt, das ab Anfang Jänner 1849 die Grundrechte diskutierte. Mit den übrigen Verfassungsarbeiten begann der Fünferausschuß hingegen erst im November 1848, legte diese Mitte Jänner 1849 dem Verfassungsausschuß vor, der am 4. März 1849 seine Arbeiten abschloß - doch vor der Beschlußfassung im Plenum wurde der Reichstag am 7. März 1849 aufgelöst.

Der gesamte Kremsierer Entwurf stellt das Ergebnis einer sehr gründlichen und mannigfaltigen parlamentarischen Arbeit dar, ohne daß die Regierung den Inhalt mitbestimmt hätte - mit einer gravierenden Ausnahme, die wesentlich zur Auflösung des Reichstags und dem Oktroy der Verfassung 1849 beitrug: 22 Sie betraf die Grundrechte. Als nämlich der Ministerrat erstmals am Weihnachtsabend 1848 den Grundrechtsentwurf des Verfassungsausschusses debattierte, nahm er Anstoß an der hier gleich eingangs erfolgten ausschließlichen Festlegung der Volkssouveränität. Er beschloß daher am zweiten Weihnachtsfeiertag seine "Nichtteilnahme" an der Grundrechtsberatung im Reichstag sowie weiters, daß bei Nichtbeach22

Brauneder (Anm. 3), S. 216 ff.

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tung der ministeriellen Bedenken "die Auflösung des Reichstags oder der Rücktritt des Ministeriums unvermeidlich" wäre. Damit stand man in der klassischen konstitutionellen Konfrontation von Parlament und Regierung, die, um die beiden erwähnten Extreme zu vermeiden, zum Kompromiß einlud. Diesen bot der Ministerrat insoferne an, als er einen eigenen Grundrechtsentwurf erstellte und dem Parlament dadurch entgegenkam, daß er diesen als Abänderungsvorschlag des Abgeordneten Josef v. Helfert einzubringen vorschlug, also gar nicht als Regierungsvorlage. Zahlreiche Vermittlungsversuche zerschlugen sich jedoch am Widerstand des Parlaments. Das Plenum beriet den Verfassungsausschuß-Entwurf und erhob hievon etwa die Hälfte zum Beschluß, nachdem es sich, freilich nur vorläufig, für die Vertagung der Volkssouveränitäts-Bestimmung entschieden hatte. Die Regierung unter Ministerpräsident Fürst Felix Schwarzenberg war jetzt aber bereits entschlossen, nicht nur den Reichstag aufzulösen, sondern weiters, einen eigenen Verfassungsentwurf auszuarbeiten und diesen von Kaiser Franz Josef oktroyieren zu lassen. Damit aber war der konstitutionelle Weg der Konfliktlösung verlassen. Nicht Parlamentsauflösung mit Neuwahlen und abermalige Verfassungsverhandlungen peilte die Regierung an, sondern das verfassungswidrige Oktroy in parlamentsloser Zeit: Auf diese Weise trat die Verfassung 1849 in Kraft und das Verfassungswerk des Reichstags blieb Entwurf. Dies darf nicht über die große Ausstrahlungskraft des Kremsierer Entwurfs hinwegtäuschen. Schon die Verfassung 1849 wäre wohl ohne ihn kaum vorstellbar, vielfach stellt sie seine Modifikation dar. Deutlich läßt sich dies anhand der Grundrechtsbestimmungen verfolgen, die über mehrere Entwürfe auf die Reichstagsarbeiten zurückgehen. Vor allem lag mit dem Kremsierer Entwurf ein Verfassungstext vor, auf dessen Inhalt sich nicht nur mehrere weltanschauliche Gruppierungen hatten einigen können, sondern auch - was in der späteren Entwicklung viel wog - alle Nationalitäten Cisleithaniens. Die Reichstagsabgeordneten waren ja aus allen cisleithanischen Ländern Österreichs gekommen, keine Nationalität fehlte. Dabei stand man nicht nur auf dem Boden des Repräsentationsprinzips für die nunmehr oft sogenannten "repräsentierten Länder", sondern respektierte auch den Umstand, daß aus den ungarischen Ländern keine Abgeordneten erscheinen konnten, da die Rechtsbasis des Reichstags, nämlich die Verfassung 1848 mit der darauf aufbauenden Reichstagswahlordnung, nicht in diesem Teil der Monarchie galt. Die gravierendste Folge dieses Repräsentationsdenkens bestand darin, daß zwar ein Verfassungstext für den Gesamtstaat Österreich einschließlich der ungarischen Länder erarbeitet wurde, der aber nur in den" repräsentierten Ländern" in Kraft treten sollte, da man in einem Inkraftsetzen auch in den übrigen Ländern ein Oktroy gesehen hätte, das dem eigenen parlamentarischen Empfinden nicht entsprach. 23

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Die Abgeordneten hatten sich über ein ganzes Bündel an Sachfragen einigen können: grundsätzlich über die Regierungsform der konstitutionellen Monarchie mit strikter Gewaltentrennung, über eine Föderalisierung der Gesetzgebung bei doch zentral orientierter Verwaltung und Gerichtsbarkeit, über Grundrechte und vor allem über Lösungsansätze des Nationalitätenpluralismus durch die Zerlegung von multinationalen Ländern in länderähnliche Kreise, nationale Schiedsgerichte in solchen Ländern und ein Nationalitäten-Grundrecht. 3. Das erste parlamentarische Verfassungsergebnis für Österreich: Die Verfassung 1867

a) Das verfassungsgebende Parlament Der Verfassungsgeber der Verfassung 1867 unterschied sich in seiner Zusammensetzung und auch in seiner ihm ursprünglich zugedachten Funktion sehr wesentlich von den verfassungsgebenden Parlamenten der Jahre 1848/49. Diese, der österreichische Reichstag und die Frankfurter Nationalversammlung, entsprachen mit ihrer einzigen gewählten Kammer dem Typus der konstituierenden Nationalversammlung und hatten ausdrücklich die Kompetenz zur Verfassungsgebung (0.1., eben 2.). Nun, 1867, war dies ganz anders. 24 So konnte und kann es bereits fraglich erscheinen, ob der die Verfassung 1867 beschließende Reichsrat überhaupt als Parlament anzusehen sei. In seiner Zusammensetzung durch das Grundgesetz / Reichsvertretung der Reichsverfassung 1861 entsprach es einem solchen insoferne nicht, als keines seiner beiden Häuser aus Wahlen hervorging: Das von seiner Bezeichnung her diesen Anschein erweckende "Abgeordnetenhaus" wurde von den Landtagen aus ihrer Mitte beschickt, daher treffend als aus "Delegationen der Landtage bestehend" angesehen und als "Deputiertenversammlung der Landtage", als "Ausschußlandtag" charakterisiert, das "Herrenhaus" hatte den üblichen Charakter einer Pairskammer. Somit kombinierte das Zweikammersystem des Reichsrats ganz entgegen den üblichen Mustern nicht eine gewählte zweite mit einer ersten Kammer, sondern zwei erste Kammern. Diese antikonstitutionelle 23 Wilhelm Brauneder, Repräsentation und Gesamtstaatsidee in Österreich 1848/ 1849, in: Parliaments, Estates and Representation 1/2, 1981, S. 150 ff. 24 Zum Folgenden: Kolmer (Anm. 13), S. 48 ff.; zu Zweifeln an der Verfassungskompetenz ebda., S. 277, 281, 285; Brauneder (Anm. 16), S. 99 ff., 114; ders., Bicameralism upon two first chambers: the Austrian House of Representatives as a nonelected representation of provinces, in: H. W. BIom / W. P. Blakmans / H. de Schepper (Hrsg.), Bicameralisme, Gravenhage 1992, S. 299 ff.; Karl Neisser / Otto Neisser (Hrsg.), Die Geschäftsordnungen des Abgeordnetenhauses des Reichsrats I, WienLeipzig 1900, S. 23 ff.

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Konstruktion rührt letztlich aus dem Wesen der neoabsolutistisch-neoständischen Reichsverfassung 1861 her. Parlamentscharakter kam dem Reichsrat aber durch seine beschlußfassenden Kompetenzen zu. Durch das Zweikammersystem jedoch, mehr aber natürlich noch wegen des Fehlens einer gewählten Kammer, entsprach der Reichsrat in seiner Beschickung gar nicht dem Typus einer verfassungsgebenden Nationalversammlung. Dies verstärkt der Umstand, daß er keine ausdrückliche Kompetenz zur Verfassungsgebung besaß. Dies folgt aus der Reichsverfassung 1861, zumal der Kaiser nach deren Erlaß von seinen Ministern "das feierliche Versprechen" forderte, "gegen die Abnötigung weiterer Zugeständnisse, sei es durch Drängen des Reichsrates oder der Landtage, sei es durch revolutionäre Versuche der Massen" aufzutreten, also ein "Drängen des Reichsrats" auf Verfassungsänderung einer Revolution gleichsetzte. Dieser Kompetenzmangel fand seinen Niederschlag darin, als die dem Reichsrat vom Ministerrat gegebene und daher sogenannte "Oktroyierte Geschäftsordnung" von 1861 zwar als Vorbild die Reichstags-Geschäftsordnung von 1848 hatte, aber im Gegensatz zu dieser keinen Verfassungsausschuß, sondern nur allgemeine Kommissionen und Ausschüsse vorsah. Auch das sogleich 1861 (RGBl. 78) vom Reichsrat verabschiedete Geschäftsordnungsgesetz und die es ausführende Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses wiesen diesen Mangel auf. Tatsächlich gab es im Zuge der Verfassungsdebatten von 1867 kurze Momente, wo die Kompetenz des Reichsrats zur Verfassungsgebung in Zweifel gezogen wurde. Vor diesem Hintergrund fällt es daher besonders auf, wie sehr der Reichsrat 1867 die Initiative zur umfassenden Verfassungsgebung ganz selbstverständlich in Anspruch nahm, und zwar dadurch, daß er über die Regierungsvorlagen (unten 2.) hinaus eigene Initiativen (unten 3.) ergriff, ausdrücklich einen" Verfassungsausschuß" einsetzte und sich damit, ohne von seiner Geschäftsordnung dazu ermuntert zu sein, so benahm wie die Parlamente von 1848. Dazu trugen nicht unerheblich jene Parlamentarier bei, die diesen, dem ästerreichischen Reichstag oder der Frankfurter Nationalversammlung, angehört hatten, wie etwa jenem der Abgeordnete Rudolf Brestel oder dieser der Abgeordnete Eugen Megerle v. Mühlfeld. In der Entstehung der Verfassung 1867 lassen sich deutlich zwei Wege unterscheiden, die ganz typisch für die eingangs (oben I) erwähnte konstitutionelle Verfassungssituation sind: Ein Teil der Verfassung geht auf Regierungsvorlagen, der überwiegende Teil auf parlamentarische Initiativen zurück. Hiebei handelt es sich aber nicht bloß um zwei austauschbare Möglichkeiten im Prozeß der Verfassungsgebung, sondern gleichzeitig um zwei inhaltlich abweichende Vorstellungen über die künftige Verfassungsgestaltung.

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b) Die Regierungsinitiativen Am 17. Juni 1867 25 legte der Ministerrat dem Reichsrat folgende Gesetzesentwürfe vor: über die Einführung der Ministerverantwortlichkeit und über die Novellierung des (Notverordnungs-) § 13 Grundgesetz / Reichsvertretung 1861 einerseits sowie andererseits über eine weitere Änderung dieses Grundgesetzes und über das sogenannte Delegationsgesetz. Die beiden letzeren Vorlagen bilden insoferne eine Einheit, als sie durch die Herstellung eines eigenen ungarischen Staates zufolge des " Ausgleichs " bedingt sind und beide die Legislative zum Gegenstand haben, jene für Cisleithanien, diese für die Gesamtmonarchie. Die beiden erstgenannten Entwürfe hingegen sind von dieser neuen Situation unberührt, sie betreffen das Regierungssystem als solches, und zwar in diesem die Stellung der Regierung besonders gegenüber dem Parlament. Mit der Neufassung des Notverordnungsparagraphen sollte das bisher vor allem vom Standpunkt des Parlaments nur unzulänglich erfaßte Notverordnungsrecht des Kaisers präzisiert werden, und zwar durch zusätzliche Hinweise auf ein Beschlußrecht des wiederversammelten Parlaments über die erlassenen Notverordnungen sowie auch die zu ihrem Erlaß notwendige "Verantwortung des Gesamtministeriums". Letzteres stand in Zusammenhang mit der zweiten Vorlage über die Ministerverantwortlichkeit. Insgesamt hätte sich somit die wesentliche Neuerung beider Vorlagen in der Einführung der Ministerverantwortlichkeit und zusätzlich in einer Begrenzung der zeitlichen Geltung von Notverordnungen erschöpft. Damit wäre das bisherige antikonstitutionelle, nämlich neoabsolutistisch-neuständische Verfassungsgefüge der Reichsverfassung 1861 in seinen Grundlagen unberührt geblieben, nur das neoabsolutistische Element durch die Verantwortlichkeit der Minister abgeschwächt worden, aber selbst dies nur durch eine rechtliche, nicht aber auch eine politische Ministerverantwortlichkeit mit Mißtrauensvotum und Amtsenthebung: Letztere gab es bis 1918 nicht. 26 Auch die beiden anderen, allerdings durch den Ausgleich bedingten Regierungsvorlagen hätten am bisherigen Regierungssystem nichts ändern können. Im wesentlichen betrafen sie nur die nunmehr geringere Zusammensetzung des Reichsrats zufolge seines kleineren örtlichen Wirkungsbereiches und die, freilich sehr mäßige, Beschneidung seiner Kompetenzen zugunsten der neugeschaffenen parlamentsähnlichen "Delegationen" für die Gesamtmonarchie. 25 Kolmer, (Anm. 13), 276 ff.; Braune der, (Anm. 16), S. 104 ff.; Die neue Gesetzgebung Oesterreichs I, Wien 1868, S. 1 ff. 26 Ernst Mischler / Josej Ulbrich (Hrsg.), Österreichisches Staatswörterbuch 111, 2. Aufl, Wien 1907, S. 615.

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Insgesamt zielten daher die Regierungsvorlagen lediglich auf eine Adaptierung und Modifizierung der Reichsverfassung 1861 ab, nicht aber auf eine tiefgehende Umgestaltung der Verfassung als Änderung der Regierungsform. Weiterhin hätte es an den entscheidenden konstitutionellen Elementen einer verfassungsrechtlichen Fundierung auch der übrigen Staatsgewalten, nämlich Gerichtsbarkeit und Verwaltung, an einem Grundrechtskatalog und einem zumindest in einer Kammer gewählten Parlament gefehlt. Die grundsätzliche Absicht der Regierung, und hier vor allem des Monarchen, am bisherigen Regierungssystem festzuhalten, erweisen außer diesen Regierungsvorlagen weitere Umstände. Seit 1865 war das Grundgesetz / Reichsvertretung 1861 sistiert und es wurde der Gesamtstaat - in den Ländern tagten freilich die Landtage - neoabsolut regiert. Als der Monarch mit dem Landtag Ungarns dessen neue Verfassung vereinbart hatte, sollte der dadurch hervorgerufene neue, nämlich dualistische Verfassungszustand im cisleithanischen Länderkomplex nicht vom ordentlichen, jedoch sistierten Reichsrat, sondern einer "außerordentlichen Reichsversammlung" mit einer bloß hierauf bezogenen Kompetenz behandelt und damit die Sistierung des Parlaments aufrechterhalten werden. 27 Die Verfassungswidrigkeit dieses Vorgehens drückte Staatsminister Ferdinand Friedrich v. Reust gegenüber dem Kaiser mit der Bemerkung aus, mit einer Einberufung des verfassungsmäßigen Reichsrats durch die Regierung "kehrt (diese) nur auf den verfassungsmäßigen Boden zurück, den sie 1865 momentan verlassen hat", nämlich durch die erwähnte Sistierung. 28 Diese Rückkehr erfolgte schließlich doch: 29 Den nach Jahresbeginn 1867 neu gewählten Landtagen wurde die Aufhebung der Sistierung bekanntgegeben und ihnen auf Grund des damit wieder wirksamen Grundgesetzes / Reichsvertretung 1861 die Beschickung des Reichsrats aufgetragen. Damit war aber nichts über einen Wechsel des Regierungssystems von 1861 angedeutet. Auf diesem beharrte der Kaiser weiterhin, was sich aus Denkschriften Reusts ableiten läßt, da sie ihm "konstitutionelle Einrichtungen in Österreich" als "eine Notwendigkeit" dringend anraten. 30 Diese antikonstitutionelle Tendenz des Monarchen unterstreicht die Thronrede zur Reichsrats-Eröffnung am 22. Mai 1867 ganz deutlich. 31 Die hier eingangs gebrauchten Worte "Herstellung constitutioneller Einrichtungen" sind nicht technisch im Sinne des Konstitutionalismus zu verstehen, denn in Kolmer, (Anm. 13), S. 244 ff. Fritz Fellner, Kaiser Franz Joseph und das Parlament, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 9/1956, S. 294. 29 Kolmer, (Anm. 13), S. 249 ff. 30 Fellner, (Anm. 28), S. 293 f. 31 Kolmer, (Anm. 13), S. 258 f. 27

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signifikanter Weise sprach der Kaiser die versammelten Abgeordneten und Herrenhausmitglieder bloß als Ländervertreter an, vor allem aber beschränkte sich die Ankündigung verfassungsmäßiger Neuerungen auf jene durch "die mit der Vertretung Ungarns getroffene Vereinbarung ... notwendig werdenden Abänderungen" der Reichsverfassung 1861 sowie auf die beiden anderen schon erwähnten Regierungsvorlagen und betrafen ansonsten nur die "Lösung der großen und dauernden finanziellen Aufgaben". c) Die parlamentarischen Initiativen

Dem antikonstitutionellen Regierungsprogramm der Thronrede setzte das Abgeordnetenhaus in seiner Antwort hierauf, der "Adresse" vom 3. Juni 1867, ganz deutlich merkbar das Ziel der Errichtung eines konstitutionellen Systems entgegen. 32 Schon allein dem Länder-Vertreter-Charakter widersprach es bewußt und mehrfach mit dem Gebrauch der Worte "Abgeordnetenhaus", "Abgeordnete", ja sogar "Volksvertretung". Der ausdrücklich angesprochenen "Majestät" wurde prinzipiell vorgestellt, daß "sich Österreich an einem Wendepunkt befinde", man mit Ungarns eben gewährter Verfassung gleichziehen wolle und daher nicht bloß die Regierungsvorlagen prüfen werde, sondern vielmehr die "Reform der gesamten Gesetzgebung und Verwaltung im Sinne der Freiheit und des Fortschritts (als) ein dringendes Bedürfnis" ansehe; die Sprache war überaus deutlich. Ähnlich, wenngleich gedämpfter im Ton, reagierte auch das Herrenhaus mit seiner "Adresse" gleichfalls vom 3. Juni 1867 33 auf die Thronrede. Es "gestattet" sich, ausdrücklich gegenüber der "Majestät" und daher eingestandenermaßen "mit ehrfurchtsvollem Freimute", zu betonen, daß eine "Wiedererstarkung" des Staates nur durch ein Anschließen "an die schöpferischen und zugleich erhaltenden Ideen der Gegenwart" auch in den "Institutionen und Organen des Staatslebens" erfolgen könne. Weiteren internationalen Standard sprach das Herrenhaus damit an, daß "insbesonders" die "benachbarten Großstaaten" ihre Stellung "durch straffere einheitliche Staatsformen" stärkten, während Österreich nunmehr "eine staatsrechtliche Zweiteilung" aufweise, was gemeinsam mit "dem Ausscheiden aus dem deutschen Bundesvereine" , dem 1866 beendeten Deutschen Bund, das Herrenhaus mit "schwersten Besorgnissen" erfülle. Dies alles konnte nur eines bedeuten: Hinwendung zu einem modernen und auch internationalen Vergleichen standhaltenden Verfassungssystem. So kündigte das Parlament insgesamt an, einen anderen Weg als den der Regierungs32 Kolmer, (Anm. 13), S. 260 ff.; der Gegensatz ist wohl deutlicher zu interpretieren als bei Fellner (Anm. 28), S. 304, da sich zwei Regierungssysteme gegenüberstanden, so wohl auch Mischler / Ulbrich (Anm. 26) IV, Wien 1909, S. 73l. 33 Kolmer, (Anm. 13), S. 264 ff.

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vorlagen beschreiten zu wollen, wobei das Abgeordnetenhaus als selbststilisierte "Volksvertretung" den Ton anzugeben beabsichtigte - und so war es denn auch. Aus Anlaß der Regierungsvorlagen setzte das Abgeordnetenhaus einen dreißigköpfigen Verfassungsausschuß unter Vorsitz von Adolf v. Pratobevera ein. 34 Damit benahm es sich gemäß seiner Charakteristik als "Volksvertretung" und entsprach überdies der Vorgangsweise der Parlamente von 1848, dem österreichischen Reichstag und der Frankfurter Nationalversammlung. Einige Veteranen des Kremsierer Reichstags, der Vizepräsident des Abgeordnetenhauses, Florian Ziemialkowski, sowie die Abgeordneten Rudolf Brestel, Camillo Kuranda und Moritz v. Kaiserfeld, gehörten dem neuen Verfassungsausschuß an. Innerhalb dieses Verfassungsausschusses bildete sich ein siebenköpfiges "Subcomite", dem die Abgeordneten Kaiserfeld, Ziemialkowski, Sturm, Sebastian v. Froschauer, Brestel, Franz Klier und Kuranda sowie die später hinzugewählten Josef v. Waser und Rafael v. Kremer-Auenrode als die eigentlichen Redaktoren der Dezemberverfassung angehörten. Ganz im Gegensatz zu den dem bisherigen System verbundenen Regierungsvorlagen schlug der Verfassungs ausschuß auf Antrag Herbsts eine Totalrevision der Reichsverfassung 1861 dadurch vor, daß zum novellierten Grundgesetz / Reichsvertretung 1861 weitere Staatsgrundgesetze treten sollten, nämlich solche "über die richterliche Gewalt" und "über die Regierungs- und Vollzugsgewalt" als verfassungsrechtliche Grundlagen auch für die übrigen Staatsfunktionen im Sinne der Gewaltenteilung, ferner über die "allgemeinen Rechte der Staatsbürger" mit einem Grundrechtskatalog und "über die Einsetzung eines Reichsgerichtes" als Verfassungsgericht. Insgesamt wäre auf diese Weise nach der Absicht des Verfassungsausschusses die konstitutionelle Verfassung 1849 inhaltlich wieder herzustellen, "so weit es unter den seither geänderten Verhältnissen tunlich ist" . Alle diese Staatsgrundgesetze gehen ausschließlich auf Arbeiten des Parlaments zurück, und zwar ganz vorrangig des Subcomites des Verfassungsausschusses des Abgeordnetenhauses, an den der entsprechende Ausschuß des Herrenhauses, nämlich die "juridisch-politische Commission", sowie beide Häuser nur unwesentliche Änderungen vornahmen. Für die Ausarbeitung der Entwürfe hatte der Verfassungsausschuß je einen Referenten, der sodann als "Berichterstatter" fungierte, eingesetzt, ebenso der Herrenhaus-Ausschuß für seine Stellungnahmen. 35 So geht der ganz überWie Anm. 25. Zum StGG / Grundrechte sowie zum StGG / Reichsgericht Brauneder, (Anm. 3), S. 277 f.; ferner zum Teil unten, ansonsten: Gesetzgebung (Anm. 25). 34

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wiegende Teil der Verfassung 1867 allein auf parlamentarische Arbeiten zurück, nämlich diese vier der insgesamt sechs Gesetze: fünf Staatsgrundgesetze und Delegationsgesetz, die alle durch ein Kundmachungsgesetz als Einheit verstanden wurden. 36 Doch auch auf die Regierungsvorlagen nahm das Parlament großen Einfluß, und zwar vorab wieder durch den Verfassungsausschuß des Abgeordnetenhauses. Die Regierungsvorlage zur Abänderung des (Notverordnungs-)§ 13 des Grundgesetz / Reichsvertretung 1861 ergänzte der Verfassungsausschuß erheblich, und zwar schon äußerlich sichtbar um drei weitere Absätze. Der von ihm vorgeschlagene Text wurde am 16. Juli 1867 Gesetz (RGBl. 98) und damit das Grundgesetz / Reichsvertretung 1861 in einem kleinen ersten Schritt novelliert. 37 Die Ergänzungen durch den Verfassungsausschuß präzisierten die bisherigen "Maßregeln" ausdrücklich als "kaiserliche Verordnungen" mit "provisorischer Gesetzeskraft" unter Gegenzeichnung "von sämtlichen Ministern" mit der schon erwähnten zeitlichen Beschränkung bis zum nächsten Zusammentritt des Parlaments. Diese Textierung beließ die anschließende weitergehendere Novellierung dieses Grundgesetzes als nunmehrigen § 14 unverändert. Gegenüber der Reichsverfassung 1861 hatte das Notverordnungsrecht eine präzis-konstitutionelle Regelung erhalten. Die Regierungsvorlage zum Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit ergänzte der Verfassungsausschuß gleichfalls sehr erheblich, und zwar optisch um 100% von 15 auf 31 Paragraphen, auch beließ er nur zwei der ersteren unverändert. Der Text des Verfassungsausschusses wurde im wesentlichen am 25. Juli 1867 Gesetz (RGBl. 101).38 Eine bedeutsame Änderung bestand einmal darin, daß an die Spitze des Textes die Bestimmung über die zwingende Gegenzeichnung eines jeden kaiserlichen "Regierungsaktes" durch einen der "verantwortlichen Minister" gestellt wurde, wodurch diese erst "als die Vertreter der obersten Regierungsgewalt rechtlich erscheinen", was dem Verfassungsausschuß als essentiell für das "Wesen der constitutionellen Monarchie" erschien. 39 In dieser seiner neuen Bestimmung lag eine Beschneidung der Stellung des Kaisers, die Regierungsvorlage hatte bezeichnenderweise keine derartige Bestimmung enthalten! Eine weitere Ergänzung erfolgte dadurch, daß der Verfassungsausschuß für die 36 Vgl. unten vor und bei Anm. 42 und 43; Gesetzgebung (Anm. 25) spricht irrigerweise nur von "Wirksamkeit der vorstehenden fünf Verfassungsgesetze" anstatt deren sechs: S. 693. 37 Gesetzgebl.\Ilg (Anm. 25), S. 33 ff.; Kolmer (Anm. 13), S. 278 f.; Brauneder (Anm.

16), S. 107 f.

38 Gesetzgebung (Anm. 25), S. 57 ff.; Kolmer (Anm. 13), S. 279 f: Die wesentliche Änderung gegenüber der Regierungsvorlage bleibt unerwähnt. 39 Gesetzgebung (Anm. 25), S. 63.

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Entscheidung über eine Ministeranklage ein eigenes Organ, den "Staatsgerichtshof", vorsah und darüber detaillierte Bestimmungen aufnahm. Die Regierungsvorlage hingegen hatte einen "von Fall zu Fall" gebildeten "Gerichtshof" geplant, und zwar als Ausschuß des Herrenhauses bei einer Klagslegitimation bloß des Abgeordnetenhauses. Der Verfassungsausschuß lenkte dagegen bewußt in gewalten teilend- rechtsstaatliehe Bahnen. Ähnlich verhielt sich das Parlament auch gegenüber der Regierungsvorlage über das sogenannte Delegationsgesetz. 40 Diese Regierungsvorlage bloß "über die Delegationen" und damit tatsächlich allein für ein Organisationsstatut erweiterte der Verfassungsausschuß zum Entwurf "über die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und deren Behandlung", der nun auch Kompetenzbestimmungen enthielt und demgemäß "Ergänzung zum StGG / Reichsvertretung" genannt wurde, was insoferne nicht ganz stimmt, als mit Bestimmungen über den gemeinsamen Ministerrat auch das StGG / Regierungs- und Vollzugs gewalt eine Ergänzung erhielt. Qualitativ ergänzte der Verfassungsausschuß von 29 auf insgesamt 36 Paragraphen, woran dann das Abgeordnetenhaus noch einen weiteren Paragraphen fügte und auch einige Änderungen vornahm, während sich das Herrenhaus auf eine einzige Modifikation beschränkte. Gemeinsam mit den Staatsgrundgesetzen wurde dieser Text am 21. Dezember 1867 Gesetz (RGBl. 146). Schließlich die Regierungsvorlage zur N ovellierung des Grundgesetz / Reichsvertretung 1861: 41 Sie sah ausschließlich Modifikationen vor, die sich alle aus der Errichtung Ungarns als Staat ergaben wie überwiegend die textlichen Änderungen bezüglich des neuen cisleithanischen Staatsgebietes auf "die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" sowie den Wegfall des Unterschieds zwischen dem "engeren Reichsrat" für Cisleithanien und dem "Reichsrat" für den bisherigen Gesamtstaat. Der Verfassungsausschuß nahm diese notwendigen Änderungen in seinen Entwurf auf, ging aber darüber hinaus, und zwar neben etwa der Festlegung des Präsenzquorums überwiegend im Sinne einer Stärkung der Stellung des Parlaments durch eine Präzisierung des Einberufungstermins, eine Ausdehnung des Kompetenzkatalogs wohl auch zur Absicherung gegenüber Prärogativen der Krone, die Wahl des Präsidiums des Abgeordnetenhauses an Stelle dessen bisherigen Ernennung durch den Kaiser, die Notwendigkeit jährli40 Gesetzgebung (Anm. 25), S. 501 ff., 691.; Kolmer (Anm. 13), S. 268 ff.; Brauneder (Anm. 16), S. 110 ff. 41 Gesetzgebung (Anm. 25), S. 105 ff.; Kolmer (Anm. 13), S. 282 ff.; Brauneder (Anm. 16), S. 104 ff.; zu den Änderungen vgl. auch Edmund Bernatzik (Hrsg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl., Wien 1911, S. 390 f. In Anmerkungen und Exkursen ("preußische Klausel" ebda., 410 FN 63a). Zum Wesen des preußischen Verfassungskonfliktes in präziser Kürze: Christian Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 7. Aufl., Heidelberg 1989, S. 131 f.

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cher Steuerbewilligung anstelle der sogenannten "Preußischen Klausel", nämlich der Fortdauer derselben bis zu ihrer Abänderung wie nach der Verfassung Preußens, eine Vorkehrung für den Fall des Fehlens übereinstimmender Beschlüsse der beiden Häuser bei Finanzvorlagen wohl zur Vermeidung eines "Verfassungskonfliktes" wie gerade aus diesem Anlaß in Preußen von 1862 bis 1867, vor allem aber durch die Einführung von Kontrollrechten wie besonders das Zitations-, Interpellations- und Enquetenrecht. Auch wurde das Immunitätsgesetz 1861 (RGBl. 98) in den Text aufgenommen, das dadurch hinfort nur mehr Bedeutung für die Landtagsmitglieder besaß. Die Wahl des Abgeordnetenhauses wurde begreiflicherweise mehrfach zwar diskutiert, aber resignierend in Hinblick auf die Unmöglichkeit ihrer Durchsetzung nicht in den Entwurf aufgenommen. Änderungswünsche des Herrenhauses blieben gering bzw. ohne Einfluß, ganz überwiegend stammte jene Textfassung, die am 21. Dezember 1867 Gesetz wurde (RGBl. 141), vom Verfassungsausschuß. Das schon erwähnte spezielle Kundmachungsgesetz gleichfalls vom 21. Dezember 1867 (RGBl. 147) faßte die fünf Staatsgrundgesetze und das Delegationsgesetz insoferne zusammen, als sie zugleich in Kraft treten sollten und dies sofort mit ihrer Kundmachung im Reichsgesetzblatt, die am 22. Dezember 1867 erfolgte. Diesem Spezialgesetz lag also ein doppelter Zweck zugrunde: Sofortiges und gleichzeitiges Inkrafttreten. Für dieses wurden mehrere Gründe angeführt: Vermeidung wechselseitiger Derogation bei zeitlich aufeinanderfolgendem Inkrafttreten und vor allem, "die Regierung zu hindern, etwa bloß die Gesetze über den Ausgleich mit Ungarn ohne die übrigen der Sanktion zu unterbreiten", 42 oder, allgemeiner formuliert, das Junktim zwischen Ausgleich (Delegationsgesetz) und (sonstigen) cisleithanischen Verfassungsgesetzen, den Staatsgrundgesetzen. Der letztere Gedanke geht auf eine Äußerung Karl Rechbauers im Abgeordnetenhaus zurück, den aber durch eine eigene Regierungsvorlage auch der . Ministerrat aufnahm, die ohne wesentliche Änderung im Parlament beschlossen wurde: Das Kundmachungsgesetz wurzelt also sowohl im Parlament wie im Ministerrat. d) Würdigung

Nicht nur die neuen Staatsgrundgesetze von 1867 gehen auf Arbeiten, sondern auch ein Teil der Regierungsvorlagen auf Anregungen des Parlaments zurück wie die zum Notverordnungsrecht, zur Ministerverantwortlichkeit und zum gemeinsamen Inkrafttreten der Staatsgrundgesetze und 42 Bernatzik, (Anm. 41), S. 452 FN 1; das Folgende bei Kolmer (Anm. 13), S. 313, bzw. Gesetzgebung (Anm. 25), S. 695 ff.

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des Delegationsgesetzes. Vor allem wurden sie alle durch die parlamentarische Behandlung verändert, besonders durch den Verfassungsausschuß des Abgeordnetenhauses, zum Teil sogar wesentlich und zwar im konstitutionellen, dem Parlament günstigen Sinn. Sowohl die parlamentarischen Initiativen zu den neuen Staatsgrundgesetzen wie auch die Regierungsvorlagen erweisen somit, daß die Verfassung 1867 so gut wie ausschließlich eine Arbeit des Parlaments darstellt. Dieses freilich blieb in seiner Struktur unverändert, an ihr rührte es selbst nicht, und wahrte damit den neoständischen Charakter besonders durch das Fehlen einer gewählten Kammer. Dieser Umstand war dem Parlament natürlich bewußt, doch sei seine jetzige Ausgestaltung "das unter den gegenwärtigen Verhältnissen einz i gEr r e ich bar e " und so müsse man "auf das Vollkommene verzichten, um nicht das minder Vollkommene zu verlieren": "Der Zukunft müssen wir also vieles überlassen ... " . 43 IV. Parlament und Verfassungsfortbildung War bisher die Rede davon gewesen, welcher Anteil Parlamenten oder parlamentsähnlichen Körperschaften am Zustandekommen einer Verfassungsurkunde zukam, so soll nun überblicksmäßig und beispielhaft die Rolle des Parlaments bei der Fortentwicklung einer einmal bestehenden Verfassung beleuchtet werden. In einer solchen Situation sah sich im wesentlichen erstmals der Reichsrat nach der Reichsverfassung 1861 und besonders ab der Verfassung 1867. Die Durchführung der Verfassung 1848 war überwiegend nicht durch das Parlament erfolgt, da der Reichstag erst im Juli 1848 zusammentrat und sich dann überwiegend mit der Erstellung einer neuen, nicht aber mit der Durchführung der politisch abgelehnten Verfassung 1848 befaßte. 44 1. 1861-1867

Gleich nach dem Erlaß der Reichsverfassung 1861 zeigte sich hinsichtlich der weiteren Verfassungsentwicklung deutlich die dominante und auch negative Haltung. der Regierung gegenüber dem Parlament in einem verfassungsrechtlich erheblichen Gesetzgebungsakt. Am 8. April 1861 (RGBl. 41)45 kam es zur gesetzlichen Regelung der "Angelegenheiten" der evangelischen Kirchen ausdrücklich in Durchführung der Verfassung, nämlich Gesetzgebung (Anm. 25), S. 125, 142. (Sperrung im Original). Zur Durchführung von 1848 vergleiche beispielsweise Brauneder, (Anm. 3), S. 213 f. 45 Kolmer, (Anm. 13), S. 58, 70, 122. 43 44

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unter anderem der im Oktoberdiplom statuierten "Gleichberechtigung" der Untertanen, aber nicht durch ein vom Parlament mitgestaltetes Gesetz, sondern ein "Kaiserliches Patent". Obwohl der Reichsrat bereits drei Wochen danach, am 29. April 1861, erstmals zusammentrat und das Abgeordnetenhaus am 2. Mai 1861 seine Tätigkeit aufnahm, hatte die Regierung nicht mehr zugewartet. Das Parlament brauchte und sollte also an dieser nicht unerheblichen Ergänzung der Verfassungsordnung keinen Anteil haben. Diese Vorgangsweise kritisierten Landtage und Reichsrat als antik onstitutionell, worauf der Ministerrat sein Vorgehen aus der Rolle des Kaisers als obersten Schutzherrn der Protestanten rechtfertigte. Der Erlaß des "Protestantenpatents" samt diesen nachfolgenden Stellungnahmen zeigt sehr deutlich das Aufeinanderprallen zweier grundverschiedener Verfassungsansichten: Das noch neoabsolutistisch-patrimoniale Denken der Regierung, des Monarchen und des von ihm gegen den Konstitutionalismus in Pflicht genommenen Ministerrats,46 einerseits und das konstitutionelle Drängen von Landtagen und Reichsrat andererseits. Beide Positionen bestimmten natur- und strukturgemäß die weitere Verfassungsentwicklung innerhalb zweier Extreme. Das eine Extrem ist dadurch bestimmt, daß die Regierung fortfuhr, wie schon das Protestantenpatent so auch andere Gesetze im materiellen Sinn von auch verfassungsrechtlicher Bedeutung ohne Mitwirkung des Reichsrats oder der Landtage zu erlassen. Die Rechtsgrundlage hiefür gab das Notverordnungsrecht ab, jedoch auch die Existenz von überdies extensiv interpretierten Prärogativen der Krone. 47 Beispiele für die (materielle) Gesetzgebungstätigkeit allein der Krone aufgrund ihrer Prärogativen stellen die Verhängung des Belagerungszustandes in Galizien 1864 (RGBl. 13) und die Errichtung von Familienfideikommissen dar, wozu es gemäß § 627 ABGB der "Einwilligung der gesetzgebenden Gewalt" bedurfte, von der das Parlament seitens der Regierung also als ausgeschlossen angesehen wurde. Diese Fälle beriefen sich nicht auf das Notverordnungsrecht der Reichsverfassung 1861, sondern wurden ausdrücklich als Ausfluß der Prärogativen der Krone erklärt, nämlich dadurch, daß diese Materien außerhalb der Reichsrats-Kompetenzen lägen. Diese restriktive Haltung gegenüber dem Gesetzgebungsrecht des Parlaments verstärkten jene Gesetzgebungsakte, die sich doch auf das Notverordnungsrecht beriefen wie etwa das Gesetz über die Prisengerichte 1864 (RGBl. 31) und vor allem die verfassungsrelevante kaiserliche Verordnung über die Kundmachung und die verbindende Kraft von Landesgesetzen 1863 (RGBl. 19). Am nachdrücklichsten manifestierte sich die Regierungs46 Siehe eben Anm. 45. 47 Kolmer, (Anm. 13), S. 177 f., 239; Brauneder (Anm. 1), S. 161. 5 Parlamentarismus

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auffassung von einem sozusagen transkonstitutionellen ius eminens des Monarchen in der Sistierung des Grundgesetz / Reichsvertretung 1861 gegen Ende November 1865 unter ausdrücklicher Berufung auf die "Regentenpflicht" des Kaisers. 48 Für die konstitutionell gesinnten Parlamentarier stellte sich diese Vorgangsweise als ein Handeln außerhalb der Verfassung dar, das einem Staatsstreich gleichkäme, wie es der Abgeordnete Moritz v. Kaiserfeld schon im August 1865 ahnungsvoll formuliert hatte. Doch gab es auch andere Meinungen: Die föderalistisch-autonomistisch eingestellten Landesparlamente von Galizien, Bukowina, Böhmen, Istrien, Görz und Dalmatien begrüßten die antiparlamentarische Sistierung von ihrem Standpunkt aus, die konstitutionell eingestellten Landtage von Österreich unter der Enns, Österreich ob der Enns, Steiermark, Salzburg, Kärnten und Schlesien protestierten schärfstens. Die Sistierung des gesamtstaatlichen Parlaments brachte nicht nur keine Unterbrechung der Verfassungsentwicklung, sondern sollte diese geradezu, und zwar gegenüber Ungarn, zu einem Ergebnis bringen, wenngleich ohne Parlament. Aber auch unabhängig von dieser speziellen Verfassungsfrage kam es 1866 zur Einrichtung eines neuen verfassungsrelevanten Organs, nämlich des "Obersten Rechnungshofes", durch eine kaiserliche Verordnung (RGBl. 140). Im anderen Extrem suchte der Reichsrat die Verfassungsentwicklung durch eigene Gesetzesvorlagen auf Grund seines Vorschlagsrechts voranzutreiben, wobei die Initiative stets beim Abgeordnetenhaus lag. 49 Für dieses stellte die Reichsverfassung 1861, wie 1862 zum Staatsschulden-Kontrollkommissions-Gesetz festgestellt, "eine in ihren Teilen noch nicht ausgebaute Verfassung dar". 50 Insgesamt zeigen seine Gesetzesvorlagen die Tendenz, die Reichsverfassung 1861 möglichst weit in Richtung einer konstitutionellen Verfassung auszudehnen. Sogleich die allererste Sitzung des Abgeordnetenhauses stand unter diesem Zeichen: Es ging um die wichtige Frage der Geschäftsordnung. 51 Eine solche hatte der Ministerrat dem Reichsrat vorgesetzt gehabt, die das Abgeordnetenhaus daher als "Oktroyierte Geschäftsordnung" begriff. Auf Antrag des Abgeordneten Eugen Megerle von Mühlfeld wurde sie nUr provisorisch akzeptiert und für die Erstellung eines eigenen Entwurfs einem hiezu eingesetzten Ausschuß überwiesen. Dieser hielt die oktroyierte Geschäftsordnung sogar für verfassungswidrig und 48 So RGBl. 88/1865; dazu Patent RGBl. 89/ 1865; Kolmer, (Anm. 13), S. 204 ff., 211, 239. 49 Im Herrenhaus meinte 1862 Kardinal Othmar Rauscher, dessen Stellung läge darin, "Einspruch zu erheben"; sein Präsident Fürst Alfred Auersperg verglich das Abgeordnetenhaus mit dem "Minutenzeiger, das Herrenhaus (dem) Stundenzeiger an dem Zeitrade der inneren Politik": Kolmer (Anm. 13), S. 61. 50 Siehe unten Anm. 61. 51 Kolmer, (Anm. 13), S. 70; Neisser / Neisser (Anm. 24), S. 3 ff., insbes. 9 ff. sowie 21 ff., und auch 97 ff.

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legte dem Abgeordnetenhaus seinen eigenen Entwurf über ein Geschäftsordnungsgesetz als Verfassungsgesetz sowie einen weiteren über eine sie ausführende, durch einfachen Beschluß des Abgeordnetenhauses in Kraft zu setzende Geschäftsordnung für dieses vor. Das Herrenhaus trat nach anfänglichen Bedenken dem Abgeordnetenhausentwurf bei, sodann dem Beschluß beider Häuser auch der Ministerrat. Noch 1861 ergingen das Geschäftsordnungsgesetz (RGBl. 76) und die sogenannten "autonomen" Geschäftsordnungen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses. Sie stärkten die Stellung des Parlaments weniger durch einen inhaltlichen Gegensatz zur oktroyierten Geschäftsordnung, denn die einzige größere inhaltliche Abweichung bestand bloß im Fortfall von Disziplinarvorschriften, als durch den eigenen Entscheid, zumal das Geschäftsordnungsgesetz ausdrücklich als Durchführung der Reichsverfassung 1861 (§ 21 GG / Reichsvertretung) verstanden wurde, die sich das Parlament hiermit also zu eigen machte. Diesen Weg verfolgte das ParlamenP2 mit dem die Geschäftsordnung ergänzenden Entwurf zu einem Gesetz "über die Behandlung umfangreicher Gesetze", das seine parlamentsstärkende Funktion damit erfüllte, als es bei solchen Materien durch die Permanenzerklärung von Ausschüssen nach Schließung der Session oder bei Vertagung deren Behandlung erleichtern sollte; der Entwurf wurde im Juli 1867 Gesetz (RGBl. 104). Den Wunsch nach einem konstitutionellen Ausbau der Verfassung zeigen im Juni 1861 die Initiativanträge auf Erlaß von Gesetzen über das Vereins- und Versammlungsrecht, zum Schutz der persönlichen Freiheit, des Hausrechts und des Briefgeheimnisses, über die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre sowie über Religions- und Kirchenverhältnisse. 53 In diesen Vorschlägen kommt die Aufnahme der konstitutionellen Tradition von 1848/49 insoferne in besonderer Weise zum Ausdruck, als die Initiative überwiegend von dem schon zur Geschäftsordnung erwähnten Abgeordneten Eugen Megerle von Mühlfeld ausging, der in der Frankfurter Nationalversammlung dem Grundrechtsausschuß angehörte, nach den hier gewonnenen Erfahrungen für Österreich einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet hatte 54 und jetzt dem Entwurf über die Religions- und Kirchenverhältnisse signifikant den Namen "Mühlfeldsches Religionsedikt" gab. Anders als 1849 sollten die dem Inhalt einer Verfassungsurkunde entsprechenden Bestimmungen nicht in einer solchen, sondern durch Einzelgesetze realisiert werden. Dies geschah freilich nur zum Teil, nämlich 1862 mit den beiden Gesetzen "zum Schutz der persönlichen Freiheit" und "zum Schutz des Hausrechts" (RGBl. 87, 88), die aber nicht als Verfassungs-, sondern als strafrechtliche Nebengesetze gestaltet waren. Dies tat ihrer verfassungsKolmer, (Anm. 13), S. 328. Brauneder, (Anm. 3), S. 270; Kolmer, (Anm. 13), S. 116, 120. 54 Eugen Mühlfeld / Alois Egger, Entwurf einer Verfassungs-Urkunde für den Kaiserstaat Österreich, Frankfurt / Main 1849. 52 53

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rechtlichen Bedeutung jedoch keinen Abbruch, denn mit der Verfassung 1867 konnten sie in den Grundrechtskatalog inkorporiert werden. Der sichtbar geringe Erfolg von Initiativanträgen des Abgeordnetenhauses lag darin begründet, daß sie eine doppelte Hürde überwinden mußten. Die erste bestand in der oft ablehnenden Haltung des Herrenhauses, die zweite im Ministerrat, der es in der Hand hatte, Gesetzesbeschlüsse des Parlaments dem Monarchen zur Sanktion vorzulegen. 55 Erst als Kaiser und Ministerrat im Jahr 1867 insbesondere wegen des Ausgleichs mit Ungarn auf das Parlament angewiesen waren, konnte es sein Ziel, durch eigene Initiativanträge eine konstitutionelle Verfassungssituation zu schaffen, verwirklichen. Zwischen den beiden Extremen, nämlich der alleinigen Gesetzgebungstätigkeit der Regierung einer- und einer solchen auf Grund parlamentarischer Initiative andererseits, beschritt das Abgeordnetenhaus vor 1867 auch einen weiteren Weg, der sozusagen die Mitte hielt, nämlich den, auf Regierungsvorlagen zu drängen. Auf diese Weise 56 kamen das Immunitätsgesetz 1861 (RGBl. 98), das Ministerpräsident Anton Schmerling als Geschenk der Regierung auf Wunsch der Abgeordneten ansah, sowie das Vereins- und das Versammlungsgesetz zustande, diese jedoch erst im Sommer 1867 (RGBl. 134, 135). Die erste Initiative hiezu hatte der Abgeordnete Eugen von Mühlfeld schon 1861 ergriffen gehabt, 1867 wurde der Druck des Abgeordnetenhauses größer und im Juli lagen die entsprechenden Regierungsvorlagen vor, die das Parlament mit leichten Abweichungen annahm, wobei besonders das Herrenhaus einen fortschrittlichen Inhalt hemmte, so daß insgesamt durch seine Haltung und die des Ministerrats Wünsche offenbleiben mußten. Viele Aufforderungen des Abgeordnetenhauses zur Einbringung von Regierungsvorlagen blieben freilich wirkungslos 57 wie 1864 nach einem grundrechts ähnlichen Gesetz zur Herstellung gleicher Besitzfähigkeit ohne Rücksicht auf religiöse Bekenntnisse und 1865 auf die Errichtung eines Staatsgerichtshofs sowie auf die Aufhebung oder doch die Umgestaltung des Staatsrates; zur Erfüllung dieser Wünsche kam es erst unter den veränderten Verhältnissen von 1867. Auch initiierte das Abgeordnetenhaus Regierungsvorlagen durch eigene Gesetzentwürfe. So folgte dem Entwurf auf Errichtung von Geschworenengerichten 1861/62 ein solcher des Justizministers, gegen den aber der Staatsrat und schließlich der Kaiser Bedenken erhoben, so daß er nicht dem Parlament vorgelegt werden konnte. 58 Im Oktober 1861 begann das AbVgl. Kolmer, (Anm. 13), ~. 77, 114, 118, 18I. Kolmer, (Anm. 13), S. 77, 297 f. 57 Kolmer, (Anm. 13), S. 154, 157, 182; vgl. zum Staatsrat auch Gesetzgebung (Anm. 25), S. 405. 58 Kolmer, (Anm. 13), S. 116, 156. 55

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geordnetenhaus den Entwurf zu einem Preßgesetz auszuarbeiten, worauf der Ministerrat seinen schon fertiggestellten Entwurf vorlegte, der nach langen und auch abändernden Verhandlungen 1863 (RGBl. 6) Gesetz wurde, aber den Wünschen des Parlaments nur zum Teil entgegenkam. 59 Erst später Erfolg war der frühesten derartigen Initiative beschieden: 60 Den ersten Schritt zum konstitutionellen Ausbau der Reichsverfassung 1861 überhaupt setzte das Abgeordnetenhaus schon gute zwei Wochen nach dem Zusammentritt des Parlaments am 15. Mai 1861 mit sogleich zwei Anträgen, die auf die Einführung der Ministerverantwortlichkeit abzielten. Anstelle eines Eingehens auf den Gesetzeswunsch kam es im Juli 1861 bloß zu einer Erklärung des Ministerrats, dann im Mai 1862 zu einer kaiserlichen Botschaft, die sogar ein entsprechendes "Verfassungsgesetz" ankündigte, das aber 1863 das Parlament von der Regierung einmahnen mußte und dessen Einbringung Anton von Schmerling 1864 sogar ausdrücklich ablehnte. Hier brachte erst das Jahr 1867 den erwünschten Erfolg. Zum Mittelweg gehören schließlich auch dem Parlament vorgelegte, von diesem modifizierte und sodann in dieser Form sanktionierte Regierungsvorlagen. Hiebei handelt es sich um den typisch konstitutionellen Gesetzgebungsvorgang, der aber jetzt, vor 1867, mangels eines konstitutionellen Regierungssystems noch nicht zum Standard zählte und jedenfalls der Regierung nicht als solcher galt wie dies besonders die Sistierung 1865 erwies. Auch auf diesem Weg wurde ein neues Verfassungsorgan geschaffen, nämlich 1862 die ständige Parlamentskommission zur Kontrolle der Staatsschuld (RGBl. 96), seit 1864 (RGBl. 19) "Staatsschulden-Kontrollkommission" genannt, die an die Stelle der Staatsschuldenkommission von 1859 trat, die bloß ein Regierungsorgan gewesen war. Das Gesetz von 1862 geht auf eine Regierungsvorlage zurück,61 die im Abgeordnetenhaus durch dessen Finanzausschuß abgeändert, so vom Herrenhaus akzeptiert und nach Billigung durch den Ministerrat vom Kaiser sanktioniert wurde. Bemerkenswert an diesem Gesetz ist der Umstand, daß nicht nur sein Inhalt den erwähnten Mittelweg als Übereinkommen zwischen Regierung und Parlament darlegt, sondern auch sein Inkrafttreten. Die kaiserliche Sanktion beruft sich nämlich nicht nur auf das Notverordnungsgesetz. Dies geht darauf zurück, daß das Abgeordnetenhaus nicht von allen Landtagen beschickt worden war, so daß der Ministerrat meinte, der Reichsrat sei nicht in der Lage, "sich vollständig zu constituieren" und könne das "Recht der Zustimmung" als Gesamtreichsrat (auch für Transleithanien) "noch nicht für sich in Anspruch nehmen". Der Rumpfreichsrat folgte dieser Kolmer, (Anm. 13), S. 117 ff. Kolmer, (Anm. 13), S. 78 ff., 155, 182. 61 Stenographische Protokolle des Abgeordnetenhauses (RRAHP) I. Session, 1861, S. 2067 ff. 59

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Ansicht: Das Gesetz trat also in den repräsentierten Ländern auf Grund des Parlamentsbeschlusses, in den übrigen auf Grund des Notverordnungsrechtes in Kraft! Auf Grund einer Vorlage des Ministerrats von 1861 kam auch das Gemeindegesetz 1862 zustande. 62 Da es im wesentlichen das Gemeindegesetz 1849 kopierte, fand es prinzipielle Zustimmung im Abgeordnetenhaus, das freilich der konservativen Modifikation der durch Landesgesetz einräumbaren Sonderstellung des Großgrundbesitzes als Gutsgebiet außerhalb der Gemeinde zustimmen mußte. In der Thronrede von 1864 zum Schluß der zweiten Session des Reichsrats wies der Kaiser sowohl auf die Bedeutung von Regierungsvorlagen wie auf die der Initiativanträge hin. 63 Beider Anteil an der Verfassungsfortbildung blieb freilich bescheiden, der Ministerrat blockte entsprechende parlamentarische Vorstöße so gut wie stets ab. Dies verstand sich sicherlich auch aus der Mahnung des Kaisers, die Reichsverfassung 1861 sei sein äußerstes Zugeständnis gewesen, und tatsächlich hatte er 1861 angesichts der Debatte im Abgeordnetenhaus über die Ministerverantwortlichkeit dem Ministerrat aufgetragen, dieser müssen einem eventuellen Antrag "mit Entschiedenheit entgegentreten". 64 Die parlamentarischen Bemühungen vor allem durch eigene Gesetzesentwürfe waren jedoch nicht gering und auch nicht ohne Bedeutung. Ein verfassungsgesetzliches Ergebnis stellten zwar bloß die beiden Grundrechtsgesetze von 1862 dar, doch war insgesamt der Boden für eine weitere Verfassungsentwicklung gründlich vorbereitet worden: Einen ersten Schritt hiezu tat dann 1867 65 der Ministerrat mit seinen schon lange vom Parlament gewünschten Vorlagen und den bedeutsamen zweiten Schritt das Abgeordnetenhaus selbst mit seinen eigenen Initiativen im Verfassungsausschuß, welche die ab 1861 angestrebten Ziele zum Erfolg führten. 2. 1867 -1918

a) Allgemeines

Die Entwicklung des Verfassungsrechts in den vierzig Jahren zwischen der Verfassung 1867 und dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie sowie des cisleithanischen Staates im Jahre 1918 blieb quantitativ selbst unter Einrechnung einfacher, jedoch verfassungsrelevanter Gesetze gering. Dies trifft auch qualitativ zu, und zwar besonders dann, wenn man 62 Sogenanntes "Reichsgemeindegesetz" als gesamt-staatliches Rahmengesetz: RGBl. 18/1862; Kolmer, (Anm. 13), S. 114. 63 Kolmer, (Anm. 13), S. 158. 64 Vgl. Anm. 63; Fellner (Anm. 28), S. 295. 65 Siehe oben Anm. 24.

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damit die Verfassungsentwicklung zwischen 1918 und 1938 vergleicht: Schon allein den großen B-VG-Novellen von 1925 und 1929 in den bloß zwanzig Jahren nach 1918 läßt sich in den vierzig Jahren zuvor nichts gleichwertig Einschneidendes zur Seite stellen. Dies hat seine Ursachen vor allem darin, daß die Verfassung 1867 den nach internationalem Standard fortschrittlichen Konstitutionalismus etabliert hatte. Dies führte dazu, daß einerseits, am Maßstab des Konstitutionalismus gemessen, kaum mehr Wünsche zu seiner konkreten Ausgestaltung offenblieben - mit der sehr gewichtigen Ausnahme der Parlamentswahl freilich -, andererseits aber auch so gut wie keine Forderungen ernsthafter Natur nach einem Ersatz dieses Regierungssystems durch ein anderes erhoben wurden. Die einzige große Forderung nach Verfassungsänderung hatte ihre Ursachen anderswo, nämlich im Nationalitätenpluralismus, der aber gerade eine grundlegende Reform verhinderte, so daß hier der Weg der kleinen Schritte wie etwa durch Behördenstruktur , Wahlkreiseinteilung und Sprachenverordnung verfolgt wurde. Die Verfassungsentwicklung, einschließlich wichtiger einfachgesetzlicher Ausführungen, betraf im wesentlichen die drei nachstehend skizzierten Komplexe Parlamentsreform, oberste Staatsorgane und Grundrechte. Der erste versteht sich aus der erwähnten Ausnahme, mit der die Verfassung 1867 nicht ganz dem Konstitutionalismus entsprach: Sie betrifft die Umgestaltung des Reichsrats und damit eine Änderung der Verfassung 1867. Die beiden anderen Komplexe führen diese näher aus.

b) Die Parlamentsreformen aa) Das Abgeordnetenhaus Entgegen der Struktur des Konstitutionalismus bestand der Reichsrat praktisch aus zwei ersten Kammern, aber keiner gewählten zweiten Kammer, ein Fehler, der dem verfassungsgebenden Parlament 1867 selbst aufgefallen war. 66 Die weitere Entwicklung 67 verfolgte daher primär das Ziel der Einrichtung einer gewählten Kammer, was nach weitaus überwiegender Ansicht durch die Einführung einer Volkswahl zum Abgeordnetenhaus erfolgen sollte. Damit verband sich die zweite Frage, ob hiedurch der Charakter des Abgeordnetenhauses als Interessenvertretung beibehalten oder dieses zur Volksvertretung umgewandelt werden solle. Mit der Einführung und sodann lange Zeit hindurch der prinzipiellen Beibehaltung eines Kurien- und Zensuswahlrechts fiel die Entscheidung zugunsten der Interessenvertretung, erst mit der Wahlrechtsreform von 1907 eine solche für eine 66

67

Brauneder, Bicamerialism (Anm. 24); vergleiche oben bei Anm. 43. Brauneder, (Anm. 16), S. 113 ff.; Mischler / Ulbrich (Anm. 32), S. 874 ff.

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Volksvertretung. Diese Entwicklung bestimmt das Notwahlgesetz 1868 (RGBl. 82) und seine Novellierung 1872 (RGBl. 24), die Einführung der Kurien- und Zensuswahl durch die Verfassungsreform 1873 (RGBl. 40) zusammen mit dem entsprechenden Wahlgesetz (RGBl. 41), die Herabsetzung des Zensus durch dessen Novellierung 1882 (RGBl. 142), die Einführung der allgemeinen Wählerklasse durch die Verfassungsreform 1896 (RGBl. 168) mit entsprechender Novellierung des Wahlgesetzes (RGBl. Nr. 169) sowie eine weitere Herabsetzung des Zensus mit dessen abermaliger Novellierung im selben Jahr (RGBl. Nr. 226) und schließlich die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Männerwahlrechts durch die Verfassungsreform 1907 (RGBl. 15) samt einem neuen Wahlgesetz (RGBl. 17). Die Notwahl, d. h. die Durchführung von Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Falle der Nichtbeschickung durch einen Landtag, war bereits im StGG / Reichsvertretung vorgesehen, mußte jedoch noch näher präzisiert werden. Das Notwahlgesetz 1868 (RGBl. 82) und seine Novellierung 1872 (RGBl. 24) gehen auf Regierungsvorlagen auf Initiative des Ministerrats zurück,68 die wesentlich durch die sogenannte Abstinenz bestimmter Abgeordnetengruppen verursacht wurden. Zwar fand sich für die Vorlagen stets eine Parlamentsmehrheit, aber 1870 für die Novellierung noch keine Zweidrittelmehrheit. Mit der Regelung der Notwahl war für die Parlamentsmehrheit stets aufs engste die Wahlreform überhaupt verflochten,69 die auf eine Vermehrung der Abgeordneten und deren Volkswahl abzielte. Aber auch der Ministerrat scheint sich alsbald mit dieser grundsätzlichen Frage beschäftigt zu haben, zumal Minister Karl Giskra "die Wahlreform gleichsam zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte" (Fritz Fellner). Der Ministerrat wußte aber sehr wohl, daß der Kaiser "seine Zustimmung zur Einführung einer solchen Frage nur dann geben könne, wenn die einzelnen Landtage ihr Votum darüber abgegeben haben werden": Der Kaiser stand somit - noch - auf der Seite der föderativen Reichstags-Minderheit. Für die Befürworter einer großen Lösung sollte angesichts der erwähnten Abstinenz das Abgeordnetenhaus und mit ihm das Parlament insgesamt vom jeweiligen Willen der Landtage, der eben bis zur Nichtbeschickung des Abgeordnetenhauses ging, unabhängig werden. Überwiegend drängte das Abgeordnetenhaus auf entsprechende Regierungsvorlagen, 1869 auf Grund zahlreicher Petitionen, doch lehnte jene der Ministerrat stets ab, da die hiefür notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustande kommen werde. Im Jahre 1870 brachte der Abgeordnete Karl Rechbauer eine eigene Wahlreformvorlage ein, die ein 68 Kolmer, (Anm. 13), S. 317, 330 ff.; ebda., II, S. 39 f., 223 f.; Bernatzik (Anm. 41), S. 742; u. a. insbes. zur Rolle des Kaisers Fellner (Anm. 28), S. 321 ff. 69 Zum Folgenden wie Anm. 68; ferner Kolmer, (Anm. 13), S. 401 f.

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direkt gewähltes "Volkshaus" und ein "Länderhaus" vorsah, welches das Abgeordnetenhaus und das Herrenhaus zusammenfassen sollte. Im gleichen Jahr hatte allerdings der Ministerrat einen eigenen Gesetzesentwurf ausgearbeitet und hiefür auch die Zustimmung der sogenannten Vertrauensmänner-Konferenz erhalten, brachte ihn aber dennoch nicht ein, da er wußte, daß hiezu der Kaiser seine Sanktion verweigern würde. Dieser hielt vor allem am Recht der Landtage zur Beschickung des Abgeordnetenhauses fest und eine entsprechende Änderung nur mit ihrer Zustimmung für verfassungsrechtlich zulässig. Allerdings hatten sich auf Befragen von Minister Giskra im Jahre 1868 die Mehrheit der cisleithanischen Landtage für Wahlen zum Abgeordnetenhaus ausgesprochen, nämlich jene von Österreich unter der Enns, Österreich ob der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Vorarlberg, Mähren, Schlesien und die deutsche Mehrheit im Landtage Böhmens, dagegen votierten nur die Landtage von Tirol, Krain und Görz, jene von Galizien und Dalmatien äußerten sich nicht. 1871 scheint der Kaiser in seiner Thronrede seinen bisherigen Rechtsstandpunkt aufgegeben zu haben, hielt aber an seiner ablehnenden Meinung aus politischen Gründen fest. Dies änderte sich erst gegen Jahresende 1872: Der Kaiser "acceptierte" nunmehr Wahlen, blieb jedoch bei einer Bedingung, nämlich der, die cisleithanische Delegation weiterhin als Länderdeputation erhalten zu sehen; dies geschah denn dann auch. In der Frage der Wahl zum Abgeordnetenhaus spielten somit noch immer die von der Verfassungsentwicklung ab 1861 70 bekannten Momente eine Rolle, nämlich einerseits die neoständisch-historische Position mit ihrer Beibehaltung des Abgeordnetenhauses als einer Deputiertenversammlung der Landtage, andererseits die konstitutionelle mit ihrem Eintreten für ein gewähltes Zentralparlament. Von allen am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten war es nun vor allem der Kaiser, der entgegen der Parlamentsmehrheit und dem Ministerrat an der überkommenen Gestaltung festhielt, sie aber letztlich unter dem Druck nicht bloß der Majorität im Parlament, sondern seiner Minister aufgab, und zwar abermals mit der Weisung an diese, sie müßten "einem Drängen zu weiterem Fortschreiten ... entschiedene Heftigkeit entgegenstellen". Von maßgeblicher Bedeutung ist die daraus abgeleitete, konkrete Feststellung, der Monarch würde nur eine konservativ gehaltene Regierungsvorlage, nicht aber darüber hinausgehende Modifikationen des Parlaments sanktionieren; hieraus versteht sich die weitere Vorgangsweise: 71 Die Regierungsvorlage wurde von den Ministern einzelnen Abgeordneten erst in privaten Besprechungen zur Kenntnis gebracht und damit wohl auch die Haltung des Kaisers, so daß sich die Mehrheit im Abgeordnetenhaus wie auch im Herrenhaus ohne großen Enthusiasmus zur 70 71

Siehe oben Anm. 16. Fellner, (Anm. 28), S. 329 ff.; Kolmer, (Anm. 13) 11, S. 244 ff.

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Annahme der Regierungsvorlage entschloß, um, wie schon 1867, wenigstens einen Teil er so lange begehrten Ernte einbringen zu können, nämlich die Loslösung des Abgeordnetenhauses durch seine Wahl vom Entsendungsrecht der Landtage. Als dem Abgeordnetenhaus die kaiserliche Sanktion mitgeteilt wurde, erhob sich die gesamte Versammlung zu jubelnder Zustimmung, was dadurch möglich war, daß die föderalistische Opposition seit der Abstimmung zugunsten der Regierungsvorlage dem Hause fernblieb. Die entscheidende Verfassungsreform von 1873, nämlich das Einfügen des Schlußsteines einer gewählten Parlamentskammer in das konstitutionelle Gewölbe der Verfassung 1867, war somit ähnlich wie diese unter dem beharrlichen Druck der Parlamentsmehrheit und auch den des Ministerrats auf den Kaiser zustandegekommen, der die ihm nahestehende föderalistische Parlamentsminorität letztlich nicht mehr unterstützt hatte. Jetzt besaß das cisleithanische Österreich nicht nur von seiner Funktion, sondern auch von seiner Beschickung her besehen ein zeitgenössisches Parlament, und zwar im Sinne der Interessenvertretung. Die weitere Entwicklung 72 stand spürbar unter dem Bestreben nach einer Ausweitung der Interessenvertretung, Forderungen nach Umwandlung in eine Volksvertretung durch Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts war noch keinerlei Chance beschieden. Als Motor der Entwicklung fungierte das Abgeordnetenhaus, angetrieben durch eine Fülle an unterschiedlichen Initiativen aus seiner Mitte. Erfolg hatten freilich nur die Anträge der Abgeordneten Georg Lienbacher und Anton Zeithammer, die zusammen als Entwurf einer Wahlordnungsnovelle ausdrücklich vom Ministerrat gebilligt wurden, offenbar auch ohne besondere Diskussion vom Kaiser, und sodann in bei den Häusern eine eher nur knappe einfache Mehrheit fanden. Die Wahlgesetznovelle 1882 (RGBl. 142) setzte in der Städtekurie allgemein den Zensus von 10 Gulden auf 5 Gulden herab und änderte in einigen Ländern, hauptsächlich in Böhmen, die Wahlkreiseinteilung der Großgrundbesitzerkurie. Diese Wahlrechtsänderung ging im Unterschied zu jener von 1873 ganz eindeutig auf eine parlamentarische Initiative im Abgeordnetenhaus zurück. Fast ununterbrochen dauerte die Wahlrechtsdiskussion im Parlament fort. 73 Die Initiative ergriff dann allerdings der Ministerrat. Im Herbst 1893 74 brachte Ministerpräsident Graf Eduard Taaffe zur Abänderung der 72 Kolmer, (Anm. 13) III, S. 140 ff.; insbes. S. 144 ff.; Brauneder (Anm. 16), S. 92 ff.; Bernatzik, (Anm. 41), S. 748. 73 Kolmer, (Anm. 13) III, S. 151 ff.; ebda., V, S. 333 ff.; Mischler / Ulbrich, (Anm. 26), S. 877 f.; Brauneder, (Anm. 72). 74 Kolmer, (Anm. 13) V, S. 342 ff.; zum Kaiser Eduard Heller, Kaiser Franz Joseph der Erste, Wien 1934, S. 88; kritisch Fellner, (Anm. 28), S. 331.

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Wahlordnung im Abgeordnetenhaus eine Regierungsvorlage ein, die neben dem Steuerzensus im wesentlichen einen Bildungszensus stellte und damit die Wahlberechtigung in der Städtekurie vermehrt hätte, und zwar von guten 1,4 Millionen auf starke 2,2 Millionen Wähler. Vermutlich steht hinter oder neben dieser Initiative der Wunsch des Kaisers nach Ausdehnung des aktiven Wahlrechts. Dieser Schritt erfolgte überraschend ohne Absprache mit den Parteien, diese lehnten die Regierungsvorlage daher zum Teil sogar ganz vehement ab und brachten eigene Anträge ein. Das im November 1893 nachfolgende Kabinett Fürst Alfred Windischgraetz 75 erklärte die Wahlreform zu seiner "ersten und wichtigsten" Aufgabe, betonte allerdings die Beibehaltung der Interessenvertretung, aber doch auch das künftige Einvernehmen mit den Parteien. In diesem Sinne brachte der Ministerrat den Klubobmännern der die Regierung stützenden Parteien die Wahlreformvorschläge gegen Ende Februar 1894 vertraulich zur Kenntnis und suchte auf diesem Wege weiterhin das Einvernehmen mit der Parlamentsmehrheit: Es war dies der Vorschlag nach Einführung einer zusätzlich fast allgemeinen Wählerklasse. An Initiativen aus dem Abgeordnetenhaus fehlte es aber dennoch nicht, im April 1894 lagen seinem Wahlreformausschuß 26 Anträge vor. Der Ministerrat pochte jedoch auf sein Reformkonzept und betonte, daß er einen Vorschlag zur Einführung eines allgemeinen Wahlrechts nie zustimmen werde. Das Abgeordnetenhaus in seiner Zerrissenheit zeigte sich insgesamt machtlos, die Einsetzung eines Subkomitees durch den Wahlreformausschuß brachte schließlich doch keine Ergebnisse, obwohl es einen mit dem Ministerrat abgesprochenen Entwurf vorlegen konnte, den aber das Plenum ablehnte. Den nächsten Ablauf zur Reform machte abermals der Ministerrat, nämlich das Kabinett Graf Stanislaus Badeni, 76 das 1896 seine Regierungsvorlage zur Änderung des StGG / Reichsvertretung und der Wahlordnung vorlegte, und zwar durch Einführung einer zusätzlichen "allgemeinen Wählerklasse". Nach langen Debatten und Ablehnungen von Abänderungsanträgen nahm das Abgeordnetenhaus die Regierungsvorlage fast einstimmig an, was der Kaiser mit einem Telegramm an Ministerpräsidenten Badeni quittierte: "Ich gratuliere". Auf die Reform hatte der Monarch keinerlei Einfluß genommen, ebenso nicht das Herrenhaus. Die Verfassungsänderung von 1896 (RGBl. 168) und die dazugehörige Wahlgesetzänderung (RGBl. 169) beließen die Interessenvertretung im Prinzip unangetastet, schufen aber ein allgemeines Wahlrecht, freilich bei weitem noch kein gleiches und überdies sogar ein Pluralwahlrecht. Nicht im Zusammenhang mit dieser Wahlrechtsreform, sondern mit der Steuerreform 77 kam es im ,gleichen Jahr Kolmer, (Anm. 74), S. 360, 493 ff.; Mischler / Ulbrich, (Anm. 26), S. 878 f. Kolmer, (Anm. 13) IV, S. 152 f.; MischleT / Ulbrich, (Anm. 26), S. 879; Bernatzik, (Anm. 41), S. 749 f. 77 KolmeT, (Anm. 76), S. 79 f., 172. 75

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(RGBl. 226) noch zur Herabsetzung des Steuerzensus von 5 Gulden auf 4 Gulden zufolge einer Initiative des Ministerrats, die das Parlament kritiklos, ohne weitergehende Herabsetzungen zu monieren, annahm. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg durch diese Reform von rund 1,7 Millionen auf 5,3 Millionen Wähler, im Durchschnitt auf 311%, in manchen Ländern betrug der Zuwachs allein 355%! Insgesamt geht diese abermalige Verfassungsänderung mit ihren Folgegesetzen wie schon jene von zuletzt 1873 auf Initiative des Ministerrats zurück, der das Parlament schließlich fast vollinhaltich beitrat. Ab Herbst 1905 78 ergriff das Abgeordnetenhaus die Initiative zur Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Männerwahlrechts, entsprechende Anträge fanden zwar eine einfache, aber nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit. Immerhin bewirkten sie die Ankündigung einer entsprechenden Regierungsvorlage durch den Ministerrat, die dieser im November 1905 einbrachte. Im wesentlichen hierauf geht schließlich die Verfassungsrevision 1907 (RGBl. 15) mit ihrem neuen Wahlgesetz (RGBl. 17) zurück, vielleicht sogar in einem gewissen Maße auf einen entsprechenden Wunsch des Kaisers. 79 Der Ministerrat junktimierte allerdings seine Wahlrechtsvorlage mit insbesondere einer Vorlage zur Verschärfung der Geschäftsordnung und zur Reform des Immunitätsrechtes in Abwehr der Obstruktion. Unter dem Einfluß des Abgeordnetenhauses fiel diese Junktimierung jedoch weg, auch erreichte es eine Erhöhung der Mandate für Tschechen und Polen sowie eine Herabsetzung des Seßhaftigkeitserfordernisses von drei auf ein Jahr. Auf diese Wahlreform von 1907 mit ihrer

Umgestaltung des Abgeordnetenhauses nach dem Prinzip der Volksvertretung nahm somit das Parlament mehr Einfluß als auf die Wahlreformen in

den Jahren 1873 und 1896. Zieht man das zunehmende Drängen im Abgeordnetenhaus gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Betrachtung mit ein, so stellt sich diese Umwandlung als das Ergebnis zahlreicher parlamentarischer Initiativen unterschiedlichster Art dar. bb) Das Herrenhaus Im Gegensatz zum Abgeordnetenhaus erfuhr die Stellung des Herrenhauses lange keinerlei Veränderung, obwohl es nicht an einigen Reformvorschlägen fehlte. 80 Erst im Zusammenhang mit der Wahlreform von 1907 setzte eine Verfassungsänderung (RGBl. 16) für die vom Kaiser auf LebensRRAHP, XVII. Session, 1905, S. 31413. Mischler / Ulbrich, (Anm. 26), S. 880; Bernatzik, (Anm. 41), S. 753 f.; zum Kaiser insbes. Ernst Steinitz, Erinnerungen an Franz Joseph, Wien 1910, S. 100; mit Recht kritisch jedoch Fellner, (Anm. 28), S. 331. 80 Kolmer, (Anm. 13), S. 60 f. sowie II, S. 368. 78 79

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dauer zu ernennenden Mitglieder eine Mindestzahl sowie eine Höchstgrenze fest. Dies geht zurück auf einen Antrag der Wahlreformkommission des Herrenhauses. cc) Oberste Staatsorgane Mit dem Konstitutionalismus der Verfassung 1867 unvereinbar war der 1861 geschaffene Staatsrat. Schon bei der Behandlung des StGG / Reichs-

vertretung 81 wies der Verfassungsausschuß darauf hin, daß der Staatsrat "mit der Entwicklung eines verfassungsmäßigen Staatslebens" nicht im Einklang stünde und die Stellung eines" unverantwortlichen Ratgebers der Krone unhaltbar, ja geradezu verfassungsmäßig unzulässig geworden ist", so daß er die Aufhebung des Staatsrates beantrage. Dem stimmte das Abgeordnetenhaus ohne Diskussion zu und auch das Herrenhaus schloß sich implizit diesem Standpunkt an. Das Parlament erstellte jedoch keinen eigenen Gesetzesentwurf, sondern bewirkte auf diese Weise eine Regierungsvorlage, die 1868 (RGBl. 60) Gesetz wurde und den Staatsrat ersatzlos aufhob. Das StGG / Reichsgericht hatte die Einrichtung dieses Gerichtshofes einem besonderen Gesetz übertragen. Dieses trat erst 1869 (RGBl. 44) in Kraft. Es geht zurück auf einen Gesetzentwurf von Justizminister Eduard Herbst, erarbeitet von einem Expertenkollegium, der ihn nach Billigung des Kaisers im November 1868 als Regierungsvorlage im Abgeordnetenhaus einbrachte. 82

Der zweite Gerichtshof des öffentlichen Rechts, der Verwaltungsgerichtshof, bedurfte eines eingehenderen Durchführungsgesetzes zur Verfassung 1867, da das StGG / Richterliche Gewalt bloß seine Existenz festgeschrieben hatte. Offenbar dieser Kürze wegen gab es 1867 zu dieser Bestimmung auch keinerlei Diskussion im Verfassungsausschuß oder in den Häusern des Parlaments. Das entsprechende Gesetz 83 ließ jedoch auf sich warten. Im Abgeordnetenhaus wurde eine Regierungsvorlage 1868 und wieder 1871 eingemahnt, ab 1871 entstand eine Regierungsvorlage, die im Februar 1873 eingebracht wurde, und zwar im Herrenhaus. In seiner Diskussion sowie jener des Abgeordnetenhauses verteidigte vor allem Minister Jose! Unger Gesetzgebung (Anm. 25), S. 405, 407, 409; Kolmer, (Anm. 13), S. 282. Johann v. Spaun, Das Reichsgericht, Wien 1904, S. 4 bzw. 52; Robert Walter, Die Organisation des Verfassungsgerichtshofes in historischer Sicht, in: Festschrift f. Ernst C. Hellbling zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Hans Lentze I Peter Putzer, Salzburg 1971, S. 743 ff. 83 Kolmer, (Anm. 13) H, S. 516 ff.; Friedrich Lehne, Rechtsschutz im öffentlichen Recht; Staatsgerichtshof, Reichsgericht, Verwaltungsgerichtshof, in: Adam Wandruszka I Peter Urbanitsch, (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 -1918 H, Wien 1975, S. 695 ff. 81 82

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die Regierungsvorlage, besonders gegenüber dem Abgeordneten Josef Hye im Herrenhaus; sie wurde im wesentlichen ohne Änderungen Gesetz und trat 1876 (RGBl. 36) in Kraft. So geht die nähere Ausgestaltung des Reichsgerichts auch schon mit dem StGG / Reichsgericht 1867 auf das Parlament und sodann mit dem Durchführungsgesetz auf das Justizministerium, die des Verwaltungsgerichtshof hingegen ausschließlich auf die Sachkundigkeit im Ministerrat zurück, näherhin auf Minister Unger. Insgesamt ist also der Anteil des Parlament an der konkreten Ausgestaltung der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts eher gering. dd) Der Grundrechtsbereich Nach Inkrafttreten des Grundrechtskatalogs mit dem StGG / Allgemeine Rechte äußerte sich die überwiegende Meinung dahin, die einzelnen Grundrechtsbestimmungen enthielten "Grundzüge bzw. Grundsätze der Gesetzgebung und Verwaltung", die durch entsprechende Gesetze erst anwendbar zu machen seien; freilich ging das Reichsgericht dann überwiegend von einem anderen Standpunkt aus. 84 Vorerst aber war es ein Anliegen des Gesetzgebers, Grundrechte durch Gesetze zu realisieren, und zwar weniger durch eine konkrete Bezugnahme auf einzelne Bestimmungen, sondern auf ihren globalen Gehalt. 85 Dies geschah vor allem im kirchlich-konfessionellen Bereich im Hinblick auf eine Aufhebung des Konkordats 1855 bzw. sodann dessen tatsächlich erfolgte Aufhebung im Jahre 1870 durch die sogenannten "Maigesetze" von 1868 und 1874. Schon ab Juli 1867,86 also noch vor der Verfassung 1867, befaßte sich das Abgeordnetenhaus mit drei eigenen Gesetzesentwürfen, nämlich über die Wiederherstellung des ABGB-Eherechts für Katholiken, über das Verhältnis der Schule zur Kirche sowie über die interkonfessionellen Verhältnisse; 1868 nahm das Herrenhaus diese Vorlagen an. Der anfängliche, freilich eher geringe Widerstand des Ministerrats war nach dem Regierungswechsel 1868 in Förderung umgeschlagen. Der Kaiser suchte die Entwicklung zumindest zu bremsen, die hinauszögernde Haltung des Ministerrats 1867 geht hierauf zurück wie auch die zähen Verhandlungen im Herrenhaus, auf die der Kaiser inhaltlichen Einfluß zu nehmen suchte. Trotz seiner persönlichen Ablehnung der Entwürfe betonte er jedoch gegenüber dem hohen Klerus, daß er seine Pflicht "als constitutioneller Monarch Brauneder, (Anm. 3), S. 287 ff., 295 ff. Ebda., S. 293 f. 86 RGBl. 47, 48, 49/1868; Kolmer, (Anm. 13), S. 299 ff., 321 ff., 372 ff.; ebda., 11, 41 f.; Fellner, (Anm. 28), S. 310 ff. 84

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zu erfüllen habe", und erteilte allen Vorlagen im Mai 1868 die Sanktion, die er aber kommentierte: Es könne aus ihr eine "noch weitergehende Berechtigung zu Folgerungen" auf kirchlich-religiösem Gebiete nicht abgeleitet werden. Just am Tage der Publikation dieser ersten "Maigesetze" wurde der Abgeordnete Eugen Megerle von Mühlfeld begraben, der ab 1861 entsprechende Initiativen ergriffen hatte. Dieses Erbe erwies sich stärker als die Mahnung des Kaisers: Im Abgeordnetenhaus gab es sogar Initiativen zur Einführung der Zivilehe. Im Herbst 1870 begann ein weiterer Anlauf zu konfessioneller Gesetzgebung, der schließlich in die zweiten "Maigesetze" von 1874 mündete, 87 und zwar durch Regierungsvorlagen im Abgeordnetenhaus, die aber vorerst unerledigt blieben. In den folgenden Jahren drängte dieses mehrfach auf neuerliche Vorlagen, zumal 1870 das Konkordat von Österreich gekündigt worden war. Erst im Januar 1874 erfolgte der nächste konkrete Schritt, und zwar durch vier Regierungsvorlagen, nämlich über die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der katholischen Kirche, über den Religionsfonds, über die Anerkennung von Religionsgesellschaften und über klösterliche Genossenschaften. So gut wie unverändert wurden alle vier Vorlagen von bei den Häusern angenommen. Der Kaiser jedoch sanktionierte nur die drei ersteren, unter dem Einfluß des Episkopats aber nicht die letztgenannte, freilich auch jene nur lustlos. Das Parlament beließ es hiebei und faßte nicht etwa Beharrungsbeschlüsse. Weitere gesetzliche Konkretisierungen des Grundrechtskatalogs blieben gering. 88 Der Schutz des Briefgeheimnisses wurde 1870 (RGBl. 42) um das "Schriftengeheimnis" erweitert und dieser Schutz näher geregelt. Das Gesetz geht zurück auf eine Initiative des Abgeordnetenhauses. Die gesetzliche Regelung des Ausweisungsrechts, das Schubwesen, von 1871 (RGBl. 88) stand im Zusammenhang mit den Rechten auf persönliche Freiheit, auf Freizügigkeit und auf Aufenthaltsfreiheit. Die Initiative zu diesem Gesetz ergriff ebenfalls das Abgeordnetenhaus. Besonders angewiesen auf ein Ausführungsgesetz war die im StGG / Allgemeine Rechte vorgesehene Grundrechtssuspension. 89 Die erste Ausführung erfolgte schon 1868 (RGBl. 136) durch eine Notverordnung. Ursächlich hiefür war die Notwendigkeit, insbesondere über Prag den Ausnahmezustand zu verhängen, doch fehlte es an der gesetzlichen Grundlage zur Grundrechtssuspension. Sie schuf, über den Anlaßfall freilich hinausgehend, die erwähnte Notverordnung. Der Abgeordnete Karl Sturm, der 1867 als Referent des Grundrechte-Staatsgrundgesetzes fungiert hatte, faßte, als 87 88 89

RGBl. 50, 51, 68/1874; Kolmer, (Anm. 13) II, S. 102, 153 ff., 249 ff., 313 ff. Brauneder, (Anm. 85); Kolmer, (Anm. 13) II, S. 41 bzw. 157. Brauneder, (Anm. 3), S. 292, Kolmer, (Anm. 13), S. 363 ff.

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die Notverordnung dem Abgeordnetenhaus vorgelegt wurde, dessen Mehrheitsmeinung in dem charakteristischen Satz zusammen: "Votieren Sie dieses Gesetz nicht gegen die Verfassung, sondern für die Verfassung", womit er für die Umwandlung der Notverordnung in ein Gesetz, d. h. für die entsprechende Regierungsvorlage eintrat; das Parlament insgesamt folgte seiner Meinung, 1869 erging das Gesetz über die Grundrechtssuspension (RGBl. 66). Ihre Ausgestaltung geht vor allem zufolge der vorausgegangenen, inhaltlich unverändert gebliebenen Notverordnung auf eine Initiative des Ministerrats zurück, die das Parlament mehrheitlich billigte. c) Das Ende 1918

Isoliert man die verfassungsrechtlich bedeutsamen Schritte im Jahre 1918 vom politisch sicherlich wichtigeren Umfeld, so erhebt sich auch hier die Frage nach dem Anteil des Parlaments an dieser Entwicklung. In diesem Zusammenhang soll gleichsam als Vorgeschichte nicht unerwähnt bleiben, daß in den Jahren 1914 bzw. 1917 ein neues Notverordnungsgesetz geschaffen worden war, zuletzt 1917 (RGBl. 307) mit dem sogenannten "Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz" (KWEG), "mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlaß der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen". Dieses Gesetz 90 geht auf eine entsprechende § 14-Notverordnung aus 1914 (RGBl. 274) zurück: Damit war also aufgrund einer Notverordnung ein neues Notverordnungsrecht geschaffen worden. Wie alle § 14-Notverordnungen mußte auch diese dem ersten zusammentretenden Parlament vorgelegt werden. Was 1917 geschah: Ein eigens eingesetzter Ausschuß des Abgeordnetenhauses betonte die Notwendigkeit, die Notverordnung in ein Gesetz umzuwandeln, faßte dieses aber präziser. Das Abgeordnetenhaus und im wesentlichen auch das Herrenhaus billigten den Ausschußentwurf, den schließlich übereinstimmenden Beschluß beider Häuser sanktionierte der Kaiser im Juli 1917. Somit war das KWEG aufgrund der vorausgegangenen Verordnung aus 1914 ein vom Parlament 1917 gebilligtes und nur leicht modifiziertes Produkt der Regierung. Das Ende Österreich-Ungarns sowie des cisleithanischen Staates führten im wesentlichen drei verfassungsrechtliche Schritte herbei: Das kaiserliche Manifest vom 16. Oktober 1918, die kaiserliche Kundmachung vom 11. No90 Zum Folgenden Gemot Hasiba, Das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) von 1917. Seine Entstehung und seine Anwendung vor 1933, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag, Berlin 1981, S. 548 ff., insbes. S. 552 ff.; ders., Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848 -1917), Wien 1985, insbes. S. 162 ff.

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vember 1918 sowie ein Beschluß des Abgeordnetenhauses vom 12. November 1918. Das "Oktober-Manifest"91 stellt, nach seinem Wortlaut und im Lichte der geltenden Verfassung 1867 besehen, eine Anordnung des Monarchen an den Ministerrat, hier als "Meine Regierung" bezeichnet, dar, zu einer Verfassungsänderung "alle Arbeiten vorzubereiten", und zwar unter Beiziehung von "Reichsratsabgeordneten jeder Nation" als sogenannte "Nationalräte" bei ansonsten ausdrücklicher Fortdauer der "bestehenden Einrichtungen" wie insbesondere des Parlaments: Es sollte also eine Regierungsvorlage im Einvernehmen mit dem Abgeordnetenhaus in neuer Gruppierung schon in diesem frühen Stadium ausgearbeitet werden, die dann dem Parlament vorzulegen war. Das Manifest resultiert aus dem Wunsch des Monarchen nach einer Verfassungsänderung sowie einer Initiative des Armeeoberkommandos und des Ministerrats, die ein Teil der Parlamentsmitglieder, nämlich einige Abgeordnete und der Vizepräsident des Herrenhauses, Fürst Max Egon Fürstenberg, stützten, ein anderer freilich, die tschechischen Abgeordneten, verwarfen. An der Endfassung hatte ein sogenannter "Kronrat" besonderen Anteil, der, verfassungsmäßig nicht vorgesehen, aber gewohnheitsmäßig schon seit längerem in Übung, sich aus cisleithanischen sowie gemeinsamen Ministern und höchsten Militärs zusammensetzte. Den Text genehmigte sodann letztlich der Ministerrat. Als Absicht des Manifests bleibt jedoch festzuhalten, daß es in die tiefgreifende Verfassungsumgestaltung Cisleithaniens, nämlich "zu einem Bundesstaate" seiner Nationalitäten, das Parlament wohl entscheidend eingebunden hätte, und zwar vorerst nur das Abgeordnetenhaus über die "Nationalräte" seiner Mitglieder. Allein mit dem ordentlichen Weg der Gesetzgebung glaubte man politisch nicht auskommen zu können, dem Abgeordneten-Plenum war es offenbar nicht mehr zuzumuten, eine Regierungsvorlage einfach vorgesetzt zu bekommen. Das Manifest verfehlte seine Absicht: Soweit sich derartige Nationalräte schon gebildet hatten oder in der Folge bildeten, gründeten sie neue Staaten und sprengten damit die eben beschriebene Intention wie etwa die ausdrücklich aufgrund des Manifestes zusammentretende "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich ", die bewußt Deutschösterreich als neuen, demokratisch-republikanischen Staat schuf. 92 So wirkte dieses Manifest insgesamt als erster Schritt zur Auflösung des Staates.

91 Wiener Zeitung (Extra-Ausgabe) Nr. 240, 17.10.1918, S. 1; die folgenden Fakten nach Helmut Rumpler, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918, Wien 1966, S. 29 ff.; zur Bedeutung der Geltung der Verfassung 1867 vgl. sogleich den Präsidenten des Abgeordnetenhauses. 92 Brauneder, (Anm. 1), S. 188.

6 Parlamentarismus

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Die Auflösung selbst führten dann zwei weitere verfassungsrechtliche Schritte herbei. Den einen setzte allein der Monarch mit seiner "Kundmachung" vom 11. November 1918,93 und zwar vor allem dadurch, daß er mit dieser "auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften" verzichtete und als Konsequenz hieraus seine "österreichische Regierung ihres Amtes" enthob ohne eine neue einzusetzen. Theoretisch sowie auch faktisch war damit das monarchische Element der Verfassung 1867 zum Erlöschen gebracht worden: theoretisch durch den Verzicht am "Anteil", praktisch durch das Nichteinsetzen eines neuen Ministerrates, wodurch auch der Monarch im Hinblick auf insbesondere die ministerielle Gegenzeichnung nicht mehr handeln konnte. Dazu trat ferner, daß der Monarch die "künftige Staatsform" Deutschösterreichs anerkannte, über die aber schon einige Stunden zuvor dessen Staatsrat einen Beschluß gefaßt hatte, nämlich dahingehend, daß Deutschösterreich "eine demokratische Republik" sei. So blieb noch der "Anteil" des Volkes "an den Staatsgeschäften" im Sinne der Verfassung 1867: Auf diesen verzichtete dessen Vertretung, das Abgeordnetenhaus, am 12. November 1918. 94 In seiner Ansprache stellte der Präsident, Gustav Groß, fest, das Haus habe "mit der Tatsache zu rechnen, daß Österreich zerfallen ist, daß an seine Stelle eine Reihe von Nationalstaaten getreten sind", und folgerte daraus: "Das Haus hat heute wohl keine Aufgaben mehr zu erfüllen"; ferner: das "Richtigste wäre vielleicht, uns selbst aufzulösen. Dafür gibt uns die österreichische Verfassung, die ja für uns noch Gültigkeit hat, keine Handhabe". An die Stelle eines Auflösungsbeschlusses analog zur Erklärung des Monarchen vom Vortag beschloß das Abgeordnetenhaus daher einhellig, "die heutige Sitzung aufzuheben und keinen Tag für die nächste Sitzung zu bestimmen": Damit hatte es gleichfalls auf seinen "Anteil" an den Staatsgeschäften verzichtet. So ging der cisleithanische Staat unter bewußtem Mitwirken des Parlaments unter, das den politischen Umständen nachgegeben hat.

93 Wiener Zeitung (Extra-Ausgabe) Nr. 261, 11.11.1918, S. 1; Brauneder, (Anm. 1), S. 169. 94 RRAHP, XXII. Session, 1918, S. 4701.

Zur Entwicklung des Verfassungs rechts nach 1918 Von Christian Neschwara

I. Die "Entstehung" der Verfassungsordnung der neuen Republik (1918 bis 1920) 1. Die "provisorisch-interimistische" Verfassungsordnung

Deutschösterreichs (1918/19) 1

a) Entwicklung aa) Institutioneller Rahmen Die innere Auflösung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und des Staates Österreich führte infolge der sich abzeichnenden militärischen Niederlage seit Ende Oktober 1918 auf deren Staatsgebiet zur Gründung einer Reihe von neuen Staaten. Noch während dieses Zerfallsprozesses trat am 30. Oktober 1918 auch der Staat Deutschösterreich ins Leben. Seine Staatsgewalt, ebensowie die Landesgewalt der auf seinem Staatsgebiet beund neu entstehenden Länder, trat originär an die Stelle jener der Monarchie, ohne sich von dieser abzuleiten. Er wurde in der - mit den Intentionen der Siegermächte über das nationale Selbstbestimmungsrecht vermeintlich in Einklang stehenden - Absicht gegründet, "die Staatsgewalt über das deutsche Siedlungsgebiet" des ehemaligen Staates Österreich auszuüben, ohne jedoch dessen verfassungsrechtlich modifzierte Fortsetzung zu sein: Deutschösterreich war "im Kreise der Staaten eine Neuerscheinung" . 2 1 Zum Folgenden: Adolf Julius Merkl, Die Organisation der Gesetzgebung in der Republik Deutschösterreich, in: ZÖR 1919/20, 1 ff.; ebda., 28 ff.: Hans Nawiasky, Der Aufbau der Regierungs- und Vollzugsgewalt Deutschösterreichs nach der Gesetzgebung der provisorischen Nationalversammlung; ebda., 48 ff.: Hans Kelsen, Die Organisation der vollziehenden Gewalt Deutschösterreichs nach der Gesetzgebung der konstituierenden Nationalversammlung; ebda., 61 ff.: Leo Wittmayer, Zu den Voraussetzungen und Grundproblemen der provisorischen Verfassung von Deutschösterreich; ebda., 98 ff.: Hans Kelsen, Die Stellung der Länder in der künftigen Verfassung Deutschösterreichs; Julius Adolf Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, Wien-Leipzig 1919; Hans Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich I-IV, Wien-Leipzig 1919/1920; Wilhelm Bauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 6. Auf!. Wien 1992, 187 ff.

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Die Entstehung dieses neuen Staates, seine Gründung und verfassungsrechtliche Ausgestaltung, ging von der Initiative der politischen Parteien des alten Staates aus. Diese schufen mit der "Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich ", faktisch aus den Vertretern der deutschen Parteien des Abgeordnetenhauses bestehend,3 nicht bloß ein Organ, das die Staatsgrundung vorbereitete und vollzog, sondern bereits das erste Parlament des neuen Staates. Zwar nicht vom deutschösterreichischen Volk gewählt, aber doch aus einer Volkswahl- der letzten Reichsratswahl von 1911 - hervorgegangen, sahen sich dessen Mitglieder als "freigewählte Abgeordnete"4 des "Parlament(s) der Deutschen Österreichs".5 Weder die Identität mit dem "Rumpfparlament des alten Staates" 6 noch die faktisch fehlende Volkssouveränität wurden als Makel empfunden. Unter Fingierung des demokratischen Prinzips sah sich die Provisorische Nationalversammlung selbst als "Vollzugsorgan des Volkswillens ", ihre Mitglieder galten als "vom Volke betraute Staatsorgane". 7 Solchermaßen als Träger des politischen Willens der Bevölkerung legitimiert, übte die Provisorische Nationalversammlung als Parlament des neuen Staates bis zur Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung alle Kompetenzen eines solchen Organs,8 einschließlich der Verfassungsgesetzgebung, aus. Sie schuf zunächst die "grundlegenden Einrichtungen" (StGBl. Nr. 1/1918) des Staates und baute auf diesen schrittweise durch zeitlich aufeinanderfolgende verfassungsrechtlich bedeutsame Gesetze ein "provisorisches Verfassungswerk"9 auf, dem die ihr nachfolgende Konstituierende NationalversammMerkl, Verfassung (Anm. 1), 2. Ders., Gesetzgebung (Anm. 1),6 f. - Signifikant: Des am 11.11.1918 verstorbenen Mitglieds des AH und der Prov.NV, Viktor Adler, wurde am 12.11.1918 in beiden Parlamenten gedacht. 4 Präambel zum "Entwurf einer provisorischen Verfassung"; dazu Wilhelm Brauneder, Karl Renners "Entwurf einer provisorischen Verfassung": ein vorläufiger Bericht, in: Heinz Mayer u. a. (Hrsg.), Staatsrecht in Theorie und Praxis. Festschrift Robert Walter zum 60. Geburtstag, Wien 1991, 74. 5 Renner (sd.) in Steno Prot. NV, 47. - Der Präs. des AH, Gustav Groß (df.), zugl. Mitgl. der ProV. NV, bezeichnete diese in der letzten Sitzung des AH als "Deutsche Nationalversammlung": Steno Prot. AH, 4701. 6 Merkl, Gesetzgebung (Anm. 1), 1. - Obgleich vom Standpunkt der Diskontinuität rechtlich unerheblich, klingt dies später noch an: Das G "über die Staats- und Regierungsform" (StGBl. Nr. 5 vom 12.11.1918) etwa hob ausdrücklich das Herrenhaus, die Delegationen und die bisherigen Landtage auf, nicht aber das Abgeordnetenhaus (§ 8 leg. cit.); das G "über die Einberufung der Konstituierenden Nationalversammlung" (StGBl. Nr. 114 vom 18.12.1918) sprach vom Ablauf der "Wahlperiode" der prov.NV (§ 1(2) leg. cit.), obgleich diese ja gar nicht gewählt und auch nicht Nachfolger des AH war, dessen Wahlperiode (G vom 16.7.1918, RGBl. Nr.300) tatsächlich am 31.12.1918 abgelaufen wäre. 7 77 BlgProv.NV; StGBl. Nr. 42/1918. 8 Merkl, Gesetzgebung (Anm. 1), 14 ff. 9 Ders., Verfassung (Anm. 1), 39. 2

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lung durch grundsätzliche Bestätigung letztlich sogar konstitutiven Charakter verlieh. In dem damit geschaffenen parlamentarischen Regierungssystem stand die Gesetzes- und Verjassungsinitiative aber nicht allein der Volksvertretung zu, sondern auch den von ihr abgeleiteten Organen der "Regierungsund Vollzugsgewalt" , zunächst dem "Staatsrat" 10 sowie später der an seine Stelle getretenen "Staatsregierung". 11 Eine Art suspensives Veto bzw. das Recht der "Vorstellung" 12 räumte beiden Organen weiteren Einfluß auf die Gesetzgebung ein, was sich bei einer Reihe von Verfassungsgesetzen auch praktisch ausgewirkt hatte (sogl. bb).

Da die Begründung obrigkeitlicher Gewalt in den Ländern 13 von den selben politischen Parteien wie auf Ebene des Gesamtstaates ausging, waren Impulse der Länder zur Gestaltung der Verfassungsgesetzgebung des Gesamtstaates zwar zu erwarten, aber erst später, in mehreren Länderkonferenzen 1919 und 1920 (u. 2 a und b) auch sichtbar geworden. bb) Äußerer Ablauf Bereits in den ersten Oktobertagen 1918 forderte eine Resolution der deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats, "alle deutschen Gebiete Österreichs zu einem deutschösterreichischen Staat" zu vereinigen, "der seine Beziehungen zu den anderen Nationen Österreichs und zum Deutschen Reich nach seinem eigenen Bedürfnis regeln" solle,14 wobei zunächst sogar noch "die Umwandlung Österreichs in eine Föderation freier nationaler Gemeinwesen" aktuell schien. Doch waren schon am 17. Oktober, unmittelbar nach Kundmachung jenes kaiserlichen Mani10 Gern. § 7 Staatsgründungsbeschluß waren verfassungsrechtliche Vorlagen der Staatsregierung im Staatsrat vorzuberaten und von diesem der Prov.NV vorzulegen. Praxismäßig lagen die Vorbereitungen aber in der Staatskanzlei, was in der Verfassungsnovelle vom 19.12.1918 auch Berücksichtigung fand (§ 12 (1) leg. cit.). - Daß faktisch alle verfassungsrechtlichen Gesetzesvorschläge von Initiativen der Regierungsorgane ausgingen und die Arbeit der Parlamentsausschüsse praktisch zu einer "rein formalen Beschlußfähigkeit herabgedrückt" wurde, rügte Kelsen (wie Anm. 1, Organisation, 49) schon 1919. 11 Art. 4 G "über die Volksvertretung" (StGBl. Nr. 179 vom 14.3.1919). 12 § 4 Verfassungsnovelle (StGBl. Nr. 139 vom 19.12.1918); Art. 5 G "über die Staatsregierung" (StGBl. Nr. 180 vom 14.3.1919). 13 Aufgrund von Vereinbarungen der politischen Parteien etablierten sich als neue Landesgewalten "Provisorische Landesversammlungen" , zumeist verhältnismäßig nach dem Stimmenverhältnis der Reichsratswahlen 1911: Mit § 1 G "betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern" (StGBl. Nr.24 vom 14.11.1918) wurde dit:s formell angeordnet, tatsächlich war dies aber faktisch bereits davor geschehen (vgl. unten bei Anm. 62 ff.). 14 Resolution 4.10.1918: Kelsen, Verfassungsgesetze (Anm. 1), 1 f.

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fests, 15 welches die Bildung eines österreichischen Bundesstaates ankündigte, die Weichen zur Gründung des Staates Deutschösterreich gestellt, nachdem die deutschen Abgeordneten des Reichsrates beschlossen, am 21. Oktober als "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich" zusammenzutreten. Sogleich nach Konstituierung dieses Gremiums wurde von den 210 Mitgliedern ein Vollzugs ausschuß gewählt und beauftragt, "Anträge über die Verfassung des deutschösterreichischen Staates zu unterbreiten" .16 Am 29. Oktober betraute dieser Ausschuß sein Mitglied Karl Renner mit der Ausarbeitung eines " Organisationsstatus " für Deutschösterreich. 17 Der auf diesem Entwurf beruhende Beschluß der Nationalversammlung vom 30. Oktober "über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt" ("StaatsgTÜndungsbeschluß": StGBl. Nr.l) gab dem neuen Staat daher "keine Verfassungsurkunde" , sondern lediglich das "Stück einer Verfassung",18 das sich zunächst nicht einmal explizit zur Staats- und Regierungsform äußerte. Als am 9. November im Deutschen Reich die Republik ausgerufen wurde, war ein ähnlicher formeller Akt für Deutschösterreich fällig geworden. Mit dem Gesetz vom 12. November "über die Staats- und Regierungsform " legte die Nationalversammlung das im Staatsgründungsbeschluß bereits schlüssig erkennbare demokratische und republikanische Prinzip ausdrücklich fest und präzisierte auch im übrigen den Staatsgründungsbeschluß. Bis zur Wahl der "Konstituierenden Nationalversammlung" folgte eine Reihe weiterer Gesetze mit verfassungsrechtlichem Inhalt, welche sukzessive eine "provisorische" Verfassungsordnung aufbauten. Die wichtigsten waren: Das Gesetz "betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern" (StGBl. Nr.24) vom 14. November 1918, die Gesetze "über die richterliche Gewalt" (StGBl. Nr.38) und "über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes" (StGBl. Nr. 40) samt ergänzender "Staatserklärung" (StGBl. Nr. 41) vom 22. November 1918, das Gesetz "über die Einberufung der Konstituierenden Nationalversammlung" (StGBl. Nr. 114) vom 18. und das Gesetz "womit einige Bestimmungen des Beschlusses ... über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt ... geändert oder ergänzt werden" (sog. "Verfassungsnovelle": StGBl. Nr. 139) vom 19. Dezember 1918. 19 Unmittelbar vor der Wahl der Konstituierenden National15 Extra-Ausgabe der Wiener Zeitung vom 17.10.1918 Nr. 240; vgl. hierzu auch Wilhelm Brauneder, Der Beitrag des Parlaments zur Entwicklung des Verfassungsrechts vor 1918, in diesem Band, bei Anm. 93. 16 Kelsen, Verfassungsgesetz (Anm. 1) I, 6. 17 Reinhard Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage in Österreich (= Studien und Quellen zur Öst. Zeitgeschichte 8), Wien 1987, 65; Brauneder (Anm. 4), 63 ff. 18 Renner, in Steno Prot. Prov.NV, 30 f. 19 Merkl, Verfassung (Anm. 1), 39.

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versammlung kamen noch hinzu: Das Gesetz" über die Errichtung eines ... Verfassungsgerichtshofes" (StGBl. Nr. 48) vom 25. Jänner 1919 sowie die Gesetze "über den Staatsrechnungshof" (StGBl. Nr.85), "die Errichtung eines ... Verwaltungsgerichtshofes" (StGBl. Nr. 88) und "betreffend den Wahlgerichtshof" (StGBl. Nr. 90) vom 6. Februar 1919. Die Initiative zu den genannten Verfassungsgesetzen lag faktisch nicht beim Parlament,20 sondern beim Regierungsorgan, dem Staatsrat, den alle Gesetzesvorschläge der Staatsregierung oder einzelner Staatsämter als "Vorbereitungsorgan" zu passieren hatten. Beim Staatsgründungsbeschluß 21 lag sie formal betrachtet, sogar nicht einmal bei einem Organ des Staates, sondern beim Vollzugsausschuß der Provisorischen Nationalversammlung, an dessen Stelle erst nach Beschluß über den genannten Gesetzesvorschlag der Staatsrat getreten war. Die Staatsratsvorlagen wurden in der Regel dem Verfassungsausschuß 22 zugewiesen, wo sich dem Parlament Möglichkeiten eröffneten, auf den Inhalt von Gesetzesvorschlägen Einfluß zu nehmen, wie etwa bei den Gesetzen "über die richterliche Gewalt" oder der "Verfassungsnovelle". In drei weiteren Fällen wurden im Plenum bereits beschlossene oder vor der Annahme stehende Gesetze an den jeweiligen Ausschuß zurückverwiesen, dies beim Gesetz "über das Staatsgebiet" 23 auf Antrag des Staatsrates sowie bei den Gesetzen "über den Verwaltungsgerichtshof" und den "Staatsrechnungshof" jeweils auf Antrag des Verfassungsausschusses. 24 Diese "provisorische" Verfassungsordnung wurde von der am 16. Februar gewählten und am 4. März 1919 erstmals zusammengetretenen Konstituierenden Nationalversammlung ausdrücklich bestätigt 25 und durch weitere Gesetze abgeändert und ausgebaut: Die Gesetze "über die Staatsform" und "über das besetzte Staatsgebiet" (StGBl. Nr. 174 und 175) vom 12. März 1919 bestätigten entsprechende Gesetze der Provisorischen Nationalversammlung (StGBl. Nr. 5, 40 und 41/1918); die Gesetze "über die Volksvertretung" und "über die Staatsregierung" (StGBl. Nr. 179 und 180) Gern. § 7 Staatsgrundungsbeschluß, § 4 Verfassungsnovelle. Ebenso bei dem nicht näher bezeichneten Beschluß vom 30.10.1918 (StGBl. Nr. 3) über die Aufhebung der Zensur. 22 Dem Finanzausschuß zugewiesen wurden die Staatsratsvorlagen zu den G "über die Kontrolle der Staatsschuld" und über die "Dienstbezüge und Dienstzulagen der zum Volk betrauten Organe": 12 und 17 BlgProv.NV, 40 und 15 BlgProv.NV. 23 Steno Prot. Prov.NV, 92 ff., 108: Sogar Karl Renner trat für die Fassung der Staatsratsvorlage ein, obwohl er, wie er in der Prov.NV betonte (ebda., 95 ff.), "persönlich eine andere Lösung vorgesehen hätte", was offenbar auf seinen eigenen "Entwurf einer provisorischen Verfassung" bezogen war. 24 G "über den Verwaltungsgerichtshof": BlgProv.NV 153, 187, 194; Steno Prot. Prov.NV, 568 f., 569, 692 f., 693. - G "über den Staatsrechnungshof": BlgProv.NV 174, 198; Steno Prot. Prov.NV, 581, 693 f., 694. 25 Gern. Art. 1(3) G "über die Volksvertretung". 20

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vom 14. März 1919 änderten die bestehende Verfassungsordnung aber erheblich. Damit war gleichsam auch zu "dem noch immer provisorischen Verfassungswerk gewissermaßen de(r) Schlußstein" gesetzt. 26 Wesentliche Modifikationen der Verfassungsordnung zog später - weitestgehend unbeeinflußt von österreichischen Institutionen - der Staatsvertrag von St. Germain nach sich, da er, exakt ein Jahr nach Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung, eine Änderung des Gesetzes über die "Staatsform" bedingte (StGBl. Nr. 484) und mit der Festlegung des neuen Staatsnamens "Republik Österreich" auch die letzte Phase der sehr regen Tätigkeit der Konstituierenden Nationalversammlung 27 im Bereich der "provisorischen" Verfassungsordnung einleitete: Den Schlußstrich setzte schließlich das Gesetz "über die Beendigung" der Legislaturperiode (StGBl. Nr. 283) vom 7. Juli 1920, dem unmittelbar die Ankündigung des Vorsitzenden des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung, Otto Bauer, vom 8. Juli folgte, Verhandlungen über die "definitive" Verfassung im Parlament aufzunehmen. Die Initiative zu den genannten Verfassungsgesetzen war von verschiedenen Seiten ausgegangen: Die Vorlagen zu den Gesetzen "über die Staatsreform" sowie über "das Staatsgebiet" und dessen Novellierung von der Staatsregierung,28 jene zu den Gesetzen "über die Volksvertretung" und über "die Staatsregierung" vom Verfassungsauss.chuß,29 jene "über die Beendigung" der Gesetzgebungsperiode vom Hauptausschuß. 30 Überwiegend war durch die Tätigkeit der beiden Nationalversammlungen bloß das "Gerippe" einer "provisorischen" Verfassungsordnung entstanden,31 in dessen Aufbau als grundlegende Verfassungselemente der "Staatsgründungsbeschluß" , die "Verfassungsnovelle" sowie die beiden Gesetze "über die Volksvertretung" und "die Staatsregierung" herausragten, welche ein Kranz ergänzender und abändernder "Spezialgesetze" umgab. Die Verfassung Deutschösterreichs war sukzessive "auf rein empirischem Weg" entstanden, sie war, wie Karl Renner betonte, "kein Werk der Theorie". 32

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Merkl, Verfassung (Anm. 1), 39.

27 Dazu noch die Gesetze "über die Geschäftsordnung" (StGBl. Nr.162 vom

5.3.1919), "betreffend die Landesverweisung und Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen" (StGBl. Nr. 209 vom 3.4.1919) und "über die Aufhebung des Adels." (StGBl. Nr. 211 vom selben Tag); weitere Verfassungsgesetze bei Merkl, Verfassung (Arun. 1), 42 f. und Kelsen, Verfassungsgesetze (Anm. 1), IV. 28 BlgKonst.NV 1. 29 BlgKonst.NV 61 und 62, 410. 30 BlgKonst.NV 890. 31 Merkl, Verfassung (Anm. 1), 181, 39. 32 Kelsen, Verfassungsgesetze (Anm. 1) I, Zum Geleite, V, III.

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b) Entwicklungstendenzen Den Ausgangspunkt der Verfassungstätigkeit Deutschösterreichs bildete der Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung vom 21. Oktober 1918, einen Vollzugsausschuß zu wählen und diesen zu beauftragen, "Anträge über die Verfassung des deutschösterreichischen Staates zu unterbreiten".33 Damit schien zunächst die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs ausgesprochen. In nur wenigen Tagen entstand auch ein "Entwurf einer provisorischen Verfassung" aus der Feder des späteren Staatskanzlers Karl Renner (sd.)34 für den als "Südostdeutschland" bezeichneten Staat, welche als "provisorische Verfassung" bis zur Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung gelten sollte. Renners Plan wurde aber letztlich nicht verwirklicht, da ihn bereits am 28. Oktober der Vollzugsausschuß mit dem Entwurf eines" Organisationsstatuts " für "Deutschösterreich " beauftragte. Damit war das Ziel der Verfassungsarbeiten nicht mehr die Kodifizierung des Verfassungsrechts, sondern der Erlaß von "Organisation"- und Überleitungsgesetzen, die dem neuen Staat Legalität verschaffen, ihm Organe geben und nach innen und außen handlungsfähig machen sollten. Diese entscheidende Weichenstellung fixierte dann der auf den Entwurf eines "Organisationsstatuts" zurückgehende Beschluß der Nationalversammlung vom 30. Oktober "über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt". Er brachte "keine Verfassungsurkunde", die "alle Elemente der staatlichen Gewalt aufzeigt, genau das Gebiet beschreibt, das darauf lebende Volk, die Abgrenzung des Gebietes, die Staatsbürgerschaft, den Aufbau der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt". 35 Auch "über die Staatsform" war darin, wie Renner als Berichterstatter betonte, "kaum ein Wort ausdrücklich gesprochen". Der Staatsgründungsbeschluß sprach "nicht von Monarchie und nicht von Demokratie und nicht von Republik", doch enthielt er darüber Fonnulierungen und Sachaussagen,36 die "über die in republikanischen Staaten bestehenden Verfassungen" hinausgingen. 37 Renner wollte die Klärung dieser Frage zwar den "Staatsrechtslehrern überlassen", 38 war aber selbst davon überzeugt, es sei bereits am 30. Oktober eine "republikanische Ordnung entstanden",39 in 33 Kelsen, Verfassungsgesetze (Anm. 1) I, 6: Punkt 1. 34 Zur Entstehungszeit: Brauneder (Anm. 4), 68. -

Vgl. hierzu auch: Georg Schmitz, Karl Renners Briefe aus St. Germain und ihre rechtspolitischen Folgen (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 16), 1191,33 ff.; hier auch eine Rekonstruktion des Entwurfs: 165 ff. 35 Renner in Steno Prot. Prov.NV, 31. 36 Dazu Brauneder (Anm. 1), 191 f. 37 Abg. Leopold Waber (dn.) in Steno Prot. Prov.NV, 38. 38 Renner ebda., 31. - Vgl. etwa Wittmayer (Anm. 1), 64: "republikanisch war schon der erste Atemzug des neuen Staates".

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der "kein Raum mehr für irgendeine monarchische Gewalt" geblieben sei: 40 Mit dem Beschluß über die "demokratische Republik" am 12. November hatte die Nationalversammlung daher "nur mehr auszusprechen, was (Deutschösterreich bereits) ist". 41 Die ausdrückliche Festlegung des demokratischen und republikanischen Prinzips am 12. November hatte so besehen bloß politisch-deklarative Bedeutung, sie war gleichsam die "Antwort" des Parlaments auf die, unter Mitwirkung von Vertretern des neuen Staates zustandegekommene "Verzichts"-Erklärung des Monarchen vom 11. November,42 eine "Notwendigkeit nach außen" und "innen".43 Renner selbst maß daher dem 12. November für die Staatsform des am 30. Oktober geborenen Staates bloß die Rolle zu, er habe "an dem jungen Geschöpf nur noch den feierlichen Akt der Taufe vollzogen". 44 Anders als die einstimmig beschlossene Staatsgründung, war diese Entscheidung gegen die Stimmen dreier Christlichsozialer, darunter Wilhelm Miklas, der das republikanische Prinzip später als Bundespräsident sogar personifizieren wird, zustandegekommen. Die Festlegung der demokratisch-republikanischen Staatsform sowie die Kreation von Staatsorganen hatte aber nur interimistischen Charakter. Die Provisorische Nationalversammlung selbst mußte, da sich bald "Mängel des überstürzten Notbaues bemerkbar machten" und "Nachverbesserungen nötig" schienen, die "provisorische Verfassung" mit einer Verfassungsnovelle am 19. Dezember 1918 "nicht unwesentlich" wieder ändern. 45 Die Konstituierende Nationalversammlung bestätigte zwar mit dem Gesetz "über die Staatsform" vom 12. März 1919 ausdrücklich die genannten Gesetze, stärkte das demokratische Prinzip jedoch mit zwei "wichtige(n) Grundgesetze(n)" ,46 den Gesetzen "über die Volksvertretung" und "über die Staatsregierung", indem sie mit dem ersten Gesetz ihre Kompetenzen erweiterte und mit dem zweiten den als zu schwerfällig empfundenen Vollziehungsapparat vereinfachte. 47 Beide Gesetze verlagerten den SchwerRenner, in: Kelsen, Verlassungsgesetze (Anm. 1) I, IV. Renner in Steno Prot. Konst.NV, 113 ff. (27.3.1919). 41 Der Präs. d. AH erklärte in der letzten Sitzung, noch vor Beschluß der Prov.NV, diese habe "Deutschösterreich aus der konstitutionellen Monarchie ... zur Republik" geführt: Steno Prot. AH, 4701. 42 Renner hatte den Entwurf verlaßt, Ignaz Seipel (es.), zugleich Sozialminister des alten Staates, die Endredaktion: Wilhelm Brauneder, Die Gründung der Republik Deutschösterreich und die Rolle der politischen Parteien, in: Freie Argumente 1978, Heft 4, 11; Wittmayer (Anm. 1),67, wertete dies als "Diplomatie". 43 Renner in Steno Prot. Prov.NV, 65 f. 44 Zitiert nach: Wilhelm Brauneder, Der vergessene Schicksalstag, in: Die Presse 20. / 21.10.1984, Spectrum, III. 45 78 BlgProv.NV (Vorlage des Staatsrates), 92 BlgProv.NV (AB des VA); Steno Prot. Prov.NV, 416 ff. 46 Steno Prot. Prov.NV, 70 (Berichterstatter Mathias Eldersch, sd.). 47 Ebda., 65. 39 40

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punkt der Willensbildung in das Parlament und gestalteten Deutschösterreich als parlamentarische Republik. Insbesondere die Stärkung der Stellung des Präsidenten der Nationalversammlung bezweckte auch die "restlose Beseitigung jeder Erinnerung an die Monarchie". 48 Die bewußte Abkehr von dieser Gesellschaftsordnung manifestierte sich noch in weiteren Maßnahmen der Nationalversammlung vom 14. März 1919. 49 Die ersten Verfassungsgesetze der Nationalversammlung setzten dem Staat auch zwei zueinander in Gegensatz stehende Leitziele: Zum einen die grundsätzliche "Ablehnung jeder Rechtsnachfolge" zu Österreich (Art. 4 StGBl. Nr.5) und zum anderen die möglichste Übernahme von dessen "Gesetzen und Einrichtungen ", soweit solche durch den Staatsgrundungsbeschluß "nicht aufgehoben oder abgeändert" worden sind (§ 16 StGBl. Nr.1). Sichtbaren Ausdruck fand erstgenanntes Ziel in der Haltung der Provisorischen Nationalversammlung: Demonstrativ versammelte sie sich - obgleich aus Abgeordneten des österreichischen Reichsrates bestehend - nicht im Reichsratsgebäude am Ring, sondern am Sitz des niederösterreichischen Landtags in der Herrengasse, wo schon einmal - 1848 - eine Revolution ihren Ausgang genommen hatte. Das zweitgenannte Ziel legte es nahe, des weitgehend identischen Staatsgebietes und -volkes wegen, Rechtsordnung wie auch Institutionen des alten Staates zu übernehmen. Die mit dem Staatsgrundungsbeschluß (§ 16) angeordnete Rechts- und Behördenüberleitung erhielt ihre konstitutive Wirkung und rechtlich verbindliche Kraft jedoch von der neuen Staatsgewalt. Materiell wurden so auch Teile der Verfassungsordnung von 1861/67, etwa das StGG "über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger" sowie das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) 1917 rezipiert. 50 Materiell rezipierten formelle Beschlüsse der Nationalversammlung auch das StGG "über die richterliche Gewalt", was nicht nur der analoge Titel "Grundgesetz über die richterliEbda., 75 (Arnold Eisler, sd.). Und zwar in der Aufhebung "aller Herrschaftsrechte und sonstigen Vorrechte" des ehemaligen Herrscherhauses mit dem G "betreffend die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg-Lothringen" (StGBl. Nr. 209) sowie in der "Aufhebung des Adels ... " (StGBl. Nr. 211) als mit dem demokratischen Prinzip unvereinbar. Schließlich schuf das G über die "Vorbereitung der Sozialisierung" (StGBl. Nr. 181) Möglichkeiten, "aus Gründen des öffentlichen Wohls" geeignete Wirtschaftsbetriebe zu Gunsten staatlicher Gebietskörperschaften zu enteignen. - Vgl. dazu auch das sozialdemokratische "Aktionsprogramm" 1919 bei Klaus Berchtold (Hrsg.), Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, 233 ff. 50 Glz. wurde die Aufhebung der Zensur verfügt (StGBl. Nr.3) und die 1914 verordnete Suspension diesbezüglicher Grundrechte aufgehoben, 1919 folgte die Wiederherstellung weiterer 1914 suspendierter Grundrechte: StGBl. Nr. 240/1919. - Zur Anwendung des KWEG durch Staatsrat und -regierung: Gernot Hasiba, Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) von 1917, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag, Berlin 1981, 557, 559. 48 49

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che Gewalt" (StGBl. Nr. 24/1918) plakativ ausdrückte, sondern auch der Inhalt zeigte, der weitgehend dem Text "des österreichischen Gesetzes" folgte. 51 Ähnliches gilt auch für das StGG "über die Einsetzung eines Reichsgerichtes", das 1919, zunächst als "Provisorium von wenigen Wochen" gedacht, 52 ebenso wie die gesetzlichen Grundlagen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes übernommen wurde (StGBl. Nr.48 und 88); das Reichsgericht, weil es im "Verfassungs- und Rechtsleben eingebürgert" war, der Verwaltungsgerichtshof, weil er sich "im alten Staat ... ausgezeichnet hat". 53 Im deutschösterreichischen Staatsrechnungshof (StGBl. Nr. 85) war 1919 überdies der österreichische Oberste Rechnungshof wiederentstanden, die Kompetenzen des ehemaligen österreichischen Staatsgerichtshofes wurden "auf den deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshof übertragen" (StGBl. Nr. 212).54 Rezeptionsklauseln des Gesetzes "über die Staats- und Regierungsform" betrafen auch die deutschösterreichischen Staats ämter und den Staatsrat: Auf erstere gingen "unter ausdrücklicher Ablehnung jeder Rechtsnachfolge" die "Aufträge und Vollmachten" der gleichzeitig aufgehobenen ehemaligen Ministerien über (Art. 4 leg. cit.), was aus dem Blickwinkel der Diskontinuität zwar "überflüssig" , 55 aber "um Mißverständnissen" vorzubeugen, notwendig schien. 56 Auf den Staatsrat gingen "alle Rechte, welche ... dem Kaiser zustanden ... einstweilen" über (Art. 3 leg. cit.), was sich natürlich nur auf die Stellung des Monarchen in der Vollziehung bezog. 57 Analog dem StGG "über die Regierungs- und Vollzugsgewalt" wurde die Regierungsfunktion mehreren Organen zugewiesen, und zwar dem Staatsrat die "Regierungsgewalt" und der von ihm beauftragten Staatsregierung die "Vollziehung" (§§ 3 und 8 Staatsgrundungsbeschluß). Das Gesetz "über die Staats- und Regierungsform" enthielt auch das "Bekenntnis", Deutschösterreich sei "Bestandteil der Deutschen Republik" (Art. 5 StGBl. Nr. 5), welches die Konstitutierende Nationalversammlung später "bekräftigt und bestätigt" (StGBl. Nr. 174/1919). Wie bei der Festlegung der Staatsform war auch hierüber kein einstimmiger Beschluß zustandegekommen. Der spätere Bundespräsident Wilhem Miklas stimmte als einziger dagegen, er wollte "die endgültige Entscheidung" einer "Volksabstimmung" vorbehalten, 58 was die Nationalversammlung anläßlich der 51 52 53 54 55

Abg. Julius Dfner in Steno Prot. Prov.NV, 75. Ders. ebda., 568. Berichterstatter Anton Kofler (dt. VP) ebda., 567 ff; Dfner (Anm. 52). Der Verantwortlichkeits-Ausschuß der Prov.NV wurde nicht mehr bestellt. Kelsen, Verfassungsgesetze (Anm. 1) I, 75. 56 Renner in Steno Prot. Prov.NV, 67. 57 Dazu: Nawiasky (Anm. 1) und Kelsen, Organisation (Anm. 1). 58 Dazu: Renner in Steno Prot. Prov.NV, 65 sowie Wilhelm Miklas (cs.) ebda., 68; er wird später, im März 1938, zwei solchen Volksabstimmungen gegenüberstehen.

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Beschlußfassung über das B-VG am 1. Oktober 1920 mit einer Resolution von der Regierung auch fordern wird (unten bei Anm. 246). Die künftige staatsrechtliche Verbindung mit dem Deutschen Reich war zwar bloß ein politisches Bekenntnis, doch fand es Ausdruck auch in konkreten Verhandlungen auf Regierungsebene zwischen den Außenministern beider Staaten, Otto Bauer und Graf Brockdorff-Rantzau in Berlin im Februar und März 1919 betreffend den Abschluß eines Staatsvertrages über den Zusammenschluß des Deutschen Reiches und Deutschösterreichs 59 sowie in verschiedenen Gesetzen 60 der Nationalversammlung, etwa in der Festlegung der Farben des Staatswappens mit "schwarz-rot-gold" als Versinnbildlichung der "nationalen Zusammensetzung der Republik Deutschösterreich " (StGBl. Nr. 257/1919), was der Nationalversammlung damals offenbar so selbstverständlich schien, daß darüber nicht einmal diskutiert wurde. 61 Der Staatsgründungsbeschluß hatte zwar ausschließlich zentrale Staatsorgane geschaffen, doch ging er, ohne dies explizit auszusprechen, davon aus, Deutschösterreich bestehe aus Ländern und sei analog der Verfassungsordnung von 1861/67 als dezentralisierter Einheitsstaat organisiert. Faktisch war diese Entscheidung schon vor der Staatsgrundung gefallen, und zwar einerseits im Einvernehmen der Länder untereinander am 22. sowie zwischen diesem und der Zentralgewalt am 25. Oktober 1918 62 andererseits. Die originäre Entstehung neuer Landesgewalten vollzog sich unmittelbar darauf zwischen 26. Oktober (Tirol und Kärnten) und 18. November (Oberösterreich), 63 partiell also sogar noch vor der Gründung des Gesamtstaates. Die Länder sahen sich selbst zwar als "eigenberechtigt" und "selbständig", dies jedoch innerhalb eines Verbandes mit anderen 59 Protokoll vom 2.3.1919 betreffend den Abschluß eines Staatsvertrages über den Zusammenschluß des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreich, in HHStA, Staatsurkundensarnmlung, Deutsches Reich, 1919 März 2, Berlin; Abschrift ebda., NPA Karton 233/ I fol. 1-268 (Nachlaß Otto Bauer). 60 Etwa in der Zulassung deutscher Staatsbürger, die sich in Deutschösterreich aufhalten, zur Wahl der Konst.NV (StGBl. Nr. 15/1919), oder in der Entsendung von fünf Vertretern zu den Verhandlungen des deutschen Verfassungsausschusses (Sten. Prot. Konst.NV vom 24.3.1919,243 ff., insbes. 243, 265: Wahl der Delegation); sodann im G "über die Staatsregierung", das den Bestand bestimmter Staatsämter nur bis zur Durchführung des Anschlusses gewährleistete (Art. 10 StGBl. Nr. 180/ 1919 unter Verweis auf Art. 2 des G "über die Staats- und Regierungsform" , StGBl. Nr. 5/1918); das InvalidenentschädigungsG (StGBl. Nr. 245/1919) sollte außer Kraft treten, "sobald ... ein für Deutschösterreich geltendes Gesetz des Deutschen Reiches eine abweichende Regelung trifft". 61 202 und 204 BlgKonst.NV sowie Steno Prot. Konst.NV, 315 f. - Hierzu vgl. Christian Neschwara, Mißdeutete Geschichte des Staatswappens, in: Die Presse 27.1.1992,4. 62 Brauneder (Anm.1), 192; ders., Das Verhältnis Gesamstaat-Länder und die Entstehung der Republik Deutschösterreich (Ein Forschungsbericht), in: Anton Ableitinger (Hrsg.), Studien zur Zeitgeschichte der österreichischen Länder I: Demokratisierung und Verfassung in den Ländern 1918 -1920, 1983, 29 ff. 63 Kelsen, Verfassungsgesetze (Anm. 1) III, 181 ff.

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gleichartigen Einheiten, der Organisation des Gesamtstaates zu- und untergeordnet. Die selbständige Konstituierung neuer Landesgewalten war aber nicht ohne Einflußnahme jener politischen Kräfte geschehen, welche auch die Gründung des Gesamtstaates vollzogen. Offenbar vom Vollzugs ausschuß der Provisorischen Nationalversammlung hierzu beauftragt, hatte Karl Renner die künftigen "Länder, Kreise und Gaue" aufgefordert, Beitrittserklärungen abzugeben und, sofern nicht schon geschehen, "provisorische Landesversammlungen " zu bilden. Die bereits vorliegenden Erklärungen 64 nahm die Nationalversammlung am 12. November "feierlich" zur Kenntnis (StGBl. Nr. 23), erklärte die "bisherigen Landtage" für aufgehoben und ersetzte sie durch "provisorische Landesversammlungen" . Verfassungsgrundlage der Länder blieben grundsätzlich die bereits am 30. Oktober mit dem Staatsgründungsbeschluß rezipierten Landesordnungen 1861, mit dem Gesetz "betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern" (StGBl. Nr. 24) vom 14. November 1918 wurde die Gesetzgebung der Länder lediglich präzisiert. 65 Während ein Teil der Nationalversammlung 66 den Erlaß dieser "provisorischen Verfassung" der Länder, als bloß "für eine Übergangszeit" geltend, verteidigte, sprachen sich andere Abgeordnete dahingehend aus, daß die "Unterteilung nach Ländern ... entbehrlich geworden" sei, da die "Landtage keine Berechtigung mehr" besäßen, werde doch künftig "Deutschösterreich Teil der Deutschen Republik" sein. 67 Die als Übergangslösung gedachte Stellung der Länder wurde aber auch von der Konstituierenden Nationalversammlung grundsätzlich nicht geändert. 68 Während Ignaz Seipel (es.) 69 als Berichterstatter anläßlich der Beschlußfassung über das Gesetz "über die Volksvertretung" betonte, es sei bereits "gelungen ... , dem Staat zu geben, was des Staates, und den 64 Dazu Georg Froehlich, in: Felix Ermacora (Hrsg.), Die Entstehung der Bundesverfassung 1920. Dokumente der Staatskanzlei über allgemeine Fragen der Verfassungsreform (= Öst. Schriftenreihe f. Rechts- und Politikwissenschaft 9/11), Wien 1989, 34 ff. 65 Dazu Brauneder (Anm. 1), 192 f.; Hans Kelsen, Die Entwicklung des Staatsrechts in Oesterreich seit dem Jahre 1918, in: Georg Anschütz / Rudolf Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts (=Das öffentliche Recht der Gegenwart 28), Tübingen 1930, 148, wo auch Kelsen erstmals von der dezentralisierten Organisation Deutschösterreichs spricht. 66 Zum Folgenden: Steno Prot. Prov.NV, 109 ff.; interessant hier der Hinweis des df. Abg. Paul Hock (110), daß der Gesetzesentwurf von Abg. Jodok Fink (es.) offenbar nur referiert werde, sein Urheber aber jemand anderer sei. Zu vermuten ist, daß es KarZ Renner war, da dieser in der Diskussion die Ausführungen Finks verteidigte (112 f.) und zwischen dem beschlossenen Gesetz und dem "Entwurf einer provisorischen Verfassung" große Ähnlichkeiten bestehen. 67 Signifikant Hocks Kritik in Steno Prot. Prov.NV, 110, die Bezeichnung "Deutschösterreich" sei unter Berücksichtigung des Anschlusses an die Deutsche Republik "unglücklich", passender wäre "Südostdeutschland": also jene die Renner in seinem "Entwurf einer provisorischen Verfassung" vorgesehen hatte. 68 Vgl. die Art. 12 -15 leg. cit. 69 Dazu: Steno Prot. Konst.NV, 65 f. (Ignaz Seipel); ebda.,77. (Robert Preußler, sd.).

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Ländern zu lassen, was den Ländern gebührt", man solle daher "das jetzt Bestehende ... festhalten ", forderte der sozialdemokratische Abgeordnete Robert Preußler ergänzend, die "Existenz" der Landtage dürfe "nur von sehr kurzer Dauer sein", denn diese und ein "deutschösterreichischer Landtag" seien in Hinblick auf den zu erwartenden Anschluß an das Deutsche Reich geradezu eine "Lächerlichkeit". Die von Renner initiierten Beitrittserklärungen der Länder bildeten auch die Grundlage für die Festlegung des Staatsgebietes. Gleichzeitig mit dem zuvor genannten Gesetz "betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern" sollte am 14. November in Form einer "genaue(n) Erläuterung" der im Staatsgrundungsbeschluß enthaltene "allgemeine Begriff" "geschlossen deutsches Siedlungsgebiet" - gesetzlich fixiert werden. Der vom Staatsrat vorgelegte Gesetzentwurf beschränkte die "volle Gebietshoheit" Deutschösterreichs konsequent auf diesen Bereich innerhalb des ehemaligen österreichischen Staatsgebietes. Neben diese sollten noch weitere Formen einer "beschränkten Gebietshoheit" 70 treten. Der Verfassungsausschuß gestaltete den Staatsratsvorschlag aber technisch und inhaltlich um. Die technischen Modifikationen führten zur Trennung in ein Gesetz, welches sich auf die "volle Gebietshoheit" , also das Staatsgebiet, und in eine ergänzende "Staatserklärung" , welche sich auf die übrigen Formen der "beschränkten Gebietshoheit" bezog. Die inhaltlichen Änderungen führten aber auch dazu, daß Sprachinseln innerhalb des jugoslawischen und tschechischen Staatsgebietes als Exklaven dem deutschösterreichischen Staatsgebiet angehörten. Auf Ersuchen des Staatsrates, dem dies nicht praktikabel schien, wurde der Entwurf mit dem Vorschlag, die Fassung des Staatsratsvorschlags wiederherzustellen, an den Verfassungsausschuß zurückverwiesen. Zum Teil kam man dort diesem Wunsch auch nach, auf die Sprachinseln Brünn, Iglau und Olmütz in Mähren wollte man aber nicht verzichten. 71 Faktisch konnte Deutschösterreich seine Staatsgewalt in diesen Exklaven, sowie in den übrigen in Böhmen, Mähren und Schlesien gelegenen Teilen des Staatsgebietes nach Okkupation durch tschechische Truppen aber nicht mehr ausüben. Im Süden war dies aufgrund jugoslawischer Besetzung der Südsteiermark und in Südkärnten bzw. in Südtirol wegen italienischer Besetzung sogar nie möglich gewesen. Gegen diese Einschränkungen des nationalen Selbstbestimmungsrechts hatte die Konstituierende Nationalversammlung zwar am 12. März 1919 mit dem Gesetz "über das besetzte Staatsgebiet" "feierlichen Einspruch" erhoben (Art. 1 StGBl. Nr. 175/1919), letztlich aber ohne Erfolg, da der Staatsvertrag von St. Dazu die "StaatserklälUIlg" (StGBl. Nr. 41) Punkt 1 bis 7. Dazu: 3 BlgProv.NV (Staatsratsvorlage), 21 (AB); Steno Prot. Prov.NV, 108 (Rückverweisung 14.11.), 138 (Camillo Kuranda, df.) am 22.11.). 70

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Germain den de facto bestehenden Zustand - von Ausnahmen gegenüber Jugoslawien und Ungarn vorerst abgesehen - bereits wenige Monate später rechtlich fixierte. Der Wegfall der Möglichkeit, die deutschsprachigen Gebiete des ehemaligen Staates Österreich in einem neuen Staat zu vereinigen, zog weitere Änderungen der staatsrechtlichen Konzeption Deutschösterreichs nach sich. Zunächst wurde, da die authentische französische Fassung des Staatsvertrags "Autriche" als Bezeichnung für Deutschösterreich verwendete, als neuer Staatsname "Republik Österreich" verfassungsrechtlich verankert; dies gegen zahlreiche Stimmen, welche die Notwendigkeit dieser Maßnahme bezweifelten. 72 Das im Staatsvertrag normierte Anschlußverbot gegenüber benachbarten Staaten 73 sowie die Fixierung des Staatsgebietes führten in der Folge auch zur Aufgabe der einheitsstaatlichen Konzeption Deutschösterreichs und zur Hinwendung zu einer bundesstaatlichen Lösung, welche bei den unmittelbar nach Abschluß des Staatsvertrages einsetzenden Vorarbeiten für eine definitive Verfassung stets im Auge behalten wurde. Am Standpunkt der Diskontinuität hielt man jedoch fest. Die Nationalversammlung nahm unter "feierlichem Protest" 74 die Deutschösterreich im Staatsvertrag auferlegten Pflichten freiwillig hin, nahm sie "zur Kenntnis", ohne jedoch die Rechtsnachfolge zum Staat Österreich anzuerkennen. 2. Die "definitive" Verfassungsordnung Österreichs: Das Bundesverfassungsgesetz 1920

a) Entwicklung aal Institutioneller Rahmen Die Verfassungsordnung der Republik Deutschösterreich galt als Provisorium, das durch eine definitive Verfassung zu ersetzen war. Diese Aufgabe wurde von der "provisorischen" Verfassung einer vom gesamten Volk zu wählenden "Konstituierenden" Nationalversammlung vorbehalten. Am 4. März 1919 war diese erstmals zusammengetreten, ihre Gesetzgebungspe72 Vgl. die RV 410 BlgKonst.NV sowie Steno Prot. Konst.NV, 865 ff., 874. - Der Gesetzestext schließt einen Komprorniß in sich, der die gegenteiligen Ansichten ausgleicht: Art. 1 lautet: "Deutschösterreich ist ... eine demokratische Republik" (= Art. 1 des G "über die Staats- und Regierungsform, StGBl. Nr. 5(1918), insofern hatte sich also nichts geändert, doch folgte der Zusatz: "unter dem Namen Republik Österreich" (StGBl. Nr. 484 vom 21.10.1919). 73 Glz. wurde Art. I des G "über die Staatsform" (StGBl. Nr. 174) aufgehoben, welcher lautete: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil des Deutschen Reiches". 74 Zur Genehmigung: AB 383 BlgKonst.NV ; zur Debatte im Plenum: Steno Prot. Konst.NV, 763 ff., insbes. 798 (Abstimmung).

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riode dauerte gemäß Gesetz vom 18. Dezember 1918 zwei Jahre. 75 Obgleich ihr bereits seit 14. Mai 1919 ein Verfassungsentwurf der Christlichsozialen vorlag,76 unternahm sie zunächst keine Schritte zur Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgabe als "Konstituante". Die Verhandlungen um den Staatsvertrag von St. Germain von Ende Mai bis Mitte September 1919 hemmten vorerst jegliche parlamentarische Aktivität in dieser Richtung. Die Initiative zur Erarbeitung der definitiven Verfassung lag daher zunächst bei außerparlamentarischen Kräften, insbesondere bei der Staatsregierung, welche nicht nur den Entwicklungsgang dieser Arbeiten bis zur Befassung des Parlaments beeinflußten, sondern auch deren Inhalt bereits weitestgehend prägten und gestalteten. Ursächlich dafür, daß das Parlament vorerst völlig im Schatten der Regierung stand, war jedoch nicht eine Rivalität beider Einrichtungen, sondern, daß beide Institutionen von den selben politischen Kräften, den politischen Parteien, getragen wurden, die sich beider Organe bedienten, den Bemühungen innerhalb der Regierung aber zunächst den Vorzug gaben. Auch die Bildung einer christlichsozial-sozialdemokratischen Koalitionsregierung nach Abschluß des Staatsvertrages brachte zunächst keine Änderung. Erst mit deren Scheitern im Juni 1920 und der darauffolgenden Wahl einer Proporzregierung, welcher alle politischen Kräfte der Nationalversammlung angehörten, gewann das Parlament seine Bedeutung als "Konstituante" zurück und konnte in knapp mehr als drei Monaten, wenige Tage vor Ablauf ihrer Gesetzgebungsperiode, die definitive Verfassung doch noch fertigstellen. Impulse zur inhaltlichen Gestaltung dieser Verfassung gingen auch von den Organisationen der politischen Parteien in den Ländern aus, die auf mehreren Länderkonferenzen mit eigenen Vorstellungen und Wünschen die Struktur der Verfassung, vor allem nach Abschluß des Staatsvertrages von St. Germain, beeinflußten. 77 bb) Äußerer Ablauf a) Außerhalb des Parlaments

Unmittelbar nach der Staatsgrundung, am 7. November 1918, hatte der Staatsrat Staatskanzler Renner beauftragt, für die Vorbereitung der Verfassungs arbeiten in der Staatskanzlei Abteilungen "für den Verfassungsreformdienst" sowie "für den Verwaltungsreformdienst" einzurichten und 75 StGBl. Nr. 114 und 115. 76 BlgKonst.NV 231 - vgl hierzu auch Schmitz (Anm.34), 93 sowie dens., Die

Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung (= Schriftenreihe Hans Kelsen-Instituts 6), Wien 1981, 41 f; Felix Ermacora (Hrsg.), Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht (1920) (=MöStA Erg.Bd. VIII), Wien 1967, 29 ff. 77 Felix Ermacora (Hrsg.), Die Entstehung der Bundesverfassung 1920, I. Die Länderkonferenzen 1918/1920 und die Verfassungsfrage (= Österr. Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft 9/1), Wien 1989, VIII, 1. 7 Parlamentarismus

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hierfür ehemalige Beamte der österreichischen Monarchie als wissenschaftliche Mitarbeiter zu übernehmen, 78 da es "zweckmäßig, wenn nicht geradezu notwendig" schien, "in einem engeren Kreis von wissenschaftlichen Mitarbeitern die kommende Verfassung in ihren Grundzügen vorzubereiten". Kurz darauf wurde etwa Hans Kelsen als Konsulent in den Verfassungsreformdienst aufgenommen. 79 Erste Vorschläge der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Staatskanzlei bis Mitte 1919, etwa ein Gutachten Kelsens über die "Stellung der Länder in der künftigen Verfassung Deutschösterreichs" sowie mehrere Stellungnahmen der Abteilungen für den Verfassungs- und Verwaltungsreformdienst empfahlen die "Umwandlung Deutschösterreichs in einen Bundesstaat". 80 Zum "Vorgehen über den Entwurf einer bundesstaatlichen Verfassungsurkunde", schlug der Verfassungsreformdienst vor, den "Entwurf der Bundesverfassung ... unter Vorsitz des Staatskanzlers", unter Einbeziehung der Abteilungen für Verfassungsgesetzgebung und Verwaltungsreform, in der Staatskanzlei auszuarbeiten. Danach sollte dieser Beratungen mit den Staatsämtern sowie anderen staatlichen Stellen unterzogen und schließlich "einzelnen wissenschaftlich auf dem Gebiet des Verfassungsund Verwaltungsrechtes besonders hervortretenden Persönlichkeiten" zur Begutachtung übergeben werden. Nach diesen Vorarbeiten sollte der Entwurf Gegenstand politischer Verhandlungen mit den Parteien und den Ländern sein. 81 Mit der Erstellung des "Entwurfes einer Bundesverfassung" war Hans Kelsen von Staatskanzler Renner, kurz vor dessen Abreise zu den Friedensverhandlungen nach Paris, im Mai 1919 beauftragt worden. Im Laufe des Sommers erarbeitete Kelsen nach von Renner vorgegebenen "Richtlinien" den gewünschten Entwurf sowie aus eigener Initiative bis Mitte September noch weitere Entwürfe, die den "politischen Eventualitäten" Rechnung trugen. 82 Die Arbeiten der Staatskanzlei begleiteten seit Ende November 1918 sogenannte "LänderkonJerenzen ", die von allen Ländern, die Deutschösterreich als Staatsgebiet beanspruchte, mit Vertretern beschickt wurden. Sie 78 Zur Entstehung dieser Abteilungen: Schmitz (Anm. 34), 17 ff. sowie ders. (Anm. 76), 27; Ermacora (Anm. 64), 2 f. Anm. 5 sowie ders. (Anm. 76), 188. 79 Zum Eintritt Kelsens in die Staatskanzlei Schmitz (Anm.34), 21 ff., 149 ff.; ders. (Anm. 76), 27; ders., Die Verfassungsgespräche mit den österreichischen Ländern 1919/20, in: ZNR 1979, 23. 80 Ermacora (Anm. 64), 17 ff., 30 ff., 32 ff.; weitere vorbereitende Arbeiten der StKzlei zur verfassungsrechtlichen Einrichtung Österreichs als Bundesstaat: ebda., 3 ff., 20 ff., 27 ff., 34 ff. 81 Ebda., 32 ff, 34. 82 Ebda., 2; ders. (Anm. 76), 188 f.; ders., Die Entstehung der Bundesverfassung. Die Sammlung der Entwürfe zur Staats- bzw. Bundesverfassung (= Österr. Schriftenreihe f. Rechts- und Politikwissenschaft 9/ IV), Wien 1990, 45 f.; Schmitz (Anm. 76), 45. - Über briefliche Kontakte Renners und Kelsens: ders. (Anm. 34), 30 ff.

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dienten als "föderatives Forum", auf dem für die künftige Verfassung wichtige Vorentscheidungen fielen. 83 Die erste Besprechung zwischen Vertretern der Staatsregierung und der "Landesregierungen" fand am 23. November 1918 in der Staatskanzlei in Wien statt, sechs weitere folgten bis 13. Oktober 1919. 84 Die Verfassungsfrage selbst war ab der dritten Länderkonferenz vom 31. Jänner und 1. Februar 1919 Gegenstand der Beratungen;85 auf der letzten vom 12. und 13. Oktober 86 forderten die Ländervertreter bereits die "Beratung der einzuleitenden Vorverhandlungen behufs Fertigstellung des Verfassungsentwurfes" , nachdem eine Entschließung des Tiroler Landtages vom 27. September nicht nur eine stärkere Einbindung der Länder in die "Vorberatungen der Verfassung" forderte, sondern auch die Bedingung stellte, daß die künftige Verfassung nur mit Zustimmung der Länder beschlossen werden dürfe. Da nach Ansicht· Renners nach diesem Plan "in 10 Jahren ... die Verfassung ... nicht fertig" geworden wäre, machte er, um Verzögerungen zu vermeiden, den Vorschlag, daß die Staatsregierung zunächst Verhandlungen mit den Parteien der Nationalversammlung führen und im Einvernehmen mit diesen einen Verfassungsentwurf ausarbeiten werde. Danach sollte dieser in Grundzügen einer Länderkonferenz zur Kenntnis gebracht und nach Äußerungen der Landesregierungen neuerlich mit den Parteien der Nationalversammlung besprochen werden. Anschließend werde der Regierungsentwurf der Nationalversammlung vorgelegt und dem Verfassungsausschuß zugewiesen. Dieser werde einen Unterausschuß einsetzen, in einer Art Enquete mit Vertretern der Landesregierungen den Verfassungsentwurf verhandeln und der Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorlegen. Zur zeitlichen Disposition bemerkte Renner, daß diese zwar von wichtigen Vorfragen, etwa der Eingliederung des Burgenlandes, abhänge, doch lägen bereits "fertige Entwürfe in der Staatskanzlei, sogar drei", vor, sodaß "in der Sommersession oder spätestens in der Herbstsession des nächsten Jahres der Verfassungsentwurf in zweiter Lesung in der Nationalversammlung" verhandelt werden könne. Für die Einleitung der Verfassungsarbeiten nach Renners Plan war es zunächst erforderlich, mit den Parteien der Nationalversammlung Fühlung zu nehmen. Die erste gewählte Regierung Deutschösterreichs war zwar nach Ratifikation des Staatsvertrages von St. Germain zurückgetreten, doch bildeten Christlichsoziale und Sozialdemokraten unmittelbar darauf eine Regierung, welche in einem "Koalitionsprogramm " vom 17.0kto83

Ermacora (Anm. 77), VIII f.; Schmitz (Anm. 76), 56.

84 Ermacora (Anm. 64), 34. 85 Ebda., 5 ff., 57 f.; Felix Ermacora / Christine Wirth, Die österreichische Bundes-

verfassung und Hans Kelsen (= Österr. Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft 4), Wien 1982, 10. 86 Zum Folgenden: Ermacora (Anm. 77), 59, 60, 62 f., 63 f., 64 f., 65 f.; Ermacora / Wirth (Anm. 85), 10 f., 12. 7*

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ber 1919 87 die Richtlinien für die weiteren Verfassungsarbeiten festlegte. Danach war von der Regierung "möglichst schnell" ein Verfassungsentwurf zu erstellen, der "Deutschösterreich als Bundesstaat" konstituiert. "Vor seiner Vorlegung an die Nationalversammlung" sollte dieser "zunächst mit den beiden Parteien" besprochen werden. Danach wollte man "mit den Landesregierungen Fühlung" aufnehmen und in der Nationalversammlung "der Vorberatung des Entwurfs" abermals Vertreter der Länder als Experten beiziehen. Zur Koordinierung des Arbeitsablaufs wurde der christlichsoziale Abgeordnete Michael Mayr als Staatssekretär "mit dem bloß persönlichen Aufgabenkreis der Mitarbeit an der Verfassungs- und Verwaltungsreform" bestellt. Noch während dieser Koalitionsverhandlungen hatte Karl Renner mit Einberufung von Vertretern aller Staatsämter, des Rechnungshofes und der Statistischen Zentralkommission zu einer Besprechung für 11. Oktober 1919 die Verfassungsarbeiten bereits eingeleitet. Ein "Expose" 88 für diese Sitzung erwähnt auch, daß "bei der Staatskanzlei der Entwurf einer auf dem Prinzip des Bundesstaates aufgestellten Verfassungsurkunde in Bearbeitung" stehe, welcher aber "noch nicht an die Staatsmänner versendet werden" könne, "da gewisse politische Vorfragen erst gelöst werden müssen". Doch sollte zumindest "schon jetzt in Erwägung gezogen werden ... , welche Zuständigkeiten in Gesetzgebung und Verwaltung im Bundesstaat dem Oberstaate vorzubehalten wären, und welche den Ländern als künftige Gliedstaaten übergeben werden könnten".

Renner selbst schlug für die "Ausarbeitung eines Bundesverfassungsentwurfs" vor, der Konstruktion des Zusammenwirkens von Bundes- und Landesgewalt "das in der deutschen Verfassungsurkunde enthaltene formelle System ... zugrunde zu legen" 89 und stellte ein von der Staatskanzlei ausgearbeitetes "Schema für die von den einzelnen ... Ressorts zu beantwortenden Fragen" der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern 90 in Aussicht. Dieses wurde kurz darauf den Staatsämtern übergeben. Da die Staatskanzlei aber noch "an einem formulierten Entwurf" arbeitete, empfahl Staatssekretär Mayr auf der folgenden Sitzung am 13. November den Staatsämtern, bei der Erstellung des Kompetenzkatalogs zunächst vom Schema des chrlstlichsozialen Entwurfs auszugehen. Er teilte dort auch mit, daß nach Auswertung dieser "gutachtlichen Äußerungen" Anfang Dezember unter seiner Führung Verhandlungen mit den Ländern beginnen. 91 87 Ermacora (Anm. 76), 9 f.; ders. (Anm. 77), 59 ff., 350; Schmitz (Anm. 79), 21 f. sowie ders. (Anm. 34) 65 ff. 88 Ermacora (Anm. 64), 53 f.; ders. (Anm. 77), 59, 60 Anm. 35. 89 Ebda., 73 f., 76. 90 Ebda., 54, 75.

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Die bis Anfang Dezember 1919 einlangenden Rückäußerungen der Staatsämter waren zunächst also nicht auf den Entwurf der Staatskanzlei bezogen. Erst am 19. November ordnete Renner an, den Staatsämtern "über die Grundzüge des Kelsen'schen Entwurfes Mitteilung zu machen", diesen aber für künftige Besprechungen als "vollkommen unverbindlich", als "vorläufige Grundlage" zu behandeln. 92 Auch die Aktivitäten der Staatskanzlei konzentrierten sich vorerst nicht auf diesen Verfassungsentwurf, sondern auf die Ausarbeitung und Analyse der eingegangenen Ressortsmeinungen zum "Fragenschema " für den zu erstellenden Kompetenzkatalog. 93 Erst Ende Dezember 1919 war hierfür ein nach Paragraphen gegliederter und mit Anmerkungen versehener "legistischer Vorentwurf" fertiggestellt; er spielte daher in den von Staatssekretär Mayr Mitte Dezember begonnenen Verfassungsgesprächen in den Ländern noch keine Rolle. Mayr verwendete dabei ein von der Staatskanzlei erstelltes, als "Übersicht über die grundlegenden Fragen des Bundesstaatsproblems samt einer unverbindlichen Zusammenstellung von eventuellen Richtlinien für die Lösung dieser Frage" bezeichnetes Konzept, welchem mit Ausnahme der Kompetenzbestimmungen ein Kelsen-Entwurf, ein nicht näher bezeichneter "Entwurf V" ,94 zugrundelag. Ausgestattet mit diesem Informationsmaterial bereiste Mayr von 18. Dezember 1919 bis 25. Jänner 1920 alle künftigen Bundesländer. 95 Bereits auf seiner zweiten Station, am 29. Dezember in Innsbruck, wurde er mit einer Entschließung des Tiroler Landtages konfrontiert, zwischen 8. und 13. Jänner in Salzburg eine Länderkonferenz abzuhalten, auf der ein im Auftrag 91 Ders. (Anm. 64), 81 f., 82 ff., 83, 80, 83, 82. - Zu dem erwähnten "formulierten Entwurf" vgl. dens. (Anm. 82), 244 mit Zweifeln, ob der ebda. 245 ff. enthaltene Text eines "Ministerial"-Entwurfes mit jenem identisch ist. 92 Ebda., 84, 85. Ein Textvergleich der Kelsen-Entwürfe mit der Mitschrift eines der Teilnehmer auf der Sitzung vom 22. November ergibt, daß es sich um Entwurf III bzw. VI handelt: so Ermacora (Anm. 64), 85, 86 Anm. 114; offenbar irrig Ermacora / Wirth (Anm. 85), 20 f.: Entwurf L 93 Die rücklangenden Stellungnahmen bei Felix Ermacora (Hrsg.), Die Entstehung der Bundesverfassung 1920. Materialien und Erläuterungen (= Österr. Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft 9/111), Wien 1986, 10-116; ebda., 110 ff. die Stellungnahme des StA / Äußeres, dessen Anmerkungen Verweisungen auf die Artikel4, 14, 15, 29, 63, 122, 123, 141 und 143 des zugrundeliegenden Entwurfs der StKzlei zeigen; sie bestätigen, mit Ausnahme der Verweisung auf Artikel 63, die Vermutung (Anm. 92), daß der von der StKzlei vorgelegte Entwurf Kelsens Entwurf III bzw. VI entsprach. 94 Schmitz (Anm. 76), 66 ff.; Ermacora (Anm. 64), 93, 94 Anm. 9; ders. (Anm. 82), 275; Schmitz (Anm. 79), 23. 95 Ermacora (Anm. 64), 93, 94 ff., 102, 102 ff. (Salzburg 18.12.1919), 110 ff. (Innsbruck 29.12.1919), 114 ff. (Linz 3. und 7.1.1920), 124 ff. (St. Veit 9.1.1920), 128 ff. (Graz 10. U. 12.1.1920), 130 ff. (Wien 22.1.1920), 148 ff. (Bregenz 25.1.1920); Ermacora (Anm. 76), 66 in Anm.; Schmitz (Anm. 76), 69, 61 f.; ders. (Anm. 79), 24 sowie ders. (Anm. 34), 102 ff.

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des Landtages ausgearbeiteter Verfassungsentwurf, der sogenannte "Entwurf Falser", zur Beratung kommen sollte. Mayr erreichte zwar eine Verlegung dieser Konferenz auf 15. Februar und konnte die Verfassungs,gespräche in den übrigen Ländern fortsetzen, doch gelang es ihm nicht, durch einen "die Interessen des Ganzen entsprechend wahrenden Verfassungsentwurf" die Vorstellungen einzelner extrem autonomistisch eingestellter Vertreter der Christlichsozialen in den Ländern auf ein für die bundesstaatliehe Struktur erträgliches Mittelmaß zu reduzieren. Er konnte aber durchsetzen, daß auf der Salzburger Tagung nicht der "Entwurf Falser" zur Beratung kam, sondern ein von ihm unter Berücksichtigung der Länderwünsche selbst ausgearbeiteter Entwurf. 96 Die an Staatssekretär Mayr herangetragenen Stellungsnahmen der Länder wurden von der Staatskanzlei zum Teil in den Verfassungsentwurf eingebaut: der überarbeitete Kompetenzkatalog konnte bereits am 21. Jänner 1920 97 den Staatsämtern zur neuerlichen Stellungnahme übergeben werden. Die bis 9. Februar rücklangenden Antworten waren überwiegend positiv gehalten, einige Änderungsvorschläge fanden Aufnahme in den Entwurf der Staatskanzlei. Da Staatssekretär Mayr für die Salzburger Länderkonferenz einen eigenen Verfassungsentwurf in Aussicht gestellt hatte, wurde in der Staatskanzlei ein weiterer Entwurf konzipiert. Unter Mitwirkung von Kelsen und einem weiteren Beamten der Staatskanzlei, Georg Froehlich, entstand eine durch den Staatskanzlei-Kompetenzkatalog modifizierte Fassung eines der Kelsen-Entwürfe, welche von Mayr noch vor der Salzburger Tagung am 10. Februar in der Reichspost veröffentlicht wurde. Da zur Salzburger Konferenz mit Ausnahme von Staatssekretär Mayr kein weiterer Vertreter der Staatsregierung eingeladen worden war, beschloß der Kabinettsrat, Mayr als inoffiziellen Vertreter der Staatsregierung zur Teilnahme zu ermächtigen,98 wies ihn aber an, dort hinreichend klarzustellen, daß sein Entwurf keine Regierungsvorlage sei, durch welche "Präjudize" geschaffen würden. 96 Ermacora (Anm. 64), 154; Schmitz (Anm. 76), 79; ders. (Anm. 79), 36 sowie ders. (Anm. 34), 195 ff. - Zum "Entwurf Falser": unten bei Anm. 133; Text bei Ermacora (Anm. 76), 66 ff. sowie bei dems. (Anm. 82), 503 ff. 97 Ders. (Anm. 76), 73; ders. (Anm. 93), 140, 141 ff., 16 ff.; ders. (Anm. 64), 183 insbes. Anm 99: Aufgrund des von den StÄ übermittelten Materials und den von Ländervertretern gestellten Forderungen erstellte die StKzlei eine legistische Fassung eines Kompetenzkataloges, der von Mayr am 21.1.1920 den StÄ mit der Bitte um neuerliche Stellungnahm(t,bis 3.2.1920 zugesandt wurde; vgl. dazu auch Schmitz (Anm. 76), 74 Anm. 153 und Ermacora (Anm. 82), 275. 98 Schmitz (Anm. 76), 78.; ders. (Anm. 79), 36 f., 38 f.; Ermacora (Anm. 77), 89, 89 ff., 166 ff., 331 (hier das Prot. des Kabinettsrates vom 10.2.1920); Text des Privatentwurfes bei Schmitz (Anm. 76), 114 ff. (hier auch eine Variante des Entwurfs, welche am 7. Februar dem Präs. d. NV, Karl Seitz, vorlag) und bei Ermacora (Anm. 82), 290 ff.

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Der von Mayr der Salzburger Länderkonferenz am 15. Februar als" Vorentwurf einer Bundesverfassung" vorgestellte Text galt zwar auch ihm selbst "noch nicht vollständig durchgearbeitet", doch schien ihm zumindest der in der Staatskanzlei erstellte Kompetenzkatalog mit dem Schema einer Dreiteilung der Kompetenzverwaltung zwischen Bund und Ländern bereits derart ausformuliert, "daß die Frage spruchreif ist". 99 Die bürgerlichen Parteien stimmten zu, doch machten die Sozialdemokraten insofern Vorbehalte, als die "ganze Frage der Kompetenzbestimmungen in Zusammenhang mit der Finanzverfassung erst sorgfältig erwogen werden" sollte. Die Salzburger Konferenz hatte für sie lediglich den Charakter eines "unverbindlichen Gedankenaustausch(es)", sie wurde am 17. Februar ohne greifbares Ergebnis geschlossen und "auf Linz" vertagt, wo vom 20. bis 23. April die Verfassungsfrage abermals erörtert werden sollte. 100 Nach Beendigung der Salzburger Tagung wandte sich Staatssekretär Mayr unter Mitwirkung von Vertretern der Staatskanzlei der neuerlichen Überarbeitung seines Verfassungsentwurfes zu. Die ,,2. Fassung" seines "Vorentwurfes einer Bundesverfassung" wurde am 2. April an die Landeshauptleute versandt, um den Ländern Gelegenheit zu geben, sich mit dem neuen Entwurf bis zum Beginn der Linzer Konferenz vertraut zu machen. 101 Auf der Linzer Tagung waren, neben den politischen Parteien, auch die Staatskanzlei sowie die Staatsämter für Finanzen und für Land- und Forstwesen vertreten; für die Staatsregierung kam Staatssekretär Mayr. 102 Neben 103 dessen "Vorentwurf einer Bundesstaatsverfassung, 2. Fassung" diente als Grundlage der Verhandlungen auch ein großdeutscher sowie ein sozialdemokratischer Verfassungsentwurf, der Mayrs Vorentwurf sehr ähnlich war, da beiden dasselbe Vorbild zugrundelag: Der ,,1. Entwurf einer Bundesstaatsverfassung" , der von Hans Kelsen für Staatssekretär Mayr für die Salzburger Länderkonferenz ausgearbeitet worden war. Darauf beruhte letztlich auch der Erfolg der Linzer Länderkonferenz, da mit diesem Entwurf die politischen Parteien, einschließlich der Länderorganisationen, eine gemeinsame Verhandlungsbasis gefunden hatten. Der zweite "Vorentwurf" Mayrs, den die Christlichsozialen unterstützten, und der sozialdemokratische Entwurf stimmten, wie Kelsen - der maßgebliche Verfasser der gemeinsamen Grundlage beider Entwürfe - betonte, nicht nur "in System 99

Ermacora (Anm. 93), 169.

Ebda., 170 mit weiteren Belegen über Gespräche Mayrs nach der Salzburger Konferenz: 171 ff., 174 ff.; ders. (Anm. 82), 275. 101 Ders. (Anm. 93), 181 ff., 179 ff.; Schmitz (Anm. 76), 82 Anm. 16l. 102 Ermacora (Anm. 77), 197 ff., 313. 103 Zum Folgenden ebda., 204; Schmitz (Anm. 76), 90 ff., 93.; Ermacora (Anm. 76), 152 ff., 191, Schmitz (Anm. 79), 39; BlgKonst.NV 904. 100

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und verfassungstechnischer Hinsicht", sondern auch "in den meisten materiellen Bestimmungen vollkommen überein ... ", sodaß eine "verhältnismäßige Annäherung zwischen den Standpunkten" der Parteien erreicht werden konnte. 104 Die offen gebliebenen Differenzen sollten "sofort nach Linz" in einem Verhandlungskomitee der Staatsregierung, dem Staatskanzler Renner, Staatssekretär Mayr und Vizekanzler Fink (es.) sowie als "wissenschaftlicher Beirat" Hans Kelsen angehörten, einer Lösung zugeführt werden. Zweck der Verhandlungen war es, einen gemeinsamen Regierungsentwurf zu erstellen. Überwiegend konnten auch, nach Ansicht von Mayr "zumindest zu neun Zehntel", Kompromisse gefunden werden. Durch den Zusammenbruch der Koalition am 10. Juni 1920 blieb die Überarbeitung des "Linzer Entwurfs" jedoch unvollendet; 105 für den Gang der weiteren Entwicklung spielten diese Bemühungen daher keine Rolle mehr. Nach Bildung einer Proporzregierung verlagerten sich die Verfassungsarbeiten in das Parlament: Nachdem die großdeutsche Fraktion am 8. Mai 1920 ihren bereits in Linz vorgestellten Entwurf in der Nationalversammlung eingebracht hatte, folgten am 25. Juni die Christlichsozialen mit einem zweiten Verfassungsentwurf, der sich zum Teil an die im Regierungskomitee geleisteten Arbeiten anlehnte, und am 7. Juli auch die Sozialdemokraten mit ihrem in Linz verwendeten Verfassungsentwurf. Am folgenden Tag veröffentlichte Staatskanzler Renner den unvollendeten Regierungsentwurf (Entwurf Renner-Mayr) in der "Wiener Zeitung", gleichzeitig erklärte der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Otto Bauer, daß die Parteien übereingekommen seien, "noch während des Sommers die Verfassung zu erstellen". 106

ß) Im Parlament Unmittelbar im Anschluß an diese Erklärung Otto Bauers wählte der Verfassungsausschuß einen siebengliedrigen Unterausschuß, dem drei Christlichsoziale, drei Sozialdemokraten und ein Großdeutscher sowie je ein Ersatzmann angehörten. Auffallend an seiner Zusammensetzung ist, daß die bisher hauptsächlich mit den Verfassungsarbeiten befaßten RegieErmacora (Anm. 77), 109 f.; ders. (Anm. 82), 275 ff., 279 f. Ders. (Anm. 77), 341 ff.; ders. (Anm. 76), 16, 192; ders. (Anm. 82), 414; Schmitz (Anm. 76), 94 sowie ders. (Anm. 34), 116 f., 118 f., 122.; Owerdieck (Anm. 17), 183 Anm.46. 106 Ermacora (Anm. 76), 17, 141 ff., 193 ff., 152 ff.; ders. (Anm. 82), 541 f., 562, 571, 603; Schmitz (Anm. 76), 97, 94 ff., 97 f. sowie ders. (Anm. 34), 122 f.; Robert Walter, Die Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Konstituierenden Nationalversammlung (= Sehriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 9), Wien 1984, 12 ff.; BlgKonst.NV 888 (2. es. Entwurf), 904 (sd. Entwurf). 104 105

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rungsmitglieder, Karl Renner und Michael Mayr, ihm nicht angehörten. Doch war Mayr auf den insgesamt achtzehn Sitzungen des Unterausschusses, von vier Ausnahmen abgesehen, stets anwesend. Auch die Teilnahme Hans Kelsens und weiterer Beamter der Staatskanzlei, Georg Froehlichs und Egbert Mannlichers, welche als Experten beigezogen wurden, stellte die Kontinuität zu den bisher außerhalb des Parlaments konzentrierten Verfassungsarbeiten her. Bemerkenswert ist auch, daß Karl Seitz als Präsident der Nationalversammlung vor allem in der Endphase der Beratungen auf mehreren Sitzungen erschien. l07 Zu bestimmten Fragen der Kompetenzverteilung wurden überdies Auskunftspersonen gehört lOB und die Staatskanzlei regelmäßig ersucht, den Beschlüssen des Unterausschusses gemäß, Formulierungen für den Verfassungsentwurf zu erstellen. 109 Auf Einladung Kelsens im Namen des Ausschusses holte man auch Gutachten der Staatsrechtslehrer Adolf Menzel, Max Layer, Max Kulisch und Karl Lamp, sowie der Höchstrichter Max Schuster, Friedrich Tezner, Rudolf Herrnritt und Paul Hock ein. 110 Der Unterausschuß konstituierte sich unmittelbar nach der Erklärung Bauers. l l l In seiner ersten Sitzung am 11. Juli beschloß er auf Antrag von Staatssekretär Mayr im Einvernehmen mit den "juristischen Mitarbeitern der Staatskanzlei " und der "Fachleute der Staatsämter" , die Beratungen auf Grundlage des "Linzer Entwurfes und des Dr. Danneberg'schen Entwurfes" zu führen und "nicht den Entwurf Dr. Renners als Grundlage der Verhandlungen" zu nehmen, da sich so "die Differenzpunkte zwischen den Entwürfen der Christlichsozialen, der Sozial-Demokraten und der Groß107 Dem Unterausschuß gehörten an für die Sozialdemokraten: Otto Bauer (Vorsitz), Arnold Eisler, Mathias EIderseh, Robert Danneberg (Ersatz); für die Christlichsozialen: Ignaz Seipel (Vorsitz-Stellvertreter), Jodok Fink, Josef Aigner, Leopold Kunschak (Ersatz); für die Großdeutschen: Heinrich Clessin, Ernst Schönbauer (Ersatz): Schmitz (Anm. 76), 98 ff.; Walter (Anm. 106), 16 ff.; Ermacora (Anm. 76), 17 f. insbes. Anm. 1; ders. (Anm. 82), 629. - Für Kunschak erschien ab der 14. Sitzung Richard Weißkirchner: Ermacora (Anm. 76), 432; StSekr. Mayr fehlte in 4 Sitzungen; zur Anwesenheit von Karl Seitz: ebda., 422 ff., 436 ff., 467 ff. - Von den Experten der Staatskanzlei war lediglich Kelsen stets anwesend, Egbert Mannlieher fehlte in 3, Georg Froehlich in 4 Sitzungen; einmal, am Beginn der Verhandlungen, begegnet Min.Sekr Karl Frieberger als Teilnehmer: ebda., 275 ff. lOB Ebda., 290 ff. (Sekt.chef. Kaan vom StA / Soziale Verwaltung in Sozialversicherungsfragen), 467 ff. (UnterStSekr. Julius Tandler und Min.Rat Gaertner in Fragen des "Elektrizitäts- und Wasserwesens"). 109 Ebda., 283, 292 f., 301, 305 f., 315, 325, 329, 245, 349, 357, 364, 373, 377 f., 414, 438, 446 f., 483, 491, 492, 498 f. 110 Ermacora (Anm. 93), 187, 190, 192, 203 ff. insbes. Anm. 93, 190 ff., 192 ff., 188 ff., 187 (zum Teil mit 21. bzw. 22. September datiert); vgl. auch Ermacora (Anm. 76),551 sowie die Bemerkungen Hans Kelsens in der 17. und 18. Sitzung im UA ebda., 472, 479, 480, 488, 489; hierzu auch Schmitz (Anm. 76), 106. III Walter (Anm. 106), 17 f.; Ermacora (Anm. 76), 547 ff.; Rudolf Thienel / Robert Walter, Parlament und Verfassung, Wien 1990, 22 f.

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deutschen Vereinigung leichter hervorheben" ließen. 112 Doch spielte der "Renner'sche Entwurf" vor allem in der ersten Phase der Unterausschußverhandlungen insofern noch eine Rolle, als er mehrmals als Alternative zum "Linzer" bzw. zum sozialdemokratischen Entwurf zur Diskussion gestellt wurde. 113 Die erste Phase der Unterausschußverhandlungen war nach elf Sitzungen am 25. August mit "Schluß der Durchberatung" des "Linzer Entwurfs" abgeschlossen. 114 Die noch offenen Differenzen der Sozialdemokraten und Christlichsozialen zu dem "beschlossene(n) Entwurf" wurden Parteienverhandlungen zugeführt, welche unter Vorsitz des Präsidenten der Nationalversammlung von 1. bis 18. September stattfanden und mit dem Kompromiß endeten, die ungelösten Verfassungsfragen von den weiteren Verhandlungen auszuklammern. 115 Bereits am 13. September, also noch vor Beendigung der Parteienverhandlungen begann im Unterausschuß - zum Teil "unter Berücksichtigung der in den letzten Tagen gefaßten Parteibeschlüsse" -, die "artikelweise Durchberatung" des Entwurfes; am 22. / 23. September war sie, nach der "technische(n) Lesung des Gesamtentwurfes" unter dem Referat von Hans Kelsen, beendet. 116 An den beiden folgenden Tagen, am 24. und 25. September wurde der Verfassungsentwurf des Unterausschusses im Verfassungsausschuß in zwei Sitzungen unter Mitwirkung von Staatssekretär Mayr, den StaatskanzleiBeamten Egbert Mannlicher und Adolf Julius Merkl, des "Experten" Kelsen sowie eines Beamten des Justizministeriums neuerlich beraten, und mit einer Reihe - nicht wesentlicher - Änderungen am 26. September 117 der Nationalversammlung zur Annahme vorgeschlagen. Die Beratungen im Plenum begannen knapp darauf am 29. September. 118 Dem einleitenden Referat von Berichterstatter Seipel folgte eine Ansprache 112 113 114

Ermacora (Anm. 76), 268 f., 270; ders. (Anm. 82), 629 f. Ders. (Anm. 76), 272, 275, 276, 277, 278, 280, 302, 314 f. Ebda., 375 ff., 369, 372 f., 379 ff.; ders. (Anm. 93), 239. Auf Ersuchen des UA

wurde der Entwurf am 29. August in der Wiener Zeitung veröffentlicht; hierzu auch ders. (Anm. 82), 630. 115 Walter (Anm. 106), 16 f.; Ermacora (Anm. 76), 20 f.; ders. (Anm. 93), 239; Thienel/ Walter (Anm. 111),23. 116 Ermacora (Anm. 76), 373 ff. (26. August), 474 ff. (31. August), 422 (13. September), 471 ff., 474 ff. (22. September); Thienel/ Walter (Anm. 111), 23 117 Ders. (Anm. 76), 246 ff. (Bericht des UA), 268 ff, 501 ff. (Rekonstruktion des UA-Entwurfes); ders. (Anm. 82), 631; BlgKonst.NV 991; vgl. auch Thienel / Walter (Anm. 111), 24. 118 Debattenbeiträge: Michael Mayr (es.), Robert Danneberg (sd.), Heinrich Clessin (gd.), Leopold Kunschak (es.), Ernst Schönbauer (gd.), Karl Leuthner (sd.), Emil Schneider (es.), Hans Angerer (gd.), Aemilian Schoepfer (es.), Leopold Stocker (gd.),

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des Parlamentspräsidenten Seitz sowie die General- und Spezialdebatte, die am 30. September abgeschlossen war. Mit einstimmigen Beschlüssen über das "Bundes-Verfassungsgesetz" und ein "Verfassungs-Übergangsgesetz" in dritter Lesung endeten schließlich am folgenden Tag, am 1. Oktober 1920, die etwa ein Jahr dauernden Verfassungsarbeiten.

b) Entwicklungstendenzen aa) Außerhalb des Parlaments a) Die Vorarbeiten der Staatskanzlei Bei den seit Anfang Oktober 1919 laufenden Bemühungen der Staatskanzlei um die Erstellung einer definitiven Verfassung fällt auf, daß bereits sehr früh feststand, "die Verfassung . .. bundesstaatlich zu gestalten ". Die ersten vorbereitenden Arbeiten, Kelsens Gutachten über die "Stellung der Länder in der künftigen Verfassung ... " , die" Gedanken" und "Bemerkungen" des Verfassungsdienstes "zur Frage der verfassungsrechtlichen Neugestaltung Deutschösterreichs" sowie ein Gutachten Egbert Mannlichers über die "Umwandlung Deutschösterreichs in einen Bundesstaat" weisen allesamt in diese Richtung. 119 Sie entwarfen zum einen Idealtypen, so Kelsens Gutachten, dem es nicht sinnvoll erschien, die "demokratische Selbstverwaltung Englands oder die Bundesverfassung der Schweiz" einfach als Schablone der künftigen Verfassung Deutschösterreichs zugrunde zu legen; zum anderen boten sie auch bereits konkrete Schemata einer Kompetenzverteilung, etwa Mannlichers Gutachten, dessen Modell für alle weiteren Verfassungsarbeiten der Staatskanzlei vorbildhaft blieb. Auf ihn geht auch die Anregung zurück, die Arbeiten in der Staatskanzlei "unter Vorsitz des Staatskanzlers" und unter Einbeziehung der Abteilungen für den Verfassungs- und Verwaltungsreformdienst zu konzentrieren. 120 Signifikant ist allen diesen Bemühungen auch, daß es der Staatskanzlei wesentlich erschien, obgleich seit Mitte Mai 1919 bereits vorhersehbar war, daß die Friedensverhandlungen zu einem Anschlußverbot führen werden, 121 die Frage der staatsrechtlichen Verbindung mit dem Deutschen Reich in die Überlegungen einzubeziehen. Die künftige Ausgestaltung der Verfassung Deutschösterreichs galt etwa Kelsen als "von der des Deutschen Josef Wagner (es.), Josef Hollersbacher (es.), und Josef Stöckler (es.): Steno Prot. Konst.NV, 3375 ff., 3409 ff., 3469 ff.; Ermacora (Anm. 82), 631; Thienel/ Walter (Anm. 111), 24. 119 S. o. Anm. 81 f. - Hans Kelsens Gutachten muß vor September 1919 entstanden sein, da er den Staatsvertrag von St. Germain noch nicht behandelt; die Anträge des Verfassungsdienstes und Mannlichers sind nachweislich aus August 1919. 120 Ermacora (Anm. 64), 34. 121 Schmitz (Anm. 76), 45.

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Reiches determiniert", weswegen er, da mit dem "Anschluß ... als künftiges Faktum gerechnet werden muß", in seinem Gutachten auch verschiedene Anschlußmodelle entwickelte. 122 Hatten die ersten Überlegungen noch eher informellen Charakter, folgten bald auch konkrete legistische Vorschläge für den "Entwurf einer Bundesverfassung": Etwa der Entwurf, den Hans Kelsen im Auftrag des Staatskanzlers vom Mai 1919 erstellen sollte, und der nach von Renner vorgegebenen "Richtlinien" mit bundesstaatlichem Charakter, aber mit "starker Zentralgewalt" auszugestalten war. 123 Wie dieser standen auch die weiteren von Kelsen aus eigener Initiative bis Mitte September entwickelten Verfassungsentwürfe auf dem Boden des bundesstaatlichen Prinzips. Von den insgesamt sechs Entwürfen aus der Hand Kelsens gelten "Entwurf I" und der mit diesem identische "Entwurf IV" als die länderfreundlichsten Varianten, da sie unter Annahme der Vereitelung des Anschlusses der "bundesstaatlichen Verfassung nach dem Muster der Schweiz" den Vorzug gaben. Abweichend hiervon lag jedoch der Einrichtung einer Ländervertretung das Vorbild des Bundesrates der "Bismarckschen Verfassung von 1871" mit ungleicher Vertretung der Gliedstaaten zugrunde. Ein Abrücken vom "extremen Parlamentarismus" Deutschösterreichs bedeutete, daß der Bundespräsident, anders als das bisherige Organ mit Funktion eines Staatsoberhauptes, der Präsident der Nationalversammlung, aus einer unmittelbaren Volkswahl hervorgehen sollte. 124 Eine stärkere Einbindung der Länder in den Gesamtstaat zeigt "Entwurf II", was nach Mitteilung Hans Kelsens dem "striktesten Wunsch" des Staatskanzlers entsprochen habe. 125 "Entwurf III" und der nahezu identische "Entwurf VI" zeigen Anlehnungen an den deutschen Verfassungsentwurf. Vor allem der Bundesrat zeigt einige "Ähnlichkeit mit der Organisation der Länderkonferenzen und des Staatenausschusses der Vorläufigen Verfassung des Deutschen Reiches" .126 Elemente aus dessen definitiver Verfassung übernahm "Entwurf V", indem er die "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" rezipierte. 127 Insgesamt spiegeln alle Kelsen-Entwürfe Einflüsse der Verfassungen von 1861/ 1867 und 1918/19, zunehmend in "Entwurf III" und "V" auch der Weimarer Reichsverfassung wider. Kelsen wollte zwar "alles Brauchbare aus der Ermacora (Anm. 64), 3 f. S. O. Anm. 81; Schmitz (Anm. 76), 44 sowie ders. (Anm. 34), 30 ff. (brieflicher Kontakt Renner-Kelsen); Ermacora (Anm. 76), 188 f. - Text der Kelsen-Entwürfe bei Schmitz (Anm. 76), 114 ff. sowie bei Ermacora (Anm. 82), 62 ff. 124 Schmitz (Anm. 76), 49, 50. 125 Nicht für die Wahl, jedoch für die Angelobung des Bundespräsidenten ist hier erstmals ein Zusammenwirken beider Kammern des Parlaments, Bundestag und Bundesrat, vorgesehen: Ebda., 53, 54. 126 Zum Staatenausschuß: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 V, Stuttgart 1978, 1179 ff., 1181 f. 127 Schmitz (Anm. 76), 58. 122

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bisherigen Verfassung" übernehmen, um die "Kontinuität der verfassungsrechtlichen Institutionen möglichst zu wahren", sich aber auch "an die schweizerische, aber noch mehr an die neue deutsche Reichsverfassung" anlehnen. 128 Bevor die Staatskanzlei konkrete Schritte zu legistischen Arbeiten setzte, suchte sie das Einvernehmen mit den Ländern, um vereinzelten Sezessionsbestrebungen zu steuern. Auf insgesamt sieben LänderkonJerenzen in der Staatskanzlei 1918/19, hatten daher zunächst Ländervertreter Gelegenheit, ihre Standpunkte zur Verfassungsfrage der Regierung gegenüber zu äußern und so der entstehenden Verfassung auch eigene Vorstellungen aufzuprägen. 129 Auf der dritten Länderkonferenz vom 31. Jänner und 1. Februar 1919 stellte Staatskanzler Renner für die künftige Verfassung denkbare Muster vor, befaßte sich in Hinblick auf die Anschlußfrage aber hauptsächlich mit dem VerJassungsentwurJ des Deutschen Reiches. Resümierend meinte er, daß "unsere künftige Verfassung davon ab (hänge) , wie das Deutsche Reich sich ordnen wird". Da er annahm, "es wird eine Art Selfgovernment herauskommen, vielleicht eine Art Bundesstaat", sprach er sich gegen eine föderative Ordnung Deutschösterreichs aus, da diese den Anschluß erschwere. Renner glaubte aber, "solange ... wir nicht wissen, ob, wann und wie wir angeschlossen" werden, nicht "an die positiven Verfassungsarbeiten ... herantreten" zu können. 130 Renners Entscheidung, die Verfassungsarbeiten, obwohl Ländervertreter mehrmals die Ausarbeitung einer Verfassung urgierten,131 vorerst aufzuschieben, wurde zum Teil mit Befremden aufgenommen. Der Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender (cs.) empfand dies so: "Renner . .. kam mir vor wie ein Imperator redivivus. Ich hatte das Gefühl, daß die Monarchie, die für uns gestorben ist, in irgendeiner anderen Form ... neu entstehen soll". 132 Renners Vorstellungen über die Struktur der künftigen Verfassung Österreichs nahmen erst auf der sechsten Konferenz vom 15. September 1919 konkretere Formen an. Nach Darlegung eines realistischen Berichtes über die Konsequenzen des Staatsvertrages von St. Germain, bemerkte er, daß die Verfassungsreform nun "alsbald in Angriff genommen werden muß, und daß Österreich ein Bundesstaat werden soll". Die Ländervertreter drängten auf den sofortigen 128 Ebda., 44.

129 Ermacora (Anm. 77), 1, 5, 45, 57. Bis zur 6. Länderkonferenz waren regelmäßig alle Länder, die Deutschösterreich als Staatsgebiet beanspruchte, durch Delegierte vertreten, danach nur mehr die künftigen Bundesländer. 130 Ermacora / Wirth (Anm. 85), 9 f.; Ermacora (Anm. 77), 6, 19, 16. 131 132

Ders. (Anm. 64), 53. Ders. (Anm. 77), 22, 27, 36: Otto Ender und der Tiroler Delegierte, LH-StV

Pusch, sprachen sich für ein Verfassungsmodell nach Schweizer Muster aus, der Salzburger Delegierte Franz Rehrl für eine "Verschmelzung gewisser Elemente des Schweizer Verfassungslebens mit Elementen des englischen".

110

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Beginn und forderten, gestützt auf die Entschließung des Tiroler Landtages vom 27. September,133 bereits auf der folgenden Länderkonferenz am 12. Oktober die Einleitung von "Vorverhandlungen behufs Fertigstellung des Verfassungsentwurfs ". 134 Renner begegnete diesen Forderungen der Länder mit dem Hinweis, daß allein die Nationalversammlung legitimiert sei, die Verfassung zu beschließen und allein die Staatsregierung von dieser beauftragt sei, den Verfassungsentwurf zu erstellen.

ß)

Die Richtlinien der Regierung für die Verfassungsarbeiten

Die wesentlichen Grundzüge der künftigen "Bundesverfassung" legte die nach Ratifikation des Staatsvertrages von St. Germain gebildete christlichsozial-sozialdemokratische Regierungskoalition in einem Abkommen vom 17. Oktober 1919 fest: 135 Die Kompetenzen des Bundes waren taxativ zu fixieren, in einem Grundrechtskatalog sollte insbesondere das Verhältnis zwischen Staat und Kirche unter Einschluß der Ehegesetzgebung grundsätzlich geregelt sein. Für die Gesetzgebung des Bundes war ein Zweikammernsystem, bestehend aus Nationalversammlung und Bundesrat, vorgesehen. Zusammensetzung und Aufgaben des Bundesrates sollten das "Beispiel des Deutschen Reiches" nachahmen, bei Einspruch des Bundesrates gegen Gesetzesbeschlüsse der Nationalversammlung eine Volksabstimmung folgen. Als weitere Formen direkter Demokratie waren geplant "Referendum und Initiative". Die gleichzeitige Stellung des Parlamentspräsidenten als Bundespräsident sollte wie im "Entwurf der Staatskanzlei" geregelt bleiben, die Reform der Verwaltung durch "Demokratisierung der politischen Behörden 1. Instanz" und die Einrichtung einer "Verwaltungsrechtspflege nach preußischem Vorbild" durchgeführt werden. Die Bestellung des Tiroler Abgeordneten Michael Mayr zum Staatssekretär für Verfassungsfragen bezweckte die Installierung eines "Vermittlungsorgan(s) zwischen dem Staat und den Ländern" und sollte sicherstellen, "daß die Länder, welche bis vor kurzem noch in Seperationswünschen und Selbständigkeitsideen schwelgten, ihr Zugehörigkeitsgefühl zum Bundesstaat finden". 133 Nach den Vorstellungen des Tiroler Landtags sollte die Verfassung "auf föderativer Grundlage" beruhen und "nicht ohne Zustimmung der Länder" beschlossen werden; überdies gefordert wurde, daß der Entwurf vor Einbringung in die Nationalversammlung dem Tiroler Landtag zur Stellungnahme vorgelegt werde; angekündigt wurde außerdem, daß der Verfassungsausschuß des Tiroler Landtags einen eigenen Entwurf über die Grundzüge der künftigen Bundesverfassung ausarbeiten werde: Ermacora (Anm. 77), 62 f.; ders. (Anm. 76), 66 ff. in Anm.; Schmitz (Anm. 76), 68; ders. (Anm. 79), 22 f. - Vgl. hierzu auch oben bei Anm. 86. 134 Ebda., 57, 58, 59 ff.; Schmitz (Anm. 76), 61 f.; Ermacora / Wirth (Anm. 85), 10 f. 135 Ermacora (Anm. 77), 66, 350; ders. (Anm. 76), 189 f.; Schmitz (Anm. 76), 64 ff.; ders. (Anm. 79), 22 f. sowie ders. (Anm. 34), 65 ff.

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Daß man von Regierungsseite beabsichtigte, möglichst viel aus der deutschen Reichsverfassung zu übernehmen, zeigte bereits eine Mitteilung Staatskanzler Renners auf der zwischenstaatsamtlichen Sitzung vom 11. Oktober 1919. Er berichtete dort, es seien die "Parteien darüber einig", daß die künftige Bundesverfassung "ihr Vorbild mehr in jener des Deutschen Reiches als in jener der Schweizer Eidgenossenschaft zu suchen haben" werde: So sei etwa der Kompetenzverteilung "das in der deutschen Verfassungsurkunde enthaltene ... System ... zu Grunde zu legen", auch die Grundrechte in "ähnlicher Weise" zu regeln wie "in der deutschen Verfassung". Für die instanzenmäßige Ordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit" empfahl er, "sich mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preussen ... vertraut zu machen".136 Auch Staatssekretär Mayr hatte später, am 13. November, vorgeschlagen, bei Erstellung des Kompetenzkatalogs grundsätzlich zu berücksichtigen, daß "die äußerste Grenze dessen, was der Bund an Kompetenzen vielleicht behaupten könnte, ... jenes Ausmass" sei, "das die deutsche Reichsverfassung dem Bunde gibt". 137 Die Rückäußerungen der Staatsämter zu dem von der Staatskanzlei ausgearbeiteten "Schema" der Kompetenzverteilung zeigten folglich auch zahlreiche Verweisungen auf die Weimarer Verfassung, nur vereinzelt solche auf jene der Schweiz. Insgesamt besehen, lassen sie eine ausgeprägte Zentralisierungstendenz erkennen,138 etwa in der Äußerung des Staats amtes für Inneres: Eine Lockerung des bisherigen "Gefüges" im Verhältnis zu den Ländern bedeute, "daß wir uns durch einen solchen Schritt vor allem den Anschluß an das Deutsche Reich nahezu unmöglich machen ... , weil dieser ... nur für den Einheitsstaat ... vorgesehen ... ist und wohl auch im Wege des Völkerbundes nur in dieser Gestalt erfolgen könnte" .139 y) Die Einbeziehung der Länder in die Verfassungsarbeiten

Die Anschlußfrage als Determinante des künftigen Verfassungsinhalts spielte auch in den von Staatssekretär Mayr von 18. Dezember 1919 bis 15. Jänner 1920 mit Vertretern der politischen Parteien in den Ländern geführten Gesprächen eine grundlegende Rolle. In Salzburg etwa sprach 136 S. o. Anm. 89; Ermacora (Anm. 64), 73, 73 f., 75: Das StA für Äußeres wurde beauftragt, ,,100 Exemplare der deutschen Reichsverfassung ... anzuschaffen". 137 S. O. Anm. 91; Ermacora (Anm. 64), 56, 83, 55: Es sei jedenfalls darauf zu achten, daß "durch entsprechende Reservate der Bund ... dafür Sorge tragen könne, daß die notwendige Konzentration und Einheitlichkeit des Verfassungslebens und der Verwaltungstätigkeit nicht leide". 138 Ermacora (Anm. 93), 4 f., 15 f., 116; Verweisungen auf die Weimarer Verfassung ebda., 10 ff., 15 ff., 27 ff., 37 ff., 47 ff., 52, 76 ff., 111, 114; Verweisungen auf die Schweizer Verfassung ebda., 15 ff., 27 ff., 37 ff., 110 f. - Vgl. hierzu oben bei Anm.92. 139 Ebda., 47 (StA für Inneres - Innenabteilung).

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Christian Neschwara

Landeshauptmannstellvertreter Franz Rehrl (cs:) davon, daß in Hinblick auf den "Anschluß an das deutsche Reich" die Verfassung so zu gestalten sei, daß sich der "Übergang an das Deutsche Reich in möglichst reibungsloser Weise" durchführen ließe. Landesrat Robert Preußler (sd.) warnte daher davor, "sich allzu sehr von dem Vorbild der Schweiz beeinflussen zu lassen". Der oberösterreichische Landeshauptmannstellvertreter Jose! Schegel (cs.) regte an, in der Verfassung "Vorsorge" zu treffen "für den Zeitpunkt, wo der Anschluß ... an Deutschland durchführbar wird". In Kärnten stellte Landeshauptmann Arthur Lemisch (df.) fest, "daß es sich bei der ganzen Verfassungsfrage nur um ein Provisorium" handeln dürfe, da an dem "Gedanke(n) des Anschlusses an das Deutsche Reich festzuhalten sei". Landesrat Jose! Pflanzl (df.) wies daher auf die "Zweckmäßigkeit einer möglichsten Anpassung an die Verfassung des Deutschen Reiches hin". 140 Primär hatten die von Staatssekretär Mayr geführten Verfassungsgespräche den Zweck, den Ländern die Grundzüge der künftigen Verfassung bekannt zu machen und Meinungen dazu einzuholen. Er verwendete hierbei aber keinen konkreten Verfasssungsentwurf der Staatskanzlei, obgleich nach Angaben von Staatskanzler Renner zu diesem Zeitpunkt bereits "fertige Entwürfe, sogar drei" vorlagen, sondern auf Weisung des Kabinettsrates eine von der Staatskanzlei auf Grundlage eines der "KelsenEntwürfe" ausgearbeitete" Übersicht über die grundlegenden Fragen des Bundesstaatsproblemes ... ", welche in Aufbau und Systematik "Entwurf II" Kelsens folgte. Die Schwerpunkte der Verhandlungen bildeten jeweils die Kapitel "Grundcharakter des Bundesstaates", "Bundesgebiet", "Bundesbürger", "Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern", "Organe des Bundes", "Bundesgesetzgebung" , "Gerichtsbarkeit im Bunde", "Organe der Länder", "Landesgesetzgebung", "Verhältnis des Bundes zu den Ländern in Bundesangelegenheiten" , "Rechnungskontrolle im Bunde" sowie "Garantien für die Einhaltung der Verfassung" .141 Innerhalb dieses Rahmens hatten die Ländervertreter Gelegenheit, das Bundesstaatsproblem 142 allgemein zu erörtern sowie zur Frage des formalen Zustandekommens der Verfassung Stellung zu nehmen. Zwar betonten lediglich die steirischen Delegierten, daß "mangels Gelegenheit zu parteimäßiger Stellungnahme ... ihre Äußerungen vorläufig ... als rein persönliche Ansichten anzusehen 140 Ermacora (Anm. 64), 102 ff., insbes. 103 (Franz Rehrl, Robert Preußler), 114 f., 121 (Josef Schlegel), 124 (Arthur Lemisch, Josef Pflanzl); vgl. auch unten bei Anm. 144. 141 Ebda., 94 ff., 135 f. 142 Nur noch vereinzelt wurde das Konzept der dezentralisierten Einheitsstaates mit ergänzender Kreisverfassung vertreten, etwa von dem Tiroler Landeshauptmannstellvertreter Franzer Gruener (sd.) oder dem steirischen Landesrat Johann Resel (sd.): hierzu Ermacora (Anm. 64), 111, 128.

Zur Entwicklung des Verfassungsrechts nach 1918

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seien",143 doch zeigten auch die übrigen Stellungnahmen, daß die Länderorganisationen der politischen Parteien noch nicht in allen Fragen zu "parteiinterner einheitlicher Meinung" gefunden hatten. Lediglich in der Frage des formalen Zustandekommens der Verfassung zeigten sich einheitliche Parteienstandpunkte: 144 Während Christlichsoziale und Großdeutsche für die gleichberechtigte Mitwirkung der Länder bei der Beschlußfassung über den Verfassungsentwurf der Regierung eintraten, betonten die Sozialdemokraten die ausschließliche Kompetenz der Nationalversammlung. Bei der Diskussion der einzelnen Schwerpunkte der "Übersicht" wurde die uneinheitliche Linie der einzelnen Parteiorganisationen offenkundig. Dies etwa in bezug auf das "Bundesgebiet"145 hinsichtlich der in Aussicht genommenen Stellung Wiens als selbständiges Land, wofür sich die Vorarlberger Christlichsozialen aussprachen, während jene Niederösterreichs und der Gemeinde Wien sich hierüber noch keine einheitliche Meinung gebildet hatten. 146 Vertretern der bürgerlichen Parteien mißfiel vor allem der der "Kompetenzverteilung" vorangestellte programmatische Grundsatz "Bundesrecht bricht Landesrecht", 147 welcher als Gegengewicht einer Generalklausel zugunsten der Länder gegenüberstehen sollte; sie sahen in ihm einen Widerspruch zum "Gedanken des Bundesstaates", wonach "die Kompetenz des Bundes in formaler Hinsicht als von den Ländern ... übertragen zu konstruieren" sei. 148 Da die "Übersicht" keine konkreten Kompetenztatbestände aufwies, waren Aussagen zur Kompetenzverteilung allgemein gehalten. 149 Die oberösterreichischen Großdeutschen etwa schlugen eine funktionelle Trennung - "Gesetzgebung möglichst beim Bund, Verwaltung Ebda., 131, 128. Schmitz (Anm. 79), 35 ff.; ders. (Anm. 76), 66 ff.; Ermacora (Anm. 64), 102 f., 115 f., 124, 128, 141. - Die Sozialdemokraten warnten auch vor Selbständigkeitsbestrebungen der Länder: ebda., 124 (Florian Gröger, Kärnten), 115 (Josef Gruber, Oberösterreich), 128 (Johann ReseI, Steiermark), 130 f. (Karl Seitz, Wien). 145 Schmitz (Anm. 79), 25; Ermacora (Anm. 64), 131 f., 148; Ermacora (Anm. 64), 94 f. - Zu den Regelungen der Übersicht: Schmitz (Anm. 79), 25 sowie Ermacora (Anm. 64), 94 f. 146 Ebda., 110, 149, 132, 103. - Überdies forderten die Tiroler Christlichsozialen und Großdeutschen, und in Vorarlberg die Vertreter aller Parteien, Ausnahmen vom Prinzip des bundeseinheitljchen Wirtschaftsgebietes, insbesondere in bezug auf das Abgabenwesen und wirtschaftliche Aufsichtsrechte; Modifikationen der "Bundesbürgerschaft" wünschten die Sozialdemokraten Wiens und Salzburgs: ebda., 110 f., 149, 132, 103. 147 Die Christlichsozialen Salzburgs sahen in ihm einen Widerspruch zum "Gedanken des Bundesstaates": Ebda., 103, 116 f., 123, 129, 149, 125 (CS Salzburgs, Oberösterreichs, der Steiermark, Vorarlbergs; DF Kärntens), 129 (SD Vorarlbergs). 148 Ebda., 95 Anm. 20, 103. 149 Ebda., 95.- Hierzu vgl. auch oben bei Anm. 93, wonach die Staatskanzlei Ende Dezember 1918 no'die Einführung des Arbeitsunterrichtes, der Zusammenfassung aller Gegenstände zum sogenannten Gesamtunterricht, die Organisation aller Erziehungs- und Bildungseinrichtungen als Staatserziehungsanstalten, die Reform der Lehrerbildung und die Angleichung des Hochschulwesens an die deutschen Universitäten, vgl. dazu: Sten.Prot. d. Abg. Hauses, 80. Sitzung der Konst. NV d. Rep. Ö. vom 12. Mai 1920,2454-2457.

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sozialen die bestehende liberale Schulgesetzgebung als das kleinere Übel gegen die Reformversuche der Sozialdemokraten verteidigten. Daher suchte Otto Gläckel im Verordnungswege und durch Besetzung der Schulleiterposten mit Sozialdemokraten, den Einfluß der Kirche in der Schule zu schmälern. Hier ist vor allem der am 10. April 1919 ergangene sogenannte Gläckel-Erlaß zu erwähnen, durch den die Verpflichtung der Kinder zur Teilnahme an den religiösen Übungen verboten und die Verpflichtung der Lehrer zur Beaufsichtigung der Kinder bei den religiösen Übungen aufgehoben wurden. 97 Der von der sozialdemokratischen Partei entfachte Kampf um die Entkonfessionalisierung der Schule fand durch die Vereine "Freie Schule" und "Kinderfreunde" tatkräftige Unterstützung. In der Monarchie war es in vereinzelten Fällen zum Einschreiten gegen areligiös eingestellte Kinder und Eltern durch staatliche Behörden gekommen. In der Republik setzte nunmehr eine regelrechte Werbekampagne zur Abmeldung der Kinder vom Religionsunterricht ein. 9B Den sozialdemokratischen Agitationen gegen die katholische Kindererziehung blieb zunächst ein bleibender Erfolg verwehrt. In der Schulfrage hielten die Christlichsozialen hartnäckig am status quo fest und bestanden darauf, daß eine Lösung des Schulproblems nur im Rahmen einer Neuregelung des kulturpolitischen Gesamtkomplexes erfolgen könne. Schließlich kam es durch die verfassungsrechtlich festgelegte paktierte Regelung in der Schulgesetzgebung zu einem fast gänzlichen Stillstand. In der Bundesverfassung von 1920 konnte die Kompetenzverteilung 99 zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiete des Schul- und Erziehungswesens nicht neu geordnet werden. 100 Die auf Grund des Schule-Kirche-Gesetzes in der Monarchie ergangenen Landesausführungsgesetze erfuhren noch vor der Verfassungsgesetzgebung eine Angleichung an die neuen Verhältnisse. Das Verfassungsübergangsgesetz von 1920 ordnete für eine Abänderung der Schulaufsichtsvorschriften, einschließlich der in der Monarchie ergangenen Reichsgesetze, die Erlassung übereinstimmender Gesetze des Bundes und der beteiligten Länder an. 101 Diese Schulaufsichtsregelungen änderten nichts am Grundsatz der vollen Beteiligung von Vertretern der Kirchen in 97 9B 99

Weinzierl-Fischer Konkordate (Anm. 1) 136 f; Zulehner, Kirche (Anm. 40) 53. Schmidt, Katholische Schule (Anm. 6) 136 ff. Ernst earl Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte,

2. Auflage, Wien 1974, 434. 100 BVG 1920, BGBl. Nr. 1 Art. 14: "Auf dem Gebiete des Schul-, Erziehungsund Volksbildungswesens wird der Wirkungsbereich des Bundes und der Länder durch ein besonderes Bundesverfassungsgesetz geregelt." 101 Zu diesem Zwecke dienten die paktierten Gesetze, vgl. § 42 Abs. 2 lit. f, des Verf.-Übergangsgesetzes vom 1.10.1920, Staatsgesetzblatt Nr. 151; § 9 d. B-VG vom 30.7.1925, BGBl. Nr. 269; § 3 des B-VG vom 7.12.1929, BGBl. Nr. 393. 27'

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den Schulaufsichtsorganen. Eine Ausnahme bildete lediglich die Zusammensetzung des Wiener Stadtschulrates. Was dem sozialistischen Politiker und Pädagogen Otto Glöckel in der Bundespolitik versait; geblieben ist, das suchte er nach den Nationalratswahlen vom Oktober 1920 als Leiter des Wiener Stadtschulrates zu verwirklichen. Die österreichische Bundesverfassung hatte für den Bereich des ehemaligen Landes Niederösterreich an Stelle der einheitlich politischen und autonomen Verwaltung auf dem Gebiet der Bundesverwaltung zwei vollständig getrennte autonome Verwaltungen eingerichtet. 102 Dadurch wurde es notwendig, an Stelle des bisherigen niederösterreichischen Landesschulrates für die Stadt Wien eine eigene, dem gesetzlichen Zustand entsprechende Schulbehörde zu schaffen. Der Wiener Gemeinderat als Landtag beschloß am 18. Februar 1921 mit Zweidrittelmehrheit eine Abänderung des niederösterreichischen Schulaufsichtsgesetzes, wodurch den Kirchen die ihnen bisher gesetzlich garantierten Sitze im neuen Stadtschulrat vorenthalten wurden. Gemäß § 42 (2) lit. f des Verfassungsübergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920 war die Wirksamkeit des vorliegenden Gesetzesbeschlusses vom Zustandekommen eines übereinstimmenden Bundesgesetzes abhängig. Gegen den vorliegenden Gesetzesbeschluß erhob die Bundesregierung begründete Bedenken, und der Abgeordnete Kunschak brachte einen Gegenantrag ein. 103 Dreimal verweigerte der Nationalrat mit geringer Mehrheit dem Gesetzesbeschluß des Wiener Landtages vom 18. Februar seine Zustimmung. Dreimal beschloß er Bundesgesetze, die den Vertretern der Kirchen Sitze im Wiener Stadtschulrat sichern sollten. 104 Dreimal erhob der Bundesrat dagegen Einspruch. In der Frage der Zusammensetzung des Wiener Stadtschulrates entbrannte unter den Großparteien ein heftiger Streit, und erst 1922 führte ein Übereinkommen zu einer Kompromißlösung, der auch der Bundesrat seine Zustimmung erteilte. 105 Nach § 2 (1) lit. g des Gesetzes betreffend den Wiener Stadtschulrat gehörten ihm auch "je ein Inspektor für den katholischen, evangelischen und für den israelitischen Religionsunterricht" an. Diese Inspektoren durften jedoch nur dann an den Abstimmungen teilneh102 B-VG 1920, Art. 2 und § 33 Verfassungsübergangsgesetz 1920. Die selbständigen Länder Niederösterreichs und Wien sind durch die Trennungsgesetze LGBl. f. Wien Nr. 153/1921 und LGBl. für Niederösterreich Nr. 346/1921 mit Wirksamkeit ab 1.1.1922 gebildet worden. 103 224 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates. 104 Vorlagen der Bundesregierung 254, 334, 506 und 646 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, Berichte des Ausschusses für Erziehung und Unterricht, 283, 447 und 583 dieser Beilagen. Vgl. dazu. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 33. Sitzung vom 15.4.1921, 1293 -1304. 39. Sitzung vom 14. Juli 1921, 1852 -1861; 64. Sitzung vom 9.11.1921, 2285-2297 und 65. Sitzung vom 10.11.1921, 2323. 105 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 90. Sitzung vom 23. Februar 1922, 3148 ff. und der Bericht des Ausschusses für Erziehung und Unterricht, 762 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates.

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men, wenn es sich um Angelegenheiten ihres Religionsunterrichtes handelte. Die Vertreter der Kirchen wurden also ausdrücklich auf die Wahrung der Interessen des Religionsunterrichts beschränkt. Damit setzte sich diese Regelung mit der Bestimmung des § 12 des Schule-Kirche-Gesetzes vom 25. Mai 1868 in Widerspruch. Dieser hatte festgelegt, daß in den Landesschulrat u. a. auch "Geistliche aus den im Lande bestehenden Konfessionen" mit vollem und uneingeschränktem Vertretungsrecht zu berufen seien. 106 Am Beginn der zwanziger Jahre setzte eine sehr massive antikirchliche Agitation der Sozialdemokraten ein, die ihren Niederschlag in den Debatten über die Budgetkapitel und Regierungserklärungen der Bundeskanzler fanden. Die Angriffe richteten sich nicht minder gegen Kardinal Piffl, der als Wahlagitator der Christlichsozialen und oberster Kulturstürmer hingestellt wurde. 107 Wortführer der Sozialdemokraten blieb während der Ersten Republik der bei Parteifreunden und Parteigegnern in gleicher Weise als Schulfachmann geschätzte Otto Gläckel. Mit beißendem Spott und Hohn bedachte er das traditionsreiche ehemals kaiserliche und nunmehr bürgerliche Ministerium für Kultus und Unterricht und erblickte in der Leitung des Unterrichtsamtes für die Christlichsozialen nur die Fortsetzung der monarchischen Tradition. lOS Die Schulreformanträge von Lienbacher, Liechtenstein, Vergani und Ebenhoch beurteilte er als Versuch der kirchlichen Kreise, den Kindern weniger an Wissen zu vermitteln und damit die Schule zur Verdummungsanstalt werden zu lassen. 109 Die Schulreform, die unter Gläckel rasch voranschritt, hatte sogar die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich gelenkt. 110 Nicht nur die fachlichen Fortschritte der von den Sozialdemokraten initiierten Schulreform wurden hervorgehoben, sondernauch die Wandlungen, die im politischen Bereich eingetreten waren. Mit Vorliebe wurde daran erinnert, wie im 19. Jahrhundert vom Papst und vom österreichischen Episkopat die Ablösung der Konkordatsschule durch die liberale Schulgesetzgebung bekämpft wurde. Nachdem die Sozialdemokraten dann die gänzliche Entkonfessionalisierung der "Schule verlangt hätten, seien aus den "klerikalen Hassern des Reichsvolksschulgesetzes seine begeisterten Schützer" geworden. 11l Gegenüber der Forderung nach Hans Klecatsky, Kirche und Schulaufsicht, in: JBl. 81 (1959) 308 f. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 24. Sitzung vom 10. März 1921. Kardinal Piffl soll auf dem Mödlinger Katholikentag gesagt haben: "Den göttlichen Kinderfreund will man jetzt aus der Schule treiben und die Ehe soll aus dem segenspendenden Boden der Sakramente entwurzelt und in den Sumpfboden verpflanzt werden, damit aus ihr Vielweiberei und Dirnenkultus wird". lOS Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 74. Sitzung vom 12. Dezember 1921, 2525. 109 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 74. Sitzung vom 12. Dezember 1921, 2526. 110 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 74. Sitzung vom 12. Dezember 1921, 2528. 11l Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 74. Sitzung vom 12. Dezember 1~21, 2534. 106

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Wiederherstellung der Bekenntnisschule verlangten daher die Sozialisten mit umso größerem Nachdruck, unter Berufung auf ihre programmatische Zielsetzung, Religion sei Privatsache, die Trennung von Kirche und Schule. 112 Als im Mai 1922 Prälat Seipel zum erstenmal die Regierungsverantwortung übernahm, kam es im Parlament in den Debatten über die Regierungserklärung des Bundeskanzlers zu schweren Auseinandersetzungen. Die Kritik der Sozialdemokraten richtete sich hauptsächlich gegen den zwischen der Großdeutschen und der Christlichsozialen Partei geschlossenen Pakt, in kulturpolitischen Fragen am status quo festzuhalten. Den bürgerlichen Parteien wurde Begünstigung des Ultramontanismus vorgeworfen, wie es "selbst in der alten verpfafften Habsburgmonarchie niemals geduldet" worden wäre, daß nämlich ausgerechnet in der Republik ein Angehöriger des Klerus den Posten des Bundeskanzlers bekleiden solle. 113 Prälat Seipel hatte den Eintritt in die Regierung davon abhängig gemacht, daß die Leitung des Unterrichtsressorts von der christlichsozialen Partei zu besetzen sei. Auch darüber wurden heftige Debatten geführt und dem Bundeskanzler wurde vorgehalten, er tue genau das, was er den Sozialdemokraten immer zum Vorwurf gemacht habe, daß sie nämlich reine Parteipolitik und nicht Staatspolitik betreiben. In grundsätzlichen Fragen der Schulpolitik trennte die beiden Großparteien eine unüberbrückbare Kluft. Dem radikalen Programm der Sozialisten stellte sich bald eine geschlossene Front der Bürgerlichen gegenüber. 114 Selbst im Wiener Stadtschulrat, wo die Sozialdemokraten über eine Zweidrittelmehrheit verfügten, konnten sie den Einfluß der Kirchen auf die Schule nicht zurückdrängen. Als Präsident des Wiener Stadtschulrates ließ Otto Gläckel 1923 anordnen, daß das tägliche Schulgebet am Unterrichtsbeginn nicht mehr gehalten werden dürfe und verwies es in die Religionsstunde. Gegen diesen Erlaß erhob der Unterrichtsminister nach Intervention des Erzbischöflichen Ordinariates in Wien Einspruch und setzte ihn außer Kraft. 115 Den Initiativen der Sozialdemokraten, im Gesetzes- oder Verordnungsweg bestehende Schulgesetze abzuändern, standen größte Schwierigkeiten entgegen. Deswegen gaben sie den Kampf um die Schulreform aber keines112 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 74. Sitzung vom 12. Dezember 1921, 2534; 190. Sitzung vom 6. Juni 1923, 5732 und 5749; 30. Sitzung d. NR d. Rep. Ö., Ir. GP., Sitzung vom 7. Mai 1924, 728; 88. Sitzung vom 17. März 1925, 2190; 123. Sitzung vom 11. Dezember 1925, 2923; 145. Sitzung vom 27. Mai 1926, 3587; 169. Sitzung vom 16. Dezember 1926, 4066; 172. Sitzung vom 22. Dezember 1926, 4220; III. GP., 113. Sitzung vom 15. Dezember 1929, 3708. 113 Sten.Prot. d. NR d. Rep. 0., 112. Sitzung vom 31. Mai 1922, 3708. 114 Hans Kriegl, Kirche und Schule, in: Kirche in Österreich 1918 -1965, 1. Bd., Wien 1966, 304. 115 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 190. Sitzung vom 6. Juni 1923, 5717.

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wegs auf. Immer häufiger ergriffen sie nach 1922 die Möglichkeit der parlamentarischen Anfrage an die Gesamtregierung oder einen einzelnen Minister. Im April 1923 richteten Otto Glöckel und Genossen eine dringliche Anfrage an die Bundesregierung wegen der Kürzung der Lehrerbezüge. 116 Als Bundeskanzler Dr. Seipel am 18. Oktober 1924 im christlichsozialen Parteirat seine persönliche Meinung über das Schulprogramm abgab und sich für die Wiedereinführung der konfessionellen Schule aussprach, verlangten die sozialdemokratischen Abgeordneten schon drei Tage später im Parlament Aufklärung darüber, ob die Erklärung des Bundeskanzlers die Haltung der Regierung beeinflussen werde oder ob die Rede lediglich dessen persönliche Meinung darstelle. 117 Die Parteitagsrede Seipels löste beim politischen Gegner große Unruhe aus, so daß es in den darauffolgenden Jahren bei der Erstellung eines definitiven Lehrplanes für die unteren Klassen wieder zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Mit diesen Lehrplänen, die Bundesminister Schneider erlassen hat, die aber auf Grund des Einspruchs der Sozialdemokraten kurz darauf zurückgezogen werden mußten, suchten die Christlichsozialen die Volksschule wieder enger an die Kirche heranzuführen. Die Sozialdemokraten sprachen von einem "klerikalen Lehrplan, der eine neue wichtige Position zur Erringung der konfessionellen" Schule bilden sollte. 118 Im Unterrichtsministerium kam es nach dem mißglückten Lehrplanerlaß zu Parteienverhandlungen und zu neuerlichen Vereinbarungen, die von den Christlichsozialen Dr. Schneider, Kunschak und dem Wiener Stadtrat Rummelhardt mitunterzeichnet wurden. Diese Vereinbarung fand aber nicht die Billigung der gesamten Christlichsozialen Partei. Unterrichtsminister Dr. Schneider mußte zurücktreten, und das Parteienabkommen wurde zurückgezogen. In Wien kam es deswegen zu Massenversammlungen und Massendemonstrationen. Dr. Rintelen folgte als Unterrichtsminister, doch auch er mußte bald dem dritten Leiter des Unterrichtsressorts im Jahr 1926, Minister Schmitz, weichen. Der Kampf um die Schulreform erreichte 1926 einen neuen Höhepunkt. Im selben Jahr folgte eine weitere dringliche Anfrage der sozialdemokratischen Abgeordneten zum sogenannten Katechetenerlaß, der es den Religionslehrern gestattete, Kinder über die Beteiligung an religiösen Übungen befragen und sie damit indirekt zu diesen anhalten zu können. 119 In einigen Fällen waren Religionslehrer wegen der bloßen Befragung der Schüler über die Erfüllung religiöser Pflichten disziplinär zur Verantwortung gezogen worden. Daher entschied das BundesmiA.a.O.; 176. Sitzung d. NR d. Rep. Ö., vom 12. April 1923, 5408-5427. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 59. Sitzung vom 21. Oktober 1924. 1646 -1668. 118 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., II. GP, 172. Sitzung vom 22. Dezember 1926, 4216 ff. 119 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., II. GP, 145. Sitzung vom 27. Mai 1926, 3579-3592. 116 117

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nisterium für Unterricht am 23. Dezember 1926 im Erlaßwege, daß die Religionslehrer zur bloßen Fragestellung berechtigt seien, wenn dabei irgendwelche Straffolgen weder verhängt noch angedroht würden. 120 Mit Durchführungsmaßnahmen, die dem Erlaß des Ministeriums widersprachen, setzte sich der Wiener Stadtschulrat über die getroffenen Maßnahmen hinweg. Die Fronten der Großparteien hatten sich so sehr verhärtet, daß der Obmann der Christlichsozialen, Prälat Seipel, den Sozialdemokraten vorwarf, einen "ununterbrochenen Kulturkampf" führen zu wollen. 121 Seit mehreren Jahren erhob sich auch gegen das konfessionelle Schulwesen im Burgenland heftiger Widerstand von seiten der Sozialdemokraten. Im jüngsten österreichischen Bundesland, dem im Staatsvertrag von St. Germain 122 aus Teilen West-Ungarns gebildeten Burgenland, galten die österreichischen Schulgesetze - ebenso auch die Ehegesetze - nicht. Für dieses Gebiet blieben die einschlägigen ungarischen Gesetze weiter in Kraft. Neben einer geringen Zahl ausschließlich von Gemeinden bzw. vom Land erhaltener interkonfessioneller Schulen existierten vorwiegend konfessionelle Schulen der Katholiken, Protestanten und Israeliten. 123 Diese konfessionellen Schulen waren vollberechtigte öffentliche Anstalten, die Schulverwaltung wurde von der betreffenden Konfession besorgt. Konfessionelle Schulbehörde der katholischen Schulen war die Apostolische Administratur. Ihr oblag die organisatorische Führung der konfessionellen Schulen. Präses des katholischen Schulstuhles war der Ortspfarrer. Die Lasten der Schulerhaltung lagen in erster Linie bei der Glaubensgemeinschaft, der politischen Gemeinde und dem Staat. Zur Bestreitung des Personalaufwandes trug das Land in hohem Maße bei. Die Übernahme der an den wenigen vom Staat erhaltenen Schulen tätigen sogenannten Staatslehrer in den Bundesdienst hatte die Bundesregierung schon im Jahre 1922 abgelehnt. Für diese Schulen bestritt das Land sowoht den Sach- wie auch den Personalaufwand. 124 Der burgenländische Landtag beschloß erstmals 1922 einstimmig ein Landesgesetz über die staatliche Schulaufsicht im Burgenland. Gegen dieses Gesetz erhob die Bundesregierung Einspruch und verhinderte die verfassungsmäßige Behandlung im Parlament. Der Landtag Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., Ir. GP, 145. Sitzung vom 27. Mai 1926, 3587. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., Ir. GP, 145. Sitzung vom 27. Mai 1926, 3590. 122 Staatsvertrag von St. Germain en Laye, Art. 27, Ziff. 5. 123 Im Burgenland gab es 1921 eine einzige Mittelschule, eine Lehrerbildungsanstalt, 5 Bürger (Haupt-)Schulen, 47 Staatsvolksschulen und 331 konfessionelle Schulen. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., Ir. GP., 88. Sitzung vom 17. März 1925, 2188 ff. Im Schuljahr 1932/33 gab es im Burgenland noch 296 konfessionelle Schulen, wovon 226 von der römisch-katholischen, 66 von der evangelischen und 6 von der israelitischen Glaubensgemeinschaft unterhalten wurden. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IV. GP., 88. Sitzung vom 21. Februar 1933, 3228. 124 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., Ir. GP., 88. Sitzung vom 17. März 1925, 2189. 120 121

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wiederholte seinen Beschluß und scheiterte neuerlich am Widerstand der Regierung. 125 In dieser Handlungsweise der Regierung erblickten die Sozialdemokraten nicht nur eine Pflichtverletzung des Bundeskanzlers, sondern zugleich den Versuch, das konfessionelle Schulwesen auf die gesamte Republik ausdehnen zu wollen. 126 In der burgenländischen Schulfrage blieben die Christlichsozialen unnachgiebig, obwohl sie bei einer Abstimmung über einen sozialdemokratischen Antrag auf Ausdehnung des Reichsvolksschulgesetzes auf das Burgenland am 23. Dezember 1926 mit 80 gegen 83 Stimmen unterlagen. 127 Ein solcher Antrag ist auch in der 3. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates erfolgreich wiederholt worden. 128 Damit hätte das Reichsvolksschulgesetz auch für das Burgenland verbindlich werden müssen. Die Regierung verzögerte jedoch die Durchführung.

Am 23. Jänner 1929 faßte der Nationalrat zum dritten Mal den Beschluß, das Reichsvolksschulgesetz auf das Burgenland auszudehnen. 129 Als auch dieser von der Regierung nicht berücksichtigt wurde, warf der Abgeordnete Glöckel der Unterrichtsverwaltung vor, sie betreibe die Seipel-Methode einer Sabotage der Verfassung. Die "burgenländische Schulschande" bezeichnete er als österreichischen Parlamentsskandal, durch den nicht nur die Autorität des Parlaments herabgesetzt, sondern der burgenländischen Schuljugend auch schwerster Schaden zugefügt werde. 130 Das Ziel der Sozialdemokratie war auch in diesem Fall klar. Ihr ging es um die Beseitigung der konfessionellen Schule im Burgenland. Sie wollte auch keine interkonfessionelle Schule, sondern eine Schule, frei von jedem kirchlichen Einfluß. 131 Obwohl die früheren Anträge am 18. Dezember 1929,132 am 12. Februar 1931,133 am 9. Dezember 1931,134 und am 21. 125 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., H. GP., 160. Sitzung vom 19. Dezember 1922, 5092 f. und 1363 der Beilagen zu den Sten.Prot., 30. Sitzung vom 7. Mai 1924, 727 f.; 88. Sitzung vom 17. März 1925, 2188 ff.; 124. Sitzung vom 12. Dezember 1925, 2941 ff. 126 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP., 30. Sitzung vom 7. Mai 1924, 728. 127 Die Sozialdemokraten haben denselben Antrag schon im Jahr 1925 gestellt. Damals waren sie aber noch unterlegen. Im Jahr 1926 stimmten die Landbündler und die Großdeutschen mit den Sozialdemokraten. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IH. GP., 34. Sitzung vom 24. Februar 1928, 1012 ff. 128 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., III. GP., 44. Sitzung vom 13. Juni 1927, 1319 ff. Der Antragswiederholung vom 28. Februar 1928 ist am 13. Juni 1928 eine dringliche Anfrage der Abgeordneten Glöckel und Genossen gefolgt, in der neuerlich die Übernahme des Reichsvolksschulgesetzes auf das Burgenland verlangt wurde. 129 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 78. Sitzung vom 23. Jänner 1929, 2223 ff. 130 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 113. Sitzung vom 15. Dezember 1929, 3140 ff. 131 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 113. Sitzung vom 15. Dezember 1929, 314l. 132 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 115. Sitzung vom 18. Dezember. 1929, 3255 f.

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Februar 1933 135 wiederholt wurden, kam es in der Ersten Republik zu keiner Änderung des konfessionellen Schulwesens im Burgenland. Der christlich-soziale Abgeordnete Dr. Aigner hat in der letzten Sitzung der im Wege von Notverordnungen einberufenen Nationalräte im Parlament noch einmal ein Bekenntnis zur Schaffung der konfessionellen Schule in Österreich abgelegt,136 seine Forderung fand aber keinen Niederschlag in der Verfassung von 1934. Auch im Konkordat konnte die konfessionelle Schule nicht verankert werden. Der katholischen Kirche und den Orden wurde jedoch ausdrücklich das Recht zuerkannt, katholische Schulen zu errichten und zu führen, die auch finanzielle Zuschüsse erhalten sollten,137 die Errichtung einer "öffentlich katholisch-konfessionellen Schule" wurde in Aussicht gestellt. 138 Das Zusatzprotokoll enthält die Feststellung, "daß im Burgenland konfessionelle Schulen als öffentliche Schule bestehen". 139 Die konfessionelle Schule im Burgenland blieb somit bis 1938 in ihrer ursprünglichen Form erhalten, und erst nach der Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich ist das konfessionelle Schulwesen im Burgenland beseitigt worden. 140 Die finanzielle Abgeltung für die im Eigentum der Kirche gewesenen Gebäude und Grundstücke, die Schulzwecken gewidmet waren, erfolgte erst 1960 im Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von vermögensrechtlichen Beziehungen. 141 Im 133 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IV. GP, 15. Sitzung vom 12. Februar 1931, 386.

134 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IV. GP, 60. Sitzung vom 9. Dezember 1931, 1552 und 1580. 135 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IV. GP, 121. Sitzung vom 21. Februar 1933, 3222. 136 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IV. GP, 126. Sitzung vom 30. April 1934, 3404. " ... Hohe Regierung! Da die christlichsoziale Partei nicht mehr Gelegenheit haben wird, in den alten Formen der Gesetzgebung, in der öffentlichen Verwaltung, in der Politik mitzubestimmen, so möchte ich sozusagen als ein Anhängsel an das politische Testament der christlichsozialen Partei an unsere Regierung, an den Herrn Bundeskanzler, die Bitte richten, bei sich bietender Gelegenheit, wenn es die politischen Verhältnisse nach erfolgter Konsolidierung in Österreich und wenn es die finanzielle Lage des Staates gestattet, dahin zu wirken, daß eine der ältesten Programmforderungen und einer der ältesten Wünsche der christlichsozialen Partei, aber auch der gesamten katholischen Bevölkerung erfüllt und die Gesetzwerdung der konfessionellen Schule in Österreich nicht aus dem Auge gelassen und herbeigeführt werden. Das ist unsere Herzenssorge, weil es die Sorge um unsere Jugend, die Sorge um die Zukunft unseres Staates ist ... ". 137 Konkordat Art. VI § 4 Abs. 1 und 2; Vgl. dazu: Johann Haring, Das Schulwesen nach dem österreichischen Konkordat, in: Bildung und Erziehung (1934) 270-273. 138 Konkordat Art. VI § 4 Abs. 3. 139 Zusatzprotokoll zu Art. VI § 2 Abs. 2. 140 Der Abs. 2 des Zusatzprotokolls zu Art. VI § 2 ist innerstaatlich durch die Verordnung des burgenländischen Landeshauptmannes Nr. 3/1938 derogiert worden, vgl. dazu: Hans R. Klecatsky-Hans Weiler, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1958, 264.

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Schulvertrag von 1962 verpflichtete sich die Republik Österreich zur Errichtung eines katholischen Schulwesens im Burgenland und außerdem zur Leistung eines einmaligen Betrages in der Höhe von 45 Millionen Schilling. 142 5. Kirche und Schule nach 1945

Die bis zum Jahr 1938 in Österreich geltende rechtliche Ordnung des Schulwesens wies unterschiedliche strukturelle Elemente auf, die teils bis in das 19. Jahrhundert reichten. Während der nationalsozialistischen Ära wurde die österreichische Schulgesetzgebung durch deutsche Rechtsvorschriften in einem Ausmaß durchbrochen, daß von einem einheitlichen Rechtsgefüge nicht mehr gesprochen werden konnte. Nach der Wiederherstellung der Republik Österreich wurde mit der Bundesverfassung von 1920 auch die Schulgesetzgebung aus der Ersten Republik wieder übernommen. Soweit diese nicht mehr den Zeiterfordernissen entsprach, ist auf Grund administrativer Verfügungen vorerst eine Anpassung erfolgt. Das österreichische Schulwesen besaß daher nach 1945 keine einheitliche Schulrechtsordnung, und so entstand nicht nur der Wunsch, sondern auch die Erkenntnis der Notwendigkeit einer rechtlichen Neuordnung des Schulwesens. Auch im Verhältnis der Schule zur Kirche waren nicht unwesentliche Veränderungen zu verzeichnen. Der Religionsunterricht zählte bis zum Jahre 1938 zu den Pflichtgegenständen des schulischen Unterrichts. In der nationalsozialistischen Ära war dieses Fach zum Freigegenstand, für den die Anmeldung vorgeschrieben wurde, degradiert worden. Das konfessionelle Schulwesen im Burgenland wurde zur Gänze beseitigt, und alle kirchlichen Privatschulen hatten zu bestehen aufgehört. 143 Nach der faschistischen Ära wurde mit dem Erlaß vom 7. Juni 1945, Z1. 505,144 im administrativen Wege der Religionsunterricht als Pflichtgegenstand mit zwei nicht unwesentlichen Modifikationen wieder eingeführt. 144a Die im reichsdeutschen Gesetz über die religiöse Kindererziehung verankerte Ab141 BGBl. Nr. 195/ 1960 Art. VI. Zur Schulgeschichte in Österreich vgl. auch Friedrich Jellouschek, Das österreichische Schulwesen, in: Recht und Wirtschaft der Schule 4 (1963) 33 - 55. 142 BGBl. Nr. 273/ 1962 Art. III. 143 Vgl. dazu: Robert Höslinger, Die nationalsozialistischen Maßnahmen gegen das kirchliche Schulwesen in Österreich, in: Im Dienste des Rechts in Kirche und Staat, FS f. Franz Arnold, Wien 1963, 111-125; Alfred Rinnerthaler, Die Zerschlagung des kirchlichen Privatschulwesens im Reichsgau Salzburg, in: Vermögensverwaltung in der Kirche. Thaur / Innsbruck 2 1988,39-64; Alfred Rinnerthaler, Der Konfessionsunterricht im Reichsgau Salzburg, Salzburg 1991. 144 Der Erlaß ist durch das Religionsunterrichtsgesetz vom 13.7.1949, RGBl. Nr. 190, aufgehoben worden. 144a Gesetz vom 15.7.1921, DRGBl I S. 939, in Österreich in Kraft getreten am 1. 3.1939.

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meldemöglichkeit vom Religionsunterricht ist auch in die österreichische Rechtsordnung nach 1945 eingeflossen. Außerdem ist die Besoldung der Religionslehrer den Kirchen bzw. Religionsgesellschaften überlassen worden. In einem Parteienabkommen hatte man 1945 darüber hinaus auch die Anzahl der wieder zugelassenen kirchlichen Privatschulen festgelegt. 145 Tatsächlich konnten aber 1945 alle bis 1938 bestandenen konfessionellen Privatschulen ihre Unterrichtstätigkeit wieder aufnehmen. Ein Erlaß des damaligen Staatssekretärs im Unterrichtsministerium verfügte jedoch, daß Neugründungen von katholischen Schulen nicht mehr möglich sein sollten. 146 Das österreichische Schulwesen war am Beginn der Zweiten Republik von vielen Provisorien gekennzeichnet. Vor allem fehlte immer noch eine einheitliche verfassungsrechtliche Grundlage mit den kompetenzmäßigen Abgrenzungen. Aber auch die rechtliche Basis der Schulorganisation besaß einen eher mosaikartigen Charakter. Es fehlte auch nicht an Bemühungen, das Schulwesen gänzlich neu zu regeln. Noch im Jahre 1948 sind zwei Entwürfe für eine Gesamtregelung des Schul- und Erziehungswesens erstellt worden, einer von der sozialistischen Partei und einer vom Bundesministerium für Unterricht. 147 Beide Entwürfe stimmten in der Verlängerung der Schulpflicht von acht auf neun Jahre überein, jedoch mit unterschiedli~ chen Varianten. Während der Entwurf des Bundesministeriums für eine Verlängerung der Grundstufe der Volksschule von vier auf fünf Jahre eintrat, sah der sozialistische Vorschlag die Verlängerung der Schulpflicht als neuntes Schuljahr vor. Zur Lehrerbildung enthielten beide Entwürfe sehr differierende Vorstellungen. Zu den strittigen Punkten zählte die Subventionierung der konfessionellen Privatschulen. Die vom Unterrichtsministerium, der österreichischen Volkspartei und der Kirc~ erhobene Forderung nach einer obligatorischen Subventionierung der konfessionellen Privatschulen wurde einerseits mit dem Recht der Eltern, ihre Kinder ohne erhebliche Mehrausgaben in solche Schulen zu schicken, andererseits damit begründet, daß der Staat den dadurch ersparten Schulaufwand den Privatschulen zur Verfügung stellen soll. Demgegenüber vertrat die sozialistische Partei den Standpunkt, die öffentliche Schule stünde allen Schülern zur Verfügung und deI' Besuch einer Privatschule sei Privatsache, die sich 145

32.

August Zechmeister, Die katholische Schule als politische Frage, Wien 1953,

146 Johann Schmidt, Entwicklung der katholischen Schule in Österreich, Wien 1958, 162 f. Dieser Erlaß des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kulturangelegenheiten vom 11. August 1945, Z1. 2769/1945 wurde durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Z1. 245/51 vom 3. Juli 1951 aufgehoben. Vgl. dazu: ÖAKR 2 (1951) 260 f. 147 Beide Entwürfe sind abgedruckt in: Erziehung und Unterricht 98 (1948) 660675; 99 (1949) 67-83, 209-229, 299-312.

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jeder selbst zu finanzieren habe. 148 Auf diesem Standpunkt verharrte die sozialistische Partei sehr hartnäckig, 'und erst in einem späteren Stadium 149 stimmte sie der Subventionierung der Privatschulen zu. In der Frage des Religionsunterrichtes gab es bei den allgemeinbildenden Schulen infolge der obligatorischen Einführung seit 1945 keine offenen Probleme. Strittig hingegen war Religion als Pflichtfach in den berufsbildenden Schulen wie auch die Anbringung von Schulkreuzen in den Klassenräumen. Beide Großparteien hatten 1948 ihr Schulprogramm zu verteidigen versucht und wenig Bereitschaft gezeigt, von den eingeschlagenen Positionen abzuweichen. Erst mit zunehmender Annäherung der ideologischen Standpunkte ist auch die kämpferische Note in kulturpolitischen Fragestellungen immer mehr zurückgetreten. Nicht zuletzt ist dieser Wandel durch die Haltung der katholischen Kirche bewirkt worden, sich aus parteipolitischen Fragen herauszuhalten. In einem wesentlichen Teilgebiet des Schule-Kirche-Verhältnisses konnte trotz verhärteter Fronten in schulischen Belangen dennoch ein Erfolg erzielt werden. Im Juni 1949 wurde von der Bundesregierung dem Nationalrat eine Gesetzesvorlage unterbreitet, wodurch der Religionsunterricht in der Schule neu geordnet werden sollte. 150 Mit diesem Gesetz war nach 1945 148 In diesem Punkt waren beide Entwürfe konträr, daher seien hier die betreffenden Paragraphen der Entwürfe im Wortlaut wiedergegeben. Entwurf BMfU § 30 (2) Jeder von einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft (Orden und Kongregationen) erhaltenen privaten Schule mit Öffentlichkeitsrecht ist ein Schulkostenbeitrag aus öffentlichen Mitteln zu gewähren, wenn eine solche Schule eine verhältnismäßig beträchtliche Schülerzahl aufweist und der betreffende öffentliche Schulerhalter dadurch eine finanzielle Entlastung erfährt. Dies ist als gegeben anzusehen, wenn die durchschnittliche Schülerzahl der Klassen dieser Schule mindestens zwei Drittel des Klassendurchschnittes an den öffentlichen Schulen gleicher Art im Bundeslande beträgt. (3) Der Schulkostenbeitrag ist von jenem öffentlichen Haushalte zu tragen, dem die Errichtung und Erhaltung der gleichartigen öffentlichen Schulen obliegt. (4) Der Schulkostenbeitrag ist so zu bemessen, daß der betreffenden Schule für jeden ihrer Schüler ein Betrag im Ausmaße der auf den Kopf eines Schülers an den öffentlichen Schulen der gleichen Schulart entfallenden Quote des Personal- und Sachaufwandes vergütet wird. Entwurf der SPÖ § 152 Private Schulen aller Art dürfen aus Mitteln des Bundes, der Länder oder der Gemeinden keinerlei Zuwendungen erhalten. Diese Bestimmung gilt jedoch nicht für fachliche Schulen, die von den zuständigen öffentlich-rechtlichen Wirtschaftskörperschaften erhalten werden. Solche Schulen können auch hinsichtlich der Ausstellung staatsgültiger Zeugnisse den öffentlichen Schulen gleichgestellt werden. 149 Die gesetzliche Regelung ist im Schulvertrag 1962, BGBl. Nr. 273/1962, dem am 8. März 1971 ein Zusatzvertrag, BGBl. Nr. 289/1972, folgte und im Privatschulgesetz 1962, BGBl. Nr. 244/1962 in der Fassung der Novelle vom 30.5.1972, BGBl. Nr. 290/ 1972 erfolgt. 150 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., V. GP, 113. Sitzung vom 9. Juni 1949, 2343.

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erstmals das Zusammenwirken kirchlicher und staatlicher Interessen in konstruktiver Form feststellbar. Im Unterrichtsausschuß wurde die Regierungsvorlage,151 abgesehen von einer unwesentlichen textlichen Variante zu Paragraph 1, am 6. Juli 1949 unverändert angenommen. 152 Die Zeit der gegensätzlichen Positionen schien vorbei zu sein, und der sozialistische Abgeordnete Neugebauer bekannte offen: "Es gibt in Österreich keinen Boden mehr für einen Kulturkampf" . Das Gesetz sei "mit verhältnismäßiger Leichtigkeit" zustandegekommen, und auch die Verhandlungen innerhalb der Parteien und mit den Konfessionen seien ohne Schwierigkeiten geführt worden. Die Ursache dafür sei einzig und allein in der geänderten Stellung der katholischen Kirche dem öffentlichen Leben gegenüber zu suchen. 153 Nur in einem einzigen Punkt war kein Einvernehmen zu finden. Die Subventionierung konfessioneller Privatschulen lehnten die Sozialisten noch 1949 kategorisch ab, die Besoldung der Religionslehrer durch den Staat wurde jedoch akzeptiert. 154 Das Religionsunterrichtsgesetz von 1949 hat der Kirche im wesentlichen wieder die Befugnisse zurückgegeben, die sie bis 1938 im Schulbereich innegehabt hat. In eine Reihe von wichtigen Punkten ist nicht nur ein Einvernehmen möglich geworden, sondern auch wieder rechtliche Klarheit entstanden. Der Religionsunterricht basierte rechtlich bis 1949 auf dem Erlaß vom 7. Juni 1945. Die gesetzliche Grundlage brachte erst das Religionsunterrichtsgesetz. Erwähnenswert ist schließlich, daß dieses Gesetz als ein provisorisches angesehen wurde, das bei einer Neufassung der Schulgesetze abgeändert werden sollte. 155 Außerdem ergingen zum Religionsunterrichtsgesetz neun gleichlautende Landesgesetze. Demnach ist dieses Gesetz noch nach der paktierten Regelung zustandegekommen. 156 Im Hinblick auf den provisorischen Charakter des Religionsunterrichtsgesetzes, insbesondere durch das Ausbleiben des lang erwarteten Schulkompromisses zwischen den beiden Regierungsparteien, ist vorwiegend aus Gründen der dienstrechtlichen Gleichstellung der Religionslehrer mit den übrigen Lehrern eine Novellierung des Religionsunterrichtsgesetzes notwendig geworden. Das Bundesge151 92 der Beilagen zu den Steno Prot. d. NR, V. GP. 152 962 der Beilagen zu den Steno Prot. d. NR, V. GP. 153 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., V. GP, 116. Sitzung vom 13. Juli 1949, 3321. 154 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., V. GP, 116. Sitzung vom 13. Juli 1949. 155 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., V. GP, 116. Sitzung vom 13. Juli 1949. 156 Die Übernahme der paktierten Gesetzgebung aus der Monarchie war notwendig geworden, weil die verfassungsrechtliche Abgrenzung der Kompetenzbestimmungen auf dem Gebiete des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens einer späteren Gesetzgebung vorbehalten blieb. Vgl. Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, betreffend den Übergang zur bundesstaatlichen Verfassung, BGBl. d. Republik Österreich, Jg. 1920, Nr. 2.

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setz vom 13. Juli 1949 hatte nämlich normiert, daß die von den Gebietskörperschaften angestellten Religionslehrer nur als Vertragslehrer, nicht aber als pragmatisierte Lehrer in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis übernommen werden konnten. 157 Diese rechtliche Regelung bedeutete nicht nur eine sachlich nicht gerechtfertigte dienstrechtliche Benachteiligung der Religionslehrer gegenüber den übrigen Lehrern an öffentlichen Schulen, sondern zugleich auch eine Verletzung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Gleichheitsgrundsatzes. Zudem wurde für jene Fälle Vorsorge getroffen, in denen dem Religionslehrer die erforderliche kirchliche Ermächtigung zur Erteilung des Religionsunterrichtes entzogen wurde. Weitere Bestimmungen betrafen die dienstrechtliche Stellung der Religionsinspektoren und einige den Erfordernissen der Praxis Rechnung tragende Ergänzungen des Religionslehrerrechtes. 158 Die Regierungsvorlage zur Religionsunterrichtsgesetz-Novelle 1957 gelangte schon im Februar 1957 an den Unterrichtsausschuß im Parlament. 159 Von diesem wurde in der Sitzung vom 23. Mai 1957 ein Unterausschuß zur Vorberatung der vorliegenden Regierungsvorlage eingesetzt. Dadurch verzögerte sich einerseits die Inkraftsetzung der Novelle, andererseits wurde der Entwurf selbst noch abgeändert. 160 In der Regierungsvorlage war noch vorgesehen gewesen, daß ein pragmatisierter Religionslehrer, dem die Ermächtigung zur Erteilung des Religionsunterrichtes entzogen wurde, zwar nicht mehr Religion unterrichten durfte, jedoch von der Gebietskörperschaft in eine entsprechende anderweitige Dienstverwendung übernommen werden konnte. 161 Der Änderungsvorschlag des Unterrichtsausschusses ging dahin, daß die Widerrufbarkeit des pragmatischen Dienstverhältnisses der Religionslehrer deshalb sachlich gerechtfertigt sei, weil der Religionslehrer in Ausübung seiner Tätigkeit an den Besitz der kirchlichen Ermächtigung gebunden sei, ohne daß der staatlichen Behörde ein Einfluß auf die Zuerkennung oder Aberkennung dieser Ermächtigung zukomme. 162 Die Maßnahme der Entpragmatisierung könne nicht dem Ermessen der Behörde überlassen bleiben und daher erscheine es geboten, die Auflösung des pragmatischen Dienstverhältnisses anzuordnen. 163 Es ist erwähnenswert, daß die Weiterverwendung von pragmatisierten Religionslehrern im öffentlichen Dienst, denen die Ermächtigung zur Erteilung des Religions-

157 158 159 160 161 162 163

Bundesgesetz vom 13. Juli 1949, BGBL Nr. 190. 200 und 261 der Beilagen zu Sten.Prot. d. NR, VIII. GP. 200 der Beilagen, VIII. GP. 261 der Beilagen, VIII. GP. 200 der Beilagen, VIII. GP. 261 der Beilagen, VIII. GP. 200 der Beilagen, VIII. GP.

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unterrichts entzogen worden ist, über sozialistischen Wunsch aus der Regierungsvorlage herausgenommen wurde. 164 Auch wurden dem Nationalrat zwei Entschließungen zur Annahme vorgelegt, worin die Bundesregierung aufgefordert wurde, Vorsorge für jene Personen zu treffen, denen die kirchliche Ermächtigung entzogen wurde, damit diesen im Falle von Krankheit oder Arbeitslosigkeit ein über die derzeitige gesetzliche Regelung zeitlich hinausgehender sozialer Schutz eingeräumt werden könne. 165 Der Gesetzesentwurf über die Religionsunterrichtsgesetz-Novelle 1957 gelangte am 10. Juli 1957 zur parlamentarischen Behandlung. 166 Nachdem die bei den Großparteien sich bereits im Unterrichtsausschuß in der Sache geeinigt hatten, ist die Debatte im Parlament ohne große Emotionen geführt worden. Lediglich die Abgeordneten der Freiheitlichen Partei glaubten, dem Gesetzesentwurf nicht zustimmen zu können, da nach ihrer Meinung ein einmal pragmatisierter Religionslehrer grundsätzlich in einem unkündbaren Dienstverhältnis stehe. 167 Die Freiheitlichen ihrerseits schlugen eine Lösung vor, die dem Zusatzprotokoll des Konkordats von 1933/34 konform war. 168 Demnach sollte ein pragmatisierter Religionslehrer bei Entzug der kirchlichen Ermächtigung in den Ruhestand versetzt werden. Den Argumenten der Freiheitlichen Partei konnte sich die Regierungsmehrheit nicht anschließen, und daher wurde die Novelle mehrheitlich beschlossen. Wie sehr sich das kulturpolitische Klima zur damaligen Zeit zugunsten einer Verständigung zwischen Kirche und Staat bereits entwickelt hatte, kann an dem Debattenbeitrag des Abgeordneten Rödhammer schon deutlich aufgezeigt werden: "Die sachlichen Beratungen und die einstimmigen Beschlüsse im Unterrichtsausschuß in einer kulturpolitisch neuralgischen Angelegenheit, wenn auch nicht in einer zentralen Angelegenheit, wie es auch Herr Dr. Neugebauer erwähnt hat, bei dem vorliegenden Gesetzentwurf könnten als verheißungsvoller Auftakt für die Lösung der größeren und umfassenderen kulturpolitischen Probleme gedeutet werden. Wollen wir hoffen, daß diese Interpretation nicht fehlgeht und daß die kommenden Verhandlungen über Konkordat, Schule und Ehe einen Geist der Aufgeschlossenheit und der Toleranz bekunden werden (Ruf bei der SPÖ: Bei euch!) Wir wollen hoffen, daß Ihre bisherige starre Front gegenüber religiös-kirchlichen Problemen sich tatsächlich als aufgelockert erweist und das Wort vom ,neuen 164 165 166 167 168

Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., VIII. GP, 34. Sitzung vom 10. Juli 1957, 1347. 261 der Beilagen, VIII. GP. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., VIII. GP, 34. Sitzung vom 10. Juli 1957, 1334-1348. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., VIII. GP, 34. Sitzung vom 10. Juli 1957, 1340. Konkordat von 1933/34, Zusatzprotokoll zu Art. V, § 4.

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Klima' keine Phrase ist, sondern ein verheißungsvoller Lichtschimmer auf dem Weg in die Zukunft unseres Volkes und Landes" .169 Der Bundesrat hat dem Gesetzesbeschluß des Nationalrates in seiner Sitzung am 25. Juli 1957 zugestimmt. 170 Mit der Schulgesetzgebung 1962 hat eine Entwicklung der österreichischen Schultradition ihr Ende gefunden, die in ihren Wurzeln noch in den Liberalismus des 19. Jahrhunderts zurückreichte. Aus weltanschaulichen Gegensätzen unterblieb bei der Schaffung der Bundesverfassung im Jahre 1920 die Kompetenzabgrenzung auf dem Gebiet des Schul-Erziehungs- und Volksbildungswesens zwischen dem Bund und den Ländern in bezug auf Gesetzgebung und Vollziehung. In politischer Hinsicht wurde das schulorganisatorische Provisorium mit dem System der paktierten Gesetzgebung abgesichert und damit trat praktisch eine" Versteinerung" in der Schulgesetzgebung ein. Nach 1945 konnte ein Schulkompromiß zwischen den beiden Großparteien lange Zeit nicht gefunden werden, und erst 1960 gelang es, ein gemeinsames Regierungsprogramm zu entwickeln. In mehrjährigen Parteienverhandlungen und Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern wurde ein einheitlicher Komplex von mehreren Schulgesetzen neben der Neufassung der verfassungsrechtlichen Grundlage hinsichtlich des Schulwesens geschaffen. Das Schulgesetzgebungswerk von 1962 war als Kompromiß zwischen den beiden Regierungsparteien anzusehen. l71 Mit der verfassungsrechtlichen Kompetenzabgrenzung auf dem Gebiete des Schulwesens wurde nicht nur die Grundlage für die übrige Schulgesetzgebung geschaffen, sondern zugleich ein 42 Jahre lang dauerndes verfassungsrechtliches Provisorium zu Ende geführt. Für das Verhältnis von Kirche und Staat sind mehrere im Verfassungsrang stehende Bestimmungen von großer Bedeutung. Außer der Neufassung der Kompetenzverteilung Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., VIII. GP, 34. Sitzung vom 10. Juli 1957, 1348. Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., VIII. GP, 37. Sitzung vom 25. Juli 1957, 2964-2973. 171 Zur Schulgesetzgebung 1962 existieren zahlreiche Veröffentlichungen, hier nur einige wenige Literaturhinweise: Hans Spreitzer, Das österreichische Schulgesetzwerk 1962, in: Erziehung und Unterricht 112 (1962) 383 - 389; Friedrich Jellouscheck, Das österreichische Schulwesen, in: Recht und Wirtschaft der Schule 4 (1963) 33-35; Erwin Melichar, Die Schulgesetzgebung 1962, in: ÖAfKR 15 (1964) 277 -296; Hugo Schwendenwein, Verfassung, Religionsunterrichtsgesetz, Schulvertrag, in: CPBl 92 (1979) 53 ff.; Hugo Schwendenwein, Die rechtliche Ordnung des konfessionellen Privatschulwesens, in: ThpQS 130 (1982) 158 ff.; Rieger-Schima, Katholische Kirche, Organisation, Besonderer Teil, in: Rechtslexikon, hrsg. von Maultaschl-Schuppisch-Stagl, Wien 1968; Gerhard LuJ, Religionsunterricht - ein Privileg der Kirchen, FS f. W. M. Plöchl zum 70. Gbtg., Innsbruck 1977, 457 -471; Johann Trummer, Dienstrechtliche Probleme der Lehrer für den Unterrichtsgegenstand "Katholische Religion" an den ARS und BRS, in: Jahresbericht des BG und BG für Berufstätige, Leoben 1977 / 78; Hugo Schwendenwein, Religion in der Schule, Rechtsgrundlagen, Graz 1980. 169

170

28 Parlamentarismus

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auf dem Gebiete des Schulwesens sowie auf dem Gebiete des Erziehungswesens in den Angelegenheiten der Schüler- und Studentenheime,l72 enthält die Schulgesetzgebung 1962 erstmals einige verfassungsrechtliche Begriffsbestimmungen. Die begriffliche Abgrenzung war notwendig geworden, weil infolge unterschiedlicher begrifflicher Verwendung des Begriffes "Schule" in der Vergangenheit eine Auslegung der Begriffe Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesen auf Schwierigkeiten stoßen mußte. Der Gesetzgeber hatte sich dabei jener Begriffsbestimmungen bedient, die vorher durch den Verfassungsgerichtshof ausgebildet wurden. 173 An Stelle der alten paktierten Gesetzgebung wurde durch das BundesVerfassungsgesetz vorgesehen, daß Bundesgesetze auf dem Gebiete des Schulwesens nur mit den qualifizierten Anwesenheits- und Stiinmerfordernissen beschlossen werden können, wie sie sonst nur für Verfassungsgesetze erforderlich sind. 174 Zu diesen Gesetzen zählen das Privatschulgesetz, das Gesetz über das Verhältnis der Schule zur Kirche, das Religionsunterrichtsgesetz und auch der Schulvertrag mit dem Apostolischen Stuhl. Diese Bestimmung findet sich in der Regierungsvorlage vom 26. Juni 1962 noch nicht, 175 hingegen aber in den vom Verfassungsausschuß vorgenommenen Änderungen zur Regierungsvorlage, die mit 16. Juli 1962 datiert sind. 176 Die in der kurzen Zeitspanne zwischen 4. Juli 177 und 16. Juli 1962 vereinbarte Neufassung des Artikels 14 Bundesverfassungsgesetz muß daher als Ergebnis eines politischen Kompromisses zwischen den beiden damaligen Regierungsparteien gewertet werden. Die Tragweite der getroffenen Vereinbarung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers deutlich zum Ausdruck bringen, es in Hinkunft auszuschließen, daß Zufallsmehrheiten der einfachen Gesetzgebung zu einer Zersplitterung der Schulgesetzgebung von 1962 führen würden. Als Oppositionspartei ist damals von der Freiheitlichen Partei die verfassungsmäßige Schutzbestimmung zur Abänderung der Schulgesetzgebung heftig bekämpft und als "Ausdruck des koalitionären 172 Art. 14, Abs. 1-5 B-VG vom 18. Juli 1962, BGBL Nr. 215. Die Schulgesetzgebung 1962 erfaßte nicht das land- und forstwirtschaftliche Schul- und Erziehungswesen. Dieses ist erst durch das B-VG vom 28.4.1975, BGBL Nr. 316 geändert worden. 173 Die begriffliche Abgrenzung umfaßte die Begriffe "öffentliche Schule", "Privatschule" und den Begriff des " Schulerhalters " . 174 BVG 215/1962 vom 18. Juli 1962, Art. 14 Abs. 10. 175 730 der Beilagen zu den Sten.Prot. des NR d. Rep. Ö., IX. GP, Sitzung vom 26.6.1962. 176 777 der Beilagen zu den Sten.Prot. des NR d. Rep. Ö., IX. GP, Zu den Änderungen zählen weiters Angelegenheiten der Schulbehörden, der Schulpflicht und der Schulorganisation. 177 Am 4. Juli 1962 ist vom Verfassungsausschuß ein Unterausschuß eingesetzt worden, der die Regierungsvorlage durchzuberaten hatte. Der Unterausschuß hatte am 16. Juli 1962 seine Arbeiten beendet, vgl. dazu 777 der Beilagen, (Anm. 162).

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Mißtrauens der einen Partei gegen die andere" hingestellt worden. Der neue Komprorniß stelle eine Verschlechterung der verfassungsrechtlichen Lage dar, da die Abänderung eines der genannten Gesetze an die qualifizierte Mehrheit gebunden sei. Einfachgesetzliche Regelungen durch Verfassungsbestimmungen zu binden, sei nicht nur ein legistisches Novum, sondern in den Augen der Freiheitlichen Abgeordneten auch eine unzulässige Behinderung für künftige Entwicklungen. 178 Nach Artikel VI des erwähnten Bundesverfassungsgesetzes ist auch die Subventionierung der konfessionellen Privatschulen verankert worden, die zunächst 60 Prozent des Personalaufwandes umfaßte, durch die Novelle des Privatschulgesetzes 1972 die Subvention im vollen Ausmaß des tatsächlichen Personalaufwandes steigerte. 179 Gegen das Bundesverfassungsgesetz hinsichtlich der Neufassung des Schulwesens wurde am 20. Juli 1962 vom Bundesrat kein Einspruch erhoben, 180 in Kraft getreten ist das Verfassungsgesetz aber bereits am 18. Juli 1962, das ist der Tag der Beschlußfassung durch den Nationalrat. Durch den Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen wurden die Bestimmungen des Artikel VI des Konkordats vom 5. Juni 1933 und dessen Zusatzprotokoll teils ersetzt, teils ergänzt. 181 In Artikel I des Vertrages wurden Fragen des Religionsunterrichts, in Artikel II das katholische Privatschulwesen, in Artikel III die Leistung bestimmter Zahlungen zur Errichtung des katholischen Schulwesens im Burgenland und in Artikel IV die Beteiligung der katholischen Kirche an den kollegialen Schulbehörden geregelt. Der Schulvertrag ist von der Freiheitlichen Partei ebenfalls abgelehnt worden, insbesondere glaubten sie, der konkordatären Teilregelung wegen dem den katholischen Schulen gewährten rechtlichen Anspruch auf Subventionen in einem bestimmten Ausmaß nicht zustimmen zu können. 182 Die Novelle 1962 zum Religionsunterrichtsgesetz war hauptsächlich in Angleichung an den mit dem Heiligen Stuhl geschlossenen Vertrag notwendig geworden. Die Ausdehnung des Religionsunterrichtes als Pflichtgegenstand auf alle berufsbildenden mittleren und höheren Schulen, ausgenomSten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IX. GP, 106. Sitzung vom 18. Juli 1962, 4696 ff. BVG 215/1962 vom 18. Juli 1962, Art. VI in Verbindung mit dem BG vom 25.7.1962, BGBL Nr. 244 in der Fassung der Novelle vom 30.5.1972, BGBL Nr. 290/ 1972, §§ 17 -20. 180 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IX. GP, 194. Sitzung vom 20. Juli 1962, 4688-4702. 181 Vertrag vom 9. Juli 1962 zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen samt Schlußprotokoll, BGBL Nr. 273. 182 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IX. GP, 109. Sitzung vom 25. Juli 1962, 4875 -4878. 178 179

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men die land- und forstwirtschaftlichen Schulen, 183 und auf alle im Schulorganisationsgesetz neu aufgeführten Schultypen, einschließlich der Pädagogischen Akademien, an denen an die Stelle des Religionsunterrichtes der Pflichtgegenstand Religionspädagogik trat, zählte zu den materiell wichtigsten Materien der Novelle. Mit Rücksicht auf die besondere Organisation der gewerblichen und kaufmännischen Berufsschulen sollte an diesen Schulen der Religionsunterricht auch weiterhin als Freigegenstand geführt werden können. 184 Die rechtliche Stellung der religiösen Übungen, die im Jahre 1945 für unverbindlich erklärt wurden und wozu auch das Religionsunterrichtsgesetz von 1949 keine Regelung brachte, wurde durch die Novelle von 1962 gesetzlich festgelegt. Demnach ist den Schülern die Teilnahme daran im bisher üblichen Ausmaß zu ermöglichen, grundsätzlich hielt aber auch die Novelle 1962 daran fest, daß die Teilnahme an den religiösen Übungen sowohl für Schüler als auch für Lehrer freigestellt bleiben soll. Außerdem wurde angeordnet, daß an Schulen, in denen der Religionsunterricht Pflichtgegenstand ist und an denen die Mehrzahl der Schüler einem christlichen Religionsbekenntnis angehört, in allen Klassenräumen ein Kreuz anzubringen sei. 185 Die übrigen Änderungen betreffen Regelungen für den Fall, daß die Schüler zu Religionsunterrichtsgruppen zusammengezogen werden müssen, weil sie einem Bekenntnis angehören, das weniger als die Hälfte der Schüler einer Klasse umfaßt. 186 Gegen die Religionsunterrichtsgesetznovelle 1962 wurde von den politischen Vertretern im Parlament kein Einwand erhoben, so daß die Religionsunterrichtsgesetz-Novelle 1962 einstimmig beschlossen wurde. 187 Im Privatschulgesetz 1962 haben die gleichen konkordatären Abmachungen ihren Niederschlag gefunden. Das Gesetz regelt die Errichtung und Führung von Privatschulen sowie die Verleihung des Öffentlichkeitsrechtes und die Gewährung von Subventionen an diese Schulen. 188 Den schulge183 Diese Ausnahme ist durch die Religionsunterrichtsgesetz-Novelle 1975 beseitigt worden, so daß an den berufsbildenden mittleren und höheren Schulen sowie an den land- und forstwirtschaftlichen Berufsschulen im gesamten Bundesgebiet der Religionsunterricht Pflichtgegenstand geworden ist, vgl. dazu: Religionsunterrichtsgesetz vom 13.7.1949, BGBl. Nr. 190/1949 in der Novelle 1975, BGBl. Nr. 324 § 1 (1) d-e und g. 184 Eine Ausnahme bilden lediglich die Länder Tirol und Vorarlberg, in denen auch an den Berufsschulen der Religionsunterricht zu den Pflichtgegenständen zählt. 185 Religionsunterrichtsgesetz §§ 2 a und 2 b. 186 Religionsunterrichtsgesetz §§ 7a, Abs. 1-3 und 7b, Abs. 1-2. 187 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IX .. GP, 109. Sitzung vom 25. Juli 1962, 4915. 188 BG vom 25.7. 1962, BGBI. Nr. 244. Für das land- und forstwirtschaftliche Privatschulwesen ist das betreffende Gesetz erst am 29. April 1975, BGBl. Nr. 318 ergangen.

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setzlichen Bedingungen über die Errichtung und Führung einer Privatschule wurden Begriffsbestimmungen vorangestellt, die durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes entwickelt worden waren. 189 Durch diese Legaldefinitionen wollte man den Schwierigkeiten begegnen, die dadurch aufgetreten waren, welche S~hulen als Schulen im eigentlichen Sinne anzusehen seien. Ein weiterer wichtiger Normenkomplex des Privatschulgesetzes betrifft die Subventionierung der Privatschulen. Dabei wird die Unterscheidung zwischen konfessionellen )lnd nichtkonfessionellen Privatschulen getroffen. Während den Kirchen und Religionsgesellschaften ein Rechtsanspruch auf Subventionierung der von ihnen unterhaltenen konfessionellen Schulen eingeräumt wurde, war die Subventionierung nichtkonfessioneller Privatschulen nur nach der Maßgabe der bundesfinanzgesetzlichen Vorschriften vorgesehen worden. Diese Unterscheidung wurde im Parlament von den Freiheitlichen Abgeordneten unter Hinweis auf die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes bekämpft. 190 Vom Gesetzgeber war den beiden Privatschularten die Begründung zugrundegelegt worden, daß das öffentliche Schulwesen in Österreich ein interkonfessionelles sei und daher die konfessionellen Privatschulen eine nicht unwesentliche Ergänzung des öffentlichen Schulwesens darstelle, durch die es den Eltern erleichtert wurde, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder frei zu wählen. 191 Diese sachlich gebotene Unterscheidung läßt den Vorwurf einer Gleichheitsverletzung unberechtigt erscheinen.

n. Die Ehefrage 1. Liberale Ehegesetzgebung

Die Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Österreich muß als eine Folge der Verfassungsgesetzgebung des Jahres 1867 angesehen werden. Durch die Aufteilung der Kompetenzen von Kirche und Staat in bezug auf die "inneren Angelegenheiten" und "äußeren Rechtsverhältnisse" im Sinne von Art. 15 StGG wird für die staatliche Gesetzgebung die Voraussetzung geschaffen, all das zu regeln, was nicht innere Angelegenheit darstellt. Wie der Moti189 Folgende Erkenntnisse sind dafür maßgeblich: Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom 21. 3.1933, Slg. Nr. 1505, des Bundesgerichtshofes vom 8.11.1935, Slg. Nr. 777, des Verfassungsgerichtshofes vom 10.10.1951, Slg., Nr. 2207 und vom 11.10.1960, B 51/1960 und B 135/1960, Slg. Nr. 3801. 190 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IX. GP, 109. Sitzung vom '25. 7.1962,4875 ff und 4892 f. 191 Vgl. dazu: 735 der Beilagen zu den Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., IX. GP., vom 26.6.1962.

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venbericht zum Katholikengesetz von 1874 ausführt, sind unter den äußeren kirchlichen Angelegenheiten bzw. äußeren kirchlichen Rechtsverhältnissen insbesondere jene Kirche und Staat betreffenden Angelegenheiten zu verstehen, die bisher im Konkordat von 1855 geregelt waren. 192 Wie zielstrebig an den konfessionellen Gesetzen gearbeitet wurde, zeigt schon die zeitliche Abfolge. Der Verfassungsausschuß hatte seine Arbeiten noch gar nicht beendet, als im konfessionellen Ausschuß bereits Beratungen über die Beziehungen der Kirche zum Staat geführt wurden. Die Gesetzesentwürfe des Verfassungs- und des Konfessionellen Ausschusses sind also parallel erstellt worden, ja im Abgeordnetenhaus sind die konfessionellen Gesetze noch im Oktober 1867, also bevor das Staatsgrundgesetz die kaiserliche Sanktion erhielt, verabschiedet worden. 193 Die liberale Eherechtsreform des Jahres 1868 wurde ausgelöst durch den vom Abgeordneten Eduard von Herbst am 11. Juli 1867 eingebrachten Dringlichkeitsantrag, der außer der Ehegesetzgebung auch die Neuordnung der interkonfessionellen Verhältnisse und des Verhältnisses der Schule zur Kirche vorsah. 194 Noch in derselben Sitzung erfolgte die Wahl des 15 Mitglieder umfassenden konfessionellen Ausschusses,195 und zwei Tage später begann die erste Lesung über die drei Anträge. 196 In der 22. Sitzung der neu zusammengetretenen Mitglieder des Abgeordnetenhauses begründete Dr. Sturm als Berichterstatter die Einbringung der Anträge mit der Rückgabe aller Rechte, auf die der Staat im Konkordat zugunsten der Kirche verzichtet habe. Der Staat könne auch nicht auf "das natürlichste aller politischen Rechte, das der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, ohne Rücksicht auf die Confession, welcher sie angehören", verzichten. 197 In der anschließenden Debatte beantragte der Vertreter der Klerikalen, Dr. Jäger, die Aussetzung der Ausschußarbeiten und schlug Verhandlungen zwischen Österreich und dem Vatikan zur Abänderung des Konkordats vor. Dieser Antrag, der mit Bestimmtheit auch darauf zielte,. die rasche Erledigung des Antrages Herbst hinauszuzögern, ist von der Mehrheit der Abgeordneten nicht akzeptiert worden. 198 Aber auch innerhalb des liberalen Lagers kam es zu heftigen Debatten, weil man sich in 192 Vgl. dazu: Max Burckhard, Gesetze und Verordnungen in Cultussachen, Wien 3

1895, Bd. II, 14.

193 Das Staatsgrundgesetz ist vom Kaiser am 21. Dezember 1867 erlassen und im Reichsgesetzblatt unter der Nr. 142 publiziert worden. 194 Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 18. Sitzung vom 11. Juli 1867; 339. 195 Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 18. Sitzung vom 11. Juli 1867; Karl Vocelka, Verfassung (Anm. 1) 57. 196 Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 19. Sitzung vom 13. Juli 1867, 378 f. 197 Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 22. Sitzung vom 19. Juli 1867,479. 198 Sten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 23. Sitzung vom 20. Juli 1867, 514.

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den Fragen der Durchführung der Gesetzesinitiativen UneInIg war. Der Abgeordnete Dr. Mühlfeld hatte nämlich am 17. Juni 1867 seinen schon im Jahre 1861 gestellten Antrag auf Schaffung eines Religionsgesetzes wiederholt 199 und damit erneut die Aufhebung des Konkordats verlangt. Dem Abgeordnetenhaus lagen daher zwei von den Liberalen eingebrachte unterschiedliche Anträge vor, einer, der die gänzliche Beseitigung des Konkordats verlangte und ein zweiter, der das Konkordat in wesentlichen Punkten mit Hilfe von Spezialgesetzen durchlöchern wollte. Dabei lag der entscheidende Unterschied beider Anträge nicht in einer divergierenden Argumentation, sondern es stand lediglich die Frage der pragmatischen Durchführung des Antrages im Mittelpunkt des Interesses. Die liberale Gruppe um Dr. Herbst war außerdem bestrebt, die Gesetzesanträge so rasch als möglich durchziehen zu können. 2oo Die Eile war umso mehr geboten, als der interimistische Leiter des Kultusministeriums Ritter von Hye die Erklärung abgab, die Regierung werde bemüht sein, mit dem Hl. Stuhl in Verhandlungen einzutreten. 201 Es war hierbei nicht auszuschließen, daß die Regierung sich gemäß Artikel 35 des Konkordats zu Verhandlungen über eine freundschaftliche Beilegung auftretender Schwierigkeiten entschließen könnte, was ein völliges Scheitern der liberalen Gesetzesinitiativen bedeutet hätte. Wenige Tage vor der Debatte über das Ehegesetz ist es in Zusammenhang mit der Veröffentlichung jener Adresse des österreichischen Episkopats an den Kaiser, in der die Bischöfe ihren Einfluß auf Ehe und Schule verteidigten, zu einem Erstarken des liberalen Kampfgeistes gekommen, der auch im Abgeordnetenhaus seine Wirkung nicht verfehlte. Die energische Haltung des Monarchen gegenüber den bischöflichen Forderungen - im Abgeordnetenhaus kam es nach der Verlesung des kaiserlichen Handschreibens an Kardinal Rauscher durch Präsident Giskra zu Hoch-Rufen auf den Monarchen 202 - hatte auch bei den Liberalen zu größerer Entschlossenheit geführt. Der radikale Vertreter der Liberalen, der Abgeordnete Mühlfeld, stellte als Antwort auf die Adresse der Bischöfe an den Kaiser seinen in der 33. Sitzung des Abgeordnetenhauses am 9. Oktober 1867 formulierten Antrag auf Aufhebung des Konkordats. 203 Zwei Tage später lieferte er in einer brillanten Rede die Begründung dafür, warum er nicht mehr für eine Teilaufhebung, sondern für die gänzliche Beseitigung des Konkordats voSten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 9. Sitzung vom 17. Juni 1867, 182. Von Dr. Herbst ist dieses Vorhaben deutlich ausgesprochen worden, wobei er darauf verwies, daß die Erlassung eines Religionsgesetzes im Sinne des Abgeordneten Dr. Mühlfeld sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Vgl. dazu: Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 19. Sitzung vom 13. Juli 1867, 378. 201 Sten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 23. Sitzung vom 20. Juli 1867, 503. 202 Sten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 39. Sitzung vom 17. Oktober 1867, 995. Vgl. oben Anm. 60. 203 Sten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 33. Sitzung vom 9. Oktober 1867, 798. 199

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tiere. 204 Der Antrag ist zwar dem konfessionellen Ausschuß zugewiesen worden, eine Beschlußfassung darüber ist in beiden Kammern nie erfolgt. Damit war nicht nur die Entscheidung gegen die radikalen Anträge des profiliertesten Abgeordneten der Liberalen gefallen, sondern zugleich auch der Weg frei geworden für die konfessionellen Gesetzesanträge des Abgeordneten Herbst, die eine Teilrevision des Konkordats ins Auge faßten. 205 Am 21. Oktober 1867 ist vom konfessionellen Ausschuß der Entwurf des Gesetzes, "mit dem die Vorschriften des zweiten Hauptstückes des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches über das Eher~cht, das für Katholiken durch das Konkordat außer Kraft gesetzt worden war, wieder hergestellt, die Gerichtsbarkeit in Ehesachen wieder den staatlichen Gerichtsbehörden überwiesen und Bestimmungen über die bedingte Zulässigkeit der Eheschließungen vor weltlichen Behörden erlassen wurden", dem Abgeordnetenhaus vorgelegt worden. Die Beratungen darüber dauerten lediglich drei Tage, als Berichterstatter fungierte der Abgeordnete Dr. Sturm. 206 Den grundsätzlichen Standpunkt der Konservativen legte der Abgeordnete Lovro Pintar aus Krain dar, indem er argumentierte, die Ehe sei ein von Gott eingesetztes Institut, das durch Jesus Christus zum 'Sakrament erhoben worden sei. Über die Sakramente habe aber allein die Kirche die Verwaltung, und dem Staat stünde daher in Eheangelegenheiten keine Kompetenz zu. 207 Der Hauptgrund des Widerstandes gegen die Ehegesetzgebung dürfte 204 Sten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 35. Sitzung vom 11. Oktober 1867, 847 ff. 205 Karl Vocelka, Verfassung (Anm. 1) 64 ff. 206 Sten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 40. Sitzung vom 21. Oktober 1867, 1046 ff. 207 Sten Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 40. Sitzung vom 21. Oktober 1867,1049. Der hier anklingende Streit um die Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Kirche hinsichtlich der Ehe(gesetzgebung) hatte in diesem Zeitpunkt bereits eine lange, die österreichische Gesetzgebung mehrfach betreffende Geschichte hinter sich. Während das kanonische Eherecht im 18. Jahrhundert, freilich bereits in deutlicher Frontstellung gegen staatliche Eingriffe in eine bis dahin im wesentlichen unbestrittene und beinahe ausschließliche Kompetenz der Kirche in Ehesachen, den Grundsatz der Untrennbarkeit von Ehevertrag und -sakrament bezüglich aller Getauften ausformulierte, basierten das josephinische Ehepatent (1783) wie auch das ABGB (1811) auf der Möglichkeit einer realen Trennung von Vertrag und Sakrament bei den Ehen aller Staatsbürger, also auch der Katholiken. Diese Unterscheidung war die theoretische Rechtfertigung der staatlichen Gesetzgebung im Bereich des Eherechts schon unter Joseph 11., da dieses ja nur den Vertrag, nicht aber das Sakrament im Auge habe. Paragraph 1 des Ehepatentes formulierte denn auch sehr deutlich: "Die Ehe ist ein bürgerlicher Vertrag, die daraus fließenden und den Vertrag errichtenden gegeneinander zustehenden bürgerlichen Gerechtsame und Verbindlichkeiten erhalten ihre Wesenheit, Kraft und Bestimmung ganz und allein von den landesfürstlichen Gesetzen". (Handbuch aller unter der Regierung Kaiser Joseph 11. für die k.k. Erblande ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer systematischen Verbindung, Wien 1785, Ir, S. 149 ff.). Auch das ABGB spricht an zahlreichen Stellen ausdrücklich vom (Ehe)vertrag (z. B.) §§ 44, 47, 48, 54, 59, 63,

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aber in der Verteidigung des Konkordats gelegen sein. Durch die konfessionellen Gesetze sind nämlich entscheidende Materien des Konkordats verdrängt worden und daher mußte die Auseinandersetzung als eine Prinzipienfrage angesehen werden. Von dieser Grundposition heraus ist von fast allen klerikalen Abgeordneten die Einführung der Notzivilehe, die ja nur in seltenen Fällen zur Anwendung kommen sollte, als "privilegiertes Concubinat" bezeichnet und ist dagegen heftig angekämpft worden. 206 Diese Äußerungen blieben keineswegs unwidersprochen, und der Abgeordnete Schindler aus Niederösterreich verwies zu Recht auf mehrere Staaten in Europa, in denen die Zivilehe bereits eingeführt worden war. 209 In der Argumentation gegen die Zivilehe wurde offensichtlich übersehen, daß die Einführung derselben den katholischen Religionsdiener aus einer auch für ihn nicht immer angenehmen Zwangslage befreit hätte. Denn auch das Konkordat von 1855 hatte keine Änderung in bezug auf die staatliche Gesetzgebung hinsichtlich der konfessionell gemischten Ehen (Mischehen) gebracht. Das vom kanonischen Recht her bei konfessionell gemischten Ehen von beiden Ehepartnern zu leistende Versprechen der ausschließlich katholischen Taufe und Erziehung sämtlicher Kinder konnte gemäß den Bestimmungen des Toleranzpatents a~s 1781 vom staatlichen Recht her nicht verlangt und nicht durchgesetzt werden. Andererseits war die katholische Eheschließungsform bei den konfessionell gemischten Ehen durch § 77 ABGB gefordert. 210 64 usw.), womit nochmals unterstrichen werden soll, was bereits Jahre zuvor kirchlichen Einwänden gegen eine staatliche Ehegesetzgebung in bezug auf die Getauften entgegengehalten wurde: "Der Vertrag, welchen das Sakrament der Ehe voraussetzt, ist nach allen seinen Eigenschaften ein Gegenstand der politischen Gesetzgebung, so daß er seine volle Gültigkeit lediglich von der bürgerlichen Gesetzmäßigkeit erhält, ehe noch das Sakrament hinzukömmt, folglich in keiner Beziehung unter die geistliche Gewalt des Hirtenamtes fällt" (Gutachten von Leopold Graf Kolowrat, Präsident der böhmisch-österreichischen Hofkanzlei und Oberstem Kanzler vom 26.6.1791 bei Ferdinand Maass, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich, VI. Bd., 229. Vgl. zum Ganzen: Bruno Primetshofer, (Anm. 14) 5 f. 206 Diese Äußerungen sind von Lovro Pintar und Propst Degara, einem Abgeordneten aus Tirol, im Abgeordnetenhaus gemacht worden. Vgl. dazu: Sten.Prot. d. Abg. Hauses IV. Session, 40. Sitzung vom 21. Oktober 1867, 1050 und 1068 -1070. Die Gleichsetzung der Zivilehe mit dem Konkubinat ist zweifellos von päpstlichen Äußerungen zu dieser Frage beeinflußt. So nannte Pius IX. in einer Ansprache vom 27.9.1852 die Zivilehe von an die kanonische Eheschließungsform gebundenen Personen "turpis atque exitialis concubinatus". Codicis Iuris Canonici Fontes, Bd. 11. Nr. 515, 877. - In der Kanonistik finden sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gelegentlich Äußerungen in dieser Richtung, z. B. earl Holböck, Die Zivilehe, Innsbruck- Wien 1950, 67 ff. Die herrschende Lehre unterscheidet allerdings zwischen der Zivilehe, bei der ein ausreichender und die Basis für die Heilung in der Wurzel bildender Ehekonsens vorhanden sein kann und dem durch das Fehlen eines Ehewillens gekennzeichneten Konkubinat. Vgl. dazu: HdbkathKR, Regensburg 1983, 793. 209 Steno Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 40. Sitzung vom 21. Oktober 1867, 1077.

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Unter den Liberalen selbst herrschte durchaus keine einheitliche Meinung hinsichtlich einiger Grundfragen zur staatlichen Ehegesetzgebung. Die Mehrzahl sah in der Ehe kein ausschließlich kirchliches Rechtsinstitut, sondern zunächst einen bürgerlichen Vertrag. Zu diesem bürgerlichen Vertrag trete durch den kirchlichen Eheabschluß das Sakrament hinzu, das jedoch als eine reine Angelegenheit der Kirche betrachtet werden müsse. 211 Einen vermittelnden Standpunkt vertrat der Abgeordnete Andriewicz aus der Bukowina, der für das Zustandekommen einer Ehe das Zusammentreffen der bürgerlichen Wirkungen mit dem Sakrament für unabdingbar hielt. 212 Zu den Gegnern der liberalen Eherechtsnovelle zählte vor allem Dr. Mühlfeld, dem der Entwurf zu wenig weitgehend war. Er plädierte für die Einführung der obligatorischen Zivilehe und die Aufhebung der Ehehindernisse des Zölibats, des Gelübdes (ABGB § 63), der Religionsverschiedenheit (ABGB § 64) und des Katholizismus (sog. impedimentum catholicismi). 213 Die Trennbarkeit der Ehen hielt er für unerläßlich, und die Einfüh210 Diese Bestimmung wurde erst durch Art. II und III des Gesetzes vom 31.12.1868 (RGBl. Nr. 4/1869) aufgehoben. - Im Jahr 1841 war hinsichtlich der Formpflicht bei Mischehen ein nicht allseitig befriedigendes Übereinkommen zwischen dem Apostolischen Stuhl und Österreich erzielt worden, wonach der katholische Geistliche bei Mischehen, in denen die vorgenannten Kautionen nicht geleistet wurden, die sogenannte passive Assistenz leisten mußte, d. h. er hatte die eheliche Willenserklärung der beiden Partner anzuhören, die Ehe ins Trauungsbuch einzutragen, er mußte sich aber jeder liturgischen Handlung enthalten, vgl. dazu: Instruktion des Kardinalstaatssekretärs Lambruschini an die Erzbischöfe und Bischöfe Österreichs vom 22.5.1841, zitiert bei Bruno Primetshofer, Gemischte Ehen (Anm. 14) 178 f. 211 Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 40. Sitzung vom 21. Oktober 1867, 1053. Hiermit übernehmen die Abgeordneten die Argumentation, die schon 1789 vom damaligen ersten Referenten der geistlichen Hofkommission Franz Heinke hinsichtlich der eherechtlichen Ehegesetzgebungskompetenz von Kirche und Staat vorgelegt hatte. "Das Eheband besteht aus zwey Teilen: bei allen Menschen in dem gesetzmäßig geschlossenen Ehevertrag und bei Katholiken insbesondere noch in dem Sakrament. Die Kirche außer oder in einem Kirchenrathe nimmt dann erst Anteil an dem Ehegeschäfte, wenn der bürgerliche Ehekontrakt nach landesfürstlicher Vorschrift gesetzmäßig geschlossen ist. Das geistliche Kirchenamt enthält daher alsdenn seine Anwendung dabei so weit, daß dasselbe sich mit Vorbereitung und Anleitung der zu zweckmäßiger Empfangung des Sakramentes bereits Verlobten und zur Erhaltung der demselben anklebenden geistlichen Wirkungen nach Bestimmung der Kirche beschäftigte". Zitiert nach: Ferdinand Maaß, Der Josephinismus, Bd. III, 455. 212 Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 40. Sitzung vom 21. Oktober 1867, 1071-1073. 213 Dieses Hindernis entstand im österreichischen staatlichen Recht im Zusammenhang mit dem dort verankerten Grundsatz der Untrennbarkeit der Katholikenehe, (§ 111 ABGB). Aufgrund der Hofedekrete vom 26.8.1814 (JGS Nr. 1099) und 17.7.1835 (JGS Nr. 61) lag dem impedimentum catholicismi folgender Tatbestand zugrunde: eine von zwei Katholiken geschlossene Ehe, die während ihres Bestandes durch den Übertritt eines Partners zum Katholizismus zu einer halbchristlichen Ehe geworden war, konnte zwar nach staatlichem Recht getrennt werden, hinsichtlich der Wiederverheiratung der getrennten Partner gab es aber unterschiedliche Regelungen. Demnach konnte der katholisch gewordene Teil überhaupt keine neue Ehe

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rung der Notzivilehe betrachtete er lediglich als einen Notbehelf. "Nach meinen früheren Erörterungen kann kein Zweifel sein, daß ich die Zivilehe als Institution nur allein für das Richtige und Zweckmäßige ansehe. Je mehr ich dafür bin und je mehr ich dafür sein zu sollen glaube, ohne der Kirche entgegenzutreten und ohne der Einsegnung der Ehe irgendeinen Abbruch zu thun, umso gewisser bin ich dagegen, daß dieselbe als Notbehelf eingeführt wird. Meine Herren! Die Civilehe darf man nicht einführen und Verhältnissen und Umständen, in einer Art und Weise, wodurch sie gewissermaßen verspottet oder wenigstens diejenigen, welche von ihr Gebrauch machen, compromitirt werden".214 Es gab daher auch unter den Liberalen nicht wenige, die mit der erzielten Lösung der Ehefrage nicht einverstanden waren. Die beiden gegensätzlichen Standpunkte, Zivilehe oder sakramentale Ehe, standen sich in den Debatten des Abgeordnetenhauses diametral gegenüber und gehörten zu den umstrittensten Problemen überhaupt. Die übrigen eherechtlichen Fragen, wie die der geistlichen Ehegerichtsbarkeit und die der unterschiedlichen Gestaltung von staatlichen und kirchlichen Ehehindernissen, waren lediglich sekundärer Natur. Die Debatte über das Ehegesetz ist nach nur dreitägiger Dauer am 23. Oktober 1867 beendet worden, und das Gesetz über die Wiederherstellung des bürgerlichen Gesetzbuches für die Ehen der Katholiken gelangte nach einer vom gleichen Tag datierten Zuschrift zur weiteren Beratung an die zweite Kammer, das Herrenhaus. Inzwischen waren im Dezember 1867 die Staatsgrundgesetze durch den Kaiser in Kraft gesetzt worden. Unter diesen Gesetzen legte der Artikel I des Staatsgesetzes über die richterliche Gewalt fest, daß alle Gerichtsbarkeit im Staat im Namen des Kaisers ausgeübt und Urteile und Erkenntnisse im Namen des Kaisers ausgefertigt werden. 215 Diese Bestimmung stand im direkten Widerspruch zu Artikel 10 des Konkordats, der die Gerichtsbarkeit in Eheangelegenheiten, sofern dadurch nicht bürgerlichrechtliche Wirkungen 216 betroffen waren, den kirchlichen Ehegerichten überließ. Für die Liberalen war aber gerade das Aufgeben der aufgrund des Staatsgrundgesetzes erwähnten und dem Staat vorbehaltenen Ausübung der Gerichtsbarkeit nicht annehmbar. Außerdem gelangte im mehr eingehen (absolutes impedimentum catholicismi); der nichtkatholische Partner konnte eine Ehe mit einem Nichtkatholiken eingehen; (relatives impedimentum catholicismi). Das Hindernis der Katholizismus blieb in Österreich bis zur staatlichen Neuregelung des Eherechts 1938 in Geltung. Vgl. dazu: Andreas di Pauli, Das impedimentum Catholicismi nach österreichischem und kanonischem Recht, in: AkKR 88 (1908) 273 ff.; Peter Paul Burkhart, Das Ehehindernis des Katholizismus, in: Gerichtszeitung 75 (1924) 129-138. 214 Sten.Prot. d. Abg. Hauses, IV. Session, 1084. 215 RGBl. Nr. 144/1867 vom 21. Dezember 1867. 216 Unter ~n Begriff der hier angesprochenen effectus mere civiles (vgl. c. 1059 CIC /1983) verstand und versteht das kanonische Recht Fragen des ehelichen Güterrechts, Fragen der Namensgebung und des Erbrechts der Kinder.

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Dezember 1867 die Regierungsverantwortung in die Hände des radikalliberalen Carlos von Auersperg, der mit seinem "Bürgerministerium" dem liberalen Gedankengut rasch zum Sieg verhelfen wollte. 217 Die einzige Hürde für die sogenannte konfessionelle Gesetzgebung bestand daher im Abstimmungsverhalten der Herrenhausmitglieder. Die zweite Kammer des Reichsrates, die sich aus den Vertretern des hohen Adels und des hohen Klerus, sowie einigen vom Kaiser auf Lebenszeit ernannten Persönlichkeiten aus den Bereichen der Wissenschaft, der staatlichen Verwaltung und des Militärs zusammensetzte, war lange Zeit von politischen Strömungen dominiert, die eher dem konservativen Lager zuzurechnen waren. Eine Kommission, bestehend aus 15 gewählten Mitgliedern, konnte sich über das Ehegesetz nicht einigen, so daß im Herrenhaus zwei Berichte eingebracht wurden. Das Majoritätsvotum wurde in der 28. Sitzung am 19. März 1868 dem Hohen Haus von Freiherr von Lichtenfels vorgelegt, der umfangreiche Ausschußbericht der Minorität wurde in derselben Sitzung von Graf Blome vertreten,218 von einer dritten Gruppe um Graf MensdorffPouilly wurd~ schließlich gleich zu Beginn der Debatte ein Antrag auf Vertagung der Beratungen bis zu einem mit dem Vatikan zu erzielenden Verhandlungsergebnis gestellt. 219 Dem Herrenhaus lagen somit formal drei Anträge vor, ein erster auf Annahme des Ehegesetzes, der Minoritätsantrag Graf Blomes auf Revision des Konkordates und der Vertagungsantrag des Abgeordneten Mensdorff. Eine inhaltliche Analyse der Diskussionsbeiträge ergibt sehr grundsätzliche Erklärungen für oder wider die Annahme der Eherechtsvorlage. Darunter sind auch Auffassungen vertreten, wie die des damaligen Kultusministers Ritter von Hasner, einem Josephiner und gemäßigten Liberalen. Im Gegensatz zu § 111 ABGB, wonach eine Ehe auch dann schon als dem Grundsatz der Untrennbarkeit unterliegende Katholikenehe betrachtet wurde, wenn auch nur ein Ehepartner im Zeitpunkt des Eheabschlusses katholisch war, wobei es (nach 1868) gleichgültig war, ob diese Ehe als katholisch-kirchliche oder als Zivilehe geschlossen wurde, trat Hasner für die Trennbarkeit jener Ehen ein, die von vornherein als Zivilehen zwischen Katholiken und Nichtkatholiken eingegangen worden waren. Nur die von zwei katholischen Partnern geschlossene Ehe sollte seiner Auffassung nach untrennbar sein. Die Notzivilehe hielt er für eine halbe Lösung. 22o Mit 217 Über Karl (Carlos) Auersperg: Wurzbach (Anm. 3) Bd. 11, 362. Wolfgang Rudolj, Fürst Karl Auersperg (1814-1890). Ein liberaler österreichischer Staatsmann und Politiker (Phil. Diss.) Wien 1974; derselbe, Karl Fürst Auersperg als

Ministerpräsident (1868) in: MIÖG 58 (1977) 98 -144. 218 Sten.Prot. d. Herrenhauses, 28. Sitzung vom 19. März 1868, 512-514 und 515520. 219 Sten.Prot. d. Herrenhauses, 28. Sitzung vom 19. März 1868, 520. 220 Sten.Prot. d. Herrenhauses, 28. Sitzung vom 19. März 1868, 524 ff.

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einem weiteren Argument, der Aufhebung wichtiger Teile des Konkordats und der damit verbundenen Vertragsbrüchigkeit setzte sich Hasner ebenso auseinander. Sein Standpunkt zum Konkordat ist dabei durchaus nicht rechtlich bestimmt, sondern für ihn stellt sich die Frage der Verbindlichkeit des Konkordats aus der je konkreten staatsrechtlichen Situation. Mit der Einführung der konstitutionellen Staatsform sei eine Art emanzipatorischer Prozeß zum Abschluß gekommen und damit habe auch der Staat seine Mündigkeit erlangt. Aus der Faktizität der Verhältnisse sei aus einem ursprünglich unfreien ein freier Mensch geworden, "durch die Gewalt der Umstände" sei ein freier Mensch nicht mehr verpflichtet, das zu halten, "was über ihn als Unfreien vertragsmäßig stipuliert worden" sei. 221 Nicht alle Gegner des Konkordats griffen zu solchen theoretischen Erörterungen wie Hasner. Die berühmt gewordene Rede des Grafen Anton Auersperg, der unter dem Pseudonym Anastasius Grün politische Lyrik gegen das Metternichregime veröffentlicht hatte, bildete zweifellos den Höhepunkt der Debatten. In einer leidenschaftlichen Rede gegen das Konkordat bezeichnete er dieses als "ein gedrucktes Canossa, in welchem das Österreich des 19. Jahrhunderts für den Josephinismus des 18. Jahrhunderts in Sack und Asche zu büßen hätte" und er erblickte in den konservativen Kräften geradezu eine Bedrohung der freiheitlichen und konstitutionellen Weiterentwicklung des staatlichen Lebens. 222 Die Kritik, die von der Minorität an der geplanten Änderung der Ehegesetzgebung geübt wurde, war nicht gering. Ein wichtiges Argument bildete dabei die staatsrechtliche Tragweite des Vertragsbruches mit seinen völkerrechtlichen Schwierigkeiten. Es erging aber auch eine eindringliche Warnung vor einem Rückfall in den Josephinismus, vor einer falschen Fortschrittsgläubigkeit, einer fälschlichen Verwendung des Freiheitsbegriffes und vor der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit. Graf Blome, der Berichterstatter des Minoritätsvotums, charakterisierte die liberalen Strömungen mit folgenden Worten: "Es scheint mir eine monströse Allianz zwischen der josephinischen Bureaucratie der Vorzeit geschlossen zu sein und der Richtung Jener, die ich bezeichnen möchte mit dem Namen ,Fanatiker der Confessionslosigkeit', die sich nur darin mit dem Bureaucraten begegnen, daß sie, indem sie für Alles Freiheit verlangen, für die Presse, für die Vereine usw., nur die Kirche ausschließen möchten". 223

Sten.Prot. d. Herrenhauses, 28. Sitzung vom 19. März 1868, 525. Sten.Prot. d. Herrenhauses, 28. Sitzung vom 19. März 1868, 564 ff. 223 Sten.Prot. d. Herrenhauses, 28. Sitzung vom 19. März 1868, 532 ff. Vgl. die katholischen Stimmen des österreichischen Herrenhauses. Reden gehalten in der Ehegesetz-Debatte am 19., ~O. und 21. März 1868. Katholische Stimmen aus Österreich, 111. Wien 1868, 30 ff. 221

222

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Die Vertragsbrüchigkeit ist auch von Kardinal Rauscher in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt worden, und er verglich sie mit einem Akt der Willkür. Für die vor der katholischen Kirche geschlossene Ehe habe Österreich das Versprechen abgegeben, dieser auch die zivilen Wirkungen zuzugestehen. Daher könne der Staat es nicht zulassen, daß Katholiken eine bloß zivile Ehe schließen dürften. 224 Eine Ehe unter Katholiken könne nur eine sakramentale und zugleich unauflösliche sein, der Eherechtsentwurf der Regierung trenne jedoch Ehevertrag und Sakrament und überlasse die vertragliche Seite dem Staat. 225 Nach ebenfalls dreitägiger Debatte kam es am 21. März 1868 im Herrenhaus zur entscheidenden Abstimmung, zu der sich der betagte Franz Grillparzer im Lehnstuhl tragen ließ. 226 Zuerst gelangte der Vertagungsantrag Mensdorffs zur Abstimmung. Durch den Antrag des Grafen Otto Fünfkirchen auf namentliche Abstimmung sind wir über das Abstimmungsverhalten der Herrenhausmitglieder genau informiert. Aufgrund der im April und November des Jahres 1867 neu ernannten Mitglieder des Herrenhauses durch den Kaiser, von der Publizistik als "Pairsschub" bezeichnet, kann nachgewiesen werden, daß damit auch das Abstimmungsergebnis entscheidend beeinflußt wurde. Eine genaue Analyse des Stimmverhaltens hat ergeben, daß rund drei Viertel der neu aufgenommenen Herrenhausmitglieder sich für die liberalen Gesetzesentwürfe ausgesprochen haben. 227 Der Vertagungsantrag Mensdorff ist mit 65 gegen 45 abgelehnt und damit auch eine Vorentscheidung über den weiteren Abstimmungsgang getroffen worden. Das Stimmenverhältnis über den daraufhin zur Abstimmung gelangten Minoritätsantrag - dieser ist mit 69 gegen 34 abgelehnt worden - ist noch deutlicher ausgefallen. 228 Damit war das erste von drei Gesetzen (Schule - Ehe - Interkonfessionelle Fragen), die unter der Bezeichnung konfessionelle Gesetzgebung die Beziehungen von Kirche und Staat in Österreich nachhaltig verändert haben, vom Herrenhaus zum Gesetz erhoben worden. Der Abstimmungserfolg der Liberalen wurde in Wien von der Bevölkerung noch am selben Abend enthusiastisch gefeiert. An den weiteren Beratungen über die konfessionellen Gesetze nahmen die Bischöfe nicht mehr teil. Das nunmehr durch Gesetz vom 25.5.1868, RGBl. Nr. 47/1868 wieder in Geltung gesetzte Eherecht des ABGB nahm in seinen Bestimmungen auf die kirchenrechtliche Regelung weitgehend Rücksicht und brachte den 224 225 226 227

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Die katholischen Stimmen des Herrenhauses (Anm. 223) 54 f. Die katholischen Stimmen des Herrenhauses (Anm. 223) 68 f. Erika Weinzierl-Fischer, Konkordate (Anm. 1) 108. Karl Vocelka, Verfassung oder Konkordat (Anm. 1) 81. Sten.Prot. d. Herrenhauses, 28. Sitzung vom 19. März 1868, 610.

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Seelsorgern immerhin manche Erleichterung. So waren sie von der Verpflichtung, Ehen zu assistieren, die dem kirchlichen Recht widersprachen,229 ausdrücklich befreit, ohne staatliche Sanktionen 230 befürchten zu müssen. § 111 ABGB (Untrennbarkeit einer Ehe, bei der auch nur ein Teil im Zeitpunkt des Eheabschlusses katholisch war) wurde vom Gesetz vom 25.5.1868 überhaupt nicht berührt, d. h. diese Ehen konnten weiterhin nur durch den Tod eines Ehegatten gelöst werden, wobei es rechtlich unerheblich war, ob diese Ehen als katholisch-kirchliche oder als Zivilehen eingegangen worden waren. Auch der nach Eheabschluß erfolgte Austritt eines oder gegebenenfalls beider Ehepartner aus der katholischen Kirche hatte auf diesen Grundsatz der (staatlichen) Untrennbarkeit der Katholikenehe keinen Einfluß. Das Kernstück der neuen Gesetzgebung bildete zweifellos die Einführung der sog. Notzivilehe (Art. II), wonach eine nur vor dem staatlichen Organ zu schließende Ehe für die Angehörigen aller Konfessionen subsidiär dann möglich war, wenn das zufolge § 75 ABGB primär zuständige konfessionelle Trauungsorgan die Vornahme des Aufgebotes und die Entgegennahme der ehelichen Willenserklärung "aus einem durch die Gesetzgebung des Staates nicht anerkannten Hinderungsgrund verweigert" (sog. absolute

Notzivilehe) .

Im Anschluß an die Wiedereinführung des ABGB sind noch eine Reihe von weiteren Gesetzen mit eherechtlichen Bestimmungen erlassen worden. Durch ein neues Mischehengesetz konnten Mischehepaare ihre Ehe vor dem Seelsorger einer der beiden Brautleute schließen. 231 Auch das Gesetz über die Versöhnungsversuche vor gerichtlichen Ehescheidungen wurde geändert. Die Verpflichtung, den Aussöhnungsversuch vor dem ordentlichen Seelsorger vorzunehmen, wurde den ordentlichen Gerichten zugewiesen. 232 Personen, die keiner gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft ange229 ABGB § 77. 230 ABGB § 79. 231 Gesetz vom 31. Dezember 1868, RGBl. Nr. 4 aus 1869. 232 Gesetz vom 31. Dezember 1868, RGBl. Nr. 3 aus 1869. Auch das Konkordat von 1855 hatte in seinen auf das Eherecht Bezug nehmenden Teilen keine völlige Übereinstimmung zwischen kirchlichem und staatlichem Recht erbracht. Es gab auch nach dem Konkordatsabschluß für die Ehen von Katholiken staatliche Ehehindernisse, die keine Parallele im kanonischen Eherecht hatten (z. B. staatliche Heiratserlaubnis für bestimmte Beamte und Offiziere). Rauscher versuchte in seiner "Anweisung für die geistlichen Ehegerichte" (1856) diese Schwierigkeiten dadurch zu umgehen, daß eine kirchliche Trauung eher vorgenommen werden sollte, bis die staatliche Heiratserlaubnis eingelangt sei. Diese Formulierungen in der "Anweisung" bildeten den Gegenstand von Auseinandersetzungen mit dem Heiligen Stuhl, der mit dieser Einschränkung der kirchlichen Kompetenz in bezug auf die Katholikenehen nicht einverstanden war. Vgl. dazu: Max von Hussarek, Verhandlungen (Anm. 1) 810; Franz Pototschnig, Staatlich-kirchliche Ehegesetzgebung im 19. Jahrhundert (Instructio Austriaca), Wien 1974.

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hörten oder überhaupt konfessionslos waren, waren überhaupt an die Notzivilehe gebunden (sog. relative Notzivilehe). 233 Mit dieser erzielten Eherechtsreform war insbesondere die radikale Gruppe unter den Liberalen unzufrieden. Vor allem die in Deutschland im Jahre 1872 eingeführte obligatorische Zivilehe weckte auch in Österreich so manche Hoffnung auf eine Änderung des Eherechts. Der Abgeordnete Kopp hat daher bereits in der Sitzung des Abgeordnetenhauses am 21. Jänner 1874 den Antrag gestellt, neben anderen kirchlichen Gesetzen auch ein Ehegesetz und ein Gesetz über die staatliche Matrikenführung zu erlassen. 234 Der ursprüngliche Entwurf auf Schaffung eines von den Religionsgemeinschaften unabhängigen Eherechts mußte wegen des Widerstandes der Mitglieder des konfessionellen Ausschusses aufgegeben werden. Daher wurde in der Sitzung vom 1. Dezember 1875 beschlossen, lediglich mehrere Bestimmungen des geltenden Eherechts abzuändern. Der neue Entwurf wurde im Dezember 1875 dem Abgeordnetenhaus vorgelegt und von diesem noch im Februar 1876 mit 101 gegen 52 Stimmen angenommen. 235 Vom Herrenhaus wurde der Gesetzesentwurf, der neben der Abänderung mehrerer Paragraphen des ABGB auch die aus der katholischen Kirche Ausgetretenen von der katholischen Trauungsform befreien sollte, nicht mehr angenommen. 236 In der Folge sind von den Liberalen und Sozialdemokraten wiederholt Anträge zur Änderung des Eherechts im Reichsrat eingebracht worden. In der Monarchie war aber allen diesen Versuchen kein Erfolg mehr beschieden. 2. Ehereformbestrebungen in der Ersten Republik

Die kurze Zeit vor den Neuwahlen für die Konstituierende Nationalversammlung vom 16. Februar 1919 wurde dazu benützt, noch zwei einschlägige Anträge in die Provisorische Nationalversammlung einzubringen. In der Hauptsache handelte es sich um eine Wiederholung der schon in Zeiten der Monarchie mehrmals eingebrachten Gesetzesvorlagen. Der erste Entwurf, vom sozialdemokratischen Abgeordneten Albert Sever am 27. November 1918 vorgelegt, erstrebte die Aufhebung der Ehehindernisse der Weihe und des Gelübdes, der Religionsverschiedenheit sowie des Katholizismus. 237 Für die Trennbarkeit der Ehe sollte allgemein ohne Unterschied des ReligionsGesetz vom 9. April 1870, RGBl. Nr. 51. 442 der Beilagen zu den Steno Prot. des Abg. Hauses, 8. Session, Bericht des konfessionellen Ausschusses vom 18. Dezember 1875. 235 Steno Prot. des Abg. Hauses, 8. Session, 180. Sitzung vom 8.2.1876, 6203 - 6227 und 181. Sitzung vom 10.2.1876, 6236. 236 Erika Weinzierl-Fischer, Konkordate (Anm. 1) 123 f. 237 Beilage Nr. 54 zu den Steno Prot. der Provo Nationalversammlung (NV) von 1918 und 1919. Zum impedimentum catholicismi vgl. Anm. 213. 233

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bekenntnisses die Bestimmung § 115 ABGB gelten. Deshalb sieht der Entwurf die Aufhebung des Paragraphen 111 und 116 AGBG sowie der Ausnahmebestimmungen über die freiwillige Trennung der Judenehe vor. 238 Weiters sollte eine im Ausland nach den dortigen Gesetzen rechtsgültige aufgelöste Ehe auch für Deutschösterreich als aufgelöst gelten. Bald darauf, am 5. Dezember 1918, wiederholte der Abgeordnete Dr. Ofner seinen schon 1908 eingebrachten Antrag, der sich hinsichtlich der Forderung nach Aufhebung bestimmter Paragraphen des AGBG mit jenem Severs deckte, außerdem aber noch die Einführung der obligatorischen Zivilehe unter Abschaffung aller konfessionellen Verschiedenheiten und die Übernahme des gesamten Matrikenwesens durch staatliche Behörden vorsah. 239 Die Anträge Severs und Ofners wurden dem Justizausschuß der Provisorischen Nationalversammlung zugewiesen. Auch der Staatssekretär für Justiz, Dr. Roller, ließ sich vom Staatsrat ermächtigen, dem Justizausschuß einen Gesetzesentwurf vorzulegen. Der Wiener Weihbischof Dr. Pfluger, der ebenfalls an diesen Beratungen teilnahm, soll sich zwar gegen die Reform ausgesprochen, in ihr jedoch keine Gefahr für den Glauben erblickt haben. 240 Angesichts des am 17. Jänner 1919 verfaßten Protestes der österreichischen Bischöfe gegen die Ehereform, 241 muß die Richtigkeit dieses ABGB §§ 133 und 134. Beilage 75 zu den Steno Prot. d. Provo NV von 1918 und 1919. 240 Beilage 145 "Bericht des Justizausschusses betreffend das Gesetz, womit Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches über das Eherecht abgeändert werden", Sten.Prot. d. Provo NV von 1918 und 1919. 241 Wiener Diözesanblatt, Jg. 1919, 10. Der Wortlaut des bischöflichen Protestes lautet: Protest der Erzbischöfe und Bischöfe Deutschösterreichs gegen die "Ehereform ". "In mannhaften Worten erheben die Bischöfe Deutschösterreichs ihre Stimme gegen die Vergewaltigung des Gewissens des christlichen Volkes, gegen die Verletzung der Rechte so vieler Frauen und gegen die überstürzte Form, in welcher auf den Wunsch weniger, vor allem Andersgläubiger, ohne daß den Katholiken überhaupt Gelegenheit geboten ist, in eigener Sache Stellung zu nehmen, die Gläubigen um den Wesensinhalt der christlichen Ehe gebracht werden sollen. Die Erzbischöfe und Bischöfe in Deutschösterreich haben nachstehende Verwahrung gegen die geplante Änderung der Ehegesetze eingelegt: Obschon stets von dem aufrichtigen Streben geleitet, den Frieden zwischen Staat und Kirche aufrecht zu erhalten, erachten es die Bischöfe in Deutschösterreich gleichwohl als heilige Gewissenspflicht, gegen die im Justizausschusse der provisorischen Nationalversammlung des Staates Deutschösterreich zwecks Änderung des bisher geltenden Eherechtes eingebrachten Gesetzesentwürfe öffentlich und feierlich Verwahrung einzulegen. Durch diese Vorlagen wird die Unlösbarkeit des katholischen Ehebandes im Gegensatz zur Lehre der katholischen Kirche für bestimmte Fälle aufgehoben. Die Ehe, die dem gläubigen Katholiken ein von Christus dem Herrn eingesetztes Sakrament bedeutet, ist aber ein Bund, den die Brautleute in voller Hingabe der Person fürs ganze Leben schließen, sie ist ein Rechts- und Pflichtverhältnis, für das Gott allein die Bedingungen - darunter die Bedingung der Unauflöslichkeit - festgesetzt hat, sie kann daher nie zu einem kündbaren Vertrag auf Zeit und Bedingung 238 239

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Berichtes des Justizausschusses über Weihbischof Pfluger jedoch in Zweifel gezogen werden. 242 Das Ergebnis der Beratungen war schließlich ein neuer Entwurf, der den Mitgliedern des Justizausschusses vorgelegt wurde. Dieser nahm ihn mit nur einer Gegenstimme an und beantragte, die Provisorische Nationalversammlung wolle den Entwurf zum Gesetz erheben. 243 Der von Dr. Roller im Staatsamt für Justiz ausgearbeitete Gesetzesentwurf enthielt zwar nicht mehr die radikalen Forderungen der Anträge Sever und Ofner, sprach sich aber für die Trennbarkeit der Katholikenehe aus, indem § 115 ABGB, der bisher nur für Akatholiken Anwendung fand, nun mit wesentlichen Erleichterungen auch auf die Katholiken ausgedehnt werden sollte. Das Justizamt nahm in den Gesetzesentwurf weiters die Bestimmung auf, daß Ehen von Katholiken, die schon zwei Jahre vor Beginn der Wirksamkeit des beantragten Gesetzes einverständlich oder durch gerichtliches Urteil geschieden worden waren, nunmehr ebenfalls getrennt werden können. 244 Als Obmann des Justizausschusses konnte der christlichsoziale Abgeordnete Dr. Freiherr von Fuchs an Debatte und Abstimmung nicht teilnehmen. Daher brachte er einen von den Abgeordneten Wohlmayer und Brandl unterzeichneten Minderheitsbericht ein, der beantragte, die Nationalversammlung wolle dem Antrag des Justizausschusses nicht die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen. 245 herabsinken, dessen Dauer und Festigkeit von vorübergehenden Stimmungen oder sinnlichen Affekten abhängt. Gewiß verlangt die katholische Ehe unter Umständen heroische Opfer von den einzelnen, aber das Gesetz, das über das Interesse des einzelnen das Interesse der Gesamtheit stellt, beherrscht auch jede andere Rechtsordnung und ist auch eine direkte Forderung jeder staatlichen Ordnung. Im Namen der katholischen Kirche, die in der Ehe einen Bestandteil der übernatürlichen Heilsordnung erblickt, im Namen aller gläubigen Katholiken, welche von einer kündbaren Ehe nichts wissen wollen, legen wir Bischöfe von Deutschösterreich feierlich Verwahrung ein, daß durch die erwähnten Vorlagen im Namen der Freiheit dem katholischen Glaubensinhalt Gewalt angetan wird, ohne daß dem gläubigen Katholiken Gelegenheit geboten wurde, in ihrer eigenen Sache Stellung nehmen zu können. Wien, am 17. Jänner 1919. Die Erzbischöfe und Bischöfe in Deutschösterreich" . 242 Im Text des Berichtes 145 heißt es: "Weihbischof Dr. Pfluger ... erklärte sich wohl nicht für die Reform aussprechen zu können, man erhielt jedoch aus seinen Worten den unzweifelhaften Eindruck, daß er in der gegenständlichen Reform des staatlichen Eherechtes im Sinne der Bestimmungen, wie sie in vielen Staaten mit durchaus religiöser Bevölkerung seit langem bestehen, weder die Absicht, die Gebote der Kirche anzutasten, noch eine Gefahr für den Glauben erblicke". 243 Beilage 145 zu den Steno Prot. d. ProVo NV von 1918 und 1919. 244 Beilage 145 zu den Steno Prot. d. Provo NV von 1918 und 1919, 13; In der Terminologie des ABGB bedeutet Trennung die gänzliche Auflösung des Ehebandes durch richterlichen Spruch (ABGB §§ 111 ff.), Scheidung hingegen die ebenfalls durch richterlichen Spruch vorgenommene Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft unter Aufrechterhaltung des Ehebandes (Sog. Scheidung von Tisch und Bett, ABGB §§ 103 ff.). 245 Beilage 145 zu den Steno Prot. d. Provo NV von 1918 und 1919, 14.

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Die Vertreter dieses Minoritätsvotums begründeten ihren Standpunkt damit, daß sie die Ehe nach der Lehre der Kirche als Sakrament verstünden und daher grundsätzlich nicht die Auffassung der Majorität teilen könnten, in der Ehe eine staatliche Institution und "soziale Forderung des modernen Staates" zu sehen. 246 Auch der Protest der Bischöfe hat in ganz entschiedenen Worten die Auffassung der Minorität bekräftigt. 247 In der Nationalversammlung legte Dr. Neumann-Walter über den Gesetzesantrag einen Bericht vor. Die anschließende Generaldebatte am 23. und 24. Jänner 1919 offenbarte noch einmal in leidenschaftlichen Reden die gegensätzlichen Standpunkte. Freiherr von Fuchs bekämpfte in scharfen Worten den Antrag des Justizausschusses und den Gesetzesentwurf und beantragte den Übergang zur Tagesordnung. 248 In den Debatten vertraten die Christlichsozialen den Standpunkt, daß die Provisorische Nationalversammlung eine so wichtige Frage nicht ohne Mitentscheidung der Frauen beraten sollte. Auch die Deutschen Agrarier waren der Meinung, daß eine so einschneidende Eherechtsänderung ein unzulässiger Vorgriff auf die Kompetenzen der Konstituierenden Nationalversammlung wäre und enthielten sich der Stimme. Damit war der erste Versuch gescheitert, eine Ehereform in einer alle Parteien befriedigenden Weise herbeizuführen. Der Antrag des Abgeordneten Fuchs auf Übergang zur Tagesordnung wurde in namentlicher Abstimmung mit 62 gegen 52 Stimmen angenommen. 249 Einen Tag später beurteilte der Professor für Moraltheologie, Dr. Ignaz Seipel, die Niederlage der Eherechtsreformer in einem Brief an seinen Freund Heinrich Lammasch mit folgenden Worten: "Der Sieg in der Ehereformfrage wird uns (Christlichsoziale Partei, Anmerkung der Verfasser) eine Anzahl Stimmen kosten, da es doch sehr viele brüchige Ehen gibt. Aber es ist ein Sieg des Prinzips und hat die Sozialdemokraten mit den Juden isoliert. Die Freude in unseren Frauenkreisen ist groß. Natürlich wird sich auch die definitive Nationalversammlung mit dieser Frage wieder beschäftigen müssen, die uns schwere Arbeit machen wird". 250 Die Worte Seipels an Lammasch nach der Niederlage der Ehereformer am 25. Jänner 1919 sollten sich schon früh bestätigen. Die Sozialdemokraten, die nach den Wahlen vom 16. Februar 1919 mit 72 Mandaten in der Nationalversammlung die stärkste Fraktion bildeten, waren keineswegs gewillt, auf die Durchsetzung ihrer kulturpolitischen Forderungen zu verBeilage 145 zu den Steno Prot. d. Prov. NV von 1918 und 1919, 11. Wiener Diözesanblatt, Jg. 1919, 10; Vgl. dazu Anm. 24l. 248 Sten.Prot. d. Provo NV, Sitzung vom 23. und 24. Jänner 1919, 455-513 und 522-545. 249 Steno Prot. d. ProV. NV, Sitzung vom 24. Jänner 1919, 545. 250 Erika Weinzierl-Fischer, Konkordate (Anm. 1) 156; Maximilian Liebmann, Die Rolle Kardinal Piffls in der österreichischen Kirchenpolitik seiner Zeit (Theol. Diss.) Graz 1960, 76. 246 247

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zichten. Verschiedenste Gruppen und Vereine haben besonders im Monat Mai große Aktivitäten entwickelt. Die Gründe lagen einerseits darin, daß am 22. Mai 1919 in der Tschechoslowakei die fakultative Zivilehe eingeführt wurde 251 und andererseits in diesem Monat die Budgetkapitel der einzelnen Ministerien von der Nationalversammlung beschlossen wurden. Bei der Behandlung des Budgetkapitels "Justiz" kam es im Mai 1919 in der Nationalversammlung auch zu grundsätzlichen Äußerungen zur Ehereform. 252 Die sozialdemokratische Abgeordnete Adelheid Popp, die in der Parlaments debatte erstmals die Forderung nach Angleichung des österreichischen Eherechts an das deutsche erhob, kam auf die Dispensehen 253 zu sprechen, die vom damaligen Landeshauptmann Niederösterreichs, Albert Sever, schon in großer Zahl ermöglicht worden waren. Nachdem aber diese Initiativen von der Regierung nicht aufgegriffen wurden, brachte Adelheid Popp am 30. Juli 1919 einen Gesetzesantrag in die Nationalversammlung ein. 254 Dieser deckte sich vollständig mit dem Entwurf, der vom Eherechtsreformverein im Mai desselben Jahres an den Präsidenten der Nationalversammlung gerichtet worden war. Er hätte durch die Bestimmung, daß es allein im Zeitpunkt der Scheidung darauf ankomme, ob der Scheidungswillige katholisch sei, den Abfall vom Glauben gefördert. Nach einjähriger tatsächlicher Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft sah er auch die Möglichkeit einer einverständlichen Ehetrennung in der Terminologie des ABGB vor. Auch dieser Vorstoß ist erfolglos geblieben. Den Sozialdemokraten war in der Provisorischen und ebenso in der Konstituierenden Nationalversammlung bei ihrem Bemühen, die Ehereform auf gesetzlicher Basis durchzuführen, jeder Erfolg versagt geblieben. Dennoch brachte der Abgeordnete Sever im neu gebildeten Parlament schon am 3. Dezember 1920 einen neuerlichen Antrag auf Änderung des Eherechts sowie der Matrikenführung ein. 255 Auch die Einführung der obligatorischen Zivilehe wurde 251 Ehereformgesetz, Slg. 1919/320. Helmut Slapnicka, Beibehaltung und Fortentwicklung des österreichischen Staatskirchenrechts in den Nachfolgestaaten, in: Helmut Schnizer-Kurt Woisetschläger (Hrsg.), Kirche und Staat - Symbol und Kunst, Würzburg 1987, 114 f. 252 Steno Prot. d. Konst. NV, 82. Sitzung vom 15. Mai 1920, 2595. 253 Die Literatur über die Problematik der Dispensehe ist sehr umfangreich, dies betrifft vor allem Aufsätze in Zeitschriften während der Jahre 1919-1935. Aus diesem Grund wird hier lediglich auf einige wenige Bücher aus dieser Zeit verwiesen; Wilhelm Fuchs, Das Ehehindernis des bestehenden Ehebandes nach österreichischem Recht, Wien 1879; Oscar Hamedinger, Die Annullierung der katholischen Ehe, Wien 1928; Arthur Lenhoff, Auflösung der Ehe und Wiederverehelichung, Wien 1926; earl Satter, Soll das Einverständnis der Ehegattin zur Auflösung der Ehe genügen? Wien 1925; Bruno Webhofer, Ein Riß im Eherecht. Verwaltung und Ehedispens. Dispensehe und Gericht, Innsbruck 1922; Bruno Webhofer, Die Überprüfbarkeit der Ehedispens, Innsbruck 1923. 254 Beilage 370, Steno Prot. d. Konst. NV vom 30. Juli 1919. 255 Beilage 58, Steno Prot. d. NR vom 3. Dezember 1920.

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erneut gefordert. In einer Stellungnahme zu diesem Antrag vertrat das Justizministerium zwar die Ansicht, daß die Trennbarkeit der Ehe dem heutigen "Kulturbedürfnis" entspreche, die Frage der Ehereform infolge der politischen Kräfteverteilung jedoch eine politische sei. Damit hatte der Antrag von vorneherein keine Aussicht auf Verwirklichung. Die kulturpolitischen Fragen nur innerhalb einer Gesamtregelung des Verhältnisses von Kirche und Staat zu lösen, stand für die Christlichsozialen schon in der Konstituierenden Nationalversammlung fest. Nach dem Koalitionspakt vom Jahre 1922 256 zwischen den Christlichsozialen und den Großdeutschen, der in kulturpolitischen Fragen ein Festhalten am status quo vorsah, war erst recht an eine Änderung dieses gesamten Fragenkomplexes nicht zu denken. Daher war einer Anfrage der Abgeordneten Popp und Sever an den Obmann des Justizausschusses bezüglich der Behandlung des Antrages Sever über die Reform des Eherechts kein Erfolg beschieden. 257 Dennoch brachten die Abgeordneten Sever, Popp und Genossen auch in der 2. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates am 20. Dezember 1923 neuerdings einen Antrag auf Ehereform ein. 258 Dieser Antrag wurde aber weder im Justizausschuß 259 noch im Bundesministerium für Justiz behandelt. Im Jahre 1924 wurde auch erstmals ein Antrag auf Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs im Parlament eingebracht, der fast periodisch jedes Jahr urgiert wurde. 260 Daß in Österreich das bestehende staatliche Eherecht, das den Katholiken zwar die Möglichkeit einer Notzivilehe einräumte, sie aber dennoch grundsätzlich an die kirchliche Eheschließungsform band, auf so heftigen Widerstand der Sozialdemokraten stieß, lag einerseits an deren tiefverwurzelter Abneigung gegen ein konfessionelles Eherecht, andererseits aber auch an der divergierenden Staatsauffassung beider Großparteien. Von den Sozialdemokraten wurde immer wieder betont, daß sie sonst nichts verlangten als die "Gleichstellung mit anderen Staaten", da außer in Spanien nur in Österreich ein konfessionelles Eherecht bestehe. 261 Den Mitgliedern der Kirche bleibe es völlig unbenommen, nach'*den Grundsätzen ihrer Lehre die Ehe zu schließen. Für den Staat sollte aber allein die bürgerliche Eheschließung die verpflichtende sein. Darum bekämpften die Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 112. Sitzung vom 31. 5.1922, 3708. Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 172. Sitzung vom 13.3.1923, 3511 und 189. Sitzung vom 5.6.1923, 3717. 258 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP, 13. Sitzung vom 20.12.1923, 263. 259 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP, 30. Sitzung vom 7.5.1924, 719 f. 260 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP, 29. Sitzung vom 6.5.1924, 656 ff., 703 ff., 713 ff., 722 ff.; 86. Sitzung vom 13.3.1925, 2091 ff., 2099 ff; 123. Sitzung vom 11.12.1925, 2883 ff. 261 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP, 30. Sitzung vom 7.5.1924, 717. 256 257

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Sozialdemokraten § 111 ABGB, der bestimmte, daß eine Katholikenehe nur durch den Tod gelöst werden könne. 262 Für Seipel war auch im Jahre 1927, als sich die bürgerlichen Parteien zur Bildung einer sogenannten Einheitsliste für die Nationalratswahlen desselben Jahres entschlossen hatten,263 noch nicht der Zeitpunkt gekommen, eine Änderung des bestehenden Eherechts im Wege der Gesetzgebung durchzuführen. 264 Den am 19. Mai 1927 neuerlich vom Abgeordneten Sever im Parlament eingebrachten Gesetzesantrag auf Eherechtsreform ereilte dasselbe Schicksal wie die vorangegangenen. Der Antrag wurde zwar am 8. Juni 1927 dem Justizausschuß zugewiesen, von diesem aber in der Sitzung vom 24. Jänner 1928 mit zwölf gegen elf sozialdemokratische Stimmen abgelehnt. 265 In der Budgetdebatte zum Bundesvoranschlag für das Jahr 1929 hingegen erreichten die Sozialdemokraten einen ersten Sieg. 266 Am 22. Jänner 1929 sprachen sich in namentlicher Abstimmung 80 gegen 76 Abgeordnete für die Annahme eines Minderheitsantrages Sever aus, worin die Bundesregierung aufgefordert wurde, dem Nationalrat ehebaldigst einen Entwurf für die Angleichung des österreichischen Eherechtes an das deutsche zu unterbreiten. 267 Der Sprecher des Landbundes, Abgeordneter Dr. Schänbauer, sprach sich entschieden dagegen aus, eine Ehereform durch Kampfabstimmung erzwingen zu sollen, obwohl auch er sich der Notwendigkeit einer Übernahme des deutschen Eherechts nicht verschloß, da gegenüber den tatsächlichen Zuständen hierin ein geringeres Übel zu erblicken sei. 268 Genau denselben Standpunkt vertrat im Oktober der damalige Kaplan Johann Kosnetter in einem Zeitschriftenaufsatz und zwar aus seelsorglichen Gründen. 269 Am 14. Dezember 1929 zitierte Sever diesen Artikel im 262 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., Ir. GP, 30. Sitzung vom 7.5.1924, 717, 720. 263 Bekanntlich verloren die Christlichsozialen bei den Wahlen vom 24.4.1927 9 Mandate, die Sozialdemokraten hingegen gewannen 3 dazu. Die Sitze im Parlament verteilten sich daher: Christlichsoziale 73, Sozialdemokraten 71, Großdeutsche 12, Landbund 9 Mandate. 264 Bundeskanzler Seipel hat am 19.5.1927 anläßlich seiner Regierungserklärung auf einen Zwischenruf des Abg. Sever, was die Regierung in der Ehefrage zu tun gedenke, erklärt; "Über das Eherecht steht eine Regierungsvorlage nicht bevor". Vgl. dazu: Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., III. GP, 2. Sitzung vom 19.5.1927, 12. 265 Erika Weinzierl-Fischer, Konkordate (Anm. 1) 172. 266 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., III. GP, 76. und 77. Sitzung vom 21. und 22. Jänner 1929, 2188 f. 267 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., III. GP, 76. und 77. Sitzung vom 21. und 22. Jänner 1929, 2220. 268 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., III. GP, 76. und 77. Sitzung vom 21. und 22. Jänner 1929, 2198. 269 Johann Kosnetter veröffentlichte im Oktober 1929 in der Zeitschrift "Der Seelsorger" den damals viel umstrittenen Artikel "Gedanken zur Ehereform in Österreich". Darin befürwortet er die Eherechtsreform wegen der häufigen Durchbrechung des Grundsatzes von der Unauslöslichkeit der Ehe, außerdem tolerierten Staaten mit katholischen Minderheiten die Zivilehe als "minus malum" , was auch

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Parlament und forderte besonders die Christlichsozialen auf, endlich daraus die Konsequenzen im politischen Bereich zu ziehen. 270 Wenige Tage später gelangte im Parlament ein neuerlicher Minderheitsantrag Severs auf Angleichung an das deutsche Eherecht und Durchführung des Nationalratsbeschlusses vom 22. Jänner 1929 zur Abstimmung, der mit 81 zu 74 Gegenstimmen angenommen wurde. 271 Inzwischen war aber Schober im Oktober 1929 neuerlich Bundeskanzler geworden und hatte bereits seine eigene Vorstellung bezüglich der Eherechtsreform. Nicht wenige Schwierigkeiten ergaben sich auch aus der Sonderstellung des Eherechts im Burgenland. Im Friedensvertrag von St. Germain war festgelegt worden, daß Teile Westungarns an Österreich angegliedert werden sollen. 272 In Ungarn bestand seit dem Jahre 1894 aufgrund der Gesetzesartikel XXXI und XXXIII die Zwangszivilehe. Den Angehörigen aller Konfessionen stand unterschiedslos die Möglichkeit der Vollscheidung (= Trennung im Sinne des ABGB) offen, und nach Artikel XXXIII war die Matrikenführung und insbesondere das Aufgebot in die ausschließliche Kompetenez der staatlichen Behörden gelegt. Mit Verordnung der Bundesregierung vom 28. Mai 1922 273 sollten die in Österreich geltenden Bestimmungen des Eherechts (ABGB) im Burgenland ab 1. Jänner 1924 übernommen werden, sofern nicht vorher der burgenländische Landtag durch Beschluß verlange, daß das geltende Eherecht beibehalten werden solle. Daraufhin sprach sich der Landtag in seinem Beschluß vom 12. Oktober 1922 für die Beibehaltung des ungarischen Eherechtes aus. 274 Der Bundesminister für Justiz hätte diesen Beschluß unverzüglich im Gesetzesblatt kundmachen müssen. Nachdem dieser innerhalb eines Monats noch immer nicht veröffentlicht war, kam es im Parlament zu einer Anfrage von seiten sozialistischer Abgeordneter, die verlangten, den Beschluß des burgenländischen Landtages "ungesäumt" zu veröffentlichen. 275 Daraufhin wurde der Beschluß vom Bundesministerium für Justiz am 19.12.1922 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. 276 für Österreich zutreffe, da die Katholiken in den gesetzgebenden Körperschaften in Ehe- und Schulfragen sich bereits in der Minderheit befänden. Vgl. dazu: Johann Kosnetter, Gedanken zur Eherechtsreform in Österreich, in: Der Seelsorger 6 (1929/ 30) 48 - 54; 102 -107; 373 - 379. Über Johann Kosnetter; Jacob Kremer, Neutestamentliche Bibelwissenschaft, in: Die Kath. Theologische Fakultät der Universität Wien 1884-1984, FS zum 600-Jahr-Jubiläum, Berlin 1984, 87-96, hier 91-93. 270 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., III. GP, 112. Sitzung vom 14.12.1929, 3115. 271 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 111. GP, 115. Sitzung vom 18.12.1929, 3255. 272 Art. 27 des Staatsvertrages von St. Germain-en Laye. 273 BGBL Nr. 315/1922. 274 BGBL Nr. 913/1922. 275 Anfragen der Abgeordneten Schön, Sailer, Morawitz und Genossen an den Herrn Bundesminister für Justiz, betreffend das Eherecht im Burgenland. 276 BGBL Nr. 913/ 1922.

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Bevor noch die Eingliederung des Burgenlandes vollzogen war, erhoben die Sozialdemokraten schon im Dezember 1921 die Forderung, die Rechtsunsicherheit auf dem Gebiet des Eherechts zu beseitigen und das Deutsche Eherecht in Österreich zu übernehmen, um nicht die bestehende Verwirrung noch zu vergrößern. 277 Damit stellten sich die Sozialdemokraten in ihren Forderungen im wesentlichen auf dieselbe Linie wie die Vertreter der Großdeutschen Partei, die schon vorher im Justizausschuß die Angleichung der Justizgesetzgebung an die des Deutschen Reiches verlangt hatten. 278 Die Verordnung des Bundesministeriums für Justiz vom 29.5.1922,279 wonach das ungarische Eherecht nur für jene Ehen gelten sollte, in denen der Ehemann seit Geburt oder wenigstens vor dem 29.8.1921 burgenländischer Landesbürger war, bot den Sozialdemokraten mehrmals Gelegenheit zur Polemik, da ihrer Auffassung nach diese Verordnung eine unzulässige Einschränkung der Geltung des ungarischen Eherechts bewirkte. 280 3. Praxis der Dispenseheschließung

Das bestehende Eheband war für das ABGB selbstverständlich ein trennendes Ehehindernis (§ 62 ABGB) , das bei Katholikenehen nur durch den Tod eines Ehegatten wegfallen konnte (§ 111 ABGB). Aus wichtigen Gründen gewährte § 83 ABGB "der Landesstelle" die Vollmacht, Dispens von trennenden Ehehindernissen zu erteilen, ohne zugleich festzulegen, von welchen Ehehindernissen dispensiert werden konnte. Tatsächlich wurde schon in der Monarchie bei Vorliegen bestimmter Gründe Dispens vom Hindernis des bestehenden Ehebandes erteilt, allerdings nur, wenn es galt, einer im kanonischen Recht so bezeichneten Dispens 281 von der geschlossenen und nicht vollzogenen Ehe staatliche Rechtswirksamkeit zu sichern, d. h. den Partnern dieser Ehe die Eingehung einer weiteren staatlichen Ehe zu ermöglichen. 282 Von der schon in der Monarchie eröffneten grundsätzlichen Möglichkeit, vom Hindernis des bestehenden Ehebandes zu dispensieren, wurde in de Republik in wesentlich vermehrtem Umfang Gebrauch gemacht, wobei das bisher ausschlaggebende Motiv wegfiel. Vom Hindernis des bestehenden Ehebandes wurde nunmehr ohne Rücksicht auf die Frage dispensiert, ob den Ehegatten der neuerliche Abschluß einer kirchlichen Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 75. Sitzung vom 13.12.1921, 2588. Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 26:'Sitzung vom 12. März 1921, 943 ff. 279 BGBL Nr. 316/1922, § 10 Abs. 2. 280 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 75. Sitzung vom 13.12.1921, 2571. 281 Die noch im Codex Iuris Canonici von 1917 im Anschluß an das Dekretalenrecht so bezeichnete "dispensatio a matrimonio rato et non consummato" (vgl. can 1119) wird nunmehr im CIC /1983 durch "dissolvi potest" (c. 1142) ersetzt. 282 Vgl. dazu: Rudolfvon Scherer, Handbuch des Kirchenrechts, Bd. 11, 576; Anm. 111; Bruno Primetshofer, Ehe und Konkordat, Wien 1960, 19; Anm. 25. 277 278

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Ehe möglich war oder nicht. Dispensehen in der Ersten Republik wurden daher praktisch ausschließlich als Notzivilehen oder - falls einer der Ehepartner einem gesetzlich anerkannten nichtkatholischen Bekenntnis angehörte - vor dem akatholischen Religionsdiener eingegangen. In großem Ausmaß hat Dispens vom Hindernis des bestehenden Ehebandes der damalige Landeshauptmann von Niederösterreich, Albert Sever, erteilt. Was in der Monarchie nur als Einzelfall vorkam, wurde in der Republik so sehr zur Alltäglichkeit, daß das Staatsamt im Inneren und des Unterrichts eigenes einen Erlaß mit der Mahnung herausgeben mußte, bei der Erteilung der Dispens nicht so leichtfertig vorzugehen. Sever, der sich bei der Dispensation vom Hindernis des Ehebandes von Anfang an auf die in der Monarchie gewährten Dispensen berief, und dies nicht ohne gewisse Demagogie in seiner Sprechweise zum Ausdruck brachte,283 war übrigens zunächst der einzige Landeshauptmann, der derartige Dispensen erteilte. 284 In Niederösterreich beruhte die Dispenserteilung gemäß § 83 ABGB auf dem Beschluß der Provisorischen Landesregierung vom 4. April 1919. Der damalige Staatssekretär des Inneren, Eldersch, ein Parteigenosse Severs, unterstützte die Handlungsweise des Landeshauptmannes. Als Sever die Erteilung der Dispens nicht mehr unmittelbar selber ausüben konnte - er war infolge der Trennung Niederösterreichs von Wien und des Wahlausganges vom 17. Oktober 1920 nicht mehr Landeshauptmann von Niederösterreich geworden - forderte er vom damaligen Innenminister Dr. Waber umso entschiedener, daß jede Beeinflussung von außen ferngehalten und der "reaktionäre Einfluß der Klerikalen" zurückgedrängt werde. 285 Nach den Wahlen von 1920, als die Sozialdemokraten erkennen mußten, daß sich ihre kulturpolitischen Forderungen schwer würden durchsetzen lassen, blieben ihre Angriffe nicht allein auf die Christlichsozialen beschränkt, sondern erstreckten sich auch auf die katholische Kirche und deren Repräsentanten. Kardinal Piffl, der gegen die geplante Ehereform der Konstituierenden Nationalversammlung schon heftig Protest erhoben hatte, nahm am Mödlinger Katholikentag auch zur Dispensehe Stellung und verurteilte diese Praxis scharf. 286 Seitdem scheuten die Sozialdemokraten nicht mehr zurück, den Kardinal in einer Weise anzugreifen, die nicht nur der allgemeinen Höflichkeit und den parlamentarischen Spielregeln widersprach, sondern auch in Österreich bisher undenkbar gewesen wäre. 287 283 284 285 286 287

Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 73. Sitzung vom 10. Dezember 1921, 2498. Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 73. Sitzung vom 10. Dezember 1921. Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 73. Sitzung vom 10. Dezember 1921. Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 1. GP, 24. Sitzung vom 10. März 1921, 842. Sten.Prot. d. Konst. NV, 101. Sitzung vom 30. September 1920, 3424 und 3426 f.; Sten.Prot. d. NR, 24. Sitzung vom 10. März 1921, 842 und Sten.Prot. d. NR, 73. Sitzung vom 10. Dezember 1921, 2498 f.

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Die Praxis der Dispenserteilung vom Hindernis des bestehenden Ehebandes und die daraufhin erfolgte Eingehung einer sogenannten Dispensehe stellt ein Kuriosum in der österreichischen Eherechtsentwicklung dar, das im Ergebnis, wenngleich aufgrund einer schwankenden Praxis der Gerichte, auf das gleichzeitige Bestehen zweier Ehen ein und desselben Partners hinauslief. Abgesehen von der kontroversiellen Frage, ob § 62 ABGB überhaupt ein dispensierbares Ehehindernis darstellte,288 hatte die umfangreiche Dispenserteilung zur Folge, daß die Frage der Gültigkeit der Dispensehe schon sehr früh die Gerichte beschäftigte. Das Staatsamt für Justiz erklärte sich für nicht berufen, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen und verwies die Beurteilung der Rechtsgültigkeit der Dispensehen in die Kompetenz der Gerichte. Auch in der Tagespresse lieferten sich die Parteien schon 1919 heftige Kontroversen über die Dispensehe und trugen so dazu bei, die Verwirrung noch zu erhöhen. 289 Wenig besser war es um die theoretisch-wissenschaftliche Erörterung des Problems bestellt. Auch hier standen sich die Meinungen der Fachleute konträr gegenüber, so daß das Schlagwort vom österreichischen "Ehewirrwarr" durchaus den Tatsachen entsprach. Allein im November 1919 gab es in· Österreich schon 6.000 Dispensehen, und 1921 rühmte sich Sever, in Niederösterreich 15.000 Dispensehen gestiftet zu haben. 290 Viele dieser Zweitehen waren inzwischen wieder geschieden, und viele Frauen aus Erst-Ehen fochten die Gültigkeit der Dispensehen bei den Gerichten an, die ihrerseits völlig divergierende Entscheidungen fällten. Sehr häufig wurde durch die Gerichte die Dispensehe für ungültig erklärt. Es gab aber auch Fälle, in denen das Oberlandesgericht ein auf Ungültigkeit der Dispensehe lautendes Urteil eines Landesgerichtes aufhob und die Dispensehe für gültig erklärte. 291 Das Wiener Oberlandesgericht erkannte am 30. Dezember 1920 bei einer Alimentationsklage sogar beide Ehen, die geschiedene und die Dispensehe, als nebeneinander bestehend und beide Ehefrauen als alimentationsberechtigt an. 292 Kurze Zeit später bestätigte ein anderes Wiener Gericht die Gültigkeit einer angefochtenen Dispensehe, da die Ehehindernisse durch die Dispens der niederösterreichischen Landesregierung restlos beseitigt worden seien. 293 Der Verwaltungsgerichtshof hob am 19. März 1921 eine vom Staatsamt des Inneren und Unterrichts ge~ährte Dispens vom Hinder288

Hans Sperl, War das impedimentum ligaminis dispensabel?, in: ÖAZ 11 (1934)

289 290 291 292 293

Neue Freie Presse vom 3. Dezember 1919, 5. Sten.Prot. d. NR Rep. Ö., I. GP, 73. Sitzung vom 10. Dezember 1921, 2502. Arbeiter Zeitung vom 23. November 1920. Erika Weinzierl-Fischer, Konkordate (Anm. 1) 166. Erika Weinzierl-Fischer, Konkordate (Anm. 1) 167.

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nis des Ehebandes über Beschwerde auf und suchte damit eine Klärung in der Ehefrage herbeizuführen. 294 In den Entscheidungsgründen dieses Erkenntnisses erklärte der Verwaltungsgerichtshof die Dispens vom impedimenturn ligaminis als gesetzwidrig, da die Auflösung einer Ehe nicht in die Kompetenz der Verwaltungsbehörden, sondern der Gerichte falle. Diesem Urteil schloß sich 1921 der Oberste Gerichtshof in einem Gutachten über die Dispensehe an. 295 Der Kernsatz des Gutachtens lautet: "Vom Hindernisse des bestehenden Ehebandes kann eine Nachsicht gemäß §§ 83 ff. ABGB nicht mit der Wirkung erteilt werden, daß die auf Grund dieser Nachsicht geschlossene zweite Ehe sich der gerichtlichen Ungültigkeitserklärung wegen Rechtsbestandes der ersten Ehe entzöge. Auf den rechtlichen Bestand der ersten Ehe hat weder die erteilte Nachsicht, noch die hierüber erfolgte zweite Eheschließung einen rechtlichen Einfluß." In der Begründung führt das Gutachten.als Hauptargument für die Ablehnung der Dispenserteilung an, daß dadurch von den Behörden ein "gesetzgeberischer Akt" vorgenommen werde, für den diese nicht zuständig seien. Die Unauflöslichkeit der Ehen von Katholiken, deren Beseitigung letztlich die Dispensationspraxis herbeiführe, müsse umso mehr verlangt werden, als weder von der Nationalversammlung, noch vom gegenwärtigen Parlament eine Änderung in der Ehegesetzgebung vorgenommen worden sei, obwohl ihr diese Möglichkeit offen gestanden wäre. Die klare Aussage des Paragraphen 111 ABGB über die Untrennbarkeit der Katholikenehe lasse nicht die Meinung zu, daß durch den Abschluß der zweiten Ehe aufgrund einer für sie erteilten Dispens vom Hindernis des Ehebandes die erste Ehe als aufgelöst zu betrachten sei. Dies würde nicht eine Auslegung, sondern die Abänderung des Gesetzes bedeuten. Eine aufgrund der Nachsicht vom impedimentum ligaminis geschlossene Ehe könne daher von den Gerichten für ungültig erklärt werden. Schließlich wurde im Gutachten gesagt, daß es nun Sache des Gesetzgebers sei, "für die große Zahl der sogenannten Dispensehen ", gesetzliche Maßnahmen zu treffen. Von dieser Entscheidung ist der Oberste Gerichtshof in seinen Judikaten bis 1930 niemals mehr abgerückt. In Österreich sind aber weiterhin Dispensen vom Hindernis des bestehenden Ehebandes erteilt worden. Im Falle einer Beschwerde wurde die Dispensehe in der Regel jedoch von den Gerichten für ungültig erklärt. Mit der Ungültigerklärung einer Dispensehe und der daraufhin entzogenen Pensionsberechtigung war auch das Parlament in einer dringlichen 294 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. März 1921, abgedruckt in: Wiener Diözesanblatt, Jg. 1921,21-23. 295 Amtsblatt des österreichischen Bundesministeriums für Justiz vom 5. Juli 1921, 76-82, und Entscheidungen des Österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivil- und Justizverwaltungssachen, Bd. IV, Slg. 155/1921,406-418. Das Gutachten des OGH ist datiert mit 5. Juli 1921. Im Jahr 1928 hat der OGH ein Ergänzungsgutachten erstellt, das mit 10. Mai 1928 datiert ist.

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Anfrage befaßt. 296 Im Jahre 1924 entschied erstmals der Verfassungsgerichtshof in zwei ähnlich gelagerten Fällen über die Pensionsberechtigung von Witwen aus Dispensehen. Im ersteren Fall erkannte der Verfassungsgerichtshof der Witwe aus der Dispensehe die Pensionsberechtigung zu. Er begründete sein Erkenntnis damit, daß die Witwe aus der ersten Ehe, die katholisch geschlossen, aber 1913 einverständlich von Tisch und Bett geschieden worden war, ihrerseits 1919 ebenfalls eine Zweitehe mit Dispens vom Hindernis des Ehebandes geschlossen habe. 297 Infolge ihrer Eingehung einer Dispensehe habe sie zwar nicht den Anspruch auf Pensionsberechtigung aus der Erst-Ehe verloren, doch ruhe dieser für die Dauer ihrer bestehenden Dispensehe. Im vorliegenden Fall wurde also der Witwe aus der Zweitehe die Pensionsberechtigung zuerkannt. Nach der Sachlage des zweiten Erkenntnisses hat die Frau aus der Erstehe, die nach der Scheidung dieser Ehe ihrerseits eine Dispensehe eingegangen war, die Zweitehe gerichtlich für ungültig erklären lassen. 298 Damit hat sie nach dem Tod ihres Gatten aus erster Ehe den Anspruch auf dessen Pensionsberechtigung erworben. Der Verfassungsgerichtshof hat in diesem Fall der Gattin aus der Dispensehe die aufgrund dieser Ehe bereits ausgezahlte Pension abgesprochen. Für die Gültigkeit der Dispensehe sprach sich der Senatspräsident des Obersten Gerichtshofes, Peter Paul Burkart, aus,299 der unter Berufung auf den fünften Abschnitt des Staatsvertrages von St. Germain über den Schutz der Minderheiten (insbesondere Art. 63) nachzuweisen suchte, daß das Ehehindernis des Katholizismus 30o aufgehoben sei. Die Haltung der Regierungsparteien in der Dispensehefrage stelle einen Widerspruch zu diesem Staatsvertrag dar. 301 Dispensehewerber, die vor Erteilung der Dispens in der Regel aus der katholischen Kirche austraten und damit einen Weg beschritten, den die Sozialdemokraten schon 1921 propagierten,302 seien dadurch, so wurde argumentiert, zu Akatholiken geworden und diesen könne die Dispens und eine neuerliche Eheschließung nicht verwehrt werden. Diesen Argumenten schlossen sich die österreichischen Gerichte jedoch nicht an, so daß bis zum Jahre 1926 mehr als 1.000 Dispensehen für ungültig erklärt wurden. Von den 2.578 Ehedispensen, die im Jahre 1928 durch das Land Wien erteilt worden sind, entfielen allein 1.802 auf das 296 Steno Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP, 62. Sitzung vom 28. Oktober 1924, 1767 f. und 1776 ff. 297 Erkenntnis des Verf.GH. Slg. Nr. 310 vom 28. Mai 1924, ZA 24/24. 298 Erkenntnis des Verf.GH. Slg. Nr. 356 vom 27. Oktober 1924, ZA 62/24. 299 Gerichtszeitung 75 (1924) 129-138, hier bes. 137 f. 300 Siehe oben Anm. 213. 301 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP, 62. Sitzung vom 28. Oktober 1924, 1777. 302 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., 11. GP, 26. Sitzung vom 21. März 1921, 954.

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Hindernis des bestehenden Ehebandes. 303 Bis zum Jahre 1929 sind 55.000 Dispensen vom Hindernis des Ehebandes erteilt worden. 304 Zu einer durch den parlamentarischen Gesetzgeber herbeigeführten Lösung des anstehenden Problembereiches kam es indes nicht mehr. 305 Eine Lösung der Dispensehenfrage sollte durch die im Konkordat von 1933 erfolgte staatliche Anerkennung der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit gebracht werden (Art. VII). Das vom österreichischen Gesetzgeber jedoch einseitig erlassene Konkordats-Durchführungsgesetz 306 brachte allerdings erhebliche Einschränkungen der vom Konkordatstext her umfassend konzipierten kirchlichen Zuständigkeit. Eine endgültige Lösung der Dispensehenfrage brachte erst das Ehe-Gesetz von 1938. 4. Eherechtliche Probleme der Zweiten Republik

In der Zweiten Republik wurde zunächst durch das Rechtsüberleitungsgesetz vom 1. 5.1945 307 die Großdeutsche Ehegesetzgebung (1938) übernommen. Es wurden aus ihr lediglich die typisch nationalsozialistisches Gedankengut enthaltenden Bestimmungen (z. B. Nürnberger Rassegesetze, Gesetze zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre usw.) entfernt. Dies bedeutete u. a., daß Österreich nach 1945 auf dem Boden der 1938 eingeführten obligatorischen Zivilehe verblieb (§ 15 Ehe-G.). Versuche, eine staatliche Anerkennung der kirchlichen Eheschließung durch Einführung der fakultativen Zivilehe zu erwirken, sind nachweisbar, doch blieb ihnen der Erfolg versagt. So stellte der Abgeordnete Müllner (ÖVP) schon am 23.5.1946 im Parlament den Antrag, der Justizminister möge eine Gesetzesvorlage einbringen, durch welche unvorgreiflich einer endgültigen Neuregelung des Eherechts der kirchlichen Eheschließung staatliche Rechtswirkungen zukommen sollten. 308 Dieser Antrag wurde wenige Wochen später von einigen Abgeordneten der ÖVP, darunter Müllner, wieder303 Alois Hudal, Die kirchliche Einteilung Österreichs mit der allgemeinen Statistik, in: Alois Hudal, Der Katholizismus in Österreich, Innsbruck- Wien-München 1931, 54. 304 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., III. GP, 76. Sitzung vom 21. Jänner 1929, 2192. 305 Zur umfangreichen Problematik der Dispensehen und der divergierenden Auffassungen der Gerichte, vgl. Rudolf Braun, Ein Schlußwort zur Dispensehe, in: ÖAZ 11 (1934) 106 f; Hans Sperl, (Anm. 288) 432; Fritz Schwind, Kommentar zum österreichischen Eherecht, Wien 1951, 271; Robert Franz, Rund um die Dispensehe, in: Korrespondenzblatt für den katholischen Klerus 51 (1932) 36 f., 48 f., 57 f. und 65 f.; Robert Franz, Einiges über die Ehelichkeit der Kinder aus Dispensehen, in: Korrespondenzblatt für den katholischen Klerus 54 (1935) 178; Vgl. auch die Literatur zu Anmerkung 253. 306 BG vom 4. Mai 1934, BGBl. Nr. 1934/ II / 2. 307 Gesetz vom 1. Mai 1945, StGBl. 6/1945. 308 Sten.Prot. d. NR d. Rep. Ö., V. GP, 17. Sitzung vom 23. Mai 1946, 311.

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holt. In diesem Antrag wurde u. a. ausgeführt, die Trauung durch den Standesbeamten (obligatorische Zivilehe) stehe nicht im Einklang mit dem religiösen Empfinden weiter Kreise der Bevölkerung, die eine Trauung als einen Akt religiösen Charakters betrachteten. Die doppelte Trauung durch den Seelsorger und den Standesbeamten schaffe zudem für die Zeit zwischen diesen bei den Akten einen durchaus unbefriedigenden Zustand, indem die Ehe auf dem einen der beiden Gebiete bereits bestehe, auf dem anderen aber noch nicht geschlossen sei. Überdies stelle die kirchliche Eheschließung ein in Jahrhunderten erworbenes Recht der österreichischen Bevölkerung dar. - Der gegenwärtig unbefriedigende Zustand könne leicht beseitigt und gleichzeitig dem religiösen Empfinden Rechnung getragen werden, ohne daß dadurch die bezüglich der Matrikelführung und der Prüfung der Zulässigkeit einer Eheschließung den Standesbeamten nach dem geltenden Gesetz zugewiesene Zuständigkeit eine Einschränkung erfahren würde. Der Bundesminister für Justiz wird in dem Antrag aufgefordert, ehestens eine Gesetzesvorlage einzubringen, durch die, ohne der endgültigen Regelung des Eherechts vorzugreifen, ausgesprochen werde, daß unter Aufhebung des Zwanges zur staatlichen Trauung die Ehe durch Vornahme der kirchlichen Trauung auch mit Wirkung für den staatlichen Bereich geschlossen werden könne. 309 Zu einer parlamentarischen Behandlung dieser Anträge kam es indes nicht. Mehrere Jahre später, am 16.3.1950, wurde wiederum ein ähnlicher Antrag von den Abgeordneten Lola Solar, Müllner, Pius Fink und Genossen (ÖPV) eingebracht und darin u. a. ausgeführt, daß das in Österreich noch geltende nationalsozialistische Ehegesetz vom 8.7.1938 einen groben Verstoß gegen die in der österreichischen Verfassung fundierte Glaubens- und Gewissensfreiheit darstelle. In einer freien Demokratie habe jeder Staqtsbürger das Recht, die von ihm gewählte Form der Eheschließung (konfessionell oder standesamtlich) zu fordern. Nach dem noch geltenden Ehegesetz sei zum ersten Mal in Österreichs Geschichte das österreichische Volk aller Konfessionen gezwungen, als Erbschaft Ritlers eine Doppeltrauung vorzunehmen. 310 Überdies werde gemäß § 67 Personenstandsgesetz der Vertreter der jeweiligen Konfession, der es wagt, vor der Zwangsziviltrauung den konfessionellen Trauungsakt vorzunehmen, mit Geldstrafe oder Gefängnis bestraft. Es sei für Österreich beschämend, den Zustand der Unterdrückung nach 5 Jahren demokratischer Verfassung weiterhin aufrecht zu erhalten. Nach dem Grundsatz der durch die Demokratie gewährleisteten GlaubensSten.Beil. d. NR, V. GP, 23. Sitzung vom 13. Juni 1946, 510. Dies entspricht allerdings nicht den Tatsachen, da es im Burgenland zufolge der Weitergeltung des ungarischen Eherechts von 1921 bis 1934 (nämlich bis zum Inkrafttreten des Konkordats-Eherechts) das System der obligatorischen Zivilehe gab. 309 310

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und Gewissensfreiheit sei das nationalsozialistische (österreichische) Ehegesetz so abzuändern, daß jede konfessionelle Eheschließung staatliche Anerkennung finde. Der Bundesminister für Justiz wird in diesem Antrag aufgefordert, ehestens eine Gesetzesvorlage einzubringen, durch welche, ohne der endgültigen Regelung des Eherechts vorzugreifen, der konfessionelle Trauungsakt der standesamtlichen Trauung gleichgestellt werde. 311 In der Sitzung vom 11. Dezember 1950 erfolgte eine Anfrage der Abgeordneten Häuslmayer, Straßer, Horn und Genossen (ÖVP) an den Bundesminister für Justiz, Dr. Tschadek betreffend die Verhandlungen über das Eherecht mit der katholischen Kirche. Die Anfrage erwies sich insbesondere deshalb als notwendig, weil der Bundesminister für Justiz in der Budgetdebatte vom 8. Dezember 1950 erklärt hatte, er habe bei seinen Verhandlungen mit dem Vertreter der römisch-katholischen Kirche, dem Wiener Erzbischof Kardinal Dr. Innitzer, großes Verständnis für den Standpunkt des Staates in der Ehefrage gefunden. Insbesondere habe Innitzer im Zusammenhang mit § 67 PStG erklärt, in der Erzdiözese Wien würden keine konfessionellen Trauungen vor der standesamtlichen vorgenommen werden. In einer Presseaussendung des Erzbischöflichen Ordinariats Wien wurde indes diese Mitteilung des Bundesministers für Justiz als unrichtig bezeichnet. - Die Anfrage der erwähnten Abgeordneten lautete daher: 1. ist der Bundesminister für Justiz bereit, mitzuteilen, ob und mit welchem

Ergebnis bisher Besprechungen mit kirchlichen Kreisen stattgefunden haben?

2. Ist der Bundesminister für Justiz bereit, mitzuteilen, ob weitere Besprechungen vorgesehen sind und auf welche Rechtsfragen sich dieselben erstrecken werden?312

In der Beantwortung der parlamentarischen Anfrage führte Bundesminister Tschadek am 12. Dezember 1950 aus, daß die Forderung nach Einführung der fakultativen Zivilehe schon seit einiger Zeit von ÖVP-Abgeordneten erhoben worden sei, die katholische Kirche habe aber zunächst keine öffentliche Stellungnahme abgegeben. Vor einigen Monaten habe nun ein katholischer Pfarrer in Oberösterreich zwei Volksdeutsche kirchlich getraut, ohne daß vorher die vorgeschriebene Eheschließung vor dem Standesbeamten stattgefunden habe und stattfinden konnte, weil die betreffenden Brautleute kein Ehefähigkeitszeugnis vorlegen konnten. Dieses Vorgehen habe zu einer Verurteilung des betreffenden Pfarrers gemäß § 67 PStG geführt. Durch diesen Straffall sei eine Änderung der Strafbestimmungen des Personenstandsgesetzes erneut zur Erörterung gestellt worden. 311 Sten.Beil. des NR, VI. GP, 20. Sitzung vom 16. März 1950, 63l. 312 Sten.Beil. des NR, VI. GP, 39. Sitzung vom 11. Dezember 1950, 1553.

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Zur Forderung nach Einführung der fakultativen Zivilehe habe er, Tschadek, erklärt, daß jede Reform des Eherechts von dem Grundsatz ausgehen müsse, "daß ein einheitliches Eherecht eine unbedingte Notwendigkeit sei. Daher sei es vor allem anderen unmöglich, kirchliche Eheschließungen zuzulassen, wenn die betreffende Eheschließung nach staatlichem Recht unzulässig wäre. Es könne unmöglich nebeneinander Ehen geben, die nach kirchlichem Recht giltig, nach staatlichem Recht aber ungiltig, und solche, die nach staatlichem Recht giltig, nach kanonischem Recht aber nichtig seien. Dadurch würden Verwirrungen angerichtet, welche die bedenklichsten sozialen Wirkungen nach sich ziehen würden, was auch gewiß nicht dem Standpunkt der Kirche entsprechen könne. Es wäre möglich, daß kirchlich getraute Personen ohne weiteres auseinandergehen, es wäre auch nicht ausgeschlossen, daß jemand in der Kirche und später vor dem Standesamt eine verschiedene Person heiratet." Es müsse daher, so führte Tschadek weiter aus, bei einer Änderung des Eherechts davon ausgegangen werden, daß eine kirchliche Trauung bei Vorliegen eines Hindernisses des bürgerlichen Rechts nicht erfolge; eine kirchliche Eheschließung ohne Vorliegen eines staatlichen Ehefähigkeitszeugnisses sei daher nicht denkbar. In den weiteren Ausführungen seiner Anfragenbeantwortung wies Tschadek darauf hin, daß er von dem tiefen Wunsch beseelt sei, alles zu vermeiden, was auch nur im entferntesten an einen Kulturkampf erinnere. Unter Wahrung der Glaubens- und Gewissensfreiheit habe er sich entschlossen, die von der katholischen Kirche gewünschten Verhandlungen selbst anzubahnen. Vom Grundsatz eines einheitlichen Eherechts sei aber nicht abzugehen, und er könne nicht daran denken, den gesetzgebenden Körperschaften eine Gesetzesvorlage zu unterbreiten, welche diesem Grundsatz widerstreitet. Er sei auch überzeugt, die die österreichische Volksvertretung es ablehnen würde, einen Zustand herbeizuführen, der geeignet wäre, den vor 1938 auf dem Gebiet des Eherechtes bestehenden Wirrwarr auch nur zum Teil wiederherzustellen. Im übrigen gebe er der Erwartung Ausdruck, daß eine einvernehmliche Lösung zwischen Staat und Kirche auch auf diesem Gebiet möglich sein werde. 313 Die Hoffnungen, insbesondere im Zusammenhang mit einer Beseitigung der Strafbestimmung des § 67 PStG zu einer vom Gesetzgeber zu treffenden Lösung zu gelangen, erwiesen sich als trügerisch. Die genannte Bestimmung wurde erst durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 19. Dezember 1955 als verfassungswidrig aufgehoben. 314 Dem in der Zwei313 Beiblatt zur Parlamentskorrespondenz vom 12.12.1950, 1. Beiblatt 158/ A. B. zu 187 /J. 314 Erk. des VfGH vom 19. Dezember 1955 G 9/55. Die Kundmachung des Bundeskanzlers erfolgte am 12. März 1956, (BGBl. Nr. 46/1956).

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ten Republik mehrfach an den Gesetzgeber herangetragenen Wunsch, die kirchliche Eheschließung mit bürgerlichen Rechtswirkungen auszustatten und somit die Wahlzivilehe in Österreich einzuführen, ist allerdings die Erfüllung versagt geblieben. Bis zur Stunde steht Österreich auf dem Boden der 1938 eingeführten Zwangszivilehe. Es erfolgten allerdings einige gesetzliche Regelungen, die während der Geltung des Ehegesetzes vom 8. Juli 1938 eine Teilanerkennung der kirchlichen Eheschließungsform für begrenzte Zeitabschnitte und unter besonders gelagerten Umständen zum Inhalt haben. So wurde durch ein Gesetz der Provisorischen Staatsregierung vom 26.6.1945 315 bestimmt, daß die in der Zeit vom 1. April 1945 bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes (d. i. der 29. Juni 1945) vor nichtzuständigen weltlichen Behörden oder vor Funktionären der gesetzlich anerkannten Kirchen und. Religionsgesellschaften geschlossenen Ehen bürgerliche Rechtswirkungen zukommen. Dieser Regelung lag die Tatsache zugrunde, daß unmittelbar nach Aufhören der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich die irrige Meinung verbreitet war, nunmehr gelte in bezug auf das Eherecht wieder automatisch der vor der Einführung des großdeutschen Eherechts bestehende Rechtszustand. Somit wurden teils Ehen vor unzuständigen weltlichen Behörden 316 oder vor Geistlichen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften geschlossen. Durch das zitierte Gesetz wurden diese wegen Nichteinhaltung der Formerfordernisse des § 15,1 Ehe-G als Nichtehen zu qualifizierenden Verbindung in der Wurzel geheilt. 317 Durch BG vom 16.9.1959 318 wurde eine zeitliche Erweiterung der Anerkennung der Eheschließung vor den Funktionären der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften vorgenommen. Haben nämlich Ehewerber in der Zeit vom 29.6.1945 bis 30.4.1946 ohne standesamtliche Eheschließung eine Trauung vor dem Seelsorger einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft erwirkt, so hat das Gericht auf Antrag auszusprechen, daß zwischen ihnen eine Ehe als an dem Tag der Abgabe der konfessionellen Eheschließungserklärung zustandegekommen gilt. Eine solche Antragsstellung war allerdings bis Ende des Jahres 1961 befristet. In den Erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage zum in Rede stehenden Gesetz wird festgestellt, daß die im BG vom 26.6.1945 (StGBl. 31/1945) gesetzte Frist vom 1. April bis 28. Juni 1945 für die staatliche StGBl. 31/1945. Derartige Eheschließungen erfolgten nach dem Gesetz vom 25. Mai 1868 (RGBl. Nr. 47/1868) vor den für (Not)zivilehen zuständigen Bezirks- oder Gemeindebehörden. 317 Fritz Schwind, Das Familienrecht, Wien 1984, 32; Paul H. Neuhaus, Heilung von Nichtehen, in: FS für Fritz Schwind, Wien 1978, 223-236. 318 BGBl. 208/1959. 315 316

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Vergültigung nur kirchlich geschlossener Ehen ungenügend war, da auch nach diesem Zeitpunkt in der Bevölkerung noch eine gewisse Unklarheit über die Rechtslage geherrscht habe. Viele Ehewerber seien weiterhin der irrigen Ansicht gewesen, mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft habe in Österreich auch der Zwang zur standesamtlichen Trauung aufgehört und es genüge wie früher die kirchliche Eheschließung. Dies gelte insbesondere für die westlichen Bundesländer, in denen das genannte Gesetz erst nach Genehmigung durch den Alliierten Rat am 10. November 1945 anwendbar geworden sei. Dem Bundesministerium für Justiz seien ungefähr 300 solcher Fälle gemeldet worden. 319 Eine weitere Teilanerkennung der kirchlichen Eheschließungsform hat der parlamentarische Gesetzgeber durch BG vom 16.12.1953 vorgenommen,320 wobei hier sogar interessanterweise nicht nur eine Anerkennung der Eheschließungsform vor dem Seelsorger einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft, sondern sogar der Laiennottrauung nach c. 1098, I des CIC /1917 vorliegt. Das Gesetz bestimmt u. a.; War es Ehewerbern in der Zeit vom 13. März 1938 bis 31. März 1945 nur aus rassischen oder politischen Gründen unmöglich, die Ehe miteinander zu schließen, dann habe das Gericht auf Antrag auszusprechen, daß eine Ehe zwischen den beiden zustandegekommen ist, wenn die Ehewerber in der Zeit der Behinderung eine Trauung vor dem Seelsorger einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft erwirkt oder ihren Entschluß, eine eheliche Verbindung miteinander einzugehen, sonstwie nach dem Recht einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft erklärt hatten und die Trauung oder Erklärung in das konfessionelle Eheregister eingetragen worden war. - Das Gesetz setzt allerdings voraus, daß in den genannten Fällen eine nachträgliche standesamtliche Eheschließung wegen des Todes eines Ehegatten nicht mehr möglich war. 321 Anträge dieser Art an das Gericht konnten nur bis Ende des Jahres 1954 gestellt werden. 322 Zu weiteren Anerkennungen der kirchlichen Eheschließungsform oder anderer Bestimmungen des kirchlichen Eherechts kam es in der Zweiten Republik nicht. Von Art. VII des Konkordats von 1934 wird eine einzige Bestimmung, nämlich § 5, heute noch faktisch beobachtet: "Die kirchlichen und staatlichen Gerichte haben einander im Rahmen ihrer Zuständigkeit Rechtshilfe zu leisten". 323 319 Bruno Primetshofer, Ehe und Konkordat, Wien 1960, 6I. 320 BGBl. Nr. 14/1954. 321 Zit. G. § 1 (1), 3. 322 Zit. G. § 6. 323 Dies bedeutet insbesondere, daß kirchliche Gerichte bei Nullitäts- oder Inkonsummationsprozessen das in der Regel dem kirchlichen Verfahren vorausliegende

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111. Die Frage der Geltung des Konkordats von 1933 in der Zweiten Republik Zum Abschluß dieser Darlegungen seien kurz einige Ausschnitte aus der parlamentarischen Behandlung der Frage um die Geltung des österreichischen Konkordats vom 5.6.1933 in der Zweiten Republik angeführt. In zweifacher Weise war die Geltung dieses Konkordats zunächst umstritten. Zum einen ging es um die völkerrechtliche Geltung, wobei nicht so sehr das völkerrechtlich gültige Zustandekommen des Vertrages angezweifelt wurde, sondern vielmehr dessen Weitergeltung im Zusammenhang mit den Ereignissen um den "Anschluß" Österreichs an das Großdeutsche Reich im Jahre 1938. Annexions- und Okkupationstheorie standen sich zunächst in schroffem Gegensatz gegenüber. 324 - Zum anderen war die innerstaatliche Geltung des Konkordats umstritten. Wiederholt kam dabei der zeitliche Zusammenfall der Ratifizierung des Konkordats mit dem Verfassungsbruch 1934 zur Sprache. Das österreichische Parlament der Zweiten Republik befaßte sich mehrmals mit dem Problem um die Geltung des Konkordats in beiden Ebenen, konnte aber zunächst keinen einheitlichen Standpunkt gewinnen. Im Zusammenhang mit einem vom damaligen Vizekanzler Adolf Schärf stammenden Aufsatz in der sozialistischen Monatsschrift "Die Zukunft" 325 kam es am 9.3.1950 zu einer parlamentarischen Anfrage der Abgeordneten Dr. Gschnitzer, Dr. Toncic, Geisslinger und Genossen (ÖVP) an die Bundesregierung. 326 In der Anfrage wurde zunächst hervorgehoben, daß die vom Vizekanzler vertretene Annexionstheorie in Widerspruch mit der herrschenden Lehre und Praxis des In- und Auslandes stehe. Der Vizekanzler sei damit auch in Widerspruch zu der von der österreichischen Regierung vertretenen Politik geraten, wie sie u. a. in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 12.4.1946 klar ausgesprochen sei. An die Bundesregierung erging die Anfrage, ob sie sich mit der vom Vizekanzler vertretenen Auffassung identifiziere und ob diese eine Änderung ihrer bisherigen Stellungnahme bedeute? - Eine Beantwortung dieser Frage ist indes nicht feststellbar. Die weitere Entwicklung in dieser Frage ist durch eine mit dem Parlament offenbar zunächst nicht akkordierte Initiative der Bundesregierung staatliche Scheidungs-, Aufhebungs- oder Ungtiltigkeitsurteil von den staatlichen Gerichten anfordern können und auch ausgehändigt bekommen. 324 Vgl. dazu die Literatur bei Hans Klecatsky - Hans Weiler, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 140) 231 ff. 325 Adolf Schärf, Gilt das Konkordat? War der Anschluß Annexion oder Okkupation? in: Die Zukunft (1950) 34 ff. 326 Beiblatt zur Parlamentskorrespondenz, 17. Beiblatt vom 9. März 1950, 93 / J., 423. 30·

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gekennzeichnet. Am 8.11. Ui57 wurde das Parlament vom Unterrichtsminister informiert, daß der Heilige Stuhl bereits vor längerer Zeit in einer Note an die Bundesregierung zwei präzise Fragen gestellt habe: 1. Ist die Bundesregierung bereit, die Gültigkeit des österreichischen Konkordats offen und unbedingt anzuerkennen? 2. ist die Bundesregierung bereit, die Weiterdauer der Wirksamkeit des Konkordats offen und unbedingt anzuerkennen?327 Am 21.12.1957 erging eine Antwortnote der österreichischen Bundesregierung an den Heiligen Stuhl, deren Inhalt aber zunächst weder verlautbart, noch dem Parlament bekanntgegeben wurde. In einer parlamentarischen Anfrage der Abgeordneten Dr. Pfeifer (SPÖ), Dr. Zechner (SPÖ) und Genossen vom 22.1.1958 wurde die Bundesregierung um Bekanntgabe des Inhalts dieser Note ersucht und zugleich festgestellt, daß es einer demokratischen Gepflogenheit entsprechen würde, die Öffentlichkeit und insbesondere den Nationalrat vom Inhalt einer Antwortnote der Bundesregierung offiziell in Kenntnis zu setzen. 328 Eine Beantwortung dieser Anfrage erfolgte jedoch zunächst nicht, so daß am 5.3.1958 eine neuerliche Anfrage an die Bundesregierung gerichtet wurde. 329 Inzwischen war jedoch bereits der Wortlaut der Antwortnote des Heiligen Stuhls bekannt geworden, aus deren Inhalt mannigfache Rückschlüsse auf die Note der Bundesregierung gezogen wurden. An dem auf die parlamentarische Anfrage folgenden Tag, nämlich am 6.3.1958, wurden beide Noten im Pressedienst des Bundeskanzleramtes veröffentlicht. 330 In dieser nunmehr bekannt gewordenen Antwortnote vom 21.12.1957 geht die Bundesregierung von der grundsätzlichen Gültigkeit des Konkordats auf beiden Ebenen, der völkerrechtlichen wie auch der innerstaatlichen, aus. 331 Wenige Tage vor Ausfertigung dieser Note war es im Parla327 Beiblatt zur Parlamentskorrespondenz, 9. Beiblatt vom 22. Jänner 1958, 206/ J.,2346. 328 Beiblatt zur Parlamentskorrespondenz, 9. Beiblatt vom 22. Jänner 1958, 206/ J.,2346. 329 Beiblatt zur Parlamentskorrespondenz, 19. Beiblatt vom 5. März 1958, 236/ J.,2458. 330 Presseübersicht zusammengestellt vom Bundespressedienst des Bundeskanzleramtes vom 6. März 1958, S. 1 (Wiener Zeitung). 331 Zur emotionsfreien Bereinigung dieser Frage mag auch die nunmehrige Haltung des zum Bundespräsidenten gewählten früheren Vizekanzlers Adolf Schärf beigetragen haben, der bei seiner am 22. Mai 1957 vorgenommenen Angelobung in der Bundesversammlung u. a. sagte, er sei froh darüber, daß in Österreich in Kulturfragen ein neues Klima feststellbar sei. Er wolle alles daransetzen, daß in diesem Klima eine Regelung des Verhältnisses zwischen dem Staat und der rämischkatholischen Kirche erfolge "ohne daß dabei Sentimentalitäten von einst geweckt werden". Sten.Prot. der 7. Bundesversammlung, 2. Schon zuyor hatte Bundeskanzler

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ment allerdings nochmals zu einer Debatte zunächst über die völkerrechtliche Gültigkeit des Konkordats gekommen. Abgeordneter Rödhammer (ÖVP) warf in der Sitzung vom 6.12.1957 der SPÖ vor, sie habe die Annexionstheorie nur deshalb erfunden, um die Rechtsgültigkeit des Konkordats verhindern zu können. 332 In Zwischenrufen der Abgeordneten E. Fischer (KPÖ) und Mark (SPÖ) wurde der Redner darauf aufmerksam gemacht, daß die Annexionstheorie im Staatsvertrag stehe. 333 Und einen Tag vorher, am 5.12.1957, hatte der Abgeordnete Pfeifer (SPÖ) im Zusammenhang mit der Subventionierung konfessioneller (katholischer) Privatschulen die innerstaatliche Gültigkeit des Konkordats rundweg bestritten, da gemäß Art. 50 B-VG für die innerstaatliche Gültigkeit des Konkordats die Genehmigung des Nationalrats erforderlich gewesen wäre, die aber 1934 nicht erfolgt sei. 334 Dasselbe Argument wurde genau ein Jahr später, am 5.12.1958, vom Abgeordneten Neugebauer (SPÖ) wiederholt und noch breiter erläutert. Das österreichische Parlament sei, so führte Neugebauer aus, im Jahre 1934, als das Konkordat auf Regierungsebene unterfertigt wurde, durch die am 5.3.1933 erfolgte Amtsniederlegung der drei Präsidenten des Nationalrates funktionsunfähig gewesen. Am 30. April 1934 sei das Rumpfparlament durch den Zweiten Präsidenten Dr. Ramek wiedereinberufen worden. Dr. Ramek habe dabei nach seinen eigenen Worten die am 5. März 1933 unterbrochene Sitzung wiederaufgenommen. Von den 165 Abgeordneten seien 76 anwesend gewesen. Bei der Sitzung sei u. a. der Antrag gestellt worden, Art. 50 aus der Bundesverfassung zu streichen. Der großdeutsche Abgeordnete Foppa habe sich damals vehement gegen die Streichung dieses Artikels ausgesprochen, da auf diese Weise das wichtigste gesetzgeberische Recht der Volksvertretung, nämlich die Ratifikation von Staatsverträgen gemäß Art. 50 B-VG durch einen illegalen Akt der Bundesregierung übertragen werden solle. Mit den Stimmen von 74 Abgeordneten sei Art. 50 B-VG gestrichen worden; somit habe das Konkordat publiziert Julius Raab in der Regierungserklärung vom 4. Juli 1956 der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß es möglich sein werde, die ungeklärten Fragen einer einvernehmlichen Lösung zuzuführen und das Verhältnis zwischen Österreich und der katholischen Kirche sowie das Verhältnis zur evangelischen Kirche auf neue, dauerhafte Grundlagen litt stellen. Sten.Prot. des NR der Rep. Ö., VIII. GP, 2. Sitzung vom 4. Juli 1956, 20. 332 Sten.Prot. des NR, VIII. GP, 44. Sitzung vom 6. Dezember 1957, 1957. 333 In der Tat spricht der österreichische Staatsvertrag vom 15.5.1955 (BGBL 152/1955) in der Präambel davon, daß "Hitler-Deutschland am 13. März 1938 Österreich mit Gewalt annektierte, und sein Gebiet dem Deutschen Reich einverleibte". Daß die vom Staatsvertrag verwendete Formulierung indes keine Entscheidung in dem Streit zwischen Annexions- und Okkupationstheorie herbeigefüQrt hat, wurde u. a. von Adamovich nachgewiesen. Ludwig Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechtes, Wien 1957, 57 ff. 334 Sten.Beil. des NR, VIII. GP, 43. Sitzung vom 5. Juni 1957, 1818. Zur Frage der innerstaatlichen Gültigkeit vgl. Klecatsky - Weiler, Österreichisches Staatskirchenrecht, (Anm. 140), 233 f.

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werden können und dadurch sei in Österreich ein Gesetz gültig. - In bezug auf die Entwicklung nach 1945 sei aber, so führte Neugebauer weiter aus, insbesondere das Verfassungs-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945 zu erwähnen, das alle Verfassungsänderungen, die seit dem Jahre 1933 erfolgt seien, für rechtsungültig erklärt habe. Und damit sei auch die Streichung von Art. 50 B-VG vom 30. April 1934 ungültig geworden und damit auch die Veröffentlichung des Konkordats im Bundesgesetzblatt. So sei eben die rechtliche Situation und Recht müsse Recht bleiben. 335 Auch Abg. Mark (SPÖ) bestritt in dieser Sitzung die innerstaatliche Gültigkeit des Konkordats. 336 Dies alles geschah zu einem Zeitpunkt, an dem die aus der Koalition ÖVP-SPÖ bestehende Bundesregierung schon die grundsätzliche Gültigkeit des Konkordats ausgesprochen hatte. Im Zusammenhang mit ihrer Antwortnote vom 21.12.1957 an den Heiligen Stuhl mußte sich die Bundesregierung freilich den Tadel eines Abgeordneten anhören, die in dieser Note verwendete Formel, das Konkordat sei "gültig, aber nicht wirksam" wäre "juridischer Nonsens und ein Widerspruch in sich". 337 Und interessant ist ferner die in einer Sitzung zitierte negative Kritik seitens des Vizekanzlers der damaligen Koalitionsregierung, Bruno Pittermann, der die von ihm mitbeschlossene Antwortnote der Bundesregierung als "doppelzüngig" bezeichnete; daß daraufhin nur eine im wesentlichen negative Antwort des Vatikans erfolgen könne, sei zu erwarten gewesen. 338 Man gewinnt allerdings aus der Lektüre der Parlamentsdebatten den Eindruck, daß die Frage der Geltung des Konkordats in dieser Zeit bereits keine die Parteien grundsätzlich entzweiende Angelegenheit mehr darstellte. Bei den angeführten Stellungnahmen einzelner Abgeordneter gegen die völkerrechtliche und innerstaatliche Gültigkeit des Konkordats handelt es sich weniger um grundsätzliche Debatten, sondern mehr um "obiter dicta" einzelner Mitglieder des Nationalrates. Immer stärker wird auch im Parlament die Bereitschaft erkennbar, auf der Basis der von der Bundesregierung beschlossenen Antwortnote an den Heiligen Stuhl mit der katholischen Kirche in Verhandlungen zu treten und dabei von der grundsätzlichen Geltung des Konkordats auszugehen, ohne über den theoretischen Streitpunkt noch weiter zu verhandeln. Einen ersten gesetzgeberischen Schritt in dieser Richtung bildete der Vermögensvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich aus dem Jahre 1960,339 in dessen erstem Steno Beil. des NR, VIII. GP, 71. Sitzung vom 5. Dezember 1958, 3322. Steno Beil. des NR, VIII. GP, 71. Sitzung vom 5. Dezember 1958, 3367. 337 So der Abg. Rödhammer (ÖVP) am 5.12.1958. Steno Beil. des NR, VIII. GP, 71. Sitzung vom 5.12.1958, 3360. 338 Steno Beil. des NR, VIII. GP, 71. Sitzung vom 5. Dezember 1958, 3360. 339 BGBL Nr. 196/1960. 335 336

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Artikel das Konkordat insofern implizit anerkannt wird, als darin ausdrücklich betont wird, die katholische Kirche und die Republik Österreich seien übereingekommen, "verschiedene Vorschriften des Konkordats vom 5. Juni 1933 sowie des Zusatzprotokolls abzuändern".340

340 Auch Art. VIII und IX des Vermögensvertrages nehmen ausdrücklich auf das österreichische Konkordat Bezug, dessen Geltung somit vorausgesetzt wird.

11. Verfahrensrecht und seine Entstehungsgeschichte

Die Entwicklung des zivilprozessualen Rechts Von Franz Matscher

"In der Gesetzgebungspolitik gewinnen Strategie und Taktik eine immer größere Bedeutung; man muß auf die Reaktion der Öffentlichkeit und der überall organisierten Interessen sowohl bei der Abfassung des Gesetzes als auch bei seiner parlamentarischen Behandlung unaufhörlich Rücksicht nehmen."

Franz Klein 1

I. Einleitung Es entspricht bewährter österreichischer Tradition, der Pflege des Verfahrensrechts ein besonderes Augenmerk zu schenken. Ausdruck davon ist nicht nur das Gewicht, das dem Verfahrensrecht in Forschung und Lehre - was die letztere anbelangt, trotz der Einengungen und Kürzungen, die sie durch die neuen Studienvorschriften (Rechtswissenschaftliches StudienG, RGBl. 1978/140; Rechtswissenschaftliche Studienordnung, BGBl. 1979/148) erfahren hat, zukommt; auch der Gesetzgeber - wer dieser auch immer, im formellen oder materiellen Sinn, gewesen sein mag - war sich der Bedeutung von auf der Höhe ihrer Aufgabe stehenden Verfahrensordnungen - zu diesen zähle ich auch die Regelungen über die Organisation der Rechtspflege - stets bewußt. Dank dieser Einstellung verfügt Österreich über Verfahrensgesetze, die weltweit seinen Ruf als Rechtsstaat mitbegründet haben. Ich nenne nur beispielhaft: 1. das Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichtes, RGBl.

1867/143, welches u. a. in Art. 3lit. b die Beschwerdemöglichkeit wegen Verletzung der "durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte" eingeführt hat, zusammen mit dem Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt, RGBl. 1867/144, in welchem die Grundprinzipien der Gerichtsorganisation und des gerichtlichen Verfahrens festgesetzt worden waren;

1 Aus einem Brief an Konrad Schuster, Geheimer Justizrat in Stettin (aus: Konrad Schuster, Franz Klein in deutscher Schätzung, Festschrift für Franz Klein zum 60. Geburtstag, Wien 1914, S. 472).

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2. die legislatorische Großtat der Schaffung der Verwaltungsverfahrensgesetze 1,,925, in der man mit gutem Grund den entscheidenden Schritt zur Rechtsstaatlichkeit der Verwaltung erblickt hat; 3. vor allem aber meine ich die ZPO, die den Mittelpunkt der Prozeßrechtsreform der Jahrhundertwende bildet, und deren Gedankengut gerade in den letzten Jahrzehnten eine neue Renaissance erlebt hat. Letztlich ist diese Einstellung zum Verfahrensrecht aber nichts anderes als Ausdruck der Erkenntnis, daß materielles Recht und Verfahrensrecht eine untrennbare Einheit bilden und daß ein noch so feinsinnig aufgebautes materielles Recht brachliegt, wenn ihm nicht eine ebenbürtige Rechtsschutzordnung, eben eine Verfahrensordnung, zur Seite steht. 2 Hier soll nun versucht werden, den Beitrag des österreichischen Parlaments zur Entwicklung der zivilprozessualen Verfahrensgesetze in den letzten 100 Jahren nachzuzeichnen. Wenn aus dem weiten Bereich des Verfahrensrechts gerade der Zivilprozeß herausgegriffen wird, so nicht zuletzt deshalb, weil- zumindest in historischer Sicht - die Verfahrensregelungen im Zivilprozeß ihre größte Verfeinerung erfahren und vielfach erst von dort auf die anderen Verfahrensordnungen ausgestrahlt haben. 3 Dabei soll keineswegs die Bedeutung, etwa des Strafverfahrens, des Verwaltungsverfahrens, des Verfahrens vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts und der Wert der oft eigenständigen Lösungen, die diese gerade in letzter Zeit entwickelt und die ihrerseits zum Teil wiederum den Zivilprozeß befruchtet haben, verkannt werden. ß. Die Zivilprozeßreform der Jahrhundertwende

1. Die AGO 1781 war das erste prozessuale Reichsgesetz Österreichs. Ein Produkt des aufgeklärten Absolutismus, stellt sie eine vortrefflich knappe Redaktion des gemeinrechtlichen Prozesses jener Zeit dar; sie war allerdings - in heutiger Sicht - auch mit allen dessen Nachteilen belastet (Schriftlichkeit des Verfahrens, Eventualmaxime, gesetzliche Beweisregeln). Neue Wege beschritt sie kaum und der innovatorische Elan, der wenige Jahre später die napoleonische Rechtsreform, insb. den Code de procedure civile 1806 beseelen sollte (mit dessen Prinzipien der Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Verfahrens sowie der freien Beweiswürdigung), war ihr fremd. Gewiß, der Prozeß nach der AGO war schwerfällig und 2 Franz Novak, Die Stellung des Zivilprozeßrechts in unserer Gesamtrechtsordnung, JBI 1961, S. 64 ff. 3 Vgl. z. B. hinsichtlich des Einflusses der ZPO auf das Verwaltungsverfahren, Max Schuster-Bonnot, Die übergreifende Wirksamkeit der Zivilprozeßgesetze, FS Klein, Anm. 1, S. 243.

Die Entwicklung des zivilprozessualen Rechts

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teuer; das lag aber ebenso an seiner Anwendung, wie am Gesetz selbst. Trotzdem wurden die Mißstände allein diesem zugeschrieben. Das scheint überhaupt das Schicksal der Verfahrensgesetze zu sein: noch bevor die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die sie, auch im Sinne einer Berücksichtigung neuer Bedürfnisse, zur Verwirklichung der ihnen immanenten Ziele bieten würden, wird gleich nach dem Gesetzgeber gerufen. 4 2. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auch in Deutschland und in Österreich eine rege Reformtätigkeit auf zivilprozessualem Gebiet entfaltet. Bahnbrechend war die Entwicklung in Hannover, wo 1851 ein von Gerhard Adolf Wilhelm Leonhardt stammender, vom französischen Code de procedure civile 1806 maßgeblich beeinflußter Entwurf zum Gesetz wurde. Leonhardt, später preußischer Justizminister, war auch der Hauptträger der weiteren deutschen Reformtätigkeit, die - über die Vorhaben des Deutschen Bundes und des Norddeutschen Bundes - schließlich in den Reichsjustizgesetzen von 1877 gipfelte. 5 Österreich hatte sich ursprünglich an den Arbeiten des Deutschen Bundes und des Norddeutschen Bundes, auch auf zivilprozessualem Gebiet, beteiligt. Zwei, aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangene Entwürfe (1866, 1870) wurden einer parlamentarischen Behandlung unterzogen; sie scheiterten aber ebenso, wie die zahlreichen anderen Entwürfe aus der späteren Zeit (1876, 1881). Die einzige, zur Reife gelangte Frucht aller dieser Reformversuche war das Gesetz über das Bagatellverfahren, RGBl. 1873, ein Werk aus der Zeit der Ministerschaft Julius Glasers, des Schöpfers der fortschrittlichen StPO 1873, und auch von deren Ideen (Mündlichkeit des Verfahrens, freie Beweiswürdigung) inspiriert. 3. Um die Wende des Jahres 1890/1891 erschien in den Juristischen Blättern,6 in 19 Folgen, unter dem Titel "Pro futuro. Betrachtungen über Probleme der Civilproceßreform" eine Aufsatzreihe des bis dahin wenig bekannten jungen Privatdozenten und Kanzleidirektors der Wiener Universität, Dr. Franz Klein. Der Autor entwickelte dort ein vollkommen neues Konzept des Zivilprozesses: dieser sei eine "öffentliche Wohlfahrtseinrichtung" , ebenso wie etwa das Polizei- oder das Gesundheitswesen; seine Aufgabe bestehe darin, die durch jeden Streit hervorgerufene Störung des Friedens und des Wirtschaftslebens so rasch und so einfach als möglich, aber auch so gerecht als möglich, wieder zu beseitigen; alles im Prozeß habe sich diesem Ziel unterzuordnen (Gedanke des später so genannten "sozialen Zivilprozesses". 7 4 Franz Novak, Die Stellung, (Anm. 2), S. 70; ders., Österreichs "große Rechtsreform" und die Zivilgerichtsbarkeit, JBl1967, S. 171 ff. 5 August Hellweg, Geschichtlicher Rückblick über die Entstehung der deutschen Civilprocessordnung, AcP 61 (1878), S. 78 ff; Leo Rosenberg - Karl-Heinz Schwab, Zivilprozeßrecht l 4, München 1986, S. 24 ff. 6 JBl1890, Hefte 43-52; 1891, Hefte 1-9.

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Welche Resonanz die Aufsatzserie in der damaligen Öffentlichkeit fand, ist nicht überliefert. Sie erregte jedenfalls das Interesse des hervorragenden Juristen, ehemaligen Sektionschefs im Justizministerium und nunmehrigen Finanzministers Dr. Emil Steinbach;8 dieser machte den Justizminister Dr. Friedrich Graf Schänborn auf Klein aufmerksam. Es war nicht nur eine glückliche Fügung, sondern zeugt auch von dessen Weitblick, daß er Franz Klein im Februar 1891 als Ministerialsekretär ins Justizministerium berief und mit der Ausarbeitung neuer Zivilprozeßgesetze betraute. Bereits am 20. März 1893 konnte der Justizminister die von Klein, weitgehend im Alleingang, verfaßten Entwürfe von Gesetzen "über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit der Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen" (Jurisdictionsnorm), "über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten" (Civilprocessordnung) und "über das Executions- und Sicherungsverfahren" (Executionsordnung), samt ausführlichen Erläuternden Bemerkungen, 9 nach kurzer Beratung in einem kleinen Ausschuß (den Vorsitz hatte Dr. Friedrich Graf Schänborn inne; es gehörten ihm ferner Dr. Emil Stein bach, Oberlandesgerichtspräsident Karl Graf Chorinsky und Sektionschef Dr. Carl Ritter Krall von Krallenberg an), dem Abgeordnetenhaus vorlegen. 10 Es wurde allerdings befürchtet, daß bei der üblichen parlamentarischen Behandlung das große Paket der Prozeßgesetze in Ausschüssen und Plenardebatten steckenbleiben und letztlich versanden könnte. Tatsächlich war

7 Dazu, statt vieler, Rudolf Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, Neuwied 1978; Peter Böhm, Die österreichischen Justizgesetze 1985/1986, aus: Herbert Hofmeister (Hsg.), Kodifikation als Mittel der Politik (Symposium Wien 1983), Wien - Köln 1986, S. 59 insbes. S. 63 ff ("Prozeßmodell des sozialen Rechtsstaats"); Norbert Schoibl, Der Prozeß als soziale Institution, aus: Dorothea Mayer-Maly - Ota Weinberger - Michaela Strasser (Hrsg.), Rechtstheorie, Beiheft 6, "Rechtsstaat als Sinn und Institution", Berlin 1984, S. 287; Fritz Baur, Zeit- und Geistesströmungen im Prozeß. Einige aktuelle Bemerkungen zu dem so betitelten Vortrag von Franz Klein, JBI 1970, S.445; Mauro Cappelletti, Social and political aspects of civil procedure. Reforms and trends in Western and Eastern Europe, Michigan Law Review 69 (1971), S. 847. 8 Zur Würdigung seiner Persönlichkeit s. Rainer Sprung, Zielsetzungen einer Zivilprozeßreform, JBI 1981. S. 342 f. 9 687, 688 BlgAb XI = Materialien I, S. 1, 97, 386. Die Vorlagen zu den Einführungsgesetzen (1060, 1061, 1062 BlgAbgH XI = Materialien I, 600, 655) wurden am 14.12.1894 nachgereicht. 10 Zur Geschichte der österreichischen Zivilprozeßreform s. m. w. N. Rudolf Pollak, System des Österreichischen Zivilprozeßrechts mit Einschluß des Exekutionsrechtes 2, Wien 1932, S. 87 ff; Otto Leonhard, Geschichte der österreichischen Justizreform vom Jahre 1898, FS 50 Jahre ZPO, Wien 1948, S. 125 ff. Hans Fasching, Zivilprozeßrecht. Lehr- und Handbuch 2, Wien 1990, S. 34 ff. Einen bis an die letzten Jahre heranführenden Überblick bietet Norbert Schoibl, Die Entwicklung des österreichischen Zivilverfahrensrechts, Frankfurt a. M. - Bern - New York - Paris 1987.

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die Erfahrung mit den früheren Entwürfen, und desgleichen die mit der laufenden Beratung des Strafgesetzentwurfs, 11 nicht gerade ermutigend. Die Verfassung von 1867 kannte zwar ein "Gesetz über die Behandlung umfangreicher Gesetze im Reichsrathe" , RGBl. Nr. 104 (auch die parlamentarische Behandlung der Entwürfe zu den Zivilprozeßgesetzen war nach dem besonderen Verfahren dieses Gesetzes eingeleitet worden; 12 doch glaubte man, daß auch dieses keine ausreichende Gewähr dafür bieten würde, daß Entwürfe vom Umfang der hier vorliegenden innerhalb einer angemessenen Zeit parlamentarisch erledigt werden könnten, zumal auch von der laufenden Legislaturperiode nur mehr drei Jahre verblieben (sie hätte 1897 enden sollen). Über Anregung des Abgeordneten Dr. Josef M. von Baernreither, dem als Berichterstatter im Permanenzausschuß wohl das Hauptverdienst an der zügigen und erfolgreichen parlamentarischen Behandlung der Reformgesetze zuzuschreiben ist, 13 wurde daher ein eigenes Beratungsgesetz (Gesetz betreffend die Berathung und Beschlußfassung über die auf Einführung einer neuen Civilprocessordnung sich beziehenden Gesetzentwürfe) geschaffen. Durch dieses Gesetz wurde die sachliche Behandlung der Entwürfe in besondere Ausschüsse (Permanenz ausschuß des Abgeordnetenhauses, Permanenzkommission des Herrenhauses) verlegt, die Spezialdebatte im Plenum der beiden Häuser des Reichsrats aber abgeschnitten. Zur Vermeidung zeitraubender Verhandlungen zwischen den beiden Häusern wurde ferner eine Gemeinsame Konferenz eingeführt, die einen gemeinsamen Bericht beschließen sollte, der in jedem Haus durch die betreffenden Berichterstatter vorzutragen war. Über den gemeinsamen Bericht der Konferenz hatte dann in beiden Häusern, ohne weitere Anträge oder Spezialdebatte, die zweite und dritte Lesung stattzufinden. Nach einer Generaldebatte waren die Entwürfe von jedem der beiden Häuser entweder anzunehmen oder abzulehnen. Somit geht das Beratungsgesetz, was die Straffung des parlamentarischen Verfahrens anbelangt, noch wesentlich weiter als das bereits zit. Gesetz, RGBl 1867 / 104. Im übrigen erwähnt der Obmann des Permanenzausschusses, Abgeordneter Dr. Leo Graf Piniriski, daß ähnliche Gedanken, 11 Vgl. dazu die Angaben im Bericht des Ständigen Strafgesetzausschusses, 709 BlgAbgH XI, S. 1, und die mündlichen Ausführungen des Berichterstatters für den Allgemeinen Teil, Abg. Dr. Josef Kopp in der 308. Sitzung v. 22. Oktober 1894, Sten.Prot. S. 15138 f. 12 IS des Antrags des Justizausschusses, 934 BlgAbgH XI, angenommen vom Abgeordnetenhaus in der 300. Sitzung v. 18. Mai 1894, Sten.Prot. S. 14643. 13 Im Index zu den Sten.Prot. AbgH, XI. Session (1894 -1897) wird er wie folgt bezeichnet: Dr. Josef Maria von Baernreither, k.k. Landesgerichtsrath und Gutsbesitzer in Böhmen. Eine ausführliche Würdigung seiner Persönlichkeit gibt Minister a. D. Josef Redlich, Josef M. Baernreither und Franz Klein; zur parlamentarischen Geschichte der Zivilprozeßreform, Neue Freie Presse v. 16.,21. und 27. Mai 1926.

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wie die, welche dem Beratungsgesetz zugrundeliegen, bereits aus Anlaß der Beratung des Strafgesetzentwurfs ventiliert worden waren. 14 Das Abgeordnetenhaus befaßte sich mit dem Beratungsgesetz im November 1894 und führte im Zusammenhang damit auch eine Art Generaldebatte über die Prozeßrechtsreform selbst ab. Von Baernreither erstattete einen auch heute noch lesenswerten Bericht, in dem er, unter Berufung auf die englische, die deutsche und italienische Staatsrechtslehre und auf die Praxis verschiedener konstitutioneller Staaten Europas, die Idee des Beratungsgesetzes gegen die zu erwartenden Einwände verteidigte: das Gesetz stelle schon deshalb keine Beeinträchtigung der Prärogativen der beiden Häuser des Reichsrats dar, weil es letztlich ihnen obliege, die Entwürfe anzunehmen oder abzulehnen; außerdem handle es sich um kein Präjudiz für andere künftige Fälle, weil die geplante Prozeßrechtsreform ein nichtpolitisches Werk sei. 15 Auch Franz Klein, inzwischen zum Ministerialrat avanciert, verteidigte in einer brillanten Rede nicht nur das Konzept der Reformgesetze, sondern auch die Idee des Beratungsgesetzes. Vehement wandte er sich gegen den Vorschlag, die Prozeßrechtsreform in Etappen und nach der Technik der normalen parlamentarischen Behandlung durchzuführen. 16 Schließlich wurde das Beratungsgesetz am 17. November 1894 mit einer starken Mehrheit angenommen. Die dagegen vorgebrachten Bedenken hatten sich, wie vorauszusehen war, vor allem gegen die Beschränkung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Abgeordneten bei der Beratung gerichtet. 17 Im Herrenhaus ist es dann im 1. Dezember 1894 problemlos über die Bühne gegangen. 18 Am 5. Dezember 1894 erhielt es die kaiserliche Sanktion (RGBl. 1894/227). Übrigens, die positiven Erfahrungen mit dem Beratungsgesetz veranlaßten Klein in späteren Jahren, Erwägungen über eine Verallgemeinerung der diesem zugrundeliegenden Idee anzustellen. 19 Darin zeigt sich sehr deutlich Sten.Prot. AbgH, 317. Sitzung XI v. 14. November 1894, S. 15606. 967 BlgAbgH XI. = Materialien II, S. 295. 16 Sten.Prot. AbgH., 317. Sitzung XI v. 14. November 1894, S. 15598. 17 Sten.Prot. AbgH., 316. Sitzung XI v. 12. November 1894, S. 15515 ff. 317. Sitzung v. 14. November 1894, S. 15565, 318. Sitzung v. 17. November 1894, S. 15624. 18 Sten.Prot. 51. Sitzung XI, S. 668. 19 "Parlamentarische Gesetzgebung", in gekürzter Fassung in der Neuen Freien Presse vom 7. April 1917 erschienen; das gesamte Manuskript erst aus dem Nachlaß publiziert (Franz Klein, Reden, Vorträge, Aufsätze, Briefe, nsg. von Dr. Joset und Ottilie Friedländer, Wien 1827, II, S.640). Die Vermutung liegt nahe, daß Kleins Anregung der Ideenwelt Immanuel Kants und des deutschen Idealismus - zu dem er ein Naheverhältnis hatte (Vgl. Peter Böhm, Zu den rechtstheoretischen Grundlagen der Rechtspolitiks Franz Kleins, aus: Herbert Hofmeister (Hrsg.), Forschungsband Franz Klein (1854 -1926), Leben und Wirken. Beiträge des Symposiums "Franz Klein zum 60. Todestag", Wien, 1988, S. 197, 199) - entstammt; Vgl. auch Konrad Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz (1963), S. 110. 14 15

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ein interessanter Wesenszug Franz Kleins: Angelegenheiten der "Wirtschaft und des Verkehrs", wo es also um Zweckmäßigkeitsfragen geht -letztlich ist für ihn ja auch der Zivilprozeß eine Zweckeinrichtung - sind einer in erster Linie von Fachleuten vorzunehmenden rationalen Regelung zugänglich. Wurde einmal die politische Notwendigkeit einer solchen Regelung erkannt, ist jede Verzögerung ihres Zustandekommens von Schaden. Klein überträgt also seine Auffassung vom Wesen des Zivilprozesses (Wiederherstellung der gestörten Ordnung im Einzelfall) auf den Gesetzgebungsprozeß (Ordnung der gestörten oder zumindest notleidenden Wirtschaftsbeziehungen) insgesamt. Folgendes Konzept hat Klein skizziert: Für die Behandlung von Angelegenheiten der "Wirtschaft und des Verkehrs" sollten sich die Ausschüsse der beiden Häuser des Parlaments zu einem gemeinsamen Ausschuß vereinigen. Nur dort hätte die Spezialdebatte stattzufinden. Dem Plenum bliebe es unbenommen, bei der ersten Lesung dem Ausschuß allgemeine Richtlinien mitzugeben; ferner könnten alle Abgeordneten schriftliche oder mündliche Anregungen im Ausschuß vorbringen. Nach Vorliegen der gemeinsamen Ausschußberichte könnte das Plenum der jeweiligen Häuser aber nur mehr die Vorlage annehmen oder ablehnen bzw. an den Ausschuß zurückverweisen. Darin liegt die von Klein angestrebte Beschleunigung des parlamentarischen Verfahrens. Die Einbringung des notwendigen Fachwissens könnte dadurch erreicht werden, daß den Ausschüssen ständige Sachverständige mit beschließender Stimme beigegeben werden. Die Prärogativen des Parlaments sieht Klein trotzdem voll gewahrt: die nicht-parlamentarischen Mitglieder würden, über Vorschlag der Interessenvertretungen, von beiden Häusern gewählt werden und dürften nur eine Minderheit im Ausschuß bilden; schließlich bliebe das letzte Wort über Annahme oder Ablehnung einer Vorlage immer den beiden Häusern des Parlaments selbst. Obwohl Klein dieses von ihm konzipierte Verfahren als für alle Zweige der Gesetzgebung geeignet erachtet, möchte er es vorerst, aus Beschwichtigungsgründen, nur auf die, wie er sagt "im großen und ganzen der Politik etwas mehr entrückten" Angelegenheiten der "Wirtschaft und des Verkehrs" angewendet wissen. Zu diesen zählt er: "Die Kredit-, Bank-, Privilegien- und Gewerbegesetzgebung, die Gesetzgebung über Maß und Gewicht sowie über Marken- und Musterschutz, die Medizinalgesetzgebung sowie die Gesetzgebung zum Schutze gegen Epidemien und Volksseuchen, die Zivilgesetzgebung, ferner die Gesetzgebung über Handels- und Wechselrecht, See- und Bergrecht, die Gesetzgebung über den Schutz des geistigen Eigentums und endlich die Gesetzgebung in den Angelegenheiten der Sozialpolitik, die nicht schon unter den übrigen aufgezählten Gegenständen begriffen ist". Es sollte jedoch die Möglichkeit offen gehalten werden, im Einzelfall auch Angelegenheiten des Vereins- und Versammlungsrechts, der 31 Parlamentarismus

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Presse, das Straf justiz- und Polizeistrafrecht, dem neuen Verfahren zu unterziehen. Diese von Franz Klein, nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik (1905-1908, 1916 Justizminister; seit 1905 Mitglied des Herrenhauses; zu erwähnen wäre noch die mißlungene Kandidatur für die Bürgerlich-demokratische Partei zur Konstituierenden Nationalversammlung 1919 und die glücklose Mitarbeit in der Delegation zu den Friedensverhandlungen von Saint Germain, gleichfalls 1919)19, entwickelten Gedanken sind gewiß interessant; sie fordern aber zum Widerspruch auf. Ihr Schwachpunkt liegt m. E. im Versuch einer schematischen Scheidung zwischen "politischer" und "unpolitischer" Gesetzgebung und in der darin zum Ausdruck kommenden Verkennung der Tatsache, daß auch die Angelegenheiten der "Wirtschaft und des Verkehrs" ihren politischen Hintergrund haben. 20 Die Behandlung der Zivilprozeßgesetzentwürfe im Permanenzausschuß des Abgeordnetenhauses war inzwischen bereits in vollem Gange (die Idee eines eigenen Beratungsgesetzes war, wie bereits erwähnt, erst im Zuge der Arbeiten des Permanenzausschusses geboren worden) und schritt zügig voran. Bereits am 20. Oktober 1894 lagen die Ausschußberichte zum Entwurf der JN21 und der ZP022 (Berichterstatter Dr. Jose! M. von Baernreither) und am 16. November 1894 derjenige zur E023 (Berichterstatter Dr. Jose! Fanderlik) vor. Die Berichte zu den Entwürfen der Einführungsgesetze (dieselben Berichterstatter wie zu den Hauptgesetzen) folgten bald nach (7. März 1895 zur E024; am 30. März 1895 zur JN25 und zur ZP026). Hervorgehoben zu werden verdient die vertiefte Auseinandersetzung im Bericht Dr. von Baernreither mit der Literatur zu der schon vollzogenen deutschen Prozeßrechtsreform (1877) und zu den nunmehr vorliegenden österreichischen Entwürfen. 27 Noch rascher ging die nun folgende Arbeit in der Permanenzkommission des Herrenhauses vor sich (Berichterstatter für die JN, Dr. Karl Habietinek; 20 Hatte Franz Klein mit seinen Überlegungen in erster Linie eine Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens im Auge, tauchte der Gedanke später mit der Zielrichtung einer Entlastung des Parlaments von "unpolitischen Aufgaben" auf. Vgl. dazu Konrad Huber (Anm. 19) S. 177; Horst Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, S. 75 ff. Kritisch dazu Herbert Krüger, Rechtssetzung und techni.sche Entwicklung, NJW 1966, S. 617; Theo Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg-München 1969, S. 16 f. 21 965 BlgAbgH XI = Materialien I, S. 677. 22 968 BlgAbgH XI = Materialien I, S. 739. 23 1026 BlgAbgH XI = Materialien 11, S. l. 24 1106 BlgAbgH XI = Materialien 11, S. 276. 25 1133 BlgAbgH XI = Materialien 11, S. 220. 26 1132 BlgAbgH XI = Materialien 11, S. 235. 27 968 BlgAbgH XI, S. 6 = Materialien I, S. 745.

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für die ZPO, Carl Graf Chorinsky; für die EO, Dr. Vinzenz Ritter von Haslmayer). Nach einigen vorbereitenden Gesprächen zwischen Subkomitees der beiden Ausschüsse konnte die Gemeinsame Konferenz, nach jeweils nur zwei Sitzungen, bereits am 5. Juni 1895 ihren Bericht zur ZPO und zur JN, samt Einführungsgesetzen,28 und am 25. März 1896 den zur EO, samt Einführungsgesetz,29 verabschieden. Wie aus den Materialien des Reichsrats hervorgeht, war die Diskussion in den Ausschüssen lebhaft, sachlich und konstruktiv. Behandelt wurden ferner Stellungnahmen, samt Abänderungsvorschlägen, der Bozener, der Niederösterreichischen und der Lemberger Advokatenkammer. Im übrigen haben die nicht den Ausschüssen angehörenden Abgeordneten der beiden Häuser von ihrem Recht nach § 6 Beratungsgesetz, bis zur Schlußberatung der Gemeinsamen Konferenz Abänderungs- oder Zusatzanträge einzubringen, nur in sehr geringem Ausmaß Gebrauch gemacht. Es ist hier nicht möglich, in wenigen Sätzen die Änderungen nachzuzeichnen, welche die Regierungsvorlagen in den Ausschüssen der beiden Häuser des Reichsrats und in der gemeinsamen Konferenz erfahren haben. 30 Insgesamt muß festgehalten werden, daß Kleins Entwürfe Stücke aus einem Guß waren und daß, nachdem die von ihm anvisierten Ziele bejaht und die den Entwürfen innewohnende Qualität einmal erkannt worden waren, der diese Entwürfe beflügelnde revolutionäre Elan nur in geringem Ausmaß gebremst wurde; es herrschte vielmehr das Bestreben vor, die Regelungen. der Entwürfe in durchaus systemimmanenter Weise zu verbessern. Auch aus den Erfahrungen der Praxis (Richter und Anwälte zählten in den Ausschüssen zu den tonangebenden Persönlichkeiten) wurden wesentliche Verbesserungen beigesteuert. Keineswegs kann gesagt werden, daß der an sich das konservativere Element verkörpernde Ausschuß des Herrenhauses der Durchführung von Kleins Reformvorhaben zurückhaltender gegenübergestanden wäre; ganz im Gegenteil, in vielen Fällen wurde gerade über dessen Drängen auf die Regelung des ursprünglichen Entwurfs zurückgegangen. Mit den folgenden Fragenkomplexen haben sich die beiden Ausschüsse sowie die gemeinsame Konferenz besonders befaßt: richterliche Prozeßleitung, ein Kernstück der Prozeßrechtsreform (hier wurde die Machtbefugnis des Gerichts zugunsten einer größeren "Bewegungsfreiheit" der Parteien geringfügig eingeschränkt), Erleichterung der Prozeßführung (heute würde man sagen: "Erleichterter Zugang zum Gericht"; der Gedanke ist also nicht erst eine Entdeckung des letzten Jahrzehnts!), Stellung des Anwalts, Ver28 460 BlgAbgH XI, 1197 BlgAbgH XI 29 568 BlgAbgH XI; 1438 BlgAbgH XI

= Materialien 11, S. 310. = Materialien 11, S. 629.

30 Vgl. darüber Gustav Walker, Die österreichischen Civilprocessgesetze im Vergleiche mit ihren Entwürfen, ZZP 1899, S. 257.

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handlungsprotokoll, Beweisverfahren, Rechtsmittel, Schiedsgerichtsbarkeit, Börsenschiedsgerichte, sachliche und örtliche Zuständigkeit. Am Rande sei allerdings bemerkt, daß die Ausschüsse in einigen Punkten Änderungen an den Entwürfen vorgenommen haben, die erst viele Jahrzehnte später, in Rückkehr zur ursprünglichen Fassung, zumindest teilweise wieder zurückgenommen wurden, so z. B. die Möglichkeit der Bestellung eines Rechtsanwalts als Armenvertreter nicht nur im Falle des gesetzlichen Anwaltszwangs (§ 63 Z 3 RV - § 64 Z 3 Gemeinsamer Bericht - § 64 Z 3 neu ZPO, wiedereingeführt mit dem Verfahrenshilfegesetz, BGBl. 1973 / 569), die Anfechtungsmöglichkeit von Schiedssprüchen wegen Verstoßes gegen zwingende Rechtsvorschriften (§ 595 Z 6 Gemeinsamer Bericht stark redimensioniert in der Fassung der Zivilverfahrens-Novelle 1983, BGBl. 1983/135). Wesentlich mehr Detailfragen betrafen die Änderungen, die von den Ausschüssen am Entwurf der EO vorgenommen worden waren. Die Annahme der Ausschußberichte und -anträge im Plenum der beiden Häuser des Reichsrats in zweiter und dritter Lesung ging ohne größere Schwierigkeiten über die Bühne (JN und ZPO samt Einführungsgesetzen im Herrenhaus am 14. Juni 1895,31 im Abgeordnetenhaus 32 am 18. Juli 1895;33 EO samt Einführungsgesetz, im Abgeordnetenhaus am 7. Mai 1896,34 im Herrenhaus am 12. Mai 1896).35 Kaiser Franz Josef sanktionierte die JN und die ZPO, samt Einführungsgesetzen, am 1. August 1895 (RGBl. 1895/110 -113) und die EO samt Einführungsgesetz am 27. Mai 1896 (RGBl. 1896/78, 79). Bald darauf traten Nationalitätenkämpfe auf, die bis zum Ende der Monarchie nicht mehr zu Ruhe kommen sollten und die zu mehrfachen "Vertagungen" des Reichrats führten. Die Verwirklichung eines Gesetzgebungsvorhabens vom Ausmaß der Zivilprozeßreform wäre in dieser bewegten Zeit kaum mehr denkbar gewesen.

Klein hat den parlamentarischen Weg der Reformgesetze mit großer persönlicher Anteilnahme mitverfolgt. 36 Er ist mehrmals in den Ausschüssen und in den Plenarsitzungen der beiden Häuser aufgetreten oder war 31 Sten:Prot. 63. Sitzung XI, S. 772. 32 Nachdem die Diskussion über den gemeinsamen Bericht in den späten Abend-

stunden des 17. Juli 1895 - gleichzeitig hatte auch die Budgetdebatte stattgefunden - abgeschlossen worden war, schloß der Präsident, Johann Freiherr von Clumecky, die SitzUng und verschob die Abstimmung auf den nächsten Tag, "da es bei einem so wichtigen Gesetze geziemend erscheine, die Abstimmung nur in einem vollbesetzten Hause vorzunehmen" (aus den Sten.Prot. der 416. Sitzung der XI. Session des AbgH., S. 20844). 33 Sten.Prot. 417. Sitzung XI, S. 20851. 34 Sten.Prot. 498. Sitzung XI, S. 24729. 35 Sten.Prot. 77. Sitzung XI, S. 983. 36 S. die Briefe aus jener Zeit an Dr. Josef Friedländer insbes. aber an dessen Gattin und Kleins Vertraute, Frau Ottilie Friedländer (Reden etc. (Anm. 19), Ir, S. 1075 ff).

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zumindest dort anwesend. Auch außerhalb der Sitzungen hat er mit Ausschu,ßmitgliedern, besonders mit Dr. von Baernreither eng zusammengear-

beit~t

So ist es - dank der überzeugenden Persönlichkeit 37 Franz Kleins als Rechtspolitiker, aber auch dank dem Weitblick einzelner Regierungsmitglieder, dem Engagement, der Aufgeschlossenheit und der kooperativen Haltung der Mitarbeiter an der Reform und der Abgeordneten beider Häuser des Reichsrats - binnen kürzester Zeit gelungen, eine Reform des zivilprozessualen Verfahrensrechts zustandezubringen, die wegen ihres revolutionären Geistes von manchem kritisch betrachtet wurde, in der Folge aber weltweite Nachahmung gefunden hat. Gerade ihr Grundkonzept das Modell des sozialen Zivilprozesses (s. zu Anm. 7) - hat in den letzten Jahren eine weltweite Renaissance erfahren. 38 4. Mit der Verabschiedung der Zivilprozeßgesetze war Kleins Arbeit aber nicht abgeschlossen. Inzwischen zum Sektionschef (1896) und zum Wirklichen Geheimen Rat (1897) befördert, konzentrierte sich seine ganze Energie nunmehr auf die richtige Anwendung der Gesetze. Dazu war aber die Schaffung geeigneter Strukturen und die Heranbildung entsprechend qualifizierter Kräfte vonnöten. Grundlage hierfür war das auch von Klein konzipierte "Gesetz, womit Vorschriften über die Besetzung, innere Einrichtung und Geschäftsordnung der Gerichte erlassen werden", das am 19. Dezember 1895 als Regierungsvorlage im Abgeordnetenhaus eingebracht39 und gleichfalls nach dem Verfahren des Beratungsgesetzes (dessen § 10. hatte das bereits vorgesehen) behandelt worden war. Auch hier fungierte Dr. von Baernreither als Berichterstatter im Permanenzausschuß des Abgeordnetenhauses, während Johann Edelmann Berichterstatter in der Permanenzkommission des Herrenhauses war. Der gemeinsame Bericht, in dessen Rahmen u. a. der Kurztitel "Gerichtsorganisationsgesetz" eingefügt worden war, wurde dem Ab37 Zur Würdigung seiner Persönlichkeit s. die Nachrufe von Ernst Bum in JBI 1926, S. 81; Friedrich Eng~l in GZ 1926, S. 161; Hans Sperl in ZZP 1926, S. 407 und in JhJB 1927/28, V; vgl. ferner Edmund Benedikt, in: Neue österreichische Biographie ab 1815 (1927) IV, S. 9 ff, mwN in S. 29 f; Fritz Fellner - Heidrun Maschl, Saint Germain im Sommer 1919 (Quellen zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1), Salzburg 1977, S. 14 ff. Vgl. v. a. die Beiträge in Herbert Hofmeister (Hrsg.) Forschungsband Franz Klein (Anm. 19); dazu Franz Matscher, ÖJZ 1989, S. 217 (Buchbesprechung). 38 Wolfgang Jelinek, Einflüsse des österreichischen Zivilprozeßrechts auf andere Rechtsordnungen aus: Walter Habscheid (Hrsg.), Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Veröff. der wiss. Vereinigung für InternationalesVerfahrensrecht,Bd. 5,Bielefeld 1991, S. 41; Hans Fasching (Anm. 10), S. 27 f. 39 1361 BlgAbgH XI.

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geordnetenhaus am 14. Oktober 1896 40 erstattet und am 30. Oktober 1896 nach längerer Debatte in zweiter und dritter Lesung angenommen. 41 Die Annahme im Herrenhaus geschah, ohne Debatte, am 21. November 1896. 42 Am 27. desselben Monats erhielt das Gesetz die kaiserliche Sanktion (RGBl. 217). Das Gerichtsorganisationsgesetz (GOG) brachte eine den Verfahrensgesetzen angepaßte vollkommene Neustrukturierung des Gerichtswesens in personeller und sachlicher Hinsicht, von der Heranbildung des richterlichen Nachwuchses über die Bestellung und den Einsatz von Richtern und von gerichtlichem Hilfspersonal bis zur Neugestaltung des Kanzleiwesens mit allen seinen administrativen Agenden (Aktenbehandlung, Schreib- und Zustellwesen usw). Damit war die Prozeßreform zu einer Reform des gesamten Justizwesens gemacht worden. Zahlreiche, durchaus zweckmäßigen Gedanken gehorchende Verordnungen 43 und Erlässe - mögen sie modemen Kriterien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auch nicht immer standhalten - gingen bis in letzte Details (sie regelten u. a. den Einsatz von Telefon und Schreibmaschine und befaßten sich mit der Verwendung von Kohlepapier und von Korrespondenzkarten). 44 Die Zahl der Richterposten wurde (durch Verordnung!)45 gewaltig erhöht und für viele Gerichte wurden neue Gebäude errichtet. Die wirtschaftliche Prosperität erlaubte, sehr großzügig vorzugehen.

Franz Klein selbst war unermüdlich tätig, um die richtige Anwendung der neuen Verfahrensgesetze sicherzustellen, vor allem aber auch, um die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ein Kernstück dieses Mechanismus war sicherlich die durch § 74 Abs. 2 GOG grundgelegte und gemäß § 414 GeO ("Besondere Visitationen durch Beauftragte des Justizministers") eingerichtete Gerichtsinspektion. 46 Als Bindeglied zwischen den Gerichten und der ministeriellen Justizverwaltung hat sie, nachdem ihre ursprüngliche Aufgabe - Überwachung der Eir;tführung und richtigen Anwendung der neuen Prozeßgesetze - an sich erledigt war, auch in den folgenden Jahrzehnten in diskreter und effizienterWeise dazu beigetragen, 40 1570 BlgAbgH XI.

Sten.Prot. 525. Sitzung XI, S. 26851. Sten.Prot. 84. Sitzung XI, S. 1095'. 43 So vor allem die Verordnung des Justizministers vom 5. Mai 1897, RGBl. Nr. 112, womit eine neue Geschäftsordnung für die Gerichte erster und zweiter Instanz erlassen wird (Geo). 44 August Pitreich, Mittlere Wirkungen der Zivilprozeßreform, FS Klein, (Anm. 1), S. 237. 45 Durch die Verordnung des Justizministeriums v. 5. Mai 1897, JMVBl Nr.14, betreffend die Neusystemisierung der richterlichen Beamten bei den Gerichten in erster und zweiter Instanz, wurde die Zahl der Richterposten um 1311 erhöht. 46 Leo Grabscheid, Kleins Gerichtsinspektorat, FS Klein, (Anm. 1), S. 133. 41 42

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daß die österreichische Justiz das durch die Prozeßreform erzielte hohe Niveau beigehalten hat. Ihrer Abschaffung (durch den Erlaß des Bundesministeri1;ms für Justiz vom 12. Dezember 1969, JABl. S. 72) vermag ich daher nicht durchwegs nur positive Eindrücke abzugewinnen. 47 5. Ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erkannte man die Notwendigkeit, besondere Vorkehrungen zur Regelung der im Zuge der Industrialisierung immer aktueller werdenden "Dienstrechtsstreitigkeiten" zu treffen. Nach den Verordnungen, RGBl. 1856/224 und 1860/73, fielen diese in die Schlichtungs- und Entscheidungszuständigkeit der politischen Behörde (Bezirkshauptmannschaft oder Gemeindevorstehung), bzw., wenn der Dienstgeber ein selbständiger Gewerbetreibender war, der einer Genossenschaft angehörte, nach § 102 Gewerbeordnung, RGBl. 1859/227, in die Zuständigkeit der Genossenschaftsvorstehung, mit beschränkter Berufungsmöglichkeit an die politische Behörde. Die Regelung war wenig befriedigend: Die politischen Behörden waren zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten nicht eingerichtet; in den Genossenschaftsvorstehungen waren die Dienstnehmer nicht vertreten usw. Das Gewerbegerichtsgesetz, RGBl. 1869/63 sah, in Anlehnung an das Vorbild der französischen conseils de prud'hommes, erstmalig die Einrichtung von Gewerbegerichten als staatliche Einrichtungen für fabriksmäßig betriebene Gewerbe vor. Solche konnten, je nach Bedarf, für einen bestimmten Bezirk und Erwerbszweig durch Verordnung errichtet werden. Es handelte sich um reine Laiengerichte, deren Mitglieder je zur Hälfte von den Dienstgebern und von den Dienstnehmern zu stellen waren; der Obmann war von den Mitgliedern zu wählen, wobei es häufig zu unüberbrückbaren Interessensgegensätzen kam. Die Gewerbegerichte hatten Schlichtungs- und Entscheidungskompetenz; es bestand eine beschränkte Rechtszugsmöglichkeit an das ordentliche Gericht. Das Verfahren war einfach geregelt und nicht an die AGO gebunden. In der Folge wurde auch die Gewerbeordnung durch die Gesetze RGBl. 1883/39 und 1885/22 geändert: An die Stelle der Genossenschaftsvorstehung traten - als Schlichtungsinstanz - schiedsrichterliche Ausschüsse mit fakultativer (durch schriftliche Unterwerfung begründeter) Zuständigkeit und - als Entscheidungsinstanz - schiedsrichterliche Collegien. Auch diese Regelung war, insbesondere wegen ihrer Lückenhaftigkeit, nicht befriedigend: Gewerbegerichte wurden nur ganz wenige (auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich gab es lediglich ein Gewerbege47 Zu den verfahrensrechtlichen Problemen der Dienstaufsicht (in welcher die Gerichtsinspektion einzuordnen ist) s. Robert Walter, Verfassung und Gerichtsbarkeit, Wien 1960, S. 64 ff; Gesamtreform der Justiz, hrsg. vom BMfJustiz, Wien 1969, S. 127 ff.

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richt in Wien für die Maschinen- und Metallwarenindustrie); schiedsrichterliche Collegien wurden nirgends und schiedsrichterliche Ausschüsse nur in ganz geringer Zahl errichtet, sodaß das Gros der Dienstrechtsstreitigkeiten weiterhin bei den politischen Behörden verblieb. Im Zuge der parlamentarischen Behandlung der Zivilprozeßgesetze stellte der schon erwähnte Abgeordnete Dr. von Baernreither einen "Zusatzantrag betreffend ein besonderes Verfahren vor Gewerbegerichten", dem der Entwurf eines "Gesetzes betreffend die Einführung von Gewerbegerichten und die Gerichtsbarkeit in Streitigkeiten aus dem gewerblichen Arbeits-, Lohn- und Lehrverhältnisse" samt Motivenbericht, angeschlossen war. 48 Gern. § 1 Beratungsgesetz war auch für diesen Entwurf dieselbe Art der parlamentarischen Behandlung vorgesehen, wie für die Zivilprozeßgesetze. Wie beim Gerichtsorganisationsgesetz fungierten Dr. von Baernreither und Edelmann als Berichterstatter in den beiden Häusern des Reichsrats. Im übrigen lief auch die parlamentarische Behandlung - "wegen des innigen Zusammenhangs" zwischen den beiden Entwürfen 49 - weitgehend parallel mit der des Gerichtsorganisationsgesetzes. Der gemeinsame Bericht lag am 14. Oktober 1896 vor 50 und wurde am 30. Oktober 1896 vom Abgeordnetenhaus 51 und am 21. November 1896 vom Herrenhaus 52 in zweiter und dritter Lesung angenommen. Am 27. November 1896 erhielt es die kaiserliche Sanktion (RGBl. 218). Erst das im Zuge der Prozeßrechtsreform beschlossene, wie schon erwähnt, aus einer Initiative des Abgeordnetenhauses hervorgegangene Gewerbegerichtsgesetz 1896 legte die Grundlagen der heutigen Arbeitsgerichtsbarkeit: Es sah die obligatorische gerichtliche Zuständigkeit für alle Dienstrechtsstreitigkeiten zwischen Gewerbeinhabern und ihren Dienstnehmern vor. Soweit kein Gewerbegericht bestand (Gewerbegerichte waren gleichfalls durch Verordnung zu errichten; auf dem Gebiet der heutigen Republik Österreich gab es solche in Wien, Graz, Judenburg und Leoben) fielen die Dienstrechtsstreitigkeiten in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte. Die Gewerbegerichte waren paritätisch (Dienstgeber- und Dienstnehmervertreter) zusammengesetzt; der Vorsitzende mußte zum Richteramt befähigt sein und wurde vom Justizminister ernannt. Es galten im Prinzip die Bestimmungen des bezirksgerichtlichen Verfahrens in Bagatellsachen. 53

48 950 BlgAbgH XI, eingebracht in der 300. Sitzung v. 25. Mai 1894, Sten.Prot. S. 14633. 49 So der Präsident, Johann Freiherr von Clumecky in der 525. Sitzung, XI. Session, v. 30. Oktober 1896, Sten.Prot., S. 26851. 50 1572 BlgAbgH XI. 51 Sten.Prot. 84. Sitzung XI, S. 26851. 52 Sten.Prot. 84. Sitzung XI, S. 1100.

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6. Ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden, bedingt vor allem durch die neueren Erkenntnisse der Psychiatrie, die vorhandenen gesetzlichen Regelungen im Zusammenhang mit Geisteskranken - deren Unterbringung in geschlossenen Anstalten und deren privatrechtlicher Schutz - als vollkommen unzureichend empfunden. Tatsächlich kannte das ABGB von 1811 in § 21 nur die Kategorie der "Rasenden, Wahnsinnigen und Blödsinnigen", es enthielt ein paar Normen über die Kuratel betr. solcher Personen in §§ 269, 270, 273, 280-283; schließlich brachte das Außerstreitpatent 1854 in §§ 181 ff einige fragmentarische Bestimmungen über das Verfahren in Kuratelangelegenheiten. Mehrere Vorstöße aus Psychiaterkreisen, in Richtung auf eine Neuregelung, führten - nachdem die Regierung den Obersten Sanitätsrat in die Diskussion einbezogen hatte - zu den Verordnungen des Innenministeriums vom 14. Mai 1874, RGBl. Nr. 71 und vom 4. Juli 1878, RGBl. Nr. 87. Im übrigen zeigte die Regierung geringe Neuerungsbereitschaft, wohl vor allem, weil man an maßgeblicher Stelle die Tragweite des Phänomens noch nicht richtig erfaßt hatte. Bereits in der 33. Sitzung des XI. Session, am 30. Juni 1891, hatte der Abgeordnete Dr. Franz Roser eine vom Plenum angenommene Resolution überreicht, in der die Regierung aufgefordert wird, "eine zeitgemäße Revision der Irrengesetzgebung endlich in Angriff zu nehmen." 54 In der 295. Sitzung vom 21. Mai 1894, derselben Session, wurde in einer Interpellation der Abgeordneten Emanuel Ritter von Praskowetz und Dr. Franz Roser und Genossen an die Minister des Inneren und der Justiz die Anfrage gerichtet, ob sie gedenken, demnächst einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den die Irrenffusorge einer zeitgemäßen Regelung zugeführt wird. 55 In seiner in der 338. Sitzung vom 20. Dezember 1894 mündlich vorgetragenen Antwort unterstrich der Justizminister Dr. Friedrich Graf Schönborn, auch im Namen des Innenministers, die Bereitschaft der Regierung, eine Reform des Irrenwesens in die Wege zu leiten; er wies aber auch auf die Schwierigkeiten hin und meinte, daß die geltenden gesetzlichen Regelungen zwar mangelhaft, aber doch besser seien, als sie in letzter Zeit dargestellt worden wären. 56 Schließlich schaltete sich der Oberste Sanitätsrat selbst ein und zwang die Regierung zum Handeln. Damit war die "Reform des Irrenwesens" zu einem von der politischen Tagesordnung nicht mehr zu streichenden Programmpunkt geworden. Die Fürsorge für Geisteskranke wurde als 53 Zur Geschichte der Gewerbe- bzw. der Arbeitsgerichtsbarkeit in Österreich s. Gustav Stanzl, Arbeitsgerichtliches Verfahren, Wien 1954, S. 4 ff; Theo Mayer-Maly, Österreichisches Arbeitsrecht, Wien 1970, S. 236 ff. 54 Sten.Prot., S. 1387. 55 Sten.Prot., S. 14304. 56 Sten.Prot., S. 16745.

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Angelegenheit des Innenministers betrachtet (als Fragenkomplex, der außerhalb des Themas dieser Studie liegt, braucht er hier nicht weiter erörtert zu werden), während der privatrechtliche Schutz der Geisteskranken und diesen gleichgestellter Personen, und das Verfahren für deren Aufnahme in geschlossene Anstalten, in die Zuständigkeit des Justizministers fiel. Dort wurde dann, nach mehreren Vorarbeiten, ab 1906 an Entwürfen für eine Entmündigungsordnung gearbeitet. Ein erster 1907 57 und unverändert 1909 58 eingebrachter Entwurf konnte wegen vorzeitigen Schlusses der Sessionen des Abgeordnetenhauses einer parlamentarischen Behandlung nicht mehr unterzogen werden. Ein in der darauffolgenden Session (1909) eingebrachter, geänderter Entwurf 59 wurde im Jahre 1911 vom Justizausschuß einem Subkomitee zugewiesen. Der Berichterstatter, Prof. Dr. Stanislaus Dnistriariskyi, arbeitete diesen zu einem eigenen Referentenentwurf um; 60 auf dessen Grundlage erstellte das Subkomitee einen weiteren Entwurf, den es dem Justizausschuß zur Annahme empfahl. 61 Wegen vorzeitiger Beendigung der Session konnte er aber nicht mehr behandelt werden. Damit war auch dieser Entwurf hinfällig geworden. In der darauffolgenden Session (noch 1911) brachte die Regierung ihre letzte Vorlage (die von 1909) unverändert wieder ein. 62 Am 6. Dezember 1911 fand die erste Lesung statt. Nach einer brillanten Rede des Abgeordneten Prof. Dnistriariskyi, in der er die Lebensferne vieler Vorlagen des Justizressorts und die Beschränkung des rechtsvergleichenden Blicks auf die Situation im Deutschen Reich kritisierte, wurde die Vorlage dem Justizausschuß zugewiesen. 63 Dieser Berichterstatter war wiederum Prof. Dnistriariskyi - arbeitete die Vorlage zu einem eigenen Entwurf um; dabei ging er mehr vom oben erwähnten Entwurf des Subkomitees als von der Regierungsvorlage aus. Der Bericht des Justizausschusses vom 25. April 1912 behandelte das Problem der Entmündigung in einer sehr umfassenden und, rechtsvergleichend das französische, das deutsche und das schweizerische Recht mitberücksichtigend, vertieften Schau. 64 Zu einer abschließenden parlamentarischen Behandlung karp. es wiederum nicht. Die Entmündigungsordnung wurde vielmehr, nach Vertagung des Reichsrats, als Kaiserliche Verordnung vom 28. Juni 1916, RGBL 207, kundgemacht.

57 58 59 60 61 62 63 64

687 BlgAbgH XVIII. 10 BlgAbgH XIX. 461 BlgAbgH XX. Anhang I zu 1352 BlgAbgH XXI. Anhang II zu 1352 BlgAbgH XXI. 536 BlgAbgH XXI. Sten.Prot. 38. Sitzung XXI, S. 1882. 1352 BlgAbgH XXI.

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7. Bereits im Zuge der Zivilprozeßreform der Jahrhundertwende waren Stimmen nach einer Neuregelung des Insolvenzrechts laut geworden. 65 So hatten die Abgeordneten Karl Wrabetz und Genossen schon am 20. April 1891 einen Antrag eingebracht, in dem die Regierung aufgefordert wird, eine Revision der Concursordnung 1868 in Angriff zu nehmen und eine diesbezügliche Gesetzesvorlage ehestens einzubringen. 66 Dieser Antrag wurde nach kurzer Debatte dem Justizausschuß zugewiesen. 67 Über sein weiteres Schicksal findet sich in den Parlamentsmaterialien kein Niederschlag. Vor allem in Wirtschaftskreisen wurde die vorhandene Regelung Concursordnung 1868, RGBl. 1869/1, Anfechtungsgesetz, RGBl. 1884/34, als unzureichend empfunden. Nach Abschluß der Zivilprozeßreform wurde sowohl innerhalb wie außerhalb des Ministeriums an Entwürfen gearbeitet. Auf Grund dieser Vorarbeiten wurden dann, nach der schon erwähnten Vertagung des Reichsrats, mit Kaiserlicher Verordnung vom 10. Dezember 1914, RGBl. 337, eine Konkursordnung, eine Ausgleichsordnung und eine Anfechtungsordnung erlassen. Sie zählen zu den vorbildlichen Leistungen der österreichischen Legistik. 68 8. Mit der Zivilprozeßreform der Jahrhundertwende wurde in mancherlei Hinsicht Neuland betreten. Diesbezüglich konnte sich der Gesetzgeber also nicht auf gesicherte Erfahrungen stützen. Ein Jahrzehnt praktischen Umgangs mit den neuen Gesetzen zeigte, daß sich diese im wesentlichen bewährt hatten, daß aber da und dort Korrekturen angebracht waren. Initiativen in dieser Richtung sind von der Regierung und vom Abgeordnetenhaus ausgegangen. In der xx. Session des Herrenhauses brachte die Regierung den Entwurf eines Gesetzes "betreffend die Änderung der Bestimmungen über die Revision, die Berufung und den Rekurs" ein. 69 Ziel der Reform war vor allem die Entlastung des Obersten Gerichtshofs durch Einschränkung der Zulässigkeit von Revisionen (mittels Einführung einer Revisionssumme für den Fall, daß das Berufungsgericht das Urteil des Erstgerichts bestätigt hat) und von Revisionsrekursen. Die Kommission des Herrenhauses für Justizgegenstände - Obmann und Berichterstatter Dr. Karl Ritter von Czyhlarz - nahm an der Regierungsvorlage eine Reihe von Änderungen vor. 70 65 Vgl. etwa Dtto Frankl, Zur Revision des österreichischen Konkursrechts, Wien 1896. 66 45 BlgAbgH XXI. 67 Sten.Prot. 12. Sitzung XI v. 11. Mai 1891, S. 340. 68 Arthur Skedl, Die Grundlagen des österreichischen Konkursrechtes in ihrer historischen Entwicklung, Wien 1913; Ernst Hellbling, Zur Entwicklung des österreichischen Insolvenzrechts, NZ 1957, S. 49, 65. 69 22 BlgHH XX. 70 59 BlgHH XX.

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Diskutiert - in der Kommission selbst aber schließlich nicht angenommen - wurde dabei u. a. die Idee, anstelle der Einführung einer Revisionssumme, bei Entscheidungen, die in erster Instanz von Bezirksgerichten gefällt worden waren, den Rechtszug in dritter Instanz nicht an den Obersten Gerichtshof, sondern an die Oberlandesgerichte gehen zu lassen. Die Anträge der Kommission wurden sodann in der Sitzung des Herrenhauses vom 27. Juni 1910, nach einer eingehenden Debatte, in zweiter und dritter Lesung angenommen. 71 Daraufhin wUrde die Behandlung der Vorlage im Abgeordnetenhaus eingeleitet, wegen der bald darauf ausgesprochenen "Vertagung" desselben aber nicht zum Abschluß gebracht. In der darauffolgenden Session des Abgeordnetenhauses brachte die Regierung den geänderten Entwurf eines Gesetzes "betreffend die Änderung von Bestimmungen über die Revision und den Rekurs" ein. 72 Dieser Entwurf gelangte gar nicht zur Beratung. Inzwischen hatten auch die Abgeordneten Prof. Dr. Arthur Skedl, Doz.·Dr. Konstantin Isopescul-Grecul und Genossen in der XIX. Session (1909) einen (Gesetzes)antrag auf "Vereinfachung der Geschäfte der Gerichtskanzlei", samt Motivenbericht, eingebracht. 73 Er wurde in der folgenden xx. Session (auch 1909), von den Abgeordneten Dr. Arthur Skedl, Ferdinand Pantz und Genossen, als Antrag auf "Vereinfachung der Geschäfte des Zivilprozeß- und Exekutionsverfahren" erweitert, neu eingebracht. 74 Unter weitgehender Aufgreifung der diesen Initiativanträgen zugrundeliegenden Gedanken hat die Regierung, gleichfalls in der XX. Session, im Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Gesetzes "betreffend Änderungen des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsangelegenheiten (Gerichtsentlastungsgesetz)" eingebracht. 75 Bevor es noch zu einer Behandlung kam, wurde der Reichsrat vertagt und die Regierung legte in der darauf folgenden XXI. Session (1911) den in Einzelheiten geänderten Entwurf dem Abgeordnetenhaus erneut vor. 76 Der Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Wilhelm Neumann - befaßte sich sehr eingehend mit der Vorlage in nahezu 30 Sitzungen. Infolge der neuerlichen Vertagung des Reichsrats im März 1914 konnte der Ausschuß seine Arbeit aber nicht mehr zum Abschluß bringen. Noch am 9. Jänner 1914 hatte der Abgeordnete Dr. Anton Matakievicz eine entsprechende Anfrage an den Obmann des Justizausschusses gerichtet. 77 Am 1. Juni 1914 erging dann die Kaiserliche Verordnung, RGBl. 71

72 73 74 75 76

Sten.Prot. 10. Sitzung XX, S. 223; s. a. 991 BlgAbgH XX. 525 BlgAbgH XIX. 778 BlgAbgH XIX. 557 BlgAbgH XX. 1071 BlgAbgH XX. 537 BlgAbgH XXI.

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Nr. 82, betreffend Änderungen des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsangelegenheiten [(1.) Gerichtsentlastungsnovelle], durch welche zahlreiche Bestimmungen der Jurisdiktionsnorm, der Zivilprozeßordnung, der Exekutionsordnung, des Gerichtsorganisationsgesetzes und des Mahngesetzes geändert wurden. 78 Damit wurde der Reigen der - weitgehend Ersparnisgründen gehorchenden, in das Gefüge der JN, der ZPO und der EO teilweise tief eingreifenden - (insgesamt acht) Gerichtsentlastungs-Novellen eröffnet. Zwei für die Entwicklung des österreichischen Zivilgerichtlichen Verfahrens in organisatorischer Hinsicht bedeutsame und ihn auch heute noch prägende Einrichtungen, die im Gerichtsentlastungsgesetz ihren ersten Niederschlag gefunden hatten, gehen auf Initiativen aus dem Abgeordnetenhaus zurück: a) die Aufwertung der Gerichtskanzlei durch deren Betrauung mit der selbständigen Erledigung gewisser einfacher richterlicher Geschäfte (Initiativanträge Dr.Skedl und Genossen). Die damals eingeleitete Entwicklung führte - über die 6. Gerichtsentlastungsnovelle, BGBl. 1929/ 222 (§ 56a GOG: "Erweiterter Wirkungskreis der Geschäftsstelle") zur bewährten Institution des Rechtspflegers (Rechtspflegergesetz, BGBl. 1962/180); b) der in der Folge - bis zum Insolvenzrechtsänderungsgesetz 1982 und zur Zivilverfahrens-Novelle 1983 - immer weiter vorangetriebene Ausbau der Einzelrichter-Gerichtsbarkeit im Verfahren vor den Gerichtshöfen erster Instanz. Dieser Gedanke geht auf eine Anregung des Berichterstatters im Justizausschuß des Abgeordnetenhauses, Dr. Wilhelm Neumann, zurück. Ein abschließendes Wort noch zur Tätigkeit des Reichsrats als Gesetzgeber im zivilprozessualen Verfahrensrecht: Was die Mitarbeit an den oder die Stellungnahmen zu den Gesetzen bzw. Gesetzesentwürfen in dieser Materie anbelangt, lassen sich keine, in der geographischen Herkunft der Abgeordneten aus den verschiedenen Kronländern der Monarchie, in ihrer Einordnung in die einzelnen Wählerklassen oder in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gruppierung begründete oder daraus erklärbare, signifikante Unterschiede feststellen.

77 78

Sten.Prot. 193. Sitzung XXI, S. 9416. Rudolf Hermann, Die Gerichtsentlastungsnovelle, Wien 1914.

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III. Das zivilprozessuale Verfahrensrecht in der Gesetzgebung der Ersten Republik 1. Der parlamentarische Gesetzgeber der Ersten Republik hat in den knapp eineinhalb Jahrzehnten seiner Tätigkeit im Bereich des zivilprozessualen Verfahrensrechts keine besonders bemerkenswerten Leistungen vollbracht. Die schon in II / 8 erwähnten Gerichtsentlastungsnovellen gehorchten notwendigen und vielfach auch durchaus positiv zu beurteilenden Vereinfachungs- und Ersparnismotiven. Das gilt m. E. etwa für die Forcierung des Einzelrichters am Gerichtshof (§ 7 a JN). Hingegen stellten die Streitwertnovellen lediglich eine gebotene Anpassung an die Geldentwertung dar. Alles weitere war, mit wenigen Ausnahmen, Korrektur im Detail.

Von größerer Tragweite war die Exekutionsnovelle 1922, BGBL Nr.460, welche vor allem in den neuen §§ 289a-289f EO eine Neuregelung der Lohn- und Gehaltspfändung brachte. Übrigens, der gleichzeitig geschaffene § 10a EO, welcher die in Zeiten der Inflation praktische Möglichkeit der Exekution aufgrund von Bruchteilstiteln in Unterhaltssachen einführte, geht auf einen Vorschlag des Justizausschusses - Obmann und Berichterstatter war Dr. Erwin Waiß - zurück. 79 Im übrigen handelte es sich bei all den genannten Novellen um Regierungsvorlagen, die vom Parlament iaR ohne größere substantielle Änderungen, verabschiedet wurden. 2. Eine Initiative hatte der Nationalrat im Zusammenhang mit der Novellierung des Gewerbegerichtsgesetzes ergriffen. Der erste Schritt war ein vom Abgeordneten Josef Wiedenhofer und Genossen am 19. November 1920 eingebrachter Antrag auf Änderung des Gewerbegerichtsgesetzes 1896 (er betraf die Beisitzer: Wählbarkeit auch von Frauen, Herabsetzung des passiven Wahlalters auf 24 Jahre, Entschädigung für die Beisitzertätigkeit). 80 Der Justizausschuß - Berichterstatter Anton Hölzl -, dem der Antrag zugewiesen worden war, wollte aber noch weiter gehen. Bei voller Anerkennung der Begründetheit des Antrags beschloß er, dem Plenum zu empfehlen, die Regierung aufzufordern, dem Nationalrat ehestens eine Vorlage betreffend die zeitgemäße Änderu'!lg des Gewerbegerichtsgesetzes 1896 insgesamt vorzulegen. 81 Dieser Beschluß wurde vom Plenum des Nationalrats, in seiner Sitzung vom 20. Februar 1921, einstimmig gutgeheißen. 82 Es folgten Urgenzen der Abgeordneten Hans Muchitsch und Genos79 Bericht des Justizausschusses, 1078 BlgNR I; in der 124. Sitzung I v. 11. Juli 1922, Sten.Prot., S. 3995 ohne Debatte angenommen. 80 29 BlgNR 1. 81 169 BlgNR I. 82 Sten.Prot. 15. Sitzung I, S. 427.

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sen 83 und der Abgeordneten Dr. Sepp Straffner und Genossen. 84 Die inzwischen eingebrachte Regierungsvorlage 85 dehnte die sachliche Zuständigkeit der Gewerbegerichte weit über den Kreis der Dienstnehmer in gewerblichen Betrieben aus, sodaß im Ergebnis nur noch diejenigen im Bereich der Land- und Forstwirtschaft und jene des Hauspersonals und der Privatwagenführer ausgenommen blieben. Die beiden letztgenannten Kategorien wurden dann durch das Gesetz, BGBl. 1929/260, der Zuständigkeit der Gewerbegerichte unterstellt. Wegen der schlechten Erfahrung wurde ferner die bisherige Wahl der Beisitzer der Gewerbegerichte durch ihre Berufung durch den zuständigen Bundesminister, über Vorschlag der Interessenvertretungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ersetzt. Schließlich wurde auch dem Antrag Wiedenhafer Rechnung getragen. Der Bericht des Justizausschusses 86 - Berichterstatter Josef Resch - brachte keine wesentlichen Änderungen im Verhältnis zur Regierungsvorlage. Eine Reihe, sachlich allerdings nicht sehr bedeutsamer Änderungsanträge wurde aber im Zuge der Debatte im Plenum gestellt. Diese wurden teils angenommen, teils abgelehnt - so u. a. auch die Anregung des Abgeordneten Anton Hölzl, den Begriff "Gewerbegericht" durch "Arbeitsgericht" zu ersetzen. Im übrigen wurde im Sinne des Antrags des Justizausschusses Beschluß gefaßt. 87 Der Ausschuß für Verfassungsrechtsangelegenheiten des Bundesrats Berichterstatter Prof. Dr. Karl Gottfried Hugelmann - hatte an sich beantragt, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats Einspruch zu erheben, und zwar vor allem wegen der Streichung einer Passage aus § 6 Abs. 1 der Regierungsvorlage, derzufolge für die Errichtung von Gewerbegerichten u. a. auch die betroffene Landesregierung zu hören sei. 88 Nachdem das Plenum eine entsprechende, den Bedenken des Rechtsausschusses Rechnung tragende Resolution (vom Bundesrat Dr. Franz Hemala eingebracht) angenommen und sich auch der anwesende Vizekanzler Walter Breisky positiv dazu geäußert hatte, ließ der Berichterstatter seine Bedenken fallen und der Bundesrat beschloß, keinen Einspruch zu erheben 89 (Gewerbegerichtsgesetz, BGBl. 1922/229). 3. Vom März 1933 bis zum März 1938, und dann bis zur Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreichs an der Wende vom April zum Mai 1945, war der demokratische Gesetzgeber ausgeschaltet. Die in jener Zeit erlassenen oder für Österreich eingeführten Verord83 84 85 86 87 88 89

Anhang 250/ I zu den Sten.Prot. des NR. Anhang 276/ I zu den Sten.Prot. des NR. 764 BlgNR 1. 852 BlgNR 1. Sten.Prot. 102. Sitzung I v. 5. April 1922, S. 3371. 32 BlgNR. Sten.Prot. 35. Sitzung v. 12. April 1922, S. 498.

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nungen brachten zum Teil wesentliche Neuerungen, auch auf zivilprozessualem Gebiet (man denke etwa an die 1., 4. (§ 24) und 6. Durchführungsverordnung zum Ehegesetz, oder an die Lohnpfändungsverordnung 1940); sie liegen aber außerhalb des Themas der vorliegenden Untersuchung.

IV. Das zivilprozessuale Verfahrensrecht in der Gesetzgebung der ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik 1. Zu den wichtigsten Maßnahmen auf dem hier primär interessierenden Gebiet, nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit, gehört das Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr. 6, über die Wiederherstellung des Rechtslebens (Rechtsüberleitungsgesetz), das Gesetz vom 3. Juli 1945, StGBl. Nr. 47, über die Wiederherstellung der österreichischen Gerichtsorganisation (Gerichtsorganisationsgesetz 1945) und das Gesetz vom 3. Oktober 1945, StGBl. Nr. 188, zur Wiederherstellung der österreichischen bürgerlichen Rechtspflege. Dabei handelte es sich um Gesetze, die - vor dem Zusammentreten des ersten freigewählten Nationalrats - i. S. des Art. 18 der Vorläufigen Verfassung vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr. 5, von der Provisorischen Staatsregierung erlassen worden waren.

2. Was die Gesetzgebungstätigkeit der Folgezeit anbelangt, gilt auch für den Bereich des zivilprozessualen Verfahrensrechts, was für alle modernen parlamentarischen Demokratien - und nicht nur für Österreich - festgestellt werden muß: Das Schwergewicht der Einflußnahme der gesellschaftlichen Kräfte - Interessenvertretungen und Verbände - auf den Gesetzgebungsprozeß hat sich auf den vor- und außerparlamentarischen Raum verlagert. Initiativanträge im Parlament haben Seltenheitswert. Aber selbst dann, wenn eine Initiative materiell von den genannten Kräften ausgeht, wird es, nach informellen Absprachen, der zuständigen Ministerialverwaltung überlassen, die entsprechenden Schritte einzuleiten. Darüberhinaus ergreift diese in sozialrelevanten Bereichen eine Eigeninitiative erst dann, wenn der Grundkonsens mit den genannten Kräften, vor allem zwischen den Sozialpartnern, bereits hergestellt ist; das geschieht i. a. R. spätestens im Rahmen des Begutachtungsverfahrens, d. h. noch bevor die entsprechende Regierungsvorlage an den Nationalrat weitergeleitet wird. Damit beschränkt sich di~ tatsächliche Mitwirkung der Organe der Bundesgesetzgebung am Gesetzgebungsprozeß weitgehend auf eine formale Behandlung und Beschlußfassung über die Vorlage. 90 90 Vgl. etwa Heinz Fischer, Die Mitwirkung der Vollziehung an der Gesetzgebung, ÖJZ 1969, S. 253; ders., Bemerkungen zur Rolle des Nationalrates bei der staatlichen Willensbildung, in: FS Karl Waldbrunner zum 65. Geburtstag, Wien 1971, S.295; ders., Zur Praxis des Begutachtungsverfahrens im Prozeß der Bundesgesetzgebung, ÖZP 1972, S. 35; Helmut Widder, Die Gesetzgebung, in: Das Österreichische Bundes-

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Der hier erstellte Befund trifft im großen und ganzen auch auf die gesamte Gesetzgebungstätigkeit im zivilprozessualen Bereich zu, und zwar nicht nur für die Reformen, welche die Linie der Gerichtsentlastungsgesetze fortgesetzt haben (vgl. etwa die Bundesgesetze vom 6. Dezember 1955, BGBL Nr. 282, über Änderungen des zivilgerichtlichen Verfahrens; vom 30. Juni 1971, BGBL Nr. 291, mit dem die Zivilprozeßordnung und das Arbeitsgerichtsgesetz geändert werden; zu erwähnen in diesem Zusammenhang auch das Bundesgesetz über die Verwendung von Schallträgern im zivilgerichtlichen Verfahren, BGBL 1973/121 91 , für die im Zuge der Geldentwertung notwendig gewordene Anhebung der Wertgrenzen (Wertgrenzennovellen BGBL 1948/26, BGBL 1963/176, BGBL 1976/91) oder für die Änderungen des Verfahrensrechts, die im Zuge der Reform des Personenund Familienrechts vorgenommen wurden, wobei sich oft lebhafte Diskussionen in beiden Häusern des Parlaments mehr an den hier viel wichtigeren materiellrechtlichen, als an den verfahrensrechtlichen Inhalten der einschlägigen Gesetzesvorhaben entzündeten (Bundesgesetz über die Neuordnung des Rechtes der Annahme an Kindesstatt, BGBL 1960/58; über die Neuordnung der Rechtsstellung des unehelichen Kindes, BGBL 1970/342; über die Neuordnung des Kindschaftsrechts, BGBL 1977/403; über Änderungen des Ehegattenerbrechts, des Ehegüterrechts und des Ehescheidungsrechts, BGBL 1978/280; s. dazu den folgenden Pkt. 8). Es gilt weitgehend auch für Reformen in anderen, gesellschaftlich und sozialpolitisch sensiblen Bereichen des Verfahrensrechts. Das soll an ein paar Beispielen dargestellt werden: 3. Im Jahr 1946 leitete die Regierung eine Reform der Gewerbegerichtsbarkeit (Gewerbegerichtsnovelle 1946)92 ein. Der Justizausschuß - Berichterstatter Rudolf Marchner - empfahl die Annahme der nur ganz geringfügig geänderten Vorlage. 93 In der Plenardebatte am 22. März 1946 beantragte der Abgeordnete Dr. Ernst Kobl, in § 25 Abs. 1 die Fassung der Regierungsvorlage wiederherzustellen und die im Justizausschuß gestricheverfassungsgesetz und seine Entwicklung, Hrsg. Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 349 ff; vg!. ferner aus jüngster Zeit Ludwig Adamovich - Bemd-Christian Funk, Österreichisches Verfassungsrecht 3 , Wien 1985, S. 209 ff. 91 Hier lagen bereits aus früheren Gesetzgebungsperioden die Regierungsvorlage eines Bundesgesetzes über die Verwendung von Schall trägern im Straf- und Zivilgerichtlichen Verfahren (1238 BlgNR XI), die vom Justizausschuß (wegen der geplanten Miterfassung des Strafverfahrens) zunächst zurückgestellt worden war, sowie ein Initiativantrag der Abgeordneten Dr. Johanna Bayer und Genossen (9 / A XII), der - trotz Beschränkung auf zivilgerichtliche Verfahren - vorerst nicht in Behandlung genommen worden war, vor; an das Schicksal ihres Initiativantrags erinnerte auch Dr. Johanna Bayer bei der Behandlung der nunmehrigen Regierungsvorlage im Plenum des Nationalrats (Sten.Prot. 64. Sitzung v. 14. Februar 1973 XIII, S.5970). 92 57 BlgNR V. 93 71 BlgNR V. 32 Parlamentarismus

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ne Z 2 (,,§ 492 ZPO ist nicht anwendbar" = obligatorische mündliche Berufungsverhandlung) wieder aufzunehmen. In diesem Sinne wurde die Vorlage in zweiter und dritter Lesung angenommen. 94 Der Bundesrat beschloß, keinen Einspruch zu erheben. Bundesrat Ing. Dr. Franz Lechner zeigte zwar verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einbeziehung der Dienstnehmer in der Land- und Forstwirtschaft auf; trotzdem bejahte auch er im Ergebnis das Gesetz. 95 Wegen formeller Bezugnahme auf das deutsche Gewerbegerichtsgesetz 1943 hat der Alliierte Rat (auf der Grundlage des Zweiten Kontrollabkommens 1946) dem Gesetz die Zustimmung versagt, so daß es nicht kundgemacht werden konnte. Die daraufhin eingebrachte Regierungsvorlage betreffend ein Bundesgesetz über die Arbeitsgerichtsbarkeit 96 stellt eine nur sprachlich geringfügig geänderte Wiederholung der früheren Vorlage dar (es wurden vor allem die Bezugnahmen auf deutsche Rechtsnormen unterlassen). Auch hier beschloß der Justizausschuß - Berichterstatter wiederum Rudolf Marchner - dem Plenum die Annahme der Vorlage zu empfehlen,97 was dann ohne Debatte am 24. Juli 1946 geschehen ist. 98 Entsprechend ging anschließend der Bundesrat - Berichterstatter im Rechtsausschuß Dr. Ludwig Hiermann - vor 99 (Arbeitsgerichtsgesetz, BGBL 1946/ 170). Ähnlich verlief die parlamentarische Behandlung der Arbeitsgerichtsnovelle 1950, BGBL 164. 4. Auch die Schaffung des Lohnpfändungsgesetzes 1955 geht auf den Wunsch der Alliierten zurück, die Vorschriften der deutschen Lohnpfändungsverordnungen 1940 durch österreichische Rechtsvorschriften zu ersetzen. Tatsächlich stellt die Regierungsvorlage 100 eine materielle Übernahme - mit geringfügigen sprachlichen Adaptierungen - der Bestimmungen der Lohnpfändungsverordnung 1940 dar. Sachliche Änderungen sollten einer größeren Reform des Exekutionsrechts vorbehalten bleiben. Der Justizausschuß - Berichterstatter Karl Mark - empfahl die unveränderte Annahme der Regierungsvorlage. 101 In der Plenardebatte beantragten die Abgeordneten Dr. Lujo Toncic-Sorinj und Dr. Otto Tschadek eine geringfügige Erweiterung der pfändungsfreien Beträge. Im Sinne dieses Änderungs-

94 Sten.Prot. 12. Sitzung V, S. 157. 95 Sten.Prot. 7. Sitzung v. 11. April 1946, S. 56. 96

146 BlgNR V.

97 165 BlgNR V. 98 Sten.Prot. 28. Sitzung V v. 24. Juli 1946, S. 579. Sten.Prot. 11. Sitzung v. 26. Juli 1946, S. 114. 384 BlgNR VII. 101 443 BlgNR VII.

99

100

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antrags wurde die Vorlage angenommen. 102 Vermerkt sei, daß der Abgeordnete Jörg Kandutsch dagegen Bedenken anmeldete, eine so wichtige Materie praktisch "als Wiederverlautbarung" durchzuziehen, ohne die Gelegenheit zu nützen, eine sachliche Neugestaltung vorzunehmen; es bestünde die Gefahr, daß das Gesetz bald wieder geändert werden müsse. 103 Wie recht er damit hatte, zeigt die Tatsache, daß das Lohnpfändungsgesetz (auch abgesehen von den durch die Geldentwertung notwendig gewordenen Anpassungen der Beträge) in der Folge mehrfach novelliert werden mußte. Der Bundesrat - Berichterstatter im Rechtsausschuß Josef Pfaller beschloß ohne Debatte, gegen das Gesetz keinen Einspruch zu erheben 104 (BGBl. 1955/51). 5. Das Verfahrenshilfegesetz brachte eine weitgehende Änderung des bisherigen Armenrechts in allen Verfahrensbereichen. An der Regierungsvorlage 105 nahm der Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Erika Seda nur minimale Änderungen vor. lOB Die wenigen Wortmeldungen im Plenum beschränkten sich auf ein Lob der Vorlage; daraufhin erfolgte deren einstimmige Annahme. 107 Entsprechendes gilt für den Bundesrat - Berichterstatter Johann Windsteig 108 - (BGBl. 1973/569).109 6. Das geplante Konsumentenschutzgesetz 110 ging über sein unmittelbares Anliegen weit hinaus und griff tief in das allgemeine zivilgerichtliche Verfahrensrecht ein; es brachte dort die bis dahin vielleicht einschneidendsten Änderungen im Gefüge der ZPO, seit deren Bestehen: Weitgehende Beschränkung der Zulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen zum Schutz der Verbraucher; Aufhebung der Eventualmaxime im Mandats- und Bestandsverfahren; Vereinheitlichung der Fristen im Mandatsverfahren, Erweiterung der Wiederaufnahmsklage, neuer Anwendungsbereich der Verbandsklage, vor allem aber die Einführung des der dZPO entnommenen, dem Konzept der öZPO aber fremden Instituts des Widerspruchs gegen Versäumnisurteile. Der Justizausschuß - Berichterstatter Lona Murowatz - hatte zum verfahrensrechtlichen Teil der Regierungsvorlage nur eine Änderung vorgeschlagen: Laut Regierungsvorlage (§ 30 Abs. 2) sollte für die Verbandsklage, ohne Rücksicht auf den Streitwert, in erster Instanz der Einzelrichter zuständig sein; der Justizausschuß hat diese AusnahmeregeSten.Prot. 61. Sitzung VII v. 16. Februar 1955, S. 2861. 103 (Anm. 102) S. 2865. 104 Sten.Prot. 100. Sitzung v. 1. März 1955, S. 2296. 105 864 BlgNR XIII. lOB 916 BlgNR XIII. 107 Sten.Prot. 83. Sitzung XIII v. B. November 1973, S. 7926. 108 1113 BlgBR. 109 Sten.Prot. 325. Sitzung v. 21. November 1973, S. 9688. 110 744 BlgNR XIV. 102

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lung wieder gestrichen: 111 In der Plenardebatte 112 gingen nur zwei Redner auf den verfahrensrechtlichen Teil des Konsumentenschutzgesetzes näher ein. Der Abgeordnete Dr. Walter Hauser begrüßte die Regelung mit warmen Worten. 113 Kritisch äußerte sich hingegen der Abgeordnete Dr. Tassilo Broesigke: Die Aktivlegitimation zur Erhebung der Verbandsklage würde er am liebsten zu einer Popularklage ausgebaut gesehen haben; als Komprorniß schlug er, gemeinsam mit dem Abgeordneten Dr. Otto Scrinzi, die Ausdehnung der Aktivlegitimation vor 114 (dieser Antrag wurde abgewiesen). Entschieden sprach er sich gegen die Einführung des Widerspruchs gegen Versäumnisurteile aus; ein weiterer Ausbau der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand würde den angenommenen Bedürfnissen voll Rechnung tragen. 115 Der Nationalrat faßte Beschluß im Sinne des Berichts des Justizausschusses. Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, daß sich die Rechtswissenschaft einmütig gegen die Einführung des systemwidrigen Widerspruchs gegen Versäumnisurteile ausgesprochen hat, 116 ohne daß die vorgebrachten Bedenken im Justizausschuß oder im Plenum - wenn man von der Ablehnung durch den Abgeordneten Dr. Tassilo Broesigke absieht - den geringsten Widerhall gefunden hätten. Der Rechtsausschuß des Bundesrats - Berichterstatter Johann Matzenauer - ging auf die verfahrensrechtlichen Aspekte des Gesetzes gar nicht näher ein. 117 Im Plenum 118 wurden vom Abgeordneten Dkfm. Dr. Karl Pisec zwar gewisse Bedenken gegen die Verbandsklage angemeldet. 119 Schließlich wurde aber beschlossen, gegen das Gesetz keinen Einspruch zu erheben (BGBl. 1979/140). 7. Ähnliches ist im Zusammenhang mit einigen anderen, über das zivilgerichtliche Verfahren teilweise weit hinausreichenden Gesetzen zu berichten. Die Regierungsvorlage betreffend das Gesetz über das Dienstverhältnis der Richter und Richteramtsanwärter (Richterdienstgesetz) 120 erfuhr im 1223 BlgNR XIV. Sten.Prot. 122. Sitzung XIV v. 8. März 1979, S. 12519. 113 (Anm. 112) S. 12525. 114 (Anm. 112) S. 12534. 115 (Anm. 112) S. 12539. 116 Vgl. etwa Oskar Ballon, Der Österreichischen Rechtstradition fremd, Stb 1977, S. 18; Dietrich Derbolav, Eine heimliche ZPO-Reform?, ÖRZ 1977, S. 151 ff; Bernhard König, 0 tempora 0 reformatores - Bemerkungen zum "Einspruchssystem" in der Regierungsvorlage eines Konsumentenschutzgesetzes, ÖJZ 1978, S. 281. 117 2003 BlgBR. 118 Sten.Prot. 385. Sitzung v. 15. März 1979, S. 13560. 119 (Anm. 118) S. 13571. 120 506 BlgNR IX. 111 112

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Justizausschuß ~ Berichterstatter Helmut Holzfeind - keine inhaltliche Änderung 12l und wurde vom Plenum des Nationalrats einstimmig angenommen. 122 Daraufhin beschloß der Bundesrat - Berichterstatter im Ausschuß für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten Dr. Josef Reichl gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben 123 (BGBl. 1961/305). Auch die Regierungsvorlage zum Bundesgesetz betreffend die Besorgung der richterlichen Geschäfte durch Rechtspfleger (Rechtspflegergesetz) 124 wurde vom Justizausschuß - Berichterstatter Ferdinand Chaloupek praktisch unverändert übernommen 125 und vom Plenum einstimmig 126 verabschiedet. Der Bundesrat - Berichterstatter im Ausschuß für Verfassungs- und Rechtsangelegenheiten Dr. Franz Fruhstorfer - beschloß, keinen Einspruch zu erheben 127 (BGBl. 1962/180). Die Regierungsvorlage betreffend das Bundesgesetz über den Obersten Gerichtshof128 erfuhr im Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Luis Bassetti - nur ganz geringfügige Änderungen 129 und wurde vom Plenum nach einer längeren, mehr politisch als sachlich motivierten Debatte mehrheitlich angenommen. 130 Der Bundesrat ließ die Einspruchsfrist ablaufen (BGBl. 1968/328). Die Regierungsvorlage betr. ein Bundesgesetz über die Zustellung behördlicher Schriftstücke (ZustellG) 131 strebt für den Bereich des Zustellwesens ein "allgemeines Verfahrensgesetz" an, reicht also weit über den des zivilgerichtlichen Verfahrens hinaus. Der Verfassungsausschuß des Nationalrats - Berichterstatter Dr. Karl Reinhart - hat die Vorlage geringfügig modifiziert,132 ihren Inhalt aber auf zwei Gesetze - Zustellgesetz und Zustellrechtsanpassungsgesetz (Anpassung der Zustellvorschriften der verschiedenen Verfahrensgesetze an die Neuregelung) - aufgeteilt. Das Plenum 133 des Nationalrats hat nach kurzer Debatte die Anträge des Verfassungsausschusses einstimmig gutgeheißen. 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133

522 BlgNR IX. Sten.Prot. 98. Sitzung IX v. 14. Dezember 1961, S. 3878. Sten.Prot. 182. Sitzung v. 21. Dezember 1961, S. 4360. 663 BlgNR IX. 707 BlgNR IX. Sten.Prot. 102. Sitzung IX v. 4. Juli 1962, S. 4482. Sten.Prot. 192. Sitzung IX v. 10. Juli 1962, S. 4596. 470 BlgNR XI. 912 BlgNR XI. Sten.Prot. 103. Sitzung XI v. 19. Juli 1968, S. 8219. 162 BlgNR XV. 1050 BlgNR XV. Sten.Prot. 110. Sitzung v. 1. April 1982, S. 11229.

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Der Rechtsausschuß des Bundesrats - Berichterstatter Maria Derflinger - hat einstimmig beantragt, gegen die Gesetzesbeschlüsse des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben. 134 Das Plenum des Bundesrats hat gleichsinnig Beschluß gefaßtl 35 (Zustellgesetz, BGBl. 1992/200; Zustellrechtsanpassungsgesetz, BGBl. 1982/201).

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In all den angeführten Beispielen wurde weder im zuständigen Ausschuß noch im Plenum an der Regierungsvorlage Substantielles geändert. Das Plenum beschränkte sich in aller Regel auf eine Entgegennahme und Gutheißung des Ausschußberichts, und allfällige Wortmeldungen betonten meist die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der eingeleiteten Reform. Daraufhin wurde die Vorlage - sehr oft einstimmig - angenommen. Die Situation im Bundesrat war stets ähnlich. In der Gesetzgebung im Bereich des zivilgerichtlichen Verfahrensrechts gibt es aus der in diesem Kap. behandelten Zeitspanne nur ganz wenige Fälle einer prononcierten Mitwirkung der Organe der Bundesgesetzgebung. Beispielhaft seien herausgegriffen: 8. Es wurde schon erwähnt (Kap. IV /2 aE), daß die gestaltende Mitwirkung der Organe der Bundesgesetzgebung an den verfahrensrechtlichen Aspekten der Familienrechtsreform der 60er und 70er Jahre ein relativ geringer war. Eine Ausnahme gilt bezüglich der Reform des Ehescheidungsrechts. Das Programm der Regierungsvorlage betr. ein Bundesgesetz über die Neuordnung des gesetzlichen Erbrechts der Ehegatten und des gesetzlichen ehelichen Güterstands, 136 sowie einer weiteren Regierungsvorlage betr. ein Bundesgesetz über eine Änderung des Ehegesetzes 137 wurde im Justizausschuß des Nationalrats - Berichterstatter Lona Murawatz - u. a. durch Einführung einer vereinfachten, im außerstreitigen Verfahren durchzuführenden einvernehmlichen Scheidung (§ 55a EheG) und Einfügung der entsprechenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen (§§ 220-228 AußStrG betr. die Einvernehmliche Scheidung und §§ 229-235 AußStrG betr. die vermägensrechtliche Auseinandersetzung nach gescheiterter Ehe) wesentlich erweitert; 138 dazu gab es bereits dort eine lebhafte Debatte unter Beteiligung von Abgeordneten aller Fraktionen. Das Plenum des Nationalrats hat über den Antrag des Justizausschusses - gleichfalls nach ausführ134 135 136 137 138

2483, 2484 BlgBR. Sten.Prot. 421. Sitzung v. 22. April 1982, S. 15822. 136 BlgNR XIV. 289 BlgNR XIV. 916 BlgNR.

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licher Diskussion über den letztgenannten Punkt (§ 55a EheG samt verfahrensrechtlicher Ausgestaltung) - einstimmig Beschluß gefaßt. 139 Der Rechtsausschuß des Bundesrats - Berichterstatter Josef Czerwenka - hat beantragt, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben. 140 Der Beschluß des Bundesrats erging in diesem Sinn 141 (Bundesgesetz über Änderungen des Ehegattenerbrechts, des Ehegüterrechts und des Ehescheidungsrechts, BGBl. 1978/280). 9. Die Regierungsvorlage zum Insolvenzrechtsänderungsgesetz 1982 142 schlug eine Teilreform des Insolvenzrechts vor; dadurch sollte eine spätere Gesamtreform erleichtert, gleichzeitig aber auch die Tür zu einer Reform in Etappen offengehalten werden. Der Unterausschuß des Justizausschusses - Berichterstatter Eduard Kittl - brachte wesentliche Änderungen der Vorlage: Ausbau der Sanierungs- und Reorganisationsmöglichkeit für notleidende Unternehmen; Vorsorge für rechtzeitige Konkurseröffnung, u. a. durch Verschärfung der Haftung für verspätete Konkursanmeldung; Änderung des Organisationsrechts; Beschränkung auf den Einzelrichter in erster Instanz; Reduktion des Volumens der Masseforderungen; vor allem aber die Einführung des "klassenlosen Konkurses" durch Streichung der § 51- 52 KO. Die Vorschläge des Unterausschusses wurden vom Justizausschuß angenommen und dem Plenum zur Annahme empfohlen. 143 Die dortige Debatte berührte mehr allgemeine Probleme der Wirtschaftspolitik, ging auf die besonderen Anliegen des Gesetzes aber nur oberflächlich ein. Schließlich wurde der Entwurf einstimmig angenommen. 144 Auch die Behandlung im Bundesrat förderte keine berichtenswerten Aspekte zutage. 145 (InsolvenzrechtsänderungsG 1982 = IRÄG, BGBl 370). 10. Seit dem Ende der 60er Jahre befaßte sich eine beim BMfJustiz eingerichtete Arbeitsgruppe "Zivilverfahren" (früher "Arbeitsgruppe zur Überholung der Zivilprozeßgesetze"), unter dem Vorsitz von Univ. Prof. DDr. Hans Fasching, mit der Frage der Überholung einzelner BestimmunSten.Prot. Sitzung v. 15. Juni 1978, S. 9324. 1838 BlgBR. 141 Sten.Prot. 377. Sitzung v. 21. Juni 1978, S. 12831. 142 3 BlgNR XV, vgl. dazu Oskar Ballon, Der Entwurf des Insolvenzrechtsänderungsgesetzes 1979 - Die geplante Reform des Insolvenzrechts, JfB 1979, S. 74 ff. 143 1147 BlgNR XV. 144 Sten.Prot. 123. Sitzung XV v. 1. Juli 1982, S. 12417. 145 Bericht des Rechtsausschusses 2540 BlgBR Berichterstatter Margaretha Obenaus; Sten.Prot. 426. Sitzung v. 6. Juli 1982, S. 16141. Zur Neuregelung s. Norbert Schoibl, Das Insolvenzrecht Österreichs nach der Novelle 1982. Ein kurzer Überblick über die wichtigsten Änderungen durch das IRÄG 1982, KTS 1984, S. 215. 139 140

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gen der JN und der ZPO.146 Später haben auch die Standesvertretungen der Richter und der Rechtsanwälte Vorschläge über Änderungen des Verfahrensrechts ausgearbeitet; dazu kamen weitere Anregungen des OGH, die zu seiner Entlastung führen sollten. Die Ergebnisse aller dieser Beratungen und Vorschläge sind im wesentlichen in den im Sommer 1979 zur Begutachtung ausgesandten Entwurf einer "Zivilverfahrens-Novelle 1979" aufgenommen wurden. Aufgrund weiterer Anregungen, die das Begutachtungsverfahren ergeben hatte, und nach Einlangen schriftlicher und mündlicher Stellungnahmen aus dem Kreis der Fachvertreter an den Universitäten, wurde im April 1981 die Regierungsvorlage zu einem "Bundesgesetz, mit dem Vorschriften über das zivilgerichtliche Verfahren geändert werden (Zivilverfahrens- Novelle 1981)" eingebracht. 147,148 Hauptanliegen der Regierungsvorlage - die über das ursprüngliche Reformvorhaben schließlich weit hinausgegangen ist - war eine Vereinfachung und Straffung des Verfahrens sowie eine Erleichterung des Zugangs zum Recht1 49 und eine Verbesserung des rechtlichen Gehörs. In diesem Rahmen sollten nicht nur zahlreiche Bestimmungen der JN und der ZPO, und ihrer Einführungsgesetze, sondern auch damit zusammenhängende Bestimmungen der EO, des GOG, des OGHG, des Rechtspflegergesetztes, des Arbeitsgrichtsgesetzes, des Gerichts- und Justizverwaltungsgebührengesetzes, des Gerichtlichen Einbringungsgesetzes, des Rechtsanwaltstarifgesetzes, des Todeserklärungsgesetzes, des KSchG, des Mietrechtsgesetzes und des ASVG abgeändert werden. Gleichzeitig sollte eine erste Etappe der Reform des Internationalen Zivilverfahrensrechts vorgenommen werden. 146 Zur Grundsatzdiskussion über die Angebrachtheit einer Reform s. Hans Schima, Gedanken zu einer Überholung der ZPO, JBl 1960, S. 321 (vorsichtig positiv); Franz Novak, Österreichs große Rechtsreform, (Anm. 4), S. 171 (eher ablehnend). 147 669 BlgNR XV. 148 Zur reichhaltigen Literatur, die vom Reformvorhaben ausgelöst wurde, vgl. etwa Walter Schragel, Reform der Zivilprozeßgesetze, ÖRZ 1976, S. 229; Gerhard Kalmus, Welche Reformen der Zivilprozeßgesetze brauchen wir?, ÖRZ 1978, S. 181; Walter Rechberger, Pro futura? - Die Regierungsvorlage einer "ZivilverfahrensNovelle 1981", ÖNZ 1981, S. 145; Hans Fasching, Die Zivilverfahrensnovelle 1981 - Schwerpunkte der Neuregelung des streitigen Verfahrens (anhand der Regierungsvorlage), JBl 1982, S.68; Rainer Sprung (Anm. 8) S.337; Bernhard König, Bemerkungen zur Regierungsvorlage einer Zivilverfahrens-Novelle, JB11982, S. 406. 149 Seit den 70er Jahren ist es zur Mode geworden, alle Reformen im verf~r$­ rechtlichen Bereich unter das Motto des "erleichterten", "vereinfachten", ,;verbesserten" Zugangs zum Recht zu stellen bzw. als Reformziele eine "bürgernahe Justiz", eine "Justiz mit menschlichem Antlitz" anzugeben. Zahlreiche Tagungen waren nach diesem Leitmotiv ausgerichtet; vgl. etwa Verbesserter Zugang zum Recht Richterwoche 1979 Badgastein, Hrsg. BMfJustiz; Verbesserter Zugang zum Recht, Enquete 23.1.1978, Hrsg. BMfJustiz 1978; Bezauer Tage, J'l'ßtiz für den Bürger Rascher, Verständlicher und Menschlicher, Schriftenreihe BMfJustiz Bd. 22; s. ferner Oskar Ballon, Zugang zum Recht - Bürokratieprobleme im Zivilprozeß, Stb 1982, S.23. zum (relativ geringen) Aussagewert des Leitmotivs, Franz Matscher, in: Verbesserter Zugang zum Recht, Richterwoche 1979, S. 79 ff.

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Der Justizausschuß - Berichterstatter Dr. RudolJ Fertl - hat sich mit der Vorlage erstmalig ab 27. Jänner 1982 befaßt und beschlossen, zu ihrer weiteren Behandlung einen Unterausschuß einzusetzen. Dieser hat insgesamt 14 Arbeitssitzungen abgehalten und auch eine Reihe von Experten angehört. Im Zusammenhang mit der geplanten Änderung umstrittener international-zivilverfahrensrechtlicher Bestimmungen haben auch noch Expertengespräche mit einzelnen Universitätsprofessoren stattgefunden. Die Regierungsvorlage hat im Unterausschuß wesentliche Veränderungen erfahren (Einschränkung der Anwendbarkeit des Mahnverfahrens und Entfall der [nochmaligen] Zustellung des rechtskräftig gewordenen Zahlungsbefehls [damit auch Entfall des dagegen vorgesehen gewesenen Widerspruchs]; Abschaffung des Bagatellverfahrens; Verzicht auf eine schriftliche Vollmacht von Rechtsanwälten und Notaren; Wegfall des vorbereitenden Verfahrens; generelle Verlängerung ,der Rechtsmittelfristen im streitigen Zivilprozeß auf vier Wochen; Neuregelung der Revisionszulässigkeit durch Einführung der Zulassungsrevision; Einführung des Begriffs der außerordentlichen Revision ohne aufschiebende Wirkung, Anpassung der Zulässigkeit des Rekurses an den OGH an die der Revision usw.). Der Bericht des Unterausschusses - einschließlich zweier gemeinsamer Abänderungsanträge sowie eines gemeinsamen Entschließungsantrags (Anregung zur Vorbereitung einer Änderung des Gerichts- und Justizverwaltungsgebührengesetzes [so a. zu Anm. 189] der Abgeordneten Dr. Walter Hauser, Dr. Norbert Steger und Eduard Kittl), ist am 3. Dezember vom Justizausschuß nach einer kurzen Debatte - nunmehr mit der Bezeichnung "ZivilverJahrens-Novelle 1983" - einstimmig angenommen worden. 150 Es bestand ferner Konsens darüber, daß auch das Plenum dem Entwurf in der Fassung des Berichts des Justizausschusses seine Zustimmung erteilen würde. Die Vorlage hätte also noch vor Jahresende abschließend behandelt werden können. Da zu jener Zeit aber gerade die Budgetdebatte im Gange war, und ein Reformwerk vom Ausmaß und der Tragweite der ZPO-Novelle - es handelte sich um die umfassendste Umarbeitung der ZPO seit ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 1898 - in "feierlicher Form" verabschiedet werden sollte, wurde die Schlußdebatte auf den 2. Februar 1983 verlegt. Damit wiederholte sich ein Vorgang, der sich in ähnlicher Weise bereits bei der Verabschiedung der Zivilprozeßgesetze 1895 zugetragen hatte (s. Anm. 31). Bei dieser Sitzung - sie hatte mehr den Charakter einer "Feierstunde" - wurde die Vorlage in der Fassung des Berichts des Justizausschusses, einschließlich des Entschließungsantrags und eines über Anregung des Justizministeriums von den Abgeordneten Eduard Kittl, Dr. Walter Hauser, Dr. Norbert Steger und Genossen eingebrachten Abände150

1337 BlgNR XV.

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rungsantrag (es betraf geringfügige Korrekturen) einstimmig angenommen. Die Diskussionsrechner aller drei Parteien lobten das vollbrachte Werk und dankten den Beamten des Justizministeriums - namentlich SChef Hon. Prof. Dr. Roland Loewe und MRat Dr. Peter Reindl und deren Mitarbeitern - sowie den an der Ausarbeitung der Novelle beteiligten Experten. 151 Am 24. Februar 1983 beschloß der Bundesrat einstimmig i. S. des Berichts des Rechtsausschusses - Berichterstatter Maria Derflinger 152 gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben 153 (BGBl. 1983/135). Das Reformwerk hat in der Literatur einen breiten Niederschlag gefunden. 154 11. Gleichzeitig mit der Zivilverfahrens-Novelle 1983 wurde auch das

Gesetz über die Sachwalterschaft für behinderte Personen, welches eine

Neugestaltung des materiellen Entmündigungsrechts und der entsprechenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen (§§ 236-252 neu AußStrG) brachte, verabschiedet. Hier wiederum wurden an der Regierungsvorlage 155 vom Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Reimar Gradischnik - nur relativ geringfügige Änderungen vorgenommen. 156 Der Nationalrat hat in seiner Sitzung vom 2. Februar 1983 den Bericht des Justizausschusses einstimmig angenommen. 157 Der Bundesrat hat i. S. des Berichts des Rechtsausschusses - Berichterstatter auch hier Maria Derflinger 158 - ebenfalls einstimmig beschlossen, keinen Einspruch zu erheben 159 (BGBl. 1983/136). Die Regierungsvorlage betreffend das Bundesgesetz über die Rechtsvorsorge für psychisch Kranke in Krankenanstalten,160 mit welchem das 151 Sten.Prot. 144. Sitzung XV v. 2. Februar 1983, S. 14782. 152 2660 BlgBR. 153 Sten.Prot. 432. Sitzung v. 24. Februar 1983, S. 16669. 154 Vgl. etwa Karl-Heinz Petrag, Überblick über die ZVN 1983, RZ 1983, S. 105; Ekkehard Scharlieh, Überblick über die Zivilverfahrensnovelle 1983, ÖJZ 1983, S.253, 287; Peter Angst, Exekutionsrechtliche Bestimmungen in der Zivilverfahrens-Novelle 1983, RZ 1983, S. 130; Ewald Maurer, ZPO-Novelle 83 aus der Sicht eines Familienrichters, RZ 1984, S. 138; Herbert Pimmer, Zur Anwendung der Zivilverfahrens-Novelle 1983 in der Praxis der Gerichte erster und zweiter Instanz, AnwBl 1984, S.464; Robert Rucik, Die Zuständigkeit nach der ZivilverfahrensNovelle 1983, RZ 1985, S. 206, 234, 258; Franz Petrasch, Die Zivilverfahrens-Novelle 1983 in der Rechtsprechung des OGH, ÖJZ 1985, S. 257; Oskar Ballon, Das neue österreichische Zivilprozeßrecht - eine Novelle zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, DRiZ 1984, S. 301; ders., Die Novellierungen des Zivilprozeßrechts - verbesserter Zugang zum Recht?, FS Kralik, Wien 1986, S. 37; Neuerungen im zivilgerichtlichen Verfahrensrecht, Richterwoche 1983 Badgastein, Schriftenreihe BMfJustiz, Bd. 18, 1984. 155 742 BlgNR XV. 156 1420 BlgNR XV. 157 Sten.Prot. 144. Sitzung XV v. 2. Februar 1983, S. 14782. 158 2661 BlgBR. 159 Sten.Prot. 432. Sitzung v. 24. Februar 1983, S. 16669.

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Anhaltungsverfahren neu geregelt werden sollte, konnte in der xv. Legislaturperiode nicht mehr weiter behandelt werden. (s. Kap. V / 6).

V. Die Entwicklung des zivilprozessualen Verfahrensrechts seit der Zivilverfahrens-Novelle 1983 1. Auch nach 1983 sind die Gesetzgebungsaktivitäten im Bereich des zivilgerichtlichen Verfahrensrechts nicht abgerissen. Vielfach handelte es sich dabei allerdings um kleinere Anpassungen, die durch Gesetzesänderungen in anderen Bereichen erforderlich geworden waren, um organisationsrechtliche Vorschriften, oder um mit geringen Adaptierungen versehene Neufassungen bestehender Gesetze [so z. B. das Rechtspflegergesetz (RpflG) 1985, BGBl. 560, welches das RechtspflegerG 1962, BGBl. 180, ersetzt hat, oder die Wiederverlautbarung des LohnpfändungsG 1955, BGBl. 51, als Lohnpfändungsgesetz 1985 (LPfG), BGBl. 450].

Es gab darunter aber auch einige Reformvorhaben, die tiefer in das Gefüge des österreichischen Zivilverfahrensrechts eingegriffen haben und an deren Zustandekommen der Nationalrat auch materiell wesentlich beteiligt war. Nur diese sollen - auch i. S. der Zielsetzungen der vorliegenden Untersuchung - herausgegriffen werden. 2. Bald nach Beginn der XVI. Gesetzgebungsperiode brachte die Regierung die Vorlage eines Bundesgesetzes über Änderungen des Personen-, Ehe- und Kindschaftsrechts ein; 161 diese beschränkte sich auf eine N euregelung einzelner - gewiß wichtiger - Teile des materiellen Familienrechts, ließ das Eheverfahrensrecht im wesentlichen aber unberührt. Der Justizausschuß setzte einen Unterausschuß ein, der das Vorhaben der Regierungsvorlage auf das Eheverfahrensrecht ausdehnte, mit dem Ziel, die verstreut liegenden Regelungen der geltenden Vorschriften zusammenzufassen, das bisher als besondere Verfahrensart geltende Eheverfahren mit gewissen Sonderregelungen - in das ordentliche bezirksgerichtliche Verfahren einzugliedern, es dabei insbes. der ZVN 1983 anzupassen und es auch systematisch in die ZPO einzufügen - Berichterstatter Edith Dobesberger. 162 Im Plenum des Nationalrats erläuterte - neben dem Berichterstatterder an der Erweiterung des Programms der Regierungsvorlage maßgeblich beteiligte Abgeordnete Dr. Michael Gra!! die Initiative des Justizausschusses; dabei deutete er die Notwendigkeit einer Reform auch der Zuständig160 161 162

1022 BlgNR XV. 3 BlgNR XV. 78 BlgNR XVI.

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keitsregelungen an (s. seinen inzwischen eingebrachten Initiativantrag, zu Anm. 166). Die Vorschläge des Justizausschusses wurden durchaus positiv bewertet - der Abgeordnete Dr. Norbert Gugerbauer bezeichnete sie als einen "ganz wesentlichen Beitrag zur Rechtsbereinigung" - und mit einer geringfügigen Änderung bezüglich des Inkrafttretens einstimmig angenommen. 163 Der Bundesrat beschloß, i. S. des Antrags des Rechtsausschusses Berichterstatter Maria Derflinger 164 - gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben 165 (BGBL 1983/566). Auf einen Initiativantrag des Abgeordneten Dr. Michael Graff und Genossen vom 19. Oktober 1983 166 geht die Rückführung der Zuständigkeit in sämtlichen Familienrechtssachen auf alle Bezirksgerichte zurück. Die durch das Familienrechtsänderungsgesetz, BGBL 1978/280, getroffene Regelung, welche "Familienrechtliche Abteilungen" lediglich bei den Bezirksgerichten am Sitz einer Bezirksverwaltungsbehärde ("Schwerpunktbezirksgerichte") vorsah, hatte sich - entgegen der in sie gestellten Erwartungen - nämlich nicht bewährt. Der Initiativantrag wurde zunächst einem Unterausschuß zugewiesen und hat anschließend im Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Wendelin Ettmayer - wesentliche Änderungen erfahren. Bericht und Antrag des Justizausschusses 167 wurden im Plenum des Nationalrats gemeinsam mit dem Entwurf betr. das ASGG (darüber s. den folgenden Pkt. 5) behandelt und einstimmig verabschiedet. 168 Im Sinne des Vorschlags des Rechtsausschusses - Berichterstatter Kurt Heller 169 - beschloß der Bundesrat, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben 170 (BGBL 1985/70). 3. Ein weiterer Initiativantrag des Abgeordneten Dr. Michael Graf! und Genossen vom 28. Juni 1984,171 der - in Fortsetzung der durch die ZVN 1983 eingeleiteten Entwicklung - auf die Novellierung einzelner Bestimmungen der ZPO und der EO tendierte, wurde in der Folge zur Zivilverfahrensnovelle 1986 (BGBL 71).

Sten.Prot. 20. Sitzung v. 11. November 1983, S. 1630. 2764 BIgBR. 165 Sten.Prot. 439. Sitzung v. 11{" November 1985, S. 17176. 166 58 / A, BIgNR XVI. 167 528 BlgNR XVI. 168 Sten.Prot. 75. Sitzung v. 21. Jänner 1985, S. 6783. 169 2941 BigBR. 170 Sten.Prot. 456. Sitzung v. 31. Jänner 1985, S. 18484. 171 105/ A BIgNR XVI. 163

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Der Initiativantrag hat im Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Alois Paulitsch - einige Erweiterungen erfahren. 172 Das Plenum des Nationalrats hat Bericht und Antrag des Justizausschusses einstimmig angenommen. 173 Der Bundesrat beschloß - im Sinne des Antrags des Rechtsausschusses - Berichterstatter Karl Stoiser 174 - gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einwand zu erheben. 175 Schon seit längerer Zeit wurde das Bedürfnis fühlbar, die in den Zivilprozeßgesetzen festgelegten Wertgrenzen anzuheben, gleichfalls die durch die Zivilverfahrens-Novelle 1983 eingeleitete Reform weiterzuführen und einige ihrer gravierendsten Mängel - sie betrafen v. a. die äußerst komplexe Regelung des Rechtszugs an den OGH - auszumerzen. Aus den recht bescheidenen Ansätzen einer Regierungsvorlage 176 wurde im Zuge der parlamentarischen Behandlung eine weitreichendere Reform des Zivilverfahrensrechts; deren wesentlichste Elemente sind: die Aufwertung der Bezirksgerichte durch etappenweise Erhöhung der Wertzuständigkeit (ab 1. Juli 1993: S 100.000), die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens durch die Einführung der gekürzten Urteilsausfertigung, des Protokollvermerks, der vereinfachten Begründung der Rechtsmittelentscheidungen, der Berufungsanmeldung; weiters durch die Einführung des - wie die Praxis bald gezeigt hat - effizienten Instituts des Fristsetzungsantrags (§ 91 GOG); 177 die Vereinfachung (durch Straffung) des Zugangs zum OGH (soweit nicht überhaupt unzulässig, i. P. Verallgemeinerung des Modells der Zulassungs- / Grundsatzrevision bzw. des Zulassungs- / Grundsatzrevisionsrekurses, auch für das Außerstreitverfahren); der weitere Ausbau der Verwendung von EDV. Die Regierungsvorlage wurde im Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Kurt Preiß178 - wesentlich ausgebaut und angereichert und hat noch im Plenum eine Erweiterung erfahren. Nach einer lebhaften Debatte, an der sich Abgeordnete aller Fraktionen beteiligt haben, hat der Nationalrat über Vorlage und Änderungsanträge mehrheitlich Beschluß gefaßt. 179 798 BIgNR XVI. Sten.Prot. 126. Sitzung v. 24. Jänner 1986, S. 11237. 174 3075 BlgBR. 175 Sten.Prot. 471. Sitzung v. 31. Jänner 1986, S. 19610. 176 888 BIgNR XVII; dazu Heinz Barazon, Gedanken zum Entwurf einer erweiterten Wertgrenzennovelle 1989, AnWBI 1989, S. 171. 177 Vgl. dazu Norbert Schoibl, Der Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG eine Maßnahme zur Beschleunigung des Gerichtsverfahrens?, JBl1991, S. 14. 178 991 BIgNR XVII. 179 Sten.Prot. 110. Sitzung v. 29. Juni 1989, S. 13144. 172 173

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Der Bundesrat hat, i. S. des Antrags des Rechtsausschusses - Berichterstatter Mag. Alexander Kulmann 180 - beschlossen, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben. 181 Er wurde als Erweiterte Wertgrenzennovelle 1989 (WGN 1989) kundgemacht (BGBl. 343). Diese stellt die umfassendste ZPO-Reform seit der ZVN 1983 dar; trotz zum Teil kritischer Stimmen in der Literatur,182 scheint sie sich in der Praxis im wesentlichen bewährt zu haben. Die WGN 1989 hatte die Anrufbarkeit des OGH neu geregelt und vereinfacht. Was das außerstreitige Verfahren anbelangt, wurde im Hinblick auf die Vielfalt der einschlägigen Regelungen durch Art XLI Z 4 WGN ein Vorbehalt zugunsten sondergesetzlich vorgeschriebener Abweichungen gemacht. Eine Sichtung des betreffenden Normenmaterials durch das BMfJustiz hat allerdings ergeben, daß relativ wenige Gesetzesänderungen genügen, um die angestrebte Vereinheitlichung auch dort rasch herbeizuführen. Dieses Anliegens nahm sich ein Initiativantrag der Abgeordneten Dr.

Michael Graffund Dr. Jose! Reider und Genossen an. 183 Der Justizausschuß - Berichterstatter Karl Vonwald - hat das Vorhaben des Initiativantrags

erweitert und umgestellt; 184 das Plenum des Nationalrats hat im Sinne des modifizierten Berichts des Justizausschusses einstimmig Beschluß gefaßt. 185 Der Bundesrat hat - gemäß Antrag des Rechtsausschusses - Berichterstatter Hedda Kainz 186 - gleichfalls einstimmig beschlossen, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben. 187 Das Revisionsrekurs- Anpassungsgesetz (RRAG) BGBl. 1989/654, konnte somit - gemeinsam mit der WGN 1989 - am 1. Jänner 1990 in Kraft treten. 188 180 3719 BlgBR. 181 Sten.Prot. 518. Sitzung v. 4. Juli 1989, S. 23329. 182 Klaus HoJfmann, Wertgrenzen-Novelle Die Realität (28.12.1988 bis 26.5.1989), AnwBl 1989, S. 308; Wolf-Dieter Arnold, Gerichtsgebührenrechtliche Überlegungen zur Erweiterten Wertgrenzen-Novelle 1989, AnwBl 1989, S. 523; Wolfgang Kossak, Die Teilentmündigung der Oberlandesgerichte durch die erweiterte Wertgrenzennovelle 1989, RZ 1989, S. 178, 204; Viktor Steininger, Die Problematik der neuen "nichtbindenden Unzulässigkeit" der Anrufung des Höchstgerichts (§ 500 Abs. 2 Z 1 und 2, Abs. 3 Satz 2 iVm § 526 Abs. 3 ZPO), RZ 1989, S. 236, 258; Oskar Hull, Ungeplante Änderung von Rechtsnormen? Drei Beispiele aus der WGN 1989, RZ 1991, S. 134; Friedrich Kuderna, Auswirkungen der Erweiterten Wertgrenzen-Novelle 1989 auf das Verfahren in Arbeits- und Sozialrechtssachen, DRdA 1991, S.89; Michael GraJf, Die erweitere Wertgrenzen-Novelle 1989 - ein wichtiger Schritt zur Verfahrensreform, AnwBl 1989, S. 307; Franz Petrasch, Der Weg zum Obersten Gerichtshof nach der Erweiterten Wertgrenzennovelle 1989, ÖJZ 1989, S.743. 183 301/ A XVII. 184 1116 XVII. 185 Sten.Prot. 125. Sitzung v. 13. Dezember 1989, S. 14870. 186 3778 BlgBR. 187 Sten.Prot. 523. Sitzung v. 15. Dezember 1989, S. 23639.

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4. Mit Entschließung vom 2. Februar 1983 189 hatte der Nationalrat die Bundesregierung ersucht, eine Regierungsvorlage über eine Änderung des Justizgebührengesetzes vorzubereiten, die v. a. auf eine Vereinfachung und Rationalisierung (Phasenpauschalierung) des Justizgebührenwesens abzielen sollte. Diesem Ersuchen wurde im Jahre 1985 entsprochen. 190 Die wesentlichsten Punkte der vorgeschlagenen Neuregelungen waren: im Zivilprozeß ein einziger Gebührensatz für jede Instanz, in der Exekution für alle Instanzen; Abschaffung der Protokollgebühr, Gebührenfreiheit in Vormundschafts-, Sachwalterschafts- und Pflegschaftssachen; feste Gebühr für Konkurs- und Ausgleichssachen. Die Regierungsvorlage wurde im Justizausschuß - Berichterstatter Günter Dietrich - geringfügig erweitert. 191 Das Plenum des Nationalrats hat, nach Feststellung, daß den Zielvorgaben des Entschließungsantrags entsprochen worden war, einstimmig Beschluß gefaßt. 192 Der Bundesrat hat, i. S. des Antrags des Rechtsausschusses - Berichterstatter Kurt Heller 193 - beschlossen, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben 194 [als Gerichtsgebührengesetz (GGG), BGBl. 1984/501, kundgemacht]. Die Neuregelung brachte eine v. a. von der Praxis begrüßte Vereinfachung des in seiner Handhabung umständlichen und zeitaufwendigen Gerichtsgebührenwesens. 5. Bereits auf die 50er Jahre gehen die Bestrebungen - v. a. der Sozialpartner, und hier wiederum i. e. L. der Arbeitnehmerseite - zurück, die Arbeitsgerichtsbarkeit, die Schiedsgerichtsbarkeit der Sozialversicherung und die rechtsprechende Tätigkeit der Einigungsämter zusammenzufassen und in die ordentliche Zivilgerichtsbarkeit einzugliedern. Neben diesem systematischen Aspekt stand als Leitlinie der Reform das Ziel, den "Zugang zum Recht" gerade in diesem sozialpolitisch so eminent wichtigen Bereich zu verbessern. Einer Enquete vom 6. April 1981 folgten intensive Gespräche zwischen den Sozialpartnern und eine ergebnisreiche Begutachtung des Ministerialentwurfs. 195

188 S. dazu Winjried Kralik, Der Zugang zum OGH im Außerstreitverfahren, JBl 1991, S. 283. 189 E 105 - NR XV (s. a. vor Anm. 150). 190 366 BlgNR XVI. 191 454 BlgNR XVI. 192 Sten.Prot. 66. Sitzung v. 27. November 1984, S. 5714. 193 2900 BlgBR. 194 Sten.Prot. 154. Sitzung v. 5. Dezember 1984, S. 18222.

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In der zu Beginn der XVI. Gesetzgebungsperiode eingebrachten Regierungsvorlage betreffend ein Bundesgesetz über die Sozialgerichtsbarkeit (SozialgerichtsbarkeitsG) 196 konnten auch die Neuerungen der inzwischen beschlossenen Zivilverfahrens-Novelle 1983 berücksichtigt werden. Der Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Helga Hieden - setzte einen Unterausschuß ein, der in 12 Sitzungen an der Regierungsvorlage zahlreiche Änderungen vornahm, dabei u. a. auch den Titel des Gesetzentwurfs auf Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz (ASGG) erweiterte. Der Justizausschuß nahm auch einen gemeinsamen Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Reimar Gradischnik und Mag. Hilmar Kabas an. 197 Die strittigen Punkte, welche nach einer ausführlichen Debatte im Plenum - ebenso wie vorher im Justizausschuß - nur zu einer mehrstimmigen Beschlußfassung (allein durch die Abgeordneten der Regierungsparteien SPÖ und FPÖ) führten, waren v. a. die vorgeschlagene Zuständigkeit der Landes- und Kreisgerichte (anstelle der bisher an den Bezirksgerichten eingerichteten Arbeitsgerichte), die Zusammenlegung der Arbeits- und Sozialrechtssachen, die unzureichende Berücksichtigung der Besonderheiten des Sozialrechts, die Gefahr von Verfahrensverzögerung, sowie Bedenken darüber, ob die in Aussicht genommene Regelung tatsächlich zu einer Erleichterung des Zugangs zum Recht führen würde. Die Argumente der Opposition (ÖVP) wurden hauptsächlich von den Abgeordneten Dr. Michael Graf! und Dr. Herbert Kohlmaier vorgebracht. 198 Der Rechtsausschuß des Bundesrats - Berichterstatter Emmy Göber 199 - beantragte die Erhebung eines Einspruchs, im wesentlichen aus den Gründen, die auch im Nationalrat nur zu einer mehrheitlichen Annahme des Entwurfs geführt hatten; das Plenum 200 hat mehrheitlich i. S. dieses Antrags beschlossen. 201 Der Justizausschuß des Nationalrats - Berichterstatter erneut Dr. Helga Hieden - beschloß mehrheitlich, einen Beharrungsbeschluß zu empfehlen. 202 In der darauf folgenden Sitzung des Plenums erläuterten mehrere Abgeordnete der Opposition erneut die Gründe, welche sie bewogen hatten, 195 Sozialgerichtsbarkeit Teil I Enquete, Schriftenreihe BMfJustiz 1981; s. a. Neuordnung der Sozialgerichtsbarkeit, Richterwoche 1981 Badgastein, Schriftenreihe BMfJustiz, Bd. 6, 1982. 196 7 BlgNR XVI. 197 527 BlgNR XVI. 198 Sten.Prot. 75. Sitzung v. 23. Jänner 1985, S. 6783. 199 2940 BlgBR. 200 Sten.Prot. 456. Sitzung v. 31. Jänner 1985, S. 18482. 201 Einspruch des Bundesrates in 547 BlgNR XVI. 202 559 BlgNR XVI.

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dem Gesetzesbeschluß bereits in der ersten Runde die Zustimmung zu versagen und aus denen sie sich auch gegen einen Beharrungsbeschluß aussprechen würden. Schließlich wurde dieser mehrheitlich gefaßt 203 (BGBL 1985/104). 6. Daß das Anhaltungsverfahren in der XV. Gesetzgebungsperiode nicht mehr behandelt werden konnte, wurde bereits oben (Kap. V /10 a. E.) erwähnt. Bald nach Beginn der XVI. Gesetzgebungsperiode wurde die alte Vorlage erneut eingebracht; 204 auch sie blieb aus Zeitgründen - und weil die beabsichtigte Neuregelung anscheinend doch tieferer Überlegungen bedurfte - unerledigt. Das Thema wurde allerdings in Enqueten und im Schrifttum 205 eingehend diskutiert und es gab im Nationalrat mehrere Anfragen nach dem Stand der Behandlung des Vorhabens. Erst in, der folgenden Gesetzgebungsperiode wurde ein neuer, den inzwischen gewonnenen medizinischen und sozialpolitischen Erkenntnissen und den in anderen Ländern gemachten Erfahrungen Rechnung tragende Vorlage eingebracht. 206 Der Justizausschuß - Berichterstatter Dr. Kurt Preiß - setzte einen Unterausschuß ein, der in 11 Sitzungen, unter Beziehung von Experten und Berücksichtigung eines umfassenden Abänderungsantrags der Abgeordneten Dr. Reimar Gradischnik, Dr. Michael Gratt und Dr. Harald Dfner, dem Plenum einen geänderten Entwurf präsentierte. 207 Das Plenum des Nationalrats behandelte Bericht und Antrag gemeinsam mit den Entwürfen von Bundesgesetzen betr. das Vereinssachwalter- und Patientenanwaltsgesetz (BGBL 1990/156), und betr. Anpassung des Krankenanstaltsgesetzes (BGBL 1990/157). Nach einer lebhaften Debatte, die sich allerdings mehr am Randproblem der Finanzierung der Tätigkeit der Sachverwalter und Patientenanwälte entzündete, wurde das Gesetz mehrheitlich verabschiedet. 208 Bald darauf beschloß der Bundesrat einstimmig, i. S. des Antrags des Rechtsausschusses - Berichterstatter Mag. Herbert Bösch 209 - gegen den Sten.Prot. 83. Sitzung v. 7. März 1985, S, 7390, 4 BlgNR XVl. 205 S. etwa Reform der Entmündigungsordnung, Enquete 1978, BMfJustiz 1979; Reform der Entmündigungsordnung - Rechtliche Vorsorge für geistig und psychisch Behinderte, Österr. Juristenkommission, Tagung in Weißenbach / Attersee, Juni 1981 (Schriftenreihe des BMfJustiz 1982). 206 464 BlgNR XVII. 207 1202 BlgNR XVII. 208 Sten.Prot. 132. Sitzung v. 1. März 1990, S. 15589. 209 3820 BlgBR. 203

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Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben 210 [Unterbringungsgesetz (UbG), BGBL 1990/155]. 7. Umfassende Reformen des Verfahrens außer Streitsachen und des Rechts der Zwangsvollstreckung wurden schon vor vielen Jahren angepeilt, zum Teil auch in Regierungsprogrammen, Arbeitsübereinkommen und in Minister-Erklärungen angekündigt. Was das erstere anbelangt, haben sie auch bereits zu eingehenden Vorarbeiten geführt. 211 Verwirklicht wurden davon allerdings nur Reformen in Teilbereichen, Materien betreffend, die zwar im außerstreitigen Verfahren zu behandeln sind, deren Regelung sich aber nicht im AußStrG findet; s. z. B. § 26 Abs.2 Wohnungseigentumsgesetz 1975 (WEG 1975), BGBL Nr. 417; § 22 Abs. 4 Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG), BGBL 1979/ 139; § 37 Abs. 3 Mietrechtsgestz (MRG) BGBL 1981/520 (an der Gestaltung der entsprechenden verfahrensrechtlichen Regelungen hatte das Parlament nur geringen Anteil), oder, aus jüngster Zeit, das Firmenbuchgesetz 1991, das auf einen, auf einem Ministerialentwurf 1990 eines Unternehmerbuchgesetzes basierenden Initiativantrag der Abgeordneten Dr. Michael Graff und Dr. Willi Fuhrmann und Genossen vom 22. November 1990 212 aufbaut. Das Firmenbuch sollte das alte Handels- und Genossenschaftsregister ersetzen und - ähnlich dem Grundbuchgesetz (GBG) 1955, BGBL Nr. 39, und dem Grundbuchumstellungsgesetz (GUG), BGBL 1980/550 - auf EDV umstellen, damit gleichzeitig auch eine größere Effizienz im Gerichtsbetrieb gewährleisten; angestrebt wurde ferner eine weitestgehende Rechtsbereinigung und eine Angleichung an die einschlägigen EG-Richtlinien. Der oben erwähnte Ministerialentwurf konnte seinerzeit auf Vorarbeiten einer im Jahr 1987 im BMfJustiz eingesetzten Arbeitsgruppe "ADV-Handelsregister (ADVH)" - und einer im Ludwig Boltzmann-Institut für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen konstituierten Arbeitsgruppe "Handelsregisterrecht" 213 zurückgreifen. Sten.Prot. 526. Sitzung v. 8. März 1990, S. 23806. Bezauer Tage. Außerstreitseminar 1982 (Schriftenreihe des BMfJustiz, Bd. 9, 1983); Grundlegende Neuerungen im Außerstreitverfahren - Dokumentation einer Tagung der Gesellschaft zum Studium und zur Erneuerung der Rechtsordnung, mit Beiträgen von Hans Dolinar, Oskar Edlbacher, Hans Fasching, Wolfgang Jelinek, Winfried Kralik, Walter Rechberger, Peter Reindl, Christoph Schwaighofer, in: Winfried Kralik und Robert Walter (Hrsg.), Veröff. des Ludwig Boltzmann-Institutes für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen, Bd. IV, Wien 1986; Vorschläge zur Reform des Außerstreitverfahrens, mit Beiträgen von Oskar Ballon, Robert Fucik, Andreas Konecnz, Michael Schaden, in: Winfried Kralikund Walter Rechberger (Hrsg.), Veröff. des Ludwig Boltzmann-Institutes für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen, Bd. IV, Wien 1987; Entwurf eines Außerstreitgesetzes; mit Anmerkungen von Winfried Kralik, in: Winfried Kralik und Walter Rechberger (Hrsg.), Veröff. des Ludwig Boltzmann-Institutes für Rechtsvorsorge und Urkundenwesens, Bd. VIII, Wien 1988. 212 9/ A XVIII. 210

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Der Initiativantrag wurde im Justizausschuß - Berichterstatter Annemarie Reitsamer - ausführlich erläutert, diskutiert und weiter ausgebaut; in dessen Bericht2 14 flossen auch die Ergebnisse eines vom Ausschuß mit Vertretern von Abgeordneten aller Fraktionen, von Ministerialbeamten und von Praktikern am 26. November 1990 durchgeführten Hearings ein. Das Plenum des Nationalrats beschloß am 13. Dezember 1990 einstimmig i. S. des Antrags des Justizausschusses. 215 Der Bundesrat - Berichterstatter im Rechtsausschuß Hedda Kainz 216 beschloß, gleichfalls nach eingehender Debatte, am 21. Dezember 1990 einstimmig, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben. 217 So konnte das Gesetz schon am 1. Jänner 1991 - gemeinsam mit dem bereits am 25. April 1990 beschlossenen Erwerbsgesellschaftengesetz (EEG), BGBl. Nr. 257 - z. T. rückwirkend - in Kraft treten, obwohl es erst im BGBl. v. 11. Jänner 1991, Nr. 10 veröffentlicht worden war (Firmenbuchgesetz = FBG). Bei der einmaligen Eile, mit der dieses Gesetzesvorhaben "durchgepeitscht" wurde (4 Wochen von der Einbringung des Initiativantrags bis zur letzten Beschlußfassung im Bundesrat!) verwundert es nicht, daß es gewisse Ungereimtheiten aufweist. Insgesamt 218 wurde es aber in der bereits reichhaltig zu ihm erschienenen Literatur begrüßt. 8. Zur geplanten umfassenden Reform des Rechts der Zwangsvollstrekkung ist es bislang nicht gekommen. Zu einer Änderung wesentlicher Teilbereiche - so v. a. des Lohnpfändungsrechts - führte aber die Exekutionsordnungs-Novelle 1991 (EO-Nov. 1991), BGBl. Nr. 628. Das Reformvorhaben geht über die in den Vordergrund gestellten Ziele, nämlich der Beseitigung der Rechtszersplitterung und der Unübersichtlichkeit der geltenden Regelungen, einer damit verbundenen Verbesserung der Handhabung des Rechts und einer Vereinfachung des Verfahrens, weit hinaus; es verfolgt nämlich auch das rechtspolitische Ziel, die Ergiebigkeit und die Attraktivität der Lohnpfändung - trotz einer den heutigen Lebenshaltungskosten angepaßten Erhöhung des unpfändbaren Arbeitseinkommens - zu erhöhen und den Schwerpunkt der Vollstreckungen von der 213 Reformvorschläge für ein ADV-Handelsregister, mit einem Beitrag von Christian Zib, in: Winjried Kralik und Walter Rechberger (Hrsg.) Veröff. des Ludwig Boltzmann-Institutes für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen, Bd. IX, Wien 1990. 214 BlgNr XVIII. 215 Sten.Prot. 5. Sitzung XVIII, S. 300. 216 4004 BlgBR. 217 Sten.Prot. 535. Sitzung, S. 24592. 218 Nachweise bei Norbert Schoibl und Michael Gruber, Miszellen zum Firmenbuchgesetz 1991, WBl 1991, S. 109.

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unwirtschaftlichen Fahrnispfändung zur Einkommenspfändung zu verlagern,219 womit auch der Realität der sozialen Entwicklung der heutigen Gesellschaft Rechnung getragen wird. Diesen Zielvorstellungen entsprechend, wurde das Vorhaben der Regierungsvorlage 220 durch einen Initiativantrag der Abgeordneten Dr. Heide Schmidt, Dr. Harald Dfner und Genossen 221 betr. eine Änderung des Lohnpfändungsgesetzes 1985 wesentlich erweitert. Der Justizausschuß Berichterstatter Karl Vonwald - hat beide Vorlagen in gemeinsame Verhandlung genommen und unter Berücksichtigung eines umfangreichen Abänderungsantrags der Abgeordneten Dr. Michael Graft, Dr. Elisabeth Hlavac und Dr. Heide Schmidt, nach eingehender Debatte über die sozialpolitischen Aspekte des Vorhabens, mehrheitlich Beschluß gefaßt;222 hingegen fand ein (dem Bericht des Justizausschusses angeschlossener) von der Abgeordneten Terezija Stoisits eingebrachter Abänderungsantrag, der v. a. auf eine (weitere) Erhöhung der Unpfändbarkeitsgrenzen tendierte, im Justizausschuß keine Mehrheit. Das Plenum des Nationalrats hat, nach eingehender Debatte über die sozialpolitischen Aspekte des Vorhabens, über den Antrag des Justizausschusses einstimmig beschlossen. 223 Daraufhin beschloß der Bundesrat Berichterstatter Erich Farthofer 224 - gleichfalls einstimmig, gegen den Gesetzesbeschluß des Nationalrats keinen Einspruch zu erheben. 225 Durch die EO-Nov. 1991 wurde auch das Recht der Lohnpfändung 226 systematisch wieder in die EO zurückgeführt. 227

219 Johann Hagen, Zur Refonn der Lohnpfändung, DRdA 1991, S. 329. 220 189 BelegNR XVIII; Zur Regierungsvorlage s. auch Franz Mohr, Neuordnung des Lohnpfändungsrechts, Überblick über die Regierungsvorlage der EONov 1991, RdW 1991, S. 207. 221 189 / A XVIII. 222 261 BlgNR XVIII. 223 Sten.Prot. 44. Sitzung XVIII v. 13. November 1991, S. 4367. 224 4330 BlgBR. 225 Sten.Prot. 546. Sitzung v. 21. November 1991, S. 25490 und 25538. 226 Die letzte Neufassung des Lohnpfändungsrechts war in dem (durch Folgegesetze geringfügig geänderten) Lohnpfändungsgesetz 1985 (LPfG) BGBl. Nr. 450 (Wiederverlautbarung des LohnpfändungsG, BGBl. 1955/51), erfolgt. 227 S. a. Franz Mohr, Die neue Lohnpfändung. EO-Novelle 1991, Gesetzestext, Materialien, Anmerkungen. Ecolex-spezial, Wien 1991.

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VL Abschließende Bemerkungen Wie in allen modernen parlamentarischen Demokratien, und in allen Rechtsbereichen, so ist auch im zivilprozessualen Verfahrensbereich die innerstaatliche Gesetzgebung das Ergebnis eines Zusammenwirkens von Ministerien, Verbänden - in Österreich v. a. der Sozialpartner - von Experten, und der Gesetzgebungsorgane selbst, wobei die Initiative in der Mehrzahl der Fälle von den ersteren ausgeht. (s. dazu auch oben, Kap. IV / 2).

Erwähnt sei i. d. Z. allerdings auch, daß Initiativanträge - so erfreulich sie im Sinne einer lebendigen parlamentarischen Demokratie auch sein mögen - den Entfall des im allgemeinen sehr fruchtbaren Begutachtungsverfahrens mit sich bringen; auch die für die Rechtsauslegung oft wertvollen Erläuterungen sind - falls überhaupt vorhanden - bei Initiativanträgen viel kursorischer gehalten, als bei Regierungsvorlagen. Im Sinne der Zielsetzung dieser Arbeit ist hier nicht der Platz, auf den Beitrag der Lehre zur Entwicklung des österreichischen zivilprozessualen Verfahrensrechts einzugehen. Als positiv soll lediglich festgehalten werden, daß im Zuge der Vorbereitung von Ministerialentwürfen, aber auch bei der Behandlung von Vorlagen im Justizausschuß des Nationalrats, nicht selten Universitätslehrer als Experten herangezogen werden. Hingegen wird von der Möglichkeit, sich initiativ ins Begutachtungsverfahren einzuschalten, wegen der oft kurzen Begutachtungsfrist - aber auch aus Verkennung der Aufgaben eines Universitätslehrers - von den zuständigen Fachvertretern nur unzureichend Gebrauch gemacht. Die immer stärker werdende zwischenstaatliche Verflechtung spiegelt sich in der steigenden Übernahme vertraglicher internationaler Verpflichtungen wider, die auch das innerstaatliche Recht, einschließlich des Verfahrensrechts, wesentlich beeinflussen und mitgestalten, eine Entwicklung, die im Zuge von Integrationsprozessen (etwa im Rahmen der EG) noch weiter verstärkt (werden) wird. Bei dieser "internationalen Rechtssetzung" liegt das Schwergewicht eindeutig bei der Exekutive, und die Rolle der Gesetzgebungsorgane beschränkt sich auf formale Genehmigungsakte in einer relativ späten Phase der Rechtssetzung. Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang, daß Verpflichtungen aus der EMRK auch Änderungen des zivilgerichtlichen Verfahrensrechts bedingen können und auch in Österreich bereits mitbewirkt haben (so die Einführung des zweiseitigen Rekurses durch die ZVN 1983, die Einrichtung und die Besetzung der Arbeits- und Sozialgerichte durch das ASGG 1985, die Einführung des Fristsetzungsantrags durch die WGN 1989 oder der Ausbau des Rechtsschutzes im Anhaltungsverfahren durch das UbG 1990).

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Bei der innerstaatlichen Rechtssetzung ist das Gewicht, i. S. einer echten Gestaltungsfunktion, der einzelnen "Mitwirkende!)." sehr unterschiedlich. Das generell näher zu untersuchen ist aber primär eine Aufgabe der Politikwissenschaft. Was das zivilprozessuale Verfahrensrecht anbelangt, hat die vorliegende Studie versucht, den Beitrag des Parlaments, seit der Prozeßrechtsreform der Jahrhundertwende, aufzuzeigen. Wie die Studie ergeben hat, war er ein im Laufe der Jahrzehnte schwankender; es gab Perioden, in denen kaum Initiativanträge gestellt wurden und die Regierungsvorlagen im Zuge der parlamentarischen Behandlung, wenn überhaupt, nur geringfügige Änderungen erfahren haben. Wo der Beitrag des Parlaments pronocierter war, lag das - wie gerade in den in den Kap. IV a. E. und Kap. V untersuchten Perioden - i. e. L. an der Persönlichkeit einzelner Abgeordneter, die v. a. im Justizausschuß durch hervorragendes Fachwissen, Engagement, Ansehen, Kunst der Verhandlungsführung und Durchsetzungsvermögen, an der (Neu)gestaltung des zivilprozessualen Verfahrensrechts maßgeblichen Einfluß genommen haben. Daß eine solche Einflußnahme nur bei einem guten Gesprächsklima zwischen den Abgeordneten der einzelnen Fraktionen gedeihen kann, liegt auf der Hand.

Allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht • Von Heinz Mayer

I. Die Leitideen in der Entwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts Das österreichische Verwaltungsverfahrensrecht ist in seinem Ursprung engstens mit dem Entstehen der Verwaltungsgerichtsbarkeit verknüpft. Als der - bereits im Art 15 StGG über die richterliche Gewalt 1 vorgesehene - Verwaltungsgerichtshoj durch das RG v 22.10.1875 2 errichtet wurde, war dies zugleich der entscheidende Anstoß für den Beginn einer lang andauernden Entwicklung, die - knapp fünfzig Jahre später - zur Erlassung der noch heute geltenden Verwaltungsverfahrensgesetze führte. 3 Es mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, daß ein so langer Zeitraum verstreichen mußte, bis es zur Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts kommen konnte; dies insb im Hinblick auf den Umstand, daß bereits anläßlich der parlamentarischen Beratung des Gesetzentwurfes über den Verwaltungsgerichtshof die Notwendigkeit einer einheitlichen gesetzlichen Regelung des Verwaltungsverfahrensrechts klar erkannt wurde. Einen deutlichen Ausdruck fanden diese Überlegungen in den Ausführungen des Abgeordneten Dr. Ignaz von Plener, der bei der Debatte über die Regierungsvorlage im Abgeordnetenhaus am 18. März 1875 4 meinte: "Es ist vor allem nötig, eine Kodifizierung der Verwaltungsgesetze anzubahnen, damit das materielle Recht der Verwaltung auf einer deutlichen, positiven Grundlage stehe. Wir besitzen in Österreich keine Vorschriften, keine Normen für das administrative Verfahren. Das administrative Verfahren unserer Behörden ist vollständig regellos, der reinen Willkür der Behörden überlassen und gerade, wenn wir den Begriff der Judikatur in der Verwaltung einführen wollen, so können wir nicht anders, als daß wir den unteren Behörden, welche innerhalb ihrer Entscheidung jurisdiktionell

* Das Manuskript des vorliegenden Beitrages wurde im wesentlichen 1983 fertiggestellt. Die letzte Aktualisierung nahm Frau Univ-Ass Mag. Claudia Partisch vor. dafür habe ich ihr zu danken. 1 RGBl1867 / 144. 2 RGBI 1876/36. 3 AVG, VStG, VVG. 4 StenProt des Abgeordnetenhauses, 133. Sitzung der 8. Session, 4677 ff.

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zu befinden haben, feste wirkliche Normen ihres Verfahrens geben, die allein die Bürgschaft für den Rechtsschutz der Parteien abgeben. Allein auch diese Vorbedingung fehlt und ist nicht gegeben. Wir haben in Österreich noch jene berühmte Verordnung vom 20. April 1854 über die Grenzen der Vollzugsgewalt der politischen Behörden - ein Unikum, welches die schrankenlosesten Entscheidungen, die schrankenloseste Willkür der administrativen Behörde erweckt." Daß es dennoch Jahrzehnte dauerte, bis es zu einer Kodifikation des Verfaltungsverfahrensrechts kam, hat wohl mehrere Ursachen; eine dieser Ursachen dürfte darin gelegen sein, daß sich die Einsicht, daß auch die Verwaltung eine Rechtsfunktion ist, nur langsam und erst viel später als im Bereiche des Justizrechtes durchsetzte. Die erwähnten Ausführungen des Abgeordneten Dr. Ignaz von Plener dürften nicht die allgemeinen Vorstellungen jener Zeit widergeben, sondern weithin Neuland eröffnet haben. Die Staatspraxis war augenscheinlich noch von der Überlegung geleitet, daß eine zu starke Bindung der Verwaltung an das Gesetz nicht nur überflüssig, sondern auch nachteilig sei; bemerkenswerter Weise blieb etwa in der Bundesrepublik Deutschland die Frage der Rechtsnatur eines Verwaltungsverfahrens, seine Zweckmäßigkeit und die Möglichkeit seiner Kodifikation lange umstritten. 5 Ein weiterer Grund für den Umstand, daß es erst fünfzig Jahre nach Errichtung des Verwaltungsgerichtshofes zur Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts kam, war wohl die Rechtsprechung dieses Gerichtshofes; der VwGH hatte nach § 6 des VerwaltungsgerichtshofG6 verwaltungsbehördliche Entscheidungen oder Verfügungen wegen "mangelhaftem Verfahrens aufzuheben", wenn der Tatbestand aktenwidrig angenommen wurde, wenn er in wesentlichen Punkten einer Ergänzung bedurfte oder wenn "wesentliche Formen des Administrativverfahrens außer acht gelassen worden sind". Die diesbezügliche Judikatur des VwGH wurde in gewisser Weise zu einer Richtschnur für die Verwaltungsbehärden, die wollten sie eine Aufhebung ihrer Akte durch VwGH vermeiden - das Administrativverfahren nach den vom VwGH in seiner Judikatur entwikkelten Prinzipien durchführen mußten. 7 Damit war die Problematik des Fehlens eines kodifizierten Verwaltungsverfahrensrechts etwas entschärft - freilich aber nicht beseitigt. So groß nämlich die praktische Bedeutung dieser Judikatur auch war, konnte sie doch - da sie nicht alle Bereiche erfassen, keine Parteirechte begründen, die Verwaltung nicht direkt allge5 Vgl etwa ForsthofJ, Lehrbuch des Verwaltungsrechts 19 (1966) 155; vgl aber auch Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts 110 (1973) 163. 6 RGBl1876 / 36. 7 Diese Judikatur wurde von Tezner systematisch dargestellt; vgl: Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens (1896); Das Österreichische Administrativverfahren, dargestellt auf Grund der verwaltungsgerichtlichen Praxis, 1. Auflage 1922, 2. Auflage 1925.

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mein binden konnte und gewissen Schwankungen ausgesetzt war - keinen vollwertigen Ersatz für ein kodifiziertes Verwaltungsverfahrensrecht darstellen. 8 Die Bestrebungen um eine "durchgreifende gesetzliche Regelung des Verwaltungsverfahrensrechts" rissen daher nie ab und standen vor allem bei allen Überlegungen um eine Reform der Verwaltung im Vordergrund; g eine Vielzahl von Publikationen und privaten Gesetzesentwürfen von Theoretikern und Praktikern gibt davon ein beredtes Zeugnis. Besonders bedeutend waren in diesem Zusammenhang die im Jahre 1884 dem österreichischen Advokatentag von Lemayer, Pann und Prazak erstatteten "Drei Gutachten über die Reform des Administrativ-Verfahrens", weiters die Untersuchungen von Lemayers (Apologetische Studien zur Verwaltungsgerichtbarkeit [1895]), Brunstein (Das Administrativverfahren und seine Reform [1900]), Tezner (Praktische Vorschläge zur Reform des österreichischen Administrativ-Verfahrens, Allgemeine österreichische Gerichtszeitung 1902, Nr 7-9), Lingg (Zur Reform des Administrativ-Verfahrens [1904]) und Brockhausen (Verwaltungsrechtliche und verwaltungspolitische Essays [1908]); weiters haben die im Jahre 1904 im Auftrag von Ministerpräsident Koerber ausgearbeiteten "Studien über die Reform der inneren Verwaltung" die folgende Entwicklung maßgeblich beeinflußt. 10 Mit dem im Jahre 1896 erlassenen Gesetz über das Rechtsmittelverfahren 11 wurde ein erster - freilich unzureichender Schritt im Hinblick auf eine gesetzliche Kodifikation des Verwaltungsverfahrens gesetzt. Bereits zur Jahrhundertwende treten die zwei wesentlichen Gesichtspunkte, die bei all den Bemühungen um eine Reform des Administrativverfahrens von grundlegender Bedeutung waren, klar zu Tage: einerseits war es der Gedanke der Rechtsstaatlichkeit, der seit der Errichtung des Verwaltungsgerichtshofes im Jahre 1876 immer größere Bedeutung gewann; die Einsicht, daß es im Verwaltungsbereich subjektive Rechte des Einzelnen gegen den Staat gibt, warf als Konsequenz die Frage nach der Art ihrer Durchsetzbarkeit auf. Daß diese Durchsetzbarkeit nur gewährleistet ist, wenn das Verfahren nach "festen" - dh: nach gesetzlichen - Regeln abläuft war eine Erkenntnis, von der all die angeführten Untersuchungen durchdrungen waren. Schon damals aber hat man klar gesehen, daß eine Kodifikation des administrativen Verfahrensrechts auch ganz wesentlich für eine Vereinfa8 Vgl auch Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts 5 (1991) RZ 22 ff. g Vgl auch Mannlicher-Coreth, Die Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung (1926) XXIII. 10 Vgl dazu und zum folgenden Mannlicher-Coreth, aaO und Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht 5 (1991) RZ 23. 11 RGBl 1896/101.

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chung der Verwaltung ist; besonders deutlich kommt dieser Gedanke in den, im Auftrag von Koerber im Jahre 1904 ausgearbeiteten "Studien über die Reform der inneren Verwaltung" zum Ausdruck. Dort heißt es ua, daß "einschneidender als die Fehler in der Organisation unserer Verwaltung der Mangel an ausdrücklichen Vorschriften für das Administrativverfahrens" sei. 12 Als im Jahre 1911 eine Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform eingesetzt wurde, trat bei der Arbeit dieser Kommission sogleich die Frage einer Reform des Verwaltungsverfahrensrechts in den Vordergrund. Der Präsident dieser Kommission, Schwarzenau, erarbeitete einen ausgereiften "Entwurf einer Ministerialverordnung, mit der Grundsätze des Verfahrens vor den politischen Behörden festgestellt werden". Dieser Entwurf war für die weiteren Arbeiten an der Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts von großer Bedeutung. Mit dem Beginn der ersten Republik wurden die Versuche einer Reform des Verwaltungsverfahrens fortgesetzt, führten jedoch zunächst nicht zum Ziel. Bei der Ausarbeitung der Bundesverfassung gelang es aber - gegen verschiedene Widerstände - eine ausschließliche Kompetenz des Bundes zur gesetzlichen Regelung eines einheitlichen Verwaltungsverfahrens verfassungsrechtlich festzulegen. 13 Mit den übrigen Kompetenzbestimmungen der Bundesverfassung trat jedoch gern § 42 ÜG 1920 auch diese Bestimmung vorläufig nicht in Kraft. Nachdem der Versuch einer Teilregelung des Verwaltungsverfahrensrechts (nämlich des Verwaltungsstrafrechts und des Verwaltungsstrafverfahrensrechts) 14 gescheitert war, gab die auf Grund der "Genfer Protokolle" eingeleitete Sanierungsaktion den entscheidenden Anstoß für die Schaffung der Verwaltungsverfahrensgesetze. In Ausführung der "Genfer Protokolle" vom 4.10.1922,15 die eine Sanierung der österreichischen Staatsfinanzen mit ausländischer Hilfe bezweckten, erging das WiederaufbauG vom 27.11.1922. 16 In einer Beilage zu diesem Gesetz wurde neben einer Reform des materiellen Verwaltungsrechts auch eine Reform des "Verwaltungsverfahrens im Sinne der Vereinfachung und namentlich auch der Vereinheitlichung" in Aussicht gestellt. 17 Die Ausarbeitung der Gesetzentwürfe zur Regelung des Verwaltungsverfahrens oblag der Verwaltungsreformabteilung des BKA; diese konnte sich auf die oben erwähnten Vorarbeiten aus der Zeit bis 1914 und die bisherige Judikatur des VwGH stützen, mußte jedoch auch die inzwischen eingetreteSeite 19; zit nach Mannlicher-Coreth, XXIV. Art 11 Abs 1 Zif 7 B-VG idF 1920. 14 697 BlgNr 1. GP. 15 BGBl1922 / 842. 16 BGBl1922 / 843; vgl auch Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte2 (1974) 449. 17 Abschnitt II A, insb Punkt 5. 12 13

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nen staatsrechtlichen Änderungen berücksichtigen. Am 30.5.1924 beschloß Ministerrat die Einbringung einer Regierungsvorlage im NR betreffend ein BVG, das die Kompetenz des Bundes zur Gesetzgebung schaffen sollte, sowie ein Einführungsgesetz, ein Gesetz über das Allgemeine Verwaltungsverfahren, ein Gesetz über das Verwaltungsstrafverfahren und ein Gesetz über das Verwaltungsvollstreckungsverfahren. 18 Im Zusammenhang mit den genannten Gesetzentwürfen wurde auch die RV betreffend ein primär eine Vereinfachung des materiellen Verwaltungsrechts bezweckendes - "Verwaltungsentlastungsgesetz" der parlamentarischen Behandlung zugewiesen. 19 Die genannten Gesetzentwürfe wurden unter der Bezeichnung "Gesetze zur Vereinfachung der Verwaltung" zusammengefaßt. ß. Die Behandlung der Regierungsvorlage betreffend die Vewaltungsverfahrensgesetze im Nationalrat

Die erwähnten Gesetzentwürfe wurden dem Verfassungs ausschuß des NR zur Beratung zugewiesen, der in seiner Sitzung vom 16. Juli 1924 einen Unterausschuß einsetzte. 2o Dieser Unterausschuß hielt neun Sitzungen ab; im Ergebnis wurde die Regierungsvorlage im wesentlichen angenommen, doch wurden in Einzelheiten zahlreiche Änderungen beschlossen. Am 6. Mai 1925 erfolgte die Beschlußfassung im Verfassungsausschuß. Das Plenum des Nationalrates hat sich in zwei Sitzungen, am 16. und am 21. Juli 1925, mit den Gesetzentwürfen befaßt und sie - mit wenigen Ausnahmen - einstimmig beschlossen. Eine allgemeine, überblicksweise Betrachtung der parlamentarischen Beratungen zeigt, daß der Nationalrat im wesentlichen den rechtspolitischen Wegen gefolgt ist, die bereits in der Regierungsvorlage vorgezeichnet wurden. Als unbestrittene Leitideen der Neuregelungen standen der rechtsstaatliche Gedanke und das Ziel einer Verwaltungsreform durch eine Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts im Vordergrund. Diese Zielsetzungen kommen nicht nur im - sehr umfangreichen - Bericht des Verfassungausschusses, sondern auch in den Diskussionsbeiträgen, die im Plenum des NR geliefert wurden zum Ausdruck; so etwa, wenn der Berichterstatter Dr. Schuhmacher 21 "von einem historischen Augenblick" spricht und meint, durch die Beschlußfassung würde "ein vollendetes Werk der Verwaltungsreform erzielt" um dann weiter fortzufahren: "Wenn auch bei 18 An der Ausarbeitung der genannten Gesetzentwürfe hatten die Ministerialräte Mannlicher und Coreth einen wichtigen Anteil. 19 Vgl BGBl1925 / 277. 20 Vgl zur folgenden Darstellung Mannlicher-Coreth, XXVlII ff und den Bericht des Verfassungsausschusses, 360 BlgNR 2. GP, 1 ff (in der Folge kurz: VA). 21 StenProt des NR, 107. Sitzung am 16. Juli 1925, 2. GP, 2567.

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der Gesetzesvorbereitung die Absicht, dem Reformprogramm entsprechend, zunächst auf die Behörden gerichtet war, deren Tätigkeit vereinfacht und vereinheitlicht werden soll und die entlastet werden sollen, so wurde doch nicht minder fort und fort der Gesichtspunkt im Auge behalten, die Parteienrechte im Prozeß zu schützen und auszugestalten." 22 In die gleiche Richtung gingen die Ausführungen der Abgeordneten Dr. Eisler 23 und Clessin;24 letztere betonten insb die Bedeutung der Gesetzeswerke für den Rechtsunterworfenen und für dessen rechtliche Position. Ein relativ subtiles Verständnis für die rechtsstaatliche Bedeutung des Verwaltungsverfahrens liegt etwa den Ausführungen des Abgeordneten Dr. Eisler zu Grunde, der meint, daß "selbst in der Bestimmung, wie die Zustellung von einer Behörde zu erfolgen hat . . . es sich um die ehestesten Garantien für die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit handeln" kann. 25 Von prinzipiellerem Gehalt ist der Debattenbeitrag von Clessin, der ua ausführte: "Von der größten Bedeutung ist es, daß wir durch die Aufhebung einer ganzen Reihe alter Verfahrensvorschriften, die zumeist aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen und durchwegs den Geist des damaligen Polizeiabsolutismus atmen, aus all diesen Zuständen herauskommen und daß nunmehr die Stellung des Staatsbürgers als Partei auch im Verwaltungsverfahren die entsprechende Würdigung findet. Es ist der einzelne Staatsbürger nicht mehr wie in der absolutistischen Zeit ein Gegenstand der Verwaltung, sondern es stehen ihm nunmehr selbst Parteirechte zu." 26 Der Abgeordnete Clessin weist in seiner Rede auf einen weiteren Umstand hin, der bei der Schaffung der Verwaltungsverfahrensgesetze von besonderer Bedeutung war: das hohe Maß an politischer Übereinstimmung; so führt er aus: "Als besonders erfreulich möchte ich die Tatsache bezeichnen, daß bei Beratung dieses Gesetzes eigentlich von einem Parteiunterschied gar nichts zu merken war. Es kann mit Freude festgestellt werden, daß sich bei Beratung dieses Gesetzes Parteiunterschiede eigentlich überhaupt nicht herausgestellt haben, sondern daß hier einer jener wenigen Fälle vorliegt, wo durch ernsten Willen zur Arbeit, der von reiner Sachlichkeit getragen war, ein Gesetz entstanden ist, das sich tatsächlich vor der Welt sehen lassen kann." 27 Aus der Sicht der Gegenwart, in der gegen den Gesetzgeber immer wieder die Kritik erhoben wird, er schaffe Gesetze, die vom Rechtsunterworfenen nicht oder nur schwer zu verstehen sind,28 verdient besonders hervorgeho22 StenProt des NR, 107. Sitzung am 16. Juli 1925, 2. GP, 2568. StenProt StenProt 25 StenProt 26 StenProt 27 StenProt 23 24

des des des des des

NR, NR, NR, NR, NR,

108. 108. 108. 108. 108.

Sitzung Sitzung Sitzung Sitzung Sitzung

am am am am am

21. Juli 21. Juli 21. Juli 21. Juli 21. Juli

1925, 1925, 1925, 1925, 1925,

2. 2. 2. 2. 2.

GP, GP, GP, GP, GP,

2587 ff. 2594 ff. 2588 f. 2595. 2596.

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ben zu werden, wie sehr es ein Anliegen der Mitglieder des Verfassungsausschusses war, daß das von ihnen geschaffene Gesetzeswerk ein möglichst breites Verständnis in der Öffentlichkeit findet. Beredtes Zeugnis von dieser Absicht legt der außergewöhnlich umfangreiche und immer wieder auf grundsätzliche Fragestellung bezugnehmenden Bericht des Verfassungsausschusses ab; im Plenum des NR widmete der Abgeordnete Clessin diesem Umstand folgende Worte: 29 "Ein ganz besondere Anerkennung aber gebührt dem Herrn Berichterstatter dafür, daß er seinen Bericht in dieser außerordentlich ausführlichen Weise erstellt hat. Wir können diesen Bericht ruhig als eine Art Legalkommentar zum Gesetze bezeichnen, der für die Praxis von außerordentlicher Bedeutung sein wird, einerseits für alle jene Personen, die berufsmäßig mit der Verwaltungsrechtsprechung befaßt sind, nicht minder aber auch den Anwaltstand, schließlich aber auch für eine ganze Reihe von öffentlichrechtlichen Körperschaften, wie Genossenschaften, Handelskammern und dergleichen. Ich glaube daher, daß es sehr zweckmäßig wäre - und ich möchte diesen Wunsch der Regierung dringend ans Herz legen -, daß die dafür Vorsorge trifft, daß dieser Bericht in einer entsprechend großen Anzahl von Exemplaren vervielfältigt, daß mit einem Worte eine Art Volksausgabe hergestellt wird, die zu einem möglichst billigen Preise weiteste Verbreitung finden kann, damit die faktische Möglichkeit gegeben ist, daß sich die Öffentlichkeit mit dem Geiste dieses Reformwerkes im weitesten Maße vertraut macht." Wer die gegenwärtige parlamentarische Gesetzgebungspraxis an Hand der Ausschußberichte analysiert, wird hier einen grundlegenden Wandel feststellen müssen; Ausschußberichte enthalten in den seltensten Fällen grundsätzliche Erwägungen, begründen Änderungsvorschläge kaum substantiell und erschöpfen sich zumeist im Formellen. 30 Betrachtet man nach diesen allgemeinen Überlegungen die Änderungen der RV, die durch den VA, vorgenommen wurden, so zeigt sich, daß die Konzeption der RV zwar grundsätzlich akzeptiert wurde, daß der NR aber in verschiedenen Punkten eine stärkere Bindung der Behörden an das Gesetz normierte als die RV; die "Flexibilität der Verwaltung" wurde durch striktere Regelungen eingegrenzt und das Verwaltungsverfahren dadurch stärker "verrechtlicht" . Es ist freilich zu betonen, daß damit kein neuer Trend in diese Gesetzeswerke eingeführt wurde, sondern daß bloß bereits 28 Vgl zB statt vieler: Zustellgesetze, BGBl1982 / 200 und dazu Walter-Mayer, Das österreichische Zustellrecht (1983) passim. 29 StenProt des NR, 108. Sitzung am 21. Juli 1925, 2. GP, 2597. 30 Vgl dazu zB 1050 BlgNR 15. GP.

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in der RV angelegte Tendenzen weiter ausgebaut wurden. Die wichtigsten Beispiele, die in diese Richtung weisen, sind folgende: 1. Art II Abs 4 EGVG idF der Regierungsvorlage sah vor,31 daß für das Verfahren der Behörden, die nicht Behörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung in den Ländern, Bundespolizeibehörden, Gemeindebehörden oder Bundesministerien sind, die Verfahrensgesetze durch eine VO der BReg für anwendbar erklärt werden sollen; begründet wurde die vorgeschlagene Regelung mit den "noch zu berücksichtigenden speziellen Verhältnissen" in den übrigen Gebieten der Verwaltung. 32 Im Sinne einer möglichst weitgehenden Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens aber auch wegen "verfassungsrechtlicher Bedenken" gegen die von der BReg vorgeschlagene Regelung wurden die Behörden, auf die sich die vorgeschlagene VO-Ermächtigung bezogen hatte, im Gesetz aufgezählt. Es verdient bereits hier erwähnt zu werden, daß durch spätere Novellen zum EGVG dieser Weg fortgesetzt wurde, indem der Katalog der Behörden, die die Verfahrensgesetze anzuwenden haben, ständig erweitert wurde und damit eine immer stärkere Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens erfolgte. 33 2. Eine interessante Regelung von grundsätzlicher Bedeutung sah § 6 AVG idF der Regierungsvorlage vor; danach sollte eine "höhere Behörde", die in erster Instanz zuständig ist, die unmittelbar nachgeordnete, sachlich und örtlich in Betracht kommende Behörde ermächtigen können, insb auch Bescheide "in ihrem Namen" zu erlassen; weitere konnte der ermächtigten Behörde auch die Befugnis erteilt werden, diese Ermächtigung auf die ihr unmittelbar untergeordnete Behörde zu übertragen. Die ermächtigte(n) Behörde(n) sollte(n) "vollständig an die Stelle der zuständigen Behörde" treten. Über eine allenfalls zulässige Berufung sollte die der zuständigen Behörde im Instanzenweg übergeordnete Behörde entscheiden. Die EB sahen in dieser Regelung eine "Spezialdelegation".34 Der VA strich diese Bestimmung der RV; begründet wurde dies mit "schweren Bedenken" gegen die "Möglichkeit, im administrativen Weg die bundes- und landesgesetzlich festgelegten Zuständigkeiten der Behörden geradezu illusorisch zu machen ... ".35 Bemerkenswerterweise wurden aber in der Folge - bis in die jüngste Zeit - zahlreiche verwaltungsrechtliche Vorschriften erlassen, die für bestimmte derartige Ermächtigungen vorsehen. 36 Im Gegensatz zu den zit EB und dem Bericht des VA, wo diese Ermächtigung als "Delega-

31 116 BIgNR 2. GP. 32 116 BIgNR 2. GP, Allgemeiner Teil, 65.

Vgl Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht 5 (1991) RZ 57 ff. 116 BIgNR 2. GP, Besonderer Teil, 4. 35 360 BIgNR 2. GP, 10. 36 Vgl zB § 101 Abs 3 WRG; § 4 Abs 1 VersorgungssicherungsG; § 7 PreisG. 33 34

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tion" bezeichnet wurde, qualifiziert die Lehre - im Anschluß an Triepe[37 - derartige Ermächtigungen als "Mandat". 38 3. § 40 AVG idF der RV regelte die Behandlung von Vortragen; die vorgeschlagene Regelung sah - ohne weitere Determinierung - vor, daß die Behörde "das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen" kann. Bereits die EB zeigen, daß man mit dieser Regelung kein schrankenloses Ermessen begründen wollte; 39 der VA brachte diese Absicht im Gesetzestext klar zum Ausdruck: § 38 AVG beschränkt die Zulässigkeit der Aussetzung des Verfahrens auf die Fälle, "in denen die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird". Der VA wollte dadurch "mitunter unabsehbaren Verzögerungen" entgegenwirken. 40 4. Nach § 60 AVG idF der Regierungsvorlage bedurften Ermessensbescheide keiner Begründung; die EB zeigen, daß eine solche Ausnahme von der allgemeinen BegTÜndungspflicht geradezu als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde. 41 Der VA beseitigte diese Ausnahme, gegen die "schwere Bedenken" erhoben wurden; im Bericht des VA werden "Gutachten, namentlich von wissenschaftlicher Seite" erwähnt, die diese Ausnahme ebenfalls ablehnten. 42 Der VA schloß sich diesen Bedenken an und "erblickte . .. geradezu in der Begrundungspflicht der Behörde ein wesentliches Moment des Rechtsschutzes, das einer recht problematischen Verwaltungsvereinfachung zuliebe doch nicht kurzerhand geopfert werden darf." Bemerkenswerterweise bestimmte dieses klare Ergebnis historischer Interpretation nicht immer die Lehre und Jud; die herrschende Lehre und die neuere Jud betonen jedoch zutreffend, daß Ermessensbescheide - wie andere Bescheide - zu begründen sind und daß ein bloßer Hinweis auf das freie Ermessen nicht genügt. 43 5. Eine grundsätzliche Frage regelte § 67 Abs 4 AVG idF der Regierungsvorlage; er betraf den Umfang der Kognitionsbetugnis der BerufungsbehörTriepel, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht (1942) 22 ff, insb 26. Vgl zB Wenger, Grundfragen und Grundbegriffe des Organisationsrechts, in: Ermacora ua (Hrsg), Allgemeines Verwaltungsrecht (1979) 352 f; Aichlreiter, Österreichisches Verordnungsrecht 542 ff. 39 116 BlgNR, 2. GP, Besonderer Teil, 6. 40 360 BlgNR, 2. GP, 15. Zur geltenden Rechtslage vgl Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht 5 (1991) RZ 305 ff. 41 Vgl116 BlgNR, 2. GP, 7: "In reinen Ermessenssachen, in denen die Behörde vom Gesetzgeber freie Hand bekommen hat ... hat eine . Begründung, die sich naturgemäß immer in dem bloßen Hinweis auf das freie Ermessen erschöpfen müßte, keinen Raum." 42 360 BlgNR, 2. GP, 18. 43 Vgl näher Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht5 (1991) RZ 421 und die dort zit Lit und Jud. 37

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de; die ersten zwei Sätze dieser Bestimmung sind Inhalt des heute geltenden § 66 Abs 4 A VG; der letzte Satz der Bestimmung der RV lautete: "Zum Nachteile des Berufungswerbers ist eine Abänderung des Bescheides nur auf Grund einer gleichzeitig vorliegenden Berufung einer Gegenpartei oder aus zwingenden Gründen des öffentlichen Wohles zulässig." Der VA bemerkte dazu: "In Übereinstimmung mit nahezu allen befragten Stellen hat der Ausschuß den letzten Satz des § 67 der Regierungsvorlage, der die Zulässigkeit einer reformatio in peius ausdrücklich hervorhob, gestrichen. Anfang der 8Der-Jahre entflammte - rund um ein richtungsweisendes, im Ergebnis aber unzutreffendes Erk des VwGH44 - eine literarische Diskussion um die Frage, ob die Berufungsbehörde im Verwaltungsverfahren an den Berufungsantrag gebunden ist und somit nur über die Verletzung subjektiver Rechte befinden darf 45 oder ob sie immer auch die objektive Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Bescheides zu prüfen hat. 46 Die erwähnte Änderung der RV durch den VA erweist sich in ihrer Bedeutung letztlich als nicht ganz klar; es liegt jedoch nahe anzunehmen, daß der VA offenbar davon ausging, daß sich die Zulässigkeit einer reformatio in peius schon aus dem verbleibenden Text des § 66 Abs 4 AVG ergebe. 47 6. Die einschneidensten Veränderungen erfuhr die RV zum AVG bei den Vorschriften über die Kosten (V. Teil). Die RV sah im wesentlichen folgende Kostenregelungen vor:

a) Jede Partei hat einen Beitrag zu den allgemeinen Verwaltungskosten zu leisten (§ 75). b) Die mit einer Verhandlung oder einem Augenschein verbundenen Kosten und baren Auslagen sind in der Regel von dem zu tragen, der die Verhandlung oder den Augenschein veranlaßt hat (§ 76; "Veranlassungsprinzip"48); eine Aufteilung dieser Kosten auf andere Beteiligte nach deren Interesse war vorgesehen ("Interessensprinzip")49. c) Im Mehrparteienverfahren war ein Kostenersatzanspruch der obsiegenden Partei gegen die "sachfällige Partei" vorgesehen (§ 77). Der VA hat diese Regelungsvorschläge der RV in den Hauptpunkten verworfen und durch Vorschriften ersetzt, die - mit Änderungen 50 - heute 44 VwGH 3.12.1980, ZL 06/3112/79 - verstärkter Senat; dazu Mayer, Präklusion und Prozeßgegenstand des Berufungsverfahrens, ZfV 1981, 521 ff. 45 So Hauer, Zur Frage der Entscheidungsbefugnis der Berufungsbehärde im nachbarrechtlichen Verfahren, ZfV 1980, 1 ff. 46 So Mayer, ZfV 1981, 521 ff. 47 Vgl dazu Mayer, ZfV 1981, 528 und die dort in Anm 70 zit - Kontroversen Auffassungen. 48 116 BlgNR, 2. GP, Besonderer Teil, 9. 49 116 BlgNR, 2. GP, Besonderer Teil, 9.

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noch gelten. Während die Vorschriften der RV über Barauslagen und Kommissionsgebühren lediglich verändert wurden, wurden die Regelungen über den Ersatz der Parteikosten und über den Beitrag zu den allgemeinen Verwaltungskosten gestrichen. Die rechtspolitischen Zielvorstellungen des VA muten durchaus modern an: nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers soll der "leichte Zugang zum Recht" im Bereiche der Verwaltung durch Kostenrisiken nicht gefährdet werden; so heißt es im Bericht des VA51 ua: "Die Tür zum Amtszimmer des Verwaltungsbeamten muß für jedermann - nicht bloß für den, der eine aktive Klagelegitimation nachweist - offen stehen, der Weg zur Verwaltungsbehörde muß leicht zugänglich sein und darf nicht erschwert oder behindert werden, weder durch überflüssige Formalvorschriften noch durch das Risiko von im vorhinein nicht ziffernmäßig feststehenden Kosten. Die Einführung eines allgemeinen Ersatzes der Parteikosten nach Art des Kostenersatzes bei Gericht würde für das Verwaltungsverfahren die Gefahr einer solchen Behinderung und Erschwerung nach beiden Richtungen bedeuten." 7. Im Bereich des VerwaltungsstrafG scheinen im vorliegenden Zusammenhang zwei Neuerungen, die der VA gegenüber der RV beschloß, von Relevanz: der VA ergänzte die RV um den gesamten ,,1. Teil" des geltenden VStG (§§ 1-22) und schuf das - in den Grundsätzen heute noch geltende - "Allgemeine Verwaltungs strafrecht" . Damit sollte der Weg freigemacht werden, die Zuständigkeit des VwGH in Verwaltungsstrafsachen zu begründen;52 dies geschah freilich erst durch die B-VG Nov 1929. 53 Eine zweite interessante Änderung, die der VA an der RV zum VStG vornahm, betrag die Abwendung einer Festnahme durch die "Bestellung eines Pfandes" (§ 13 Abs 2 RV); begründet wurde die ersatzlose Streichung dieser Regelung lediglich mit "Bedenken ... gegen die ... vorgeschlagene Art der ,Ablösung' einer Festnehmung durch Pfand"; 54 bemerkenswerterweise wurde eine derartige Regelung wenige Jahre später auf Initiative des VA dann doch in das VStG aufgenommen. 55

50 Die geltende Fassung ist auf die Novellen BGBI 1948/49, 1950/36, 1968/45, 1973/569, 1982/199 und 1990/357 zurückzuführen. 51 360 BlgNR, 2. GP, 22. 52 Vgl den Bericht des VA, 360 BlgNR, 2. GP, 23 f. 53 Vgl zur Entwicklung der Kompetenz des VwGH in Verwaltungsstrafsachen WalteT, Verfassungsrechtliche Aspekte einer Reform des Verwaltungsstrafverfahrens, in: Ausgewählte Vorträge, Attersee-Konferenz der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission (1971) 38 ff.; WalteT, Kassatorische oder reformatorische Entscheidung? FS VwGH (1976) 395 f. 54 Bericht des VA, 360 BlgNR, 2. GP, 30. 55 § 37 a VStG; diese Bestimmung wurde in ihrer heute geltenden Fassung durch die VStG Novelle 1932, BGBl246 geschaffen; sie geht auf den VA zurück; vgl RV 294 BlgNR, 4. GP und AB 423 BlgNR, 4. GP.

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8. Abschließend sei noch eine Änderung der RV durch den VA erwähnt, die das VVG betrifft und die der Vereinheitlichung des Exekutionswesens dienen sollte. § 7 VVG idF der RV sah vor, daß die Vollstreckungsbehörde die Verpflichtung zur Erbringung einer Geldleistung grundsätzlich selbst zu vollstrecken habe und nur dann "wenn ihre Mittel hierzu nicht ausreichen" die Vollstreckung durch das Gericht veranlassen könne. Der VA strich die genannte Einschränkung, damit die gerichtliche Exekution "die Regel werde". 56

Die dargelegten Änderungen der RV durch den VA waren lediglich die wichtigsten; in zahllosen weiteren Detailfragen modifizierte der VA die durch die RV vorgeschlagenen Regelungen in durchaus sinnvoller Weise. Eine zusammenfassende Betrachtung dieser Arbeiten bestätigt die eingangs getroffene Feststellung, daß der VA im wesentlichen an der Grundkonzeption der RV festhielt. In den Beratungen des Bundesrates spielte vor allem eine Frage eine zentrale Rolle: es geht darum, ob die Erteilung einer Weisung, mit der von der Oberbehörde auf den Inhalt eines Bescheides Einfluß genommen wurde, den Befangenheitsgrund des § 7 Abs 1 Zif 5 AVG begründet. Dies wurde vom VA ausdrücklich verneint; auch die hL und Jud stehen auf diesem Standpunkt. 57 Der Berichterstatter - es handelte sich um den Abgeordneten Falser - vertrat unter Bezugnahme auf Schwartzenau und die Ergebnisse der von ihm geleiteten Verwaltungsreformkommission sowie unter Hinweis auf Meinungen in der Lehre die gegenteilige Auffassung und bezeichnete das Verständnis dieser Bestimmung durch den NR: als "unrichtig".58

m. Die weitere Entwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts 1. Allgemeine Betrachtungen

Ein allgemeiner Überblick über die Entwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts seit seiner Erlassung im Jahre 1925 zeigt, daß grundlegende Veränderungen, insbesondere solche von systematischer Bedeutung erst in den letzten Jahren durch die VStG-Novelle 1987 und va durch die Novellierung von AVG und VStG 1990 erfolgten. Dem wurde durch die Wiederverlautbarung der Verfahrensgesetze 1991 Rechnung getragen. 59 56 Bericht des VA 360 BlgNR, 2. GP, 36. 57 Vgl 360 BlgNR, 2. GP, 10; Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht5 (1991)

RZ 111 und die dort zit Jud. 58 StenProt des BR, 94. Sitzung am 7.8.1925,1132. 59 EGVG: BGBl 1991/50, AVG: BGBI 1991/51, VStG: BGBI 1991/52, VVG: 1991/53.

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Wichtige Änderungen brachten aber auch die EGVG-Novelle 1959,60 die AVG-Novellen 1968 und 1982,61 die VStG-Novellen 1932, 1971, 1977, 1983, 1984, 1987 62 und die praktische bedeutsame VVG-Novelle 1986. 63 Untersucht man die Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften, so zeigt sich, daß der NR bei einigen der genannten Novellen einen entscheidenden Einfluß genommen hat: es waren dies die AVG-Novellen 1982 und 1990 sowie die VStG-Novellen 1932, 1971 und 1990. Bei allen übrigen Novellierungen folgte der Gesetzgeber entweder den Vorschlägen der jeweiligen Gesetzesinitiative oder es wurden bloß unbedeutende Änderungen der vorgelegten Entwürfe beschlossen. Eine Ausnahme stellt die VStG-Novelle 1984 (BGBl299) dar; sie geht einen selbständigen Antrag des Verfassungsausschusses gern § 27 Abs 1 GOG zurück und steht entstehungsgeschichtlich in einem Zusammenhang mit legislativen Maßnahmen zur Entlastung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts. 64 Eine bemerkenswerte Entstehungsgeschichte weist der geltende § 50 Abs 8 VStG auf; er war zunächst Bestandteil einer RV, die eine umfassende Novellierung des VStG bezweckte. 65 Wegen der besonderen praktischen Dringlichkeit dieser Bestimmung wurde ihre parlamentarische Beschlußfassung "vorgezogen"; sie wurden Gegenstand eines Initiativantrages und schließlich vom NR beschlossen. 66 Die folgenden Überlegungen werden den Novellen gewidmet, bei denen der NR erheblichen Einfluß auf die inhaltliche Ausgestaltung der Vorschriften genommen hat. 2. Die VStG-Novelle 1932

Die allgemeine Zielsetzung der VstG-Novelle 1932 67 war eine Vereinfachung des Verwaltungsstrafverfahrens zur Entlastung der Verwaltungsstrafbehörden; die EB zur RV68 weisen auf den ständig steigenden Anfall an Verwaltungsstrafsachen hin: nach den Ergebnissen der Verwaltungsstatistik der Jahre 1927 -1929 hätten die politischen Behörden (ohne Gemein60 BGBI 1959/92. 61 BGBl 1968/45 und BGBI 1982/199. 62 BGBl 1932 1932/246; BGBl 1971 /275; BGBl 1977 / 101; BGBI 1983/176;

BGBI 1984/299; BGBI 1987/516. 63 BGBI 1986/210. 64 Vgl den AB 348 BlgNR, 16. GP 65 161 BlgNR, 15. GP; vgl auch 1451 BlgNR, 15. GP und BGBl1983 / 176. 66 II-2095 BlgNR, 15. GP und BGBl1981 /264. 67 BGBl1932 /246 68 294 BlgNR, 4. GP, 3. 34"

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debehörden), die Schulbehörden, Telegraphen- und Bergbehörden einen ständig steigenden Geschäftsanfall zu erledigen gehabt. Im Jahre 1927 waren es 422.000 Verwaltungsstrafsachen, 1928494.000 und im Jahre 1929 541.000. Es wurden angenommen, daß auf die politischen Behörden 9798 % der erwähnten Verwaltungs strafsachen entfielen; davon wurden rund 30 % durch eine Organstrafverfügung gern § 50 VStG, rund 40 % durch eine behördliche Strafverfügung gern § 47 VStG und rund 30 % im ordentlichen Strafverfahren erledigt. In 3-4% kam es zu einem Verfahren in zweiter Instanz. 69 In Relation zur Bevölkerungszahl des Behördensprengels stieg die Zahl der Straffälle von 7 % im Jahre 1927 auf knapp 9 % im Jahre 1929. Mit der geplanten VStG-Novelle sollte der "außerordentlich gewachsenen ... Belastung der Verwaltungsbehörden" entgegengewirkt werden. 70 Dies insbesondere eine "Einschränkung des Legalitätsprinzips": in "geringfügigen Fällen" sollte die Behörde ermächtigt sein, bloß einen Verweis zu, verhängen bzw von der Einleitung oder Fortführung des Strafverfahrens abzusehen; weiteres sah die RV zB eine erweiterte Anwendung der Strafverfügungen und eine einfachere Strafvollstreckung vor. Der Verfassungsausschuß erwies sich gegenüber der RV als zurückhaltend; dies sei an einigen Beispielen verdeutlicht: 1. Die in der RV vorgesehene Möglichkeit,71 von der Einleitung oder Fortführung eines Strafverfahrens abzusehen, wenn das Verschulden geringfügig ist, die Folgen der Übertretung unbedeutend sind und das öffentliche Interesse eine Bestrafung nicht erheischt, wurde fallengelassen; statt dessen wurde das außerordentliche Milderungsrecht und die Möglichkeit des Absehens von einer Strafe und die Erteilung einer Verwarnung ganz allgemein gegen jeden Beschuldigten als zulässig erklärt. Vor der VStGNovelle 1932 waren die genannten Maßnahmen nur im Strafverfahren gegen Jugendliche zulässig. 2. Die RV sah eine Erweiterung des § 47 VStG in der Weise vor, daß die Erlassung einer Strafverfügung auch dann zulässig sein sollte, wenn "die Behörde die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat auf Grund der durchgeführten Erhebungen für erwiesen" ansah. 72 Der Verfassungsausschuß 69 Zum Vergleich dazu sei erwähnt, daß im Jahre 1977 allein bei der Bundespolizeidirektion Wien, deren Anteil an den österreichischen Verwaltungsstrafsachen mit 40 % geschätzt wird, rund 380.000 behördliche Verwaltungsstrafverfahren durchgeführt und ca 580.000 Organstrafverfügungen verhängt wurden. Das ordentliche Verfahren wurde in ca 70.000 Fällen eingeleitet, zu einem Verfahren in zweiter Instanz kam es in ca 10.000 Fällen; vgl näher dazu Szymanski, 7. ÖJT 1979', II / 5, . 123 f. 70 294 BIgNR, 4. GP, 3. 71 Art I Zif 4, 294 BlgNR, 4. GP 72 Art I Zif 16, 294 BlgNR, 4. GP

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strich diese Regelung ersatzlos; maßgeblich waren offenbar grundsätzliche rechtsstaatliche Bedenken. 73 3. Heftig umstritten, letztlich aber doch beschlossen wurde die Änderung des § 53 Abs 4 VStG; die RV schlug vor,74 die Vollstreckung 'einer Ersatzfreiheitsstrafe schon dann zuzulassen, wenn "mit Grund anzunehmen" ist, daß eine Geldstrafe ganz oder teilweise uneinbringlich ist. Der Verfassungsausschuß stimmte diesem Vorschlag zwar zu, doch brachten die Abgeordneten Horvatek, Dr. Appel ';lnd Dr. Ellenbogen einen Minderheitsantrag auf Streichung dieser Regelung ein. Im Plenum des NR führte der Abgeordnete Dr. Appel dazu ua aus, daß "hier eine schwere Rechtsungleichheit zwischen den wirtschaftlich Stärkeren und den wirtschaftlich Schwächeren" entstehe. 75 Der Minderheitsantrag fand keine Mehrheit; die in der RV vorgeschlagene Regelung wurde beschlossen und ist noch heute geltendes Recht; 76 ihre praktische Handhabung mußte in der Folge vielfach Bedenken erregen. 77 4. Eine Änderung ganz anderer Art wollte die RV mit einer Neufassung des § 15 VStG herbeiführen. Die genannte Regelung betrifft die Gebarung mit Geldstrafen und war bereits im Jahre 1925 bei ihrer Erlassung umstritten. 78 Die Regelung sah vor, daß Geldstrafen, sowie der Erlös verfallener Gegenstände - soweit die Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmen - dem "Armenfonds des Ortes, wo die Verwaltungsübertretung begangen wurde", zufließen. Die RV suchte eine Vereinfachung und Vereinheitlichung zu erzielen; nach der vorgeschlagenen Fassung des § 15 VStG sollten diese Beträge - ausnahmslos - an die Gebietskörperschaft abzuführen sein, "die den Aufwand der in erster Instanz entscheidenden Behörde zu tragen hat." Begründet wurde dieser Vorschlag mit der Überlegung, daß damit die "verwickelte Art der Verteilung der Geldstrafen", die die Behörden sehr belaste, wegfalle. 79 Der VA strich diese Bestimmung der RV ohne Begründung. Der Berichterstatter im Plenum des NR, der Abgeordnete Dr. Kneußl erwähnte aber, daß sich "bei der Verhandlung derartige Schwierigkeiten entgegen stellten, daß deren Lösung auf einen späteren Termin verschoben werden mußte". 80 In dieselbe Richtung gingen die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Appel. 81 73 Vgl die Debattenbeiträge der Abgeordneten Kneußl und Dr. Appel in den StenProt des NR, 99. Sitzung am 18.8.1932, 4. GP, 2584 ff. 74 Art I Zif 16, 294 BlgNR, 4. GP. 75 StenProt des NR, 99. Sitzung am 18.8.1932, 4. GP, 2586. 76 Heute § 54 b Abs 2 VStG. 77 Vgl Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht4 (1987) RZ 949; Verwaltungsverfahrensrecht 5 (1991) RZ 948 / 9; Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts6 (1988) RZ 1401 sowie dort zit Jud. 78 Vgl den Bericht des VA 360 BlgNR, 2. GP, 28. 79 So die EB 294 BlgNR, 4. GP, 6.

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Bemerkenswerterweise ist diese Frage, von der in der parlamentarischen Debatte des Jahres 1932 gesagt wurde, daß sie "nach einer Vereinfachung ... schreit", 82 bis heute nicht gelöst. Die VStG-Novelle 1977 83 steckte sich zwar das Ziel den § 15 VStG verwaltungsökonomischer zu gestalten,84 und ordnete an, daß Geldstrafen sowie der Erlös verfallener Gegenstände dem Land zufließen, in dem die Strafe verhängt wurde; der im § 15 VStG normierte Grundsatz stand allerdings unter dem Vorbehalt anderslautender gesetzlicher Regelungen, er galt nur "sofern die Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmen". Eine Lösung des Problems brachte auch die letzte Änderung des § 15 VStG durch die Novelle 1983 85 nicht, die Bestimmung wurde im Gegenteil noch komplizierter: Geldstrafen sowie der Erlös verfallener Sachen fließen dem Land, in dem die Strafe verhängt wurde, für Zwecke der Sozialhilfe zu, bestehen aber Sozialhilfeverbände, so fließen sie nunmehr dem Sozialhilfeverband ZU. 86 Auch diese Neufassung steht unter dem Vorbehalt anderer Verwaltungsvorschriften des Materiengesetzgebers. Da in zahlreichen Materiengesetzen über die Verwendung von Geldstrafen Besonderes bestimmt wird,87 sind die Verwaltungsstrafbehörden schon aus diesem Grund angehalten, die eingelangten Strafgelder verschiedenen Stellen zuzuführen. Damit ist aber der durch die VStG-Novelle 1977 intendierte verwaltungsökonomische Sinn der Änderung erheblich gemindert. 3. Die VStG-Novelle 1971

Die Entstehungsgeschichte der VStG-Novelle 1971 88 belegt in signifikanter Weise die Tatsache, daß der praktisch bedeutendste Anwendungsbereich des VStG das Verkehrsstrafrecht geworden ist. Die VStG-Novelle 1971 geht auf einen parlamentarischen Initiativantrag betreffend ein VerkehrsrechtAnpassungsgesetz 1971 89 zurück; durch eine Ergänzung der StV090 und des 80 StenProt des NR, 99. Sitzung am 18.8.1932, 4. GP, 2584. 81

StenProt des NR, 99. Sitzung am 18.8.1932, 4. GP, 2585.

82 So der Abgeordnete Dr. Kneußl in der 99. Sitzung des NR am 18.8.1932,

StenProt, 4. GP, 2584. 83 BGBl1977 / 10l. 84 154 BlgNR, 14. GP, 2. 85 BGBl1983 / 176. 86 Diese Änderung sollte den Forderungen der Statutarstädte Rechnung tragen (siehe RV 161 BlgNR, 15. GP, 11). 87 Vgl zB § 100 Abs 7 StVO, § 28 Abs 3 AusländerbeschäftigungsG, § 41 Abs 2 ApothekenG, § 174 Abs 8 ForstG, § 372 GewO, § 42 EpidemieG uva. 88 BGBlI971 / 275. 89 II-775 BlgNR, 12. GP.

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KFG91 sollten die Exekutivorgane ermächtigt werden, bei geringfügigen Übertretungen dieser Vorschriften von der Verhängung einer Organstrafverfügung oder von der Erstattung einer Anzeige abzusehen. Bei der Beratung dieses Initiativantrages im NR gelangte man zu der Auffassung, daß eine Regelung der vorgeschlagenen Art "für den gesamten Bereich des Verwaltungsstrafrechts Gültigkeit haben" sollte und daß "daher einer umfassenden Regelung im Verwaltungsstrafgesetz 1950 der Vorzug zu geben wäre". 92 Auf Grund dieser Überlegungen kam es - im Zuge der parlamentarischen Beratungen über ein Strafrechtsänderungsgesetz 1970 - zu einem selbständigen Antrag des Justizausschusses, 93 der auf eine Novellierung der §§ 21, 47 und 50 VStG abzielte. Die vorgeschlagenen Neuregelungen wurden vom NR am 8. Juli 1971 beschlossen und als VStGNovelle 1971 im BGEl kundgemacht. 94 Beim Versuch einer rechtspolitischen Charakterisierung dieser Novelle zeigt sich, daß sie von ähnlichen Bestrebungen getragen war, wie die VStGNovelle 1932; im wesentlichen ging es um die - im Spannungsverhältnis zum Legalitätsprinzip stehende - Möglichkeit, in sogenannten "Bagatellfällen "von der Verhängung einer Strafe überhaupt abzusehen und um eine weitere Vereinfachung der abgekürzten Verfahren nach den §§ 47 und 50 VStG. Im einzelnen ist folgendes zu bemerken: 1. Mit der Neufassung des § 21 VStG sollte die Möglichkeit geschaffen werden, daß die Behörde (Abs 1) bzw das Organ der öffentlichen Aufsicht (Abs 2) von einer Bestrafung bzw von der Erstattung einer Anzeige absieht, wenn das Verschulden geringfügig ist und die Folgen der Übertretung unbedeutend sind; die bis dahin vorgesehene Verwarnung, der Strafcharakter zukam, sollte durch eine behördliche "Ermahnung" ohne Strafcharakter ersetzt werden; der neugeschaffene § 21 Abs 2 VStG sollte eine Praxis, der bislang die gesetzliche Deckung fehlte, legalisieren. 95

2. Mit der Neufassung des § 47 VStG wurde auch die Verhängung anderer, als der im VStG vorgesehenen Strafen für zulässig erklärt. 96 3. Mit der Änderung des § 50 VStG wurde vor allem die Verhängung eines Organstrafmandates auch in den Fällen als zulässig erklärt, in denen der 90

91 92 93 94 95 96

Art I Zif 10 des zit Initiativantrages sah ua einen § 99a StVO vor. Art 11. Zif 3 des zit Initiativantrages sah ua eine § 134 a KFG vor.

Vgl den Bericht und Antrag des Justizausschusses 513 BlgNR, 12. GP, 1. 513 BlgNR, 12. GP. BGBlI971 /275. 513 BlgNR, 12. GP, 1. Der Justizausschuß spricht von einem diesbezüglichen "dringenden Wunsch der Strafvollzugsbehörde" und nennt als Beispiel die "Entziehung von Vergünstigungen".

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Täter nicht an Ort und Stelle angetroffen wird; diese - offensichtlich auf Verkehrsdelikte abgestimmte - Regelung sollte die Praxis der sogenannten "Lenkerbenachrichtigung" legalisieren; im Zusammenhang mit dem Einsatz von elektronischen Datenverarbeitungsanlagen im Bereich der Polizeiverwaltung wurde die Bezahlung einer mit Organstrafverfügung verhängten Geldstrafe mittels Erlagschein ermöglicht. 97 4. Die AVG-Novelle 1982

Die AVG-Novelle 1982,98 deren Entstehungsgeschichte eine langdauernde und wechselvolle war, 99 sollte - nach den EB zur RV100 unter Beibehaltung des "grundlegenden Konzepts" des AVG lediglich "Ergänzungen" vornehmen, "die als zweckmäßig und wünschenswert erachtet werden". Als "wesentliche Zielsetzungen" nennen die EB: ,,1. Ausbau des Rechtschutzes durch die Einführung einer Rechtsbeleh-

rungspflicht durch die Behörden, Ausbau der Regelungen über die Akteneinsicht und die Erweiterung der Rechtsmittelbelehrung.

2.

Einführung der seit langem geforderten Zeugen-, Sachverständigenund Dolmetscher-(Übersetzer-)gebühren.

3.

Anpassung der Verfahrensvorschriften an neue technische Möglichkeiten wie die Verwendung automationsunterstützter Datenverarbeitungsanlagen und die Verwendung von Schallträgern."

Die RV sah 25 Änderungen und Ergänzungen, die im wesentlichen auf den genannten Zielsetzungen beruhten, vor; 101 der Verfassungsauschuß folgte weitgehend den Vorschlägen der RV; verschiedentlich erfolgten Präzisierungen und kleinere Ergänzungen, 102 die die Zielsetzungen der RV aber unberührt ließen. Substantielle Änderungen der RV nahm der Verfassungsausschuß in zwei Punkten vor: 1. Die RV sah eine Ergänzung des § 17 AVG vor, nach der Personen, die nicht Parteien des Verfahrens sind, unter bestimmten Voraussetzungen Akteneinsicht zu gewähren sein sollte; dies dann "wenn und insoweit dies 513 BlgNR, 12. GP, 2. 98 BGBl1982 / 199. 99 Vgl dazu Haller, Die geplante Novelle zum Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz, ZfV 1980, 216 ff.; vgl auch den Debattenbeitrag des Abgeordneten Dr. Neisser, in der 110. Sitzung des NR am 1. April 1982, StenProt, 15. GP, 11230 f. 100 160 BlgNR, 15. GP, 5. 101 Vgl zur RV Haller, ZfV 1980, 216 ff. 102 Vgl zB die §§ 13 Abs 1 und 3, 13 a, 14 Abs 5, 39 a, 49 Abs 1 lit c, 61 a; die zustellrechtlichen Vorschriften (§§ 21-31 AVG) wurden mit dem ZustellG, das zur gleichen Zeit in parlamentarischer Beratung stand, harmonisiert. 97

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zur Verfolgung ihrer Rechtsansprüche notwendig ist oder insoweit dies zur Verfolgung ihrer Rechtsansprüche notwendig ist oder insoweit die Zustimmung der Parteien dieses Verfahrens nachgewiesen wird". 103 Die EB berufen sich auf das Vorbild des § 219 Abs 2 ZPO;104 erwähnt sei, daß in der Praxis die Problematik der Einsicht Dritter in Verwaltungsakten besonders im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen immer wieder auftaucht. 105 Der VA strich diese Regelung der RV ersatzlos; der Bericht des VA enthält darüber keine Bemerkung. In der Plenardebatte kam der Abgeordnete Ing. Hobl auf diese Frage zu sprechen; er führte aus, daß der Ausschuß "nach sehr eingehender Diskussion" und "auf gutem Rat von Experten dann doch davon Abstand genommen hat, diesem gutgemeinten Vorschlag der Regierungsvorlage zu folgen" .106 2. Eines der Hauptanliegen der RV war es, für Zeugen auch im Verwaltungsverfahren einen Gebührenanspruch, wie er etwa im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens besteht, einzuführen. 107 Die Zweckmäßigkeit einer derartigen Regelung wurde sowohl von seiten der Praxis wie auch von seiten der Lehre bestritten; 108 gegen das Argument, es sein eine "Gleichbehandlung" der Zeugen des gerichtlichen Verfahrens und der des Verwaltungsverfahrens anzustreben,109 wurde vor allem der erhebliche Verwaltungsaufwand und die Kostenbelastung sowohl der Parteien wie auch der Rechtsträger ins Treffen geführt. 110 Der VA schloß sich diesen Bedenken in seinem Bericht ausdrücklich an, 111 und ließ diese Regelung entfallen. In der Plenardebatte betonte der Abgeordnete Dr. Neisser zwar die grundsätzliche Berechtigung der "seit Jahren" erhobenen Forderung auf Einführung von Zeugengebühren im Verwaltungsverfahren; aus einer Reihe von Untersuchungen, die der VA in Auftrag gegeben habe, sei aber hervorgegangen, daß eine solche Regelung "zu einer nicht zumutbaren Belastung des Verwaltungsapparates führen würde"; auch das Kostenproblem für den Staat und die Parteien hätte gegen die Einführung von Zeugengebühren gesprochen. 112

103 Art I Zif 6, 160 BlgNR, 15. GP. 104 160 BlgNr, 15. GP, 7. 105 Amold-Teschner, Akteneinsicht, Parteistellung, Art 6 Abs 2 lit c und Abs 3 AKHB 1967, Versicherungsrundschau 1974, 348 ff. 106 StenProt des NR, 110. Sitzung am 1. April 1982, 15. GP, 11232. 107 Vgl die EB 160 BlgNR, 15. GP, 8 f. 108 Vgl etwa Haller, ZfV 1980, 218 ff. 109 Vgl etwa die EB 160 BlgNr, 15. GP, 8 f. 110 Vgl Haller, ZfV 1980, 218 ff. 111 1049 BlgNR, 15. GP, 2. 112 StenProt des NR, 110. Sitzung am 1. A,priI1982, 15. GP, 11231.

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In der Debatte des Bundesrates ging der Abgeordnete Schachner auf die Novelle zum AVG ein; er sah die Manuduktionspflicht der Behörden als wesentlichen Schritt zu einer bürgernahen Verwaltung. 113 5. Die VStG-Novelle 1984

Die VStG-Novelle 1984 (BGB1299) geht auf einen selbständigen Antrag des Verfassungs ausschusses gern § 27 Abs 1 GOG zurück; sie steht inhaltlich im Zusammenhang mit der B-VG-Novelle BGBl1984 / 296, die eine Entlastung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, insb durch Ausschluß einer Säumnisbeschwerde den VwGH in Verwaltungsstrafsachen bezweckte. Gleichsam als "Ersatz" für den Ausschluß einer Säumnisbeschwerde wurde im § 51 Abs 5 VStG vorgesehen, daß ein mit Berufung angefochtener Bescheid als aufgehoben gilt, wenn eine Berufungsentscheidung nicht innerhalb eines Jahres ab Einbringung der Berufung erlassen wird. 114 Die Regelung wirft zahlreiche Auslegungsfragen auf und hat auch ein offenbar nicht vorhergesehenes - Rechtsschutzdefizit bewirkt. 115 Die VStG-Novelle 1984 brachte in einem zweiten Punkt eine praktisch bedeutende Änderung; im § 31 Abs 3 VStG wurde mit einem ergänzenden Satz angeordnet, daß die Zeit eines Verfahrens vor dem VfGH oder dem VwGH in die dreijährige Frist für die Strafbarkeits- und Vollstreckungsverjährung nicht einzurechnen ist. Damit soll verhindert werden, daß die Verfolgung von Verwaltungsübertretungen durch Eintritt der Verjährung infolge der relativ langen Verfahrensdauer bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts unzulässig wird; gleichzeitig soll damit aber auch ein Anreiz beseitigt werden, durch Anrufung des VfGH die Verjährung herbeizuführen. 116

StenProt des BR, 421. Sitzung am 22. April 1982, 15825. Vgl dazu auch den AB 348 BlgNR, 16. GP und den - auch juristisch substantiellen - Debattenbeitrag von Dr. Michael Graf! in der 51. Sitzung des NR am 26.6.1984, StenProt, 4408 ff. 115 Dies insb infolge der zutreffenden - Auslegung des Begriffes "Verwaltungsstrafsachen" durch den VwGH (VwGH 25.2.1985, Zl 84/10/0237); näher zu dieser Regelung (heute § 51 Abs 7 VStG) auch Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht 5 (1991) RZ 935. Anläßlich der Beratungen zur VStG-Novelle 1987, BGB1516 nahm der VA zwar von "Schwierigkeiten" Kenntnis, sah von einer Initiative zu einer Änderung aber ab (vgl 293) BlgNR, 17. GP, 2). 116 Vgl dazu die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Michael Graf! in den StenProt des NR, 51. Sitzung am 26.6.1984, 4409. 113

114

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6. Die VVG-Novelle 1986

Ebenso wie die Entstehungsgeschichte der VStG-Novelle 1984, BGBl. 299, weicht auch die VVG-Nov. 1986, BGBl210 vom Alltag des Gesetzgebungsverfahrens ab; diese Novelle hat ihre endgültige Formulierung erst in der zweiten Lesung im Plenum des NR erhalten. Zunächst sah die RV zu einer VVG-Novelle 1986 117 durch eine entsprechende Änderung des § 3 Abs 1 VVG vor, daß die Exekution von Geldleistungen ausschließlich durch die G~richte erfolgen solle; diesem Vorschlag wurde vom Verfassungsausschuß gefolgt.118 In der Plenarsitzung des NR am 3. April 1986 fand die zweite Lesung des Gesetzesvorschlags statt; 119 dabei stellte der Abgeordnete Dr. Heinrich Neisser den Antrag § 3 Abs 1 VVG durch einen Satz zu ergänzen. Es sollte der Vollstreckungsbehörde die Möglichkeit eingeräumt werden, die Exekution von Geldleistungen dann selbst zu besorgen, "wenn dies im Interesse der Raschheit und der Kostenersparnis gelegen ist"; der Antrag wurde zum Gesetzesbeschluß erhoben. Damit wurde die ursprüngliche angestrebte Konzentration der Vollstreckung von Geldleistungen durch die Gerichte zwar als Grundsatz normiert, gleichzeitig wurden aber auch Ausnahmen im Sinne der "bisherigen Praxis" - so der Antragsteller Dr. Heinrich Neisser - zugelassen. 7. Die VStG-Novelle 1987

Die Novelle 1987 stellt die bisher umfangreiche Änderung des VStG dar. Sie ist von drei großen Zielsetzungen getragen: Erstens der Zurückdrängung der Freiheitsstrafe gegenüber der Geldstrafe; zweitens der genaueren Regelung der Festnahme und des Strafvollzugs, also der Stärkung des Legalitätsprinzips beim verwaltungsstrafrechtlichen Freiheitsentzug; drittens der Entlastung der Verwaltungsstrafbehörden durch Einführung der "Anonymverfügung" . Die Wurzeln der VStG-Novelle 1987 reichen weit zurück 120 ; Ende 1978 kam es zur Erstellung einer RV 121, die ua die Zurückdrängung der Frei-

117

905 BlgNR, 16. GP.

118 922 BlgNR, 16. GP.

StenProt des NR, 137. Sitzung am 3.4.1986,12114. Siehe dazu Kucsko-Stadlmayer, Die neue Regierungsvorlage zum Verwaltungsstrafrecht, ÖJZ 1984, 661. 121 RV 1074 BlgNR, 14. GP. 119

120

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heitsstrafen und die Neuregelung des Strafvollzuges zum Ziel hatte. Die diesbezüglichen Regelungen wurden nicht beschlossen. 1984 wurde neuerlich eine RV122 erstellt, die vom Anliegen getragen war, die Freiheitsstrafe zurückzudrängen, den Strafvollzug näher zu determinieren und den Schutz der persönlichen Freiheit in den Bestimmungen über die Festnahme zu gewährleisten. Ebenfalls nicht Gesetz geworden, flossen ihre Regelungsvorschläge - zum Großteil unverändert - in die RV123 zur Novelle 1987 und somit auch in diese Novelle ein. Auch die Anonymverfügung fand sich bereits 1985 in einer vom NR. nicht beschlossenen RV 124; auch sie wurde nun weitgehend übernommen. Im einzelnen sah die RV 1987 vor, die Zielsetzungen folgendermaßen zu verwirklichen: 1. Die Zurückdrängung der Freiheitsstrafe setzt an allen Formen des

verwaltungs strafrechtlichen Freiheitsentzuges an: am Hausarrest, der primären Freiheitsstrafe und der Ersatzfreiheitsstrafe.

Während der Hausarrest, in Anpassung an die Praxis - die Verhängung des Hausarrests war aus der Übung gekommen 125 - als Strafmittel völlig beseitigt wird, soll die im internationalen Vergleich übermäßige Anzahl von Verwaltungsstrafgefangenen durch die Einengung der Möglichkeit, Freiheitsstrafen zu verhängen, verringert werden. a) Beschränkung der Freiheitsstrafen bei Erwachsenen: Die bedeutendste Beschränkung der primären Freiheitsstrafen beinhaltet § 11 VStG, danach ist die Verhängung von primären Freiheitsstrafen nur noch aus spezialpräventiven Gründen erlaubt; "eine Freiheitsstrafe darf nur noch verhängt werden, wenn dies notwendig ist, um den Täter von weiteren Verwaltungsübertretungen gleicher Art abzuhalten" .126 Der zweite Schritt zur Einschränkung der primären Freiheitsstrafe besteht in der Einführung von Strafhöchstgrenzen (§ 12 VStG): Eine längere als sechswöchige primäre Freiheitsstrafe darf überhaupt nicht verhängt werden; es wird also eine absolute Höchstgrenze geschaffen. 127 Eine längere als zweiwöchige primäre Freiheitsstrafe ist nur in Ausnahmefällen zulässig, nämlich "wenn dies wegen besonderer Erschwerungsgründe geboten ist".

122 123 124 125 126

RV 356 BlgNR, 16. GP. RV 133 BIgNR, 17. GP. RV 617 BIgNR, 16. GP. So das Argument der RV 133 BlgNR, 17. GP, 8 (Zu Zif 2). Ein fast gleichlautender Regelungsvorschlag fand sich bereits RV 1074 BlgNR, 14. GP, 2. 127 Dies wird auch in der RV 133 BIgNR, 17. GP, 9 (Zu Zif 2) betont.

in

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Darf nun infolge dieser Neuregelung die in den besonderen Verwaltungsgesetzen vorgesehene Freiheitsstrafe nicht verhängt werden, so ist stattdessen eine primäre Geldstrafe vorzuschreiben (§ 12 Abs 2 VStG). Auch die Ersatzfreiheitsstrafe erfährt durch die Novelle 1987 eine Begrenzung ihrer Höhe: Es wird hier ebenfalls eine absolute Höchstgrenze von sechs Wochen eingeführt (§ 16 Abs 2 VStG).128 b) Beschränkung der Freiheitsstrafen bei Jugendlichen: Für Jugendliche (14-18 Jahre) normi.ert die Novelle 1987 in § 58 Abs 2 VStG eine weitergehende Einschränkung der Freiheitsstrafe als für Erwachsene. Gegen Jugendliche, die zur Tatzeit das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, darf keine Freiheitsstrafe, weder eine primäre noch eine Ersatzfreiheitsstrafe, 129 verhängt werden. Gegen 16-18jährige Jugendliche ist die Verhängung einer primären Freiheitsstrafe nur zulässig, "wenn dies aus besonderen Gründen geboten ist"; 130 überdies wird eine absolute Höchstgrenze für primäre Freiheitsstrafen und Ersatzfreiheitsstrafen von zwei Wochen festgelegt. 2. Dem Ziel der Stärkung des Legalitätsprinzipss wurde a) durch die Regelung des Kontakts Festgenommener mit der Außenwelt und b) der Schaffung von Bestimmungen über die Ausgestaltung der Haftlokale sowie durch die neue und umfangreichere Regelung des Strafvollzuges Rechnung getragen. a) Die Möglichkeit der Kontaktnahme Festgenommener mit der Außenwelt wurde durch § 36 Abs 3 und 4 VStG sichergestellt: Die Novelle 1987 räumt dem Festgenommenen das Recht ein, bestimmte Personen von seiner Festnahme zu verständigen. Weiteres wird festgehalten, daß Verwahrte das Recht haben, Besuch zu empfangen und ihr Postverkehr grundsätzlich keinen Beschränkungen unterliegt. b) Die Novelle 1987 schafft eine Regelung der wichtigsten Fragen des Strafvollzuges und der Rechte der Inhaftierten. Ihr Verdienst ist es, die 128 Alle diese Höchstgrenzen, sowohl die der primären Freiheitsstrafe als auch die der Ersatzfreiheitsstrafe fanden sich schon in der RV 1074 BlgNR, 14. GP, 2. 129 Nach dem Wortlaut des § 16 sind Ersatzfreiheitsstrafen gegen Jugendliche unter 16 Jahren wohl verboten; so auch Walter, (Die Verwaltungsstrafgesetznovelle 1987, ÖJZ 1988, 366. Auch die Erläuterungen der RV 133 BlgNR, 17. GP (zu Zif 17 letzter Satz) dürften dieser Auslegung Recht geben. 130 Diese Voraussetzung der Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen Jugendliche muß in Zusammenhang mit § 11 VStG gesehen werden; dh auch gegen Jugendliche darf eine Freiheitsstrafe nur verhängt werden, wenn dies aus spezialpräventiven Gründen notwendig ist (§ 11 VStG), darüber hinaus müssen aber noch "besondere Gründe" vorliegen, die die Verhängung der Freiheitsstrafe gegen den Jugendlichen rechtfertigen (§ 58 Abs 2 VStG). Eine andere Auslegung würde den Jugendlichen schlechter stellen als den Erwachsenen und widerspricht damit der Intention des Gesetzgebers. Unklar bleibt allerdings, was der Gesetzgeber unter "besonderen Gründen" versteht.

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Vollstreckung der Verwaltungs strafen aus dem bislang weitgehend rechtsfreien Raum zu heben. Die neuen §§ 53 bis 54 d VStG treffen nunmehr genauere Bestimmungen über den Ort des Vollzugs, die zuständige Strafvollzugsbehörde, den Strafantritt; Regelungen über die Beschaffenheit der Hafträume und die Fälle der Unzulässigkeit des Vollzugs sowie die Möglichkeit, den Vollzug aufzuschieben oder zu unterbrechen. Weiteres werden das Recht, grundsätzlich freien Briefverkehr zu pflegen und Besuche zu empfangen, festgeschrieben. 3. Erwähnenswert sind noch zwei Verbesserungen der Rechtsstellung und des Rechtsschutzes der Partei im Verwaltungsstrafverfahren: Zu nennen ist hier einmal die Änderung des § 5 VStG, dahingehend, daß der Täter fehlendes Verschulden bei Ungehorsamsdelikten nun nicht mehr beweisen, sondern nur mehr glaubhaft machen muß. 131 Zum anderen wurde auf Anregung der Volksanwaltschaft eine zweite Möglichkeit geschaffen, mangelhafte rechtskräftige Bescheide aufzuheben. Neben der bereits zulässigen Nichtigerklärung 132 besteht nun auch die Möglichkeit, Verwaltungsstrafbescheide, durch die zum Nachteil des Bestraften des Gesetz offenkundig verletzt worden ist, von Amts wegen aufzuheben; die Folgen der Bestrafung sind wiedergutzumachen (§ 52 a VStG). Soweit zu den Neuregelungen, die im Dienste der Zuruckdrängung der Freiheitsstrafe und Stärkung des Legalitätsprinzips stehen. Mittel zur Verwirklichung des dritten großen Zieles dieser Novelle, der Verwaltungsvereinfachung, ist: 4. Die Einführung der "Anonymverfügung" (§ 49a VStG). Die Anonymverfügung stellt eine "Art Strafverfügung gegen einen unbekannten Täter",133 eine vereinfachte Strafverfolgung für geringfügige Delikte, dar. Bei bestimmten durch VO festzulegenden Delikten kann die Behörde nunmehr von der Ausforschung eines unbekannten Täters absehen und eine Geldstrafe bis zu 1.000 Schilling vorschreiben. Zuzustellen ist die Anonymverfügung einer Person, von der die Behörde mit Grund annehmen kann, daß sie "den Täter kennt oder leicht feststellen kann". Wird

131 Aus den Erläuterungen zur RV (133 BlgNR, 17. GP, 8) ergibt sich, daß die Umformulierung des § 5 VStG nur eine "sprachlich klarere Ausdrucksweise" schaffen wollte, nicht aber auch eine inhaltliche Änderung herbeiführen wollte. Gegenüber dem klaren Wortlaut der Bestimmung schlägt allerdings die subjektive Absicht des Gesetzgebers nicht durch. So auch Walter, ÖJZ 1988, 322. 132 § 24 VStG iVm § 68 Abs 4 AVG. 133 Walter, ÖJZ 1988, 361.

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der Strafbetrag nicht binnen vier Wochen nach Ausfertigung eingezahlt, so wird die Anonymverfügung gegenstandslos und der Täter ist auszuforschen. Wie schon 1971 die Einführung des Organstrafmandats, dient auch die Anonymverfügung dazu, die Behörden im Hauptanwendungsgebiet des Verwaltungs strafrechts , also im Bereich der Verkehrsdelikte, zu entlasten. Die Ahndung kleinerer Verkehrsdelikte soll nach der Intention des Gesetzgebers mit geringstem Aufwand, insb ohne Lenkererhebung erfolgen. 134 Dabei wurde allerdings, wie Walter 135 kritisiert, eine Möglichkeit geschaffen, sich von der Auskunftspflicht nach § 103 Abs 2 KFG freizukaufen und eine neue Einnahmequelle eröffnet, nicht aber eine "geeignete Einrichtung einer Verwaltungsstrafrechtspflege" geschaffen. Die RV wurde im wesentlichen unverändert im Nationalrat beschlossen. Erwähnenswert sind folgende Ergänzungen des Verfassungsausschusses: Die Verpflichtung, den Festgenommenen "ehestens in einer ihm verständlichen Sprache über die Gründe seiner Festnahme und die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zu unterrichten" (§ 36 Abs 1 VStG), geht auf einen Vorschlag des Verfassungsausschusses zurück. -

Weiteres wurde die Rechtsstellung jugendlicher Täter durch den Ausschuß verbessert: Bei Jugendlichen ist § 20 VStG, die Bestimmung über die außerordentliche Strafmilderung jedenfalls anzuwenden, dh es kann bei Jugendlichen auch ohne Vorliegen von Milderungsgründen die Mindeststrafe bis zur Hälfte unterschritten werden.

Trotz der bedeutenden Neuregelungen wurden einige seit langem diskutierte Ziele der Verwaltungsverfahrensreform mit dieser Novelle nicht verwirklicht: An erster Stelle ist die überfällige Anpassung des Verwaltungsstrafrechts an die Erfordernisse des Art 6 MRK und des Art 2 des 7. ZP 136 zur MRK zu nennen und die gleichzeitige Streichung des Vorbehaltes zu Art 5 MRK Dieser Vorbehalt wurde bislang von Judikatur und Lehre auf Art 6 MRK ausgedehnt. Inwieweit dieser unklare Vorbehalt die bestehende Rechtslage legitimieren kann, ist allerdings umstritten. 137 Art 6 MRK verlangt, daß über strafrechtliche Anklagen ein "Tribunal", also eine gerichtsähnliche Siehe die EB der RV zur Zif 12 (133 BlgNR, 17. GP, 10). Walter, ÖJZ 1988, 362. 136 Seit dem 1.11.1988 in Kraft. 137 Siehe zu diesem Problem die in Walter-Mayer, Bundesverfassungrecht 6 (1988) RZ 1485 ff. angegebene Literatur sowie Walter, Pläne zur Neugestaltung des Rechtsschutzes in Verwaltungsstrafsachen, ÖJZ 1987, 385; und Mayer, Zur Einführung von kollegialen Verwaltungsstrafbehörden, RZ 1987, 2. 134 135

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unabhängige Behörde, 136 entscheidet. Nach Art 2 des 7. ZP muß zudem die Anrufung eines übergeordneten Tribunals möglich sein. Diese Notwendigkeit einer Anpassung an die Forderungen der MRK wurde in den Materialien, insb in der NR-Debatte anerkannt und angesprochen. Im übrigen wurde auf die bevorstehende weitere Novellierung der Verwaltungsverfahrensgesetze verwiesen. 139 Ein zweiter offener Punkt soll hier noch genannt werden: die Entschärfung bzw Abschaffung des Kumulationsprinzips und damit die Anpassung an das StGB,140 wo beim Zusammentreffen mehrerer Delikte keine Addition der Strafen erfolgt: Nach der in diesem Punkt unverändert belassenen Rechtslage müssen bei Begehung mehrerer Verwaltungsübertretungen die dafür vorgesehen Strafen nebeneinander verhängt werden. Bei dieser Addition erreichen insb die Freiheitsstrafen oft eine beachtliche Dauer. Strafausmaße, die etwa Bezirksrichter nicht verhängen können. 141 Tatsächlich fand sind in der nicht Gesetz gewordenen RV von 1984 142 bereits ein Ansatz zur Entschärfung des Kumulationsprinzips, dieser wurde aber in den Beratungen zur Novelle 1987 nicht aufgegriffen. Im Vortrag an den Ministerrat 143 wird dies damit begründet, daß "sich in den parlamentarischen Beratungen gezeigt" habe, "daß eine adäquate Lösung gegenwärtig nicht möglich" sei. 8. AVG- und VStG-Novelle 1990

Die Novelle 1990 144 stellen eine einschneidende Veränderung im Verwaltungsverfahren dar: sie regeln das Verfahren vor Behörden, die es bislang nicht gab, den Unabhängigen Verwaltungssenaten (UVS), und gliedern diese neuen verfahrensrechtlichen Bestimmuhgen in das AVG und VStG ein. Die Entstehungsgeschichte der Novellen 1990 reicht weit in das Verfassungsrecht: 136 Vgl Walter-Mayer, Bundesverfassungsrecht6 (1988) RZ 1480 ff. 139 Eine vage Andeutung weitergehender Refonnen findet sich in der RV 133 BlgNR, 17. GP, 8; deutlich weisen die Abgeordneten Rieder, Geyer und Ermacora auf dieses Manko in den StenProt des NR, 31. Sitzung am 21.10.1987, 17. GP, 3630, 3633 und 3639 hin. 140 § 28 StGB. 141 Der Abgeordnete Geyer streicht diesen Umstand deutlich hervor in den StenProt des NR, 31. Sitzung am 21.10.1987,17. GP, 3634; siehe auch Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht5 (1991) RZ 824; und Kucsko-Stadlmayer, ÖJZ 1984, 662. 142 RV 356 BlgNR, 16. GP. 143 GZ 601.468/5 - V/I / 87. 144 AVG: BGBl1990 / 357; VStG: BGBl1990 / 358.

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Ausgangspunkt hierfür ist Art 6 MRK. Er räumt dem Einzelnen einen Anspruch darauf ein, daß in Zivil- und Strafsachen ein "Tribunal" entscheidet. Die bisherige Verfassungsrechtslage wurde dieser Forderung nicht gerecht. Zwar konnten verwaltungsbehördliche Bescheide letztendlich vor Gerichten, nämlich vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts, bekämpft werden; aufgrund der beschränkten Kognitionsbefugnissen des VwGH und VfGH - sie können nur kassatorisch, nicht aber reformatorisch entscheiden - genügt dieser Rechtsschutz Art 6 MRK nicht. Während die österreichische Judikatur über Jahrzehnte hinweg die bestehende Rechtslage zu rechtfertigen 145 suchte, ließ sich in den letzten Jahren ihre Verfassungswidrigkeit - insb wegen der deutlichen Rechtsprechung des EGMR 146 - nicht mehr leugnen. Damit setzten Bemühungen der Anpassung an die Forderungen der MRK und der Straßburger Instanzen ein. 147 Diese Bemühungen waren allerdings weniger davon getragen, eine Regelung ganz im Sinne der MRK und des umfassenden Rechtsschutzes zu schaffen, als davon, allzu tiefe Eingriffe in die bestehende Aufgabenverteilung hinten anzuhalten. So wurden mit der B-VG,..Novelle 1988 148 neue Landesbehörden, die UVS geschaffen, Behörden, die weisungsfrei gestellt sind, deren Mitglieder für mindestens 6 Jahre bestellt werden und unabsetzbar und unversetzbar sind; 149 Behörden, die den Anforderungen des Art 6 MRK gerade noch genügen. 150 Sie sind nach Art 129a B-VG zuständig zur Entscheidung "nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges" in Verwaltungsstrafsachen, zur Entscheidung über faktische Amtshandlungen, zur Entscheidung in Angelegenheiten, die ihnen durch die Materiengesetze übertragen werden und schließlich zur Entscheidung über Säumnisbeschwerden in all diesen Angelegenheiten.

145 In Verwaltungsstrafsachen insb durch Ausdehnung des unklaren Vorbehaltes zu Art 5 MRK auf Art 6 MRK; siehe dazu Mayer, Die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern, in: Walter (Hrsg), Verfassungsänderungen 1988 (1989) 83. 146 EGMR 16.7.1971, YB 15, 678, Fall Ringeisen; EGMR 23.6.1978, 406, Fall König; EGMR 23.6.1981, EuGRZ 1981, 551, Fall Le Compte; EGMR 22.10.1984, EuGRZ 1985, 336, Fall Sramek; EGMR 23.10.1985, EuGRZ 1986, 299, Fall Benthem. 147 Vgl den Entwurf des Bundeskanleramtes mit dem das B-VG durch Bestimmungen über Verwaltungsstrafbehörden ergänzt wird GZ 601.861 / 7 - V/I / 86; und die nicht Gesetz gewordene RV 132 BlgNR, 17. GP samt AB 668 BlgNR, 17. GP. 148 BGBl1988 / 685. 149 Art 129 b B-VG. 150 Mayer-Stöberl, Die Unabhängigen Verwaltungssenate im Rechtsstaat, ÖJZ 1991, 257 f. Zur Diskussion über Alternativen zum Modell der UVS: WalteT, Pläne zur Neugestaltung des Rechtsschutzes in Verwaltungsstrafsachen, ÖJZ 1987, 385; Pernthaler-Rath-Kathrein, Die Einführung von Landesverwaltungsgerichten eine Alternative zu den unabhängigen Verwaltungssenaten in den Ländern, JBL 1989, 609. .

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Nicht klar erkennbar ist aufgrund der Regelung der §§ 129a und 129b B-VG die verfassungsrechtliche Einordnung der UVS in das bestehende Rechtsschutzsystem; diskutiert wurde, ob 'die UVS Berufungsbehörden sein sollten, oder ihre Anrufung als außerordentliches Rechtsmittel geplant war. 151 Die Entscheidung dieser Frage kam somit dem Gesetzgeber zu, der mit der Regelung des Verfahrens vor den UVS betraut wurde; das ist nach § 129b Abs 6 B-VG der Bundesgesetzgeber; er befand, daß die UVS vom BVG als Berufungsbehörden konzipiert sind und regelt das Verfahren vor den UVS als Berufungsverfahren. 152 Mit der Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Verwaltungsverfahrensnovelle 1990 ist auch schon klar, welches Hauptziel diese Novellen verfolgen: es ist die Schaffung einfachgesetzlicher Grundlagen für das Verfahren vor den UVS und gleichzeitig die Verwirklichung eines Verfahrens, das den Anforderungen des Art 5 und 6 MRK 153 entspricht. Neben diesem Hauptziel wurde die Novelle 1988 von zwei weiteren wichtigen Absichten getragen: Die Entlastung der Berufungsbehörden, insb der UVS durch die Einführung der Berufungsvorentscheidung 154 in das Verwaltungsverfahren und von der Intention der Abschwächung des vieldiskutierten Kumulationsprinzips im Verwaltungsstrafrecht; letzteres wurde allerdings nicht verwirklicht. Im folgenden werden die Regelungen, die der Umsetzung dieser Ziele dienen, genauer betrachtet: 1. AVG:

Die RV zum AVG155 schlug eine Regelung des Verfahrens des UVS vor, die im wesentlichen unverändert beschlossen wurde: Die §§ 67 a67 g AVG regeln das Verfahren vor den UVS in allgemeinen Verwaltungsangelegenheiten, also das Verfahren bei der Entscheidung über allgemeine Bescheide in Angelegenheiten, die den UVS durch die Materiengesetze zugewiesen wurden und das Verfahren bei der Entscheidung über faktische Amtshandlungen: Sie normieren die Formerfordernisse 151 Ersteres vertritt Mayer in: Walter (Hrsg) , Verfassungsänderungen 1988 (1989) 86 f.; letzteres Aichlreiter, Unabhängige Verwaltungssenate als Berufungsinstanz?, ZfV 1990, 20 und Thienel, Das Verfahren der Verwaltungssenate (1991) 17 ff.

152 Siehe dazu die ausführlichen Erläuterungen in den RV zu den Verwaltungsverfahrensnovellen 1990 (RV zur AVG-Nov: 1089 BlgNR, 17, GP, 6 ff.; RV zur VStGNovelle 1090 BlgNR, 17. GP, 9 f.). 153 Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wurde schon mit der VStG-Novelle 1987 getan. 154 Im Abgabenverfahren gibt es die Berufungsvorentscheidung schon lange (§ 276 BAO). 155 RV 1089 BlgNR, 17. GP.

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einer Berufung an die UVS; legen fest, wann die UVS in Senaten und wann einzelne Mitglieder zu entscheiden haben; sie fordern die Öffentlichkeit der Verhandlung; und sie bestimmen, wer Parteistellung im Verfahren vor den UVS hat. Die UVS sind Teil des administrativen Instanzenzuges, sie entscheiden als Berufungsbehörden (§ 67 a Abs 1 AVG); in Zusammenhang mit § 66 Abs 4 AVG bedeutet das, daß den UVS volle Kognitionsbefugnis zukommt, daß sie also sowohl hinsichtlich des Sachverhaltes als auch hinsichtlich der Rechtsfragen selbständig entscheiden. 156 Das entspricht den Anforderungen des Art 6 MRK. 2. VStG: Die RV zum VStG157 lieferte zum ersten einen Entwurf zur Regelung des Verfahrens in Verwaltungsstrafangelegenheiten vor den UVS: Auch hier finden wir Bestimmungen über die Besetzung der UVS und das Gebot, die mündliche Verhandlung grundsätzlich öffentlich abzuhalten. Der UVS entscheidet auch im Verwaltungsstrafverfahren als Berufungsbehörde mit voller Kognitionsbefugnis, hier allerdings immer als zweite und letzte Instanz (§ 51 Abs 1 VStG). Zum zweiten sah die RV eine Berufungsvorentscheidung in Verwaltungsstrafsachen vor: Die erste Instanz hat die Möglichkeit - nicht die Pflicht - ihre Entscheidung im Sinne des Berufungsbegehrens abzuändern, also neuerlich in der Sache zu entscheiden; nur wenn sie dies nicht tut, wird der UVS zur Entscheidung zuständig (§ 51 b VStG). Die Einführung der Berufungsvorentscheidung steht im Dienste der Verwaltungs ökonomie; sie ist va für Fälle konzipiert, in denen die erste Instanz bei der Entscheidung offenkundiger Irrtümern erlegen ist. Die erste Instanz soll die Möglichkeit erhalten, ihren Fehler zu korrigieren; sie wird dies im Regelfall mit geringem Aufwand bewerkstelligen, zumal ihr der Fall schon bekannt ist. Damit werden die UVS entlastet. 158 Zum dritten machte die RV einen Vorschlag zur Zurückdrängung des Kumulationsprinzipes und damit einer Anpassung des Verwaltungsstrafrechts an das StGB: sie regte eine komplizierte Regelung an, die manche Angelegenheiten nach dem Absorptions- und Asperationsprinzip behandelte, die also vorsah, daß der Täter mit der Strafe für die am strengsten strafbedrohte Tat zu belegen ist bzw mit einer gegenüber 156 So auch RV 1089 BlgNR, 17. GP, 11. 157 RV 1090 BlgNR, 17. GP. 158 Siehe auch die erläuternden Bemerkungen zur RV (RV 1090 BlgNR, 17. GP, 10 und 18 f.); sowie die Ausführungen des Abgeordneten Gradischnik in den StenProt des NR (145. Sitzung am 6.6.1990),17. GP, 16813). 35'

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dieser strengsten Strafe verschärften Strafe; in anderen Fällen behielt sie das Kumulationsprinzip beL 159 Gegenüber der RV nahm der Verfassungsausschuß eine Reihe von Änderungen vor; die dahinterstehenden Überlegungen bleiben allerdings mangels erläuternder Bemerkungen in den Ausschußberichten 160 unklar. Die beiden wichtigsten Änderungen zum AVG sind: Zum einen die Einführung der Berufungsvorentscheidung auch in das AVG (§ 64 a), so daß die Behörde erster Instanz auch im allgemeinen Verwaltungsverfahren die Möglichkeit hat, dem Berufungsbegehren voll Rechnung zu tragen. Die Berufungsvorentscheidung, von der man sich eine Aufwandminimierung, also eine Verwaltungsvereinfachung, verspricht, soll damit auch für das allgemeine Verwaltungsverfahren nutzbar gemacht werden. Zum zweiten änderte der Verfassungsausschuß § 63 Abs 5 AVG, also jene Bestimmung, die die Behörde, bei der die Berufung einzubringen ist, festlegt. Während Einbringungsstelle bislang nur die Behörde war, "die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat", ist es nun möglich, die Berufung wahlweise auch bei der Behörde, "die über die Berufung zu entscheiden hat", einzubringen. 161 Der Ausschußbericht weist auch eine bedeutende Abweichung von der RV zur VStG-Novelle auf: Der Verfassungsausschuß entschied sich für die Beibehaltung des Kumulationsprinzips im VStG. Den stenographischen Protokollen 162 ist zu entnehmen, daß gegen die Aufnahme des Absorptions- und Asperationsprinzips in das Verwaltungsstrafrecht heftiger Widerstand geleistet wurde, da man um die abschreckende Wirkung der Verwaltungsstrafe bangte. Der AVG- und VStG-Novelle 1990 ist es wohl weitgehend 163 gelungen, die neugeschaffenen UVS so in das Verfahrensrecht einzubinden, daß Art. 5 und 6 MRK Genüge getan ist. Siehe RV 1090 BlgNR, 17. GP, §§ 22, 22 a, 22 b. AB zum AVG: 1350 BlgNR, 17. GP; AB zum VStG: 1351 BlgNR, 17. GP. 161 Diese Änderung des § 63 Abs 5 AVG scheint va in Hinblick auf die neugeschaffene Zuständigkeit der Behörde erster Instanz zur Berufungsvorentscheidung unzweckmäßig, da sie unnötige Aktenläufe zwischen Berufungsbehörde und Behörde erster Instanz bedingt. Kritisch auch Walter-Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht (1991) RZ 519. 162 Vgl die Rede der Abgeordneten Partik-Pable in den StenProt des NR, 145. Sitzung am 6.6.1990, 17. GP, 16816; sowie Neidhart, 16823. 163 So entspricht etwa § 5 Abs 1 VStG auch nach der Novellierung 1987, wegen der Verpflichtung des Beschuldigten zur Glaubhaftmachung seiner Unschuld, nicht 159

160

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Die langjährige Diskussion um die Entschärfung des Kumulationsprinzips im VStG konnte diese Novelle aber keiner Lösung zuführen.

IV. Schlußbemerkung Eine abschließende Würdigung der Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts zeigt, daß der Gesetzgeber sowohl bei der Schaffung wie auch bei späteren Novellierungen der Verwaltungsverfahrensgesetze im wesentlichen an den zwei Grundpfeilern festgehalten hat: das Legalitätsprinzip, verstanden als Garantie des Schutzes subjektiver Rechte und das Prinzip der Verwaltungsvereinfachung. Der für das Verwaltungsverfahren charakteristische Umstand, daß es sich um Massenverfahren handelt, hat sich seit der Erlassung der Verwaltungsverfahrensgesetze im Jahre 1925 durch zunehmende Aufgaben der Hoheitsverwaltung verstärkt; der Gesetzgeber hat die damit verbundenen Probleme meist behutsam und systemkonform einer Lösung zugeführt. Daß der Gesetzgeber die Einheitlichkeit des Verwaltungsverfahrens oft aus kurzsichtigen Rücksichten und ohne Orientierung am Konzept der Verwaltungsverfahrensgesetze durch eine Vielzahl abweichender Vorschriften in den die besonderen Gebiete der Verwaltung regelnden Gesetzen durchbrochen hat, ist bedauerlich; die Ursachen einer derart konzeptlosen Gesetzgebung liegen praktisch wohl weniger bei den Organen der Gesetzgebung, denn in einer allzu sehr im Ressortdenken verhafteten Bürokratie.

der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK; siehe dazu auch Walter, ÖJZ 1988, 322.

Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich Entwicklung und Gegenwartsprobleme Zweiter Teilband

Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich Entwicklung und Gegenwartsprobleme Zweiter Teilband

Herausgegeben von

o. Prof. Dr. Dr. h. c. Herbert Schambeck Präsident des Österreichischen Bundesrates

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich : Entwicklung und Gegenwartsprobleme / hrsg. von Herbert Schambeck. - Berlin : Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07723-7 NE: Schambeck, Herbert [Hrsg.] Teilbd.1 (1993) Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich : Entwicklung und Gegenwartsprobleme / hrsg. von Herbert Schambeck. - Berlin : Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07723-7 NE: Schambeck, Herbert [Hrsg.] Teilbd.2 (1993)

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07723-7

Inhaltsverzeichnis Gesamtübersicht ERSTER TEILBAND Vorwort des Herausgebers.... ... ........... .... ...... ... .......... .... ... ......

XXXV

Bundespräsident Dr. Thomas Klestil Zum Geleit ................................ . ...... . ...... . ...... . ...... . ........

XXXIX

1. Werden und Funktion des österreichischen Staatsrechts

Herbert Schambeck Von den Staatszwecken Österreichs

3

Wilhelm Brauneder Der Beitrag des Parlaments zur Entwicklung des Verfassungsrechts vor 1918................................................................................

43

Christian Neschwara Zur Entwicklung des Verfassungsrechts nach 1918

83

Konrad Atzwanger Die Entwicklung des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts 1848 bis 1919 ...............................................................................

221

Werner Zögernitz Das parlamentarische Verfahren ab 1920

235

J ohannes Hengstschläger

Das Budgetrecht und seine Entwicklung ......................................

263

Heribert Franz Köck Die Rolle des Parlaments in der Außenpolitik ................................

297

Bruno Primetshofer und J osef Kremsmair Die gesetzliche Entwicklung der Beziehungen von Kirche und Staat......

397

Inhaltsverzeichnis

VI

II. Verfahrensrecht und seine Entstehungsgeschichte Franz Matscher Die Entwicklung des zivilprozessualen Rechts

475

Heinz Mayer Allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht

519

ZWEITER TEILBAND

III. Ausgewählte Bereiche des öffentlichen Rechts unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklungszusammenhänge Felix Ermacora Der Beitrag des Parlaments zum Nationalitätenrecht und zum Minderheitenschutz ......................................................................

553

Gerhard Rauter Wehrgesetzgebung und Heer

637

Rudolf Szirba Das Recht der Polizeiverwaltung ...............................................

831

Herbert Loebenstein Strafrecht und Strafprozeßrecht

973

J ohannes Hengstschläger

Schulrecht ........................................................................

1045

Walter Brunner und Helmut Wohnout Hochschulrecht ...................................................................

1105

Heinz Schäffer Öffentliches Wirtschaftsrecht ................................................... 1149 Walter Labuda Agrarrecht .................................. . ...... . ............... . .. . . . ......... 1339 Heinz Schäffer Verkehrsrecht ................................ . ...................................

1373

Inhaltsverzeichnis

VII

Gerhard Aigner Gesundheitswesen ............ . ..................................................

1425

Herbert Hofmeister Sozialversicherungsrecht ........................................................

1489

Brigitte Gutknecht Wohnrecht ........................................................................

1575

Herausgeber- und Mitarbeiterverzeichnis .........................................

1653

VIII

Inhaltsverzeichnis

Einzelübersicht ZWEITER TEILBAND

III. Ausgewählte Bereiche des öffentlichen Rechts unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklungszusammenhänge

Felix Ermacora Der Beitrag des Parlaments zum Nationalitätenrecht und zum Minderheitenschutz ......................................................................

553

Einführung - Funktionswandel des Parlaments - historische Entwicklung und systematische Erfassung der Problembewältigung - der Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 als Angelpunkt des verfassungsrechtlichen Volksstämmeschutzes in der konstitutionellen Monarchie - Garantie der Sprl1chfreiheit - legislative Maßnahmen der Reichsgesetzgebung - die provisorische Nationalversammlung der Republik Deutsch-Österreich und die konstituierende Nationalversammlung der Republik Österreich und die Volksgruppen- bzw. Minderheitenfrage - Selbstbestimmungsrecht der Völker - der Nationalrat der Ersten Republik und das Minderheitenproblem - Schulwesen - das Tschechenproblem in Wien - die Südtiroldebatte - die Volksgruppen- und Minderheitenfragen vor dem Parlament der Zweiten Republik - Übersicht - Staatsvertrag und Minderheitenschutz für Kroaten und Slowenen - das Volksgruppengesetz - die rechtsgestaltende Wirkung des Parlaments - Volksgruppenpolitik - die Südtiroler Minderheit - Südtirolpolitik - der Fall Südtirol vor der UNO - Paket und Operationskalender - Minderheitenfragen und Internationale Organisationen.

Gerhard Rauter Wehrgesetzgebung und Heer Einleitung - 1868 bis 1918 - Verfassungsrechtliche Grundlagen Wehrsystem - Wehrgesetz von 1868 - Ausbau des österreichischen Wehrrechts - militärisches Leistungsrecht - militärisches Versorgungsrecht - militärisches Disziplinarrecht und Militärgerichtsbarkeit-1918 bis 1938-Provisorium 1918/1919 -das vorläufige Wehrgesetz von 1919 - militärisches Strafrecht - völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen - der Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye - das B-VG 1920 - die Vorentwürfe der Bundesverfassung - Verfassungsreform 1929 - die "Verfassung 1934" - Wehrrecht der Republik 1920 bis 1933 - das Wehrgesetz von 1920 - wesentliche Änderungen des Wehrrechts - Wehrrecht des Bundesstaates - Einführung des deutschen Wehrrechtes - 1955 bis 1993 - völkerrechtliche und verfassungsrecht-

637

Inhaltsverzeichnis

IX

liche Grundlagen - Staatsvertrag 1955 - die dauernde Neutralität Österreichs - System der allgemeinen Wehrpflicht - zwischenstaatliche Abkommen - B-VG-Novelle 1975 - Verteidigungsdoktrin - B-VGNovelle 1984 - B-VG-Novelle 1988 - Milizsystem - die "Stammgesetze" 1955/1956 - Wehrgesetz 1955 - Heeresgebührengesetz 1956Heeresdisziplinargesetz 1956 - Ausbau 1957 bis 1971 - Novellierungen im zentralen Bereich der Wehrgesetzgebung - militärische Interessen und Landesrecht - Strukturwandel 1971 - Bundesheer-Reformkommission - Wehrrechtsnovelle 1971 - Korrekturen und Konsequenzen nach 1971 - Zivildienstgesetz - Einrichtung von Haftprüfungsorganen - Formung eines Milizsystems - Ausblicke.

Rudolf Szirba Das Recht der Polizeiverwaltung ...............................................

831

Einleitung - die Polizei im Absolutismus - der Begriff der "Polizei" und dessen Entwicklung - die Wandlung zur Rechtsstaatlichkeit im Polizeiwesen - Ansätze eines Polizeirechts - Strafprozeßordnung 1873materielle Polizeivorschriften - die Rechtsentwicklung in der "Ersten Republik" - die wechselnde Kompetenzlage auf dem Gebiete des Polizeiwesens zwischen 1920 und 1929 - die Bundespolizeibehörden in der "Ersten Republik" - Regelungen über polizeiliche Tätigkeiten - Sicherheitsdirektionen - die Zeit der deutschen Besetzung (März 1938 bis April 1945) - die Rechtsentwicklung in der "Zweiten Republik" - Übergangsbestimmungen - Änderungen des Verfassungsrechtes - die Bundespolizeibehörden in der "Zweiten Republik" - die INTERPOL - das Waffengebrauchsrecht derSicherheitsexekutive-Änderungen der Verwal tungsverfahrensgesetze - Darstellung von Rechtsvorschriften bezüglich Tätigkeiten bzw. Aufgaben der Sicherheitsbehörden und ihrer OrganeSicherheitspolizeigesetz 1991-landesrechtliche Vorschriften - Mitwirkungsgesetze - Schlußbemerkungen.

Herbert Loebenstein Strafrecht und Strafprozeßrecht Einleitung - vom Strafgesetz des Jahres 1803 über Novellen und Teilreformen in Nebengesetzen zum Strafgesetzbuch 1974 - die Zeit der Monarchie von 1852 bis 1918 - vergebliche große Reformversuche - die Zeit der Ersten Republik (1918-1933) - dringende Teilreformen in Sondergesetzen und ein neuerlicher großer Reformversuch - die Zeit der Zweiten Republik ab 1945 - Wiederherstellung der österreichischen Strafrechts-, Not- und Einzelgesetzgebung - der Weg zur Abschaffung der Todesstrafe - der Weg zur großen Strafrechtsreform - Strafrechtsenquete, Strafrechtskommission, Strafgesetz-Entwürfe 1964 bis 1966 Regierungsvorlage zum Strafgesetzbuch 1968 ohne Ergebnis im Na tionalrat - Vorwegnahme dringlicher Teilreformen - die Vollendung der

973

x

Inhaltsverzeichnis Reform - das neue Strafgesetzbuch im Parlament - die Beratungen im Unterausschuß des Justizausschusses - der Vorschlag zur "Fristenlösung" - die Debatten im Nationalrat und im Bundesrat - Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes - Volksbegehren - Novellierungen nach der großen Reform - Jugendgerichtsgesetz 1988 - das Parlament im Kampf gegen Korruption und Mißwirtschaft - die "Untreue" in der 2. Strafgesetz-Novelle 1931 - das (1.) Antikorruptionsgesetz - das (2.) Antikorruptionsgesetz - das Strafrechtsänderungsgesetz 1987 - die Strafprozeßordnung 1873 - Novellierungen, Teilreformen, Wiederverlautbarungen - die Zeit der Monarchie - die Entstehung der Strafprozeßordnung 1873 - die Zeit der Ersten Republik (1918-1933) - die Zeit der Zweiten Republik - Anpassung des Strafverfahrens an Grund- und Menschenrechte - für einen rechtsstaatlich geregelten Straf- und Maßnahmenvollzug - das Parlament für die Opfer von Verbrechen und für die Opfer der Justiz - zusammenfassende Schlußbetrachtung.

J ohannes Hengstschläger Schulrecht ........................................................................

1045

Das Schulrecht in der konstitutionellen Monarchie - das Reichsvolksschulgesetz - das Mittelschulwesen - die Erste Republik - Überleitung des Schulrechts - das B-VG 1920 - das Übergangsgesetz 1920 - das Hauptschulgesetz 1927 - das Mittelschulgesetz 1927 - die Zeit von 1934 bis 1945 - Konkordat - die Zweite Republik - zum Wiederinkrafttreten des österreichischen Schulrechts - das Lehrerdienstrechts- und das Schulerhaltungs-Kompetenzgesetz - das Schulgesetzwerk 1962 und seine Entwicklung - die Schulverfassungsnovelle - Kompetenzregelung - die Schulbehörden des Bundes - das Bundes-Schulaufsichtsgesetz das Schulorganisationsgesetz - das Schulpflichtgesetz - das Privatschulgesetz - das Schulzeitgesetz - das Schulunterrichtsgesetz.

Walter Brunner und Helmut Wohnout Hochschulrecht ................................................................... Die Zeit von 1848 bis 1918 - Verfassungsentwürfe und Zuständigkeiten im Hochschulbereich - Freiheit von Wissenschaft und Lehre - das Gesetz über die Organisation der akademischen Behörden (1873) - die Zeit von 1918 bis 1938 - der Kompetenztatbestand Hochschulwesen in der Bundesverfassung (1919/1920) - die Errichtung der Hochschule für Welthandel (1919) - die Novelle zum Gesetz über die Organisation der akademischen Behörden (1922) - das Hochschulermächtigungsgesetz und das Hochschulerziehungsgesetz (1935) - die Zeit von 1945 bis heute - der Beginn der Reform - das Kunstakademiegesetz und seine Novellen - die Hochschultaxen und ihre Reformen - das Hochschul-Organisationsgesetz, seine Novellen und die Gründung neuer Hochschulen - die Akademie-Organisationsgesetze 1955 und 1988 - das Allgemeine Hoch-

1105

Inhaltsverzeichnis

XI

schul-Studiengesetz - das Universitäts-Organisationsgesetz - das Kunsthochschul-Organisationsgesetz, die Kunsthochschulordnung und das Kunsthochschul-Studiengesetz - Schlußbemerkung. Heinz Schäffer Öffentliches Wirtschaftsrecht ................................................... 1149 Einleitung - Begriff und allgemeine Entwicklung des öffentlichen Wirtschaftsrechts - Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsordnung - die einzelnen verfassungsrechtlichen Epochen - Organisation der Wirtschaftsverwaltung - staatliche Behörden - dezentralisierte Verwaltungsträger - Exkurs: Die österreichische Sozialpartnerschaft - die Organisation der verstaatlichten Wirtschaft Österreichs in Geschichte und Gegenwart - die Situation am Ende des Zweiten Weltkrieges - das sog. erste Verstaatlichungsgesetz 1946 - das zweite Verstaatlichungsgesetz 1947 - die Entschädigungsfrage - die Venyaltung der verstaatlichten Industrie und der Elektrizitätswirtschaft - zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Verstaatlichungen - Organisation und Entwicklung der verstaatlichten Industrie - die Entwicklung der Bundesbetriebe - die ausgegliederten (ganz oder teilweise verselbständigten) Bundesbetriebe - Österreichische Bundesbahnen - Österreichische Postsparkasse - Österreichische Bundesforste - Salinen - Österreichischer Bundesverlag - Dorotheum - Staatsdruckerei - "Münze Österreich" AG - Tiergarten Schönbrunn - Österreichische Bundesfinanzierungsagentur - eine eigene Rechtsform für öffentliche Unternehmen - Monopole - sonstige Bundesbetriebe - Gewerberecht - zur Vorgeschichte des modernen Gewerberechts - die Entwicklung des modernen Gewerberechts - Wirtschaftsaufsicht - allgemeine Entwicklungslinien - die Entwicklung des Wirtschaftsaufsichtsrechts in den einzelnen Sektoren - Wirtschaftslenkung - Förderungsverwaltung - Begriff und Entwicklung - verfassungsrechtliche Aspekte und Probleme - Förderungsverwaltung auf der einfachgesetzlichen Ebene - die Auftragsvergabe - die geschichtliche Entwicklung des Vergabewesens - zur geltenden Rechtslage - Übersicht über die zersplitterte Normierung der Materie - Inhalt der derzeitigen Rechtslage - rechtspolitische Erfordernisse einer Neugestaltung des Vergabewesens - jüngste Entwicklungen im Hinblick auf das Europäische Gemeinschaftsrecht - Nachwort und Ausblick. Walter Labuda Agrarrecht ........................................................................ Die Zeit von 1848 bis 1918 - der Weg zur politischen Freiheit und wirtschaftlichen Selbständigkeit - von der Bauernbefreiung bis zum Ende der Monarchie - die Zeit von 1918 bis 1938 - die Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg und die Versorgung des neuen Staates durch die eigene Landwirtschaft - die Zeit von 1945 bis heute - der Wiederaufbau der Landwirtschaft und die Wiedererringung der Selbstversorgung Österreichs - Agrarpolitik geht alle an - ein umfassendes Verständnis

1339

XII

Inhaltsverzeichnis der Funktion der Landwirtschaft - die Agrarpolitik unter den neuen Bedingungen sozialistischer Landwirtschaftsminister - das neue Konzept der ökosozialen Agrarpolitik und der Weg nach Europa.

Heinz Schäffer Verkehrsrecht

1373

Vorbemerkung - Eisenbahnverkehr - Errichtung und Betrieb öffentlicher Eisenbahnen - internationale Verflechtung - Zivilrecht - Eisenbahnkreuzungsrecht - Straßenverkehr - Wegerecht - Straßenpolizeirecht - Straßenverkehrsordnung - Kraftfahrrecht - Betriebsrecht Haftpflichtrecht - internationale Verflechtung - Schiffahrt - tragende Kraft des Wassers und rechtliche Regelung des Schiffahrtsbetriebs Schiffahrtsbetrieb und Schiffahrtsanlagen - SchiffahrtsberechtigungWasserstraßen - Österreichische Donau-Betriebs-Aktiengesellschaft Schiffahrtspolizei - Schiffahrts-Privatrecht - internationale Verflechtung - Binnenschiffahrt - Österreichische Hochseeschiffahrt - Luftverkehr - Zusammenfassung. Gerhard Aigner Gesundheitswesen

1425

Allgemeines und verfassungsrechtliche Grundlagen - der soziale Rechtsund Wohlfahrtsstaat - das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 - das Bundesverfassungsgesetz vom 2. Dezember 1958 - Kompetenzverlagerung zugunsten der Länder - der eigene Wirkungsbereich der Gemeinden das Bundesverfassungsgesetz vom 2. März 1983 - Gesundheitswesen und Ressorteinteilung - die enge Verquickung von "Gesundheitswesen" und "Umweltschutz" - besondere Vorschriften des Sanitätsrechtes - das Ärztegesetz - Novellen zum Ärztegesetz - der sog. "Rezeptskandal" das Krankenanstaltengesetz - die Krankenanstaltenfinanzierung Reform des Krankenanstaltenwesens - Krankenanstalten-Zusammenarbeitsfonds mit eigener Rechtspersönlichkeit - Novellen zum Krankenanstaltengesetz - weitere Vorschriften im Bereich des Gesundheitswesens - das Lebensmittelgesetz - die Suchtgiftgesetznovellen 1980 und 1985 - das Arzneimittelgesetz - das AIDS-Gesetz - abschließende Betrachtung. Herbert Hofmeister Sozialversicherungsrecht ........................................................ Die Anfänge: die Arbeiterversicherungs-Stammgesetze der Ära Taaffedie politische Ausgangssituation - Vorläufer und Alternativen - das deutsche Vorbild - die Bismarck'schen Arbeiterversicherungsgesetze die Regierungsvorlagen; die ideologischen Grundlagen der Regierungspolitik Taaffes - die Beratung des Unfallversicherungsgesetzes 1887 im

1489

Inhaltsverzeichnis

XIII

Parlament - die Beratung des Krankenversicherungsgesetzes 1888 im Parlament - das Hilfskassengesetz 1892 - das Bruderladengesetz 1889 - die Reaktion der Arbeiterschaft - Ausbau mit Hindernissen: die Phase von 1893 bis 1918 - die politische und sozio-ökonomische Entwicklung - der Ausbau der Stammgesetze im Parlament; außerparlamentarische Reaktionen auf diese Gesetzgebung - das Angestellten-Pensionsversicherungsgesetz 1906 im Parlament - die Sozialversicherungsgesetzgebung im Zeichen wirtschaftlicher Depression und politischer Konfrontation (die Erste Republik 1918 bis 1938) - die politische und sozio-ökonomische Entwicklung - die Sozialversicherungs-Gesetzgebung der Ära Hanusch - Unfall- und Krankenversicherung - Arbeitslosenversicherung - die Gesetzgebung der späten zwanziger Jahre, insbes. das Angestelltenversicherungsgesetz 1926 und das Arbeiterversicherungsgesetz 1927 - die Gesetzgebung der dreißiger Jahre: Reformprojekte im Zeichen hoher Arbeitslosigkeit; das Bundesgesetz betreffend die gewerbliche Sozialversicherung (GSVG) 1935 - die nationalsozialistische Ära - die Phase der Vollendung des Sozial versicherungs-Systems: die Zweite Republik (1945 bis zur Gegenwart) - die politische und sozio-ökonomische Entwicklung - das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz aus 1947 - die Entwicklung der Unselbständigen-Sozialversicherung bis zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) - das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) vom 9.9.1955 - die Sozialversicherung der gewerblichen und der freiberuflich Selbständigen - die Sozialversicherung der Bundesbediensteten sowie der Notare - die Sozialversicherung der Bauern - die "Novellengesetzgebung" , insbes. das Pensionsanpassungsgesetz 1965, das Sozialversicherungsänderungsgesetz 1977 u. a. - Zusammenfassung und Ausblick. Brigitte Gutknecht Wohnrecht ........................................................................ 1575 Einleitung - die einzelnen Teilbereiche des geltenden Wohnrechts Überblick über die Entwicklung des Wohnrechts - markante Entwicklungsschritte des Wohnrechts und ihre Behandlung im Parlament - Anfänge der Wohnbauförderung - Konsolidierung und teilweise N eugestaltung des Wohnrechts in den ersten Jahren der Republik - die Wohnrechtsreform 1929 - Wohnrechtsentwicklung in der Zeit der großen Koalition - die Umgestaltung von Mietenrecht und Wohnbauförderung während der ÖVP-Alleinregierung 1966 bis 1970 - neue Rechtsgrundlagen für Stadterneuerung und Bodenbeschaffung - Modernisierung und Aktualisierung bewährter grundlegender Wohnungsgesetze - das Mietrechtsgesetz 1981 - der Prozeß einer Neugestaltung des Förderungsrechts - die "Verländerung" der Wohnbauförderung - neue Reformvorhaben - Zusammenfassung - zum Einfluß des Parlaments auf die Regelungsinhalte - die Stellung der Parlamentsparteien zu den einzelnen Materien des Wohnrechts - Anhang. Herausgeber- und Mitarbeiterverzeichnis .........................................

1653

Abkürzungsverzeichnis A.

Antrag, Ausschuß

a. A., aA

anderer Ansicht

a. a. O.

am angegebenen Ort

AB

Ausschußbericht, Augsburger Bekenntnis

Abg.

Abgeordneter

ABGB

Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch

AbgH, AH

Abgeordnetenhaus

ABS-Handbuch

Vorschriftensammlung für das allgemein bildende Schulwesen

Abs.

Absatz

Abschn.

Abschnitt

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

a. D.

außer Dienst

ADB

Allgemeine Deutsche Biographie

ADV

Allgemeine Dienstvorschriften

AEZG

Auslandseinsatzzulagengesetz

AG

Aktiengesellschaft

AGO

Allgemeine Gerichtsordnung

AH

Abgeordnetenhaus

Ah.

Allerhöchste(r, s)

AHGB

Allgemeines Handelsgesetzbuch

AHS

Allgemeinbildende Höhere Schule

AHStG

Allgemeines Hochschulstudiengesetz

AI

Austrian Industries

AIDS

acquired immune deficiency syndrome (erworbenes Immundefektsyndrom)

AKB

Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis

AKH

Allgemeines Krankenhaus

AKHB

Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung

AkKR

Archiv für katholisches Kirchenrecht

AktG

Aktiengesetz

All. Rat

Alliierter Rat

AMA

Agrarmarkt Austria

Abkürzungsverzeichnis AMAG

Austria Metall-AG

Anm.

Anmerkung

Anm. d. V(erf).

Anmerkung des Verfassers

AntikorrG

Antikorruptionsgesetz

Antr.

Antrag

AnwBI

Österreichisches Anwaltsblatt

a.

außerordentlich, -e, -er, -es

0.,

ao.

a.ö.

allgemein öffentlich

AÖF

Amtsblatt der österreichischen Finanzverwaltung

AOG

Akademie-Organisa tionsgesetz

AÖR

(deutsches) Archiv des öffentlichen Rechts

apostol.

apostolisch

ArbHG Art.

xv

Arbeitshausgesetz

= Artikel

ASFINAG

Autobahn- und Schnellstraßen-FinanzierungsAG

ASGG

Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz

ASIg.

Amtliche Sammlung wiederverlautbarter österreichischer Rechtsvorschriften

ASOR

Übereinkommen über die Personenbeförderung im grenzüberschreitenden Gelegenheitsverkehr mit Kraftomnibussen

ASS ASVG AUA

Auf!.

= ACTA SANCTAE SEDIS = Allgemeines Sozialversicherungsgesetz = Austrian Airlines

= Auflage

AußStrG

= Außerstreitgesetz

AVA

= Allgemeines Verwaltungsarchiv

AVB Gas

Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung

AVG

Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz

B.

Beilage(n)

BAO

Bundesabgabenordnung

BBK

Bau- und Bodenkorrespondenz

Bd(e).

Band,Bände

BDG

Beamten-Dienstrechtsgesetz

BDStG

Bedarfsdeckungsstrafgesetz

BE

Berichterstatter

begr.

begründet

Beh.

Behörde(n)

Beh(-)ÜG

Behörden-Überleitungsgesetz

Beil., BIg.

Beilage(n)

XVI BerRF RPL

Abkürzungsverzeichnis Berichte zur Raumforschung und Raumplanung

bes.

besonders

Beschl.

Beschluß

betr.

betreffend

bev.

bevollmächtigt

BewHG

Bewährungshilfegesetz

BF(in)G

Bundesfinanzgesetz

BG

Bundesgesetz, Bundesgymnasium

bg.

bezirksgerichtlieh

BGBI-G

Bundesgesetzblattgesetz

BGBl.

Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich

BGH

(österreichischer) Bundesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

Bgld.

Burgenland

BH

Bezirkshauptmannschaft, Bundesheer

BHG

Bundeshaushaltsgesetz

BHS

Berufsbildende höhere Schule

BK

Bundeskanzler

BKA

Bundeskanzleramt

BKGW

Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft

B-KUVG

Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz

B-KVG

Bauern-Krankenversicherungsgesetz

BIg.

Beilage(n)

BIgKonstNV

Beilagen zur Konstituierenden Nationalversammlung

BlgNR

Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates

BM

Bundesminister(ium)

BMBT

Bundesminister(ium) für Bauten und Technik

BM(f)AA

Bundesminister(ium) für Auswärtige Angelegenheiten

BM(f)F(in.)

Bundesminister(ium) für Finanzen

BM(f)G(u)U

Bundesminister(ium) für Gesundheit und Umweltschutz

BM(f)I

Bundesminister(ium) für Inneres

BM(f)U

Bundesminister(ium) für Unterricht

BM(f)UK(S)

Bundesminister(ium) für Unterricht und Kunst (und Sport)

BMfJ(ustiz)

Bundesminister(ium) für Justiz

BMHGI

Bundesminister(ium) für Handel, Gewerbe und Industrie

BMHW, BMH, BMHuW

Bundesminister(ium) für Handel und Wiederaufbau

BMLF

Bundesminister(ium) für Land- und Forstwirtschaft

Abkürzungsverzeichnis BMöWV

XVII

Bundesminister(ium) für öffentliche Wirtschaft und Verkehr

BMS(V)

= Bundesminister(ium) für soziale Verwaltung

BMV

= Bundesminister(ium) für (öffentliche Wirtschaft u.)

Verkehr

BMVV

Bundesminister(ium) für Verkehr und verstaatlichte Betriebe

BMwA

Bundesminister(ium) für wirtschaftliche Angelegenheiten

BMWF

Bundesminister(ium) für Wissenschaft und Forschung

BO

Betriebsordnung

BodenBG

Bodenbeschaffungsgesetz

böhm.

böhmisch

BPD

Bundespolizeidirektion

BPräs.

= Bundespräsident

B-PVG

.= Bauern-Pensionsversicherungsgesetz

BR

Bundesrat

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BReg.

Bundesregierung

BSG

Bundesbediensteten-Schutzgesetz

BStG

Bundesstraßengesetz

BSVG BT BT-DS BV B-VG

Bauern-Sozialversicherungsgesetz

= Bundestag = Drucksachen des Deutschen Bundestages = Bundesverfassung, Bundesversammlung = Bundes-Verfassungsgesetz

BVG

Bundesverfassungsgesetz

B-VN

Bundes-Verfassungsnovelle

B-VGN

Bundes-Verfassungsgesetznovelle

BWK

Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft

BWSFG

Bundes-Wohn- und Siedlungsfondsgesetz

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

CA

Credi tanstalt

ca.

cirka

can.

canon

CCPR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

CIC

codex iuris canonici

CIM

Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

CIV

Übereinkommen über den Eisenbahn-Personen- und Gepäcksverkehr

CMR

Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr

CPBl

Christlich-pädagogische Blätter

CS

Christlich-Soziale

es.

christlich-sozial

D.

Deutsch(es)

d.

der, die, das, des, den

d. B.

der Beilagen

dBlg.

der Beilagen

dBVerfG

deutsches Bundesverfassungsgesetz

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DDSG

Donau Dampfschiffahrts-Gesellschaft

dems.

demselben

ders.

derselbe

DF

Deutsch-freiheitliche

df.

deutsch-freiheitlich

DFB

Druckfehlerberichtigung

dgl.

dergleichen

d. h.

das heißt

d. i.

das ist

Dipl.-Ing.

Diplomingenieur

Dipl.-Vw.

Diplomvolkswirt

Diss.

Dissertation

d. J.

dieses Jahres

DJT

Deutscher Juristentag

Dkfm.

Diplomkaufmann

dn.

deutsch-national

DOKW

Donaukraftwerke

DÖV

Die öffentliche Verwaltung

Dr.

Doktor

DRdA

Das Recht der Arbeit

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

d(r)zt.

derzeit

d. s.

das sind

DSG

Datenschutzgesetz

dt.

deutsch

D(t.)RGBl.

Deutsches Reichsgesetzblatt

DV

Durchführungsverordnung

Abkürzungsverzeichnis

XIX

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt

DVV

Dienstrechtsverfahrensverordnung

DWEV

Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (Amtsblatt des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung, Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder)

E

Elektrizität

E.

Entscheidung, Erkenntnis

EB

Erläuternde Bemerkungen

ebda.

ebenda

EDU

Europäische Demokratische Union

EDV

Elektronische Datenverarbeitung

EFTA

European Free Trade Association (Europäisches Freihandelsabkommen)

EG

Europäische Gemeinschaften, Einführungsgesetz

EGBGB

Einführungsgesetz zum (deutschen) Bürgerlichen Gesetzbuch

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EGVG

Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen

EGzStVG

Einführungsgesetz zum Strafvollzugsgesetz

ehern.

ehemalig

einst.

einstimmig

EKHG

Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz

em.

emeritiert

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

engl.

englisch

Entw.

Entwurf

EnWG

Energiewirtschaftsgesetz

EO

Exekutionsordnung

Erg.Bd.

Ergänzungsband

Erk.

Erkenntnis

Erkl.

Erklärung

erl.

erläuternd(e)

ERP

Europäisches Wiederaufbauprogramm

EStG

Einkommensteuergesetz

et al.

et alii (und andere)

etc.

et cetera

EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

Europ.

Europäisch(e)

xx

Abkürzungsverzeichnis

e.V.

eingetragener Verein

EV

Einführungsverordnung

EVO

Eisenbahnverkehrsordnung

EVU

Elektrizitätsversorgungsunternehmen

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWGV

Vertrag zur GlÜndung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EZG

Einsatzzulagengesetz

f.

für, und der (die) folgende

FAG

Finanzausgleichsgesetz

ff.

und die folgenden

FGW

Forschungsgesellschaft für Bauen, Wohnen und Planen Finanzstrafgesetz

FinStrG FN

FP

Fußnote Freiheitliche Partei

FPÖ Frh(r).

Freiheitliche Partei Österreichs

FS

Festschrift

FSVG

Freiberuflichen-Sozialversicherungsgesetz

F-VG

Finanz-Verfassungsgesetz

Freiherr

G

Gesetz

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen)

GB1(f)Ö GBl. f. d. L.

Gesetzblatt für das Land Österreich Gesetzblatt für das Land

Gbl.

Gesetzblatt

GD

Großdeutsche

gd.

großdeutsch

Gebr.

GeblÜder

GedBlg.

Gesetzesvorschlag der Bundesregierung der Beilagen

gern.

gemeinsam, gemäß

Gen.

Genossen, Genossenschaft

Gend.Ges.

Gendarmeriegesetz

Geo

Geschäftsordnung

Ges.Red.

Gesamtredaktion

GewO

Gewerbeordnung

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Bonner Grundgesetz)

GGRV

Gesetz zur Abänderung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung

Abkürzungsverzeichnis

XXI

GGSt

Bundesgesetz über die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße

GH

Gerichtshof

GKW

Gemeinschaftskraftwerk

glz.

gleichzeitig

G(es)mbHG

Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung

GO GOG

Geschäftsordnung

GP

Gesetzgebungsperiode

GSKVG

Gewerbliches Selbständigen-Krankenversicherungsgesetz

GSPVG

Gewerbliches Selbständigen-Pensionsversicherungsgesetz

Geschäftsordnungsgesetz, Gerichtsorganisationsgesetz

GSVG

Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz

Gu

Gutachten

GÜG

Gehaltsüberleitungsgesetz

GVK-Ö

Österreichisches Gesamtverkehrskonzept

GZ

Geschäftszahl, Österreichische allgemeine Gerichtszeitung

H.

Heft

HA

Hauptausschuß, Handelsausschuß

hA

herrschende Ansicht

HB

Helvetisches Bekenntnis

HBDG

Heeresbeamtendisziplinargesetz

h. c.

honoris causa

HDAG

Heeresdisziplinarrechtsanpassungsgesetz

HdbkathKR

Handbuch des katholischen Kirchenrechts

HDG

Heeresdisziplinargesetz

HdSW

Handbuch der Sozialwissenschaften

HGB

Handelsgesetzbuch

HGG

Heeresgebührengesetz

HGM

Heeresgeschichtliches Museum

HH

Herrenhaus

HHStA

Haus-, Hof- und Staatsarchiv

hist.

historisch

Hl.

Heiliger

h. L.

herrschende Lehre

HM

Handelsminister

HME

Erlaß des Handelsministers

HMV

Verordnung des Handelsministers

XXII

Abkürzungsverzeichnis

HOG

Hochschul-Organisationsgesetz

Hptst.

Hauptstück

Hr(s)g.

Herausgeber

hrsg.

herausgegeben

HV

Hauptverhandlung

HVG

Heeresversorgungsgesetz

Hvhbg.

Hervorhebung

L

im, in

IA,In.A.

Initiativantrag

IAEO

Internationale Atomenergie-Organisation

L a. R.

in aller Regel

ibid.

ibidem (ebendort)

IBV

Industrie- und Bergbauverwaltung

IBVG

Industrie- und Beteiligungsverwaltungs GmbH

ICD - CODE

von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte Internationale Klassifikation der Krankheiten

L d. F.

in der Fassung

L d. g. F.

in der geltenden Fassung

L d. R.

in der Regel

IDU

Internationale Demokratische Union

L e. L.

in erster Linie

L e. S.

im engeren Sinne, im eigentlichen Sinne

IFÖ

Informationsblatt des Instituts für Föderalismusforschung

IGH

Internationaler Gerichtshof

L J.

im Jahr

IKPO, ICPO

International Criminal Police Organization

ILO

International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation)

ImmZ

Österreichische Immobilien-Zeitung

Ing.

Ingenieur

inhaltl.

inhaltlich

insb(es).

insbesondere

Inst.

Institut, Installment

internat.

international

IPR

Internationales Privatrecht

LR.

in Ruhe

IRÄG

Insolvenzrechtsänderungsgesetz

L S.

im Sinne

Ital.

Italien, Italienisch, Italiener

LV.m.

in Verbindung mit

Abkürzungsverzeichnis i. w. S.

im weiteren Sinne

JA

Justizausschuß

JAB JABI

Jahrb. JBl. JBö(ff)R (NF) Jffi Jg. JGG

= Justizausschußbericht

= Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung

= Jahrbuch = Juristische Blätter

= Jahrbuch für öffentliches Recht (Neue Folge) = Journal für Betriebswirtschaft

= Jahrgang

= Jugendgerichtsgesetz

JGPrÖ

= Jahrbuch der Geschichte des Protestantismus in

JGS

= Justizgesetzessammlung

Jh(er)JB

XXIII

Österreich

Jherings Jahrbücher für Dogmatik des bürgerlichen Rechts

JMVBI

Verordnungsblatt des k.k. Justizministeriums

JN

Jurisdiktionsnorm

JStrAG

Jugendstrafrechtsanpassungsgesetz

Jud.

Judikatur

jurist.

juristisch(e)

K

Kundmachung

KAG

Krankenanstaltengesetz

kais.

kaiserlich

Kais.V

Kaiserliche Verordnung

Kap.

Kapitel

Kdm.

Kundmachung

KDV

Kraftfahrgesetz-Durchführungsverordnung

KFG

Kraftfahrgesetz

KfLG

Kraftfahrliniengesetz

Kfr-ÜG

Kraftfahrrechts-Überleitungsgesetz

KFV

Kraftfahrverordnung

Kfz.

Kraftfahrzeug

KG

Kreisgericht

kgl.

königlich

k.k.

kaiserlich-königlich

KMG

Bundesgesetz über die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial

KO

Konkursordnung

K(onst)NV

Konstituierende Nationalversammlung

Kontrollabk.

Kontrollabkommen

XXIV

Abkürzungsverzeichnis

KOVG

Kriegsopferversorgungsgesetz

KP

Kundmachungspatent

KPÖ

Kommunistische Partei Österreichs Kärnten

Krnt. KSchG KSZE KTS

Konsumentenschutzgesetz Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen

k.u.k.

kaiserlich und königlich

KVAE

Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und AbIiistung in Europa

KVG KWEG

Krankenversicherungsgesetz

kW

Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz Kilowatt

LandstrG

Landstreichergesetz

LB leg. cit.

Landbund legis citatae (des zitierten Gesetzes)

LFG

Luftfahrtgesetz

Lfg.

Lieferung

LG

Landesgesetz

LGBl.

Landesgesetzblatt

LGf LGuVBl.

Landesgericht für

LH

Landeshauptmann Landeshauptmannstellvertreter

LH-StV Lit. lit. LKW LMG

Landesgesetz- und Verordnungsblatt

Literatur litera (Buchstabe), literarisch Lastkraftwagen Lebensmittelgesetz

LReg.

Landesregierung

LSG LT

Ladenschlußgesetz

LV

Landesverfassung Minister(s)

M MAG

Mag. masch.schr. m.a.W. MBFR MedG

Landtag

= Bundesgesetz über militärische Auszeichnungen = Magister = maschinenschriftlich mit anderen Worten Mutual Balanced Force Reductions (beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierung) Mediengesetz

Abkürzungsverzeichnis

xxv

mehrh.

mehrheitlich

MGA

Manzsche Große Ausgabe der österreichischen Gesetze

MietG

Mietengesetz

MietRG

Mietrechtsgesetz

MilStG

Militärstrafgesetz

Min.Dir.

Ministerialdirektor

Min.Sekr.

Ministersekretär

Min.Vdg.

Ministerialverordnung

MinR(at)

Ministerialrat

MinR.

Ministerrat

MIÖG

Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung

Mitgl.

Mitglied

Mitt

Mitteilungen

MOG

Marktordnungsgesetz

MöSA

Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs

m.p.

manu propria (eigenhändig)

MRÄG

Mietrechtsänderungsgesetz

MRB

Ministerratsbeschluß

Mrd.

Milliarde(n)

MRK

Menschenrechtskonvention (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten)

MRP

Die Protokolle des k.-k. Ministerrates, AVA, 18641867, K. 33, Abschriften von Prof. Redlich (1867) MRZ 180/181/189/193 (ungedruckt); die Protokolle des österr. Ministerrates 1848 -1867 (Hrsg.) Komitee für die Veröffentlichung der Ministerratsprotokolle (Hrsg.) Redaktion Helmut Rumpler -, Die Protokolle des österr. Ministerrates 1848 -1867 (Einleitungsband, Abteilungen III, V, VI), Wien 1970 f.

MVBl.

Ministerialverordnungsblatt

m.w.H.

mit weiteren Hinweisen

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NATO

North Atlantic Treaty Organization

neubearb

neubearbeitet

NF

Neue Folge

NFP

Neue Freie Presse

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

N+N-Staaten

neutrale und nichtpaktgebundene Staaten



Niederösterreich

nö.

niederösterreichisch(e)(n)

XXVI

Abkürzungsverzeichnis

Nov.

Novelle

NPA

Neues Politisches Archiv

NR

Nationalrat

Nr.

Nummer

NRGG

Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates

NRWO

Nationalratswahlordnung

NS

Nationalsozialismus, Nationalsozialisten

ns.

nationalsozialistisch( e )(n)

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSG

Nationalsozialistengesetz

NV

Nationalversammlung

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NZ

Notariatszeitung

o

Ordnung

o

ordentlich(en)

o.

oben

o. ä

oder ähnlich

o. D.

ohne Datum

od.

oder

OECD

Organization for Economic Co-operation and Development

OEEC

Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit

OeNB

Österreichische Nationalbank

OGH

Oberster Gerichtshof

OGHG

Bundesgesetz über den Obersten Gerichtshof

OICP,OIPC

Organisation inernationale de police criminelle

o. J.

ohne Jahr

OLG

Oberlandesgericht

ON

Ordnungsnummer

OÖ.

Oberösterreich

o.ö.,oö.

oberösterreichische(n, r, s)

ORF

Österreichischer Rundfunk

OStA

Oberstaatsanwalt

Ö.

Österreich

ÖA(f)KR

Österreichisches Archiv für Kirchenrecht

ÖAKT

Österreichischer Arbeiterkammertag

ÖAZ

Österreichische Anwaltszeitung

ÖBB

Österreichische Bundesbahnen

Öff.

öffentlich

Abkürzungsverzeichnis

XXVII

ÖGB

Österreichischer Gewerkschaftsbund

ÖGZ

Österreichische Gemeindezeitung

ÖHW

Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich

ÖIAG

Österreichische Industrieverwaltungs-Aktiengesellschaft, Österreichische Industrieholding AG

ÖIG

Österreichische Industrieverwaltungs-Gesellschaft

ÖIGG

Bundesgesetz über die Ausübung der Anteilsrechte des Bundes an verstaatlichten Unternehmen

ÖJBPol

Österreichisches Jahrbuch für Politik

ÖJT

Österreichischer Juristentag

ÖJZ

Österreichische Juristenzeitung

ÖMV

Österreichische Mineralöl verwaltung

ÖN(ot)Z

Österreichische Notariatszeitung

ÖNORM(EN)

Österreichische NOITI1(en)

(Ö)PSK

(Österreichische) Postsparkasse

ÖRZ

Österreichische Richterzeitung

ÖS

Österreichischer Schilling

ÖSD

Österreichische Staatsdruckerei

Öst(err).

Österreich

öst(err).

österreichische(e, en, er, es)

ÖStWB

Österreichisches Staatswörterbuch, Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes

ÖVA

Österreichisches Verwaltungsarchiv

ÖVP

Österreichische Volkspartei

ÖZ(f)Ö(ff)R

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht

ÖZG

Öffnungszeitengesetz

ÖZP, ÖZPW

Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft

ÖZW

Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

PAG

Pensionsanpassungsgesetz

Pag.

Pagina

parI.

parlamentarisch

PB

Privatbeteiligter

PGS

Politische Gesetzessammlung

phil.

philosophisch, philosophiae

Pkt.

Punkt

Pol.

Polizei

Pol.Vdg.

Polizeiverordnung

polit.

politisch(e)

Präs.

Präsident

PresseG

Pressegesetz

XXVIII

Abkürzungsverzeichnis

PRG

Preisregelungsgesetz

Prof.

Professor

Prot.

Protokoll(e)

Prov.NV, PN

Provisorische Nationalversammlung

provo

provisorisch

PStG

Personenstands gesetz

PTV

Post- und Telegraphenverwaltung

PV

Parlamentarische Versammlung, Pensionsversicherung

RA

Rechtsanwalt

RAO

Rechtsanwaltsordnung

RBG

Rückzahlungsbegünstigungsgesetz

RdA

Recht der Arbeit

Rdf.

Rundfunk

RDS

Recht der Schule

RdW

Österreichisches Recht der Wirtschaft

R(d)z

Randzahl, Randziffer

Red.

Redaktion

Rep.

Republik

RG

Reichsgesetz

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RGV

Reisegebührenvorschrift

RH

Rechnungshof

RHG

Rechnungshofgesetz

RIW

Recht der internationalen Wirtschaft

(R)MBliV.

Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums

RRAHP

Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Reichsrathes

RstGB

Reichsstrafgesetzbuch

RT

Reichstag

R-ÜG

Rechts-Überleitungsgesetz

RV

Regierungsvorlage

RVO

Reichsversicherungsordnung

RZ

Richterzeitung

S

Schilling, Sitzung

S.

Seite, Salzburg

s.

siehe

s. a.

siehe auch

Sbg.

Salzburg

SchOG

Schulorganisationsgesetz

SchpflG

Schulpflichtgesetz

Abkürzungsverzeichnis SchUG

Schulunterrichtsgesetz

SD

Sozialdemokraten

sd.

sozialdemokratisch

SdP

Sozialdemokratische Partei

SEH

Sonderabfall-Entsorgungs Holding

S(ekt)Chef

Sektionschef

sen.

senior

Sero

Series

Sess.

Session

SGG

Suchtgiftgesetz

Slg.

Sammlung

s. o.

siehe oben

sog.

sogenannt(e, er, es)

sogl.

sogleich

SozSi

Soziale Sicherheit

SP

Sozialdemokratische Partei, Sozialistische Partei

Sp.

Spalte

XXIX

SPG

Sicherheitspolizeigesetz

SPÖ

Sozialdemokratische Partei Österreichs, Sozialistische Partei Österreichs

St.

Sankt

StA

Staatsanwalt(-schaft)

StA(mt)

Staatsamt

staatl.

staatlich(en)

Staatsreg.

Staatsregierung

StÄ

Staatsämter

Stb., StB, Stbg.

Der Staatsbürger (Beilage zu den "Salzburger Nachrichten")

StEG

Strafrechtliches Entschädigungsgesetz

StEG, STEG

Stadterneuerungsgesetz

stellv.

stellvertretend

Steno Prot.

Stenographische Protokolle

StG

Strafgesetz

StGB

Strafgesetzbuch

StGBl.

Staatsgesetzblatt

StGG

Staatsgrundgesetz

stilist. -redakt.

stilistisch-redaktionell

StKzlei

Staatskanzlei

Stmk.

Steiermark

StPAG

Strafprozeßanpassungsgesetz

xxx

Abkürzungsverzeichnis

StPG

Strafrechtliche Probleme der Gegenwart

StPO

Strafprozeßordnung

StPolG

Straßenpolizeigesetz

StRAG

Strafrechtsanpassungsgesetz

StRÄG

Strafrechtsänderungsgesetz

StReg.

Staatsregierung

StRH

Staatsrechnungshof

StRHG

Gesetz über den Staatsrechnungshof

StrRÄndG

Strafrechtsänderungsgesetz

StSekr.

Staatssekretär

StV

Staatsvertrag

StvAG

Strafvollzugsanpassungsgesetz

StVG

Strafvollzugsgesetz

StVO

Straßenverkehrsordnung

StVZO

Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung

SV-ÜG

Sozial versicherungs-Überleitungs gesetz

SVP

Südtiroler Volkspartei

szt.

seinerzeit

teilw.

teilweise

ThpQS

Theologisch-praktische Quartalschrlft

Tir.

Tirol

TV

Television

u.

und

UA

Unterausschuß

u. a.

unter anderem

u. a. (m.)

und andere(s) mehr

u. ä. (m.)

und ähnliche(s) mehr

UbG

Unterbringungsgesetz

udgl.

und dergleichen

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

ÜG

Übergangs gesetz

UH

Untersuchungshaft

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

ungar.

ungarisch

ungedr.

ungedruckt

Univ.

Universität

Univ.-Prof.

Universitätsprofessor

UNO

United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen)

Abkürzungsverzeichnis

XXXI

UNRRA-Hilfe

United Nations Relief and Rehabilitation Administration

UnvbkG

Unvereinbarkeitsgesetz

UOG

U niversi täts-Organisationsgesetz

u. ö.

und öfters

ursprgl.

ursprünglich

US

United States

USchG

Unterhaltsschutzgesetz

USIA

Verwaltung sowjetischer Güter in Österreich

usw.

und so weiter

u. U.

unter Umständen

u. v. a.

und viele(s) andere

UVG

Unfallversicherungsgesetz

UVS

Unabhängige Verwaltungssenate in den Ländern

UWG

Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

u. z(w).

und zwar

V(en)

Verordnung( en)

v.

vom, von, vor

v. a.

vor allem

VA

Verfassungsausschuß

VAG

Versicherungsaufsichtsgesetz

VBl.

Verordnungsblatt

VD

Verfassungsdienst

Vdg.

Verordnung

VdU

Verband der Unabhängigen

VEG

Verwaltungsentlastungsgesetz

Verf.

Verfassung, Verfasser

Verf.Ges.

Verfassungsgesetz

Veröff. Vers. Gesetz

Veröffentlichung

= Versammlungsgesetz

VEW

Vereinigte Edelstahlwerke

V(er)fGH

Verfassungsgerichtshof

V(er)f(GH)Slg.

Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes

VG

Verfassungsgesetz

vgl.

vergleiche

v.H.

von Hundert

VK

Vizekanzler

VKK

Vergabekontrollkommission

XXXI!

Abkürzungsverzeichnis

VKSE

Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa

Vlbg.

Vorarlberg

VO

Verordnung

VOEST

Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke

Vol.

Volumen

VOöB

Vergabeordnung für öffentliche Bauträger

vorl.Vf.

vorläufige Verfassung

VP

Volkspartei

VStG

Verwaltungsstrafgesetz

VU

Voruntersuchung

V-ÜG

Verfassungs-Überleitungsgesetz

VVG

Verwaltungsvollstreckungsgesetz

V(er)w(GH)Slg.

Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes

VwGG V(er)wGH VWO

= Verwaltungsgerichtshofgesetz = Verwaltungsgerichtshof = Vorläufige Wehrordnung

WAnfG

Wohnungsanforderungsgesetz

WÄG

Wohnrechtsänderungsgesetz

WB WBFG

Wehrbund

WdU

Wahlpartei der Unabhängigen

WEG

Wohnungseigentumsgesetz

WFG WG WGG

Wohnbauförderungsgesetz

Wohnbauförderungsgesetz

= Wehrgesetz

Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz

WGN

Erweiterte Wertgrenzennovelle

WHO

Weltgesundheitsorganisation

WIFO

Wirtschaftsforschungsinstitut

WiVerw

Wirtschaftsverwaltung

WipolBl.

Wirtschaftspolitische Blätter

wirtschaftl. Wiss.-Min.

wirtschaftlich

= Wissenschaftsminister

wiss.

wissenschaftlich

WP

Wahlperiode

Wr.

WRG WSG WV

= Wiener = Wasserrechtsgesetz = Wohnhaussanierungsgesetz = Wiederverlautbarung

Abkürzungsverzeichnis wvb

WVerbG WVG WWG

wiederverlautbaren

= Wohnungsverbesserungsgesetz = Wiederverlautbarungsgesetz = Wohnhauswiederaufbaugesetz

Z

Ziffer, Zahl, Zeile

z.

zur, zu

ZAS

z. B. ZfV

ZfVB Zif(f).

XXXIII

Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht

= zum Beispiel = Zeitschrift für Verwaltung = Beilagen zur Zeitschrift für Verwaltung Ziffer

Zit.

Zitat

zit.

zitiert

Zl.

Zahl

ZNR

Zeitschrift für Neue Rechtsgeschichte

ZNStR

Zum neuen Strafrecht, Referate bei der Österreichischen Richterwahl 1973 (I) und (11)

ZÖR

Zeitschrift für öffentliches Recht

ZP

Zusatzprotokoll

ZPO

(österreichische ) Zivilprozeßordnung

Zs.

Zeitschrift

ZStRW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

z.T.

zum Teil

zugl.

zugleich

ZVN

Zivilverfahrensnovelle

ZVR

Zeitschrift für Verkehrsrecht

ZZP

Zeitschrift für Zivilprozeß

III. Ausgewählte Bereiche des öffentlichen Rechts unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklungszusammenhänge

Der Beitrag des Parlaments zum Nationalitätenrecht und zum Minderheitenschutz Von Felix Ermacora

I. Einführung Dem österreichischen Parlament ist die Behandlung von Volksgruppen-, Nationalitäten- und Minderheitenfragen kraft der ethnischen Struktur, die das österreichische Staatswesen immer aufgewiesen hat, stets Aufgabe gewesen. Sowohl in aktiver Weise, als die österreichischen Parlamente von sich aus solche Fragen gestalten, als auch in passiver Weise, soweit die österreichischen Parlamente sich mit solchen Fragen in dritten Staaten befassen mußten. Die große gestalterische Aufgabe oblag dem österreichischen Parlament in der Ordnung des Nationalitätenrechts der Monarchie und des Minderheitenrechts in der Republik, die große wachende Aufgabe oblag bzw. obliegt dem Parlament hinsichtlich jener Volksgruppen, für die Österreich eine Art Schutzmachtstellung aufweist. Mit dem gesamten parlamentarischen Instrumentarium hat sich das österreichische Parlament dieser Aufgaben angenommen. Die eigentliche Wirksamkeit der parlamentarischen Befassung mit diesen Fragen ist keine andere als die Wirksamkeit in allen übrigen Angelegenheiten. Sie hängt wesentlich vom Verhältnis des Parlaments zur Regierung einerseits, vom Verhältnis von parlamentarischer Mehrheit und Minderheit andererseits ab. Daran ändert die Behandlung von Volksgruppen-, Nationalitäten- und Minderheitenfragen nichts. Das allerdings mit einem gewaltigen Unterschied: der Reichsrat, oder das Parlament der konstitutionellen Monarchie, war in sich selbst der Vertretungskörper der im Reichsrat vertretenen "Nationalitäten", auch wenn sie offiziell als die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder bezeichnet worden sind. Das heißt, der Reichsrat hat nicht nur Nationalitätenrecht für seine Rechtsunterworfenen zu gestalten gehabt, sondern er mußte sich selbst als Repräsentativorgan der Nationalitäten organisieren, und das mit allen damit zusammenhängenden Fragen: der Klubstruktur, des Sprachgebrauchs, der Abstimmungsmodi, der Räumlichkeiten, der Rollen der parlamentarischen Fraktionen, dem Übergreifen von Nationalitätenfraktion zur Weltanschauungsfraktion und sich daraus ergebenden parlamentarischen Problemen. Ich habe im nachstehenden nicht die Absicht, die Nationalitä-

554

Felix Ennacora

tenfrage als ein institutionelles Problem eines Parlaments darzustellen, 1 sondern ich will mich mit der Gestaltung des Nationalitäten-, des Volksgruppen- und Minderheitenrechts durch das Parlament und mit der parlamentarischen Sorge um Österreich zugehörige Volksgruppen und Minderheiten in dritten Staaten befassen. Sogleich ist hervorzuheben, daß die Art der Behandlung und die Wirksamkeit der Behandlung dieser Fragen durch das Parlament sehr wesentlich vom Funktionswandel des Parlaments 2 mitbestimmt sind. Es braucht nicht besonders nachgewiesen zu werden, daß das Parlament der konstitutionellen Monarchie seiner Natur nach in Opposition zu Herrscher und Regierung stand, d. h. es konnte nichts ohne Parlament, aber auch nichts ohne Herrscher gemacht werden, sollte eine Handlung gesetzgeberischen Effekt auslösen. Heute ist nur die Opposition im Parlament die Opposition zur Regierung. Und diese Opposition ist als solche die parlamentarische Minderheit, d. h. die parlamentarische Mehrheit ist funktionell geradezu eins mit der Regierung: Was die Regierung nicht will, darf auch die Mehrheit des Parlaments nicht wollen, was die Mehrheit des Parlaments will, wird in der Regel auch von der Regierung gutgeheißen. Das bedeutet für die im Parlament behandelten Nationalitäten-, Volksgruppen- und Minderheitenfragen, daß es dabei in der konstitutionellen Monarchie in erster Linie auf das Parlament ankam, und in der Republik in erster Linie 1 Ich schicke den nachstehenden Anmerkungen folgende Vorbemerkung voraus: Es geht mir bei der Ausgestaltung der Anmerkungen nicht darum, alle die mit dem jeweils angeschnittenen Problemkreis zusammenhängenden Fragen nachzuweisen, sondern lediglich die durch die Parlamentstätigkeit hervorgehobene Behandlung der Volksgruppen- und Minderheitenprobleme zu durchleuchten. Die Frage des Volksgruppen- und Minderheitenrechts ist vom Standpunkt der parlamentarischen Tätigkeit allein noch nicht behandelt worden. Alfred Fischel, Das österreichische Sprachenrecht. Eine Quellensammlung 2 , Brünn 1910, führt dazu auf S. XCVII folgendes aus: "Die officielle Geschäftssprache der gesetzgebenden Körperschaften des Staates (Reichsrath und Delegationen) ist die deutsche. Doch ist jedem Abgeordneten gestattet, sich bei den Verhandlungen seiner Muttersprache zu bedienen. Nichtdeutsche Reden werden jedoch in das stenographische Protocoll nicht aufgenommen, sondern es wird dort nur bemerkt, dass der fragliche Abgeordnete eine Rede in der betreffenden Sprache gehalten habe. Seit dem 12. Juni 1907 wird hinsichtlich des Sprachengebrauches folgender Vorgang beobachtet. Die in fremder Sprache verfassten Interpellationen und Initiativanträge werden vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses entgegengenommen und im Anhange des stenographischen Protocolls im Urtext und in authentischer deutscher Uebersetzung beigedruckt. Die in fremder Sprache gehaltenen Reden werden nicht von einem Reichsrathsstenographen, sondern auf Verlangen von Fall zu Fall von einem eigenen Ministerialbeamten registriert und im Urtexte sowie in deutscher Uebersetzung durch die ,Reichsrathskorrespondenz' veröffentlicht." Siehe zu diesem Fragenkomplex auch Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, 1919. 2 Kapitel XV, Nationalitätenrecht, S. 879 ff. 2 Siehe dazu Felix Ermacora, Grundriß einer Allgemeinen Staatslehre, Berlin 1979, S. 127 ff.

Nationalitätenrecht und Minderheitenschutz

555

auf die Regierung, oder besser, auf die Regierungsparteien ankommt. Die Bildung des eigentlichen politischen Willens hat sich in der Republik im wesentlichen außerhalb des Parlaments verlagert, ja oft gar außerhalb eigentlicher Staatsorgane. Das muß vorausgeschickt werden, um die Gestaltung von Minderheiten- und Volksgruppenfragen durch das Parlament besser würdigen zu können. Das österreichische Parlament hat sich mit Fragen des Volksgruppen-, Nationalitäten- und Minderheitenrechts nie abstrakt auseinandergesetzt. 3 Immer standen die anfallenden österreichischen Probleme zur Debatte. Das waren in der konstitutionellen Ära die Nationalitätenfragen; in der republikanischen Ära sind es die sich aus der demographischen Zusammensetzung der österreichischen Bevölkerung ergebenden Minderheiten- bzw. Volksgruppenprobleme einerseits, und die aus der Schutzmachtfunktion Österreichs erwachsenden Schutzaufgaben für "österreichische Minderheiten" andererseits. Daß die Behandlung dieser Fragen immer wieder den Gegensatz von Staatspolitik einerseits und Parteipolitik andererseits heraufbeschwört, liegt auf der Hand. Die das Parlament tragenden politischen Kräfte haben ja ihre partikularen Interessen, die sie gegebenenfalls auch in staatspolitisch scheinenden Problemgestaltungen durchzusetzen trachten. Die nachstehende Gliederung folgt der historischen Entwicklung der Problembewältigung, aber auch der systematischen Erfassung derselben. Für die Gestaltung der Nationalitätenfrage in der konstitutionellen Monarchie ragen Beratung und Annahme des Art. 19 StGG vom 21. Dezember 1867 hervor. Sie waren der Anfang einer Entwicklung, die die parlamentarische Praxis, Judikatur, Administration und Lehre beschäftigt haben. In der Periode des Übergangs von Deutsch-Österreich zur Republik Österreich waren es die Zeremonien, in denen die provisorische Nationalversammlung österreichische Volksgruppen aus dem Staatsverband entließ und sie anderen Staaten nichtdeutschen Charakters anvertrauen mußte. In der ersten Republik war es dann vor allem die auch im Parlament zum Ausdruck gebrachte Sorge für die Österreicher in Südtirol, die ganz besondere Aspekte eines Volksgruppenschutzes durch den Parlamentarismus sichtbar machten. Nach dem zweiten Weltkrieg sind es der Komplex des Minderheitenartikels des Staatsvertrages von 1955 und seine diversen Ausführungsvorschriften, die das Parlament beschäftigen, sodann die alltägliche parlamentarische Arbeit, die sich mit den geradezu klassischen österreichischen Minderheiten - der slowenischen und der kroatischen - befaßt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite betrifft die Sorge des österreichischen 3 Das ergibt sich aus der in diesem Beitrag aufgezeigten Arbeit des Parlaments zu Volksgruppenfragen, bei der es, von der Diskussion um den Art. 19 StGG und das Volksgruppengesetz abgesehen, immer nur um die Behandlung konkreter Fragen gegangen ist.

556

Felix Ermacora

Parlaments um die österreichische (deutsche) Minderheit in Italien. Wenngleich die Behandlung der Fragen chronologisch nebeneinander vor sich geht, wird sie aus Gründen einer umsichtigeren Darstellung systematisch behandelt. Und zwar, soweit es die Zeit nach 1945 angeht, unter Bedachtnahme auf die mit dem Staatsvertrag zusammenhängenden Probleme im allgemeinen, und auf die Durchführung des Staatsvertrages, soweit er sich auf die Slowenen bezieht, im besonderen, wobei die Erarbeitung des Volksgruppengesetzes und die parlamentarische Seite der Durchführung des Volksgruppengesetzes im Mittelpunkt stehen. Hier ragen Interpellationen und Resolutionen des Parlaments in die jeweilige Regierungstätigkeit hinein. Was die Südtirolfrage angeht, so seien der parlamentarische Werdegang des Pariser Abkommens, die Befassung der Vereinten Nationen mit der Südtirolfrage, die Beschlußfassung über Paket und Operationskalender sowie die parlamentarische Kontrolle der Paketdurchführung behandelt. Der föderalistische Staatsaufbau der Republik Österreich sieht vor, daß das Volk im Nationalrat und die Länder im Bundesrat vertreten sind. Das bedarf hier keines Beweises. Es haben sich mit Minderheiten- und Volksgruppenfragen Nationalrat und Bundesrat in unterschiedlicher Intensität befaßt. Dem wird in der Darstellung vor allem durch entsprechende Fußnoten bzw. Verweise Rechnung getragen. Die Verweise auf die Fundstellen parlamentarischer Beratungen und Materialien folgt - bis auf geringe Abweichungen - jener Technik, die in den Indices zu den parlamentarischen Protokollen (Stenographische Protokolle des Nationalrates und Stenographische Protokolle des Bundesrates) verwendet wird. ß. Der Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBI. Nr. 144, als Angelpunkt des verfassungsrechtlichen Volksstämmeschutzes in der konstitutionellen Monarchie

Art. 19 StGG wird in der Literatur als der liberalste Ausdruck verfassungsrechtlicher Gesetzgebung in einem Staat angesehen, der wie Öster~eich als Vielvölkerstaat in die Staatengeschichte eingegangen ist. 4 Die Initiative zu diesem Artikel wie zum gesamten StGG ist nicht von der Regierung, sondern von den Abgeordneten ausgegangen. Nur gegen die Zurückhaltung der Regierung und der Bürokratie ist dieses StGG schließlich erarbeitet und angenommen worden. Das StGG stellt zweifelsohne den Höhepunkt des parlamentarischen Liberalismus im 19. Jahrhundert dar. Die Inhalte des genannten StGG sind nicht über Nacht geboren worden. 4

Über den mit Art. 19 8tGG zusammenhängenden Problemkreis siehe Felix

Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963,

8.525 ff. und die dort angeführte Literatur.

Nationalitätenrecht und Minderheitenschutz

557

Sie haben sich in Österreich jedenfalls seit 1848 entwickelt. Der Inhalt des Art. 19 war weitgehend durch den Kremsierer Entwurf vorgezeichnet, der seinerzeit eingehend beraten worden ist. Den "Geist" dieses Artikels hat der Kaiser in seiner Thronrede zum Ausdruck gebracht, welche er am 1. Mai 1861 anläßlich der Eröffnung der ersten Legislaturperiode des österreichisehen Reichsrates gehalten hatte: 5 "Ich halte fest an der Überzeugung, daß freie Institutionen unter gewisser Wahrung und Durchführung der Grundsätze der Gleichberechtigung aller Völker, der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze und der Teilnahme der Volksvertreter an der Gesetzgebung zu einer heilbringenden Umgestaltung der Gesamtmonarchie führen werden." Dieser Grundsatz wurde in der Praxis nicht sonderlich beachtet. Aber dann haben Dr. Anton Schmerling und Graf Richard Belcredi versucht, dem Grundsatz in ihren Bereichen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Dezemberverfassung hat die seit Dr. Schmerling geübte Politik in Gesetzesform gegossen. Der schließlich angenommene Text des Art. 19 StGG hat folgende Fassung erhalten: "Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt. In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält."

Aus den Bestimmungen dieses Artikels ist vor allem ersichtlich, daß es sich bei ihm um eine Garantie der Sprachfreiheit handelt. Nicht nur die herrschenden Landessprachen, sondern die landesüblichen Sprachen, und zwar alle, sollten gleiches Recht erhalten. Als landesübliche Sprache wurde jene angegeben, die den nationalen Charakter eines bestimmten Gebietes ausdrückt, in dem sie dort in einem Landesteil nicht aus zufälligen Anlässen, vorübergehend, sondern dauernd und in von dichten Gruppen bewohnten Zweigen eines Volksstammes oder von Volksbestandteilen gesprochen wird. Die ersten beiden Absätze des Artikels sind dem entsprechenden Text des Kremsierer Entwurfes entnommen, der dritte Absatz ist neu hinzugekommen. Die sehr kontroversiell geführte parlamentarische Debatte in beiden Häusern und in den Ausschüssen beider Häuser 6 machte jedenfalls deutlich, daß die Sprachenfreiheit aus dem Recht der Nationalität fließt. Es 5 Siehe Steno Prot. des Hauses der Abgeordneten, I. Session, Beilage des steno Berichtes über die 2. Sitzung des Abgeordnetenhauses am 2. Mai 186l. 6 Siehe Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, I. Band 18481864, Wien und Leipzig 1902, S. 273 ff.

558

Felix Ermacora

wurde mit Art. 19 StGG ein Grundsatz aufgestellt. Allerdings ein Grundsatz, der einer näheren Durchführung im Bereich der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder sowie der die Regierung vertretenden Administrationen bedurfte. Das geht aus dem Ausschußbericht des Verfassungsausschusses des Abgeordnetenhauses zu der Gesetzesstelle sehr klar hervor: 7 "Im Art. 19 ist der Grundsatz der Gleichberechtigung der Volksstämme und landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben ausgesprochen, auf eine Feststellung der Bestimmungen wegen Ausführung dieses Grundsatzes wird jedoch nicht eingegangen." Im Bericht der juridisch-politischen Kommission des Herrenhauses wurde darüber gesagt: 8 "Gegen das zweite Alinea des Art. 19 ist das Bedenken erhoben worden, daß die in demselben zugesagte Gewährleistung des Staates für die Gleichberechtigung für Schule, Amt und öffentliches Leben unter mancherlei Umständen voraussichtlich nicht eingehalten werden könnte. Es schien nicht angemessen, ein Versprechen zu leisten, dessen Erfüllung nach Tunlichkeit zu fordern man wohl als ein Recht anerkennen, von dem man sich aber von vornherein sagen muß, daß man seine Erfüllung nicht unbedingt verbürgen könne. Deshalb wird beantragt, statt des Wortes "gewährleistet" zu setzen "anerkannt"." Während der parlamentarischen Beratungen war auffällig, daß von den vehementesten Befürwortern der Gleichberechtigung der Sprachen Tschechen und Polen - nur die Polen im Abgeordnetenhaus erschienen waren, nicht die Tschechen! Man meinte, daß der neuen Bestimmung im StGG keine über die überlieferten Verwaltungszustände im Gebrauch der Muttersprache hinausgehende Wirkung zukommen würde. Und diese Verwaltungszustände sind vor allem von Alfred Fischel im einzelnen dargestellt worden. Die Mehrheit der Häuser wollte durch diese Bestimmung nur die Rechtssphäre des Individuums klarer bestimmen, nicht aber in die Struktur des "Staats- und Verwaltungsorganismus" eingreifen. Es ging vor allem um die Frage der Vorherrschaft der deutschen Sprache in den Amtsstuben. Es ging um den Charakter der deutschen bzw. der landesüblichen Sprachen als gleichberechtigte Staatssprachen. Der Abgeordnete Dr. Eduard Sturm, der im Jahre 1867 im entsprechenden Reichsratsausschuß Berichterstatter war, sagte am 9. März 1883 in seinem Minoritätenbericht über den Antrag von Graf Gundacker Wurmbrand-Stuppach: 9 "Es unterliegt vorerst keines Zweifels, daß durch die Bestimmungen des Art. 19 die Bedeutung und Geltung der deutschen Staats sprache gar nicht berührt, sondern nur der 7 8

9

Nr. XXIV d. Beilagen Steno Prot. AH, IV. Session. Sitzungsberichte des Herrenhauses, IV. Session, 17. Sitzung, S. 288. 697 d. B. Steno Prot. AH, IX. Session.

Nationalitätenrecht und Minderheitenschutz

559

Gebrauch der landesüblichen und Landessprachen innerhalb der Länder nach dem Prinzipe der Gleichberechtigung in Aussicht genommen, somit die deutsche Sprache auch nur in ihrer zweiten Eigenschaft als Landessprache mit den übrigen Landessprachen gleichgestellt wurde." Jedenfalls hat sich in der Praxis herausgestellt, daß die Sprache des

inneren Dienstes nicht unter Art. 19 StGG fällt. Strittig war aber eine -

man würde dies heute mit einem juristischen Terminus so bezeichnen Frage der Organisationsgewalt, nämlich, ob die Regelung der inneren Amtssprache kompetenzmäßig der vollziehenden oder der gesetzgebenden Gewalt zukomme. Dies nicht geklärt zu haben, war die besondere Schwachstelle des Art. 19 StGG. Alfred Fisehel schreibt: "Der Kampf gegen den bestehenden sprachlichen Rechtszustand in Schule, Amt und öffentlichem Leben, der nie mehr rastete, und das schrittweise Entgegenkommen der Regierungen auf Kosten der deutschen Geschäftssprache bilden seither den Hauptinhalt der inneren Geschichte Österreichs". 10 Es würde hier zu weit gehen, die Streitpunkte im einzelnen anhand der Stenographischen Protokolle der Häuser des Reichsrates anzuführen. Sie sind in großen Zügen bei Gustav Kolmer nachgezeichnet. 11 Beachtenswert und mit der heutigen Auffassung von Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Gerichtsbarkeit kaum mehr vereinbar ist die Tatsache, daß die einzelnen zuständigen Ministerien und die jeweiligen Landtage sich der eigentlichen Ausführung des Art. 19 bemächtigten und praktisch ihr Sprachenrecht je nach Ressortbereich verschieden und immer wieder darüber interpelliert ausgestaltet haben. 12 Nur einzelne legislative Probleme sind, nachdem Art. 19 StGG in Kraft getreten war und ein reiches Betätigungsfeld der Höchstgerichte gefunden hatte, für das Parlament angestanden. Die Taafte'sehe Regierung sah sich durch ein Entscheidung des OGH,13 die eine Alfred Fischel, Anm. 1, S. LXXXI. Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, I (1848-1869), Wien & Leipzig 1920, S. 273-276; II (1869 -1879), Wien & Leipzig 1903, S. 55 ff., 120 ff., 166 ff., 360 ff.; III (1879 -1885), Wien & Leipzig 1905, S. 87 ff., Stremayrs Sprachenverordnung (Interpellation Wolfrum) 93 ff (Sprachenanfrage Herbst und Wurmbrand), 231 ff.; IV (1885-1891), Wien & Leipzig 1907, 21 ff. (Adressdebatte mit Sprachenprogramm); 203 (Scharschmids Sprachenantrag); VI (1895 -1898), Wien & Leipzig 1910, 13 ff. (Badenis Sprachenerklärung), 205 ff. (Badenis Sprachenverordnungen), 220 ff. (Kampf wider die Sprachen verordnungen) , 371 ff. (Revision der Sprachenverordnungen); VII (1898-1900), Wien & Leipzig 1911, 21 ff. (Ulbrich-pferschescher Sprachengesetzentwurf), 48 ff. (Erste Lesung der Sprachenanträge), 383 ff. (Aufhebung der Badenischen Sprachenverordnungen), 434 (der Stummersche Sprachengesetzentwurf). 12 Das kann bei Alfred Fischel, Anm. 1, nachgelesen werden. 13 Entscheidung v. 7. März 1883, Jud. Buch Nr. 112. 10

11

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Verordnung 14 für gesetzwidrig erklärte, gezwungen, die Frage, welches Idiom im Bereich der italienischen Geschäftssprache in Dalmatien und Istrien maßgebend sei, gesetzlich zu regeln. 15 Solche Anlässe boten Gelegenheit, die Grundsätze der Sprachpolitik in Österreich parlamentarisch zu behandeln. An legislativen Maßnahmen der Reichsgesetzgebung, die sie in Ausführung des Art. 19 setzen mußte, sind sodann zu nennen, das Gesetz vom 13. Mai 1869, RGBl. Nr. 68, über die Landwehr, wo im § 19 die deutsche Sprache als Kommandosprache der Landwehr im ganzen Umfang der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder jene des stehenden Heeres - das war das Deutsche - zu sein hatte. Im Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869, RGBl. Nr. 62, bestimmt § 6, daß über die Unterrichtssprache und über die Unterweisung in einer zweiten Landessprache nach Anhörung derjenigen, welche die Schule erhalten, innerhalb der durch die Gesetze gezogenen Grenzen die Landesschulbehörde entscheidet. "An den nicht deutschen Bürgerschulen soll die Gelegenheit zur Erlernung der deutschen Sprache geboten werden." Schließlich ist auch die Änderung des Gesetzes über das Reichsgesetzblatt zu nennen (RGBl. Nr. 113/ 1869). § 2 dieses Gesetzes bestimmt, "daß das Reichsgesetzblatt durch das Ministerium des Inneren in allen landesüblichen Sprachen der in dem Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder herausgegeben wird. Die deutsche Sprache des Reichsgesetzblattes enthält den authentischen Text, der für dasselbe bestimmten Kundmachungen. Die Ausgaben in den übrigen landesüblichen Sprachen enthalten die offiziellen Übersetzungen des authentischen Textes." Das Reichsgesetzblatt erschien danach in acht von der Redaktion desselben nachstehend bezeichneten Sprachen, nämlich in der deutschen, der böhmischen, italienischen, polnischen, rumänischen, ruthenischen, slowenischen und kroatischen Sprache. Die Sprachen/rage, und nicht die Volksstammfrage als solche, stand im Mittelpunkt ständiger parlamentarischer Initiativen und Beratungen. Anhand von Al/red Fischels Werk seien im besonderen hervorgehoben: der Antrag der Abgeordneten Dr. Richard Foregger und Genossen betreffend die Abänderung der GO des Herrenhauses im Sinne der Einführung der deuts"chen Geschäfts- und Verhandlungssprache v. 18. Juni 1895; 16 ein Antrag der deutschnationalen Partei vorgelegt von Abg. Dr. Ernst Bareuther zur Ausführung des Art. 19 StGG v. 17. Juni 1902;17 er bezieht sich auf Staatssprache und Umgangssprache; am 9. April bringen die Abg. Dr. Eugen Lewickyj und Gen. - eine ruthenische Vertretung - einen Dring§ 14 der in Dalmatien und Istrien geltenden westgalizischen Gerichtsordnung. RGBl. Nr. 75/1883. 16 1211 d. B. Steno Prot. AH. 17 In Alfred Fischel, Anm. 1, S. 343 f. 14 15

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lichkeitsantrag ein, im Wege eines Reichsgesetzes die Sprachenfrage im ganzen Staat zu lösen. 18 Dieser Antrag war von grundlegender Natur und es hätte bei seiner Annahme tatsächlich das gesamte Reichsgebiet neu organisiert werden müssen. Ministerpräsident Dr. Richard Frh. v. Bienerth hat am 3. Februar 1909 einen Sprachgesetzentwurf für Böhmen dem Abgeordnetenhaus vorgelegt. 19 Ministerpräsident Ernst v. Koerber trug sich mit dem Entwurf eines Sprachgesetzes für Mähren. 2o Sodann sind die Regierungsvorlagen betreffend die italienische Rechtsfakultät zu nennen: Am 8. März 1904 wurde eine Regierungsvorlage betreffend die Errichtung einer selbständigen rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät mit italienischer Vortragssprache in Rovereto eingebracht,21 sodann am 20. Jänner 1909 eine Regierungsvorlage betreffend die Errichtung einer selbständigen rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät mit italienischer Vortragssprache in Wien. 22 Wenn man die Texte dieser Vorlagen überblickt, die Einfachheit der vorgesehenen Regelungen, so muß sich der Jurist und Politiker der Gegenwart wohl fragen, wohin die Grundsätze der Einfachheit und der Verständlichkeit legislativer Texte geraten sind, die damals offenbar geherrscht hatten. Der Leser möge die komplizierten Regelungen der Gegenwart auf dem Sektor des Hochschulwesens mit jenen der damaligen Gesetzgebung vergleichen und sich dann selbst ein Urteil bilden. Der Reichsrat hat die Volksstämmefrage nicht zu lösen vermocht. Die Umwandlung der Monarchie in einen monarchischen Bundesstaat, für die die entsprechenden Gesetze in Vorbereitung waren, aber nicht mehr zur Vollendung gelangen konnten, war in den Anfangsstadien; hier hatte der Reichsrat als solcher nichts mehr mitzureden. Der Reichsrat gab mit der Beschlußfassung über den Art. 19 StGG aber eine allgemein akzeptierte Politik an und überließ es den Landesgesetzgebungen einerseits und den Regierungen andererseits, unter der Kontrolle der Volksvertretung auf den Grundsätzen ein modernes Volksgruppenrecht aufzubauen, über das das Sammelwerk von Dr. Karl Gottfried Hugelmann (Hrsg.) beste Auskunft gibt. 23

18 In Al/red Fischel, Anm. I, S. 344 f. 19 1353 d. B. Steno Prot. AH, XVIII. Session. 20

In Al/red Fischel, Anm. I, S. 371 ff.

22

In Alfred Fischel, Anm. 1., S. 380 f.

21 1987 d. B. Steno Prot. AH, XVII. Session. 23 Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, Wien 1934. Hier Karl Gottfried

Hugelmann: Das Nationalitätenrecht nach der Verfassung von 1867; der Kampf um ihre Geltung, Auslegung und Fortbildung, S. 81 ff. 36 Parlamentarismus

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111. Die provisorische Nationalversammlung der Republik Deutsch-Österreich und die konstituierende Nationalversammlung der Republik Österreich und die Volksgruppen- bzw. Minderheitenfrage Die Auflösung des Vielvölkerstaates und das Bemühen des Nachfolgestaates Deutsch-Österreich, das deutsche Siedlungsgebiet bei Österreich zu behalten, 24 war zunächst in die Hände der Staatsregierung gelegt. Sie hatte mit ihrem Beschluß die Staatsgrenzen bestimmt, sie hatte mit ihren schwachen Kräften Kärnten in seinem Abwehrkampf unterstützt, und die Staatsregierung hatte, allmählich der Nationalversammlung gegenüber Verantwortlichkeit fühlend, Österreich auf der Friedenskonferenz von St. Germain zu vertreten. Hier ging es in erster Linie um eine neue Form des Volksgruppenrechts, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der Bericht der österreichischen Friedensdelegation an die provisorische Nationalversammlung 25 zeigt, wie die Regierung und ihre Delegation, an der namhafte Volkstumswissenschaftler 26 - so würde man sie heute bezeichnen - teilgenommen hatten, bemüht waren, auch mit tragfähigen wissenschaftlichen Argumenten die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu verfechten und wie sich die Regierung mit den Formulierungen aus einandergesetzt hatte, die im Jahre 1919 aus dem "Committee of the New States" 27 geboren wurden, um auch für Österreich Verpflichtungen zum Minderheitenschutz aufzunehmen. Die österreichische Volksvertretung hat sich mit dem ganzen theoretischen und dogmatischen Ballast kaum aus einandergesetzt, der die Fakten, ich möchte sagen: die schmerzvollen Fakten, wissenschaftlich zu verbrämen suchte. Der Schmerz über den Verlust der österreichischen Völkerschaften in den Sudetenländern, in Kärnten, der, Steiermark und Südtirol stand im Vordergrund. Hier beugte man sich den Fakten und hier verabschiedete man die Repräsentanten der unter Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes anderen Staaten zugewiesenen deutsch-österreichischen Gebiete. 28 Da ist einmal zu nennen die Verabschiedung der sudetendeutschen Länder, bei der der bedeutende sudetendeutsche Politiker Lodgman von Auen das Wort ergriffen hatte und auf die Unverzichtbarkeit des Selbstbestimmungsrechtes verwies, sekundiert vom damaligen Präsidenten der Nationalversammlung, (Dr. Karl Seitz). 29 Für 24 Siehe das Staatsgesetz vom 22. November 1918, StGBl. Nr. 40, über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutsch-Österreich. 25 379 d. B. Sten, Prot. NV. 26 So Professor Rudolj Laun und der Staatskanzler Karl Renner, den man mit Fug als einen bedeutenden Wissenschaftler bezeichnen kann. 27 Bd. XIII Minutes of the Committee on New States in John Miller, My diary of the Peace Conference, New York 1919-1924. 28 Am besten bietet dazu eine Übersicht Leo Epstein, Studienausgabe der Verfassungsgesetze der Tschechoslowakischen Republik, Reichenberg 1923, Gelegenheit. 29 Die Texte der Erklärung sind abgedruckt bei Leo Epstein, a. a. 0., S. 75 ff.

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die Südtiroler kam der damalige Tiroler Abgeordnete Dr. Eduard ReutNikolussi zu Wort. Und zwar anläßlich der Debatte, in der der Staatsvertrag von St. Germain genehmigt wurde. Dr. Reut-Nikolussi führte dabei am 6. September 1919 u. a. folgendes aus: 30 "Entscheidend erscheint der Vertretung des Landes Tirol, daß kein Rechtsfriede, sondern ein Gewaltfriede vorliegt, auferlegt unter Bedingungen, durch welche die von den siegenden Staaten selbst als Grundlage des Friedens verkündeten Rechtsgrundsätze vergewaltigt werden. Tirol erkennt daher den Zustand, der durch den Frieden geschaffen werden soll, nicht als Rechtszustand an und wendet sich schon jetzt an den Völkerbund, damit er dem betreffs Südtirol mit Füßen getretenen Selbstbestimmungsrechte Anerkennung verschaffe und im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens und gerechter und ehrenhafter Beziehungen zwischen den Nationen das schwere Unrecht beseitige, das dem Lande Tirol widerfahren ist." Das, hohe Nationalversammlung, ist der Beschluß des tiroler Landesrates zur Friedensfrage. In Südtirol haben im Verlaufe der letzten Woche die Vertreter sämtlicher Parteien beim italienischen Gouverneur Gredaro vorgesprochen und haben ihm einmütig eine Rechtsverwahrung zur Kenntnis gebracht, womit sie den Friedensvertrag in der jetzigen Fassung ablehnen und für immerwährende Zeiten auf dem Selbstbestimmungsrechte Südtirols bestehen. Sie werden es mir zubilligen, daß ich als Südtiroler keine andere Haltung einnehmen kann. Es ist jedes Pathos zwecklos und es ist auch unmöglich, jene Gefühle zu schildern, die einen Mann beseelen, der in den Reihen der Tiroler Jäger gegen Italien gekämpft, der beim Schutze seines Vaterlandes sein Blut vergossen hat und jetzt mit seinem Volke in die Knechtschaft wandert. Nur eines kann ich sagen: gegenüber diesem Friedensvertrage haben wir mit jeder Fiber unseres Herzens, in Zorn und Schmerz nur ein Nein, ein ewiges und unwiderrufliches Nein! (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Wenn ich dieser Präzisierung unseres Standpunktes noch etwas hinzufügen möchte, so ist es eine Bitte: Es wird jetzt in Südtirol ein Verzweiflungskampf beginnen um jeden Bauernhof und um jedes Stadthaus, um jeden Wald und um jeden Weinberg, es wird ein Kampf sein mit allen Waffen des Geistes und mit allen Mitteln der Politik, ein Verzweiflungskampf deshalb, weil wir eine Viertelmillion Deutsche sind gegen 40 Millionen Italiener, wahrhaft ein ungleicher Kampf! Verehrte Damen und Herren! Sowohl aus den Worten des Herrn Staatskanzlers wie aus jenen des Herrn Präsidenten Hauser hat das Versprechen geklungen, daß Sie die Solidarität der Sprache, der Kultur und der Geschichte, die Südtirol bisher mit Deutschösterreich verbunden haben, nicht vergessen wollen. (Rufe: Gewiß nicht!) Wir nehmen Sie beim Worte. Wenn wir jetzt in diese finstere Zukunft hineingehen, so soll das doch unser einziger Trost sein, daß wir Landsleute und Volksgenossen haben, die uns in unserer Stunde der Not nicht vergessen, die uns in diesem entsetzlichen Ringen, das nun anhebt, ihre Hilfe leihen werden, jene Hilfe, die sich ergeben muß aus unserer gemeinsamen deutschen Freiheitsliebe."

Und Staatskanzler Dr. Karl Renner antwortete ihm und anderen eigentlich als Kritiker des vergangenen Nationalitätenstaates: 31 30 31

36'

Steno Prot. Konstituierende NV, Sitzung v. 6. September 1919, S. 786 f. Ebenda, S. 795 f.

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"Ja, man erklärt uns für Schuldige, aber waren wir frei, waren die Deutschen Österreichs überhaupt frei? Nein und tausendmal nein! Selbst in Zeiten, wo sie scheinbar an der Herrschaft waren - ich weiß nicht, wie viel Schein und wie viel Ernst dabei in Wirklichkeit war - waren sie gebunden, gebunden durch historische Mächte, gebunden aber auch durch das Schwergewicht der Nationen, die an sie geklammert waren; denn die Deutschen waren ja nie allein und sehr oft haben die Deutschen polnische Politik machen müssen (Zustimmung), sehr oft haben sie jugoslawische Politik machen müssen (Zustimmung), sehr oft sind sie durch ein unglückseliges Verhängnis gezwungen gewesen, die magyarische Herrenpolitik mitzumachen. Und es ist sehr wahr, daß wir leiden wohl auch durch eigene Schuld einer kindlichen und kritiklosen Treue, zum größeren Teil aber sind wir schuldig gewordene und sind die Deutschen in Österreich in dem Sinne, wie der Geleitbrief sagt, schuldig geworden durch die Verbindung der Nationen, mit denen doch trotz alledem eine wahre geistige Gemeinschaft nicht sein konnte. Das war unser Unglück, und so mag es denn auch in dem Unglück wieder als Glück angesehen werden, daß wir endlich frei sind. Was haben wir denn früher tun können? Jetzt aber werden wir endlich diese Hemmnisse los und in unserem Unglück ist das Eine ein Glück, daß wir wirklich und wahrhaftig eine Nation, ein nationaler Staat sein werden, Gleiche unter Gleichen, Menschen, die sich untereinander verstehen, Menschen mit gleicher Kulturstufe, Menschen mit einem übersehbaren Gebiet und ausgerüstet mit dem Erbteil deutscher Kultur, das wir jetzt erst recht pflegen, schätzen und wahren werden, weil wir es brauchen; denn es gibt keine vernünftige Selbstverwaltung ohne geistige Kultur. Es kann ein Volk sich nicht selbst regieren, ohne entsprechend zu lernen, ohne gute Schulen, ohne entsprechende Einrichtungen, ohne eine entsprechende Erziehung. Das alles können wir uns schaffen und so können wir sehr wohl trotz unseres Unglückes und vielleicht sogar unter der Zuchtrute dieses Unglücks uns entwickeln, wir können uns ausbilden, können ein Staat werden nicht nur von musterhafter Freiheit, sondern auch von musterhafter Arbeitsamkeit und von musterhaften wirtschaftlichen Erfolgen. wir können es werden und darum möchte ich in dieser Stunde, wo das Haus diesen furchtbaren Beschluß fassen muß, in dieser Stunde, wo die Herzen Aller vielleicht am tiefsten betrübt sind, Ihnen dasselbe Wort zurufen, das einmal Herr Präsident Hauser hier gesagt hat: Arbeiten, arbeiten und nicht verzweifeln, an die Zukunft glauben, glauben an die Gemeinsamkeit unserer Interessen im Rahmen dieses Staates, glauben an die Bildungsfähigkeit, glauben an die Tüchtigkeit unseres Volkes und glauben daran, daß wir auch für uns die Tore der Zukunft aufreißen werden. Hohes Haus! Wenn wir schon den Nacken beugen müssen unter dieses Joch, trotzdem aber die Herzen hoch!" (Stürmischer Beifall und Händeklatschen).

Nur wenige Monate nach diesen bewegenden Erklärungen über den staatsrechtlichen Verlust Südtirols gab ein Vorfall Anlaß, an den damaligen Staatskanzler Renner eine parlamentarische Anfrage zu stellen, die sich auf das Schicksal Südtirols bezog. Die Anfrage wurde von großdeutschen Abgeordneten, u. a. dem Tiroler Dr. Sepp Straffner, eingebracht. Sie datiert vom 28. April 1920 und lautet: 32 32

Konstituierende NV, 77. Sitzung am 20. April 1920, 341/ I KNV.

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"Der ,Secolo' berichtet in seiner Nummer 19280 vom 8. April unter dem Titel ,Der Staatskanzler Renner in Rom. die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Italien und Österreich'. (Seite 1, Spalte 3) folgendes: ,Am Nachmittag des 7. April begab er (Dr. Renner) sich in die Kammer und in den Senat, um den beiden Präsidenten seine Visitkarte abzugeben. Im Gespräch mit einigen Journalisten sagte der Kanzler, Österreich wolle die im Friedensvertrage übernommenen Verpflichtungen loyal erfüllen, überzeugt, daß die Freundschaft Italiens ihm diese Aufgabe erleichtern werde. Er fügte hinzu, Tirol bilde eine "für die Seele Österreichs schmerzhafte Wunde, aber die Zeit werde sie heilen. ' Der Herr Staatskanzler mag in dieser seiner Äußerung, wenn die Mitteilungen des ,Secolo' richtig sind, seine eigenen Gefühle zum Ausdruck gebracht haben, vielleicht auch die seiner Partei, gewiß aber nicht die Gefühle der Deutschen Tirols. Die Deutschen Tirols haben dem Herrn Staatskanzler zu einer derartigen Äußerung kein Mandat erteilt. Wenn der Herr Staatskanzler sich einmal die Mühe gemacht hätte, sich von der tatsächlichen Stimmung der deutschen Tiroler Bevölkerung zu überzeugen, so hätte er den Eindruck gewinnen müssen, daß der Raub Deutschsüdtirols und Ladiniens von den deutschen Tirolern nie vergessen werden kann und daß eine friedliche Zusammenarbeit mit Italien, die alle deutschen Tiroler wünschen, nur dann denkbar ist, wenn Italien Deutschsüdtirol und Ladinien wieder herausgibt. Die Wunde, die der deutschen Bevölkerung Tirols durch den Raub der deutschen und ladinischen Gebiete Südtirols geschlagen wurde, kann und wird die Zeit nicht heilen. Wenn der Herr Staatskanzler im In- und Auslande Stimmungen erweckt, die einem, wenn auch schmerzlichen Verzichte, auf Deutschsüdtirol und Ladinien gleichkommen, so mag er sich nicht wundern, wenn ihm Tirol auf diesem Wege nicht folgen kann. Es ist überaus bedauerlich, daß durch derartige Äußerungen eines verantwortlichen Staatsmannes im Auslande vollkommen falsche Meinungen entstehen müssen und doppelt bedauerlich, daß dies in einem Augenblick geschieht, in dem weite Kreise des Auslandes das grobe an Tirol durch die Landeszerreißung und Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes von 250.000 Deutschen begangene Unrecht einzusehen beginnen. Die Gefertigten stellen daher an den Herrn Staatskanzler Dr. Renner die Anfragen: 1. Beruhen die im ,Secolo' vom 8. April gebrachten Äußerungen des Herrn Staatskanzlers bezüglich Deutsch-Südtirol auf Wahrheit?

2. Wenn nicht, warum hat der Herr Staatskanzler diese Äußerungen bis heute nicht dementiert, beziehungsweise wann gedenkt er dies zu tun? Wien, 28. April 1920 Dr. Waber Kraft Thanner Birchbauer Wedra Schürff

Dr. Straffner Krötzl Leopold Stocker Egger Dr. Ursin Dr. Paulh"

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Die Antwort wurde am 18. Mai 1920 gegeben und hatte folgenden Wortlaut, der hinsichtlich der Selbstbestimmungsfrage für Südtirol gewiß auch heute noch Interesse abverlangt: 33 "Die im ,Secolo' v. 8. April d. J. gebrachten Äußerungen des Staatskanzlers bezüglich Südtirols sind richtig wiedergegeben. Diese Äußerungen rechtfertigen jedoch nicht die einseitige Interpretation, die ihnen von den Interpellanten gegeben wurde. Der Staatskanzler hat in seiner Äußerung, Tirol bilde eine für die Seele Österreichs schmerzhafte Wunde, aber die Zeit werde sie heilen, lediglich der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß sich in der Zukunft für die Tiroler Frage durch die Verwirklichung des Grundsatzes des nationalen Selbstbestimmungsrechtes eine Lösung finden werde. Ein Anlaß zu einem Dementi der Mitteilungen des ,Secolo' war und ist demgemäß nicht vorhanden."

IV. Der Nationalrat der ersten Republik und das Minderheitenproblem a) Die im Staatsvertrag von St. Germain stipulierten Verpflichtungen Österreichs, Minderheitenschutz zu gewähren (siehe die Art. 62 bis 69), hatten in der damaligen Debatte der provisorischen Nationalversammlung kein besonderes Echo ausgelöst. Auch als ein Jahr später das B-VG beschlossen wurde, das in seinem Artikel 8 auf die Existenz sprachlicher Minderheiten verweist und ihnen sprachliche Erleichterungen bei grundsätzlicher Anerkennung, daß deutsch die Staats sprache der Republik sei,34 zugesteht, ist, ohne daß man eine besondere Wortmeldung dazu verzeichnen könnte, akzpetiert worden. Dasselbe gilt für den Art. 149 B- VG, der u. a. das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger v. 21.. Dezember 1867 zum österreichischen Bundesverfassungsrecht erklärt und damit - zumindest theoretisch - den oben beschriebenen Art. 19 StGG in den bundesstaatlichen Rechtskörper übernommen haben mochte. Auch er wurde parlamentarisch nicht besonders erörtert. Offenbar war der Verfassungsübergang rechtstechnisch so perfekt oder so verklausuliert, daß die Parlamentarier sich nicht bewußt waren, daß vor allem durch den § 1 des Verfassungs-Übergangsgesetzes 1920 jedenfalls für jene Staatsteile, wo es sprachliche Minderheiten gab das waren im Jahre 1920 gewiß Kärnten und Wien -, das österreichische Sprachenrecht, und zwar so, wie es von Alfred Fischel vorgestellt wurde, sang- und klanglos samt und sonders in den Rechtskörper des neuen österreichischen Rechts übernommen wurde. Das galt theoretisch für das Schulrecht, die Amts- und Gerichtssprache, die topographischen Aufschrif33 Zu Nr. 341/ I KNV /148. 34 Siehe zur Entwicklung dieser Bestimmung Felix Ermacora (Wirth), Hans Kel-

sen und die österreichische Bundesverfassung, Wien 1981, S. 27 f.

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ten, Orts- und Flurnamen in Kärnten. Wenn die durch Rechtsüberleitungen übernommenen Vorschriften auch nicht angewendet sein mochten, so hat dies die Volksvertretung nicht sonderlich berührt. Es finden sich keine wie immer gearteten Anfragen oder Gesetzesinitiativen, diese Fragen zu klären. Das Parlament zeigte weder Interesse, das Verhältnis von Art. 19 StGG zum neuen Bundesverfassungsrecht, etwa in Form einer authentischen Interpretation, zu klären, noch sich über eine etwaige gesetzliche Durchführung der Minderheitenschutzbestimmungen des Staatsvertrages von St. Germain besondere Gedanken zu machen. Man kann ohne weiteres sagen, daß das Schmuckstück fortschrittlichen Nationalitätenrechts der Monarchie, das meiner Meinung dem Sinne nach auch in der Republik anwendbar war, parlamentarisch verkümmerte. Wiederum waren es Regierung und Verwaltung und die Landesgesetzgeber, die hier nach dem Rechten zu sehen gehabt hätten. Allerdings hatten die Verpflichtungen, die Österreich für den Schutz der Minderheiten kraft des genannten Staatsvertrages auch dem Völkerbund gegenüber übernommen hatten, insoferne einen formalrechtlichen Niederschlag gefunden, als die Republik Österreich dem Generalsekretär des Völkerbundes aufgrund eines Beschlusses des Völkerbundrates einen Bericht über den Schutz der nationalen Minderheiten am 9. April 1929 übermittelte. 35 Dieser Bericht wurde von Abg. Dr. Karl Renner und Gen. in einer parlamentarischen Anfrage aufgegriffen,36 aber weniger als ein minderheitenschutzrechtliches Problem, denn als parlamentarisches Problem behandelt. Dr. Karl Renner und Gen. bedauerten nämlich, daß das österreichische Minderheitenmemorandum ohne Absprache mit dem Hauptausschuß des Nationalrates und / oder ohne Fühlungnahme mit den Vertretern aller Parteien des Nationalrates dem Generalsekretär des Völkerbundes zugemittelt worden ist. Dr. Karl Renner und Gen. stellten die Frage: "Sind Sie bereit, bei allen wichtigen außenpolitischen Entscheidungen, den allgemeinen demokratischen Gepflogenheiten gemäß, in ständiger Fühlung mit der gesamten Volksvertretung vorzugehen?" In dieser Anfrage wird allerdings auch auf die besondere Bedeutung des Schutzes nationaler Minderheiten aufmerksam gemacht.

Es heißt in der Anfrage unter anderem: "Die Frage des völkerrechtlichen Schutzes der nationalen Minderheiten hat für die auswärtige Politik der Republik eine so besondere große Bedeutung, daß es doppelt bedauert werden muß, daß die Regierung von dem demokratischen Grundsatz, in 35 Das ist laut der Rennerschen Anfrage aus den Zeitungen hervorgegangen. Der Text dieses Memorandums ist dann in Nation und Staat, II. Jg. 1929, S. 735 ff. abgedruckt. 36 Siehe Anfrage 133 / j, III. GP.

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wichtigen außenpolitischen Angelegenheiten in Fühlung mit der gesamten Volksvertretung vorzugehen, abgewichen ist. Ein Vorgehen nach Fühlungnahme mit den im Parlament vertretenen politischen Parteien "hätte die moralische Autorität der österreichischen Denkschrift, die in Genf überreicht worden ist, sicherlich gestärkt." Die Antwort Bundeskanzler Ernst Streeruwitz' v. 8. Juni 1929 37 befaßt sich dann kaum mit der minderheitenpolitischen Frage, sondern mit der verfassungsrechtlichen Frage nach dem Ausmaß der parlamentarischen Verantwortlichkeit einer gemäß Art. 71 BVG mit der "Fortführung der Verwaltung betrauten Bundesregierung". Ernst Streeruwitz minimiert die Bedeutung der Denkschrift, versichert aber, "daß die Bundesregierung bestrebt sein wird, vor der Fassung grundlegender außenpolitischer Entscheidungen das Einvernehmen mit der gesamten Volksvertretung herzustellen". Das ist alles, was man an parlamentarischen Aktivitäten der ersten Republik zu allgemeinen Fragen österreichischen Minderheitenschutzes in den parlamentarischen Materialien zu finden vermag. b) Die Kärntner Minderheiten/rage ist am österreichischen Parlament der Zwischenkriegszeit praktisch sang- und klanglos vorbeigegangen. 38 Es finden sich einzelne Anfragen, die auf die Schutzmachtfunktion Österreichs eher hinweisen als auf die Verpflichtungen für den Minderheitenschutz, wie er sich damals aus dem Staatsvertrag von St. Germain ergab. So eine Anfrage des Abg. Dr. [ring Grailer und Gen. betreffend die Unterdrückung und Verfolgung der deutschen Minderheiten im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen v. 25. Jänner 1924, eine Anfrage der Abg. Dr. Ernst Hampel u. Gen. betreffend den Schutz der Rechte der Deutschen im Königreich SHS v. 16. März 1922. 39 c) Auch die sich aus dem Gebietszuwachs Österreichs ergebende Minderheitenproblematik für Ungarn und Kroaten im seinerzeitigen Westungarn, dem heutigen Burgenland, hatte keine grundlegenden Debatten und Untersuchungen von parlamentarischer Seite ausgelöst, obschon die völker- und staatsrechtliche Problematik der burgenländischen Landnahme durchaus dazu angetan gewesen wäre. 40 Als aufgrund der Venediger Protokolle Westungarn als Burgenland ein Teil der Republik Österreich wurde und damit Österreich auch eine ungariSiehe 79/ AB zu 133/ J v. 8. Juni 1929, III. GP. Theodor Veiter gibt vor der wissenschaftlichen Kommission des Theodor Körner-Stiftungsfonds und des Leopold Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1918 bis 1938 unter dem Titel "Verfassungsrechtslage und Rechtswirklichkeit der Volksgruppen und Sprachminderheiten in Österreich 1918 -1938" eine umfassende und detallierte Übersicht über die Gesamtproblematik. 39 97, 295/ J. 40 36/1, 18. 37

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sehe und kroatische Volksgruppe zuwuchs, hätte man erwarten können, daß das Anlaß geboten hätte, die grundlegende Frage der Behandlung dieser Volksgruppen parlamentarisch zu diskutieren. Die österreichische Rechtsordnung ist im Burgenland durch das Burgenlandgesetz eingeführt worden. 41 Damit ist der gesamte österreichische Rechtskörper, soweit Sondergesetze nichts anderes bestimmen, für das Burgenland anwendbar geworden. Nur im Bereich des Schulwesens mußte der Bund unbedingt Vorkehrungen treffen, da das in Westungarn geltende Schulrecht nach Beseitigung des ungarischen Nationalitätengesetzes von 1868 praktisch nur eine ungarische Schulsprache gelten ließ. Österreich mußte den Unterricht in der Muttersprache sichern. Das galt sowohl für die deutschen als auch für die ungarischen und kroatischen Schüler. Es wurden sogenannte "utraquistische" Schulen eingerichtet, d. h. man griff auf einen Schulorganisationstyp der Monarchie zurück. Hier sorgte zunächst die burgenländische Landesregierung für die menschenrechtlichen Verhältnisse. Erst im Jahre 1936 hat die ständische Bundesversammlung ein Bundes-Grundsatzgesetz über das Unterrichtswesen an Volksschulen erlassen,42 das sowohl die Sprachenfrage klärte, als auch festlegte, wo "Minderheitenschulen" einzurichten wären. § 5 dieses Gesetzes bestimmte, daß die deutsche Sprache, unbeschadet der aus der Verfassung zugunsten der im Lande vorhandenen sprachlichen Minderheiten sich ergebenden Rechte, die Unterrichtssprache sei. Der Ausführungsgesetzgebung bleibt es überlassen, zugunsten dieser Minderheiten weitergehende Rechte festzusetzen. Alles weitere wurde der Landesgesetzgebung überlassen. 43 Ein Ausführungsgesetz wurde erst im Jahre 1937 erlassen. Es enthielt bedeutende Verschlechterungen für das Schulwesen der Minderheiten im Burgenland. Wer erwartet hätte, daß das burgenländische Minderheitenproblem anläßlich des Burgenlandgesetzes und anläßlich des Bundes-Grundsatzgesetzes über die Schulfrage parlamentarisch diskutiert worden wäre, sieht sich wiederum getäuscht. Der Nationalrat nahm beide Gesetze an, ohne sich dabei mit diesen Fragen besonders zu befassen. d) Eine weitere volksgruppenrechtliche Frage betraf das Tschechenproblem in Wien. 44 Im Jahre 1923 sind in Wien als Inländer 47.555 Tschechen 41 Auch hier ist Theodor Veiter (Anm. 38) hinsichtlich der Stellung der Kroaten wegweisend. Für die Ungarn siehe gleichfalls die Hinweise Veiters auf S. 124 seines hektographierten Manuskripts. BVG v. 25. 1. 1921 , BGB1. Nr. 85 über die Stellung des Burgenlandes als selbständiges und gleichberechtigtes Land und seine vorläufige Einrichtung. Siehe dazu den entsprechenden Ausschußbericht unter ·140 dB Steno Prot. NR, I. GP und die Annahme des Gesetzes in Steno Prot. NR, I. GP, 13. Sitzung, S. 375 ff. (384 f.). 42 BGBL Nr. 936/1936. 43 LGBL Nr. 40/1937. 44 Siehe wiederum die Übersicht bei Theodor Veiter, Anm. 38, S. 125 ff.

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gezählt worden. Für die Stellung der Tschechen in Wien kam es neben dem Staatsvertrag von St. Germain zu einem eigenen Minderheitenschutz, der als Brünner Vertrag in die Geschichte eingegangen ist. Der Vertrag stammt vom 7. Juni 1920. Er wurde noch von der konstituierenden Nationalversammlung parlamentarisch verhandelt, aber unter der bundesstaatlichen Herrschaft im BGBl. kundgemacht. 45 Der Vertrag sieht in seinen Artikeln 17 bis 20 ein sogenanntes reziprokes Nationalitätenrecht vor, d. h. dem Minderheitenschutz in Österreich gegenüber den Tschechen soll auch ein Minderheitenschutz gegenüber den Deutsch-Österreichern in der CSSR entsprechen. Der Vertrag beruft sich ausdrücklich auf das tschechische Gesetz vom 3. April 1919. 46 Der Vertrag bezog sich in der Hauptsache auf das Minderheitenschulrecht. Die parlamentarische Debatte 47 über die Genehmigung dieses Vertrages war nicht wegweisend. Obwohl der Vertrag von Lana im Ausschuß für Äußeres am 24. 1. 1922 und in der Sitzung des Abgeordnetenverbandes der Großdeutschen Volksparteien lebhafte Debatten auslöste, ist er in der 84. Sitzung der 11. Gesetzgebungsperiode, S. 2986 fast debattenlos über die Parlaments bühne gegangen. e) In ungleich engagierterer Weise befaßte sich der österreichische Nationalrat mit Südtirol. Vor allem die Tiroler Abgeordneten, von den Debatten im Tiroler Landtag animiert, trugen die Südtirolfrage in Anfragen und Anträgen an die Bundesregierung heran. Die Vertreter der Bundesregierung, die den Anfragen Rede und Antwort zu stehen hatten, taten sich sichtlich schwer, die legitimen Beschwerden mit formalen Argumenten abzuwehren. Die Interventionstätigkeit der österreichischen Parlamentarier für die Interessen Südtirols brach im Jahre 1929 plötzlich ab. Man kann dieses Faktum nur so deuten, daß der Ballhausplatz einen Wink gab, durch die parlamentarischen Interventionen die italienische Regierung nicht zu sehr zu verstimmen, da die Regierung Dr. Johannes Schober bemüht war, mit Mussolini - Südtirol hin oder her - ein Übereinkommen zu erzielen, das im österreichisch-italienischen Schieds- und Freundschaftsvertrag seinen Ausdruck fand (BGBl. Nr. 201/1930). Dieses Abkommen war wohl der Schlußstrich parlamentarischer Kritik an der Behandlung der Südtiroler BGBl. Nr. 163/ 1921. Siehe den Text des Gesetzes v. 29. Februar 1920 aufgrund des § 129 der Verfassungsurkunde, betreffend die Festsetzung der Grundsätze des Sprachenrechts der Tschechoslowakischen Republik, Leo Epstein, Anm. 28, S. 256 ff. 47 Siehe 124 (14 RV) dB. Steno Prot. NR, 1. GP und 350 ff. dB. Steno Prot. NR, 1. GP (12. Sitzung). Im Bundesrat wird über den Brünner Vertrag debattiert. Die Debatte findet in der 4. Sitzung des Bundesrates (Sten. Prot., S. 31, am 18. Jänner 1921) statt. Das Bundesratsmitglied Bierbaumer nimmt zum Vertrag kritisch Stellung: "Wir als Volk meine ich - hätten ein Interesse daran, die Zahl der Tschechen in unserem Staate möglichst herabzumindern" (S. 32). Auch Dr. Rintelen macht kritische Bemerkungen zum Brünner Vertrag. 45

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durch Italien. Dr. Karl Gottfried Hugelmann als Berichterstatter im Bundesrat machte dies deutlich. 48 Folgende Anfragen und entsprechende Antworten der befragten Regierungsmitglieder können hervorgehoben werden: Anfrage betreffend den Überfall einer Gruppe von Faschisten auf die deutsche Bevölkerung in Bozen am 24. April 1921 v. 28. April 1921. 49 -

Anfrage betreffend die Behandlung der Bewohnern des von den Italienern besetzen Gebietes zwischen Tarvis und Arnoldstein bzw. die Räumung dieses Gebietes v. 9. Jänner 1924. 50

-

Anfrage wegen Behandlung ehemaliger österreichischer Postangestellter in Südtirol v. 5. Mai 1924. 51

-

Anfrage wegen Verfolgung der Deutschen in Südtirol v. 3. Februar 1927. 52

-

Anfrage betreffend den Schutz der Österreicher in Italien v. 17. Jänner 1928. 53

-

Anfrage wegen der Nötigung eines österreichischen Bundesbürgers zum Dienst im italienischen Heer v. 22. Februar 1928. 54

-

Anfrage betreffend die Einreiseverweigerung für ehemalige Südtiroler Lehrer nach Italien v. 8. November 1928. 55

-

Anfrage betreffend die Nichtzustellung der "Innsbrucker Nachrichten" an die Adressen in Südtirol durch die königlich-italienischen Postorgane v. 10. November 1925. 56

48 Karl Gottfried Hugelmann war Berichterstatter über das österreichisch-italienische Freundschaftsabkommen im Bundesrat (149. Sitzung des Bundesrates, Steno Prot., S. 1609). Mit keinem Wort erwähnt er, daß es gerade dieser Vertrag gewesen ist, der die kritische Behandlung der Südtirolfrage im österreichischen Parlament abgebrochen hat. Hugelmann meinte, daß der Abschluß ders Vertrages ganz zweifellos jener Einstellung der österreichischen Politik entspricht, welche den ehrlichen Versuch macht, gerade durch die Freundschaft mit jenen Staaten, mit denen kraft seiner geographischen Lage und seiner Geschichte weitergehende Berührungen der beiderseitigen Interessen bestehen, eine Zukunft des Friedens und der Gerechtigkeit ... vorzubereiten ... " Über den Vertragsabschluß wurde im Bundesrat nicht debattiert. 49 Nr. 23/ J. 50 77 / J. 51 Anfrage der Abg. Scheibein, Sever u. Gen. 401/ J. 52 Anfrage der Abg. Haueis, Dr. Kneussl, Dr. Kalb, Dr. Schuschnigg, Steiner, Straf!ner, 56/ J, III. GP. 53 Anfrage der Abg. Dr. Deutsch, Dr. Ellenbogen U. Gen. 64 / J / III. 54 Anfrage der Abg. Klimann, Dr. Straf!ner, Dr. Grailer u. Gen., 113/ J. 55 Abg. Clessin U. Gen., 263 I. 56 Abg. Straffner, 116/ J.

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Das auslösende Moment für eine großangelegte Südtiroldebatte im Nationalrat im Jahre 1926 war eine Erklärung des Bundeskanzlers Dr. Rudalf Ramek im Hauptausschuß des Nationalrates zur Südtirolfrage. Der Bundeskanzler habe in seiner Stellungnahme vor dem Hauptausschuß nicht den Namen "Südtirol" verwendet, sondern - dem damaligen italienischen Sprachgebrauch entsprechend - von "Oberetsch" gesprochen. Dieses Faktum führte im Tiroler Landtag zu einem Dringlichkeitsantrag, der am 9. März 1926 behandelt worden ist. 57 Der Dringlichkeitsantrag lautete: "Der Tiroler Landtag dankt den Bundesratsmitgliedern aus Tirol für die mannhafte Vertretung des tirolischen Standpunktes in der Angelegenheit Südtirol (Anm. d. Verf.: In den Protokollen des Bundesrates aus 1925 und 1926 finden sich keine ausdrücklichen Hinweise auf bezügliche Aktivitäten der Tiroler Bundesräte). Der Landtag spricht sein tiefstes Bedauern aus, daß vom Bundeskanzler in seiner Rede vor dem Hauptausschuß des Nationalrates nicht nur der Name Südtirol vermieden, sondern geflissentlich der Ausdruck Oberetsch gebraucht worden ist. Der Landtag steht auch weiterhin auf dem Standpunkte, daß die Angelegenheit Südtirol vor den Völkerbund gehört. Innsbruck, am 8. März 1926. Dr. Haidegger, Dr. Straffner, Dr. Gamper, Dr. Peer, Zösmayr." Dieser Dringlichkeitsantrag wurde einstimmig angenommen. Ein weiterer Dringlichkeitsantrag ist im Tiroler Landtag am 10. November 1926 behandelt worden. 58 Er bezieht sich auf die Behandlung der Deutschen Südtirols durch die Italiener und lautet: "Die Landesregierung wird aufgefordert, sofort bei der Bundesregierung vorstellig zu werden, damit sie bei der kgl. italienischen Regierung Schritte unternehme, um das schwere Los der Deutsch-Südtiroler zu erleichtern, und daß sie nichts unversucht lasse, die Mitglieder des Völkerbundes auf die in Südtirol herrschenden Zustände aufmerksam zu machen, die geeignet sind, das gute Einvernehmen zwischen den Nationen, von dem der Friede abhängt, zu stören - Innsbruck, am 10. November 1926, Abg. Dr. Straffner, Dr. Steidle u. Gen." Am 17. Jänner 1928 brachten, offenbar in Verfolg der Initiativen des Tiroler Landtages die Tiroler Abg. Alais Haueis, Dr. Erich Kneussl, Dr. Franz Kalb, Franz Steiner, Dr. Sepp Straffner an den Bundeskanzler eine schriftliche Anfrage ein, die in der Frage gipfelte: "Was gedenkt der Herr Bundeskanzler zu unternehmen, um die Rechte der Österreicher in Italien wirksam zu schützen, andererseits, um die Einhaltung der bei und nach Abschluß der Friedensverträge seitens Italien gegebenen Zusicherungen zu gewährleisten?" Diese Anfrage wurde von Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel 57 Siehe Stenographische Berichte des Tiroler Landtags, Ir. Periode, 2. Tagung, 25. Sitzung. Schober. 58 Siehe Stenographische Berichte des Tiroler Landtags, Ir. Periode, 4. Tagung, 2. Sitzung.

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beantwortet. Nachdem er sich mit individuellen Fällen - nämlich Karl Ladstätter, Johann Stricker, Ingmar Verhouz, Rudolf Riedl u. a. -, der Heranziehung von Österreichern zum Militärdienst in Italien, der Enteignung von Immobiliarbesitz, der Beschlagnahme von Zeitungen befaßt hatte, geht der Bundeskanzler auf die eigentliche Minderheitenschutzfrage ein, die besondere Aspekte des Standes des Minderheitenschutzes in der Zwischenkriegszeit aufwirft, und die ganze Machtlosigkeit eines Staates, der keine Schutzmachtfunktion nach geltendem Völkerrecht für sich in Anspruch nehmen konnte und der für eine vom Territorialstaat international und national nicht anerkannte Minderheit geltend gemacht wurde, deutlich macht. Der Bundeskanzler antwortete vor allem auf die Frage, was er zu unternehmen gedenke, um die Recht der Österreicher in Italien (gemeint sind die Südtiroler) wirksam zu schützen, wie folgt: 59 ,,1. Der Umstand, daß in der Mantelnote zum Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye ausdrücklich auf die Erklärungen des damaligen kgl. Minsterpräsidenten in der italienischen Kammer über die gegenüber den neuen italienischen Staatsbürgern deutscher Nationalität in Aussicht genommene liberale Politik hingewiesen wird, berechtigt die Bundesregierung gewiß, auf die Nichteinhaltung der in diesen Erklärungen liegenden Zusagen zu verweisen.

Denn dieser ausdrückliche Hinweis auf diese "declarations tres nettes" des kgl. italienischen Ministerpräsidenten ist von den alliierten und associierten Hauptrnächten im Zusammenhang mit der Weigerung, eine Änderung der Grenzen im Sinne der österreichischen Vorstellungen vorzunehmen, unzweifelhaft aus dem Grund erfolgt, um die damalige österreichische Friedensdelegation, die bekanntlich die Abtrennung der deutschen Gebiete von Tirol unter Anführung aller gegen eine solche Maßnahme sprechenden gewichtigen Argumente bekämpft hatte, über das Schicksal der von ihrem Mutterland getrennten Deutschen zu beruhigen. Dagegen kann nicht übersehen werden, daß, solange ein allgemeiner Völkerrechtsgrundsatz über die Rechte der nationalen Minderheiten nicht anerkannt ist, Italien in der Lage ist, sich auch dem Völkerbund gegenüber darauf zu berufen, daß es sich in unserem Falle um eine Klage über die Behandlung italienischer Staatsangehöriger durch ihre eigene Regierung handelt, also um eine Frage, die nach internationalem Recht in die ausschließliche Zuständigkeit Italiens fällt. Dasselbe gilt hinsichtlich des einschlägigen Passus der italienischen Thronrede und der beiden anderen in der Anfrage erwähnten Erklärungen italienischer Staatsmänner, denn auch diese stellen nur Versprechungen dar, über deren Einhaltung oder Nichteinhaltung die italienische Regierung wieder bloß ihren eigenen Staatsbürgern Rechenschaft schuldet. 59

Siehe 22/ AB zu 56/ J / III. GP.

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2. Der zweite theoretisch mögliche Weg wäre, die Völkerbundversammlung unter Berufung auf Art. 19 der Satzung mit der Südtiroler Frage zu befassen, wobei davon ausgegangen werden müßte, daß die dem Selbstbestimmungsrechte der Völker widersprechende, lediglich aus den Italien von den alliierten und associierten Hauptmächten vor Eintritt in den Krieg abgegebenen Versprechungen zu erklärende Zuteilung deutscher Gebiete Tirols an Italien infolge der Behandlung der dortigen Deutschen durch die italienische Regierung zu einem solchen internationalen Verhältnisse geworden sei, dessen Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könne. Dieser Weg ist derzeit wohl als ungangbar zu bezeichnen. Wir wissen nämlich, daß von Italien - wie ich bereits im Budgetausschuß bei Beantwortung einer verwandten Anfrage des Abg. Dr. Wilhelm Ellenbogen erwähnt habe - das Herantragen dieser Frage an den Völkerbund als ein; feindseliger (nicht wie verschiedentlich nach meinen damaligen Erklärungen irrig zitiert wurde "unfreundlicher") Akt Österreichs betrachtet würde. Ein solcher Schritt würde nicht nur eine gewaltige Verschlechterung unserer Beziehungen zu Italien zur Folge haben, sondern es ist auch die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, daß er eine noch weitergehende Verschlechterung des Loses jener, in deren Interesse er unternommen werden sollte, mit sich bringen könnte. 3. Es erübrigt noch, auf die Möglichkeit einer Änderung der geschilderten unbefriedigenden Rechtslage selbst einzugehen. Auch eine solche Möglich-

keit besteht theoretisch zurecht. Die Bundesregierung könnte der Völkerbundversammlung den Antrag stellen, die Bundesstaaten durch Beschluß aufzufordern, die in den Minderheitsschutzverträgen enthaltenen Verpflichtungen vertragsmäßig auf sich zu nehmen. Ein analoger Antrag einer nordischen Regierung ist aber vor zwei Jahren ergebnislos geblieben. Auch wäre ein bloßer Beschluß der Versammlung dieser Art, auch wenn er zustande käme, für Italien nicht bindend. Dazu bedürfte es eines internationalen Aktes, z. B. eines Protokolles, das von Italien mitunterzeichnet und ratifiziert werden müßte. Eine Empfehlung der Versammlung, die Mitglieder mögen die Bestimmungen der Minderheitsverträge ohne vertragliche Bindung befolgen, ist im Jahre 1922 ohnedies beschlossen worden. Ein praktisches Ergebnis ist dieser Empfehlung nicht beschieden gewesen. Unter den geschilderten Umständen halte ich es nicht für angezeigt, in der in Rede stehenden Frage eine diplomatische Aktion zu unternehmen. Die Bundesregierung muß sich darauf beschränken, der italienischen Regierung in aller Aufrichtigkeit zu sagen, daß die von unseren Vorstellungen über kulturelle Minderheitsrechte und deren Achtung weit entfernte Behandlung der Deutschen südlich des Brenners sich der Entwicklung weitergehender freundschaftlicher und vertrauensvoller Beziehungen zwischen

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Österreich und Italien, die sonst so wünschenswert wären, als großes Hindernis in den Weg stellt. Der Bundeskanzler: Dr. Ignaz Seipel m. p." Aufgrund dieses gesamten Fragenkomplexes fand im Zuge der Budgetdebatte am 28. Februar 1928 eine großangelegte Südtiroldebatte statt, die gegen die Zurückhaltung der ö_sterreichischen Regierung gerichtet war, dem faschistischen Italien vor dem Völkerbund in Sachen Südtirol die Stirn zu bieten. Dieser Debatte ging im deutschen Reichstag eine parlamentarische Diskussion voraus, wo der damalige deutsche Reichskanzler Gustav Stresemann durchaus für die Interessen Südtirols eintrat. Und Benito Mussolini kehrte ganz den allmächtigen souveränen Staat, ja die Siegermacht heraus, als er Stresemann und später dem österreichischen Bundeskanzler antwortete. 60 Das Hochetsch sei italienisches Territorium, die Behandlung der Bürger des Hochetsch eine inner-italienische Angelegenheit. Und der Bundeskanzler mußte zugestehen, daß Italien nach geltendem Völkerrecht keine wie immer geartete Verpflichtung habe, für die deutschen Südtiroler besondere Minderheitenschutzregelungen einzuführen und etwa von einer Italienisierung Abstand zu nehmen. Die Abgeordneten zum österreichischen Nationalrat, die in der Frage das Wort ergriffen, vertraten unter dem Beifall des engagierten Hauses eine gerechte Sache; das kann man der Wortwahl und den Problemstellungen entnehmen. 61 Die Ausführungen der Tiroler Parlamentsabgeordneten sind von den Südtiroltreuen Verbänden für so gewichtig gehalten worden, daß sie auch in englischer Übersetzung der Öffentlichkeit übergeben worden sind. 62 Aber es war das letzte Mal, daß sich der österreichische Nationalrat vor seinem Zusammenbruch im Jahre 1933 mit einer Minderheitenfrage befaßt hatte. Aktuellere, die Nation als ganzes berührende Probleme standen an der Tagesordnung. Es mußte mehr als ein Jahrzehnt vergehen, daß der österreichische Nationalrat in einem von nationalsozialistischer Besetzung freien Österreich wiederum vor jene Probleme gestellt wurde, die ihre Wurzel im Nationalitätenrecht der Monarchie, im Staatsvertrag von St. Germain hatten.

60 Siehe aber auch die Berichte vom Besuch des Bundeskanzlers Schober bei Mussolini im Jahre 1929, in: Nation und Staat, III /1929/30, S. 344 ff., 366 ff., 463 ff. 61 Siehe Steno Prot. NR, III. GP, S. 942 ff. 62 The Austrian League of Nations Union (Hrsg.), South Tyrol Today, 1928.

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V. Die Volksgruppen- und Minderheitenfragen vor dem Parlament der zweiten Republik 1. Übersicht

Die Bedeutung der Behandlung der Minderheitenfragen im Nationalrat, aber auch im Bundesrat der zweiten Republik war schärfer als im Parlament der ersten Republik vom Funktionswandel des Parlaments in der pluralistischen Demokratie gekennzeichnet: nichts gegen die Regierung, alles, was über das Kontrollierende hinausgeht, mit der Regierung; im Parlament im Endergebnis nur Formalgestaltung, allenfalls Anstöße und Anregungen sowie Facetten im Detail, das Bemühen, in der Öffentlichkeit Entscheidungsprozesse sichtbarer zu machen, das Interesse der Öffentlichkeit zu erwecken. Die wahren politischen Entscheidungen fallen samt und sonders außerhalb des Parlaments: in den Regierungen, in Parteikanzleien, in Koalitionsausschüssen und - zumindest, was die Südtirol- und Kärntenfrage aber auch die Kroatenfrage im Burgenland angeht - auch in landespolitischen Gremien. Im Fall Südtirol sogar verwoben mit Parteiinstanzen, die außerhalb Österreichs ihren Sitz haben. Wenn Entscheidungen in Minderheitenproblemen im Parlament gefallen sind, und das waren deren nicht wenige, so standen diese immer am Ende eines verschiedene Entscheidungsstellen durchlaufenden Entscheidungsprozesses. Die Stelle der parlamentarischen Entscheidungen in Minderheitenfragen sind die zuständigen Ausschüsse und das Plenum, die Anlässe sind Regierungsvorlagen, Regierungsberichte, Initiativanträge und die Debatten über den Haushalt. Die Linie der Behandlung von Volksgruppen- und Minderheitenfragen ist in keiner Phase der Politik - gleichviel, ob auswärtige oder innere Politik Österreichs - vom Parlament bestimmt worden. Die Linie ist außerhalb des Parlaments geführt worden. Das Parlament des modernen Österreich ist auch nicht mit jenem Informationsmaterial faktischer und wissenschaftlicher Natur ausgestattet, um tatsächlich eine abgesicherte politische Linie in die Behandlung von Volksgruppen- und Minderheitenfragen tragen zu können. Dazu kommt, daß es letztlich die Mehrheit des Hauses ist, die entscheidet, auch wenn gerade in der Volksgruppen- und Minderheitenpolitik - bis auf zweimal - der Versuch gemacht wird, im Einvernehmen mit allen im Parlament vertretenen politischen Parteien vorzugehen. Schließlich muß noch ein Charakteristikum hervorgehoben werden, das mit dem Funktionswandel des Parlaments in der modernen Industriegesellschaft zusammenhängt: keine Entscheidung kommt letztlich unvorhergesehen. Die auch im Volksgruppenund Minderheitenrecht zu behandelnden Probleme sind so vielgliedrig und feingliedrig geworden, daß die Arbeit des Parlaments, etwa bei Durchführung des Staatsvertrags oder bei der Gestaltung der Südtirolfrage so

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fachmännischer Vorbereitung bedarf, die auf außerhalb des Parlaments zurückgehende Grundsatzentscheidungen beruht, daß dem Parlament selbst in der Regel nicht mehr viel zu tun übrig bleibt, außer in der Feingliedrigkeit und Vielgliedrigkeit einer Problemlösung Akzente zu setzen. Das Parlament der zweiten Republik hat sich mit zwei MinderheitenProblemgruppen zu befassen, die ihm durch die äußere Position Österreichs als Teil seiner Regierungspolitik aufgegeben sind. Die parlamentarische Tätigkeit ist dabei so eng mit der Regierungspolitik verflochten, daß eine Trennung zwischen beiden, wenn überhaupt, nUr in Nuancen möglich ist. Das Parlament handelte in allen Belangen dieser Art nicht aufgrund eigener Initiative, sondern aufgrund von Anstößen, die von Regierungsstellen und Parteien kommen. Die zwei Problemgruppen, die sich in Minderheitenfragen konzentrieren, sind das Problem Südtirol und die sich aus der österreichischen Minderheitenproblematik ergebenden Fragen. Sie stehen in keinem kausalen Zusammenhang. Sie wurden und werden im österreichischen Parlament durchaus getrennt und nebeneinander behandelt und auch von jeweils anderen Persönlichkeiten getragen. Überblickt man die Südtirolfrage, so sind es die jeweiligen Fraktionsspitzen und dann die dem Problem landsmannschaftlich zugeordneten Abgeordneten, die Wortführer sind. Dasselbe kann auch für die anderen Minderheitenprobleme gelten, die sich aus der Durchfüh'rung des Staatsvertrages von 1955 ergaben und ergeben. Aus Gründen, die mit dem Innen und Außen des Staates zusammenhängen, möchte ich mich zunächst mit den aus dem Staatsvertrag herrührenden Fragen der Minderheitenpolitik befassen, die die "österreichischen Minderheiten" betreffen, und dann erst die zwar historisch unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg zunächst anstehende Südtirolfrage beleuchten, soweit sie in der parlamentarischen Arbeit ihren Niederschlag gefunden hat. Vielleicht muß hervorgehoben werden, daß sich der Nationalrat mit der Minderheitenfrage nie in abstracto befaßt hat, von Sonderwünschen von Abgeordneten abgesehen; er hat die Minderheitenfrage immer in dem einen oder anderen konkreten Zusammenhang gesehen.

37 Parlamentarismus

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Felix Ermacora 2. Staatsvertrag und Minderheitenschutz für Kroaten und Slowenen

Die Sürgen um die jugüslawischen Gebietsansprüche auf Teile Kärntens,63 die vün Persünen slüwenischer Ethnie gemeinsam mit Deutschen besiedelt sind, waren geradezu ident mit dem Prüblemkreis des Abschlusses eines österreichischen Staatsvertrages. Die diesbezüglichen Debatten im Natiünalrat zügen sich Jahr für Jahr hin und sind in dem Werk vün Gerald Stourzh näher aufgezeichnet. 64 Der in den Entwürfen des Staatsvertrages niedergelegte besündere Minderheitenschutzartikel - derzeit Art. 7 - ist in allen Entwürfen des österreichischen Staatsvertrags als Küüperatiünsprüdukt der UdSSR und Jugüslawiens in dieser .oder jener Fürm zu finden gewesen und löste dann schließlich bei der entsprechenden Ratifizierungsdebatte im Parlament keine besündere Kümmentierung aus. Die Erfüllung der durch Art. 7 StV 1955 auferlegten Verpflichtungen für die slüwenische und krüatische Minderheit in Kärnten ist im Lichte der Erläuternden Bemerkungen zur entsprechenden Regierungsvürlage nie in Zweifel gezügen worden. 65 Erst im Zuge der Beratungen über die Frage, wie Art. 7 StV 1955 durchzuführen sei, ist auch das Parlament mit den entsprechenden Fragen beschäftigt würden. Zunächst war es aber die Regierung, die zeitweise in Zusammenarbeit mit den Kärntner Verwaltungs stellen in erster Linie (nicht mit den burgenländischen Verwaltungs stellen) die Art und Weise der Durchführung des Art. 7 StV 1955 beraten hatte. Das für die Durchführung des Staatsvertrages hinsichtlich seines Art. 7 weichenstellende Dükument war ein Vortrag an den Ministerrat vüm 18. Oktüber 1955, GZI 99.161- 2 a / 55. Dieser Vürtrag an den Ministerrat schlüsselt den Bestand des Minderheitenschutzes in Österreich nach der Rechtslage im Verhältnis zu den Bestimmungen des Art. 7 StV auf. Zunächst wird festgestellt: Im Hinblick darauf, daß das österreichische Recht seinem wesentlichen Gehalt nach den Bestimmungen der §§ 1 und 4 entspricht, und im Hinblick darauf, daß § 5 des Art. 7 des Staatsvertrages unmittelbar anwendbares Recht enthält, bedarf es keiner weiteren inner63 Siehe das Memorandum of the Federative Peoples Republic of Yugoslavia on Slovenian Carinthia, the Slovene frontiers of Styria and the Croats of Burgenland, Belgrad 1947. Zu diesem Problem stellte die Abg. Thurner u. Gen. eine schriftliche Anfrage betreffend angebliche Gebietsabtretung von Kärnten (307 / J) 58 (11. Juli 1951) 2041, sie wurde von Außenminister Gruber am 9. August 1951 (275/ AB) 63 (21. September 1951) 2246 beantwortet. 64 Siehe Gerald Stourzh, Kleine Geschichte des Staatsvertrags, Graz 1975 3 , S. 56 ff. 65 Siehe Felix Ermacora, Österreichischer Staatsvertrag und Neutralität, Frankfurt 1957, S. 51 f., 61.

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staatlichen Rechtssetzungsakte zur Durchführung dieser Bestimmung. Für

die schulischen Bestimmungen des Staatsvertrages - so heißt es in diesem Ministerratsvortrag - werden vom Bundesministerium für Unterricht Maßnahmen vorgeschlagen; aber auch zur Durchführung der Vorschreibungen über die Amtssprache und die topographischen Aufschriften. Der Ministerratsvortrag vertrat die Auffassung, daß der Umfang des in Betracht kommenden territorialen Bereiches aber einwandfrei erst nach Feststellung, in welchen Gebieten von Burgenland, Kärnten und Steiermark Minderheitenangehörige leben, ermittelt werden könne. Bei dieser Feststellung werde das Bekenntnisprinzip maßgebend sein. Der Ministerratsvortrag erörterte auch die Frage, inwieweit die Durchführungsmaßnahmen mit gesetzgeberischen oder mit Verwaltungsmaßnahmen zu treffen sein würden. Das hinge auch von den Beratungen mit den beteiligten Landesregierungen ab. Beachtenswert ist so dann der Satz, der sich auf die ungarische Minderheit im Burgenland bezieht. Es heißt dort nämlich: "Die Bestimmungen des Art. 7 des Staatsvertrages beziehen sich nicht auf die ungarische Minderheit im Burgenland. Diese wird in ihren Ansprüchen nach wie vor mit Maßnahmen in Durchführung des Art. 66 des Staatsvertrages von St. Germain zu befrieden sein." Sodann stellte der Bundeskanzler Dipl. Ing. Julius Raab im Einvernehmen mit den Bundesministerien für Inneres, für Justiz und für Unterricht folgenden Antrag: "die Bundesregierung möge a) den vorstehenden Bericht über die mit der Durchführung des Art. 7 des Staatsvertrages zusammenhängenden Fragen zur Kenntnis nehmen und b) die zuständigen Zentralstellen des Bundes ermächtigen, unter Zugrundelegung des vorstehenden Berichtes die Beratungen mit Vertretern der in Betracht kommenden Länder ehestens aufzunehmen und über deren Verlauf mir sodann neuerlich zu berichten." Damit war das Parlament auf die Warteliste gesetzt, es ergriff keine Initiative, sondern ließ den Dingen ihren Lauf, d. h. einen Lauf, den die Koalitionsregierung der damaligen Zeit bestimmte. Es wurde ein eigenes Ministerkomitee gebildet, dieses beriet. Vor allem die Schul/ragen standen zur Diskussion, die mit den Vertretern der Kärntner Landesregierung unter Vorsitz des Außenministers Leopold Figl am 16. Oktober 1956 beraten wurden. In der Schulfrage schwelte die sogenannte Zweisprachigkeitsverordnung, welche die provisorische Kärntner Landesregierung nach 1945 auf Weisung der Besatzungsmacht erlassen mußte. Im Jahre 1957 faßte der Ministe:r;rat Beschluß über einen Antrag des Bundesministers für Justiz über den Entwurf eines Gerichtssprachengesetzes in Durchführung des Art. 7 StV und über den Entwurf eines Minderheitenschulgesetzes für Kärnten (10. September 1957). Dr. Heinrich Drimmel, der damalige VP37*

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Felix Ermacora

Unterrichtsminister, erklärte laut Neuer Tageszeitung, 66 Österreich knüpfe an die loyale Minderheitenpolitik der ersten Republik an, erstrebe die völkisch eigenständige Erhaltung der Slowenen in Österreich. In der 37. Sitzung des Nationalrat~s. der VIII. GP (29. Oktober 1957) wurden das Minderheitenschulgesetz für Kärnten dem Unterrichtsausschuß zugewiesen. Die parlamentarischen Ausschüsse ließen sich Zeit, sie verwendeten je drei Sitzungen, bis die Texte plenumsreif wurden. Und zwar bis zum März 1959. In dieser Zeit hat sich im Politischen einiges bewegt. Ein umstrittener Wedenig-Erlaß, 67 eine Kehrtwendung im Wedenig-Erlaß, und Proteste für und gegen das Elternrecht. Die Ausschüsse haben beraten und am 12. März ihre Arbeit abgeschlossen. Der eine Ausschuß hat das Minderheitenschulgesetz für Kärnten, der andere das Gerichtssprachengesetz beschlossen, nachdem jeweils Unterausschüsse eingesetzt worden waren. Sie haben seit 1957 (12. November) nur getagt. Das Ergebnis war ein neuer Entwurf. Er fand keine Übereinstimmung. Die Koalitionspolitik verlagerte die Arbeit aus dem Parlament in die Ministerien und Regierungsstellen. Der Justizausschuß empfiehlt dem Plenum eine Entschließung, die in gewissem Sinne auf der Linie des oben bezeichneten Ministerratsvortrags liegt. 68 Die Entschließung fordert eine allgemeine Minderheitenfeststellung und das entsprechende Bundesgesetz und ein Verwaltungssprachengesetz. 69 Das Plenum

66 Siehe "Neue Tageszeitung" (VP-Wirtschaftsbund) v. 27. September 1957. Vgl. auch die folgenden parlamentarischen Anfragebeantwortungen des Unterrichtsministers: - Dr. Zechmann betreffend die Schaffung eines Bundesgesetzes, womit die Schulordnung der provisorischen Kärntner Landesregierung v. 3. Oktober 1945 aufgehoben wird (304 / J) 62 (9. Juli 1958) 2794, beantwortet durch Bundesminister Drimmel am 11. August 1958 (276/ AB), 64 (22. Oktober 1958) 2962 und 2964); - Dr. Pfeifer betreffend die Abmeldung vom slowenischen Zwangsunterricht (349 / J) 77 (17. Dezember 1958) 3833; beantwortet vom Unterrichtsminister Dr. Drimmel am 23. Jänner 1959 (313/ AB) 79 (4. Februar 1959) 3910: - Dr. Pfeifer stellt noch einmal eine Anfrage zum selben Gegenstand (366/ J) 79 (4. Februar 1959) 3910, beantwortet vom Unterrichtsminister Dr. Drimmel am 6. April1959 (345/ AB); - Dr. Zechmann u. Gen. betreffend das slowenische Realgymnasium in Klagenfurt (172 / J) 35 (17. Juli 1957) 1380, beantwortet durch BM Dr. Drimmel am 19. September 1957 (146/ AB) 37 (29. Oktober 1957), 1472 und 1473. 67 Siehe "Volkszeitung" (ÖVP) v. 23. September 1958. 68 Siehe 664 dB. Steno Prot. NR, III. GP. 69 Die Entschließung hat folgenden Wortlaut:

Entschließung ,,1. Die Bundesregierung wird aufgefordert, eine Regierungsvorlage eines Bundesgesetzes über eine allgemeine Minderheitenfeststellung bis spätestens 30. Juni 1960 dem Nationalrat vorzulegen. 11. Gemäß Art.7 § 3 des österreichischen Staatsvertrages vom 15. Mai 1955, BGBl. Nr. 152, betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, ist unter anderem auch in den Verwaltungsbezirken Kärntens

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des Nationalrates behandelte die Gesetze in seiner 85. Sitzung am 19. März 1959, geradezu am Ende der VIII. GP.70 In der Debatte ergriffen Abg. Johann Koplenig, Dr. Walter Weissmann, Dr. Heinrich Zechmann, Dr. Max Neugebauer, Dr. Helfried Pfeifer und Rudolf Harwalik das Wort. Die Debatte war bewegt und grundsätzlich. Grundsätzlich vom Rechtlichen insoferne, als das Gerichtssprachengesetz auch juristisch mit der Minderheitenfeststellungsfrage verknüpft wurde, als der Berichterstatter meinte, daß Art. 19 StGG seit der Auflösung der österreichischen Monarchie hinfällig geworden sei,71 als politisch bedeutende Gegensätze zwischen den Koalitionsparteien erst richtig sichtbar wurden, und als die Freiheitliche Partei den Gesetzen die Zustimmung versagte. U. a. wurde auch betont, daß das Kärntner Minderheitenproblem eine innerösterreichische Angelegenheit sei, damit ist jugoslawischen Interventionen entgegengetreten worden. 72 Es wurde ferner betont, daß für die Minderheitenfeststellung das Bekenntnisprinzip maßgebend sein solle. Dem schlossen sich auch die freiheitlichen Redner an. Fälschlich ist behauptet worden, daß es Abg. Univ. Prof. Dr. Hellfried Pfeifer gewesen sei, der das Problem der Minderheitenfeststellung aufwarf. Nein, die Minderheitenfeststellung ist schon 1956 im Vortrag an den Ministerrat von Regierungsseite für maßgeblich angesehen worden. Immer wieder sind Querverbindungen zur Lage der Südtiroler hergestellt worden. Es sei nur am Rande erwähnt, daß die Beschlußfassung über das Minderheitenschulgesetz in der Öffentlichkeit

mit slowenischer oder gemischter Bevölkerung die slowenische Sprache zusätzlich zum Deutschen als Amtssprache zugelassen. Die Bundesregierung hat dem Nationalrat bisher zur innerstaatlichen Durchführung der Bestimmungen des Art. 7 des erwähnten Staatsvertrages den Entwurf eines Bundesgesetzes, womit für das Bundesland Kärnten Vorschriften zur Durchführung der Minderheiten-Schulbestimmungen des Staatsvertrages getroffen werden (Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten), sowie den Entwurf eines Bundesgesetzes zur Durchführung der die Amtssprache bei Gericht betreffende Bestimmungen des Art. 7 § 3 des Staatsvertrages vorgelegt. Die Bundesregierung wird aufgefordert, dem Nationalrat so bald als möglich auch eine Regierungsvorlage zuzuleiten, womit in Anlehnung an die Grundsätze des Entwurfes eines Bundesgesetzes zur Durchführung der die Amtssprache bei Gericht betreffenden Bestimmungen entsprechende Bestimmungen für die Verwaltungs be-

härden in den in Betracht kommenden politischen Bezirken Kärntens über die Verwendung der slowenischen Sprache als zusätzliche Amtssprache getroffen wer-

den." 70 Siehe die entsprechenden Steno Prot., S. 4116 ff. Das Gerichtssprachengesetz ist im Bundesrat in seiner 145. Sitzung am 3. April 1959, S. 3460 ff., beraten und beschlossen worden. Das Minderheitenschulgesetz für Kärnten ist im Bundesrat in seiner 145. Sitzung am 3. April 1959, Steno Prot., S. 34600 ff., beraten und beschlossen worden. 71 A. a. 0., Anm. 70, S. 4115. 72 Das wird vom Kärntner VP-Abg. Dr. Weissmann hervorgehoben, a. a. 0., S.4126.

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ein unterschiedliches Echo gefunden hat. Slowenische Organisationen sprachen sich gegen das Gesetz aus; man wolle, wenn überhaupt, eine Minderheitenfeststellung nach objektiven Kriterien, man wolle sich an Tito wenden. Im Bundesrat standen die bezüglichen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates in der 145. Sitzung am 3.4.1959 zur Debatte; Redner waren die Bundesräte Josef Salcher (ÖVP) und Josef Guttenbrunner (SPÖ). Ein Einspruch wurde nicht erhoben. Die Gesetze sind im 27. Stück des Jahrganges 1959 des BGBl. veröffentlicht worden. 73 Der Nationalrat hat vor allem im Schulbereich durch die Aufhebung einer Reihe von umstrittenen Erlässen klaren Tisch gemacht. 74 Nach der Beschlußfassung über die eben genannten Gesetze ist es aber zur Vorlage eines Minderheitenfeststellungsgesetzes nicht gekommen. Hingegen hat sich die Bundesregierung bemüht, ein Verwaltungsamtssprachengesetz zu erarbeiten. Es ist dem Nationalrat vorgelegt worden. 75 Der Verfassungsausschuß hat sich mit dieser Vorlage befaßt und die Beratung des Textes einem Unterausschuß überantwortet. Der Unterausschuß hat den Text nicht zu Ende beraten. Dem Nationalrat ist sozusagen die politische Luft ausgegangen. Die Regelung der offenen Fragen mußte bis zur Regierung Kreisky in der XIV. GP zuwarten. Einzelne Anfragen aus der Mitte des Nationalrates 76 bezogen sich auf das Schulgesetz, das Amtssprachengesetz und die Minderheitenfeststellung. Und die Burgenlandfrage? Sie schlief einen Dornröschenschlaf, aus dem sie die parlamentarische Anfrage der Abg. Friedrich Robak, Franz Müller und Franz Babanitz am 26. März 1969 weckte. Sie war an den Regierungschef der VP-Alleinregierung unter Bundeskanzler Dr. Josef Klaus gerichtet. Die Fragen lauteten: 77 ,,1. Was haben Sie bisher zur Lösung der Ihnen bekannten Minderheiten-

probleme im Burgenland unternommen?

Siehe BGBL Nr. 101 und 102/ 1959. Siehe dazu den § 35 des Minderheiten-Schulgesetzes für Kärnten. 75 Verwaltungssprachengesetz, 264 dB. Steno Prot. NR, IX. GP (MinderheitenVerwaltungsamtssprachengesetz für Kärnten). 76 DT. Scrinzi stellte eine Anfrage über das Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten (531/ J) 95 (6. März 1968), 7446, sie wird von Bundeskanzler DT. Klaus am 29. März 1968 (228/ AB) 99 (18. April 1968) 7875 beantwortet; DT. Scrinzi stellte eine Anfrage zum Amtssprachengesetz (1035/ M), sie wird von Bundeskanzler DT. Klaus in einer Fragestunde am 25. Oktober 1967 (67) 5476 beantwortet; DT. Scrinzi stellte eine Anfrage zum Minderheiten-Feststellungsgesetz (1843/ M), sie wird von Bundeskanzler DT. Klaus am 30. Oktober 1968, 114, 9021 f., beantwortet. DT. Scrinzi legte einen Antrag über ein Minderheiten-Ennittlungsgesetz (92/ A) vor, der aber nicht weiter behandelt wurde. 77 Anfrage 1189/ J II - 2568/ XI. GP. 73

74

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2.

Werden Sie analog der periodischen Aussprachen mit den beiden slowenischen Minderheitengruppen die beiden Gruppen der kroatischen Minderheit des Burgenlandes zu einer Aussprache einladen?

3.

Wenn ja, wann werden Sie diese Einladungen an die betreffenden Gruppen ergehen lassen?"

In seiner Fragebeantwortung gab der Bundeskanzler einen umfassenden und grundsätzlichen Bericht über die Fragen nationalen und internationalen Minderheitenschutzes. 78 Es wurde hervorgehoben, daß Minderheitenfragen außerhalb jedweder parteipolitischen Überlegungen zu stehen haben und nicht ohne die Mitwirkung der zunächst berührten Bevölkerungskreise gelöst werden können. Der Bundeskanzler berichtete ferner, daß er die burgenländische Landesregierung ersucht habe, zum Fragenkomplex Stellung zu nehmen. Diese Landesregierung habe sich zu einer umfassenden Stellungnahme nicht in der Lage gesehen, hat aber die schriftlichen Äußerungen des "Kroatischen Kulturvereins" und der "Konferenz der Bürgermeister und Vizebürgermeister kroatischer und gemischtsprachiger Gemeinden des Burgenlandes" vorgelegt. Daraus hätten sich innerhalb der Gruppe gegensätzliche Meinungen ergeben, das gelte vor allem für den Schulsektor. Die Bundesregierung ist aber der Meinung, daß ein allgemeines Bedürfnis nach einer dem Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten entsprechenden Regelung nicht bestehe. Sodann erklärte die Anfragebeantwortung folgendes: "Angesichts der vorhin geschilderten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der kroatischen Minderheit im Burgenland glaube ich nicht, daß es dem Gebot eines sachgerechten Interessenausgleiches oder dem Gedanken des gegenseitigen Verständnisses dienlich wäre, wollte der Staat - in erster Linie in Gestalt des Gesetzgebers - von sich aus den Versuch unternehmen, diese Gegensätze in Form eines entweder von der einen oder von der anderen Teilgruppe abgelehnten Schrittes zu beseitigen. Ich kann seine Aufgabe vielmehr in dem gegebenen Zusammenhang nur darin sehen, gemeinsam mit den betroffenen Kreisen nach Möglichkeiten zu suchen, durch die diese Gegensätze überbrückt werden können. Dem aber hätte meiner Ansicht nach die Bereitschaft der beiden Organisationen der kroatischen Minderheit im Burgenland voranzugehen, zunächst in zweiseitigen Gesprächen, die die Minderheit als Ganzes berührenden Probleme als gemeinsames Anliegen zu behandeln und nach Möglichkeit für ihre Bereinigung im Geiste der Toleranz zu suchen." Wie der Kenner der Materie und Szene weiß, hat diese Haltung bis heute keine Änderung erfahren. Der Anfragenbeantwortung im Fall der Minder78

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heiten im Burgenland ist parlamentarisch nicht weiter nachgegangen worden. Nachdem die weitere Durchführung des Art. 7 StV 1955, vor allem die Frage der Amtssprache vor Verwaltungsbehörden und die Frage der topographischen Aufschriften entgegen den Wünschen des Nationalrates aus dem Jahre 1959 zu keinem Resultat geführt hatten, ergriffen Abgeordnete der Regierungspartei (SPÖ) in der XIII. GP eine Initiative, die für die Nichteingeweihten überraschend kam. 79 Ich möchte die immer nur auf der Gerüchtebörse gehandelten Versionen über die Gründe für diese Initiative hier nicht weiter verfolgen. Die Abgeordneten Leopold Gratz (damals Klubobmann der SP), Robert Weiß, Hermann Wielandner, Dr. Karl Rein-

hart, Franz Horr, Otto Libal, Alfred Haberl, Franz Müller, Karl Horejs, Herbert Pansi, Roman Heinz und Gen. legten den Entwurf eines Bundesge-

setzes zur Erfüllung des Art. VII Abs. 3 zweiter Satz des österreichischen Staatsvertrages v. 15. Mai 1955 vor, der sich mit der Anbringung von zweisprachigen topographischen Bezeichnungen und Aufschriften in den Gebieten Kärntens mit slowenischer oder gemischter Bevölkerung befaßt. Der Entwurf bestand aus 2 Paragraphen und einer Anlage von 8 Seiten. Dem Entwurf waren sehr sachkundige Erläuterungen angeschlossen. Wenn diese Erläuterungen auch formell Meinungen der die Initiative ergreifenden Abgeordneten sind, so kann es dem Kenner nicht entgangen sein, daß sie von in Rechtsprechung, Wissenschaft und internationaler Praxis ungemein bewanderten Personen verfaßt sein mußten (ich nehme an, es war das BKAVerfassungsdienst, das hier seine Dienste zur Verfügung stellte). Dieser Entwurf ist dem Verfassungsausschuß zur Behandlung zugemittelt worden. Er hat ihm mit Regierungsmehrheit, ohne einen Unterausschuß einzusetzen, seine Zustimmung gegeben. Die Nationalratsdebatte, die sich über die Festlegung von ca. 200 Ortsaufschriften am 3. Juli 1972 abwickelte, war weniger von Überlegungen zum Minderheitenschutz als vom Stil demokratischer Entscheidungsprozesse geprägt. Eine fürwahr unerfreuliche Debatte. 80 Sie wiederholte sich im Bundesrat. 81 312. Sitzung vom 13. 7. 1972, Redner Dr. Leopold Göss (ÖVP), Alois Alberer (SPÖ). Trotz der Ankündigung des ÖVP-Redners, Einspruch erheben zu wollen, beschließt der Bundesrat mehrheitlich, keinen Einspruch zu erheben. Das Resultat dieses Gesetzes war nicht verheißungsvoll: die Ortstafeln wurden in Kärnten angebracht und in einer Woge antidemokratischer Gewalt demoliert; dagegen ging der Staat mit untauglichen Mitteln vor: diese Ortstafeln wurden nicht wieder angebracht. Diese Ereignisse führten puch zu scharfen jugosII-963 dB. Steno Prot. NR, XIII. GP. Siehe Steno Prot. NR, XIII. GP, S. 2998 ff. 81 Das Ortstafelgesetz wird vom Bundesrat in seiner 312. Sitzung am 13. Juli 1972, Steno Prot., S. 8851 ff., beraten und beschlossen. 79

80

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lawischen Noten und Protesten. Von parlamentarischer Seite wurde die Regierung gedrängt, eine Lösung des Problems vorzubereiten. 82 Im Budget82 Dr. Schleinzer bringt einen Antrag betreffend die Ortstafelkommission ein (91 / A) v. 11. Juli 1973, 79. Sitzung des Nationalrats, XIII. GP, S. 7553; Der Abg. Deutschmann stellt einen unselbständigen Entschließungsantrag betreffend Volkszählung in Kärnten am 11. Juli 1974 (112. Sitzung des Nationalrates, XlII. GP), S. 11107, der Antrag wird abgelehnt (S. 11114). Folgende schriftliche und mündliche Anfragen werden nach Beschlußfassung über das Ortstafelgesetz gestellt:

Schriftliche Anfragen - Suppan u. Gen. betr. unzureichende Beantwortung der mündlichen Anfrage 309 / M (slowenische Minderheiten) des Abgeordneten Suppan vom 26. April 1972 (430/ J) 28 (27.3.1972) 2243. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (357/ AB) 31 (30.5.1972) 2464. - Suppan u. Gen., betr. Stellungnahme des Zentralverbandes slowenischer Organisationen in Kärnten zur Anbringung zweisprachiger topographischer Bezeichnungen und Aufschriften in den Gebieten Kärntens mit slowenischer oder gemischter Bevölkerung (723/ J) 38 (9.7.1972) 3375. Beantwortet vom Bundesminister Rösch (672/ AB) 40 (12.9.1972) 3557. - Deutschmann u. Gen., betr. die Durchführung des am 7. Juli 1972 beschlossenen Bundesgesetzes, mit dem Bestimmungen über die Anbringung von zweisprachigen topographischen Bezeichnungen und Aufschriften in den Gebieten Kärntens mit slowenischer oder gemischter Bevölkerung erlassen werden (657 / J) 37 (8.7.1972) 2984. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (709/ AB) 40 (12.9.1972) 3558. - Suppan u. Gen., betr. Stellungnahme des Zentralverbandes slowenischer Organisationen in Kärnten zur Anbringung zweisprachiger topographischer Bezeichnungen und Aufschriften in den Gebieten Kärntens mit slowenischer oder gemischter Bevölkerung (721/ J) 38 (9.7.1972) 3375. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr Kreisky (711/ AB) 40 (12.9.1972) 3558. - Deutschmann u. Gen., betr. Durchführung des Ortstafelgesetzes (751/ J) 39 (25.7.1972) 3446. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (712/ AB) 40 (12.9.1972) 3558 u. (zu 712/ AB). - Suppan u. Gen., betr. Stellungnahme des Zentralverbandes slowenischer Organisationen in Kärnten zur Anbringung zweisprachiger topographischer Bezeichnungen und Aufschriften in den Gebieten Kärntens mit slowenischer oder gemischter Bevölkerung (722/ J) 38 (9.7.1972) 3375. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Broda (721/ AB) 40 (12.9.1972) 2559. - Dr. Ermacora u. Gen., betr. die Ausstattung von zweisprachigen Ortstafeln mit Staatssymbolen (943/ J) 40 (22.11.1972) 4064. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Broda (876/ AB) 62 (24.1.1973) 5730. - Deutschmann u. Gen., betr. Meldungen eines gemeinsamen Ausschusses in der Kärntner Minderheitenfrage (1360/ J) 76 (4.7.1973) 7001. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1269/ AB) 80 (23.10.1973) 7642. - Deutschmann u. Gen., betr. einen Bericht der Zeitung "Slovenski vestnik" über eine Ansprache des Vizepräsidenten der SFR Jugoslawien, Mit ja Ribicic (1632 / J) 103 (7.3.1974) 10106. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Kirchschläger (1595/ AB) 104 (8.4.1974) 10230.

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ausschuß kündigte der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky an, er werde eine entsprechende Kommission (die spätere Ortstafelkommission) einberufen lassen. Er erklärte auf eine Anfrage der Abg. Dkfm Wilhelm Gorton und Dr. Felix Ermacora: "Ich habe keine konkreten Angaben über die Mängel des Gesetzes gemacht. Ich habe gesagt, man kann nie eine Novellierung des Gesetzes ausschließen. Die Kommission, von der die Rede war, soll so bald wie möglich eingesetzt werden und soll, wenn möglich, bis zu einem bestimmten Termin ihre Arbeit abgeschlossen haben (sie kann dies aber nur selbst entscheiden). Die Kommission soll prüfen, inwieweit am Ortstafelgesetz Novellierungen erforderlich sind. Was die neuerliche Anbringung angeht, so hat es wenig Sinn, wenn diese Ortstafeln an neuer Stelle angebracht werden. Ich habe Auftrag gegeben, die Voraussetzungen für die Anbringung von Ortstafeln rasch zu prüfen. - Dr. Ermacora u. Gen., betr. Lage der slowenischen Minderheiten in Kärnten (1659/ J) 105 (8.4.1974) 10237. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Kirchschläger (1638/ AB) 107 (21. 5.1974) 10400. - Dr. Ermacora u. Gen., betr. die kritischen Ausführungen der Slovenski vestnik Nr. 11 (1650) vom 15. März 1974 über die Arbeit der Studienkommission (1695 J) 106 (3.5.1974) 10244. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1642/ AB) 109 (26.6.1974) 10615. - Dr. Ermacora u. Gen., betr. ein Minderheitenseminar der UN in Jugoslawien (1696/ J) 106 (3.5.1974) 10244. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Kirchschläger (1659/ AB) 109 (26.6.1974) 10615. - Dr. Scrinzi u. Gen., betr. Veranstaltungen der in Österreich lebenden KroatenMaßnahmen der Sicherheitsdirektion (2197/ J) 149 (1. 7.1975) 14386. Beantwortet vom Bundesminister Rösch (2192/ AB). Mündliche Anfragen - Suppan, betr. Aussprache mit Vertretern der slowenischen Minderheit (309/ M) - beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky 27 (26.4.1972) 2102. - Dr. Scrinzi, betr. Zugrundelegung der Volkszählung 1961 für die slowenische Minderheit in Kärnten (443/ M) - beantwortet vom Bundesminister Rösch 35 (5.7.1972) 2860. - Suppan, betr. Zwischenfälle seit dem Aufstellen der zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten (603/ M) - beantwortet vom Bundesminister Rösch 44 (11.10.1972) 3709. - Suppan, betr. eine neuerliche Regierungsvorlage zum Ortstafelgesetz (595/ M) beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky 48 (25.10.1972) 3948. - Dr. Scrinzi, betr. zweisprachige topographische Bezeichnungen und Aufschriften in Kärnten (599/ M) - beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky 48 (25.10.1972) 3949. - Dr. Ermacora, betr. Minderheitenfrage in Kärnten (1682 / M) - beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky 116 (22.10.1974) 11434. - Robak, betr. den Betrag für die koratischsprechende Minderheit im Burgenland (2110/ M) - beantwortet vom Bundesminister Dr. Sinowatz 145 (15.5.1975) 13974.

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Ich habe heute LH Hans Sima gebeten, auch aus der Organisation der Windischen ein Mitglied zu nominieren. Es würde sich bei der Zusammensetzung der Kommission um folgende Gruppen handeln: Vertreter der Mehrheit und der Minderheit, Vertreter der drei Kärntner Parteien, Vertreter der Minderheiten und Experten. Hiebei sind solche vorzusehen, die sich mit Fragen der Minderheiten direkt befaßt haben: Völkerrechtler und Minderheitenfachleute. " "Die Kommission wird vom Bundeskanzler einberufen, sie soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt einberufen werden, nämlich dann, wenn ich die Nennungen der Namen habe (ich handle im Einvernehmen mit der Kärntner Landesregierung), die Kosten für die Arbeit der Kommission wird der Bund tragen; was den Auftrag der Kommission angeht, so wird es am besten sein, wenn sich diese Kommission um Vorschläge zur Stellung der Minderheit in Österreich bemühen soll. Hiebei muß man in der Erklärung auf das Ortstafelgesetz verweisen." Es spielte sich nun eine für die modeme parlamentarische Arbeit bezeichnende Kooperation von Parlament, politischen Parteien, Regierungsexperten, Interessenvertretern ab, die mehr als drei Jahre währte. zunächst wurde als ein Beratungsorgan der Regierung die sogenannte Ortstafelkommission eingesetzt. 83 Sie kam nach zweijähriger Arbeit zu dem Ergebnis, daß der Lösung des Problems eine Minderheitenfeststellung vorauszugehen hätte. Aufgrund des Berichtes dieser Ortstafelkommission an den Bundeskanzler wurde in weiteren Parteienverhandlungen eine von den drei im Parlament vertretenen politischen Parteien geschaffene Expertenkommission eingesetzt. Diese Expertenkommission hat die drei oben genannten Gesetze nach. mehrmonatigen Verhandlungen und Beratung~n, an denen auch Vertreter der slowenischen und kroatischen Minderheit teilweise mitarbeiteten, vorbereitet. Parteienverhandlungen schlossen sieh diesen Beratungen an. Gesetzesentwürfe - nämlich der Entwurf eines Volksgruppengesetzes und eine Änderung des Volkzählungsgesetzes sowie der Entwurf einer Novelle zum Gehalts-Überleitungsgesetz - wurden am 5. April 1976 vom Bundeskanzleramt in ein Begutachtungsverfahren geleitet. 84 Mit diesem Gesetzespaket soll das Volksgruppenrecht und damit die Durchführung des Staatsvertrags, Art. 7, auf einen neuen Stand gebracht werden. Der Entwurf des Volksgruppengesetzes, 85 der eine grundlegende Regelung über den 83 Über die Ortstafelkommission siehe Theodor Veiter, Die Kärntner Ortstafelkommission, Arbeit und Ergebnisse der Studienkommission für Probleme der slowenischen Volksgruppe in Kärnten, 1972-1973, Bd. 8: Das gemeinsame Kärnten, Klagenfurt 1980. 84 Siehe GZ 600 308/20 - VI /l /76. 85 Die RV des Volksgruppengesetzes findet sich unter 217 dB Steno Prot. NR, XIV. GP.

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Volksgruppenschutz in Österreich im allgemeinen enthält und in dieser Hinsicht gewiß von weit über Österreich hinausgehender Bedeutung für die rechtliche Gestaltung von Volksgruppenfragen ist, und im übrigen auf die politischen Verhältnisse Österreichs und seiner Volksgruppen abstellt, ist in einem Unterausschuß des Verfassungsausschusses behandelt worden, B6 der seinerseits drei wichtige interpretative Aussagen getroffen hat und die allgemeine Bedeutung des Gesetzes noch einmal zusammenfaßte. Der Verfassungsausschuß hat den Entwurf des Volksgruppengesetzes am 2. Juli 1976 dem Plenum zugemittelt,B7 das in einer umfassenden Weise den Problemkomplex diskutierte und mit dieser Diskussion einen bedeutenden politischen Beitrag zum Verständnis österreichischer Volksgruppenproblematik leistete. (Der Bundesrat verhandelt und beschließt das Volksgruppengesetz in seiner 354. Sitzung, Steno Prot. S. 11 616 ff.). Das Volksgruppengesetz ist als eine Art Rahmengesetz gedacht. Es legt die Rechte in bezug auf den Sprachgebrauch in Ämtern und Gerichten neu fest, BB faßt den Grundsatz der Doppelsprachigkeit von topographischen Aufschriften genauer, B9 überläßt es aber dem Verordnungsgeber, den örtlichen Wirkungsbereich der Maßnahmen durch Verordnungen festzulegen. Entsprechende Verordnungen müssen im Einvernehmen mit dem Hauptausschuß des Nationalrates erlassen werden. 90 Darüber hinaus fand sich der österreichische Gesetzgeber bereit, allgemeine Grundsätze des Volksgruppenschutzes festzulegen,91 den Volksgruppen durch Beiräte eine Vertretung beim Bund zu verschaffen 92 und ein System finanzieller Förderungen vorzusehen. 93 Die Erlassung aller einschlägigen Verordnungen ist in einem zeitlich synchronisierten "Ablaufplan " eingebaut; er wurde durch einen Parteienvertrag schriftlich bekräftigt, der auch veröffentlicht wurde. 94 An der Spitze des "Ablaufplanes" steht die geheime Ermittlung der Muttersprache, die der Verordnungsgeber für den 14. November 1976 an-

86 Dem Unterausschuß gehörten an: von der SPÖ Dr. Kapaun, Dr. Kerstnig, Hans Thalhammer und Wuganigg, von der ÖVP Deutschmann, Dr. Ermacora, Dr. Mock und Suppan, von der FPÖ Dr. Scrinzi.

B7 BB B9 90 91 92 93 94

Siehe 299 dB. Steno Prot. NR, XIV. GP. § 13 ff. Volksgruppengesetz. § 12 Volksgruppengesetz. § 2 ff. Volksgruppengesetz. § 1 Volksgruppengesetz. §§ 3 ff. Volksgruppengesetz. §§ 8 ff. Volksgruppengesetz. Siehe dazu die vom Österreichischen Bundeskanzleramt herausgegebene Broschüre "Volksgruppen in Österreich - eine Dokumentation", 1. Aufl., Wien 1976.

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geordnet hatte. 95 Diese Erhebung war mit allen rechtsstaatlichen Kautelen ausgestattet. 96 Die Auswertung der Erhebungsbögen soll in der Bundeshauptstadt unter Mitwirkung einer unabhängigen Überwachungskommission erfolgen. Mit den Ergebnissen der geheimen Ermittlung der Muttersprache kann frühestens im Dezember 1976 gerechnet werden, da die Ergebnisse händisch zu ermitteln sind. Die geheime Ermittlung der Muttersprache war für das gesamte Bundesgebiet angeordnet. Die Beteiligung an dieser Erhebung war unter der 50%-Grenze, lediglich in dem am meisten interessierten und betroffenen Bundesland Kärnten war die Beteiligung über 85%! Der Vorgang der geheimen Spracherhebung wurde im 1n- und Ausland lebhaft erörtert. Die Gegenargumente gipfeln in der Behauptung, daß die geheime Erhebung der Muttersprache zu einer Revision des Staatsvertrags führe, da der Staatsvertrag seine Erfüllung nicht von der Ermittlung der Muttersprache abhängig mache. Das Gegenargument ist, daß es jedem Staate freistehen müsse, sich über den Stand der sprachlichen wie ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung statistische Unterlagen zu verschaffen. Obwohl das Volksgruppengesetz in seinem Art. I ein großzügiges Bekenntnis zum fremden Volkstum und zum Volkstumsschutz ablegt, ist das völkerrechtliche Hauptproblem doch, inwieweit die Zählungsergebnisse vom 14. November 1976 für die Festlegung des räumlichen Wirkungsbereiches der einzelnen Volksgruppen-Schutzmaßnahmen bestimmend sind. Darüber hinaus ist die Frage bedeutsam, ob die Bestimmungen des Volksgruppengesetzes, wonach zweisprachige topographische Aufschriften nur in Gebieten angebracht werden sollen, in denen 25% der Bevölkerung der slowenischen oder kroatischen Volksgruppe angehören, mit Art. 7 des Staatsvertrages im Einklang stehen. Es gibt mehr Argumente gegen die Bejahung als gegen die Verneinung dieser Frage. Es sei noch hervorgehoben, daß die eben skizzierten Regelungen insoweit Neuland betreten, als sie die Minderheiten in Österreich nun nicht mehr Minderheiten, sondern Volksgruppen nennen. Damit knüpft die republikanische Gesetzgebung an die Tradition altösterreichischen Nationalitätenrechts an, wo im Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (1867) die "Volksstämme" gesichert werden. Siehe die V, BGBL Nr. 542/1976. Sie baut auf den Grundsätzen des freien und persönlichen Wahlrechts auf und reflektiert in gewissem Sinne die Auffassungen der Parteien, die sie anläßlich der Debatte über die Minderheitengesetze im Jahre 1959 im Nationalrat geäußert hatten; vgl. auch die NR-Debatte über den Bericht des Verfassungsausschusses über das Volksgruppengesetz vom 7.7.1976. 95

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Das Volksgruppengesetz ist seiner Natur und Anlage nach ein Minderheitenschutzgesetz, das bei vernünftiger Anwendung, so wie die mährischen Regelungen des Jahres 1905, den Volksgruppenausgleich in Österreich herbeiführen könnte. Der österreichische Gesetzgeber hat sein politisch Mögliches und Erreichbares getan. Das und nichts anderes war in der pluralistischen Demokratie machbar, mehr nicht. Die Kritik, die sich von wissenschaftlicher 97 und von Minderheitenseite 98 gegen das Gesetz richtet, mag inhaltlich berechtigt sein. Sie nimmt aber nicht darauf Bedacht, daß parlamentarische Arbeit im pluralistischen Parteienparlament im Rahmen des verfassungsmäßig noch Vertretbaren nicht Ausdruck wissenschaftlicher Perfektion sein kann, sondern dem Optimum nur nahe kommt. Ich habe mich in meinem Debattenbeitrag zum Volksgruppengesetz sehr grundsätzlich mit der Minderheitenfrage im allgemeinen und für Österreich im besonderen auseinandergesetzt. 99 Ich versuchte, die Argumente der Slowenenvertreter zu entkräften, ich befaßte mich mit den jugoslawischen Kritiken; vor allem habe ich betont, daß das Gesetz gemeinsam mit der Änderung des Volkszählungsgesetzes keine Revision des Staatsvertrages bedeuten kann. Die Änderung des Volkszählungsgesetzes garantiert eine rechtsstaatlichabgesicherte Sprachenerhebung. Ich haben einen Satz Dr. Christian Brodas zitiert, der hier angebracht schien: "Die Reife der Demokratie dokumentiert sich in ihrer Fähigkeit, gemeinsame Lösungen auch dort zu finden, wo die Interessengegensätze ihrer Natur nach stark sind. Minderheit und Mehrheit tragen, so gesehen, eine sehr große Verantwortung. Die Minderheit darf die Mehrheit nicht überfordern, sie muß wissen, was sie der Mehrheit zumuten kann, und die Mehrheit muß ihre Grenzen kennen. Das gilt auch hier." Ich habe das Gesetz als die Grundlage für einen Volksgruppenausgleich in Österreich angesehen. Bei der Vollziehung des Volksgruppengesetzes ist es bis heute nicht gelungen, die für die Harmonie der Bürger verschiedener Zungen so wesentlichen Bestimmungen auch harmonisch und effektiv anzuwenden: weder gibt es - von der ungarischen und slowenischen Volksgruppe abgesehen - funktionierende Volksgruppenbeiräte, noch kommt die Volksgruppenförderung in organisatorisch abgewogener Weise zum Tragen. Diese beiden Punkte bilden immer wieder den Gegenstand parlamentarischer 97 Siehe dazu vor allem Theodor Veiter schon in der Zeitung "Die Furche": "Dreiparteieneinigung? Ein Diktat", v. 3. Juli 1976, Nr. 27. 98 Siehe vor allem die vom Slowenischen Infonnationszentrum herausgegebene Schrift: "Das Volksgruppengesetz - Eine Lösung? Der Standpunkt der Kärntner Slowenen", 1977. 99 Siehe Steno Prot. NR, XV. GP, S. 14525.

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Anfragen, die naturgemäß von oppositionellen Abgeordneten gestellt werden. lOO So z. B. die Anfrage der Abg. Valentin Deutschmann u. Gen. v. 100 Nach Beschlußfassung des Volksgruppengesetzes 1976 werden folgende mündliche und schriftliche Anfragen vor allem zum Kärntner Minderheitenproblem gestellt (siehe auch FN 109): - Dr. Ermacora u. Gen. (1406/ J 1977 10 18) betr. Kärntner Weißbuch (Volksgruppenjrage) 66 6284 Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1392/ AB 1977 12 09) 77 7417. - Dr. Scrinzi u. Gen. (1538/ J 1977 12 13) betr. Weißbuch zur Volksgruppenfrage 77 7416. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Pahr (1507/ AB 19780130) 83 7957. - Dr. Ermacora u. Gen. (1549/ J 1977 12 15) betr. ein Weißbuch in der österreichischen Volksgruppenfrage 79 7595. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1516/ AB 197801 31) 83 7958. - Deutschmann u. Gen. (1614/ J 197802 01) betr. Briefverkehr mit Adressen in Kärnten 83 7957. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1582/ AB 197803 14) 87 8369. - Dr. Ermacora u. Gen. (1798/ J 1978 04 13) betr. slowenisches Memorandum in Begrad 91 8728. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Pahr (1762/ AB 197805 17) 93 8913. - Dr. Ermacora u. Gen. (1830/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Bundesminister Lanc (1769/ AB 1978 05 23) 94 9017. - Dr. Ermacora u. Gen. (1827/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Vizekanzler Dr. Androsch (in Vertretung des Bundeskanzlers Dr. Kreisky) (1778/ AB 1978 06 01) 95 9138. - Dr. Ermacora u. Gen. (1832/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Bundesminister Rösch (1779/ AB 1978 06 01) 95 9138. - Dr. Ermacora u. Gen. (1833/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Weißenberg (1803 / AB 1978 06 09) 95 9138. - Dr. Ermacora u. Gen. (1828/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Bundesminister Moser Josej (1821/ AB 1978 06 16) 97 9430. - Dr. Ermacora u. Gen. (1829/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Androsch (1822/ AB 1978 06 16) 97 9430. - Dr. Ermacora u. Gen. (1834/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Bundesminister Lausegger (1827 / AB 1978 06 20) 97 9430. - Dr. Ermacora u. Gen. (1831/ J 1978 04 21) betr. die Durchführung des Volksgruppengesetzes 1976 93 8909. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Broda (1831/ AB 1978 06 21) 97 9430. - Dr. Busek u. Gen. (2023/ J 1978 07 07) betr. tschechischer Volksgruppenbeirat 101 9864.

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7. November 1978, betreffend Vollziehung des Volksgruppengesetzes,lOl oder die Anfrage der Abg. Dr. Jörg Haider u. Gen v. 2. Februar 1983, betreffend den aktuellen Stand der Gespräche mit den Vertretern der Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1962 I AB 08 14) 102 9961. - Deutschmann u. Gen. (2164 I J 1978 11 07) betr. Vollziehung des Volksgruppengesetzes 106 10397. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (2110 I AB 1978 12 14) 116 11602. - Dr. Kapaun u. Gen. (2346 I J 1979 02 07) betr. Maßnahmen für Minderheiten 119 12074. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (2349 I AB 1979 04 06). - Deutschmann u. Gen. (2465 I J 197903 15) betr. aufklärungsbedürftige Äußerungen des Bundesminister Dr. Pahr zur Volksgruppenfrage. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Pahr (2425 I AB 1979 05 09) der Bundesräte - Dr. Heger u. Gen. (356 I J -BR 197802 23) betr. Gebrauch slowenischer Ortsnamen im Briefverkehr mit Kärnten durch das Bundeskanzleramt 372 12569). Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (328 I AB-BR 1978 03 16) 374 12657.

Mündliche Anfragen der Abgeordneten - Dr. Scrinzi betr. Teilnahme jugoslawischer Staatsbürger an Slowenen-Demonstrationen (459 I M) Beantwortet vom Bundesminister Lanc 78 7514. - Dr. Scrinzi betr. slowenische Ortsbezeichnungen in offiziellen Publikationen (528 IM) Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky 91 8731. - Dr. Scrinzi betr. slowenische Minderheit in Kärnten (676 I M) Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky 117 11815. Schriftliche Anfragen, XV. GP der Abgeordneten - Dr. Ermacora u. Gen. (93 I J 1979 07 06) betr. Förderungsmaßnahmen für die Volksgruppen in Österreich 7 455. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (79 I AB 1979 08 31) 7 458. - Dr. Paulitsch u. Gen. (160 I J 1979 10 23) betr. Bildung der Volksgruppenbeiräte 9663. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (181 I AB 1979 12 20) 22 2087. - Deutschmann u. Gen. (270 I J 1979 12 17) betr. Auffassungsunterschiede zwischen dem Bundeskanzler und Kärntner Politikern über das Volksgruppenproblem in Kärnten 19 1779. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (234 I AB 1980 01 24) 24 2316. - Dr. Haider Jörg u. Gen. (426 I J 1980 02 19) betr. Niederschlagung von Gerichtsverfahren gegen Angehörige der slowenischen Volksgruppe in Kärnten 28 2699. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Broda (429 I AB 1980 05 14) 36 3484. - Dr. Haider Jörg u. Gen. (5151 J 1980 04 29) betr. Volksgruppenförderung 32 3170. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (537 I AB 1980 06 26) 41 3923. - Dr. Ermacora u. Gen. (612 I J 1980 06 18) betr. Volksgruppenförderung 38 3618.

Nationalitätenrecht und Minderheitenschutz

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slowenischen Volksgruppe 102 um nur einige zu nennen. Sie wiederholen sich aber praktisch in jedem einschlägigen Budgetausschuß oder Verfassungsausschuß sowie außenpolitischen Ausschuß. Der Stand der Volksgruppenförderung wird dem Nationalrat durch einen Bericht der Bundesregierung Beantwortet vom Vizekanzler Dr. Androsch (in Vertretung des Bundeskanzlers Dr. Kreisky) (634/ AB 1980 08 08) 44 4228. - Dr. Haider Jörg u. Gen. (808/ J 1980 10 24) betr. Bericht der "Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen" über die Situation der Slowenen und Kroaten in Österreich 49 4748. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (755/ AB 1980 11 26) 53 5144. - Dr. Paulitsch u. Gen. (887/ J 1980 12 03) betr. Forderungsprogramm der slowenischen Volksgruppe 55 5415. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (868/ AB 1981 01 19) 62 6103. - Dr. Ermacora u. Gen. (975/ J 1981 02 17) betr. Volksgruppenförderung 64 6338. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (971 / AB 1981 04 14) 72 7145. - Dr. Paulitsch u. Gen. (1646/ J 1981 12 18) betr. slowenische Volksgruppe 101 10188. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1627/ AB 1982 02 16) 104 10416. - Dr. Paulitsch u. Gen. (2115/ J 1982 10 11) betr. Volksgruppenförderung 126 12772. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (1094/ AB 1982 11 26) 132 13278. - Dr. Paulitsch u. Gen. (2116/ J 1982 10 11) betr. Volksgruppenförderung 126 12773. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Sinowatz (2120/ AB 1982 12 09) 136 13825. - Dr. Paulitsch u. Gen. (2117/ J 1982 10 11) betr. Volksgruppenförderung 126 12773. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Firnberg Hertha (2129/ AB 1982 12 10) 137 13948. - Dr. Haider Jörg u. Gen. (2412/ J 1983 02 02) betr. den aktuellen Stand der Gespräche mit den Vertretern der slowenischen Volksgruppe 144 14766. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Kreisky (2411 / AB 1983 03 28).

Schriftliche Anfragen XVI. GP der Abgeordneten - Dr. Paulitsch u. Gen. (157/ j 1983 07 08) betr. Dialog mit den Volksgruppen Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Sinowatz (89/ AB 1983 0826) - Dr. Ermacora u. Gen. (755/ J 1984 05 24) betr. Volksgruppenbeiräte. Beantwortet vom Bundeskanzler Dr. Sinowatz (772/ AB 1984 07 23). - Dr. Paulitsch u. Gen. (1390/ J 1985 05 31) betr. die Ausweitung des zweisprachigen Schulwesens in Kärnten. Beantwortet vom Bundesminister Dr. Moritz (1364/ AB 1985 07 23). - Dr. Paulitsch u. Gen. (1940/ J 1986 03 05) betr. Volksgruppenfrage. Beantwortet vom Bundesminister Mag. Gratz (1852/ AB 1986 04 14). Nr. 2412/ J II-4907 / XV. GP. Gestellt im Budgetausschuß und beantwortet mit Schreiben v. 18. Februar 1980, Zl. 353.010/ O-III / 4 / 80. 101 102

38 Parlamentarismus

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jährlich bekanntgegeben, 103 die Beratung dieses Berichts in Ausschuß und Plenum ermöglicht dem Parlament, entsprechende Auskünfte einzuholen oder Entschließungen anzubringen. Hinsichtlich der Volksgruppenförderung werden auch laufend schriftliche Anfragen gestellt. So eine Frage der Abg. Dr. Felix Ermacora u. Gen. vom 20. November 1979,104 betreffend die Förderungsbeiträge an Volksgruppen im Jahre 1979, oder die Anfrage der Abg. Dr. Felix Ermacora u. Gen. vom 18. Juni 1980,105 betreffend Volksgruppenförderung, oder eine weitere Anfrage des genannten Abg. vom 17. Februar 1981. 106 So zeigt sich, daß die Vollziehung des Volksgruppengesetzes auch der parlamentarischen Kontrolle unterworfen wird. Eine besonders wirksame Initiative für die weitere Entwicklung der Rechtslage kann nicht folgen, solange nicht auch die parlamentarische Mehrheit von der Richtigkeit des Kontrollinhaltes der Opposition überzeugt werden kann. So hat also das Volksgruppengesetz bei allen seinen "shortcomings" eine gewisse Plattform geschaffen, um der österreichischen Volksgruppenpolitik für die auf seinem Territorium lebenden Volksgruppen und Minderheiten Richtung zu weisen. Es ist ein Akt moderner Regierungskooperation, die die Zusammenarbeit aller Verfassungsorgane, Parteien, Regierungskräfte und Experten miteinschließt. Ich schließe mich der Auffassung an, daß Minderheitenfragen außerhalb jedweder parteipolitischer Überlegungen zu stehen hätten, und nicht ohne die Mitwirkung der zunächst berührten Bevölkerungskreise gelöst werden können. Ein Wunsch, wie sich gezeigt hat. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das Parlament im Bereich des innerstaatlichen Volksgruppen- und Minderheitenrechts, abgesehen von seiner Aufgabe, die Vollziehung auch in diesen Bereichen zu kontrollieren, rechtsgestaltend gewirkt hat. Es hat, ganz abgesehen von der Genehmigung des StV 1955 und damit seines Art. 7, der den besonderen Minderheitenschutz verpflichtend für Österreich festlegt, das Minderheitenschulgesetz für Kärnten von 1959, das Gerichtssprachengesetz für Kärnten von 1959 und das Volksgruppengesetz 1976 zum Beschluß erhoben. Dazu kommen Gesetzesbeschlüsse, die mit diesen Texten in Zusammenhang stehen. Darüber hinaus hat das Parlament durch den Hauptausschuß zum Nationalrat rechtsgestaltend insoferne gewirkt, als es im Sinne des Art. 54 B-VG 103 Siehe den Bericht der Bundesregierung gern. § 9 Abs. 7 des Volksgruppengesetzes über die Volksgruppenförderung im Jahre 1981: III-15 dB. Steno Prot. NR, XV. GP; III-20 dB. Steno Prot. NR, XVI. GP im Jahre 1990; III-31 dB. Steno Prot. NR, XVII. GP und im Jahre 1991; III-82 dB. Steno Prot. NR, XVIII. GP. 104 Anfrage Nr. 634/ AB und Antwort unter II-1451 / XV. GP. 105 Anfrage Nr. 975/ J und Antwort unter II-2245 / XV. GP. 106 2164/ J und die Beantwortung unter II-4526 / XIV. GP ..

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die Verordnung der Bundesregierung über die Volksgruppenbeiräte, 107 über die Bestimmung von Gebietsteilen, in denen topographische Bezeichnungen in deutscher und slowenischer Sprache anzubringen sind,I07 die Verordnung der Bundesregierung über Bestimmungen der Gerichte, Verwaltungsbehörden und sonstigen Dienststellen, von denen die slowenische Sprache zusätzlich zur deutschen Sprache als Amtssprache zugelassen wird,107 und endlich die Verordnung der Bundesregierung, mit der die slowenischen Bezeichnungen für Ortschaften festgesetzt werden, 107 im Einvernehmen mit der Bundesregierung erlassen hat. Das Volksgruppenproblem ist seit der Durchführung des Volksgruppengesetzes im Parlamente immer in den Budgetberatungen des Nationalrates und in den Beratungen über den Bericht der Bundesregierung über die Volksgruppenförderung behandelt worden. Im wesentlichen ging und geht es dabei um die an die Bundesregierung gerichtete Frage, warum es der Bundesregierung bis heute noch nicht gelungen ist, die gemäß dem Volksgruppengesetz vorgesehenen Volksgruppenbeiräte einzurichten. Die Antwort war immer gleich: die Volksgruppen konnten sich selbst nicht einigen, wen sie vorschlagen wollten, damit er sie in den Volksgruppenbeiräten vertrete. In die Volksgruppenpolitik ist Bewegung gekommen, nachdem in den Nationalratswahlen vom 23. November 1986 auf der Liste der Alternativen ein seinem Ursprung nach slowenischer Abgeordneter in das Parlament einzog: KarZ Smolle. KarZ Smolle hat in einer Art Alleinvertretung Minderheitenpolitik betrieben. Er machte durch sein Verhalten, seine Stellungnahme im zuständigen Verfassungsausschuß und im Plenum von sich und den Volksgruppen reden. Man fühlte sich in die Debatten des Reichsrates zurückversetzt, als Dr. Smolle Erklärungen in den Volksgruppensprachen verlesen hatte,108 dann hat Smolle in allgemeinen Debattenbeiträgen vor allem auf die Schwierigkeiten bei der Durchführung des Staatsvertrages für die slowenische und kroatische Volksgruppe aufmerksam gemacht und auch mit schriftlichen Anfragen sein Interesse an der Volksgruppenpolitik bekundet. 109 Auch andere Abgeordnete haben ihr Interesse an der Volks107 Siehe BGBL Nr. 38/ 1977, 306/ 1977, 307/ 1977, 308/ 1977. 108 Siehe Steno Prot. NR, XVII. GP, S. 223 f. 109 Smolle, (200/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet vom Bundeskanzler Vranitzky (211 / AB 1987 05 125) - (201/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Mock (248/ AB 1987 05 22) - (202/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Flemming (270/ AB 1987 05 25) 38"

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- (203/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Lacina (261/ AB 1987 05 22) - (204/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Graf (231 / AB 1987 05 19) - (205/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Blecha (214/ AB 1987 05 20) - (206/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Foregger (254/ AB 1987 0522) - (207/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Lichal (243/ AB 1987 05 21) - (208/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Riegler (227 / AB 1987 05 14) - (209/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Streicher (232/ AB 1987 05 19) - (210/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Dallinger (276/ AB 1987 0525) - (211 / J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Hawlicek (262/ AB 1987 05 22) - (212/ J 1987 03 24) betreffend der finanziellen Förderung der deutschsprachigen Volksgruppe in Südtirol, beantwortet von Bundesminister Tuppy (263/ AB 1987 05 22) - (528/ J 1987 06 05) betreffend das Volksgruppengesetz, Durchführungsverordnung für das Burgenland, beantwortet von Bundeskanzler Vranitzky (510/ AB 1988 0722) - (768/ J 1987 07 07) betreffend der Sprachkommission für Kroatisch, beantwortet von Bundesminister Hawlicek (790/ AB 1987 09 07) - (769/ J 1987 07 07) betreffend Anerkennung der Roma und Sinti als Volksgruppe, beantwortet von Bundeskanzler Vranitzky (796/ AB 1987 09 07) - (1182/ J 1987 11 05) betreffend das Auftrittsverbot für slowenische Vereine und Gruppen in der Neuen Burg der Stadtgemeinde Völkermarkt, beantwortet von Bundeskanzler Vranitzky (1118/ AB 1987 12 22) - (1183/ J 1987 11 05) betreffend das Auftrittsverbot für slowenische Vereine und Gruppen in der Neuen Burg der Stadtgemeinde Völkermarkt, beantwortet von Bundesminister Mock (1058/ AB 1987 12 14) - (1184/ J 1987 11 05) betreffend das Auftrittsverbot für slowenische Vereine und Gruppen in der Neuen Burg der Stadtgemeinde Völkermarkt, beantwortet von Bundesminister Blecha (1108/ AB 1987 12 21) - (1455/ J 1987 12 22) betreffend die Aufstellung kroatischer Ortstafeln i. Kroatisch Minihof / Mjenovo, beantwortet von Bundesminister Mock (1416/ AB 1988 02 18) - (1456/ J 1987 12 22) betreffend die Aufstellung kroatischer Ortstafeln i. Kroatisch Minihof / Mjenovo, beantwortet von Bundesminister Blecha (1415/ AB 1988 02 18) Smolle, Wabl u. Gen. (1591/ J 1988 02 18) betreffend Volksgruppenförderung, beantwortet von Bundeskanzler Vranitzky (1615/ AB 1988 04 18) Smolle, Wabl u. Gen. (1182/ J) betreffend Auftrittsverhot für slowenische Vereine und Gruppen in der Neuen Burg in Völkermarkt S. 3928

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AB des BM für Föderalismus und Verwaltungsreform AB 1118. Smolle, Wabl u. Gen. (1183/ J) betreffend Auftrittsverbot für slowenische Vereine und Gruppen in der Neuen Burg in Völkermarkt S. 3928 AB des BM für auswärtige Angelegenheiten AB 1058. Smolle, Wabl u. Gen. (1184/ J) betreffend Auftrittsverbot für slowenische Vereine und Gruppen in der Neuen Burg in Völkermarkt S. 3928 AB des BM für Inneres AB 1108. Smolle u. Gen. (1455/ J, 1456/ J) betreffend die Aufstellung kroatischer Ortstafeln in Kroatisch-Minihof. AB des BM für auswärtige Angelegenheiten 1416/ AB; AB des BM für Inneres 1415/ AB. Smolle u. Gen. (1591/ J) betreffend die Volksgruppenförderung S. 6498 AB des BK 1615/ AB Smolle u. Gen. (2166/ J) betreffend Amtssprachenverordnung für das Burgenland AB des BK 2088/ AB Smolle u. Gen. (3280/ J) betreffend die Überstellung zweisprachiger Volksschullehrer in eine neue Lohnstufe 10796 AB: 3146/ AB, S. 11427 Smolle u. Gen. (2118/ J) betreffend die Weisung des Bundeskanzleramtes wonach slowenische Ortsbezeichnungen auf Straßenverkehrstafeln einzuschränken sind. AB des BK 2089 / AB Smolle u. Gen. (3100/ J) betreffend die Aufnahme slowenischer Orts- und Siedlungsnamen in den österreichischen Ortsverzeichnissen und amtlichen österreichischen Karten 9768 AB: 3064/ AB S. 10800 Smolle u. Gen. (3181/ J) betreffend das ungerechtfertigte Einschreiten der Kärntner Staatspolizei bei einer Veranstaltung des SKV "Trta" in Sittersdorf / Zitara, S.10500 AB: 3131/ AB, S. 11138 Smolle u. Gen. (3281/ J) betreffend die Zuweisung einer Lehrkraft in die zweisprachige Volksschule St. Michael / Smihel, S. 10796. AB: 3240/ AB, S. 11669 Smolle u. Gen. (3587/ J) betreffend die Kommission für das Minderheiten-Schulwesen in Kärnten, S. 11557 AB: 3569/ AB, S. 12463 Smolle u. Gen. (5363/ J) betreffend die zweisprachigen topographischen Aufschriften an ÖBB-Haltestellen in Kärnten / Koroska, S. 16118 AB: 5297 / AB, S. 16876 Smolle u. Gen. (5690/ J) betreffend die zweisprachigen topographischen Aufschriften in Kärnten, S. 17005 AB: 5555/ AB, S. 17684 Smolle u. Gen. (6049/ J) betreffend die topographischen Aufschriften in Kärnten, S.17679 AB des BM für Wirtschaft und öffentlichen Verkehr nicht verzeichnet

Fragestunde, XVII. GP Smolle u. Gen., Kosten der Einführung der Kärntner Schulregelung gemäß der Parteienvereinbarung vom 18.11.1987, S. 5432 ff., 5438 Smolle u. Gen., an Wiss.-Min. Dr. Tuppy, 1. Zusatzfrage, S. 6368 ff. Smolle u. Gen., betreffend Verhandlungen über ein neues Volksgruppengesetz, S. 6654 ff., 234/ M Smolle / Hawlicek, betreffend Minderheitenschulwesen, S. 11672 Mag. Haupt et al. (1444/ J) betreffend die Verwendung der postalischen Anschrift Klagenfurt / Celovec mit Briefverkehr von Bundesdienststellen, S. 5416 AB des BK 1414/ AB

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Mag. Haupt et al. (1445/ J) betreffend die Studie über die Slowenen bei Klagenfurt, S. 5416 Dr. Haider et al. (2321/ J) betreffend das Lehrbuch "Geschichte der Kärntner Slowenen von 1918 bis zur Gegenwart", S. 7580) AB des BMUKS, 2166/ AB Mag. Haupt et al. (2520/ J) betreffend die Kritik Jugoslawiens an der Neuregelung des Minderheitenschulgesetzes in Kärnten AB des BM für auswärtige Angelegenheiten 2359/ AB Dr. Haider et al. (2718/ J) betreffend die Lehrplan-Verordnung zum Minderheitenschulgesetz für Kärnten, S. 8502 AB des BMfUKS, 2657/ AB Dr. Haider et al. (3045, 3046/ J) betreffend die Information des Kärntner Landeshauptmannes über den Verlauf der Gespräche mit Slowenenvertretern, S. 9492 AB: 3003/ AB, S. 10798, AB: 3025/ AB, S. 10799 Srb u. Gen. (3541/ J) betreffend die Ereignisse um den Radiosender "UFO - ein anderes Radio für Kärnten", S. 11425 AB: 3343/ AB, S. 11974 Mag. Haupt et al. (4163/ J) betreffend die Verwendung von "Celovec" im offiziellen Briefkopf der Österreichischen Hochschülerschaft an der Universität Klagenfurt, S.13176 AB des BMfWF nicht verzeichnet Mag. Haupt et al. (4184/ J) betreffend die diplomatische Reaktion nach dem in Laibach erschienenen "Tagebuch und Erinnerungen" von Stane Kovic über die Hintergründe des 1979 von zwei Jugoslawen verübten Bombenanschlag auf das Heimatmuseum in Völkermarkt AB des BM für auswärtige Angelegenheiten nicht verzeichnet Mag. Haupt et al. (4972 / J) betreffend das Minderheitenschulgesetz für Kärnten, S.15414 AB: 4838/ AB, S. 15873 XVIII. GP Mag. Haupt et al. (905, 906/ J) betreffend das Minderheitengesetz für Kärnten, S.2422 AB: 952, 943 Mag. Stoisits u. Gen. (1334/ J) betreffend die zweisprachigen topographischen Aufschriften in Kärnten, S. 3272 AB noch nicht verzeichnet Antrag, XVII. GP Dr. Fischer, DDr. König, Haider, Matzenauer, Mag. Schäffer, betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten geändert wird (155/ a), S. 6219 XVIII. GP des Nationalrates Wabl u. Gen. (276/ J) betreffend die Volksgruppenförderung für Kroaten im Burgenland, S. 564 AB des BK 290 / AB Stoisits u. Gen. (355 / J) betreffend die finanzielle Förderung der burgenländischen Kroaten, S. 779 AB des BK 368/ AB Stoisits u. Gen. (391/ J) betreffend die Namenseintragung und -änderung bei sprachlichen Minderheiten, S. 781 AB des BM für Inneres 275/ AB Stoisits u. Gen. (403/ J) betreffend die kroatische Amtssprache im Burgenland, S.781 AB des BK 382 / AB

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Mag. Stoisits u. Gen. (478/ J) betreffend zweisprachige Ortstafeln im Burgenland, S.980 AB: 474/ AB des BMfI Mag. Stoisits u. Gen. (479/ J) betreffend die Qualifikation von zweisprachigen Lehrern im Burgenland, S. 980 AB des BMfUKs 482 / AB Mag. Stoisits u. Gen. (535/ J) betreffend die Qualifikation von zweisprachigen Lehrern im Burgenland, S. 980 AB: 533 / AB, S. 2430 Mag. Stoisits u. Gen. (1045/ J) betreffend die Qualifikation von zweisprachigen Lehrern im Burgenland, S. 2427 AB nicht verzeichnet Mag. Stoisits u. Gen. (1049/ J) betreffend Kroatisch an BH Güssing, Fall Resetarits, S. 2427 AB: 1084 Mag. Stoisits u. Gen. (1243 / J) betreffend die mehrsprachigen Reisepässe / Volksgruppensprache, S.2963 AB: 1083 Fragestunde, 81. Sitzung, XVII. GP Smolle / Lacina, betreffend Vorkehrungen für Einführung des Kroatischen als Amtssprache, S. 9235 8. Sitzung, XVIII GP Stoisits u. Gen., betreffend die Erfüllung des Staatsvertrages von Wien (Ablehnung, S. 556), S. 504 ff. Mag. Stoisits u. Gen. (668/ J) betreffend die finanzielle Unterstützung von Zeitungen der Tschechen und Slowaken in Wien, S. 1264 AB: 687 / AB des BK Smolle u. Gen. (3487/ J) betreffend das Lehrerpotential für den UngarischUnterricht, S. 11137 AB: 3468/ AB, S. 11979 Stoisits u. Gen. (396/ J) betreffend die Anerkennung der Roma in Österreich, S. 781 AB des BK 382 / AB Anfragen, XV. GP Dr. Lenzi, betreffend Südtirol-Paket (338/ M)., beantwortet vom Bundesminister Dr. Pahr 55 5217 Dr. Scrinzi, betreffend Fortschritte in bezug auf Südtirol (339/ M), beantwortet vom Bundesminister Dr. Pahr 55 5218 - betreffend internationale Absicherung des Südtirol-Paketes (448/ M), beantwortet vom Bundesminister Dr. Pahr 70 6667. Dr. Scrinzi u. Gen. (1457 / J 1977 11 15) betreffend Resolution des Gemeinderates von Bruneck / Südtirol betreffend die Nichtanwendung der Doppelsprachigkeitsbestimmungen im Postamt von Bruneck 70 6660, beantwortet vom Bundesminister Pahr (1439/ AB 1977 12 27) 81 7830. Dr. Ermacora u. Gen. (1725/ J 1978 03 03) betreffend den Stand der Südtirolpolitik 87 8368, beantwortet vom Bundesminister Dr. Pahr (1615/ AB 1978 03 31) 89 8610. Anfragen, XVI. GP Dr. Ermacora u. Gen., (2209/ J 1986 07 03) betreffend die Durchführung des Südtiroler Autonomiestatuts, beantwortet vom Bundesminister Dr. Jankowitsch (2215/ AB 1986 08 29)

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gruppenpolitik Österreichs bekundet. 109a Die Parteienvereinbarung über das Kärntner Pädagogenmodell, die von der ÖVP, der SPÖ und der FPÖ außerparlamentarisch beschlossen worden sind,l1O führte zu einer Regierungsvorlage, mit der Bestimmungen des Minderheitenschulgesetzes für Kärnten geändert werden sollen. 111 Dazu ist ein entsprechender UnterausDipl.- Vw. Dr. Steiner, betreffend Autonomiepaket für Südtirol (248/ M), beantwortet vom Bundesminister Lanc 49 4061. 109 a

XVII. GP

Dr. Gugerbauer et al. (1322/ J) betreffend Unterstützung der Ungarndeutschen,

S.4668 AB des BM für auswärtige Angelegenheiten AB 1273 Dr. Jankowitsch u. Gen. (1367/ J) betreffend die kulturelle Betreuung der deutschsprachigen Minderheit in Ungarn (Deutsch-Ungarn), S. 5040 AB des BMfUKS, AB 1380 Dr. Gaigg u. Gen. (4935/ J) betreffend die Spendenverdoppelung für die deutschsprachige Minderheit in Rumänien, S. 15413 AB: 4666/ AB. S. 15420 Gugerbauer et al. (5579/ J) betreffend die Ansiedlung Altösterreicher deutscher Muttersprache (Landler), S. 16711 AB: 65405/ AB, S. 17337 XVIII. GP Dr. Gugerbauer et al. (646/ J) betreffend die Behandlung von Altösterreichern in

Siebenbürgen, S. 1263 AB: 598 / AB, S. 2432

Mag. Stoisits u. Gen. (1264/ J) betreffend die Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache im Ausland, S. 2963 Dr. Gugerbauer u. Gen. (1495/ J) betreffend die Entschädigung für in Österreich lebende Heimatvertriebene aus der CSFR. Fragestunde, 101. Sitzung, XVII. GP Smolle u. Gen.; wann werden Sie die restlichen nach dem Volksgruppengesetz

erforderlichen Beiräte (Tschechen, Kroaten) einberufen?, S. 13366 Anträge, XVII. GP

Dr. Gugerbauer, Dr. Ermacora u. Gen. betreffend Maßnahmen der Bundesregie-

rung zugunsten der bedrohten Minderheiten in Rumänien (188/ A) (E), S. 7907 Smolle u. Gen., betreffend das Bundesgesetz, mit dem das Volksgruppengesetz und SchOG geändert werden (247/ A), S. 11664 Petition, XVII. GP Smolle u. Gen., betreffend ein Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten (ON 23),

S.6365,6379

148. Sitzung (Bd. 13, 17. GP) Existenzabsicherung der österreichischen Volksgruppen, S. 17003 16. Pkt. - Bericht des Unterausschusses über Regierungsvorlage: Bundesgesetz, mit dem das Minderheitenschulgesetz für Kärnten geändert wird, S. 17171- 87 128. Sitzung, XVII. GP Gugerbauer et al. betreffend Maßnahmen der Bundesregierung bezüglich bedroh-

ter Minderheiten in Rumänien (320 A) (E) 15038. 110 Übereinkommen der Bundesparteiobmänner und Landesparteiobmänner von SPÖ, ÖVP und FPÖ vom 18. November 1987.

Nationalitätenrecht und Minderheitenschutz

601

schuß des Unterrichtsausschusses des Nationalrates eingesetzt worden. Dr. SmoLZe gehörte diesem Unterausschuß an. Mit einer Reihe von Anträgen, die er zunächst im Unterausschuß vorbrachte und dann im Ausschuß stellte, versuchte er dem Pädagogenmodell die Tendenz zu nehmen und die "utraquistische Schule" in Kärnten zu erhalten. 112 Sein Bemühen und seine Argumente waren aber vergebens. Das Pädagogenmodell hat den klassischen Weg der utraquistischen österreichischen Schule verlassen und ist neue - ich würde sagen - nationalistischere Wege gegangen. Die Mehrheit aber wollte diesen Traditionsbruch nicht wahrhaben. In der XVIII. GP haben am 16.9.1992 die Abg. Ernst PiLZer und Paul Kiss einen Entschließungsantrag betreffend der Sinti und Roma (Zigeuner) vorgelegt, der sie als eigene Volksgruppe anerkennen will. Dem schließen sich die Abg. Dr. Christian Brilnner und Mag. Terezija Stoisits an. Folgender Entschließungsantrag wurde im Nationalrat schließlich angenommen: "Die Bundesregierung wird ersucht 1. ihre Bemühungen zur Anerkennung der Roma und Sinti österreichischer Staatsbürgerschaft als Volksgruppe fortzusetzen und ehestmöglich abzuschließen;

2. Maßnahmen zu setzen, durch die Diskriminierungen jeder Art der Roma und Sinti beseitigt werden; 3. den zuständigen staatlichen Stellen, aber auch der Bevölkerung Infonnationsmöglichkeiten zu bieten, durch die die Diskriminierung der Roma und Sinti im Alltagsleben abgebaut werden kann."

Folgende Begründung begleitete diesen Antrag: "Nach gesicherten historischen Dokumenten leben Roma und Sinti als ethnische Minderheit nachweislich seit dem 15. Jahrhundert im Gebiet der heutigen Republik Österreich. Ihre Geschichte war von Anfang an durch politische, soziale und kulturelle Verfolgung gekennzeichnet. Ihren absoluten grausamen Höhepunkt erreichte diese Verfolgung während des nationalsozialistischen Regimes, durch welches etwa die Hälfte der 11.000 Angehörigen dieses Volkes, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Österreich ansässig waren, ennordet wurden. Durch die grausame Verfolgung war es für viele Roma und Sinti schwierig, sich zu ihrer Volksgruppe offen zu bekennen und die Sprache Romanes zu verwenden bzw. den Kindern weiterzugeben. Auch wenn jeder österreichische Roma und Sinti selbstverständlich alle staatsbürgerlichen Recht hatte, waren und sind in der Zweiten Republik Elemente sozialer und gesellschaftlicher Diskriminierung der Roma und Sinti noch immer festzustellen. 111 Antrag Dr. Fischer, DDr. König, Dr. Heider u. Gen., betreffend ein Schulgesetz, mit dem das Minderheitenschulgesetz für Kärnten geändert wird; 11-3545 d. Blg. Steno Prot. NR, XVII. GP. 112 Siehe 617 dB. ·Sten. Prot. NR, XVII. GP.

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Felix Ennacora

Erst in den letzten Jahren wurden innerhalb der Roma und Sinti in Österreich eine neue Fonn des Selbstbewußtseins wiederbelebt und es kam auch erstmalig zur Gründung von Vereinen der Roma und Sinti. In diesem Zusammenhang kam es auch zum Wunsch von seiten der Roma und Sinti, als Volksgruppe anerkannt zu werden." (Zu diesen Vorgängen siehe 703 dBSten.Prot. NR, XVIII. GP.) 3. Die Südtiroler Minderheit

Im Bereich der Sildtirolpolitik hat das Parlament, vom Südtiroler Gleichstellungsgesetz, Bestimmungen über die Juristischen Studien, von der Genehmigung verschiedener Studientitelübereinkommen sowie des österreich-italienischen Universitätsvertrags abgesehen, keine eigentliche rechtsgestaltende Tätigkeit ausgeübt, sondern eine die Regierungspolitik in Südtirolfragen - und das sind Volksgruppenschutz- und Minderheitenfragen europäischen, ja gar internationalen Ranges -legitimierende Funktion ausgeübt. Das Parlament war dabei ein Gradmesser der öffentlichen Stimmung für Südtirol. Überblickt man den Zeitraum der österreichischen Südtirolpolitik seit 1945,113 so fällt das parlamentarische Emotionsgefälle ebenso auf wie das Absinken des öffentlichen Interesses in Österreich an der Südtirolfrage. Vom Hosianna für die Rückkehr Südtirols zu Österreich in den Jahren 1945/46 bis zur resigniert wirkenden routinemäßigen Berichterstattung über den Stand der sogenannten Paketdurchführung geben die Stenographischen Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates sichtbare Auskunft. Aber durch die Öffentlichkeit des Parlaments ist die Südtirolpolitik der Regierung über Jahrzehnte hinweg - nämlich bis zum 15. / 16. Dezemberl969, wo Paket und Operationskalender im Nationalrat behandelt worden sind -, in systematischer Weise, ohne daß die parlamentarischen Gremien besondere Aufforderungen aussprechen mußten, regelmäßig, zwar nicht vorinformiert, aber jedenfalls nachinformiert worden. 114 Die Vorinformation der Parlamentarier in außerparlamentarischen Kanälen bezieht sich auf ein anderes Kapitel der Südtirolpolitik, auf das ich im vorliegenden Zusammenhang nicht näher einzugehen habe. Nach der Annahme von Paket und Operationskalender im Dezember 1969 ist die Information des Parlaments über die Südtirolpolitik wiederum zu einer "parlamentarischen Holschuld" geworden. Die Außenminister der Regierung Bruno Kreisky und der Regierung Fred Sinowatz haben in ihren außenpolitischen Berichten eine Übersicht über die Behandlung der Südti113 Siehe Felix Ermacora, Südtirol und das Vaterland Österreich, Wien-München 1984, S. 61 und ders., Geheimbericht der Südtiroler Delegation zur Pariser Konferenz 1946, Wien-München 1987, S. 249. 114 In Felix Ermacora, Anm. 113 (Südtirol ... ) S. 354.

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rolfrage durch das Bundesministerium und den Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten - eher routinemäßig - geboten. Auch die parlamentarischen Debatten über das Budget für Auswärtige Angelegenheiten und den Außenpolitischen Bericht haben immer, zumindest von den Hauptsprechern der Fraktionen der VP und FP, einen Hinweis auf die Südtirolpolitik enthalten, ohne daß diese Hinweise mehr bedeutet hätten als die Bestätigung der politischen Parteien, daß man die Frage noch nicht vergessen habe und nach wie vor interessiert sei. Im ersten Jahre der Paketdurchführung (1970/71) finden sich keine formellen Anfragen, die auf die Südtirolproblematik bezogen gewesen wären. Die erste Anfrage datiert wiederum vom 9. Dezember 1971. 115 Als ich in einer Sitzung des Nationalrates in einer Aussage meinte, daß man bei aller Vorsicht, mit der das Problem Südtirol heute behandelt werde, die Frage der Selbstbestimmung für Südtirol nicht am Horizont verschwinden lassen möge, hat sich keine Hand zum Beifall gerührt! 116 Für mich war das signifikant, da das Hohe Hause dem Rufe Silvius Magnagos, daß Südtirol Österreich zum Vaterland habe, mit keiner Reaktion entgegenkam. Die parlamentarische Südtirol-Politik Österreichs war zwar in erster Linie eine solche des Nationalrates, aber der Bundesrat ließ es sich doch nicht nehmen, diese Frage immer wieder zu thematisieren, sei es im Wege von Erklärungen, Debattenbeiträgen oder schriftlichen Anfragen: auch wenn Bundeskanzler Dr. Jose! Klaus in der 168. Sitzung des Nationalra115 Leitner: weitere Harmonisierung des österreichisch-italienischen Verhältnisses in der Südtirolfrage (84/ J) 10, v. 9. Dezember 1971, 581, beantwortet von Broda (136/ AB), 24, am 15. Februar 1972, 1804; Ermacora, betreffend die Durchführung des Südtirol-Abkommens (260/ J) 24, v. 15. Februar 1972,1803, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (287 / AB) 27, am 26. April 1972, 2099; Ermacora, betreffend die Paketdurchführung (1339/ J) 76, v. 20. Juni 1976, 7001, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (1357/ AB) 80, am 23. Oktober 1973, 7645; Horejs, betreffend die Verschiebung des Termins für die Erlassung der Durchführungsbestimmungen zum neuen Autonomiestatut für die Region Trentino-Südtirol (1569/ J) 98, v. 23. Jänner 1974, 9570, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (1506/ AB) 100, am 5. Februar 1974, 9799; Ermacora, betreffend Stand der Paketdurchführung (160/ J) v. 24. Februar 1976, 6, 18, 1476; beantwortet von Außenminister Bielka (174/ AB) 22, am 15. April 1976, 1879; Melter, betreffend vollständige Durchführung des Paketes und des Operationskalenders (39/ J) v. 10. Mai 1976, 24, 2022, beantwortet von Bundeskanzler Kreisky (328/ AB) 28, am 15. Juni 1975, 2904; Ermacora, betreffend den ethnischen Proporz aufgrund des Pariser Abkommens (521/ J) 28, v. 23. Juni 1976, 2504, beantwortet von Außenminister Bielka (438/ AB) 31, am 14. Juli 1976, 2901; Ermacora, betreffend die Erfüllung des Südtirolpakets (966/ J) 48, v. 3. Februar 1977, 4619, beantwortet von Außenminister Pahr (950/ AB) 52, am 23. März 1977, 4965. . . 116 Steno Prot. NR, V. GP, S. 26.

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tes l17 vom 16. Dezember 1969 in der Debatte über Paket und Operationskalender durchklingen ließ, daß er aus Gründen der Geschäftsordnung nicht beabsichtige, Erklärungen über Südtirol in beiden Häusern des Parlaments abzugeben. Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, wollte ich den gesamten Südtirolkomplex hier erschließen. Das ist anderswo von mir und vielen anderen Berufenen literarisch schon längst geschehen. ll8 Es muß also vorausgesetzt werden, daß unmittelbar nach dem Ende der Feindseligkeiten des zweiten Weltkrieges die sich rasch konstituierende Südtiroler Volkspartei in ihrem Kurzprogramm das Wirken für die Rückkehr Südtirols nach Österreich ausgesprochen hat. Das unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Diese Forderung wurde zunächst von Tiroler Seite aufgenommen und anläßlich der ersten Länderkonferenz als bundesweites Ziel und als Ziel der österreichischen Außenpolitik beschlossen. Schon in der 2. Sitzung des freigewählten Nationalrats, am 21. Dezember 1945, war es Bundeskanzler Leopold Figl, der den neu gewählten Nationalrat über diese Politik Österreichs - eine mutige Politik im Lichte der tatsächlichen, vor allem die Souveränität bedrückenden Verhältnisse nach 1945 - informierte. Er meinte vor dem Hohen Haus, daß er nicht von der Ungerechtigkeit reden wolle: 119 "Eines aber ist für uns kein Politikum, sondern eine Herzenssache, und das ist Südtirol. (Stürmischer, langanhaltender Beifall und Händeklatschen im Hause und auf den Galerien.) Die Rückkehr Südtirols nach Österreich ist ein Gebet jedes Österreichers. (Neuerlicher Beifall.) Als zweites unabdingbares Gesetz unserer Außenpolitik muß ich die Unteilbarkeit unseres Kärntnerlandes in seinen alten Grenzen bezeichnen. (Brausender Beifall.) Das freie, unabhängige, demokratische Österreich fühlt sich bereits heute aufgrund seiner außenpolitischen Ideologie als ein Teil der "Vereinten Nationen". Es wird sein Bestreben sein, in baldigster Zeit auch die Legitimation hiefür zu haben. (Großer Beifall.)" In derselben Sitzung, in der auch das Budgetgesetz 1946 genehmigt wurde, meldete sich nach Genehmigung dieses Budgets der Tiroler Abgeordnete Univ.Prof. Franz Gschnitzer zu Wort. Er ersuchte um die Annahme einer Entschließung gemäß § 65 der GO. Der Entwurf hat folgenden Wortlaut: 120

117 118 119

120

a. a. 0., S. 40. Siehe Felix Ermacora, Südtirol und das Vaterland Österreich, Wien 1984. 25. Sitzung des Nationalrats, 3. Juli 1946, V. GP, S. 534 ff. a. a. 0., S. 541.

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"Der Nationalrat wolle beschließen: Der erste freigewählte Nationalrat des neuerstandenen Österreichs richtet an die Bundesregierung die dringende Bitte, alles zu unternehmen, um Südtirol in unsere österreichische Gemeinschaft und unsere Verwaltung zurückzuführen. Von Südtirol ist vor fast einem Jahrtausend die Einigung Tirols ausgegangen; es hängt in unverbrüchlicher, auch durch die schmerzlichen Ereignisse der letzten Jahrzehnte nie erschütterter Treue an Österreich und ersehnt heute inniger denn je die Rückkehr. Wir bitten, unser heißgeliebtes Südtirol wieder Österreich anzugliedern. Österreich wird erst dadurch seine kulturelle, wirtschaftliche und verkehrspolitische Einheit wiedergewinnen."

Diesem Antrag fügte Univ.Prof. Franz Gschnitzer laut Stenographischem Protokoll noch folgenden an: "Erlassen Sie mir die Anführung aller Gründe des Verstandes und Herzens. Wollte ich nur einzelne anführen, würde es abschwächend wirken. Darf ich die Empfindungen, die uns bewegen, zusammenfassen in den geballten Worten des Gedichtes, das, prophetisch vorausschauend, den Tag sieht, den wir alle erhoffen, ersehnen, erwarten:

o Blut, das ward vergossen! o Tränen, die geflossen!

Zeit des Zerrissenseins! Tirol ist eins!

Heimat der schönen Lenze! Der Brenner ist nicht die Grenze! Nach unerhörtem LeidGerechtigkeit! Wie bitter hieß es warten, Du Stadt am Rosengarten; Land paradiesesgleich Zu Österreich! Nach Jahren der Zerstückung, Verwirrung und Bedrückung Ein Herz, ein Mund, ein Schrei: Tirol ist frei! Nun hat die Not ein Ende! Reicht, Brüder, Euch die Hände Aus Nord- und Südtirol: Ein Land Tirol! (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)

Präsident: Wird das Wort gewünscht? (Niemand meldet sich). Es ist nicht der Fall. Ich ersuche jene Frauen und Herren, die der Entschließung zustimmen, sich von den Sitzen zu erheben. (Geschieht). Die Entschließung ist einstimmig angenommen. Die Tagesordnung ist erschöpft."

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Nach diesem Akt der Legitimation einer Selbstbestimmungspolitik für Südtirol ist nach emotionellen Großkundgebungen in ganz Österreich und Südtirol, nach hoher Betriebsamkeit der Staatskanzleien allmählich sichtbar geworden, daß der italienische Standpunkt für die Heiligkeit der Brennergrenze international größeres Gewicht bekam, als die Gerechtigkeit des österreichischen und südtirolischen Anspruches. Im Juli 1946 mußte Außenminister Dr. Karl Gruber dies dem Nationalrat mitteilen. In der 25. Sitzung des Nationalrates berichtet der österreichische Außenminister über die Südtirolpolitik und alle Schritte, die in dieser Hinsicht gesetzt wurden. Der Bericht ist aus der Sicht Grubers umfassend und von dokumentarischem Interesse. Er stellt nun die Frage, welche Konsequenzen sich aus der gegenwärtigen Lage ergäben und erklärt dazu laut Stenographischem Protokoll: 121 "Das erste ist die wohl jedem Österreicher selbstverständliche Feststellung, daß wir niemals aufhören werden, diese Forderung nach dem Plebiszit in Südtirol dem Weltgewissen zu unterbreiten (lebhafte Zustimmung und anhaltendes Händeklatschen im ganzen Hause), ja daß wir jede Möglichkeit ausnützen werden, eine Lösung dieser Frage herbeizuführen. Es werden sich in Österreich immer genug Männer finden, die die Fahne Südtirols hochhalten werden, und niemals wird Österreich mit ruhigem Blut diesen seinen Volksstamm zugrunde gehen lassen. Denn die österreichische Südtirol-Politik ist in Wahrheit die Politik der Kreierung Österreichs. Südtirol ist ja nicht einfach ein Gebietsstreifen, in dem so und so viele Menschen leben, es ist vielmehr die Wiege eines guten Teils der spezifisch österreichischen Kultur. Ich kann mir nicht vorstellen, daß England etwa je die Abtrennung der Grafschaft Kent oder Frankreich die Lothringens zur Kenntnis nehmen würde. Deshalb ist uns der Weg vorgezeichnet: die österreichische Regierung will jeden wie immer gearteten Beitrag zum Frieden in der Welt leisten. Sie war entschlossen, nach Zuerkennung jener Grenzrektifikationen sich unmittelbar mit Italien an den Verhandlungstisch zu setzen, um die Gesamtfrage einer für beide Teile befriedigenden Lösung zuzuführen, die gleichzeitig der Ausgangspunkt einer echten Freundschaftspolitik hätte sein können. Die Möglichkeit, durch eine Grenzberichtigung eine Lösung anzubahnen, ist verschüttet. Österreich wird seine Forderung in vollem Umfang der Friedenskonferenz unterbreiten und von da an vor jeder internationalen Körperschaft mit Zähigkeit und ohne Unterlaß verfolgen. (Neuerliche Zustimmung und Händeklatschen im ganzen Hause.) Österreich wird nicht müde werden, an das Weltgewissen zu appellieren, um Unterstützung für die Freiheitsrechte eines kleinen Bergvolkes zu gewinnen. Südtirol ist für Österreich nicht Gegenstand der Tagespolitik. Niemals kann uns eine Enttäuschung davon abhalten, die 121

a. a. 0., S. 3965.

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Frage mit unvermindertem Eifer weiter zu verfolgen. Ein Problem von dieser Bedeutung reicht über die Monate hinaus und bedarf der zähen Unterstützung durch das ganze Volk." Es meldete sich in derselben Sitzung sodann noch Bundeskanzler Leopold Figl zu Wort 122 und meinte u. a., daß die Gerechtigkeit für Südtirol nicht durch Entscheidungen, wie sie bisher erfolgt sind, wiederhergestellt werde. Er appellierte an die vier Großmächte, daß in dieser Konferenz (gemeint ist die Pariser Friedenskonferenz 1946) nur die Gerechtigkeit siege und sonst nichts. Er rief unter "stürmischem und langanhaltendem Beifall" , "daß der Tiroler Adler wieder flattern wird über einem geeinten Tirol." Auch der Präsident des Nationalrates Leopold Kunschak meldete sich zu Wort. Er teilte mit, daß man sich geeinigt habe, von einer Debatte Abstand zu nehmen, und daß man den Bericht des Außenministers an den Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten zuweise. Er fügte hinzu: "Volksvertretung und Volk sind einig in der feierlichen Versicherung, in der starken und unerschütterlichen Erwartung: Südtirol muß und wird wieder zu Österreich kommen!" (Stürmischer, langanhaltender Beifall und Händeklatschen.) Südtirol ist nicht wieder zu Österreich gekommen. Das Parlament hat sich in merkwürdiger Zurückhaltung mit dem Platzen der Hoffnungen abgefunden. Es hat als Plenum des Nationalrats das im September 1946 als Ersatz für die Selbstbestimmung abgeschlossene Gruber-Degasperi-Abkommen - durch und durch ein politischer Vertrag im Sinne des Art. 50 B-VG - nicht genehmigt. Allerdings hat sich der Außenpolitische Ausschuß am 10. Oktober 1946 mit diesem Abkommen befaßt und zugleich eine Entschließung verabschiedet, die zwar feststellt, daß nun das Pariser Abkommen die Leitlinie für die österreichische Südtirolpolitik sei, daß aber durch dieses Abkommen das Selbstbestimmungsrecht für Südtirol nicht berührt werde. Das kann man dem Parlaments archiv entnehmen. 123 Bemer81. Sitzung des NR, Steno Prot. VIII. GP, S. 3960 ff. Siehe Protokoll des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und Parlamentskorrespondenz v. 1. Oktober 1946: "Der Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten nimmt den Bericht des Ministers für auswärtige Angelegenheiten, Dr. Gruber, zur Kenntnis mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß es nicht gelungen ist, die Freiheitsrechte des Südtiroler Volkes bei der Friedenskonferenz durchzusetzen. Der Vorwurf nicht rechtzeitiger Information des österreichischen Nationalrates ist durch die besondere Verhandlungstechnik der Friedenskonferenz von Paris, die eine längere Abwesenheit vom Verhandlungsorte nicht zuließ, überholt. Der Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten wird ersucht, für die Zukunft alle Maßnahmen zu treffen, um den verfassungsmäßigen Kontakt mit dem Parlamente aufrechtzuerhalten. Die mit Italien vereinbarte Regelung, von der nicht feststeht, ob sie die Zustimmung des gesamten Südtiroler Volkes gefunden hat, bedarf noch mancher Interpretation, um als Zwischenlösung angesehen werden zu können. Die Haltung Österreichs bedeutet in keiner Weise einen Verzicht auf die unveräußerlichen Rechte unseres Staates auf Südtirol. Der Ausschuß gibt der bestimmten 122 123

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kenswert ist, daß sich der südtirolische Landeshauptmann Silvius Magnago anläßlich der 32. o. Landesversammlung der SVP vom 17. Dezember 1983 in einem Entschließungsantrag auf diesen Passus der Entschließung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des österreichischen Nationalrates aus 1946 124 berufen hat! Von 1946 bis 1956 gab es im Nationalrat keine Regierungserklärung über Südtirol. (In der 26. Sitzung des Bundesrates am 19. Dezember 1947 brachten allerdings die Tiroler Bundesräte Heinrich Schaidreiter, Ludwig Klein, Dipl.lng. Dr. Franz Lechner und Genossen an den Außenminister eine schriftliche Anfrage" betreffend die Autonomie für die Provinz Bozen" ein). Das Pariser Abkommen durchzuführen, schien italienische Aufgabe zu sein. Außenminister Leopold Figl berichtete dem Nationalrat am 4. Dezember 1957 über die Südtirolpolitik, die nun vom neuen Staatssekretär Franz Gschnitzer wesentlich getragen war, und gab am 4. März 1959 eine grundlegende Er:klärung zur Abkommens-Erfüllungspolitik ab, die im Nationalrat eingehend debattiert wurde. 125 "Wir werden uns mit ganzer Kraft und allen rechtlichen Mitteln für die Erfüllung dieses Abkommens einsetzen." Statt Selbstbestimmung hieß es nun unter dem Beifall der Regierungsparteien: "Man gebe ihnen die Autonomie". Darauf einigten sich alle im damaligen Parlament vertretenen politischen Parteien: ÖVP, SPÖ, FPÖ und KPÖ: die Bundesregierung wurde in einer Entschließung aufgefordert, "alles zu unternehmen, um die volle Erfüllung des Gruber-DegasperiAbkommens zu verwirklichen." 126 In der Debatte zeichnete sich Uneinigkeit zwischen Regierungsparteien einerseits und Oppositionsparteien andererseits ab. Der Sprecher der FPÖ, Univ.Prof. Dr. Hellfried Pfeifer forderte nicht, wie man hätte meinen können, die Selbstbestimmung für Südtirol, sondern Boykottmaßnahmen Österreichs oder besser der Österreicher, und Ernst Fischer, der Vertreter der Kommunisten, war es, der als einzigen Weg, der zum Ziel führe, "den Weg zu den Vereinten Nationen" nennt. 127 Von nun an geht es also um die Hoffnung Ausdruck, daß eine geänderte Weltlage in Zukunft den Südtirolern die Möglichkeit der Selbstbestimmung über ihre staatliche Zugehörigkeit geben wird. Er ist der Meinung, daß dieses Prinzip der einzige Weg für eine dauernde Lösung der Südtirolerfrage ist, die von Österreich als gerecht und befriedigend angenommen werden könnte. Die Leitung der österreichischen Außenpolitik wird aufgefordert, alle Bemühungen für den möglichst raschen Abschluß eines Vertrages mit Österreich einzusetzen, der einem ungeteilten Österreich die langersehnte Freiheit bringen soll." 124 Siehe Anm. 121, S. 3960 ff. 125 Siehe Anm. 121, S. 3965. Ernst Fischer meinte aber auch, daß die Vereinigung der Provinz Bozen mit Österreich die beste, vernünftigste Lösung wäre (S. 3981). 126 Siehe Anm. 121, S. 3970, 3983. 127 Siehe Anm. 121, S. 3974 ff.

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Erfüllung dieses Abkommens und die Erwägung der Mittel, diese Erfüllung zu erreichen. In der Regierungserklärung vom 17. Juli 1959 spricht Dipl. Ing. Julius Raab nicht von den Vereinten Nationen. 128 Aber der neue Außenminister Dr. Bruno Kreisky, im Verein mit seinem Staatssekretär Dr. Franz Gschnitzer, hat vor der XIV. Generalversammlung eine Ankündigung gemacht, man wolle den Fall Südtirol vor die UN bringen. Darüber ist dem Nationalrat berichtet worden. 129 In der 162. Sitzung des Bundesrates (28. Juni 1960) hatte Staatssekretär Dr. Franz Gschnitzer vor den Mitgliedern der Länderkammer ausführlich die Gründe erläutert, warum Österreich die Südtirol-Frage vor die UNO gebracht habe: "Hoher Bundesrat! Ich darf in aller Kürze die an mich gerichteten Fragen beantworten. Die wohl wichtigste Frage, die hier von beiden Seiten gestellt wurde, betrifft den jetzigen Stand der Frage Südtirol. Ich kann sagen, daß heute der Ministerrat folgenden Beschluß gefaßt hat: Der Herr Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten wird ermächtigt, bei der UNO den Antrag zu stellen, die Frage Südtirol.auf die Tagesordnung zu setzen. (Allgemeiner Beifall.) Sie wissen aber auch, daß uns Italien in der letzten Zeit in steigendem Maße empfiehlt und nahelegt, zum Internationalen Gerichtshof und nicht zur UNO zu gehen. Vielleicht noch ein Wort zuvor, wieso es denn überhaupt zu solchen internationalen Instanzen kommt. Auf Grund des Briefwechsels Tambroni-Raab ist endgültig festgestellt, und zwar von beiden Seiten, also auch von italienischer Seite, daß Verhandlungen nicht mehr zum Ziele führen können. Sie können deswegen nicht zum Ziele führen, weil die italienische Seite jedes Verhandeln, das über das bestehende Statut hinausgeht, ablehnt. Also nicht etwa, daß Italien nur ablehnt, der Provinz Bozen eine eigene Regionalautonomie zu geben, sondern Italien lehnt es überhaupt ab, über eine Veränderung des bestehenden Statuts auch nur zu sprechen. Das ist eine Haltung, bei der ein Verhandeln wirklich nicht mehr möglich ist. Wenn gelegentlich in den Zeitungen davon die Rede war, daß Italien bereit wäre, eine De-facto-Autonomie zu geben, so ist dazu erklärend dazu zu sagen: Das soll heißen, daß ohne Änderungen des bestehenden Statuts in der Praxis gewisse Verbesserungen vorgenommen werden sollen. Aber damit können wir uns aus zwei Gründen niemals zufriedengeben. Eine De128 129

3. Sitzung des NR, IX. GP, Steno Prot. NR, S. 26 f. Siehe 171 dB Steno Prot. NR, IX. GP.

39 Parlamentarismus

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facto-Autonomie kann ebenso de facto jederzeit wieder genommen werden, denn es fehlt ihr jede gesetzliche Grundlage. Sie bietet also nicht die Sicherheit, die wir hier beanspruchen. Zum zweiten hat auf Grund des bestehenden Statuts der italienische Verfassungsgerichtshof eine Reihe von grundlegenden Erkenntnissen gefällt, in denen er die bestehende Praxis gebilligt hat. Ich glaube nicht, daß diese Erkenntnisse richtig sind, aber sie sind da, und sie sind, genauso wie es bei unserem Verfassungsgerichtshof wäre, unumstößlich. Es bleibt also gar keine Marge für eine Verbesserung in der Praxis, die wesentlich sein könnte. Nun hat sich die Frage der internationalen Instanzen erhoben, und da sagen wir: vor die UNO, Italien sagt: vor den internationalen Gerichtshof. Ich bitte vor allem unsere Abgeordneten, die im Europarat sitzen, klarzustellen, daß es in keiner Weise etwa eine Minderbewertung des Europarates darstellen soll, wenn wir vor die Vereinten Nationen gehen. Der Europarat selbst ist, wie schon gesagt wurde, ein rein beratendes Organ. Dort die· Südtirol-Frage zu diskutieren, könnte zu keinem wirklichen Effekt führen. Das Verfahren zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten sieht eben vor, daß in solchen Fällen der Internationale Gerichtshof angerufen werden soll. Ich habe also jetzt zu begründen, warum wir vor die UNO gehen und nicht vor den Internationalen Gerichtshof. Ich habe hier eine kleine Schrift vor mir, die vor kurzem erschienen ist, und zwar in englischer Sprache. Sie ist in Washington bei der amerikanischen Bar Association erschienen und handelt über den Internationalen Gerichtshof. Wenn man sich diese Schrift ansieht, die also unverdächtig ist, und die auch die Fälle anführt, mit denen sich der Internationale Gerichtshof in letzter Zeit befaßt hat, so wird man unsere Entscheidung besser verstehen. Einmal heißt es hier, daß vor dem Internationalen Gerichtshof sieben Fälle liegen, die diesen Gerichtshof mindestens für die nächsten zwei Jahre beschäftigen werden. Dann sind weitere Fälle aufgezählt, und wenn Sie diese Fälle ansehen, so sehen Sie, daß diese von einer ganz anderen Kategorie sind als der Fall Südtirol. Da ist einmal der Fall der Fischereirechte, die Frage von Fischgewässern. Dann ist da ein Fall eines liechtensteinischen Staatsbürgers, der in Guatemala enteignet wurde und wo dann die liechtensteiner Staatsbürgerschaft bestritten wurde. Dann ist ein Fall, der sogenannte Interhandel-Fall, wo es sich um beschlagnahmte Papiere der "Interhandel" drehte. Dann ist der Streitfall zwischen Portugal und Indien, wo es sich um Passagerechte handelte - ein Fall übrigens, dessen Behandlung dreieinhalb Jahre gedauert hat. Auch sonst sehen Sie bei diesen Fällen, soweit die Daten angegeben sind, eine recht lange Dauer. So dauerte beispielsweise der InterhandelFall vom 2. Oktober 1957 bis 21. März 1959.

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Und das sind jetzt unsere beiden Gründe: erstens einmal die voraussichtlich sehr lange Dauer, bei einem Fall wie dem Südtiroler Fall sicher eine längere als in diesen relativ noch einfachen Fällen. Wie werden die Südtiroler die Zwischenzeit überdauern? Wie soll die dort Platz greifende Entwicklung in der Zwischenzeit aufgehalten werden? Und zum zweiten: Die Südtiroler Frage ist gewiß auch eine juristische, aber sie ist nicht nur eine juristische, sondern sie ist auch eine eminent politische Frage. Dadurch unterscheidet sie sich wesentlich von jenen Fällen, die dem Internationalen Gerichtshof vorliegen. Sie bestünde ja auch, wenn es kein Pariser Abkommen gäbe und wenn es nicht um die Auslegung ginge, ob die bestehende Autonomie diesem Abkommen genügt oder nicht. Es geht hier nicht um Fischereirechte, er geht hier nicht um Wertpapiere, es geht hier nicht um die Staatsbürgerschaft einzelner Personen, sondern es geht hier um das Schicksal einer geschlossen wohnenden Volksgruppe, die um ihr Recht seit 1918 und nicht erst seit dem Pariser Abkommen kämpft. Deswegen glauben wir, daß sich doch das Forum der Vereinten Nationen damit beschäftigen muß, weil man sich hier auch der politischen Verantwortung vor der Welt nicht entschlagen kann." Am 18. Feber 1964 schließlich - in der 212. Sitzung des Bundesrates beschäftigte sich Dr. Franz Gschnitzer als einfaches Mitglied der Länderkammer bei der Behandlung des Berichtes des Bundesministers für Auswärtige Angelegenheiten über die XVII. Generalversammlung der UNO neuerlich gründlich mit Südtirol: "Im April 1954 haben die Südtiroler so, wie es sich gehört, in Rom, also bei dem Staat, dem sie angehören, über die mangelhafte Erfüllung des Abkommens und des Autonomistatuts Beschwerde erhoben und Vorschläge zu einer Verbesserung gemacht. Worin bestand dieser Vorschlag von 1954? Sie schlugen eine aus Italienern und Südtirolern zusammengesetzte Beratungskommission vor. Im Oktober 1956 - da auf diese Vorschläge der Südtiroler niemals eine Antwort erfolgt ist - hat sich dann Österreich eingeschaltet, einschalten müssen, hat seinerseits wieder die Beschwerden gesammelt und wieder einen sehr ähnlichen Vorschlag gemacht, nämlich den auf Einsetzung einer österreichisch-italienischen Expertenkommission. Im Februar 1957 hat Italien das abgelehnt. Es hat sich nicht bereit erklärt, auf diplomatischem Weg mit Österreich zu verhandeln, sondern nur Gespräche zu führen. Diese Gespräche wurden dann mit viel Geduld bis zum Herbst 1959 fortgesetzt. Inzwischen war am 4. Februar 1958 von Seite der Südtiroler Abgeordneten im italienischen Parlament ein Antrag auf eine Sonderautonomie für die derzeitige Provinz Bozen eingebracht worden. 39'

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1959 hat dann der Herr Bundesminister Dr. Kreisky Schritte bei der UNO angekündigt und gesagt, wir müßten diesen Weg beschreiten, wenn wir zu keiner Einigung mit Italien gelangen. Denn es zeichnete sich damals schon das ab, was dann kurz darauf geschehen ist, daß nämlich Italien in diesen Gesprächen jede Änderung des Autonomiestatuts ablehnte, also im zentralen Punkt überhaupt keine Geneigtheit zeigte. So kam es dann um Weihnachten zum Ende der Gespräche, und - man sollte das doch nicht ganz vergessen - im selben Augenblick, am Weihnachtsabend 1959, wurde von Italien gegen den damaligen Unterhändler in diesen Gesprächen, gegen mich, ein Einreiseverbot erlassen. 1960 kam Südtirol vor die UNO. Es gab ein sehr hartes Ringen. Die Resolution, die herauskam und auf die immer wieder Bezug genommen wird, empfahl neuerliche bilaterale Verhandlungen. Wenn die Verhandlungen nicht in vernünftiger Frist zu befriedigenden Ergebnissen führen sollten, empfahl sich weiter, eines der friedlichen Mittel, die die UNO-Charta vorsieht, in Erwägung zu ziehen. Wir haben damals gesehen, was man bei der UNO erreichen kann und was man nicht erreichen kann und wie es in einem so großen Gremium zugeht, wie jeder immer nur von seinen Interessen aus eine Sache betrachtet, aber von Gerechtigkeit und dergleichen ist wohl überhaupt nicht die Rede. Nachdem ich ein sehr bekanntes Buch, den ,Exodus' von Leon Uris, gelesen habe, muß ich bei Uris' Schilderung der Vorgänge in der UNO 1947, als es sich um die Errichtung eines selbständigen Staates Israel handelte, sagen: genau dieselbe Schilderung würde völlig auf die Vorgänge 1960 um Südtirol gepaßt haben. 1960 - und das ist ein Nebenschauplatz - haben wir dann auch Beschwerde über den Prozeß wegen der pfunderer Burschen vor der Europäischen Menschenrechtskommission erhoben, und damit tritt nun dieses europäische Forum in unser Blickfeld. 1961 mußte sich Italien zu Verhandlungen bereit finden. Aber es war nicht bereit, in diesen Verhandlungen seinen Standpunkt zu ändern. So sind die Verhandlungen bereits in Mailand gescheitert, sogar in einer recht schroffen Form. Sie sind dann in Klagenfurt nicht weitergekommen und in Zürich negativ zu Ende gegangen. Damals, im Jahre 1961, kam es dann zu den ersten Sprengstoffanschlägen. Nun stand eine neuerliche UNO-Sitzung bevor. Italien, einerseits durch die Aussicht auf eine neuerliche Befassung der UNO bedrängt, wohl aber auch durch die Unruhe im Inneren; in Südtirol selbst, entschloß sich im September 1961, die Neunzehner-Kommission einzusetzen, mit der wir uns dann noch befassen werden müssen.

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Die Neunzehner-Kommission hatte von Anfang an mehrere Fehler: erstens den, daß sie zu spät kam. 1954 hatten die Südtiroler das gleiche vorgeschlagen - ohne Erfolg. 1956 hatte Österreich etwas Ähnliches begehrt - ohne Erfolg. Zweitens hätte die Kommission paritätisch sein müssen. In Wahrheit war sie das nicht - 11 Italiener, 1 Ladiner, der von der italienischen Seite her kam, und nur 7 Südtiroler. Und drittens: Die Kommission wurde von oben ernannt; die ernannten Südtiroler wurden also nicht von der Südtiroler Volkspartei selbst hineingeschickt, was richtiger gewesen wäre. Gleichzeitig hat auch der Europarat die Unterkommission der Politischen Kommission eingesetzt, die sich mit Südtirol beschäftigen sollte. Die UNO hat im Jahre 1961 nur die Empfehlung aus dem Vorjahr wiederholt. Italien hat das neue Mittel, die Neunzehner-Kommission, nun ständig dazu verwendet, um auf ihre Arbeiten zu verweisen und davor zu warnen, diese Arbeiten zu stören. Sie hat das schon gegenüber der UNO getan, sie hat das getan gegenüber dem Vorsitzenden Strye der Kommission des Europarates und hat das vor allem getan gegenüber Österreich, wenn es gemäß den Beschlüssen der UNO neuerlich auf bilaterale Verhandlungen drängte. Als dann schließlich diese Verhandlungen mit sehr großer Verspätung im Juli 1962 in Venedig zustande kamen, hat Italien neuerlich darauf hingewiesen, daß man eben die Ergebnisse der Beratungen der NeunzehnerKommission abwarten müsse. Von dem Treffen in Venedig wurde immer nur gesagt, daß es ein besseres Klima geschaffen habe. Italien hat jedenfalls erreicht, daß Südtirol nicht auf die Tagesordnung der XVII. UNO-Generalversammlung im Herbst 1962 kam. Der Herr Bundesminister hat dort in der Generaldebatte über Südtirol gesprochen, ebenso wie der italienische Vertreter, aber ein eigener Tagesordnungspunkt wurde Südtirol nicht mehr. Das ,bessere Klima' muß ich schon auch mit einigen Fragezeichen versehen. Gewiß, es wurde der Visumzwang aufgehoben, der für Österreicher eingeführt worden war, aber die Schwarzen Listen blieben nach wie vor. Welcher Art sie sind, möge man etwa daraus entnehmen, daß Frau Dr. Stadlmayr, eine der markantesten Vertreterinnen der Sache Südtirols von Anfang an - aber auch eine über jeden Verdacht illegaler Tätigkeit in Italien erhabene Vertreterin, immer noch auf dieser Schwarzen Liste erscheint, obwohl sich das Verfahren gegen sie, die längere Zeit inhaftiert war, als haltlos herausgestellt hat. Italien hat dann aber das ,bessere Klima' zu folgendem ausgenützt: Nachdem es sicher war, daß Südtirol nicht zu einem ausgesprochenen Streitpunkt vor der UNO werden würde, hat die Neunzehner-Kommission ihre Arbeit vom 16. Juni 1962 bis zum 11. Jänner 1963 eingestellt - buch-

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stäblich eingestellt, meine Damen und Herren - mit Ausnahme einer Sitzung im Oktober, auf der keine sachliche Arbeit geleistet wurde. Das gibt uns schon sehr zu denken. Man muß es nun dem Präsidenten Struye des Europarates danken, daß er doch wenigstens die Neunzehner-Kommission wieder in Schwung gebracht hat. Sie laborierte an inneritalienischen Widerständen. Sein Eingreifen war es wohl, das die Wiederaufnahme der Arbeit der NeunzehnerKommission nach dem 11. Jänner 1963 erzielte. Außerdem kam auch das in Venedig in Aussicht genommene Treffen der Außenminister im Herbst 1962 nicht zustande. Hinsichtlich 1963 müssen wir uns wieder an den Fall der PfundererBurschen zurückerinnern. Es hatte lange gedauert mit diesem Verfahren. Zuerst mußte mit Italien ein Streit über die Zuständigkeit ausgefochten werden, den Österreich gewonnen hat. Dann erst konnte die Menschenrechtskommission in der Sache selbst entscheiden. Sie hat im April 1963 den Bericht fertiggestellt. Im Oktober hat dann das Ministerkomitee die Beschwerde abgewiesen. Die Menschenrechtskommission hat aber einen Gnadenerweis empfohlen. diese Empfehlung hat sich das Ministerkomitee zwar nicht zu eigen gemacht, sie hat sie aber immerhin weitergeleitet. Daß hier eine gewisse Enttäuschung auf unserer Seite vorhanden ist, kann man nicht leugnen. Man hat also sehen müssen, daß ein solches Verfahren sehr langwierig ist, und man hat auch sehen müssen, daß Italien - soweit mir bekannt ist - im Laufe dieses Verfahrens verschiedene Male mit ganz massiven Mitteln eingegriffen hat. Wenn man die lange Dauer des Pfunderer-Prozesses betrachtet, also einer relativ sehr einfachen Angelegenheit, dann ist wohl die Frage sehr berechtigt, wie lange der Internationale Gerichtshof über die Südtirol-Frage judizieren hätte müssen, wenn sie dorthin gekommen wäre. So haben beispielsweise Liberia und Äthiopien die Südafrikanische Republik vor dem internationalen Gerichtshof wegen ihrer Tätigkeit als Mandatsmacht in Südwestafrika angeklagt. 1962 ist die Recevabilite, also die Zuständigkeit, anerkannt worden. Die Klage selbst lag noch weiter zurück. Eine Sachentscheidung erwartet man nicht vor 1965. Das Jahr 1963 hat uns dann noch den Karabinieri-Prozeß unseligen Angedenkens gebracht. Am 23. Oktober fand ein neuerliches Außenministertreffen in Genf statt, freilich mit einer in statu demissionis befindlichen italienischen Regierung, sodaß also bei diesem Treffen nicht viel erreicht werden konnte. Und dann begann noch - heute verstehe ich noch nicht, wieso - gerade vor Weihnachten der Mailänder Prozeß. Ich weiß nicht, warum man ihn gerade vor Weihnachten beginnen ließ. Das ist an sich eine ungünstige Zeit.

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Man mußte ihn dann auf ein oder zwei Wochen unterbrechen, was gerade bei einem Schwurgerichtsprozeß sehr ungünstig ist, weil ja die einzelnen Geschworenen den unmittelbaren Eindruck wieder verlieren. 1964 haben wir die Neunzehner-Kommission fast aus dem Auge verloren. Was tut sie denn eigentlich? Sie ringt seit September 1963 um die Endformulierung ihres Berichtes, und das ist nun schon eine sehr schlimme Sache. Soviel man gehört hat - ganz offizielle Ergebnisse liegen noch nicht vor, weil auch der Bericht noch nicht fertig ist -, ging es bei der Formulierung dieses Berichtes hauptsächlich um folgende Fragen: Der zuerst vorgelegte Bericht hatte nur die Mehrheitsbeschlüsse der Kommission erhalten. Und nun erinnern Sie sich, daß es von mir als Hauptfehler der Kommission bezeichnet wurde, daß sie nicht paritätisch zusammengesetzt ist. Die Mehrheitsbeschlüsse waren also, jedenfalls zu einem Teil, gegen den Willen der Südtiroler Abgeordneten gefaßt. Die Südtiroler verlangten nun, daß die von ihnen als Minderheit - sie haben in der Kommission immer als geschlossene Minderheit agiert - gestellten Anträge ebenfalls in den Bericht aufgenommen werden, damit man einen Eindruck bekomme, was von ihnen verlangt und ihnen nicht zugestanden wurde. Ich glaube, das ist ein sehr billiges Verlangen. Dem scheint man nunmehr endlich Rechnung tragen zu wollen, aber mit einem Zusatz, der die Sache wieder sehr verschlechtert: Es sollen nämlich jetzt alle Minderheitsanträge in den Bericht mithineinverarbeitet werden. Alle, also auch jene Ariträge, die irgendein beliebiger italienischer Abgeordneter dort gestellt h~t - es war beispielsweise ein Neofaschist in der Kommission - und die nicht einmal von seinen eigenen Landsleuten unterstützt wurden. Ich glaube, wir Parlamentarier wissen, wie ein solcher Bericht dadurch seines Wertes beraubt wird. Denn wenn alles hineinkommt, dann ist ein solcher Bericht für die Regierung wenig brauchbar, um einen Überblick zu gewinnen. Ich halte also diese Methode, wenn man wirklich dabei bleibt, für falsch. Was ist nun mit den sachlichen Ergebnissen der Beratungen der Neunzehner-Kommission? Man hat darüber ja auch verschiedenes, vor allem aus italienischen Quellen gehört. Danach scheint es so zu sein: Man ist sich darüber klar, daß die Kompetenzen der Provinz erweitert werden müssen, also das Statut geändert werden muß - was Italien am Anfang strikte ablehnte. Und das ist ein entschiedener Fortschritt. Aber Sie werden sich auch erinnern, was die Parole der Südtiroler· Volkspartei war; sie hat geheißen: Autonomie für Bozen allen -losgelöst von Trient! Davon scheint in dem Bericht der Neunzehner-Kommission nichts mehr enthalten zu sein, das heißt, die Region scheint aufrechtzubleiben. Was die Erweiterung der Kompetenzen betrifft, so scheinen auch sehr wichtige Kompetenzen, ja

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geradezu die Schlüsselstellungen für allfällige italienische ZuwanderungArbeitsamt, Industrie und so weiter - der Provinz von der italienischen Mehrheit nicht zugestanden worden zu sein. Wo Kompetenzen zugestanden wurden, scheinen sie außerordentlich verklausuliert zu sein. Ein Beispiel: Es soll in der Kommission - das haben italienische Quellen gebracht - eine Neuregelung für die Verteilung der öffentlichen Stellen und Ämter nach einem Bevölkerungsproporz vorgesehen sein; was für die Südtiroler sehr wichtig wäre. Das Nächstliegende wäre nun natürlich, daß man den Proporz nimmt, der in Südtirol, also an Ort und Stelle, besteht, also rund zwei Drittel zu einem Drittel. Nein, man nimmt nicht diesen Proporz, sondern man nimmt den Proporz der gesamten italienischen Staatsangestellten und öffentlichen Angestellten, also von ganz Italien, und legt fest, wieviel dann proporzional auf die Südtiroler in Südtirol entfällt. Warum diese Umständlichkeit? Ich weiß es nicht. Ich befürchte aber doch, gerade weil es so umständlich und undurchsichtig ist, dahinter irgend etwas nicht ganz Geheures. Das ist nur ein Beispiel; so ist es aber, glaube ich, an vielen Stellen. Meine persönliche Meinung ist, daß das Beratungsergebnis der Neunzehner-Kommission kaum ausreicht. Aber diese Meinung ist hier nicht maßgebend. Die Frage ist: Wie wird sich die Südtiroler Volkspartei zu den Ergebnissen stellen? Wie wird sich die italienische Regierung dazu stellen? Die Ergebnisse müssen ja auch noch vor das italienische Parlament - wenn man überhaupt so weit kommt. Minister Saragat hat sich nun vor kurzem in einem Interview über die Neunzehner-Kommission geäußert: ,Die Neunzehner-Kommission hat eine ausgezeichnete Arbeit geleistet, und wir können im allgemeinen die Vorschläge dieser Kommission in die Praxis umsetzen. Aber wir wünschen den gerechten Forderungen der deutschsprachigen Minderheit entgegenzukommen, ohne daß es dabei geschehe, daß nach Durchführung dieser Konzessionen weitere Forderungen gestellt werden, die über den Rahmen der internationalen Verpflichtungen, welche uns durch das De Gasperi-Gruber-Abkommen auferlegt sind, hinausgehen. Es würde uns bedeutende Schwierigkeiten bereiten, ehe die Erfahrung nicht bewiesen hat, daß die freizügigen Vorschläge der Kommission nicht ihrem Zweck entsprechen, die Ergebnisse einer mehr als zweijährigen Studienarbeit zu ignorieren und nicht diese, sondern die vorgefaßte Opposition einer Minderheit der Neunzehner-Kommission als bestimmend zu erachten.' Die Ausdrucksweise ist sehr umständlich, wie es häufig in solchen Fällen ist. Man kommt da nicht immer leicht mit. Aber beachten Sie einmal den Schluß: Es wäre nicht leicht, ,die Ergebnisse einer mehr als zweijährigen

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Studienarbeit zu ignorieren'! Das, was wir als einen gewissen Nachteil empfinden und was gewiß nicht notwendig gewesen wäre, daß nämlich die Kommission mehr als zwei Jahre gebraucht hat - das war nicht alles Arbeitszeit, da wurde viel Zeit versäumt -, das wird jetzt als Plus hervorgehoben. Und es heißt weiter: , ... und nicht diese, sondern die vorgefaßte Opposition einer Minderheit der Neunzehner-Kommission als bestimmend zu erachten.' Die ,Dolomiten' haben versucht, das so zu deuten, als ob Saragat mit dieser Bemerkung etwa auf italienische Gruppen in der Kommission hinwies. Ich glaube aber, da war nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Es kann fast nicht anders als auf die Südtiroler Minderheit gemünzt sein. Und da muß man wieder dazusagen, daß es von Anfang an unrichtig war, eine solche Kommission nicht paritätisch zusammenzustellen. Denn wenn man mit einer Minderheit verhandelt, darf man sie nicht von Anfang an wieder in die Minderheit setzen. Wir sehen also jetzt noch nicht klar; auch nicht die Haltung der italienischen Regierung. Man hat aber dabei das Gefühl, daß sie sich auf Vorschläge der Südtiroler, die niedergestimmt wurden, nicht einlassen will, daß sie aber auch über die Vorschläge der Neunzehner-Kommission nicht - unter keinen Umständen! - hinausgehen will. Wir wissen noch nicht, wie sich die Südtiroler Volkspartei dazu stellt. Wir wissen nicht, wann die italienische Regierung, sofern einmal der Bericht vorliegt - er wird uns von Monat zu Monat, ja von Woche zu Woche versprochen -, dazu Stellung nehmen wird und wann dann wieder Verhandlungen zwischen Österreich und Italien sein werden. Es bleibt Österreichs Aufgabe, das zu tun, was durch die Neunzehner-Kommission nicht besorgt werden kann: Zusammen mit Italien über die Durchführung des Pariser Abkommens zu verhandeln und womöglich eine Einigung zu erzielen. Es wird also die Zeit rascher vergehen, als wir glauben, und es wird die nächste UNO-Generalversammlung heranrücken. Seitdem die UNO den ersten Beschluß gefaßt hat - 1960 -, sind viele Jahre verstrichen. Ob damit die ,nützliche Frist', von der die Rede war, nicht auch überschritten wurde, bleibt dahingestellt. Aber ich glaube, man muß doch verstehen, daß unter solchen Umständen gerade einfachere Leute in Südtirol von einer großen Ungeduld gepackt worden sind und sich eben zu Gewalttaten haben hinreißen lassen, weil sie glaubten, daß auf dem rechtlichen, dem rechtmäßigen Weg nicht weiterzukommen sei. Die internationalen Instanzen, UNO und Europarat, müßten sich das auch sagen. Sie müßten sich auch bewußt sein, daß ihr sehr langsames, umständliches Reagieren für die Lösung solcher Fälle von Übel ist und seine Schattenseiten hat. Wenn man schon die großen Probleme ausklam-

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mern muß - etwa das Ost-West-Problem in der UNO oder das Problem Frankreich-England im Europarat -, dann sollte man doch wenigstens solche kleinere und lösbare Fragen energisch angehen. Nicht, daß ich damit den Europarat oder die UNO beschuldigen will. Nichts liegt mir ferner. Aber wenn Sie etwa die Neujahrsbotschaft des derzeitigen Vorsitzenden des Ministerkomitees des Europarates, des holländischen Außenministers, betrachten, so sehen Sie auch bei ihm alle Bedenken: ,Für die verantwortlichen Männer der europäischen Institutionen ist das Jahresende stets enttäuschen. Welche Ergebnisse auch immer erzielt werden, man hat das Gefühl, daß die erhofften Erfolge nicht vollständig sind.' Er drückt sich vorsichtig aus, aber man merkt deutlich seine innere Unbefriedigung. Wir müssen objektiv feststellen, daß gerade der Prüfstein der Frage Südtirol mitten in Europa nicht danach angetan ist, uns von der Tätigkeit dieser beiden Organisationen sehr zu überzeugen. Und doch: Gewalt löst die Probleme nicht, kann sie nicht lösen, das ist unsere feste Überzeugung. Das gilt freilich für beide Seiten. Es gilt für die, die sich gegen die Staatsgewalt empören, weil sie sie für ungerecht ansehen, es gilt aber auch für den Staat, der nur mit Gewalt unterdrücken will, statt Lösungen zu suchen und zu finden. So bleibt doch nur der Weg zu diesen internationalen Organisationen. Wir möchten nur hoffen, daß diese Einrichtungen alles tun, um die in sie gesetzten Erwartungen auch zu erfüllen. (Beifall bei der ÖVP und bei den Bundesräten der SPÖ)." Seit Österreich die Frage Südtirols vor die UN brachte, wurde auch dem Nationalrat laufend über die Verhandlungen vor den UN, aber auch über die sich aus den Resolutionen der UN zur Südtirolfrage ergebenden bilateralen Verhandlungen berichtet, sei es in Regierungserklärungen, sei es in Berichten des Außenministers. die sich daran anschließenden Debatten war sachlich und kaum emotionell geführt worden. In den Debatten wurden die aus der Entwicklung der Verhältnisse in Südtirol entstandenen Ereignisse erörtert (Gewaltanwendung, die Foltermethoden italienischer Sicherheitskräfte, die Drohung des Entzugs der Staatsbürgerschaft der seinerzeitigen Optanten, der Einsatz von Kräften des Bundesheeres im österreichischitalienischen Grenzgebiet); zu all dem gab es Bemerkungen von Abgeordneten, Fragen und Anfragen. Der letzte große Knoten, der parlamentarisch in der Südtirolfrage geknüpft wurde, und von dem aus neue Fäden gezogen wurden und werden, besteht aus Paket und Operationskalender. Paket und Operations kalender wurden in mühseligen Verhandlungen zwischen österreichischen und italienischen Experten, in Konsultationen der Parteienvertreter und der Südtiroler, erarbeitet. Wobei sich vor allem der außenpolitische Sprecher der FPÖ, Dr. Otto Scrinzi, darüber beschweren mußte, daß das Parlament als solches über den wahren Stand der

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Verhandlungen nicht informiert werde. In der Tat, die Experten hatten einen weitaus besseren Informationsstand als das Parlament. Bei der Erarbeitung des sogenannten Operationskalenders zeigte sich, daß Paket und Operationskalender auch parlamentarisch zu genehmigen seien. Das sind Schritte im Ablaufplan, bei denen dem Parlament zum zweitenmal seit 1945 eine entscheidene politik- legitimierende Funktion zukömmen sollte. Wer so wie ich die schwierigen Verhandlungen über Paket und Operationskalender in den Beratungsgremien der Tiroler Landesregierung und der Bundesregierung in fast allen Phasen mitgemacht hat, muß sagen, daß es für den nicht mit der Materie vertrauen Abgeordneten (und das war praktisch jeder!) ungemein schwierig sein mußte, den ganzen Mechanismus und den Inhalt der sogenannten Paketlösung zu überblicken. Der Tiroler Bundesrat Dr. Anton Brugger (vormaliger Direktor des Tiroler Bauernbundes) nutzte seine Antritts- und Abschiedsrede als Vorsitzender im Juli und im Dezember 1967 dazu, um sich ausführlich mit der Südtirolproblematik und den Arbeiten der Paket-Lösung zu beschäftigen. In der 257. Sitzung am 6. Juli 1967 sagte er u. a.: "In dieser Stunde, verehrte Damen und Herren, könnte es wohl nicht anders sein: als Tiroler denke ich mit Ihnen allen an Südtirol. Zum besseren Verständnis der folgenden kurzen Ausführungen darf ich vorwegnehmen: Ich bin kein Fanatiker; ich lehne scharfe Formulierungen und scharfe Aktionen, im besonderen Gewaltmaßnahmen, die auch auf die Sicherheit des menschlichen Lebens keine Rücksicht mehr nehmen, grundsätzlich ab. Ich weiß, daß man in der Frage Südtirol sehr bald einmal vor die Alternative gestellt ist, entweder ein Held oder ein Verräter zu sein. Ich lehne auch diese Alternative ab, genauso wie ich die Parole ,entweder alles oder nichts' ablehne. Ich war immer gegen das viele Reden und Schreiben zu diesem delikaten Problem. Die stillschweigende und unentwegte konsequente Arbeit war bisher und ist weiterhin das entscheidende. Das war immer schon die Auffassung eines Gschnitzer, eines Landeshauptmannes Grauss und Tschiggfrey und ist die Auffassung des Landeshauptmannes Wallnöfer, der ein gebürtiger Südtiroler ist. Ich gehöre jedenfalls zu den Menschen, die das Gruber-De-GasperiAbkommen vom 5. September 1946 absolut respektieren. Man muß nämlich wissen, daß Österreich um die damalige Zeit staatsrechtlich noch gar nicht existent war und daß man damals in Österreich mit der Sorge um die primitivsten Lebensmittel, mit der Sorge um die Überwindung des Hungers in erster Linie zu tun hatte. Es ist bedauerlich, daß Italien diesen an sich kurzen und klaren Vertrag, das Pariser Abkommen, nicht besser einzuhalten gedachte.

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Ich schätze sehr wohl die Bemühungen der im September' 1961 von der italienischen Regierung eingesetzten sogenannten Neunzehner-Kommission und deren Ergebnis. Es ist aber bedauerlich, daß Italien, wiewohl es sich, um eine gemischte Kommission handelte, die Ergebnisse einer beinahe dreijährigen Arbeit nicht besser zu honorieren vermochte. Ich schätze die jahrelangen Bemühungen, insbesondere der gemischten Expertenkommission, die schließlich in diesem Jahr das sogenannte ,Paket' zum Ergebnis hatten. Wir bedauern abermals die Einstellung Italiens. Das Paket ist doch nichts anderes als eine Konkretisierung des Pariser Abkommens, das an sich ein Rahmenvertrag war. Das Paket ist keine Dreingabe zum Pariser Vertrag. Gerade weil das Pariser Abkommen von den Italienern so mangelhaft erfüllt wurde, war die Erläuterung und Konkretisierung in Form des Paketes notwendig, und ohne entsprechende Verankerung dieses Paketes laufen wir nach den bisherigen Erfahrungen Gefahr, daß uns das bisher für Südtirol Erreichte abermals davonschwimmt. Es darf uns mit Zuversicht erfüllen, daß die Grundeinstellung zu den bisherigen Verhandlungsergebnissen, also zum Inhalt und zur Absicherung des Paketes, in führenden Kreisen der österreichischen Außenpolitik so gut wie identisch ist. Bundeskanzler Dr. Klaus und Außenminister Dr. Toncic haben von Anfang an erklärt, daß ein Abschluß der Verhandlungen, also ein Ja zum verankerten Paket, nur mit Zustimmung der Südtiroler denkbar sei, und der ehemalige Außenminister Dr. Kreisky, der sich um die Frage Südtirols unbestreitbare Verdienste erworben hat, hat zum vorliegenden Paket ebenfalls am 27. Mai 1967 in der Forumsdiskussion in der Tiroler Arbeiterkammer in Innsbruck erklärt, alle Schritte seien in engstem Einvernehmen mit Tirol und Südtirol erfolgt. Er selbst stimme jedem ,Paket' zu, das auch die Zustimmung der gewählten Vertreter der Südtiroler finde. Umso bedauerlicher ist es, daß sich der italienische Ministerpräsident Moro, dessen guter Wille nicht bezweifelt werden darf, gegenüber dem italienischen Außenminister Fanfani bisher nicht durchzusetzen vermochte, wie es ebenso bedauerlich ist, daß die seinerzeitige Zustimmung zu einer Vereinbarung zwischen Kreisky und Saragat über die Absicherung des Paketes von Italien im Sommer 1965 zurückgezogen wurde. Mit Fanatismus und Gewaltaktionen von welcher Seite immer wird das Problem nicht zu lösen sein. Zur Lösung des Problems ist das sachliche Weiterverhandeln und gegenseitige Vertrauen notwendig, und vor allem notwendig ist eine einheitliche Haltung in Südtirol, in Tirol, in Österreich!" Und in der 260. Sitzung des Bundesrates am 20. Dezember 1967 nahm

Dr. Anton Brugger wie folgt Stellung:

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"Nach wie vor ist das Paket und seine taugliche Verankerung der Kernpunkt des Problems Südtirol, die Handhabe zur Anwendung und Durchführung des Pariser Vertrages. Das Paket enthält nach Ansicht des Südtiroler Landeshauptmannes Dr. Magnago auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Sprache, des sozialen Wohnbaues und des Wahlrechtes annehmbare Zugeständnisse. Im Bereiche der Schule, der Kultur, der Arbeitsämter und des Meldewesens, der Verwaltung, der Polizei und des völkischen Proporzes handelt es sich um Kompromisse. Negativ sei das Paket in der Frage der Verantwortung für die öffentliche Ordnung. Ohne taugliche Verankerung, das heißt ohne die Garantie der legislativen und verwaltungsmäßigen Durchführung der im Paket enthaltenen Vereinbarungen, ist die Lösung des Problems nicht zu erwarten. Der Verankerung - ob in politischer oder juridischer oder noch besser in politischer und juridischer Form - ist jedenfalls ein wesentlicher Bestandteil des Pakets. Zum Paket an sich steht - wie Sie wissen - der italienische Ministerpräsident Moro und - zumindest mehrheitlich seine Regierung. Das Paket ist das Werk zahlreicher Unterredungen und Verhandlungen zwischen Moro und Magnago, vorbereitet durch die bekannte NeunzehnerKommission Rossis, durch viele Verhandlungen der gemischten Expertenkommission wie auch einseitiger Unterredungen zwischen Vertretern unseres Außenamtes mit der Tiroler Landesregierung und gewählten Vertretern Südtirols. Wir müssen darauf bestehen, daß nur ein tauglich verankertes Paket, von der italienischen Regierung zugestanden, dem italienischen Parlament zur Genehmigung vorgelegt wird. Dann erst kann dieses verankerte Paket sofern es von der Volksvertretung Südtirols als annehmbar erkannt wird - unserer Bundesregierung und unserem Parlamente zur offiziellen Behandlung zugewiesen werden. Eine schwierige Prozedur. Diese an sich schwierige Situation wird noch verschärft durch die besondere Stimmung in Italien, ausgelöst durch die voraussichtlich im Mai zu erwartenden Parlamentswahlen. Für uns ergibt sich nun die verantwortungsschwere Alternative: Sollen wir unter Zeitdruck weiterverhandeln und in etwa zwei Monaten das annehmen, was uns Italien für Südtirol im Paket und an Verankerung bietet - auch wenn es nicht ganz den Vorstellungen Südtirols und damit Österreichs entspricht? - oder aber: Sollen wir bei dieser verantwortungsschweren Entscheidungen den Faktor ,Zeit' groß schreiben und das Risiko des Ausganges der italienischen Parlamentswahlen, die daraus sich ergebende Zusammensetzung der neuen italienischen Regierung und insbesondere der Führung dieser Regierung auf uns nehmen?

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Rom ist zudem nach wie vor bemüht, die von der UNO bestimmte Verhandlungspartnerschaft Italien-Österreich in eine Verhandlungspartnerschaft Italien-Südtirol umzuwandeln, und spart hiefür nicht an verlokkenden Versprechungen. Für uns ist das Problem Südtirol von einer Nur-Herzensangelegenheit längst zu einer sehr realen und nüchternen Verstandesangelegenheit geworden, in der kluge und konsequente Verhandlungstaktik eine immer größere Rolle zu spielen hat. Dabei verdient die jüngste Erklärung des Tiroler Landeshauptmannes Wallnöfer im Tiroler Landtag sicherlich allgemeine Beachtung und Anerkennung. Er sagt nämlich: ,Eine Partei allein kann das Südtirolproblem nicht lösen; wir sind es dem Volk von Tirol schuldig, eine Lösung außerhalb des Parteienzwistes zu finden!' Wir wollen hoffen und wünschen, daß sich der italienische Ministerpräsident Moro hält und durchsetzt und daß der Südtiroler Landeshauptmann Dr. Magnago die äußerst schwierige Lage psychisch durchsteht. Damit wird nur dann zu rechnen sein, wenn das Südtiroler Volk einig ist." Nachdem die Landesversammlung der SVP, das italienische Parlament, die Außenminister beider Staaten und der Tiroler Landtag sich mit den Fragen, vor allem den Materialien (die keineswegs eindeutig waren) befaßt hatten, wurden den Abgeordneten diese Materialien (nach einer Version, die nicht unbedingt der italienischen Lesart entsprochen hatte - heute ist dieser Defekt nicht mehr relevant) in einer grün gebundenen Broschüre übermittelt. Die Debatte des Nationalrats war für die 168. Sitzung des Nationalrats vorgesehen gewesen; sie fand am 15. und 16. Dezember 1969 statt. Sie wurde mit einer Erklärung des Bundeskanzlers eingeleitet, 130 die eine Übersicht über die Entwicklung der Verhandlungen und das Ergebnis der Verhandlungen bot. In dieser Erklärung ist sozusagen die authentische Südtirolpolitik Österreichs zusammengefaßt, und es wurde nach der (gescheiterten) Selbstbestimmungspolitik der Jahre 1945/46, zu der das Parlament legitimiert hatte, nach der gescheiterten vollen Erfüllung des Pariser Abkommens, die zu erreichen der Nationalrat die Regierung einstimmig aufgefordert hat, ein bedeutender neuer Schritt in der Südtirolpolitik Österreichs gelegt. Auch dieser Schritt mußte legitimiert werden. Ob das Paket formell durch den Nationalrat legitimiert wurde, wird eine Auslegungsfrage sein, da keiner der Entschließungsanträge diese Frage stellte, ihre Klarstellung vielmehr voraussetzt. 131 In den Debattenbeiträgen klang aber - zumindest auch bei der SPÖ - die Zustimmung zum Paketinhalt Siehe 168 Sitzung des NR, Steno Prot. NR, XI. GP, S. 14422 ff. Siehe die Texte der beiden Entschließungsanträge (168. Sitzung), Abg. Dr. Kreisky, S. 14427, Abg. Dr. Fiedler, S. 14432. 130 131

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an. Hier hatten die Südtiroler das entscheidende Wort gesprochen. Der sogenannte Operationskalender hingegen wurde von der damals oppositionellen SPÖ und FPÖ abgelehnt und nur mit den Stimmen der Abgeordneten der damaligen Regierungspartei, der ÖVP, angenommen. Der Grund für die Ablehnung des Operationskalenders wurde vor allem vom damaligen Oppositionsführer Dr. Bruno Kreisky darin gesehen, daß er die im Vereinbarungsentwurf von Bruno Kreisky (damals Außenminister) und Giuseppe Saragat (damals italienischer Außenminister) vorgesehene Schiedsgerichtsbarkeit nicht realisieren konnte, und es nach dem Operationskalender unklar sei, ob der in di€sem integrierte sogenannte IGH-Vertrag auch für zukünftige Streitigkeiten aus dem Paket anwendbar seL132 Die Debatte der Abgeordneten war vom Volkstumspolitischen her gesehen eher enttäuschend. Die Abgeordneten der beiden Großparteien trugen in erster Linie vorwahlkämpferische parteipolitische Fehden aus. Tiroler SP- und VPAbgeordnete blieben sich an parteipolitischen Schlägen nichts schuldig. Die Erklärungen des Bundeskanzlers und des Außenministers Dr. Kurt Waldheim 133 lassen eine außenpolitische Linie erkennen, die aber ihrerseits, gemessen an dem, was über Südtirol zu Beginn des Parlamentarismus der zweiten Republik erklärt wurde, ganz sichtbar macht, welche Trendumkehr die österreichische Südtirolpolitik genommen hatte. Manch völkerrechtlich Relevantes wurde gesagt, was aus politisch-taktischen Gründen besser nicht gesagt worden wäre. Dr. Bruno Kreisky setzte sich mit der Selbstbestimmungsfrage auseinander. 134 Dr. Otto Scrinzi beleuchtete die Infrastruktur österreichischer Südtirolpolitik; daß er damit auf Seiten der VP keine Begeisterung auslösen konnte, liegt auf der Hand. Die laut Operationskalender vorgesehene Legitimation für Paket und Operationskalender schnürte den bisher letzten Knoten österreichischer Südtirolpolitik, an dem der Nationalrat entscheidend mitwirkte.

Seit 1970 berichten die österreichischen Außenminister geradezu routinemäßig über die sogenannte Paketdurchführung: Die parlamentarischen Debatten über diesen Gegenstand haben nichts Neues eingebracht. Auch Fragen und Anfragen der Nationalratsabgeordneten dienten nicht mehr als 132 Es handelt sich um Punkt 1 des sogenannten "Operationskalenders" , es ist dies ein Vertrag zur Abänderung des Art. 27 lit. a des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten v. 13. Dezember 1957, BGBL Nr. 42 / 1960: "Die SPÖ betrachtet daher nur eine Lösung für akzeptabel, die eine brauchbare internationale Absicherung und Verankerung der abermals von italienischer Seite gemachten Zugeständnisse vorsieht. Eine solche wäre, die Durchführung des Paketes dem Verfahren nach der Europäischen Streitschlichtungskonvention zu unterwerfen." 133 Siehe Steno Prot. NR, XI. GP, S. 14442, 14475, 14506. 134 Kreisky, a. a. 0., S. 14425.

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dem Sichtbarmachen parlamentarischen Interesses an der Frage. Die Paketdurchführung kreiste immer noch im Schoße der Südtiroler Politiker. Der Bundesrat nahm die außenpolitischen Berichte der Bundesregierung fast Jahr für Jahr zum Anlaß, um eine Debatte zur Südtirol-Frage abzuführen: so führte Bundesrat Dr. Martin Strimitzer beispielsweise in der 463. Sitzung am 20. Juni 1985 zur Südtirol-Frage aus: "Wie stark das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Tiroler auch noch 65 Jahre nach der politischen Zerreißung des Landes ist, das hat ja in beeindruckender Weise der Festumzug aus Anlaß des 175-Jahr-Jubiläums von 1809 in Innsbruck gezeigt. Hier haben die Tiroler, so meine ich sagen zu dürfen, auf sehr sinnfällige Art und Weise vor der ganzen Welt bekundet, daß die volkstumsmäßigen Bande zwischen den Tirolern fest wie eh und je geknüpft sind. Herr Bundesminister! Gestatten Sie mir in teilweiser Berichtigung der Aussagen des Außenpolitischen Berichtes sagen zu dürfen: Nicht der Landesfestzug hat zur vorübergehenden Verschlechterung des politischen Klimas in Südtirol geführt, nicht der Landesfestzug hat die restlichen Schritte zur Durchführung des Paketes gehemmt, sondern seine Kommentierung durch eine bewußt provokatorische, den Tirolern übelwollende Berichterstattung, italienischer Journalisten ist es gewesen, welche diese Auswirkungen nach sich gezogen hat. Wir haben diese Auswirkungen nicht gewollt. Ich erinnere daran, daß sowohl der Herr Bundespräsident als auch der Herr Landeshauptmann Wallnöfer betont haben, daß sich die Manifestation der geistigen und kulturellen Einheit Tirols gegen niemanden richte, sondern lediglich dokumentieren hätte sollen, daß diese geistige und kulturelle Einheit für alle Zeiten eine Herzensangelegenheit der Bewohner des Landes im Gebirge bleiben wird. (Beifall der ÖVP.)" Und zur gleichen Tagesordnung meinte Dr. Martin Strimitzer am 27. Mai 1987 (in der 487. Sitzung des Bundesrates): "Auf Grund von Paragraphen, meine Damen und Herren, die 40 Jahre nach Zertrümmerung des Faschismus im Sinne des faschistischen Strafgesetzes angewendet werden - es sind das vor allem die Paragraphen, welche Sanktionen betreffend Anschläge auf die Einheit des Staates oder die Verunglimpfung der italienischen Tricolore beinhalten; in Italien unter den Begriff der ,vilipendio alla bandiera' bekannt -, werden Verfahren eingeleitet, welche jedem vernünftigen Rechtsempfinden Hohn sprechen. Auf der anderen Seite bleiben die ungelösten wichtigen Fragen, ohne welche eine echte Autonomie nicht bestehen kann, ungelöst: die Frage der Aufteilung der Finanzmassen zwischen den Zentralstellen und der Provinz, die Sprachregelung vor Gericht und Polizei, die sogenannte Toponomastik, das heißt die Flurbezeichnung, und dergleichen.

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Eine beschämende Sache ist auch das Hickhack in der Frage des ethnischen Proporzes bei der italienischen Eisenbahn, wo sich bekanntlich 40 Prozent aller vom ethnischen Proporz in Südtirol erfaßten Staatsstellen befinden." Es sei hervorgehoben, daß die österreichische Bundesregierung in der XVI. GP zum viertenmal einen Schritt zum Ablauf des Operationskalenders gesetzt hat: sie unterbreitete dem Nationalrat eine Regierungsvorlage, mit der der zwischen Italien und Österreich ausgehandelte und signierte IGHVertrag dem Parlament zur Genehmigung vorgelegt wurde. 135 In der XVII. GP hat der Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten den IGH- Vertrag in Verhandlung genommen. Es wurde zur Beratung dieses Vertrages ein Unterausschuß eingesetzt. Dem Unterausschuß wurde zu gleicher Zeit ein Entschließungsantrag freiheitlicher Abgeordneter (der Dillersberger-Antrag) unterbreitet, der sich mit einer deutlicheren Gangart der Regierung in Sachen Südtirol beschäftigt und vor allem auf das Verhältnis von Pariser Abkommen und Südtiroler Selbstbestimmungsrecht verwies. 136 Der Unterausschuß ist zu einem Zeitpunkt eingesetzt worden, wo auch in Italien die Südtirolpolitik in Bewegung geraten ist. Die Politiker in Italien - sowohl die Südtiroler als auch die Italiener - haben erkennen lassen, daß sie sich in der Sprachenfrage einigen wollen. 137 Diese Einigung, die sich in einer Durchführungsbestimmung niederschlagen sollte, beschleunigt den Genehmigungsprozeß des IGH-Vertrages auf österreichischparlamentarischer Seite. 138 Deutlich wird hervorgehoben, daß - wie immer aus politischen Gründen - der Nationalrat die Genehmigung der Ratifikation des IGH-Vertrages nur aussprechen kann, wenn in der Sprachenfrage greifbare Fortschritte erzielt werden. Es ist beachtenswert, daß - bis heute - die vier in der XVIII. GP im Parlament vertretenen politischen Parteien eine gemeinsame parlamentarische Südtirolpolitik betrieben haben. Der IGH-Vertrag wurde genehmigt. Sehr ausführlich hatte sich auch der Bundesrat mit diesem Vertrag beschäftigt; in der 504. Sitzung vom 30. Juni 1988 meinte etwa das Tiroler Mitglied der Länderkammer Dr. Martin Strimitzer dazu:

"Sie alle, meine sehr geehrten Damen und Herren, wissen so gut wie ich, daß der sogenannte IGH-Vertrag, den der Nationalrat am 9. Juni 1988 genehmigt hat, mit zu den sensibelsten Materien zählt, mit denen sich die gesetzgebenden Organe dieser Republik zu beschäftigen haben.

135 136 137 138

Siehe 103 dB. Steno Prot. NR. XVI. GP. II-626 dB. Steno Prot. NR, XVII. GP. S. Briefe aus ST, 1/1 V. 18.1.1988. 245 dB. Steno Prot. NR, XVII. GP.

40 Parlamentarismus

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Das geht nicht nur daraus hervor, daß der Vertrag, dessen Unterzeichnung durch die zuständigen Außenminister beider Vertragsstaaten schon 1971 erfolgt ist, die Genehmigung durch den Nationalrat, über deren Beeinspruchung oder Nichtbeeinspruchung nun der Bundesrat zu befinden hat, erst 17 Jahre später, also 17 Jahre nach der Unterzeichnung, erfahren hat. Es ist also zunächst einmal wohl keine Frage, daß sich die österreichische Volksvertretung die Sache ganz offensichtlich nicht leicht gemacht, sondern sie wahrhaftig gründlich und lange genug überlegt hat. Der Berichterstatter hat ja im wesentlichen ausgeführt, worum es geht. Im Gefolge der von Österreich bei den Vereinten Nationen anhängig gemachten Südtirol-Frage ist es 1969 unter der Regierung Klaus aufgrund ich möchte das hier mit besonderer Befriedigung und mit besonderem Dank feststellen - besonderen diplomatischen Geschicks des damaligen Außenministers und heutigen Bundespräsidenten Waldheim zum Abschluß des sogenannten Paketes gekommen, das nicht weniger als 137 Punkte zur Durchführung von Autonomiemaßnahmen für Südtirol enthält. Dieses Paket ist gewissermaßen durch einen sogenannten Operationskalender von 18 Punkten gestützt worden, der die zeitliche Abfolge der Paketlösung zunächst sogar bis 1974 bereits vorgesehen hat. Und an dem endgültigen Ende dieses Operationskalenders sollte die sogenannte Streitbeilegungserklärung stehen, mit der Österreich kundzutun hätte, daß es den seinerzeit vor die Vereinten Nationen gebrachten Streit mit Italien über Südtirol als beendet betrachte. In Punkt 9 dieses Operationskalenders ist auch die Ratifizierung des IGH-Vertrages vorgesehen gewesen, ein Punkt, der - und das soll gar nicht verschwiegen werden - von Italien inzwischen längst erfüllt worden ist. Dieser Punkt 9 aber, meine Damen und Herren, hat - und das muß man sich, glaube ich, klar vor Augen halten, damit keine Mißverständnisse aufkommen können - nichts mit der Streitbeilegungserklärung zu tun, welche, wie gesagt, am unteren Ende genau in Punkt 13 des Operationskalenders zu finden ist. Warum also, meine Damen" und Herren, hat Österreich bisher und so lange gezögert, diesen IGH-Vertrag, der jedenfalls und von keiner Seite bestritten behauptete Verletzungen des Pariser Vertrages von 1946 durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausjudizieren lassen kann, zu genehmigen? Warum hat Österreich so lange gezögert, diesen Vertrag durch den Nationalrat genehmigen zu lassen, wobei - und ich möchte auch das hier sehr deutlich unterstreichen, um auch in diesem Punkte kein Mißverständnis aufkommen zu lassen - Genehmigung noch immer nicht Ratifikation bedeutet, die bekanntlich erst durch den Bundespräsidenten erfolgen kann?

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Also warum hat Österreich so lange gezögert? Zunächst einmal ist Faktum, meine sehr geschätzten Damen und Herren, daß auch der Zeitplan bei der Verwirklichung des Operationskalenders italienischerseits bei weitem nicht eingehalten worden ist, wobei von österreichischer Seite durchaus angemerkt werden kann, daß diese Verzögerung für die betroffene Südtiroler Bevölkerung, deren Schutzmacht - und das hat nicht einmal der seinerzeitige sozialistische italienische Ministerpräsident Craxi in Abrede gestellt - Österreich war, ist und bleiben wird, nicht nur Nachteile gebracht haben. Aber nun ist man offensichtlich, meine Damen und Herren, auf dem Wege zum Paketabschluß. Und man ist daher von Südtiroler Seite selbst - und ich bitte, das sehr aufmerksam zu registrieren -, jedenfalls von der durch Landeshauptmann Magnago repräsentierten überwältigenden Mehrheit der Südtiroler an Österreich mit dem Ersuchen herangetreten, seinerseits einen Akt der Entkrampfung des Problems zu leisten. Und diesem Wunsch, der voll im Einklang steht mit dem Operationskalender, meine Damen und Herren, hat sich Österreich nicht verschließen können. Österreich hat sich diesem Wunsch aber auch nicht verschließen wollen! Es ist aus eigenem bereit gewesen, einen Akt des guten Willens zu setzen, weil sich zwischenzeitlich nach unserer Auffassung doch einige Prämissen grundlegend geändert haben. Warum soll man es leugnen, meine Damen und Herren? Ein anderer, der zweite Grund für das Zögern Österreichs, den vorliegenden IGH-Vertrag parlamentarisch zu genehmigen, hat darin bestanden, daß Italien bisher und ich füge hinzu: das tut es bedauerlicherweise immer noch - den Standpunkt vertreten hat, Paketinhalt und Paketdurchführung seien ausschließlich inneritalienische Angelegenheit. Demgegenüber ist es aber selbstverständlich legitimes Interesse Österreichs und der Südtiroler, nicht nur allfällige Streitigkeiten aus dem Pariser Abkommen selbst, sondern auch solche aus d~m Paket vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen zu können. Und in diesem Punkte ist nun ungeachtet der italienischen Auffassung doch eine sehr beachtenswerte Änderung der völkerrechtlichen Lage zugunsten Österreichs eingetreten. So kommt insbesondere in der in Wien abgeschlossenen internationalen ,Konvention über das Recht der Verträge' sehr klar zum Ausdruck, daß in der Interpretation, also in der Auslegung internationaler Verträge, auch alle darüber hinausreichende Praxis zur Anwendung kommen müsse. Ebenso müsse alle darüber hinausreichende Übung aufgrund dieser Konventionen bei der Auslegung internationaler Verträge berücksichtigt werden. Völkerrechtsexperten sowohl des österreichischen Außenministeriums als auch der Universität Innsbruck etwa haben diese österreichische These 40'

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wenn ich mich so ausdrücken darf - von der Bilateralität nicht nur des Pariser Vertrages, sondern auch und eben auch des Paketes, also der Evaluierung des Pariser Vertrages auf alle Bereiche, die mit ihm im Zusammenhang stehen, ausdrücklich unterstützt und bestätigt, eine These, die im Nationalrat - wie Sie wahrscheinlich wissen werden - in einem von ÖVP, SPÖ und Grünen gemeinsam eingebrachten Entschließungsantrag zusätzlich untermauert wird." In diesem Zusammenhang sei hervorgehoben, daß der damalige Vizekanzler Außenminister Dr. Alais Mack ausdrücklich den Bundesrat neben dem Nationalrat als Ansprechpartner für eine entsprechende Erklärung vor Abgabe der Streitbeilegungserklärung bezeichnet hat. Dr. Alais Mack führte in der vorerwähnten Sitzung des Bundesrates wörtlich aus: "Es ist für mich sehr wichtig, auch wenn es rein formrechtlich nicht notwendig wäre, daß ich bei der Erfüllung des Pakets und vor Abgabe der Streitbeilegungserklärung eine entsprechende Erklärung sowohl vor dem Nationalrat als auch vor dem Bundesrat abgebe, um den Mitgliedern dieser beiden Häuser eine entsprechende Debatte, politische Willensllildung und Äußerung dazu zu ermöglichen." In der XVIII. GP (1990 -1994) hat das Ministerium Mock einen entscheidenden Schritt zur Verwirklichung des Operationskalenders setzen können. Der Operationskalender sieht nämlich vor, daß die österreichische Schlußerklärung über den Abschluß der Paketdurchführung innerhalb von 50 Tagen nach Erlassung der letzten Durchführungsbestimmungen abzugeben ist. Das italienische Außenministerium hat den Abschluß der Paketdurchführung mit seiner Note vom 22. April 1992 bekanntgegeben und die Liste der Durchführungsakte zu den Paketmaßnahmen übermittelt. Das Ministerium Mock hat im Sinne demokratischen Verständnisses, ohne durch den Operationskalender verpflichtet zu sein, den Nationalrat mit dieser italienischen Erklärung und der österreichischen Antwort auf die italienische Note vom 22. April befaßt. 139 Im zuständigen Außenpolitischen Ausschuß wurde zur Behandlung des Fragenkomplexes ein Unterausschuß eingerichtet, der die außenpolitischen Dokumente beraten hatte. Am 26. Mai 1992 hat dieser Unterausschuß eine Anhörung vorgenommen, zu der alle im Südtiroler Landtag vertretenen demokratischen Parteien eingeladen worden sind. Ihre Vertreter haben von den Parlamentariern und den Experten der politischen Parteien Österreichs ihren Standpunkt über die Qualität des Paketes klargelegt. Man kann es als Novum im europäischen parlamentarischen Leben bezeichnen, daß in einem Volksgruppenproblem auch Politiker fremder 139 Siehe dazu den Text in BMfAA (Hrsg.), Österreichische außenpolitische Dokumentation, Sonderdruck, Südtirol - Dokumentation, o. D. (aber 1992), Dokument 19, Italienische Note vom 22. April 1992.

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Staaten an den parlamentarischen Beratungen eines Staates, der eine Schutzfunktion über eine Minderheit ausübt, teilnehmen. Dem Bericht des Außenpolitischen Ausschusses 140 ist ein Entschließungsantrag der SPÖ, ÖVP und Grünen angeschlossen, der dem Plenum des Nationalrates vorgelegt worden ist. Er befaßt sich mit dem Rahmen der Streitbeilegungserklärung. Das Plenum des Nationalrates hat sich in seiner 72. Sitzung vom 5. Juni 1992 mit diesem Bericht des Außenpolitischen Ausschusses und dem Bericht des Außenministers Dr. Alois Mock an den Nationalrat zur Südtirolfrage befaßt. 141 In der Debatte haben neben dem Bundeskanzler und dem Außenminister 22 Abgeordnete das Wort ergriffen. 142 Aus dem Stenographischen Protokoll ist erkennbar, daß die Vertreter der FPÖ sich gegen den Entschließungsantrag der Koalitionsparteien und der Grünen und gegen den sogenannten Paketabschluß ausgesprochen haben. 143 Die Vertreter der Regierungsparteien und der Grünen haben auf die positive Bedeutung des Paketabschlusses verwiesen, die historische Entwicklung des dornigen Problems behandelt. Der Bundeskanzler hat die Stellungnahme der Bundesregierung vor dem Nationalrat in den folgenden vier Punkten zusammengefaßt: "Erstens: Wir sind nach eingehender Überprüfung aller Maßnahmen, die von der italienischen Regien,mg getroffen wurden, zu der Überzeugung gelangt, daß die im Paket vereinbarten Maßnahmen in ihrer Gesamtheit gesehen tatsächlich erfüllt wurden und daß daher der Zeitpunkt für die formelle Streitbeilegung gekommen ist. Zweitens: Die Möglichkeit, bei ernstzunehmenden Verletzungen der Südtiroler Autonomie den Internationalen Gerichtshof anzurufen, besteht. Drittens: Die Verantwortung Österreichs für das weitere Schicksal der Südtiroler Nachbarn, die wir im Bewußtsein unserer geschichtlichen und menschlichen Verbundenheit gerne übernommen haben, bleibt selbstverständlich auch in der Zukunft bestehen. (Beifall bei SPÖ und ÖVP). Viertens - das ist gewiß der wichtigste Punkt -: Die Südtiroler selbst haben sich in einer demokratischen Entscheidung mit überwältigender Mehrheit dafür ausgesprochen, das Paket als erfüllt zu betrachten und damit auch auf internationaler Ebene das Südtirol-Problem zu einem formellen Abschluß zu bringen." Außenminister Dr. Alois Mock ist näher in die Entwicklung der Paketlösung eingegangen. Er betonte die Schutzmachtstellung Österreichs gegenüber Südtirol, verweist auf die regionalistischen Aspekte des Südtirolproblems und stellt u. a. fest: "Es ist unabdingbar, daß die straf- und zivil542 dB. Steno Prot. NR, XVIII. GP. Der Bericht des Außenministers findet sich im Dokument III -77 dB. Steno Prot. NR, XVIII. GP. Die Debatte ist in den Steno Prot. NR, 72. Sitzung V. 5.6.1992, S. 7892 ff. zu finden. 142 Ebenda 143 Ebenda, S. 7894. 140 141

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rechtlichen Verfolgungshandlungen gegen Südtirol-Aktivisten ein Ende finden und die ,Schwarzen Listen' abgeschafft werden." 144 Die Vertreter der opponierenden FPÖ haben hervorgehoben, daß die vorliegende Paketlösung wegen der in diese inkorporierten Aufsichts- und Koordinierungsbefugnis (AKB) der italienischen Regierung, die von Österreich geradezu widerspruchslos gutgeheißen worden ist, große Hypothek für die weitere Entwicklung der Autonomie darstelle und daß die sogenannte internationale Absicherung des Paketes vor dem IGH faktisch nicht gewährleistet sei. Die FPÖ hat sich gegen die Abgabe der sogenannten Streitbeilegungserklärung vor den Vereinten Nationen ausgesprochen. Die FPÖ hat drei Entschließungsanträge eingebracht. Einer hat sich auf die "schwarzen Listen" bezogen, 145 ein zweiter auf die Abgabe einer Rechtsverwahrung bezüglich die Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis 146 und einer forderte die Rückgängigmachung dieser Befugnis. 147 Alle drei freiheitlichen Entschließungsanträge sind mit Stimmenmehrheit abgelehnt worden. 148 Der Entschließungsantrag der Koalitionsparteien und Grünen hat in namentlicher Abstimmung die Mehrheit gefunden. 149 Einige Tage später, am 10. Juni 1992 in der 554. Sitzung, hat sich der Bundesrat mit der Frage der Streitbeilegungserklärung beschäftigt. 150 Die Debatte ist von Außenminister Dr. Alois Mock eingeleitet worden, der eine Erklärung abgegeben hat. Ihm folgte der Landeshauptmann von Tirol, Dr. Alois Partl, der über die Abtrennung des Südtiroler Landesteiles im Jahre 1919 gesprochen hat und regionalistische Aspekte anklingen ließ.151 Im Bundesrat hat es zehn diesbezügliche Debattenredner gegeben. Die Positionen der Parteienvertreter im Bundesrat (SPÖ, ÖVP und FPÖ) unterschieden sich nicht wesentlich von der Haltung der Nationalratskollegen. Der Vizepräsident des Bundesrates, Univ. Prof. Dr. Herbert Schambeck, hat viel persönliche Erfahrungselemente der Nachbarschaftspolitik in die Debatte eingebracht, die letztlich ein versöhnendes Element ausgewiesen haben. Im Bundesrat ist kein Entschließungsantrag zur Abstimmung vorgelegt worden.

144 145 146 147 148 149 150

Ebenda, S. 7808/7809. Ebenda, S. 7841. Ebenda, S. 7853. Ebenda, S. 7822. Ebenda, S. 7856. Ebenda, S. 7854 ff. Stenographisches Protokoll der 554. Sitzung des Bundesrates der Republik Österreich, Mittwoch 10. und Freitag 12. Juli 1992, S. 26299 ff. 151 Ebenda, S. 26302 ff.

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Es soll hier nicht unterlassen werden, einige der wichtigsten und interessantesten Passagen der allgemein beachteten Rede Schambecks wiederzugeben: 152 "Heute - wir können sagen: vollendet in der Vergangenheit - hat unser lieber Herr Außenminister Dr. Mock, dem ich allerherzlich zu seinem heutigen Geburtstag gratulieren möchte (allgemeiner Beifall), ein besonderes Geburtstagsgeschenk bekommen. Ich bedaure außerordentlich, daß die Freiheitliche Partei sich nicht dem gesamtösterreichischen Konsens entsprechend anschließt. Ich glaube, meine Herren Kollegen von der Freiheitlichen Partei, es wird einmal ein Zeitpunkt kommen, wo es Sie reuen wird, daß Sie heute nicht mit dieser Mehrheit mitgestimmt haben! Die Befürchtungen, daß durch die zentralstaatlichen Rechtsakte die autonome Gesetzgebungs- und Vollzugs gewalt Südtirols wieder ausgehöhlt werden könnte und somit der mit der Durchführung des Paketes erreichte Bestand an Maßnahmen zum Schutze der Südtiroler Bevölkerung vermindert würde, ist ernst zu nehmen. Und ich hoffe sehr, daß das, was für Italien notwendig ist und was Rom rechtspolitisch für erforderlich erachtet, mit den Existenznotwendigkeiten der deutschsprachigen Bevölkerung in Süd tirol in Einklang gebracht werden kann. Allerdings haben die italienischen Zentralstellen - das sei heute nicht geleugnet - in Abstimmung mit maßgeblichen Südtiroler Vertretern einen Modus gefunden, der, eine kooperative Einstellung vorausgesetzt, eine geeignete Handhabe dafür bieten sollte, daß es zu keiner völkerrechtswidrigen Aushöhlung der Südtiroler Autonomie im Wege der Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis des italienischen Staates kommt." Und schließlich meinte Schambeck treffend: "Die Lösung eines Volksgruppenproblems im europäischen Geiste am Beispiel Südtirols kann - das möchte ich abschließend unterstreichen über die Region hinaus Modellcharakter haben. Die immer enger werdende Verbindung der europäischen Völker und Staaten im Rahmen der Europäischen Integration machte auch hinsichtlich Südtirol deutlich, daß die Grenzen zwischen den Staaten nicht mehr als Trennlinien empfunden werden müssen. Meine Damen und Herren! Das, was wir heute hier in die~er Sitzung verabschieden, ist ein Teil der Geschichte des Landes Tirol - wo immer die Grenzen verlaufen sind. Es ist ein Teil der Geschichte der Republik Österreich, und zwar aller Bundesländer, einschließlich Tirols, und es ist auch ein Teil der Geschichte der Republik Italien und bedeutender Politiker, die das Ihre miteingebracht haben, in Kirche, Staat und Gesellschaft. 152

Ebenda, S. 26326 ff.

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Ich möchte bei dieser Gelegenheit nochmals dem Herrn Landeshauptmann Dr. Partl gratulieren, daß er in seiner Regierungszeit diesen Abschluß des Südtirol-Pakets zu einer historischen Stunde Europas, zu einer historischen StUItde Tirols machen konnte. Und ich hoffe, daß es ihm möglich ist, auch zur Durchführung all dessen, was im Paket steht, noch durch viele Jahre hindurch das Seine beizutragen. Meine Damen und Herren! Unsere heutige Bundesratssitzung, die zwar nicht im Fernsehen aufgezeichnet wurde, ist aufgezeichnet in der Geschichtsschreibung einer Politik, von der wir hoffen wollen, daß sich die Fehler von gestern in der Politik von morgen nie mehr wiederholen mögen, und bei der wir alle den Wunsch haben, daß sie zu einer vermehrten Völkerfreundschaft und zum vermehrten Frieden beitragen wird." Damit scheint ein wichtiges Kapitel österreichischer Südtirolpolitik, soweit es das österreichische Parlament betroffen hat, abgeschlossen zu sein. Daß das Interesse der Parlamentsparteien in der Südtirolfrage wohl nicht erschöpft sein wird, kann man sich im Lichte weiterer Entwicklungen durchaus vorstellen. Im Vergleich zu den sehr emotionsgeladenen Debatten am 21. Dezember 1945, wo die Selbstbestimmungsforderung für Südtirol auf der Tagesordnung stand, hat sich sowohl der Debattengegenstand verändert als auch das Debattenklima des Jahres 1992 erheblich ernüchtert. Man wird feststellen können, daß ein echtes nationales Anliegen Österreichs fast zu einer parlamentarischen Pflichtübung geworden ist, bei der das Schwergewicht auf Konziliation oder aber auf Polemik gelegen ist. Das Parlament hat neben diesen legitimierenden Handlungen österreichischer Südtirolpolitik aber auch rechtsgestaltende Handlungen hinsichtlich der Südtirolfrage gesetzt. Es hat die aufgrund des Pariser Abkommens vorgesehenen Studientitelabkommen, die sich auch auf akademische Grade beziehen, und die in die Form von genehmigungspflichtigen Staatsverträgen gekleidet sind, mehrfach genehmigt; es hat einen langwierig ausgehandelten Universitätsvertrag zwischen Österreich und Italien genehmigt und es hat im Juristischen Studiengesetz die innerstaatliche Rechtsgrundlage für ein italienisches Jusstudium in Österreich, (praktisch in Innsbruck) gelegt. Im Zuge einer Novelle zu diesem Gesetz gab es eine ausführliche Debatte im Bundesrat (s. Protokoll der 425. Sitzung vom 24. Juni 1982). Die Bundesräte Dr. Herbert Schambeck, Dr. Martin Strimitzer und Dr. Rudolf Schwaiger verlangten in diesem Zusammenhang in einem gegen die Stimmen der SPÖ angenommenen Entschließungsantrag, daß die "personellen und materiellen Ausstattungen für das Studium der Rechtswissenschaften für Südtiroler an der Universität Innsbruck im Rechte ihres Herkunftsstaates ohne Schmälerung des normalen Universitätsbetriebes sichergestellt werden müßten."

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Im Jahre 1978 hat das Parlament das aus Verhandlungen zwischen Nordund Südtirol initiierte Gleichstellungsproblem in Form eines Gleichstellungsgesetzes behandelt; im parlamentarischen Bereich habe ich meine Initiative dafür eingesetzt. Das Gesetz erfüllt nicht alle Wünsche, weil eine Gleichstellung auf dem Arbeitsmarktsektor wegen des Widerstandes bei den Arbeitsmarktbehörden des Bundes nicht erreicht werden konnte. In diesem Zusammenhang ist ein Bericht der Bundesregierung, der vom Parlament gefordert wurde, von Interesse, der eine Übersicht über die Gleichstellung der Südtiroler im Bereich verschiedener Verwaltungsgebiete gibt. 153 Alle diese Texte sind parlamentarisch ausdiskutiert worden. Die parlamentarischen Diskussionen zeigen merkwürdige Meinungsunterschiede zwischen den politischen Parteien hinsichtlich ihrer Haltung zur Behandlung von unter der Ebene der Grundsatzpolitik liegenden, eher alltäglichen Südtirolfragen. Die Anfragetätigkeit über Südtirol, die im österreichischen Nationalrat entfaltet wurde, läuft mit den Phasen der Südtirolpolitik parallel. Sie ist von den politischen Ereignissen in Südtirol, in Österreich und auf der internationalen Ebene mitbestimmt. 154

153 Das Südtiroler Gleichstellungsgesetz wird im Bundesrat in seiner 383. Sitzung, Steno Prot., S. 13437, beraten und beschlossen. 154 Gschnitzer betreffend die Durchführung des Pariser Abkommens V. 14. Dezember 1949 (29/ J); Herke betreffend die Maßnahmen der italienischen Regierung in Südtirol (417JBR) 61, V. 2. März 1951, Steno Prot. 1263; Abg. Ebenbichler betreffend Südtirol (310/ J) 69, V. 7. Juni 1955, 30 95, von Bundeskanzler Raab am 30. September 1955 (342/ AB), 80 am 26. Oktober 1955, 3684, 3685 beantwortet; Mackowitz betreffend Presseinterview anläßlich eines Aufenthaltes Figls in Brixen (359/ J) 77, V. 7. September 1955) 3459 beantwortet vom Außenminister Figl am 7. September 1955 (327/ AB), 78 (v. 8. September 1955) 3527; H. Pfeifer betreffend die Veröffentlichung des Südtirol Memorandums (39/ J) 8 am 26. Oktober 1956, 261, beantwortet von Bundeskanzler Raab am 13. Dezember 1956 (29/ AB), 21 (v. 17. Dezember 1956) 914; H. Pfeifer betreffend die Behandlung der Südtirolfrage (168 / J) 35, V. 17. Juli 1957, 1379 beantwortet von Außenminister Figl am 20. Dezember 1957 (167/ AB), 51 (22. Jänner 1958), 2346, 2357; Gredler betreffend die Lage in Südtirol (186/ J) 39, ~. 20. November 1957) 1531, beantwortet von Außenminister Figl am 4. Februar 1958 (183/ AB) 53 (v. 12. Februar 1958), 2414 und 2415; Maleta, Olah, Gredler, Koplenig betreffend den Stand der Verhandlungen über Südtirol (368/ J) 80, V. 18. Februar 1959) 3922; dazu erfolgte ein Bericht des Außenministers Figl 81, v. 4. März 1959, S. 3960 ff.; H. Pfeifer betreffend die Lage in Südtirol (381/ J) 80, V. 18. Februar 1959, 922; dem entsprach auch eine Anfrage der Abg. Salzer U. Gen. im Bundesrat über verschiedene Vorfälle in Südtirol (103 / J -BR), 142 V. 25. Februar 1959, 3375, mündlich beantwortet von Außenminister Figl 143, V. H. März 1959, 3396; Mahnen betreffend die Verhandlungen mit Italien über Südtirol (306/ M) beantwortet von Außenminister Kreisky 97 am 5. April 1962, 4205;

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Hetzenauer betreffend das italienische Verbot für österreichische Regierungsmitglieder u. a. nach Südtirol einzureisen (100/ J) 32 am 4. Mai 1960, 1293 (keine Antwort auffindbar); Mahnert betreffend die Südtirol Verhandlungen zwischen Österreich und Italien (3/ J) 2, v. 19. Februar 1962, 13 beantwortet von Außenminister Kreisky am 30. Jänner 1983 (2/ AB) 4 v. 3. Februar 1963, 102; Mahnert betreffend erniedrigende Behandlung der Südtiroler Angeklagten bei der Vorführung zur Hauptverhandlung im Mailänder Prozeß (67/ J) 41, v. 21. Jänner 1964, 2226 beantwortet von Außenminister Kreisky v. 21. Februar 1964 (77 / AB) 44 v. 4. März 1964, 2362; Horejs betreffend Klarstellung zu Berichten über Südtirol Verhandlungen (288/ J) 84, v. 7. Juli 1965,4535 beantwortet von Bundeskanzler Klaus am 6. Oktober 1965 (328/ AB) 89 (25. Oktober 1965); Winter betreffend eine Unterredung mit dem italienischen Ministerpräsidenten (316/ J) 88, v. 21. September 1965 4791; (25. Dezember 1965); Mahnert betreffend Minderheitenschutz der Südtiroler (99/ M) beantwortet von Kreisky am 10. Februar 1965, 81, 4403; Scrinzi betreffend Widerstand Italiens gegen einen Vertrag mit der EWG und Österreich (1918/ M) beantwortet von Außenminister Waldheim, 121, am 4. Dezember 1968, 9946; Leitner: weitere Hannonisierung des österreichisch-italienischen Verhältnisses in der Südtirolfrage (84/ J) 10, v. 9. Dezember 1971, 581 beantwortet von Broda (136/ AB), 24, am 15. Februar 1972, 1804; Scrinzi betreffend die Verhaftung eines kürzlich auf Bewährung aus der Haft entlassenen Südtirolers (199/ J) 21, v. 21. Jänner 1972, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (192/ AB), 25, am 14. März 1972, 1804; Ermacora betreffend die Durchführung des Südtirol-Abkommens (160/ J) 24, v. 15. Februar 1972,1803, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (287 / AB) 27, am 26. April 1972, 2099; Egg betreffend Empfang deutschsprachiger TV-Programme in Südtirol (409/ J) 27, v. 26. April 1972, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (371 / AB) 33, am 14. Juni 1972; Ermacora betreffend die Paketdurchführung (1339/ J) 76, v. 20. Juni 1976, 7001, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (1357 / AB) 80, am 23. Oktober 1973, 7645; Scrinzi betreffend Verurteilung und Strafverfolgung im Zusammenhang mit Widerstandshandlungen in Südtirol (1414/ J) 79, v. 11. Juli 1973, 7554, beantwortet von Justizminister Broda (1386/ AB) 80, v. 23. Oktober 1973, 7645; Horejs betreffend die Verschiebung des Tennins für die Erlassung der Durchführungsbestimmungen zum neuen Autonomiestatut für die Region Trentino-Südtirol (1569/ J) 98, v. 23. Jänner 1974, 9570, beantwortet von Außenminister Kirchschläger (1506/ AB) 100, am 5. Februar 1974, 9799; Scrinzi betreffend die Beschränkung der Freizügigkeit wegen Widerstandshandlungen in Südtirol (1225 / M), beantwortet von Außenminister Kirchschläger, 84, am 27. November 1973,7956; Scrinzi betreffend Verurteilung und Strafverfolgung im Zusammenhang mit Widerstandshandlungen in Südtirol (1825/ J) 117, v. 22. Oktober 1974, 11 466, beantwortet von Justizminister Broda (1815/ AB) 134, am 22. Jänner 1975, 12 987; Leitner betreffend die Gleichstellung von Südtirolern in Österreich (2232/ J) 150, v. 2. Juli 1975, 14483, beantwortet von Innenminister Rösch (2115/ AB); Ermacora betreffend die Gleichstellung von Südtirolern in Österreich (2229 / J) 155, v. 2. Juli 1975, 14483, beantwortet von Bundeskanzler Kreisky (2380/ AB).

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4. Minderheitenfragen und Internationale Organisationen

Volksgruppenschutz- oder Minderheitschutzprobleme, die den regionalen (europäischen) oder universellen (UN) Bereich betreffen und in verschiedenen internationalen Instrumenten zu finden sind, sind vom österreichischen Nationalrat und vom Bundesrat in Verfahren nach Art. 50 B-VG ohne großen Aufhebens genehmigt worden. Der eine und der andere Debattenredner machte auf das konzeptuelle Interesse aufmerksam, das das eine oder andere internationale Instrument für den Volksgruppen- und Minderheitenschutz ausweisen kann. Es handelt sich dabei vor allem um das ILOÜbereinkommen Nr. 107 über den Schutz und die Eingliederung eingeborener Bevölkerungsgruppen und anderer in Stämmen lebenden oder stammesähnlicher Bevölkerungsgruppen in unabhängigen Ländern, sowie um die damit verbundene Empfehlung 104, die beide in der internationalen Praxis als Instrumente besonderen Minderheitenschutzes angesehen werden; es handelt sich um Art. 14 der europäischen Konvention über Menschenrechte und Grundfreiheiten, der eine Minderheitenschutzbestimmung gegen Diskriminierung enthält. Über die Minderheitenfragen des Europarates berichtet in der 35. Sitzung des Nationalrates (IX. GP) am 14. Juni 1960 der damalige Abgeordnete Dr. Lujo Toncic-Sorinj, der sich im Europarat selbst besondere Verdienste für die Ausgestaltung rechtlichen Minderheitenschutzes und um die Südtirolfrage erworben hatte. (Im übrigen soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß sich abgesehen von den Anstößen, welche der österreichische Außenminister Dr. Alois Mock im Ministerkomitee des Europarates gegeben hat - die österreichischen Vertreter in der Parlamentarischen Versammlung (PV) des Europarates, allen voran der seinerzeitige Staatssekretär Dr. Ludwig Steiner, aber auch Abgeordneter Dr. Fritz König und Bundesrat Dr. Martin Strimitzer, viel Mühe gegeben haben, um die Verabschiedung eines Minderheitenschutz-Zusatzprotokolles zur Menschenrechtskonvention durchzusetzen; am 1. Februar 1993 hat die PV eine diesbezügliche Empfehlung (Nr. 1201) verabschiedet. Sie baut zwar auf der Individualbeschwerde auf, gibt aber - als Ansatz von Kollektivrechten - Vertretern von Minderheitengruppen das Recht, solche Beschwerden zu vertreten.) Ferner ist die Genehmigung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung zu erwähnen; in der Genehmigungsdebatte machte ich auf die minderheitenschutzrechtlichen Bezüge dieses Abkommens aufmerksam. Endlich ist auf den Art. 27 CCPR aufmerksam zu machen, der im Rahmen der Genehmigung dieses Menschenrechtspaketes der Vereinten Nationen für die Belange des Minderheitenschutzes, dem Österreich damit verpflichtet ist, von Bedeutung ist. Auch dazu habe ich einige Worte in der Genehmigungsdebatte verloren.

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Alles in allem zeigt sich, daß das österreichische Parlament bis heute dem Volksgruppen- und Minderheitenschutz sowohl im Vielvölkerstaat Österreich als auch im Nationalstaat Österreich auf seine Weise gedient hat. Es hat mit dem Art. 19 StGG die rechtliche Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Nationalitäten Österreichs geschaffen, es hat sich recht und schlecht der aus internationalen Verpflichtungen herrührenden Aufgaben innerstaatlichen Minderheiten- und Volksgruppenschutzes, letztlich durch die Erlassung des Volksgruppengesetzes, entledigt. Es hat hier die aus dem Funktionswandel des Parlaments herrührenden, immer begrenzteren Möglichkeiten im Rahmen des Verfassungsgefüges gestalterisch genützt. Das österreichische Parlament hat darüber hinaus die Rolle als Schutzorgan für vom deutschen Siedlungsgebiet Österreichs im Jahre 1918/19 abgetrennte Volksteile übernommen, und nach 1945 die Selbstbestimmungspolitik, die Erjüllungspolitik gegenüber dem Pariser Abkommen und die Paketerfüllungspolitik hinsichtlich Südtirols legitimiert. Die zahlreichen Anfragen, Interpellationen, Entschließungen, Fragen in Minderheiten- und Volksgruppenangelegenheiten, die von einzelnen Abgeordneten oder von Gruppen von Abgeordneten und von den parlamentarischen Klubs als ganze an die Regierungen und die Regierungsmitglieder gestellt wurden, zeigen das latente Interesse der Volksvertreter an diesen Fragen und das konkrete Interesse am einzelnen, vor allem politisch relevanten Fall. Die eigentliche Rolle des österreichischen Parlaments - wobei dem Nationalrat gegenüber der Intensität in der Problernbefassung Vorrang zukommt - ist aber von der Rolle der Regierung nicht zu trennen. Im Endergebnis gestalten nur Regierung und Parlament gemeinsam die aus der allgemeinen Aufgabe herrührende Verpflichtung, mitten in Europa die Vielfalt von Volksgruppen und ihre Erhaltung als einen Kulturwert zu bewahren. Daß in manchen Fragen parteipolitische Partikularinteressen gegenüber dem Allgemeininteresse Vorhand gewonnen haben oder gewinnen, liegt in der Natur pluralistisch strukturierten Parlamentarismus.

Wehrgesetzgehung und Heer 1868-1993 Von Gerhard Rauter

Einleitung Im Wirkungsfeld des Staates nimmt der militärische Bereich in mehrfacher Hinsicht eine besondere Stellung ein. Solange noch zwischen Staaten Waffengewalt zur Durchsetzung politischen Wollens angewendet wird, ist die bewaffnete Macht ein Instrument, das einerseits offensiven Zwecken dienen kann, infolge dessen aber andererseits das äußerste Mittel staatlicher Selbstbehauptung, die "ultima ratio" staatlicher Existenzsicherung bildet. So nennt Klaus Stern l die militärische Verteidigung "eine staatliche Urfunktion" , deren Schutzaufgabe zu den Rechtfertigungsgründen des Staates überhaupt zählt: "Die Gewährleistung von Schutz und Frieden im Innem wie nach außen gehören, seit Menschen über den Staat nachgedacht haben, zu den Gründen, die den Staat rechtfertigen und ihn erklären." Das Recht, sich durch eigene Streitkräfte zu verteidigen, gehört somit zu den "für jeden Staat begriffsnotwendigen Attributen." Angesichts dieser elementaren Bedeutung der Streitkräfte und ihres Gewichtes als bewaffnete Macht ist die Frage nach ihrer Stellung im Gefüge des Staates eine der wesentlichen Grundfragen jeglicher staatlicher Ordnung. Sie stellt sich vor allem unter den speziellen Gesichtspunkten des Rechtsstaates und der ihm eigenen parlamentarischen Gesetzgebung. Auf Grund von Unterschiedlichkeiten, ja Gegensätzen zwischen den Zielsetzungen des Konstitutionalismus und den Bedürfnissen des militärischen Bereiches wird dabei ein wesensbedingtes Spannungsverhältnis erkennbar. Während die unmittelbare militärische AufgabensteIlung; nämlich eine möglichst zweckmäßige Überwältigung des Gegners unter Anwendung von Waffengewalt nach bestimmten Strukturen, wie Machtkonzentration, strenge Befehlshierarchie, in deren Rahmen aber weitgehend ungebundene Entscheidungsspielräume etc., verlangt, beruht der Verfassungsstaat auf dem Prinzip der Gewaltenteilung, das aus der Erkenntnis erwächst, daß jede Macht durch die ihr innewohnende Eigengesetzlichkeit eine Dynamik entwickelt und damit die Gefahr des Mißbrauchs in sich trägt. Dieser 1

Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland II (1980) 844, 847.

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Gefahr wirkt ein gewaltenteilender Staatsaufbau entgegen, der die Grundvoraussetzung für eine Kontrolle der Machtausübung und damit für Rechtssicherheit bildet. Die Mitwirkung des Bürgers an der politischen Willensbildung, die Bindung der Vollzugsorgane an das Gesetz sowie eine verfassungsmäßige Garantie der "Grundrechte" (insbes. der "Freiheitsrechte") sind weitere wesentliche Teile des weitreichenden Instrumentariums des Rechtsstaates. Ein ausgewogenes Gefüge dieser Einrichtungen soll sowohl Schutz vor Willkür staatlicher Machtträger bieten, als auch anarchischem Freiheitsmißbrauch des einzelnen oder gesellschaftlicher Gruppen begegnen. Wollte man allerdings den militärischen Bereich gleich dem zivilen Bereich konsequent mit den vielfältigen Einrichtungen einer rechtsstaatlichen Ordnung ausgestalten, so würde dies zu einer Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Heeres führen und damit die Wirksamkeit gerade jenes Instrumentes in Frage stellen, das als "ultima ratio" die Existenz des Rechtsstaates sichern sollte. LOTenz v. Stein meinte hinsichtlich dieser Problematik, daß das Heer zwar "wie jeder Teil der Verwaltung unter der Verfassung und ihrem Gesetz steht," das Gesetz aber beim Heer eine Grenze habe, die es bei keinem anderen Teil des Staatslebens findet. Unter diesem Blickwinkel wurden im Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts Theorien entwickelt, die dem militärischen Bereich eine weitgehend autonome Sonderstellung außerhalb der "zivilen" Rechtsordnung einräumten (so insb. die sog. "Anstaltstheorie").2 Danach blieb die Gesetzgebung auf die Grundsätze des Wehrsystems, das Budgetrecht und die über den Adressatenkreis der Heeresangehörigen hinausreichenden Normen beschränkt; im übrigen erfolgte die Normsetzung im Wege eines selbständigen militärischen Verordnungsrechts, das aus dem besonderen militärischen Gewaltverhältnis mit seiner Grundlage in der militärischen Befehlsgewalt des monarchischen Staatsoberhauptes abgeleitet wurde. Im Zuge der weiteren rechtspolitischen Entwicklung ließen jedoch das Bedürfnis nach einer systematischen Einheit der rechtsstaatlichen Ordnung und insbes. die geschichtlichen Erfahrungen einer solchen Isolierung des militärischen Bereiches als "Staat im Staate" erkennen, daß eine von demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätzen getragene Rechtsordnung auch eine entsprechende Einbettung des militärischen Bereiches erfordert. Dabei ergeben sich allerdings aus dem erwähnten Spannungsverhältnis zahlreiche Problemstellungen, für die sachgerechte Lösungen zu finden sind. Solche Fragen können beispielsweise den Gleichheitsgrundsatz, das Legalitätsprinzip, Kundmachungserfordernisse oder Verfahrensbelange berühren. 3 Nach den jeweili-

2 Siehe Pernthaler, Rechtsstaat 10 ff.; Lepper, Die verfassungsrechtliche Stellung der militärischen Streitkräfte im gewaltenteilenden Rechtsstaat (1962) 58 ff.; hinsichtlich der zwischen den beiden Weltkriegen entwickelten Theorie der "vierten Gewalt" s. ebenfalls Pernthaler, Rechtsstaat 13 und Lepper, 79 ff.

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gen verfassungspolitischen Rahmenbedingungen kommen entsprechend unterschiedliche Lösungen in Betracht. Immer bedarf es aber eines ausgewogenen Normensystems, das die Polarität zwischen den Grundsätzen des Rechtsstaates und den besonderen Gesetzmäßigkeiten und Eigenarten des militärischen Bereichs konfliktfrei überwindet. In der Geschichte des österreichischen Parlamentarismus sind auf dem Gebiet der Wehrgesetzgebung drei Abschnitte von unterschiedlicher Prägung erkennbar: das Wehrrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie, das Wehrrecht der ersten Republik und das Wehrrecht der zweiten Republik nach der Wiedererlangung der Wehrhoheit im Jahre 1955.

1.1868-1918 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

In Österreich bildet die Dezemberverfassung des Jahres 1867 mit dem Durchbruch der Leitgedanken des Rechtsstaates auch den Ausgangspunkt einer neuen Wehrgesetzgebung. Aus dieser Verfassungslage ergab sich für den militärischen Bereich infolge der dualistischen Gestaltung der Monarchie eine Grundordnung, nach der diese Materie teils als gemeinsame Angelegenheit beider Reichshälften, teils als Angelegenheit jedes der beiden Teilstaaten - allerdings unter Beachtung gleicher Grundsätze hinsichtlich des Wehrsystems - zu behandeln war. Durch § 1lit. b des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 146, betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung, war "das Kriegswesen mit Inbegriff der Kriegsmarine, jedoch mit Ausschluß der Rekrutenbewilligung und der Gesetzgebung über die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht, der Verfügungen hinsichtlich der Dislozierung und Verpflegung des Heeres, ferner der Regelung der bürgerlichen Verhältnisse und der sich nicht auf den Militärdienst beziehenden Rechte und Verpflichtungen der Mitglieder des Heeres" zur gemeinsamen Angelegenheit erklärt. Zur Gesetzgebung in den gemeinsamen Angelegenheiten waren nach § 6 leg. cit. die Delegationen berufen, die vom (österreichischen)4 Reichsrat und vom ungarischen Reichstag zu entsenden waren. 5 3 Vgl. hiezu auch Winkler, Gesetzgebung und Verwaltung im Wirtschaftsrecht (1970) 80; Rauter, Militär und Jurisprudenz, Österreichische Militärische Zeitschrift 1975, 120 ff. 4 Für die nicht zu den Ländern der ungarischen Krone gehörenden Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie fehlte eine offizielle Gesamtbezeichnung; sie wurden offiziell als "die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" bezeichnet (inoffizielle Kurzform: "Reichsratsländer").

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Ihr Wirkungsbereich auf dem erwähnten militärischen Gebiet war im wesentlichen auf die Bewilligung des Budgets des gemeinsamen Heeres und die parlamentarische Kontrolle der Verwendung dieser Mittel beschränkt; durch das Ausmaß und die Verteilung der bewilligten Mittel auf bestimmte Ansätze war aber ein indirekter Einfluß auf die Stärke und Organisation des Heeres gegeben. Die übereinstimmenden Beschlüsse beider Delegationen über das Heeresbudget wurden nach Genehmigung durch den Monarchen in den Amtszeitungen beider Reichshälften publiziert. Noch um die Jahrhundertwende wurde diesen Beschlüssen von der Staatsrechtswissenschaft "nicht die Bedeutung formeller Gesetze" beigemessen, eine aus der spezifischen Verfassungslage des Dualismus resultierende Auffassung, die aber letztlich in der Budgettheorie Paul Labands wurzelt. 6 Zur Verwaltung der im § 1 lit. bIeg. cit. umschriebenen gemeinsamen Angelegenheit war gern. § 5 leg. cit. das k.u.k. Reichskriegsministerium eingerichtet; es war parlamentarisch den Delegationen verantwortlich. Ebenfalls nach § 5 leg. cit. standen jedoch die Anordnungen betreffend die Leitung, Führung und innere Organisation der gesamten Armee sowie nach § 5 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr.145, über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt der Oberbefehl über die bewaffnete Macht und das Recht zu Kriegserklärung und Friedensschluß ausschließlich dem Kaiser zu. Bei diesen Reservatrechten, die der Gesetzgebungskompetenz der parlamentarischen Körperschaften entzogen waren, handelt es sich um die Verfügungsgewalt über. die. Armee, den Kern des kaiserlichen Oberbefehls, aber auch um das Recht zur Normsetzung auf dem weiten Feld der Heeresorganisation, der Ausbildung und des inneren Militärdienstes, des Disziplinarwesens, der Ausrüstung, Bekleidung und Bewaffnung des Heeres sowie um das Inspektionsrecht und die Personalkompetenz der Ernennung, Beförderung, Versetzung, Pensionierung und Entlassung der Offiziere und Militärbeamten. Ein Teil dieser Kompetenzen war den obersten Zentralbehörden sowie den höheren Kommandobehörden dauernd übertragen. Nach § nlit. b. des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 141, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird, kam für die österreichische Reichshälfte dem Reichsrat die Gesetzgebung "in allen Angelegenheiten, welche sich auf die Art und Weise, sowie auf die Ordnung und Dauer der Militärpflicht beziehen, und insbesondere die jährliche Bewilligung der Anzahl der auszuhebenden Mannschaft und die allgemeinen Bestimmungen in bezug auf Vorspannlei5 Jede der beiden Delegationen bestand aus 60 Mitgliedern, von denen jeweils ein Drittel dem österreichischen HH bzw. dem ungarischen Magnatenhaus und zwei Drittel dem AH des österreichischen Reichsrates bzw. des ungarischen Reichstages anzugehören hatten. 6 Schmid, Heeresrecht 17 ff.; zur Budgettheorie Paul Labands und zur staatsrechtlichen Diskussion über die Rechtsnatur des Haushaltsplanes s. Hengstschläger, Das Budgetrecnt des Bundes (1977) 35 ff., 225 ff.

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stung, Verpflegung und Einquartierung des Heeres" zu. Eine Ausführungsgesetzgebung hinsichtlich der Vorspannleistung, Verpflegung und Einquartierung des Heeres war durch § 12 leg. cit. und die einzelnen Landesordnungen den Landtagen eingeräumt. 7 Zur Verwaltung der im § lllit. b. leg. cit. umschriebenen militärischen Angelegenheiten der österreichischen Reichshälfte war ein kk. Landesverteidigungsministerium eingerichtet, dem in der ungarischen Reichshälfte das k. ungarische Honvedministerium entsprach. Beide Ministerien und das gemeinsame k.u.k. Reichskriegsministerium hatten gern. ihren Zuständigkeiten die von den parlamentarischen Körperschaften beschlossenen Gesetze sowie die dem Kaiser vorbehaltenen Verfügungen zu vollziehen bzw. diese Verfügungen - soweit sie ihnen delegiert waren - zu treffen. In der dargestellten Kompetenzaufteilung, nach der weite Teile des militärischen Bereichs dem parlamentarischen Einfluß entzogen und einem eigenständigen Verordnungsrecht des Kaisers bzw. der Militärbehörden zugeordnet waren, spiegelt sich deutlich das eingangs erwähnte Spannungsverhältnis. Ferdinand Schmid 8 stellt hiezu im Jahre 1903 unter Hinweis auf diese Problematik fest, daß die Armee der Monarchie im allgemeinen als eine in sich geschlossene Anstalt auftritt, "deren Einrichtungen sich zumeist der gesetzlichen Regelung entziehen und vielmehr durch organisatorische Anordnungen des obersten Kriegsherrn oder der obersten Verwaltungsorgane bestimmt werden." Neben der allgemeinen Grundproblematik des militärischen Bereiches zeigt er aber auch noch besondere Gesichtspunkte auf, die speziell in der historisch gewachsenen Eigenart Österreich-Ungarns liegen: "Die durch die staatsrechtliche Organisation der Monarchie und der beiden Reichshälften bedingte Umständlichkeit des Gesetzgebungsapparates einerseits und der Wunsch, das Heer den nationalen Aspirationen möglichst zu entrücken andererseits, ließen es rätlich erscheinen, die Stellung der Heeresverwaltung möglichst frei zu gestalten und den Einfluß der parlamentarischen Körperschaften noch weiter einzuschränken. Auf diese Weise erklärt es sich, daß dem Monarchen Österreich-Ungarns verfassungsmäßig nicht nur der militärische Oberbefehl, sondern auch eine der parlamentarischen Mitwirkung entrückte, weitgehende Organisations- und Verordnungsgewalt für den inneren Bereich der Armee zukommt." Als die wesentlichen Kompetenzen der parlamentarischen Körperschaften in militärischen Angelegenheiten sind das Budgetbewilligungsrecht, die Regelung der Wehrpflicht, die Bewilligung des Rekrutenkontingentes und die Normierung der sachlichen Friedens- und Kriegsleistungen zu nennen.

7 8

Vgl. hiezu Art. 81 B-VG. Schmid, Heeresrecht 11 f.

41 Parlamentarismus

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Gerhard Rauter 2. Wehrsystem

Entsprechend der geschilderten Verfassungslage wurde in Österreich mit dem Gesetz vom 5. Dezember 1868, RGBl. Nr. 151, womit für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder die Art und Weise der Wehrpflicht geregelt wird,9 ein neues Wehrsystem auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht geschaffen, das an die Stelle des bisherigen, weitgehend vom Konskriptionsprinzip geprägten,10 trat. Das neue Wehrsystem war ein Kadersystem mit Milizkomponenten. 11 Die gesamte bewaffnete Macht gliederte sich in das stehende Heer, die Kriegsmarine, die Landwehr und die Ersatzreserve. Darüber hinaus wurde im Wehrgesetz von 1868 die Frage der Einrichtung einer weiteren Gliederung, nämlich des Landsturmes, einer gesonderten gesetzlichen Regelung vorbehalten, aber bereits vorsorglich normiert, daß der Landsturm - sollte er geschaffen werden"als integrierender Teil der Wehrkraft unter völkerrechtlichen Schutz gestellt" sei. Ein solches System entsprach der vor dem ersten Weltkrieg in den meisten europäischen Staaten bestehenden Gliederung der bewaffneten Macht in 3 Linien nach dem Grade der Einsatzbereitschaft und der Ausbildung (stehendes Heer bzw. Operationsarmee oder "Linie" schlechthin, Landwehr, Landsturm). 12 Im Wehrgesetz von 1868 wurde dieses System allerdings nicht vollständig ausgeführt. Das AH des Reichsrates hat nämlich die mit der RV des 9 Das zit. Gesetz enthält acht Einführungs- bzw. Übergangsartikel und anschließend das "Wehrgesetz". Über die parlamentarische Behandlung des Wehrgesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH 4. Sess 1868 (RV 33 dBlg. 1. Lesung 4205; 2. Lesung 4412-4455, 4458-4514, 4516-4545, 4547-4607, 4609-4640; 3. Lesung 4640-4641) und die Steno Prot. HH 4. Sess. 1868 (1. Lesung 1348; 2. Lesung 13781411, 1413 -1424; 3. Lesung 1425). Für die ungarische Reichshälfte galt der entsprechende XL. Gesetzesart. vom Jahre 1868 über die Wehrkraft. 10 Nach dem Konskriptionsprinzip bestand lediglich im Grundsatz für jeden Staatsbürger die Pflicht zum Wehrdienst, es galten jedoch weitreichende Regelungen über den Loskauf von dieser Verpflichtung, über ihre Erfüllung im Wege einer Stellvertretung sowie über die Befreiung bestimmter Bevölkerungsklassen. Im Gegensatz dazu lautete § 1 des Wehrgesetzes von 1868: "Die Wehrpflicht ist eine allgemeine und muß von jedem wehrfähigen Staatsbürger persönlich erfüllt werden." 11 Der Ausdruck "Miliz" wurde ursprünglich für die erst im Krieg zur Verteidigung des Landes zusammengerufenen und bewaffneten Einwohner verwendet. Als Milizsystem wurde in der Folge eine Organisationsform bezeichnet, nach der im Frieden kein oder nur ein geringfügiger Kader besteht, die Wehrpflichtigen nur verhältnismäßig kurze Zeit ausgebildet werden und das Heer erst im Bedarfsfalle durch die Heranziehung der Wehrpflichtigen zur Dienstleistung zusammentritt; s. auch FN 251, 252 und 253. 12 Vgl. dazu auch Glückmann, Das Heerwesen der österr.-ungar. Monarchie (1900), 3 ff.

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Wehrgesetzes gleichzeitig eingebrachten RV eines Landwehrgesetzes und eines Landsturmgesetzes einer späteren Behandlung anheimgestellt, um wegen der erforderlichen Übereinstimmung der Grundsätze dieses Wehrgesetzes mit denen des ungarischen - wie im Bericht des Wehrausschusses nachdrücklich hervorgehoben wurde - "das Wehrgesetz noch im Laufe dieses Jahres, und zwar insbesondere vor dem Ablaufe des Mandates des ungarischen Landtages verfassungsmäßig zu Stande zu bringen". 13 Während hiebei die Einrichtung der Landwehr unbestritten war, ja verschiedentlich eine Verlagerung des Schwerpunktes vom stehenden Heer zur Landwehr gefordert wurde, mußte man auf Grund der im Wehrausschuß hinsichtlich des Landsturmes geäußerten Meinungen nach den Worten des Berichterstatters "mit Recht in Zweifel ziehen, ob es überhaupt zu einem solchen Landsturmgesetze je kommen werde". Diese Frage wurde daher durch entsprechende Textänderungen im Wortlaut des Wehrgesetzes offengelassen. Die Aufgaben der bewaffneten Macht waren für die erwähnten Gliederungen dahingehend festgelegt, daß das stehende Heer und die Kriegsmarine "zur Verteidigung der Gesamtmonarchie gegen äußere Feinde und zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Innern", die Landwehr "im Kriege zur Unterstützung des stehenden Heeres und zur inneren Verteidigung, im Frieden ausnahmsweise auch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Sicherheit" und, "wenn ein Landsturm gebildet wird", dieser "zur Unterstützung des stehenden Heeres und der Landwehr in der Abwehr des Feindes, wenn er in das Land einzudringen versucht, und in der Bekämpfung desselben, wenn er bereits eingedrungen ist", bestimmt waren. 14 Der für die Verwendung der Landwehr gebrauchte Ausdruck "innere Verteidigung" wurde in der Debatte des AR als nicht in der Bedeutung der Verteidigung nur eines bestimmten Kronlandes, sondern 13 Der hiefür maßgebliche § 36 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 146, betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung, lautet: "Die Vereinbarung in betreff jener Gegenstände, welche zwar nicht als gemeinsame behandelt, jedoch nach gemeinsamen Grundsätzen geregelt werden sollen, erfolgt entweder dadurch, daß die verantwortlichen Ministerien im gemeinschaftlichen Einvernehmen einen Gesetzentwurf ausarbeiten und den betreffenden Vertretungskörpern beider Teile zur Beschlußfassung vorlegen und die übereinstimmenden Bestimmungen beider Vertretungen dem Kaiser zur Sanktion vorgelegt werden, oder daß die beiden Vertretungskörper jeder aus seiner Mitte eine gleich große Deputation wählen, welche unter Einflußnahme der betreffenden Ministerien einen Vorschlag ausarbeiten, welcher Vorschlag dann durch die Ministerien jedem Vertretungskörper mitgeteilt, von denselben ordnungsmäßig behandelt und die übereinstimmenden Beschlüsse beider Vertretungen dem Kaiser zur Sanktion unterbreitet werden. Der zweite Vorgang ist speziell bei der Vereinbarung über das Beitragsverhältnis zu den Kosten der gemeinsamen Angelegenheiten einzuhalten". Siehe hiezu auch FN 8. 14 Siehe §§ 7, 8 und 9 des Wehrgesetzes, RGBl. Nr. 151/1868. 41*

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als "Verteidigung des Gesamtumfanges der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" klargestellt. In Tirol und Vorarlberg bestand auf dem Gebiet der Landesverteidigung eine besondere Ordnung, deren Wurzeln bis in das 16. Jahrhundert reichen und die nach dem Gesetz vom 4. Juli 1864, LGBl. Nr. 31, auf der Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht vom 18. bis zum 50. Lebensjahr in den Landesschützen-, Scharfschützen- und Landsturm Compagnien ein ausgeprägtes, in drei Aufgebote gegliedertes Landwehr- und Landsturmsystem entwickelt hat, wobei in den Scharfschützen- und Landsturmeinheiten als typischen Milizverbänden die eigene Kleidung und die eigenen Waffen der Wehrpflichtigen benutzt und die Offiziere gewählt wurden. Diese Sonderstellung wurde durch den Einführungsa!"t. III zum Wehrgesetz von 1868 mit der Einräumung einer eigenen Landesgesetzgebung grundsätzlich aufrechterhalten. 15 Die allgemeine Wehrpflicht wurde anläßlich der Einbringung des Wehrgesetzentwurfes in das AH am 20. Oktober 1868 von MinisterpräsidentStellvertreter Eduard Graf Taaffe "als das einzig richtige Prinzip für die in der Gemeinsamkeit lebenden, zur Verteidigung der gemeinsamen Sicherheit mit gemeinsamen Kräften verpflichteten österreichischen Völker" bezeichnet. Sie war nach dem Wehrgesetz von 1868 ab dem 20. Lebensjahr zu leisten und richtete sich hinsichtlich der Art und Dauer ihrer Verpflichtungen nach der Einteilung des Wehrpflichtigen in die jeweilige Gliederung der bewaffneten Macht. Sie umfaßte insgesamt einen Zeitraum von 12 Jahren und dauerte bei einer Einteilung in das stehende Heer oder in die Kriegsmarine 3 Jahre in der Linie und 7 Jahre in der Reserve sowie danach 2 Jahre in der Landwehr (bei einer unmittelbaren Einteilung in die Landwehr erstreckte sich die gesamte Wehrpflichtdauer auf diese Gliederung). In der Reserve hatten die Wehrpflichtigen an 3 Waffenübungen von jeweils längstens 4 Wochen, die nicht Einberufenen an jährlichen Kontrollversammlungen von höchstens 1 Tag Dauer teilzunehmen; für die Ersatzreserve war keine Waffenübungspflicht vorgesehen. Eine besondere Regelung des Wehrdienstes galt für die sogenannten "Einjährig-Freiwilligen" .16 Kandidaten des geistlichen Standes der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften waren auf ihr Ansuchen zur Fortsetzung ihrer Studien vom Wehrdienst zu beurlauben. Nach Erhalt der höheren Weihen 15 Das Institut der tirolisch-vorarlbergischen Landesverteidigung wurde in der Folge durch die Landesgesetze vom 19. Dezember 1870, LGBl. Nr. 1/1871, vom 19. Dezember 1870, LGBl. Nr. 2/1871, vom 14. Mai 1874, LGBl. Nr.29, vom 14. Mai 1874, LGBl. Nr. 30, vom 23. Jänner 1887, LGBl. Nr. 7, vom 22. Juni 1892, LGBl. Nr. 15, vom 18. März 1895, LGBl. Nr. 16, und vom 25. Mai 1913, LGBl. Nr. 25, näher geregelt. 16 Für Personen mit einem bestimmten Bildungsgrad (Mittelschulabsolventen) war unter bestimmten weiteren Voraussetzungen die aktive Dienstzeit mit nur 1 Jahr festgesetzt; s. im übrigen hiezu §§ 21 ff. des Wehrgesetzes, RGBl. Nr. 151/1868.

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bzw. der Ernennung zum Seelsorger konnten sie im Kriegsfalle nach Maßgabe ihrer Wehrpflicht im stehenden Heer, in der Landwehr oder in den Sanitätseinrichtungen als Militärseelsorger verwendet werden. Beurlaubungs- bzw. Befreiungsmöglichkeiten waren ferner für bestimmte Berufsgruppen (Landwirte, Lehrer, Post-, Telegraphen-, Eisenbahnbedienstete) unter dem Gesichtspunkt der entsprechenden öffentlichen Interessen vorgesehen. 17 Im Sinne eines Lastenausgleichs zwischen den Wehrpflichtigen, die ihrer Militärdienstpflicht nachgekommen sind, und jenen, die "zum Dienste im stehenden Heere (Kriegsmarine) oder in der Landwehr nicht beigezogen werden konnten", war für diese Personen im Wehrgesetz die Entrichtung einer "Militärtaxe für die Militär-Invalidenversorgung" vorgesehen, deren Regelung aber einem besonderen Gesetz vorbehalten blieb, das erst im Jahre 1880 vom Reichsrat beschlossen wurde. 18 Unteroffizieren mit einer zwölf jährigen aktiven Dienstzeit im stehenden Heer, in der Kriegsmarine oder in der Landwehr (davon eine mindestens achtjährige Dienstzeit als Unteroffizier) war ein Anspruch auf Anstellung im öffentlichen Dienst oder "bei vom Staat subventionierten Eisenbahn-, Dampfschiff- und anderen Unternehmungen" eingeräumt. Die Ausführung auch dieser Bestimmung war der Regelung durch ein besonderes Gesetz vorbehalten, das im Jahre 1872 erlassen wurde. 19 Der Kriegsstand des stehenden Heeres und der Kriegsmarine (einschließlich der Reserve) wurde im § 11 des Wehrgesetzes von 1868 "in Gemäßheit der §§ 1, 2,.3 und 36 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, Reichs-GesetzBlatt Nr. 146, einvernehmlich mit dem ungarischen Reichstage kraft des 'gegenwärtigen Gesetzes,:unbeschadet der verfassungsmäßigen Rechte der Vertretungskörper" mit 800.000 Mann für die Dauer von 10 Jahren bestimmt; Anträge auf Belassung oder Änderung dieses Kriegsstandes waren "jedenfalls vor Schluß des neunten Jahres verfassungsmäßig bei den Vertretungskörpern beider Ländergebiete behufs einer neuen Vereinbarung einzubringen". 20 Im Zusammenhang mit § 11 wurde im § 13 bestimmt, daß das für die festgelegte Heeresstärke sowie die Ersatzreserve erforderliche Wehrpflichtigenkontigent, das nach der Bevölkerungszahl zwischen den Reichsratsländern und den Ländern der ungarischen Krone aufzuteilen ist, innerhalb von 10 Jahren nur dann in Frage gestellt werden kann, "wenn der Kaiser im Wege der verantwortlichen Regierungen eine Vermehrung oder Verminderung des Kontingents für notwendig erachtet". Bei der 17 Siehe hiezu insb. die auf Initiative des AH getroffene Regelung des § 17 des Wehrgesetzes, RGBl. Nr. 151/1868, und die FN 9. 18 Gesetz vom 13. Juni 1880, RGBl. Nr. 70, betreffend die Militärtaxe, den Militärtaxfonds und die Unterstützung hilfsbedürftiger Familien von Mobilisierten. 19 Gesetz vom 19. April 1872, RGBl. Nr. 60, über die Verleihung von Anstellungen an ausgediente Unteroffiziere. 20 Siehe hiezu FN 13.

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Behandlung des Wehrgesetzes im AH standen diese §§ 11 und 13 im Zentrum der parlamentarischen Auseinandersetzungen. Gegenstand der Debatte waren dabei einerseits die Fragen, ob die Höhe des vorgesehenen Kriegsstandes budgetär bzw. volkswirtschaftlich vertretbar sei, und ob der Schwerpunkt der bewaffneten Macht im stehenden Heer oder in der Landwehr liegen solle, andererseits die verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte einer Einschränkung der parlamentarischen Rechte durch die genannten Bestimmungen. Die in diesem Rahmen aufgetretene Frage, ob der vorgesehene § 11 eine Änderung der verfassungsgesetzlich durch die §§ 11 lit. b. und 13 Abs. 3 des Gesetzes RGBl. Nr. 141/ 1867 dem Reichsrat garantierten Rechte bedeute und daher gern. § 15 Abs. 2 leg. cit. zur Beschlußfassung in beiden Häusern einer Zweidrittelmehrheit bedürfe, wurde vom AH verneint. Hinsichtlich des vorgesehenen § 13 wurde jedoch die gleiche Frage bejaht und diese Bestimmung auch mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen. Den politischen Kern dieser Thematik bildete neben der Frage eines befristeten Verzichts auf parlamentarische Rechte eine grundsätzlich distanzierte Haltung der Verfechter des Verfassungsstaates zum stehenden Heer und ihre Hinwendung zu einem Milizsystem als Reaktion auf die absolutistische Ära, in der das Heer dem Monarchen als politisches Machtinstrument zur freien Verfügung gestanden ist. So führte der Berichterstatter des Wehrausschusses am 10. November 1868 u. a. aus: "Der Ausschuß erkennt in seiner überwiegenden Majorität die allgemeine Wehrpflicht ... als die einzig rüstige, moralische Grundlage eines gesunden Wehrsystems, als die einzige Grundlage für einen unter den gegebenen Verhältnissen relativ wohlfeisten Heeresorganismus und in Verbindung mit der militärischen Jugenderziehung als die Brücke für den seinerzeitigen Übergang zum Milizsysteme, abgesehen davon, daß durch die Annahme dieses Prinzipes auch eine größere Annäherung zwischen Heer und Volk erzielt, endlich den Anforderungen des Rechtsstaates entsprochen wird." Bemerkenswert an diesen Ausführungen ist aus der heutigen Sicht auch der Umstand, daß sie nach mehr als einem Jahrhundert unter völlig veränderten verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Bedingungen im Kern ihrer Aussage durchaus wehr- und rechtspolitischen Vorstellungen in dem zur Republik und zum dauernd neutralen Kleinstaat gewordenen Österreich entsprechen. Mit einzelnen Änderungen, im wesentlichen aber entsprechend der RV wurde das Wehrgesetz im AH nach Beratungen, die am 22. Oktober 1868 begonnen hatten, am 13. November 1868 mit 118 gegen 29 Stimmen beschlossen. Das HH ist dieser Vorlage am 28. November 1868 "mit mehr als Zweidrittelmajorität ohne Änderung in 3. Lesung beigetreten". Die Sanktion des Kaisers wurde am 5. Dezember 1868 in Ofen erteilt. Die

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Kundmachung im RGBl. erfolgte am 8. Dezember 1868. Damit war der Grundstein für den weiteren Ausbau des österreichischen Wehrrechts gelegt. Dieser weitere Ausbau erfolgte zunächst mit dem Landwehrgesetz von 1869 (samt Novellen aus den Jahren 1872 und 1874), mit drei Novellierungen des Wehrgesetzes von 1868 in den Jahren 1878, 1879 und 1882, wobei auf die zuletzt erwähnte Novelle 1883 ein neues Landwehrgesetz folgte, und schließlich mit dem Landsturmgesetz von 1886. Ferner wurden in diesem Zeitraum die bereits erwähnten Gesetze über die Militärtaxe und über die Anstellung ausgedienter Unteroffiziere beschlossen. Im Gesetz vom 13. Mai 1869, RGBl. Nr. 68, über die Landwehr für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder 21 wurden die im Wehrgesetz von 1868 bereits enthaltenen Grundsätze 22 - teilweise unter Wiederholung dieser Bestimmungen - näher ausgeführt und der Wirkungskreis des Landesverteidigungsministers für den Frieden global mit "allen Angelegenheiten der Landwehr" (unter Beifügung einer demonstrativen Aufzählung) abgegrenzt. Für den Fall eines Krieges wurde vorgesehen, daß die Landwehr auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes "ausnahmsweise auch außerhalb des Gesamtumfanges der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder verwendet werden" kann; bei Gefahr im Verzuge konnte, wenn der Reichsrat nicht versammelt war, eine solche Verwendung "unter Beobachtung der Bestimmungen des § 14 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 141",23 angeordnet werden. Eine Erhöhung 21 Über die parlamentarische Behandlullg-des Land'wehrgesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH 4. U. 5. Sess.1868, 1869 (RV 76 dBlg.; 1. Lesung 4205; 2. Lesung 5303-5329,5331-5365,5369-5395; 3. Lesung 5395, 5396; Änderungen des HH 5772, 5967, 5968) und die Steno prot. HH 5. Sess 1869 (1. Lesung 1657; 2. Lesung 17381745; 3. Lesung 1745; Beitritt des AH 1871). 22 Siehe §§ 2, 3, 4, 8, 10, 12, 15, 31, 36, 39, 48 und 49 sowie Art. III Abs. 3 des Wehrgesetzes, RGBl. Nr. 151/1868. 23 § 14 leg. cit. lautete: ,,§ 14. Wenn sich die dringende Nothwendigkeit solcher Anordnungen, zu welchen verfassungsmäßig die Zustimmung des Reichsrathes erforderlich ist, zu einer Zeit herausstellt, wo dieser nicht versammelt ist, so können dieselben unter Verantwortung des Gesamtministeriums durch kaiserliche Verordnung erlassen werden, in soferne solche keine Abänderung des Staatsgrundgesetzes bezwecken, keine dauernde Belastung des Staatsschatzes und keine Veräußerung von Staatsgut betreffen. Solche Verordnungen haben provisorische Gesetzeskraft, wenn sie von sämmtlichen Ministern unterzeichnet sind und mit ausdrücklicher Beziehung auf diese Bestimmung des Staatsgrundgesetzes kundgemacht werden. Die Gesetzeskraft dieser Verordnung erlischt, wenn die Regierung unterlassen hat, dieselben dem nächsten nach deren Kundmachung zusammentretenden Reichsrathe, und zwar zuvörderst dem Hause der Abgeordneten binnen vier Wochen nach diesem Zusammentritte zur Genehmigung vorzulegen, oder wenn dieselben die Genehmigung eines der beiden Häuser des Reichsrathes nicht erhalten. Das Gesammtministerium ist dafür verantwortlich, daß solche Verordnungen, sobald sie ihre provisorische Gesetzeskraft verloren haben, sofort außer Wirksamkeit gesetzt werden."

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der schon im Wehrgesetz von 1868 festgelegten Zahl der Landwehr-Bataillone und Eskadrone bedurfte der Bewilligung des Kaisers und der Zustimmung des Reichsrates. Die territorial unter Betonung landsmannschaftlicher Gesichtspunkte organisierte Landwehr war weitgehend in das Kommando- und Ergänzungsgefüge des stehenden Heeres eingebunden. Für die Landwehr galten die gleichen Ansprüche auf Gebühren, Invaliditätsversorgung sowie Witwen- und Waisenversorgung (diese ursprünglich nur bei Landwehroffizieren) wie für das stehende Heer. Als die Kommandosprache der Landwehr wurde "im ganzen Umfange der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder jene des stehenden Heeres" bestimmt. Diese war die deutsche Sprache, allerdings nicht kraft einer gesetzlichen Bestimmung. Die Kommandosprache des stehenden Heeres war nämlich nicht gesetzlich normiert, sondern in die Verfügung des Kaisers als Oberbefehlshabers gestellt. 24 Dennoch läßt die Debatte des AH des Reichsrates zu der zit. Bestimmung des Landwehrgesetzes deutlich erkennen, daß nationale Belange in Verbindung mit liberalem Gedankengut auch im Bereich der Wehrgesetzgebung zum Gegenstand der Diskussion wurden. Aus diesem Gedankengut, insb. auch aus der liberalen Abwehrhaltung gegen zentralistische Einrichtungen, die als typisch für den Absolutismus empfunden wurden, kamen ferner Widerstände gegen die weitgehende Einbindung der Landwehr in die Organisation des stehenden Heeres mit Forderungen nach stärkerer "Föderalisierung" der Landwehr und nach einer stärkeren Ausprägung des Milizsystems. 25 Diesen Tendenzen traten allerdings das Gesetz vom 1. Juli 1872, RGBl. Nr. 93, womit mehrere Paragraphen des Gesetzes vom 13. Mai 1869 (RGBl. Nr. 68) über die Landwehr für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder abgeändert werden,26 sowie das Gesetz vom 14. Mai 1874 (RGBl. Nr. 58, womit mehrere Paragraphen der Gesetze vom 13. Mai 1869 (RGBl. Nr. 68) und vom 1. Juli 1872 (RGBl. Nr. 93) über die Landwehr für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder abgeändert werden,27 entgegen. 24 Siehe hiezu FN 8. 25 Siehe hiezu FN 21. 26 Mit dieser Novelle wurden die §§ 7, 8, 9, 10, 13 und 15 des Landwehrgesetzes

RGBl. Nr. 68/1869 geändert. Über ihre parlamentarische Behandlung im Reichsrat s. die Steno Prot. AH 7. Sess. 1872 (RV 107 dBlg., AB 186 dBlg; 1. Lesung 521; 2. Lesung 990-1021; 3. Lesung 1021) und die Steno Prot. HH 7. Sess. 1872 (1. Lesung 202, 210, 213; 2. Lesung 221; 3. Lesung 222). 27 Mit dieser Novelle wurden die §§ 20 und 21 des Landwehrgesetzes in seiner Stammfassung sowie die §§ 10, 13,14 und 15 des Landwehrgesetzes i. d. F. des Gesetzes RGBl. Nr. 93/ 1872 geändert. Die RV wurde einer Resolution des HH vom 17. Juni 1872 anläßlich der Verabschiedung der ersten Novelle entsprechend in das HH eingebracht. In dieser Resolution ist u. a. ausgeführt: "Das Herrenhaus fordert jedoch die Regierung gleichzeitig auf, sobald als möglich im verfassungsmäßigen

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Es hatte sich nämlich gezeigt, daß vor allem die Bereiche der Ergänzung, der Kommandostruktur und der Ausbildung, aber auch der Besoldung und Versorgung verbesserte Grundlagen im Sinne einer Hinwendung der Landwehr zum Kadersystem erforderten. So wurden erweiterte Instruktionsund Führungskader mit einem erhöhten Präsenzstand geschaffen, die Dauer der Waffenübungen erhöht sowie für die neu vorgesehenen "berittenen Schützen" und die Landwehr-Kavallerieoffiziere neue Grundausbildungsbzw. Waffenübungsregelungen getroffen. Die Einführung von Waffenübungen für die Landwehr-Kavallerie insgesamt sowie die Errichtung von Landwehr-Kavalleriekadern, die in den RV der ersten wie der zweiten Novelle mit der Begründung entsprechender Erfahrungen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 gefordert wurden, fanden jedoch in beiden Fällen keine parlamentarische Mehrheit. Auf sozialem Gebiet wurden hingegen die angestrebten Verbesserungen durch Besoldungs- sowie Witwen- und Waisenversorgungsregelungen beschlossen. Im Jahre 1878 war die erste Novellierung des Wehrgesetzes von 1868 Gegenstand parlamentarischer Beratungen. Die außenpolitische Lage war damals gekennzeichnet durch die sogenannte "orientalische Frage", die insb. mit dem Russisch-Türkischen Krieg 1877 /78, der Okkupation Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn sowie dem Berliner Kongress konkret in Erscheinung trat. In diesem Jahr lief die in den §§ 11 und 13 des Wehrgesetzes von 1868 für 10 Jahre festgelegte Geltungsdauer der Kriegsstärke des Heeres und der Kriegsmarine (800.000 Mann) sowie der dieser Stärke entsprechenden "Repartitionsquoten" der Rekrutenkontingente beider Reichshälften ab. Da eine diesbezügliche Änderung der Rechtslage nicht ohne tiefgreifende Konsequenzen für die Organisation der gesamten bewaffneten Macht und damit für deren Einsatzfähigkeit geblieben wäre, wurde die Wirksamkeit der zit. Bestimmungen des Wehrgesetzes verlängert. Dies geschah zunächst im Wege eines Provisoriums für das Jahr 1879 mit dem Gesetz vom 31. Dezember 1878, RGBl. Nr. 3/1879, womit die Wirksamkeit der in den §§ 11 und 13 des Wehrgesetzes vom 5. Dezember 1868 (RGBl. Nr. 151) in Betreff des Kriegsstandes des stehenden Heeres und der Kriegsmarine, dann in Betreff der Rekrutenkontingente für beide

Wege die Zustandebringung jener ergänzenden Einrichtungen in Angriff zu nehmen, welche erforderlich sind, um dem Wortlaute der Allerhöchsten Thronrede gemäß die Landwehr auf jene Stufe der Entwicklung zu bringen, auf welcher sie dem stehenden Heere die wirksamste Unterstützung zu gewähren vermag." Über die parlamentarische Behandlung der Novelle im Reichsrat s. die Steno Prot. HH 8. Sess. 1874 (RV 16 dBlg., AB 179 dBlg.; 1. Vorlage 54-55, 67-69; 2. Vorlage 341, 348-352) und die Steno Prot. AH 8. Sess. 1874 (Beschluß des HH 116 dBlg., AB 179 dBlg.; 1. Lesung 974,975; 2. Lesung 2264-2285,2291-2310; 3. Lesung 2310).

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Staatsgebiete der Monarchie enthaltenen Bestimmungen bis zum Schlusse des Jahres 1879 verlängert wird. 28 Hinsichtlich des § 13 des Wehrgesetzes blieben angesichts der bloß für das Jahr 1879 normierten Geltungsdauer die Verfassungsbestimmungen der §§ 11 lit. bund 13 Abs.3 des Gesetzes RGBl. Nr. 141/1867 unberührt, so daß für die Beschlußfassung nur die einfache Mehrheit erforderlich war. Die Bedeutung, die den §§ 11 und 13 des Wehrgesetzes sowohl aus der parlamentarischen Perspektive als auch aus dem Blickwinkel der militärischen Belange, insb. der Heeresorganisation, zukam und schon in der parlamentarischen Behandlung 1868 ihren entsprechenden Niederschlag gefunden hatte, bildete auch bei dieser Novelle den Ansatzpunkt für eine breite Grundsatzdebatte über das Wehrsystem sowie davon berührte innen- und außenpolitische Fragen. Mit dem Gesetz vom 20. Dezember 1879, RGBl. Nr. 145, womit die Wirksamkeit der in den §§ 11 und 13 des Wehrgesetzes vom 5. Dezember 1868 (RGBl. Nr. 151) in Betreff des Kriegsstandes des stehenden Heeres und der Kriegsmarine, dann in Betreff der Rekrutenkontingente für beide Staatsgebiete der Monarchie enthaltenen Bestimmungen bis zum Schlusse des Jahres 1889 verlängert wird, wurde in der Folge die seit 1868 geltende Rechtslage für weitere 10 Jahre aufrechterhalten. 29 Der Wehrausschuß des AH konnte sich - wie in seinem Bericht ausgeführt ist - mehrheitlich der schon in der Begründung der RV dargelegten "Erkenntnis nicht verschließen, daß bei der gegenwärtigen Weltlage und den Machtverhältnissen der bedeutenderen Staaten Europas an eine Verminderung des Kriegstandes des Heeres und der Kriegsmarine, welche naturgemäß auch mit einer tiefgreifenden Reorganisierung verbunden wäre, dermal nicht gedacht werden kann". Anträge auf eine Verlängerung nur auf Jahresfrist bzw. auf Festlegung einer verminderten Friedensstärke blieben in der Minderheit. Dennoch konnte die RV nur in einer schwierigen Prozedur unter Einschaltung der nach § 11 des Geschäftsordnungsgesetzes, RGBl. Nr. 94/1873,30 28 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH 8. Sess 1878 (RV 881 dBlg., AB 893 dBlg.; 1. Lesung 13074; 2. Lesung 13126-13148, 13152-13186, 13190 -13201; 3. Lesung 13201) und die Steno Prot. HH 8. Sess. 1878 (1. Lesung 1354; 2. Lesung 1360-1365; 3. Lesung 1365). 29 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat S. die Steno Prot. AH 9. Sess. 1879 (RV 11 dBlg., AB 60 dBlg; 1. Lesung 61,62; 2. Lesung 512539,542-573,576-613,616-651,654-678; 3. Lesung 682; Änderungen des HH 793, 837-844,848,849,860,865-882) und die Steno Prot. HH 9. Sess. 1879 (1. Vorlage 53, 54, 57 -77; 2. Vorlage 89 - 92; Konferenz 93, 96; Beitritt des AH 97). 30 § 11 des Gesetzes vom 12. Mai 1873 lautete: ,,§ 11. Wenn bei der Berathung des Jahresbudgets, eines anderen Finanzgesetzes, des Recrutengesetzes oder einer dringenden Regierungsvorlage, in Betreff deren die Entscheidung nicht bis zur nächsten Session verschoben bleiben kann, die Uebereinstinimung der beiden Häuser nicht zu erzielen ist, so haben von beiden Häusern in gleicher Anzahl gewählte Mitglieder zu einer Conferenz zusammenzutreten, um einen gemeinschaftlichen Bericht zu

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gebildeten Konferenz verabschiedet werden. Das AH hatte nämlich die in der RV vorgesehene Verlängerung der Wirksamkeit des § 13 des Wehrgesetzes, der den zehnjährigen Verzicht des Parlaments auf eine Änderung der Rekrutierungsquoten enthielt, mit 178 : 146 Stimmen abgelehnt; demnach wäre nur die Kriegsstärke (800.000 Mann) weiter für 10 Jahre festgelegt worden. Das HH änderte aber diesen Beschluß im Sinne der RV ab. Über diese Änderung hat das AH in der Folge mit 180 Ja-Stimmen gegen 133 Nein-Stimmen entschieden; da mit diesem Ergebnis die notwendige Zweidrittelmehrheit verfehlt wurde, war die Änderung des RH abgelehnt. Das HH seinerseits beharrte auf seinem Standpunkt und faßte am 18. Dezember 1879 einstimmig den Beschluß, zur weiteren Behandlung der Angelegenheit die in der zit. Geschäftsordnungsbestimmung vorgesehen Konferenz von je 9 Mitgliedern beider Häuser zu bilden. Nach dem Bericht dieser Konferenz hat das AR am 20. Dezember 1879 das Gesetz in der vom HH geänderten Fassung mit der hinsichtlich des § 13 des Wehrgesetzes erforderlichen Zweidrittelmehrheit beschlossen. Vom HH war bereits anläßlich seines ersten Beschlusses am 13. Dezember 1879 im Sinne der von beiden Häusern betonten Notwendigkeit einer Reduzierung der budgetären Aufwendungen folgende Resolution gefaßt worden: "Das Herrenhaus spricht seine zuversichtliche Erwartung aus, daß die hohe Regierung selbst innerhalb des Rahmens der bestehenden Heeresorganisation alle jene Ersparungen einführen werde, welche im Hinblick auf die mißliche Lage der Staatsfinanzen und die ökonomischen Verhältnisse der Bevölkerung dringend geboten sind." Hinsichtlich verschiedener Änderungsbedürfnisse, die sich zu den geltenden Bestimmungen des Wehrgesetzes ergeben haben, enthält der Bericht des Wehrausschusses des AH folgenden Hinweis auf die in den Jahren 1880 bis 1882 realisierte Novellierung: "Nachdem jedoch der Herr Landesverteidigungsminister dem Ausschusse Mitteilung gemacht, daß die erstatten, welcher sofort in demjenigen Hause zuerst in Verhandlung kommt, welches in diesem Gegenstande früher Beschluß gefaßt hat. Der Antrag auf Einsetzung dieser Conferenz kann in jedem der beiden Häuser gestellt werden, sobald über den betreffenden Gegenstand in jedem Hause mindestens zweimal Beschluß gefaßt wurde. Ein solcher Antrag, von dem einen Hause zum Beschlusse erhoben, kann von dem anderen Hause nicht abgelehnt werden. Die gemeinsamen Conferenzen wählen zwei Vorsitzende, und zwar je einen aus den Mitgliedern des Herrenhauses und jenen des Abgeordnetenhauses, welche abwechselnd den Vorsitz führen. Ueber den Vorsitz in der ersten Sitzung entscheidet das Los. Die Abstimmungen erfolgen mitte1st Stimmzettel, auf welchen über die gestellte Abstimmungsfrage mit "Ja" oder "Nein" votiert wird. Die Präsidenten der Häuser haben das Recht, den Conferenzen mit berathender Stimme beizuwohnen. Das Ergebnis der Berathung wird in einem gemeinsamen Berichte beiden Häusern mitgetheilt, und zwar in jedem Hause durch den betreffenden Vorsitzenden der Conferenz" .

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hohe Regierung selbst die Absicht hege, nach gepflogenem Einvernehmen mit dem königlich ungarischen Ministerium in nicht ferner Zeit im Abgeordnetenhause eine Vorlage einzubringen, welche sich auf Änderungen einzelner Bestimmungen des Wehrgesetzes beziehen sollen, glaubte die Majorität des Ausschusses sich auf die demselben zunächst gewordene Aufgabe beschränken und die Prüfung aller Änderungsvorschläge jener Zeit vorbehalten zu sollen, in welcher die diesbezügliche Regierungsvorlage zur Verhandlung gelangen würde." Dieser Ankündigung entsprechend wurde im Jahre 1880 eine RV in das AH eingebracht, die eine Abänderung zahlreicher Bestimmungen des Wehrgesetzes enthielt. Mit dem Gesetz vom 2. Oktober 1882, RGBl. Nr. 153, womit mehrere Paragraphen des Wehrgesetzes vom 5. Dezember 1868 (RGBl. Nr. 151) abgeändert werden,31 sind vor allem die Wehrdienstpflicht in der Kriegsmarine und in der Ersatzreserve sowie weite Teile des Ergänzungswesens neu gestaltet worden. Dabei bildeten Schwerpunkte der Änderungen die neu eröffnete Möglichkeit, zusätzlich zu den bisher drei jeweils stellungspflichtigen Geburtsjahrgängen einen vierten heranzuziehen, sowie eine Neugestaltung des Einjährig-Freiwilligendienstes, insb. "mit dem speziellen Hinblicke auf die für die industrielle Bildung so wichtigen Staatsgewerbeschulen. " Ferner wurden die Bewilligungspflicht für eine Auswanderung verschärft und Möglichkeiten einer verstärkten Bedachtnahme auf öffentliche Interessen bei bestimmten Berufsgruppen (Geistliche, Lehrer, Landwirte) sowie allgemein auf "besonders rücksichtswürdige Familienverhältnisse" im Bezug auf die Wehrdienstpflicht geschaffen. Im Anschluß an die Wehrgesetznovelle von 1882 wurde dem Reichsrat die RV eines neuen Landwehrgesetzes vorgelegt, das - wie im Motivenbericht festgehalten ist - "eine Zusammenfassung und Vereinfachung der mit den Gesetzen vom 13. Mai 1869, 1. Juli 1872 und 14. Mai 1874, über die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder sukzessive getroffenen Bestimmungen enthielt. Dieses Gesetz vom 14. Mai 1883, RGBl. Nr. 87, über die kk. Landwehr für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder im Anschlusse an die Bestimmungen des Wehrgesetzes 32 brachte 31 Mit dieser Novelle wurden die §§ 4, 14, 15,21,25, 27, 31 bis 34, 36, 39 bis 41, 44, 45 und 52 bis 55 des Wehrgesetzes, RGBl. Nr. 151/1868, geändert. Über ihre parlamentarische Behandlung im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 9. Sess. 1880 -1882 (RV 180 dBlg., AB 327 dBlg.; 1. Lesung 2668; 2. Lesung 6211-6241, 6262-6293, 6309-6321,6325-6346,6351-6369; 3. Lesung 6387) und die Steno Prot. HH, 9. Sess. 1881, 1882 (1. Lesung 683, 684; 2. Lesung 911; 3. Lesung 911). 32 Über die parlamentarische Behandlung dieses Landwehrgesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 9. Sess. 1883 (RV 640 dBlg., AB 713 dBlg.; 1. Lesung 9078; 2. Lesung 10701-10720,10724-10735; 3. Lesung 10750) und Steno Prot. HH, 9. Sess. 1883 (1. Lesung 1288; 2. Lesung 1338-1342; 3. Lesung 1342).

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aber auch Veränderungen gegenüber der bisherigen Rechtslage, und zwar - wie im Bericht des Wehrausschusses einleitend dargelegt ist - im wesentlichen ,,1. die Normierung des Minimalstandes der Landwehr,

2. die Überweisung der Organisation der Landwehr im Detail von der Legislative an die Exekutive, 3. die Ermöglichung der Bildung von Landwehrkavallerie-Kader." Die bemerkenswerte gesetzestechnische Verbesserung durch den Verzicht auf eine Wiederholung von Bestimmungen des Wehrgesetzes im Landwehrgesetz 33 bildet einen gewissen formalen Zusammenhang mit der Beseitigung näherer organisationsrechtlicher Vorschriften aus dem Gesetz. Dies gescha!J. unter Berufung auf das nach § 5 Abs. 2 des Gesetzes RGBl. Nr. 146/1867 ausschließlich dem Kaiser vorbehaltene Recht auf "Anordnungen in Betreff der Leitung, Führung und inneren Organisation der gesamten Armee" sowie mit einer Absage an die Kasuistik, nämlich mit der Begründung, daß "eine gesetzliche Fixierung der kleinsten Bestandteile und Faktoren eines jeden lebendigen Organismus für dessen naturgemäße entsprechende Funktionierung und Entwicklung auf die Dauer sich stets nur schädlich zu erweisen vermochte." Die Regierung erlangte damit einen erweiterten Spielraum bei der Gestaltung der Heeresorganisation, nachdem ihren Wünschen bei den Novellen von 1872 und 1874 nur teilweise entsprochen, die Bildung von Landwehrkavallerie-Kadern aber zur Gänze abgelehnt worden war. 34 Über diesen konkreten Ansatz hinaus ist hier allerdings ein wesentliches Element des eingangs erwähnten Spannungsfeldes der Wehrgesetzgebung, nämlich die Frage des Ausmaßes gesetzlicher Determinierungen im Wehrrecht, angesprochen. Als Schluß stein des Wehrsystems von 1868 sollte die dritte Linie der bewaffneten Macht nach dem stehenden Heer und der Landwehr, der Landsturm, mit einer eigenen gesetzlichen Regelung eingerichtet werden. Diesbezügliche RV aus den Jahren 1868 35 und 1880 36 sahen einen Landsturm auf freiwilliger Basis vor, dessen Offiziere von den Landsturmkompa33 Hiezu ist im Motivenbericht der RV u. a. ausgeführt: "Indem sich dieser Entwurf ausdrücklich den Bestimmungen des Wehrgesetzes anschließt, wurden dieselben, welche die Landwehr betreffen, im vorliegenden Gesetz nicht wieder aufgenommen, nachdem sie bereits in einem, durch die gleichen Faktoren gegebenen Gesetze als vollgiltig maßgebend bestehen, und derart in ihrer dauernden Einheitlichkeit und Verbindung mit den übrigen Satzungen des Wehrgesetzes am klarsten gewährleistet erschienen." 34 Siehe hiezu FN 26 und 27. 35 Siehe die Steno Prot. AH, 4. Sess. 1868, 1869 (RV 18 dBlg., AB 77 dBlg.; 4205, 5405 - 5421). 36 Siehe die Steno Prot. AH, 9. Sess. 1880 (RV 181 dBlg.; 2668).

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nien selbst gewählt werden sollten. In beiden Fällen führten die vorgelegten Entwürfe zu keinem Gesetzesbeschluß, weil die Regelung für zu allgemein und das vorgesehene System "für einen wirklichen Kriegsfall von keinem praktischen Werte" erachtet wurde. Erst durch das Gesetz vom 6. Juni 1886, RGBl. Nr. 90, betreffend den Landsturm für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg,37 wurde der Landsturm als "subsidiarisches Verteidigungselement" geschaffen. Mit dem zit. Gesetz wurde eine spezielle Landsturmpflicht als eine abstrakte Verpflichtung für "alle wehrfähigen Staatsbürger", die nicht dem Heer (bzw. der Kriegsmarine), der Ersatzreserve oder der Landwehr angehören, normiert. Diese Landsturmpflicht erstreckte sich auf die Zeit vom vollendeten 19. bis zum vollendeten 42. Lebensjahr, bei Offizieren und Militärbeamten im Ruhestand oder im Verhältnis außer Dienst bis zum vollendeten 60. Lebensjahr. Eine Konkretisierung dieser Verpflichtung war nur für den Fall einer Aufbietung des Landsturms vorgesehen; außerhalb einer solchen Aufbietung war der Landsturmpflichtige ausdrücklich keinerlei Kontroll- oder Übungspflichten unterworfen. Die Aufbietung des Landsturms kam nur "in dem Falle und für die Dauer einer kriegerischen Bedrohung oder eines ausgebrochenen Krieges" in Betracht und hatte "auf Befehl des Kaisers, nach Vernehmung des Ministerrates, im Wege des Ministers für Landesverteidigung in jenem Umfange, als es die Interessen der Landesverteidigung erfordern", zu erfolgen; die Auflösung des Landsturms war vom Kaiser anzuordnen. Wie die Verwendung der Landwehr war auch die Verwendung des Landsturms auf den "Gesamtumfang der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" beschränkt und außerhalb dieses Bereiches nur kraft Ermächtigung durch ein besonderes Reichsgesetz - bei Gefahr im Verzuge auf Anordnung des Kaisers unter Verantwortung der Regierung und nachträglich "genehmigender Kenntnisnahme" durch den Reichsrat - zulässig. (Eine solche Anordnung erfolgte bei Kriegsausbruch 1914 und wurde 1917 dem Reichsrat vorgelegt - RV 170 dBlg. zu den Steno Prot. AH, 22. Sess. 1917). Der Landsturm diente in erster Linie der Entlastung des Heeres und der Landwehr von der "lokalen Verteidi37 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 10. Sess. 1886 (RV 106 dBlg., AB 149 dBlg.; 1. Lesung 701; 2. Lesung 20922128,2133-2168,2171-2194,2199-2250; 3. Lesung 2256,2257) und die Prot. HH 10. Sess. 1886 (1. Lesung 115; 2. Lesung 170 -185; 3. Lesung 185). Hinsichtlich der besonderen landesgesetzlichen Regelung für Tirol und Vorarlberg s. FN 15 sowie Schmid, Heeresrecht 91 ff.; der Tiroler Abg. Ignaz v. Giovanelli betonte in der Debatte des AH am 14. April 1886 ausdrücklich, daß die Tiroler Abg. mit der Zustimmung zum Landsturmgesetz keinesfalls "dem Rechte des Landes Tirol in Bezug auf die verfassungsmäßig ihm zustehende Befugnis der Gesetzgebung über Landesverteidigung und Landsturmangelegenheiten in irgend einer Weise Eintrag tun wollen."

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gung" sowie von überwiegend technisch-administrativen Aufgaben, darüber hinaus aber in besonderen Bedarfsfällen auch der Ergänzung von Heer und Landwehr. Die Evidenz der Landsturmpflichtigen war durch die Gemeindevorstehungen unter der Aufsicht der politischen Behörden in den "Sturmrollen" zu führen. Besoldung und Versorgung (einschließlich Hinterbliebenenversorgung) waren für den Landsturm an die entsprechenden Regelungen für das Heer und die Landwehr angeglichen. Da die Landsturmpflicht nicht nur den einzelnen Staatsbürger, sondern auch "alle Körperschaften, welche einen militärischen Charakter bzw. militärische Abzeichen tragen" erfaßte, war den kaiserlich genehmigten Bürgermilizen und Schützenkorps im besonderen das Recht auf Beibehaltung ihrer statutenmäßigen Uniform und Ausrüstung eingeräumt. Im übrigen war für den Landsturm keine Uniformierung, sondern lediglich "ein gemeinsames, auf Entfernung erkennbares Abzeichen" vorgesehen; die Offiziere und Unteroffiziere hatten zusätzlich die entsprechenden "militärischen Ehren- und Unterscheidungszeichen" zu führen. Der Landsturm war im $ 1 dieses Gesetzes ausdrücklich als ein integrierender Teil der Wehrkraft bezeichnet "und als solcher unter völkerrechtlichen Schutz gestellt". Um diesen völkerrechtlichen Schutz in wirksamer Weise sicherzustellen, wurde vom AH einem Antrag des Wehrausschusses. gem. 38 folgende Resolution gefaßt: "Die kk Regierung wird aufgefordert, im geeigneten Wege dafür Vorsorge zu treffen, daß der völkerrechtliche Schutz des Landsturms durch bindende internationale Vereinbarungen anerkannt und sichergestellt werde." Der Ausbau des Wehrsystems seit 1868, insb. aber auch der infolge der Okkupation Bosniens und der Herzegowina erhöhte Bedarf, führte zu einer Verknappung der Personalstände, so daß es notwendig wurde, die Möglichkeit einer zusätzlichen Ergänzung auf den erforderlichen Normalstand zu schaffen. Dies geschah durch das Gesetz vom 31. Mai 1888, RGBl. Nr. 77, betreffend die ausnahmsweise Beiziehung von Reservemännern und Ersatzreservisten zur aktiven Dienstleistung im Frieden. 39 38 In diesem Zusammenhang ist im Bericht des Wehrausschusses u. a. folgendes ausgeführt: "Dem Landsturme als einem integrierenden Teile der staatlich organisierten Wehrkraft soll der völkerrechtliche Schutz gesichert sein. Die Brüsseler Konferenz von 1874, welche sich die Regelung des internationalen Kriegsrechtes zur Aufgabe stellte, hat diesen Schutz den Landsturmkorps (Milizen, Freiwilligenkorps) zugesprochen unter der Bedingung, daß dieselben 1. von Personen geführt werden, die für ihre Untergebenen gegenüber ihrer Regierung verantwortlich sind, 2. bestimmte auf Entfernung erkennbare Abzeichen tragen, 3. daß ihre Angehörigen die Waffen offen tragen und 4. sich in ihren Operationen den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges fügen. Es ist selbstverständlich, daß in unserem Falle der Landsturm eben nur so gedacht und auch durch den Gesetzentwurf derart geregelt ist, daß jene völkerrechtlichen Kriterien ihm zukommen. Um das aufgetauchte Bedenken, daß die Abmachungen der Brüsseler Konferenz durch wechselseitige Ratifikationen nicht zur äußeren Geltung und Anerkennung gelangten, zu beseitigen, hat der Wehrausschuss beschlossen, dem hohen Abgeordnetenhause zu empfehlen, es sei die kk. Regierung aufzufordern ... ".

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Die Jahre 1888 bis 1894 umfassen die vorletzte Phase der Wehrgesetzgebung der österreichisch-ungarischen Monarchie. In dieser Phase wurde mit einem neuen Wehrgesetz, RGBl. Nr. 41/1889, und dessen Ergänzung im Jahre 1891 (Gesetz RGBl. Nr. 151/1891) sowie mit dem Landwehrgesetz, RGBl. Nr. 200/ 1893, und dem Landsturm-Meldepflichtgesetz, RGBl. Nr. 83/1894, das Wehrsystem in wesentlichen Punkten neu gestaltet. Das Gesetz vom 11. April 1889, RGBl. Nr. 41, betreffend die Einführung eines neuen Wehrgesetzes 40 war aus mehrfachen Gründen notwendig geworden. Zunächst bedurfte es hinsichtlich der §§ 11 und 13 des geltenden Wehrgesetzes, in denen der Kriegsstand des Heeres und der Kriegsmarine sowie die entsprechende Rekrutenkontingentierung zuletzt 1879 mit einer zehnjährigen Geltungsdauer festgelegt worden waren, einer Neuregelung. Darüber hinaus hatte sich aber vor allem das Ergänzungswesen als vom Grunde her reformbedürftig erwiesen. Von einer neuen gesetzlichen Festlegung des Kriegsstandes wurde Abstand genommen. In den Erläuterungen der RV ist hiezu u. a. ausgeführt: "Tatsächlich hat jedoch kein anderer Staat den Kriegsstand seines Heeres in das Wehrgesetz aufgenommen, indem es prinzipiell wohl die Aufgabe der Gesetzgebung ist, die Grundlage für die Inanspruchnahme der Bevölkerung für Wehrzwecke im Frieden und im Kriege zu regeln, nicht aber der Kriegsleistung innerhalb der gesetzlich zulässigen Inanspruchnahme offenbar unzweckmäßige Schrauben aufzuerlegen. Es muß daher ein ganz besonderer Wert darauf gerichtet werden, daß von der gesetzlichen Feststellung des Kriegsstandes des Heeres abgegangen, und nur die Festsetzung des jährlichen Rekruten-Kontingentes durch die Legislative beibehalten werde." In diesem Sinne wurden daher mit dem § 14 des neuen Wehrgesetzes für das Heer und die Kriegsmarine nur ein jährliches Rekrutenkontingent beider Reichshälften (insgesamt 103.100 Mann) sowie erstmalig auch ein Rekrutenkontingent für die Landwehr der Reichsratsländer außer Tirol und Vorarlberg (10.000 Mann) festgesetzt. Für diese Kontingente galt allerdings - wie nach § 13 des bisherigen Wehrgesetzes - eine zehnjährige Bindung, wobei diese Bestimmung vom AH noch durch eine Verpflichtung der 39 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AR, 10. Sess. 1888 (RV 581 dBlg., AB 590 dBlg; 1. Lesung 7568; 2. Lesung 80078012,8017-8039; 3. Lesung 8054) und die Steno Prot. HH, (638, 658); eine ähnliche Regelung war auch durch das Gesetz RGBl. Nr. 22/ 1888 zur Ausbildung "im Gebrauche der neuen Schußwaffe" getroffen worden. 40 Über die parlamentarische Behandlung des Wehrgesetzes von 1889 im Reichsrat S. die Steno Prot. AR, 10. Sess. 1888, 1889 (RV 670 dBlg. AB 685, 815 dBlg.; 1. Lesung 9440, 9441; 2.Lesung 10026-10052, 10059-10085, 10090-10121, 10124-10157, 10162-10205, 10209-10226, 10228-10253, 10257-10284, 10286, 10293, 1029810334; 3. Lesung 10334, 10335; Änderungen des HH 12141, 12197 -12204) und die Steno Prot. HH, 10. Sess. 1888, 1889 (1. Lesung 784, 785; 2. Lesung 897 -916; 3. Lesung 917; Beitritt des AH 924).

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Regierung ergänzt wurde, vor Ablauf dieses Zeitraumes dem Reichsrat rechtzeitig Vorlagen über eine Beibehaltung bzw. Änderung der Kontingente zu unterbreiten. Vom ungarischen Reichstag wurde jedoch bei der Behandlung des entsprechenden ungarischen Wehrgesetzes nach einer ausgedehnten Verfassungsdebatte die gleiche Regelung noch durch die ausdrückliche Festsetzung der zehnjährigen Dauer der Kontingentzahlen ergänzt; damit sollte im Interesse "einer stärkeren Sicherung der konstitutionellen Garantie" ausgeschlossen werden, daß die Kontingentfestsetzung auf dem Interpretationswege in infinitum aufrechterhalten wird. Diese Ergänzung wurde vom HH und in der weiteren Folge auch vom AH des Reichsrates in das österreichische Wehrgesetz als "absolute Sicherheit in Form einer positiven Deklaration" sowie im Interesse der Übereinstimmung dieses Gesetzes mit dem ungarischen Wehrgesetz 41 aufgenommen. Der Beginn der Wehrpflicht wurde vom 20. auf das 21. Lebensjahr verlegt, weil - wie in den Erläuterungen der RV bemerkt ist - "die Erfahrung ergeben hat, daß die Wehrpflichtigen der 1. Altersklasse vielfach zu schwach entwickelt waren", was zu häufigem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Präsenzdienst wegen eingetretener Untauglichkeit führte. Die mit der Wehrgesetznovelle von 1882 geschaffene Möglichkeit, ausnahmsweise eine 4. Altersklasse heranzuziehen, war infolgedessen zu einem unerwünscht regelmäßigen Korrektiv geworden. Um dies zu vermeiden und die ursprüngliche Beschränkung auf 3 Altersklassen in einem vereinfachten Stellungsverfahren beibehalten zu können, wurde die Altersgrenze auf das 21. Lebensjahr hinaufgesetzt, zumal bei rigoroser Beurteilung der körperlichen Eignung der Zwanzigjährigen kaum 30 % des jährlichen Rekrutenkontingents als Taugliche in Betracht kamen. Mit der Reform des Ergänzungswesens wurden Gliederung und Inhalt der Wehrdienstpflicht wesentlich verändert. So wurde die Ersatzreserve von einem selbständigen Teil der bewaffneten Macht zu integrierenden Bestandteilen des Heeres und der Landwehr umgestaltet. Dabei wurde auch im Zuge einer allgemein fortschreitenden legistischen Verbesserung der Wehrgesetzgebung der bisherige Ausdruck "stehendes Heer" durch "Heer" ersetzt, weil auch die Landwehr von einem ursprünglich milizartig konzipierten Körper zu einer "bleibenden, auch im Frieden bestehenden Institution" und die mit der Höhe eines Jahresrekrutenkontingents normierte Begrenzung der Ersatzreserve als für den Bedarfsfall bedenklich und in diesem Sinne "schädlichste Bestimmung des bestehenden Wehrgesetzes" aufgehoben worden war. Das Einjährig-Freiwilligen-System wurde im Sinne einer Straffung und Verbesserung der Ausbildung reformiert. Die nach besonderen Bestimmungen des Wehrgesetzes zeitlich befreiten Personengruppen (insb. Landwirte, Lehrer, aus Familienrücksichten Befreite) 41

Ungarischer Gesetzart. VI vom Jahre 1889 über die Wehrkraft.

42 Parlamentarismus

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wurden unbeschadet der jeweiligen Begünstigung in die Ersatzreserve des Heeres und der Landwehr eingeordnet, Priester bzw. Seelsorger waren lediglich in der Evidenz (nicht im Stande) der Ersatzreserve zu führen und nur im Mobilisierungfalle "zum Seelsorgedienst für die gesamte bewaffnete Macht" heranzuziehen. Die schon durch das Gesetz RGBl. Nr. 77 / 1888 geschaffene Möglichkeit zur ausnahmsweisen Heranziehung von Reservisten und Ersatzreservisten zur aktiven Dienstleistung auch im Frieden wurde systemgerecht in das Wehrgesetz eingebunden. In der parlamentarischen Debatte wurde das neue Wehrgesetz trotz der damit verbundenen Belastung der Staatsfinanzen und der Bevölkerung mit einer bemerkenswert breiten Übereinstimmung akzeptiert. Hiebei nahmen außenpolitische Aspekte, insb. die Bündnispolitik und Vergleiche mit beträchtlichen Steigerungen des Militärpotentials von Deutschland, Frankreich, Italien und Rußland, aber auch die Nationalitätenproblematik der Monarchie unter dem Ansatzpunkt der Kommandosprache verhältnismäßig großen Raum ein. Diese Problematik fand im übrigen auch ihren Niederschlag in einer der zahlreichen Resolutionen, die vom AH anläßlich des Gesetzesbeschlusses gefaßt wurden. Die Regierung wurde in dieser Resolution aufgefordert, hinsichtlich der Reserveoffiziersprüfung dafür Sorge zu tragen, daß "der Prüfungskandidat neben. dem Nachweis einer für den Dienst ausreichenden Kenntnis der deutschen Sprache Gelegenheit erhalte, die Prüfung in der; ihm geläufigen Sprache ablegen zu können". Das Wehrgesetz wurde vom AH mit einer Mehrheit von mehr als zwei Dritteln und vom HH einstimmig beschlossen. Durch das Gesetz vom 10. November 1891, RGBl. Nr. 159, betreffend Ergänzungen der §§ 17 und 52 des Wehrgesetzes 42 wurde noch nachträglich die Möglichkeit eröffnet, aus dem Einjährig-Freiwilligendienst hervorgegangene Reserveoffiziere des Heeres auch vor vollstreckter Heeresdienstpflicht in den Aktivstand der Landwehr übernehmen zu können. Das Gesetz vom 25. Dezember 1893, RGBl. Nr. 200, über die kk. Landwehr der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg, im Anschlusse an die Bestimmungen des Wehrgesetzes 43 brachte die Konsequenzen, die sich für die Landwehr aus der IlE~uen Konzeption nach dem Wehrgesetz 1889 ergaben. Sowohl in der RV als auch 42 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 11. Sess. 1891 (RV 83 dBlg., AB 102 dBlg; 1. Lesung 226; 2. und 3. Lesung 369, 370) und die Steno Prot. HH, 11. Sess. 1891 (1. Lesung 20, 22; 2. und 3. Lesung 72). 43 Über die parlamentarische Behandlung dieses Landwehrgesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 11. Sess. 1893 (RV 712 dBlg., AB 756 dBlg; 1. Lesung 11106; 2. Lesung 11625-11640, 11655-11682, 11690-11737; 3. Lesung 11743, 11744) und die Steno Prot. HH, 11. Sess. 1893 (1. Lesung 435-437; 2. Lesung 457-460; 3. Lesung 461).

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im Bericht des Wehrausschusses des AH wurde unter Hinweis auf die militär~sche Entwicklung in den meisten europäischen Staaten, in denen die Truppen der 2. Linie systematisch hinsichtlich Aufgabenbereich, Organisation und Ausbildung an die Truppen der 1. Linie angeglichen und die ursprünglichen Unterstützungsaufgaben der 2. Linie den Truppen der 3. Linie überlassen wurden, eine Erweiterung der Präsenzdienstpflicht in der Landwehr als unerläßlich festgestellt. Die Bindung einer Verwendung der Landwehr "außerhalb des Gesamtumfanges der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" an ein besonderes Reichsgesetz bzw. an die nachträgliche "genehmigende Kenntisnahme" durch den Reichsrat wurde angesichts der Einbeziehung der Landwehr in den operativen Aufgabenrahmen des Heeres beseitigt. Die Angleichung der Landwehr an das Heer ließ in der Debatte des AH u. a. auch mehrfach den - sachlich zweckmäßigen, aber praktisch unrealistischen - Gedanken an ein Aufgehen der Landwehr im Heer laut werden; angesichts der staatsrechtlichen und politischen Situation des Dualismus war nämlich nicht zu erwarten, daß Ungarn auf die als "nationale Armee" empfundene ungarische Landwehr verzichten würde. Dieser Umstand fand im besonderen in den Debattenbeiträgen der Abg. Dr. Paul Hofmann v. Wellenhof und Guido Graf Dubsky Erwähnung, wobei Hofmann u. a. auf die Entwicklung der Landwehr zu einem "integrierenden und gleichartigen Bestandteil unseres Heeres" in den durch die Gesetze v. 1872, 1874, 1883 und 1889 bezeichneten Etappen verwies, und Graf Dubsky aus der dem Heer gleichwertigen Zweckbestimmung der Landwehr gerade angesichts der erwähnten staatsrechtlichen Situation die Pflicht ableitete, "dafür zu sorgen, daß die Landwehr so ausgebildet werde, um ihrem Zwecke entsprechen zu können, ein gleichwertiger Bestandteil des Heeres zu sein". An der Bestimmung, nach der die Kommandosprache der Landwehr die des Heeres war, entzündete sich erneut eine Debatte um die Sprachenfrage; sie gipfelte in einem Antrag,44 nach dem die Kommandosprache der Landwehr nicht die des Heeres, sondern "die Volkssprache der bezüglichen Königreiche und Länder" sein sollte; dieser Antrag wurde abgelehnt. Das Landwehrgesetz wurde mit geringfügigen Änderungen gegenüber der RV und mit mehreren Resolutionen peschlossen. Mit dem Gesetz vom 10. Mai 1894, RGBl. Nr. 83, betreffend die Meldepflicht von Landsturmpflichtigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg,45 wurde für 44 Antrag des Abg. Georg Biankini (Sten. Prot. AH, 11. Sess. 1893, 11717 ff.). 45 Über die parlamentarische Behandlung dieses Wehrgesetzes im Reichsrat s. die

Steno Prot. AH, 11. Sess. 1893, 1894 (RV 796 dBlg., AB 870 dBlg.; 1. Lesung 12008; 2. Lesung 13155-13169, 13175-13210; 3. Lesung 13225, 13226) und die Steno Prot. HH, 11. Sess. 1894 (525-528). . 42*

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einen bestimmten Kreis von Landsturmpflichtigen eine Vorstellungspflicht und eine Meldepflicht bei Veränderungen des dauernden Wohnsitzes geschaffen. Damit sollten auch beim Landsturm die notwendigen Grundlagen für einen zweckmäßigen Mobilisierungsvorgang geschaffen werden. Die letzte umfassende Neuordnung des Wehrrechts vor dem Ende der Monarchie erfolgte in den Jahren 1911 und 1912. Kern dieser Wehrrechtsreform waren das Gesetz vom 5. Juli 1912, RGBl. Nr. 128, betreffend die Einführung eines neuen Wehrgesetzes 46 und das Gesetz vom 5. Juli 1912, RGBl. Nr.129, über die kk. Landwehr der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg, im Anschlusse an die Bestimmungen des Wehrgesetzes. 47 Wie in der RV des zit. Wehrgesetzes und im Bericht des Wehrausschusses des AH übereinstimmend festgestellt wurde, war in der Entwicklung des österreichischen Wehrwesens eine rund zwanzigjährige Stagnation eingetreten, während "die anderen Staaten Europas eifrig am Ausbau ihrer Wehrkräfte gearbeitet haben". Um die notwendigen Reorganisationen durchführen und die eingetretenen Schwächen, insb. auch im Bereich des Kaders, beseitigen zu können, bedurfte es einer Neugestaltung wesentlicher Grundzüge des Wehrsystems. Den Schwerpunkt bildeten dabei die notwendige Erhöhung des seit 1889 (mit einer Ausnahme in der Höhe von 125.000 Mann im Jahre 1903) unverändert gebliebenen Rekrutenkontingents von 103.100 Mann für die "gemeinsame Wehrmacht" (gemeinsames Heer und Kriegsmarine) und des Rekrutenkontingents für die Landwehr (bis 1902 10.000 Mann, 1903 bis 1~08 mit 14.520 Mann und seit 1909 mit 19.240 Mann neu festgesetzt),48 die Aufhebung des Lossystems für die Verteilung der Wehrpflichtigen auf die einzelnen Kategorien der bewaffneten Macht sowie eine grundsätzliche Vereinheitlichung der Präsenzdienstzeit auf ein verkürztes Ausmaß von 2 Jahren samt einer Neuordnung der Waffenübungen. 46 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 21. Sess. 1911, 1912 (RV 29 dBlg., AB 1478 dBlg.; 1. Lesung 2731, 2732, 2741- 2776, 2784 - 2809, 2820 -2854, 2865 - 2898, 2924 - 2959, 2970 -2978; 2. Lesung 4406-4434,4450-4482,4498-4538,4547-4591, 4600-4659, 4669-4737, 4748-4778; 3. Lesung 4778) und die Steno Prot. HH, 21. Sess. 1912 (240, 249-259). 47 Über die parlamentarische Behandlung dieses Landwehrgesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 21. Sess. 1911, 1912 (RV 30 dBlg., AB 1479 dBlg.; 1. Lesung 2731, 2732, 2741-2776, 2784-2809, 2820-2854, 2865-2898, 2924-2959, 2970-2978; 2. Lesung 4406-4434,4450-4482,4498-4501,4779-4822,4850; 3. Lesung 4850) und die Steno Prot. HH, 21. Sess. 1912 (263, 269-276). 48 Die Festsetzung der Rekrutenkontingente erfolgte nach Ablauf der zehnjährigen Geltungsdauer der Regelung von 1889 gemeinsam mit der jährlichen Aushebungsbewilligung für das jeweilige Jahr durch besonderes Gesetz, in den Jahren 1899, 1904 und 1911 durch kaiserliche Verordnung auf der Grundlage des § 14 des Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 (RGBl. Nr. 36/1899, 45/1900, 22/1901, 41/1902,53/1903,30/1904,34/1905,38/1906,22/1907,76 /1908,47/1909,46/ 1910, 63/1911).

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Angesichts der Herabsetzung der Präsenzdienstzeit für ca. 80 % der Wehrpflichtigen kam einem "nach Zahl und Qualität entsprechenden Unteroffizierskorps" besondere Bedeutung zu; diesem Erfordernis entsprechend wurde daher die für die Landwehr seit 1893 geltende Regelung, nach der "eine dem budgetmäßig festgestellten Stand an Unteroffizieren entsprechende Mannschaftszahl" zu einer dreijährigen Präsenzdienstzeit unter Reduzierung der Gesamtdienstpflicht, der Waffenübungspflicht und der Landsturmpflicht herangezogen werden kann, modifiziert auch für das gemeinsame Heer in das Wehrgesetz aufgenommen. Die Neufestsetzung der Rekrutenkontingente im Wehrgesetz 1912 war wesentlich durch den vorgesehenen Übergang auf die verkürzte Präsenzdienstzeit bestimmt. Im Hinblick auf den erforderlichen Übergangszeitraum wurde die bisherige gesetzliche Bindung von 10 Jahren durch § 13 dieses Wehrgesetzes auf 12 Jahre erweitert. Für die gemeinsame Wehrmacht wurden in einer dreijährigen Stufung 1912 bis 1914 steigende, ab diesem Jahr aber konstante Kontingente (135.000, 154.000 und 159.000 Mann) festgelegt; für die Landwehr wurde eine sechsjährige Stufung mit gleichbleibender Kontingenthöhe ab dem sechsten Jahr vorgesehen. (20.715,22.316,23.717,25.018,26.019 und 26.996 Mann). Einem Antrag des Wehrausschusses folgend wurde die parlamentarische Bewilligung der Aushebung des konkreten Jahreskontingents der Reichsratsländer für 1912 nicht einem gesonderten Gesetz vorbehalten, sondern der grundlegenden Regelung im Wehrgesetz angefügt. Weitere Reformen des neuen Wehrgesetzes betrafen im wesentlichen noch das Einjährigen-Freiwilligensystem, die Regelung der Waffenübungspflicht und besondere Begünstigungsregelungen. Neben noch weitergehenden Erleichterungswünschen und erneuten Auseinandersetzungen um die Nationalitätenproblematik wurden in der parlamentarischen Debatte u. a. auch Stimmen für die Alternative eines Milizsystems sowie gegen die militärische Assistenzaufgabe im sicherheitspolizeilichen Bereich laut. Beide Überlegungen stießen auf Ablehnung. Nach Meinung des Wehrausschusses wäre "das Milizsystem ganz unbrauchbar, da es nicht die notwendige Kriegstüchtigkeit und Schlagfertigkeit bewirkt". Ein Verzicht auf die Möglichkeit einer militärischen Assistenzleistung wurde angesichts der elementaren Regierungsaufgabe, die innere Sicherheit gerade in Extremsituationen gewährleisten zu können, für nicht vertretbar erachtet. Im Bericht des Wehrausschusses des AH ist diesbezüglich u. a. ausgeführt: "Sofern daher die normalen, zu diesen Zwecken bestehenden Mittel nicht ausreichen, muß ihr das stärkste Machtmittel des Staates, dessen bewaffnete Macht, durch eine gesetzliche Bestimmung zur Verfügung gestellt werden." Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch als wünschenswert festgehalten, "eine Regelung des l Waffengebrauches bei

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Militärassistenzen in präziser Weise durchzuführen". Wegen des nicht unmittelbar wehrrechtlichen Charakters einer solchen Regelung wurde dieses Anliegen nur zum Gegenstand einer der mit dem Wehrgesetz beschlossenen Resolutionen gemacht, von denen die meisten auf verschiedene Erleichterungen für Wehrpflichtige ausgerichtet waren. Das Wehrgesetz wurde entsprechend dem Antrag des Wehrausschusses mit nur wenigen Änderungen gegenüber der RV vom AH mit der erforderlichen Zweitdrittelmajorität und vom HH mit Stimmeneinhelligkeit beschlossen. Der enge Zusammenhang zwischen dem Wehrgesetz und dem Landwehrgesetz kam bei deren parlamentarischer Behandlung insb. auch dadurch zum Ausdruck, daß die 1. Lesung und die Generaldebatte der 2. Lesung beider Vorlagen gemeinsam durchgeführt wurden. Die Entwicklung der Landwehr von einer ursprünglich milizartigen Gliederung zu einem dem gemeinsamen Heer in 'Organisation und Ausbildung weitgehend gleichgestellten Bestandteil der bewaffneten Macht wurde mit diesen beiden Gesetzen abgeschlossen, "in dieser Richtung der letzte Schritt nach vorwärts getan", wie im Bericht des Wehrausschusses bemerkt ist. Die Präsenzdienstzeit in der Landwehr wurde in Angleichung an die des Heeres auf 2 Jahre, für die Landwehrkavallerie auf 3 Jahre verlängert und die nach dem neuen Wehrgesetz für das Heer geltende Waffenübungspflicht auf die Landwehr ausgedehnt, wodurch für deren Angehörige eine beträchtliche Verkürzung der Waffenübungspflicht eintrat. Wie schon im Jahre 1893 führte auch diesmal die Bestimmung des Landwehrgesetzes über die Dienst- und Kommandosprache zu Auseinandersetzungen über die Nationalitätenproblematik und zu Abänderungsanträgen, die jedoch keine Mehrheit fanden. Das Landwehrgesetz wurde entsprechend seiner RV beschlossen. Außerhalb der parlamentarischen Gesetzgebung wurden auf der Grundlage des § 14 des Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 49 durch die kaiserliche Verordnung vom 20. März 1914, RGBl. Nr. 59, die 1912 festgesetzten RekrutenkontiRgente der gemeinsamen Wehrmacht und der Landwehr für 1914 um 5600 Mann bzw. um 4580 Mann erhöht; für die Jahre 1915 bis 1918 waren weitere, jährlich gestufte Erhöhungen dieser Kontingente vorgesehen. Im Zuge des Ersten Weltkrieges wurde noch - ebenfalls auf der Grundlage des § 14 des Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 - durch die kaiserliche Verordnung vom 1. Mai 1915, RGBl. Nr. 108, in Abänderung einzelner Bestimmungen des Landsturmgesetzes von 1886 die Landsturmpflicht auf die Zeit vom vollendeten 18. bis zum vollendeten 50. Lebensjahr (für freiwillig vorzeitig in die gemeinsame Wehrmacht Eingetretene und für 49

Siehe hiezu FN 23.

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Personen, die das 40. Lebensjahr schon überschritten haben, bis zum 47. Lebensjahr) erweitert sowie für den Fall, daß die Reserve und die Ersatzreserve zur Ergänzung der gemeinsamen Wehrmacht nicht ausreichen, die Heranziehung des gesamten Landsturmes nach Maßgabe dieses "außerordentlichen Bedarfes" vorgesehen. Neben der gemeinsamen Wehrmacht, der Landwehr und dem Landsturm zählte zum militärischen Bereich auch noch die Gendarmerie als selbständiger, militärisch organisierter Wachkörper. Nach dem Gesetz vom 25. Dezember 1894, RGBl. Nr. 1/1895, betreffend die Gendarmerie der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, unterstand sie zwar in allen militärischen, administrativen, Ausbildungs- und Dienstkontrollangelegenheiten dem Minister für Landesverteidigung, die sicherheitspolizeiliche Natur ihrer gesetzlichen Aufgabe - "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit" - bedingte aber entsprechende Mitwirkungskompetenzen der Minister des Innern und der Justiz. Die Gendarmerie hatte ihre sicherheitspolizeiliche Aufgabe unter der Leitung und Überwachung der kk. politischen Bezirksbehörden zu besorgen; eine Betrauung mit besonderen militärischen Aufgaben war nur ausnahmsweise für den Kriegsfall vorgesehen. Die Dienstzeit in der Gendarmerie wurde in die regelmäßige Heeres- (Marine)- bzw. Landwehrdienstpflicht eingerechnet, wobei die Angehörigen der Gendarmerie während dieser Dienstzeit von jeglicher Dienstleistung in der gemeinsamen Wehrmacht oder Landwehr befreit waren. Sie unterlagen aber gleich den Angehörigen der aktiven Landwehr den militärischen Strafgesetzen und Disziplinarvorschriften. Anläßlich der verschiedenen Novellierungen bzw. vollständigen Neufassungen des Wehrgesetzes, des Landwehrgesetzes und des Landsturrngesetzes wurden vom AH zahlreiche Resolutionen gefaßt, die auf administrative Erleichterungen für die Wehrpflichtigen, vor allem aber auch auf soziale Absicherungen der Angehörigen zielten. Aus diesen Resolution ist deutlich ein zunehmendes Bewußtsein des Bedarfs nach sozialpolitischen Legislativmaßnahmen auch im Bereich der Wehrgesetzgebung erkennbar, das in der Folge - zunächst allerdings nur in unzulänglichen Regelungen einzelner Teilbereiche - zur Entwicklung eines militärischen Versorgungsrechtes geführt hat. 3. Militärisches Leistungsrecht

Neben den persönlichen Wehrdienstleistungen erweisen sich für den militärischen Bereich auch sonstige Leistungen verschiedener Art als erforderlich, die - insbes. für den Mobilisierungsfall zur Herstellung der vollen Einsatzbereitschaft der bewaffneten Macht - jenseits des vertraglichen Weges durch öffentlich-rechtliche Leistungspflichten sichergestellt werden.

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Diese Verpflichtungen treffen i. d. R. Inländer und Ausländer, natürliche und juristische Personen hinsichtlich der im Inland befindlichen Vermögenswerte wie auch hinsichtlich persönlicher Dienst- bzw. Werkleistungen. Dabei gilt grundsätzlich das Subsidiaritätsprinzip, d. h. die Leistungen dürfen nur insofern und insoweit angefordert werden, als der militärische Bedarf auf anderem Wege nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand gedeckt werden kann. Die erbrachten Leistungen begründen grundsätzlich einen Entschädigungsanspruch. Da es sich bei Leistungspflichten dieser Art - seinerzeit als "Militärlasten" bezeichnet - um obrigkeitliche Eingriffe in die Rechtssphäre des einzelnen handelt, waren zu ihrer Regelung entsprechend den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Dezemberverfassung von 1867 die parlamentarischen Gesetzgebungsorgane berufen. So zählten nach § lllit. b. des Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 "die allgemeinen Bestimmungen in bezug auf Vorspannleistung, Verpflegung und Einquartierung des Heeres" zum Wirkungskreis des Reichsrates; nach der Generalklausel des § 12 leg. cit. kam den Landtagen der Reichsratsländer eine Ausführungsgesetzgebung in solchen Angelegenheiten zu. Die ersten Gesetze auf dem Gebiet des militärischen Leistungswesens betrafen die Deckung des Pferdebedarfs im Mobilisierungsfalle sowie das Einquartierungswesen; erst später folgten weitere Gesetze über die Heranziehung von Transportmitteln sowie über Kriegsleistungen verschiedener Art. Nach dem Gesetz vom 16. April 1873, RGBl. Nr. 77, betreffend die Dekkung des Bedarfes an Pferden bei einer Mobilisierung für das stehende Heer und die Landwehr,50 waren die Pferdebesitzer im Falle einer Mobilisierung verpflichtet, "über an sie ergehende Aufforderung der politischen Behörde ihre kriegsdiensttauglichen Pferde gegen angemessene Entschädigung dem Staate zu überlassen". Die Aushebung im Mobilisierungsfall erfolgte auf Befehl des Kaisers. Befreiungen bestanden hinsichtlich jener Pferde, die aus bestimmten öffentlichen Interessen dienstlich bzw. beruflich benötigt wurden. Die politischen Behörden hatten Nachweise über die Anzahl und die Kriegsdiensttauglichkeit der Pferde in ihrem Bezirk zu führen. Zu diesem Zwecke hatten die Pferdebesitzer ihren Pferdebestand jährlich dem Gemeindevorstand zu melden. Im Zuge der großen Wehrrechtsreform von 1912 wurde u. a. auch das Pferdestellungswesen für den Mobilisierungsfall neu geregelt und durch Bestimmungen über die Heranziehung von Fuhrwerken ergänzt. Mit dem Gesetz vom 21. Dezember 1912, RGBl. Nr. 235, betreffend die Stellung der Pferde und Fuhrwerke,51 wurden im wesentlichen die 50 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 7. Sess. 1872 (RV 103 dBlg., AB 187 dBlg.; 490,1028-1031) und die Steno Prot. HH, 7. Sess. 1872 (213, 222, 223).

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bisher geltenden Befreiungsbestimmungen erweitert, näher ausführende Regelungen über die Tauglichkeitsklassifikation und die Evidenz getroffen sowie probeweise Pferdeeinberufungen vorgesehen. Die Besitzer von Transportmitteln ("für den animalischen Zug bestimmter Fuhrwerke" und "Zugtiere samt den zugehörigen Reitzeugen, Beschirrungen und Tragtierausrüstungen") wurden - mit einer ähnlichen Ausnahmeregelung wie hinsichtlich der Pferde - verpflichtet, "diese über Aufforderung der politischen Bezirksbehörde (Transportmittelaufbietung) gegen angemessene Entschädigung dem Staate in das Eigentum zu überlassen". Während des Ersten Weltkrieges wurde das Gesetz durch die kaiserliche Verordnung vom 9. Februar 1916, RGBl. Nr. 34 auf der Grundlage des § 14 des Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 52 hinsichtlich der Wertbestimmung der Pferde novelliert. Für die Beistellung von Transportmitteln in Friedenszeiten war eine entsprechende Leistungsregelung mit dem Gesetz vom 22. Mai 1905, RGBl. Nr. 86, betreffend den Militärvorspann im Frieden,53 getroffen worden. Nach diesem Gesetz umfaßte die Leistungspflicht die Beistellung beschirrter Bespannungen, gesattelter Reit- und Tragtiere, bespannter Wagen und der zur Leitung erforderlichen Führer. Befreiungen waren in ähnlicher Weise wie bei der Pferdestellung für den Mobilisierungsfall vorgesehen. Die Leistungsanforderung erfolgte im Wege der Gemeinde. Die im Gesetz nach Art und Umfang der Vorspannleistung normierte Vergütung war unmittelbar von bzw. nach der Inanspruchnahme über die Gemeindevorstehung bar zu entrichten. Zur Inanspruchnahme waren neben der gemeinsamen Wehrmacht und der kk. Landwehr auch die kk. Gendarmerie, die k.u.k. Leibgarden und die königlich ungarische Landwehr - allerdings nur unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit für die kk. Landwehrberechtigt. Das Einquartierungswesen, das seit 1851 durch eine kaiserliche Verordnung für alle Länder der Monarchie (ausgenommen damals noch die Militärgrenze) einheitlich geregelt war, wurde mit dem Gesetz vom 11. Juni 1879, RGBl. Nr. 93, womit für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder die Beistellung der während des Friedenszustandes vom stehenden Heer, der Kriegsmarine und der Landwehr benötigten Unterkünfte 51 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 21. Sess. 1912 (RV 1728 dBlg., AB 1760 dBlg; 1. Lesung 6026; 2. Lesung 6218-6231,6242-6255; 3. Lesung 6555) und die Steno Prot. HH, 21. Sess. 1912 (426, 431-433). 52 Siehe hiezu FN 23. 53 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 17. Sess. 1903, 1904, 1905 (RV 1633 dBlg., AB 1800 dBlg.; 1. Lesung 17970; 2. Lesung 28685, 28686, 28776-28784, 28896-28933; 3. Lesung 28933; Änderungen des HH 29215, 29333, 29675, 29676) und die Steno Prot. HH, 17. Sess. 1905 (1. Lesung 982; 2. Lesung 989-993; 3. Lesung 993; Beitritt des AH 1003).

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und Nebenerfordernisse geregelt wird,54 entsprechend der Verfassung von 1867 auf eine neue Grundlage gestellt. Dieses Gesetz unterscheidet die "Einquartierungslast" nach Dauer und Art in eine bleibende und eine vorübergehende sowie in eine gemeinsame und eine Einzelquartierung. Zur gemeinsamen Einquartierung waren in erster Linie geeignete staatliche Gebäude und in weiterer Folge andere geeignete Gebäude von den Ländern, Bezirken, Gemeinden oder von Privatpersonen heranzuziehen. Die "Einquartierungslast" traf den jeweiligen Hausbesitzer bzw. den Besitzer der beizustellenden Räumlichkeiten. Ausnahmen bestanden für Räumlichkeiten, die dem Gottesdienst, der Seelsorge oder anderen kirchlichen Zwecken, staatlichen Aufgaben oder sonstigen öffentlichen Zwecken dienten, sowie hinsichtlich der für Erwerbs- bzw. familiäre Bedürfnisse des Quartiergebers unentbehrlichen Räume. Die Aufgaben des Einquartierungswesens (Erhebungen, Evidenzen, Beistellung auf Grund der militärischen Anforderung) wurden "von den Gemeinden im übertragenen Wirkungskreise besorgt". Für die Vergütungen der Leistungen enthielt das Gesetz eine nach Art, Dauer und sonstigen Leistungskriterien differenzierte Detailregelung. Hinsichtlich der Exerzier-, Schieß- und Übungsplätze waren als subsidiäre Wege der Bedarfsdeckung die Inanspruchnahme nach dem Einquartierungsgesetz bzw. die Enteignung (§ 365 ABGB) vorgesehen. Darüber hinaus war der Militärverwaltung für größere Truppenübungen "das Recht zur ungehinderten Benutzung der notwendigen Grundflächen gewahrt". Sie hatte dabei "nach Tunlichkeit" die betroffenen Gemeinden vor der Übung zu verständigen, für eine "möglichste Schonung der Kulturen" und einen möglichst unmittelbar zu leistenden vollen Schadenersatz zu sorgen. Mit dem Gesetz vom 25. Juni 1895, RGBl. Nr. 100,55 wurde das Einquartierungsgesetz novelliert, und zwar im wesentlichen durch die Erweiterung des Anwendungsbereiches auf den Landsturm, durch ergänzende Regelungen hinsichtlich der gemeinsamen Einquartierung und eine Neufassung der Vergütungsbestimmungen. Im Rahmen der Wehrrechtsreform von 1912 wurde gleichzeitig mit dem Pferdestellungsgesetz, RGBl. Nr. 235/1912, auch das Gesetz vom 26. Dezember 1912, RGBl. Nr. 236, betreffend die kriegsleistungen 56 vom Reichs54 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. Steno Prot. AH, 8. Sess. 1878 (RV 785 dBlg., AB 804 dBlg.; 1. Lesung 10792; 2. Lesung 11805-11820, 11824-11853, 11857-11882, 11885-11916, 11918-11952; 3. Lesung 11956) und die Steno Prot. HH, 8. Sess. 1878 (1218, 1285 -1289). 55 Über die parlamentarische Behandlung dieser Novelle im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 11. Sess 1895 (RV 1128 dBlg., AB 1170 dBlg.; 18200, 19258-19273) und die Steno Prot. HH, 11. Sess. 1895 (771, 804, 805). 56 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AR, 21. Sess. 1912 (RV 1730 dBlg., AB 1768 dBlg.; 6026, 6280-6425, 6444) und die Steno Prot. HH, 21. Sess. 1912 (483-487).

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rat beschlossen. Dieses Gesetz bildete eine umfassende Grundlage des militärischen Leistungswesens für den Kriegsfall; sie trat ergänzend bzw. modifizierend zu den bisherigen leistungsrechtlichen Vorschriften. Die Anforderung von Leistungen war - unter den schon erwähnten Subsidiaritätskriterien - im Mobilisierungsfall "auf die Dauer einer kriegerischen Bedrohung oder eines ausgebrochenen Krieges" für Zwecke der bewaffneten Macht, aber auch andere, mit dieser verbundenen staatliche Einrichtungen (so für Zwecke der Gendarmerie, der Finanzwache, der Kriegsgefangenen etc.) sowie für Zwecke der bewaffneten Macht eines verbündeten Staates vorgesehen. Als Leistungen kamen "persönliche Dienstleistungen für Kriegszwecke, jedoch nur außerhalb der Feuerlinie" durch männliche Zivilpersonen bis zum 50. Lebensjahr,57 die Beistellung von Transport- und Verkehrsmitteln (bespannte Fahrzeuge, Tragtiere, Kraftfahrzeuge, Wasserund Luftfahrzeuge), die Inanspruchnahme von Verkehrs- und Nachrichtenunternehmen (Eisenbahn-, Telefon-, Telegraphenanlagen), von Industrieoder sonstigen Betriebsanlagen einschließlich des Personals, die Überlassung von Immobilien zur Herstellung von Befestigungsanlagen oder zu anderen militärischen Zwecken (einschließlich wesentlicher Umgestaltung oder Demolierung), eine erweitere "Einquartierungslast" , die Beistellung von Verpflegung und Futtermitteln, aber "auch anderer benötigter Kriegshilfsmittel" in Betracht; die Gemeinden konnten verpflichtet werden, Spitäler zur Verfügung zu stellen bzw. Notspitäler einzurichten, sowie von der Militärverwaltung Güter zur Verwahrung zu übernehmen. Die Bestimmung der konkreten Verpflichtungen war wie deren Verteilung auf die Länder, die Landes- und Bezirksbehörden und Gemeinden grundsätzlich dem Minister für Landesverteidigung vorbehalten; im dringenden Bedarfsfall konnten die Anforderungen an die politischen Behörden, "in außerordentlichen Fällen" unmittelbar an die Gemeinden bzw. an die Leistungspflichtigen gerichtet werden. Für die erbrachten Leistungen war ein gesetzlicher Anspruch auf Vergütung und gegebenenfalls auf Schadenersatz eingeräumt. In Ergänzung dieser Vergütungsregelung sowie nach der Zuständigkeits- und Verfahrensregelung dieses Gesetzes wurden durch das Gesetz vom 13. August 1918, RGBl. Nr. 316, betreffend die Vergütung von Leistungen für militärische Zwecke 58 weitere Ansprüche, insb. bei Vernichtung angeforderter Sachen, normiert. Eine umfassende Ermächtigung, im Verordnungswege "aus Anlaß der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen", wurde 57 Diese Altersgrenze wurde mit der kaiserlichen Verordnung vom 18. Jänner 1916, RGBl. Nr. 18, auf das 55. Lebensjahr ausgedehnt. 58 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 22. Sess. 1918 (RV 1123 dBlg., AB 1150 dBlg.; 4227, 4271-4273) und die Steno Prot. HH, 22. Sess. 1918 (1141,1159-1163).

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der Regierung zunächst durch die kaiserliche Verordnung vom 10. Oktober 1914, RGBl. Nr. 274, in der weiteren Folge aber an deren Stelle durch das Gesetz gleichen Titels vom 27. Juli 1917, RGBl. Nr. 307,59 erteilt. Dieses kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz bot eine dem § 14 des Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 ähnliche Grundlage für kriegswirtschaftliche Regelungen außerhalb der parlamentarischen Gesetzgebung, insbes. auch für solche leistungsrechtlicher Natur. Die auf dieser Grundlage erlassenen Verordnungen waren dem Reichsrat vorzulegen, der ihre Aufhebung oder Abänderung anordnen, aber auch eine gesetzliche Neuregelung beschließen konnte. Kriegsbedingte Änderungen und Ergänzungen des militärischen Leistungsrechtes, insbes. hinsichtlich der in den Gesetzen RGBl. Nr. 235/1912 und 236/1912 geregelten Materien, erfolgten seit 1914 noch außerhalb der parlamentarischen Gesetzgebung durch mehrere kaiserliche Verordnungen auf der Grundlage des $ 14 Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867. 60 4. Militärisches Versorgungsrecht

Das Versorgungs- und Unterstützungswesen für Angehörige der bewaffneten Macht und der Militärverwaltung sowie für deren Familienangehörige bildete einen Randbereich der Wehrgesetzgebung, der seinem sozialpolitischen Gehalt nach dem Sozialrecht zuzuordnen ist und im Zuge seine weiteren Entwicklung parlamentarisch auch durch entsprechende eigene Ausschüsse behandelt wurde. Das militärische Versorgungsrecht enthielt zunächst nur notdürftige und subsidiäre soziale Absicherungen, die erst in einem langjährigen Fortschritt der Gesetzgebung erweitert und verbessert wurden. 61 Die ersten Schritte auf diesem Gebiet wurden mit den - bereits im Wehrgesetz von 1868 vorgesehenen - Gesetzen vom 19. April 1872, RGBl. Nr. 60, über die Verleihung von Anstellungen an ausgediente Unteroffiziere 62 und vom 13. Juni 1880, RGBl. Nr. 70, betreffend die Militärtaxe, 59 .Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 22. Sess. 1917 (RV 55 dBlg., AB 429 dBlg.; 352, 812 - 859; Änderungen des HH 995, 1004, 1005) und die Steno Prot. HH, 22. Sess. 1917 (192, 196 -198; Beitritt des AH 206). 60 So die kaiserlichen Verordnungen RGBl. Nr. 154/1914, 18/1916, 34/1916, 249/1916; entsprechend der Verfassungslage wurden RV noch 1917 der parlamentarischen Behandlung zugeführt, aber vor dem Zusammenbruch der Monarchie vom Reichsrat nicht mehr verabschiedet. 61 Näheres hinsichtlich des militärischen Versorgungs- und Unterstützungswesens, seiner geschichtlichen Entwicklung und rechtlichen Ausprägung in der österreichisch-ungarischen Monarchie S. Schmid, Heeresrecht 415 ff. 62 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 7. Sess. 1872 (RV 38 dBlg., AB 72 dBlg.; 93, 185-190) und die Steno Prot. HH, 7. Sess. 1872 (39, 56 - 63); in Ausführung dieses Gesetzes, das den ausgedienten

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den Militärtaxfond und die Unterstützung hilfsbedürftiger Familien von Mobilisierten,63 sowie mit dem Gesetz vom 27. Dezember 1875, RGBl. Nr. 158, betreffend die Militärversorgung der Personen des k.u.k. Heeres, der k.u.k. Kriegsmarine und der kk. Landwehr,64 gesetzt. Während die im Gesetz RGBl. Nr. 70/1880 vorgesehene Witwen- und Waisenversorgung zunächst noch einer gesonderten gesetzlichen Regelung vorbehalten wurde, räumte das Militärtaxgesetz hilfsbedürftigen Familien der im Mobilisierungsfalle einberufenen Wehrpflichtigen (einschließlich des aufgebotenen Landsturms) eine Unterstützung durch eine "Unterhaltsgebühr" für jedes Familienmitglied und eine "Unterkunftsgebühr" im halben Ausmaß der Unterhaltsgebühr ein. Nachdem diese Regelung mit dem Gesetz vom 10. Juni 1882, RGBl. Nr. 76, betreffend die Unterstützung von hilfsbedürftigen Witwen und Waisen der anläßlich der Unruhen in Süddalmatien und im Okkupationsgebiete gefallenen oder infolge von Verwundungen oder von Kriegsstrapazen gestorbenen Militärpersonen, eine vorläufige Erweiterung erfahren hatte, wurden mit dem Gesetz vom 27. April 1887 , RGBl. Nr. 41, betreffend die Militär-Versorgung der Witwen und Waisen von Offizieren und von Mannschaften des Heeres, der Kriegsmarine, der Landwehr und des Landsturmes, 65 für diesen Personenkreis die Ansprüche auf eine Witwenpension bzw. auf einen Erziehungsbeitrag für Waisen neu und umfassend geregelt; mit den Gesetzen RGBl. Nr. 48/1891, 48/1896 und 86/1907, denen mehrfache Resolutionen des AH vorangeganUnteroffizieren eine berufliche Existenzsicherung durch Anstellungsansprüche bei Behörden, Ämtern, Anstalten und staatlich konzessionierten bzw. subventionierten Unternehmen (z. B. Eisenbahn- oder Schiffahrtsunternehmen) brachte, wurde die Verordnung RGBl. Nr. 98/1872 erlassen und mit der Kundmachung RGBl. Nr. 100/ 1879 ein umfangreiches Verzeichnis der nach dem Gesetz von 1872 ausgedienten Unteroffizieren vorbehaltenen Dienstposten veröffentlicht. 63 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 9. Sess. 1879, 1880 (RV 44 dBlg., AB 142 dBlg.; 1. Lesung 265; 2. Lesung 2737 -2758, 2760 -2792, 2796 -2834, 2837 -2854, 3218 -3248; 3. Lesung 3253, 3254) und die Steno Prot. HH, 9. Sess. 1880 (204, 285, 286); der Militärtaxfond wurde aus der als "Wehrersatz" zu leistenden Militärtaxe gespeist und diente einer "Aufbesserung der Invalidenversorgung"; eine Novellierung durch das Gesetz RGBl. Nr. 30/ 1907 betraf ausschließlich die Militärtaxe, nicht aber die Sozialleistungen nach dem Gesetz von 1880. 64 Durch das Militärversorgungsgesetz wurden den nicht mehr diensttauglichen Angehörigen des Heeres, der Kriegsmarine, der Landwehr und der Militärverwaltung Versorgungsansprüche (Pensionen, Zulagen, Aufnahme in ein Militär-Invalidenhaus) zuerkannt. Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 8. Sess. 1875 (RV 108 dBlg., AB 116 dBlg.; 1. Lesung 749; 2. Lesung 2412-2419,2425-2447,2454-2478; 3. Lesung 2493,2494) und die Steno Prot. HH, 8. Sess (366, 406 -423). 65 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 10. Sess. 1887 (RV 225 dBlg., AB 322 dBlg; 1. Lesung 2931; 2. Lesung 4678-4705, 4717 -4740, 4772 -4778, 4783 -4813; 3. Lesung 4813) und die Steno Prot. HH, 10. Sess. 1887 (382, 402 -413).

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gen waren, wurden schrittweise Verbesserungen dieser Versorgungsansprüche vorgenommen. Im Rahmen der weitreichenden gesetzlichen Neuordnung des Wehrwesens im Jahr 1912 wurde durch das Gesetz vom 26. Dezember 1912, RGBl. Nr. 237, betreffend den Unterhaltsbeitrag für Angehörige von Mobilisierten,66 diesem Personenkreis allgemein ein "Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag aus Staatsmitteln" eingeräumt; damit wurde die Regelung nach dem Militärtaxgesetz von 1880 ersetzt. Das neUe Gesetz wurde im Zuge des Ersten Weltkrieges außerhalb der parlamentarischen Gesetzgebung auf der Grundlage des § 14 des STaatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 67 mit den kaiserlichen Verordnungen RGBl. Nr. 161/1915 und 135/1916 zur Vermeidung von Härtefällen durch ergänzende Anspruchsregelungen novelliert. Mit der kaiserlichen Verordnung RGBl. Nr. 139/1917 wurde - ebenfalls auf der Grundlage des § 14 des Staatsgrundgesetzes RGBl. Nr. 141/1867 - das Gesetz RGBl. Nr. 237/1912 neuerlich den aktuellen Bedürfnissen angepaßt. Schließlich wurde diese Versorgungsregelung im Wege der nachträglichen parlamentarischen Behandlung durch das Gesetz vom 27. Juli 1917, RGBl. Nr. 313, betreffend die Neuregelung des Unterhaltsbeitrages für die Dauer des gegenwärtigen Krieges,68 und dessen Novelle RGBl. Nr. 126/1918 69 auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt, wobei insbes. der Kreis der Anspruchsberechtigten auf alle Personen erweitert wurde, deren Unterhalt vom Einkommen des Einberufenen abhängig war, oder denen ihm gegenüber ein Unterhaltsanspruch nach dem ABGB zukam. Die nachträgliche parlamentarische Behandlung der erwähnten kaiserlichen Verordnung RGBl. Nr. 161/1915 führte schließlich noch mit dem Gesetz vom 28. März 1918, RGBl. Nr. 119, betreffend die Gewährung von Zuwendungen an Mannschaftspersonen, deren Angehörige und Hinterbliebene,70 zu einer umfassenden Regelung, die der sozialen Absicherung dieses Personenkreises in Ergänzung der übrigen Versorgungsbestimmungen diente. Bei der parlamentarischen Behandlung der Gesetze RGBl. Nr. 119/1918 und 126/1918 wurden ein neues Militärversorgungsgesetz und ein Gesetz betreffend die Gewährung von 66 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AR, 21. Sess. 1912 (RV 1729 dBlg., AB 1745 dBlg.; 1. Lesung 6026; 2. Lesung 6104-6117,6130-6157,6170- 6183; 3. Lesung 6813) und die Steno Prot. HH, 21. Sess. 1912 (426, 430, 431). 67 Siehe hiezu FN 23. 68 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat S. die Steno Prot. AR, 22. Sess. 1917 (RV 166·dBlg., AB 459 dBlg.; 487, 1005 -1031) und die Steno Prot. HH, 22. Sess. 1917 (217, 262-271). 69 Über die parlamentarische Behandlung dieser Novelle im Reichsrat S. die Steno Prot. AH, 22. Sess. 1918 (Anträge 807, 868 dBlg., AB 994 dBlg.; 3322, 3447 -3482) und die Steno Prot. HH, 22. Sess. 1918 (865, 866, 953-955). 70 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat S. die Steno Prot. AH, 22. Sess. 1918 (AB 993 dBlg.; 3322, 3401-3482) und die Steno Prot. HH, 22. Sess. 1918 (865, 866, 953-961).

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staatlichen Zuschüssen zu den Militärversorgungsgebühren in Aussicht genommen. Die entsprechenden RV wurden zwar noch - ebenso wie zahlreiche Anträge aus dem AR mit einschlägigen sozialpolitischen Zielsetzungen - im Oktober 1918 den Ausschußberatungen zugeführt, gelangten aber infolge des Zusammenbruches der Monarchie nicht mehr zur Beschlußfassung. 5. Militärisches Disziplinarrecht und Militärgerichtsbarkeit

Das militärische Disziplinarrecht bildete in der Monarchie kein einheitliches Rechtssystem, sondern setzte sich aus unterschiedlichen Einrichtungen zusammen, nämlich aus einem vereinfachten Strafverfahren, in dem geringfügige Strafdelikte der Ahndung im Disziplinarwesen überlassen blieben, aus der militärischen Disziplinargewalt des Kommandanten, die im Sinne der eingangs erwähnten Sonderstellung des militärischen Bereiches auf der "militärischen Dienstherrlichkeit" beruhte, und aus dem ehrenrätlichen Verfahren der Offiziere, das den Charakter eines "berufsgenossenschaftlichen Disziplinarrechts" hatte. Abgesehen vom strafgesetzlichen Anknüpfungspunkt bei jenen Delikten, deren Ahndung dem Disziplinarwege vorbehalten werden konnte, waren alle diese Disziplinarrechtsbereiche nicht Gegenstand der parlamentarischen Gesetzgebung, sondern der Reservatrechte des Kaisers. Sie wurden durch Dienstreglements und sonstige interne Vorschriften, wie etwa hinsichtlich der militärischen Ehrenräte durch Zirkularverordnung des Reichskriegsministeriums, geregelt. 71 Die Militärgerichtsbarkeit bildete ein Sonderstrafrecht für Militärpersonen und bestimmte Kategorien von Angehörigen der Militärverwaltung; sie wäre daher insofern eher dem Justizrecht als dem Wehrrecht zuzuordnen. In diesem Sinne wurden daher auch seit 1884 Vorlagen betreffend die Militärgerichtsbarkeit im AR cles Reichsrates nicht dem Wehrausschuß, sondern dem Strafgesetz- bzw. dem Justizausschuß zugewiesen. Die früher umfassende Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit, die sich noch nach der Theresianischen Militärjustiznorm von 1754 auf alle Zivilund Strafsachen der Militärpersonen samt Familien und Personal, wie auch auf Marketender, Reereslieferanten etc. erstreckt hatte, wurde durch das Gesetz vom 20. Mai 1869, RGBl. Nr. 78, betreffend den Wirkungsbereich 71 Ansätze einer Disziplinargesetzgebung im militärischen Bereich waren lediglich im seinerzeitigen ungarischen Gesetzart. XLII von 1868 über den Landsturm und im tirolisch-vorarlbergischen Landgesetz über den Landsturm, LGBl. Nr 2 / 1871, enthalten; im übrigen s. hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklung und der rechtlichen Ausprägung des militärischen Disziplinarwesens in der österreichischungarischen Monarchie Schmid, Heeresrecht 615 ff.

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der Militärgerichte,72 auf die Militärjurisdiktion in Strafsachen eingeschränkt. Die Gerichtsverfassung war im übrigen für die gemeinsame Wehrmacht durch Verordnung geregelt; für die Landwehr galt das Gesetz vom 23. Mai 1871, RGBl. Nr. 45, betreffend die Ausübung der Gerichtsbarkeit über die Landwehr,73 dem zunächst die kaiserliche Verordnung vom 8. Mai 1870, RGBl. Nr. 72, vorangegangen war; das Gesetz von 1871 wurde in der Folge durch das Gesetz vom 2. April 1885, RGBl. Nr. 93, mit gleichem Titel ersetzt. 74 Das formelle Militärstrafrecht war in der 1884 amtlich herausgegebenen "Militärstrafprozeßordnung, amtliche Zusammenstellung der über das Strafverfahren bei den Gerichten des stehenden Heeres und der Kriegsmarine bestehenden Gesetze und Verordnungen" gesammelt. Im Rahmen der Heeresreform von 1912 wurde es durch die Gesetze vom 5. Juli 1912, RGBl. Nr. 130, über die Militärstrafprozeßordnung für die gemeinsame Wehrmacht und vom 5. Juli 1912, RGBl. Nr. 131, über die Militärstrafprozeßordnung für die Landwehr auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. 75 Das materielle Militärstrafrecht war im Militärstrafgesetz von 1855, das in einer mehrfach novellierten, aber auch durch die zivile Strafgesetzgebung und durch kaiserliche Entschließungen geänderten bzw. ergänzten Fassung für beide Reichshälften galt, sowie in den Strafbestimmungen des Wehrgesetzes normiert. Diese Rechtslage spiegelt die zwiespältige Haltung wider, die lange Zeit in Theorie und Praxis hinsichtlich der Normsetzungskompetenz auf dem Gebiet der Militärgerichtsbarkeit vorherrschte. Der ursprünglichen Vorstellung einer vollständigen Zuordnung dieser Befugnis zum militärischen Oberbefehl und damit in den Bereich der dem Kaiser vorbehaltenen Organisation- und Verordnungsgewalt wurde jedoch - insb. angesichts der 72 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes RGBl. Nr. 78/ 1869 im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 4. Sess. 1869 (RV 27 dBlg., AB 70 dBlg.; 1. Lesung 5527, 5528; 2. Lesung 5920-5948; 3. Lesung 5958-5961; Änderungen des HH 6623, 6624, 6626 - 6628) und die Steno Prot. HH, 4. Sess. 1869 (1. Lesung 1873, 1875; 2. Lesung 1934-1955; 3. Lesung 1955; Beitritt des AH 2094); dieses Gesetz wurde durch die Novelle RGBl. Nr. 98/1884 geändert, hiezu S. die Steno Prot. AH, 9. Sess. 1883, 1884 (RV 778 dBlg., AB 911 dBlg.; 10980, 12822) und die Steno Prot. HH, 9. Sess. 1884 (1480, 1519). 73 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat S. die Steno Prot. AH, 6. Sess. 1870, 1871 (RV 5 dBlg., AB 91, 138 dBlg.; 1. Lesung 47, 48; 2. Lesung 434-440; 3. Lesung 455; Änderungen des HH 604, 631, 685) und die Steno Prot. HH, 6. Sess. 1871 (163, 181, 182, 195, 202). 74 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes im Reichsrat s. die Steno Prot. AH, 9. Sess. 1884, 1885 (RV 976 dBlg., AB 1057 dBlg.; 13215, 13807 -13810) und die Steno Prot. HH, 9. Sess. 1885 (1572, 1640, 1641). 75 Über die parlamentarische Behandlung beider Gesetze im Reichsrat S. die Steno Prot. AH, 21. Sess. 1911, 1912 (RV 31, 32 dBlg., AB 1510, 1511 dBlg; 1. Lesung 2731, 2732, 2741-2746, 2784-2809, 2820-2854, 2865-2898, 2924-2959, 2970-2978; 2. Lesung 5027-5072,5076-5077; 3. Lesung 5077) und die Steno Prot. HH, 21. Sess. 1912 (282, 308, 311).

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Gesetzeslage nach der Dezemberverfassung von 1867 - in steigendem Maße Raum entzogen. Es setzte sich immer stärker die Überzeugung durch, daß auch im militärischen Bereich die Regelung der Gerichtsverfassung sowie des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrens den verfassungsmäßigen Organen der Gesetzgebung zukommt. Lediglich das militärische Disziplinarrecht wurde - wenn auch in der Theorie nicht mehr unbestritten - den Angelegenheiten der inneren Organisation zugezählt. Die rechtspolitische Tendenz war jedoch auf verstärkte gesetzliche Bindungen und eine Einengung der Militärgerichtsbarkeit gerichtet, die schließlich mit der Monarchie ihr Ende fand. Durch das Bundes-Verfassungsgesetz der Republik Österreich von 1920 wurde die Militärgerichtsbarkeit - "außer für Kriegszeiten" - aufgehoben (Art. 84 B-VG).

ll.1918-1938 1. Provisorium 1918/1919

Der Versuch Kaiser Karls 1., mit dem Manifest vom 16. Oktober 1918 den drohenden Zerfall der Monarchie durch einen bundesstaatlichen Rahmen der nationale Gliedstaaten der einzelnen Völker umfassen sollte, noch zu verhindern, blieb erfolglos; der Auflösungsprozeß war bereits unaufhaltsam geworden. 76 Die Reichsratsabgeordneten der deutschen Wahlbezirke traten am 21. Oktober 1918 in Wien "zur Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten" zusammen und konstituierten sich als Provo NV für Deutschösterreich, wobei die Gebietsgewalt "über das ganze deutsche Siedlungsgebiet" in Anspruch genommen, über die Staatsform des neuen Gemeinwesens aber keine Aussage gemacht wurde; in dieser grundsätzlichen Erklärung ist vielmehr ein Bemühen um Einklang mit dem Manifest vom 16. Oktober 1918 und mit der "bestehenden Verfassungsgrundlage" erkenn76 Die wesentlichen Sätze des Manifestes, das am 17. Oktober 1918 in einer Extraausgabe der Wiener Zeitung verlautbart wurde, lauten: " . .. Österreich soll, dem Willen seiner Völker gemäß, zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet ... Diese Neugestaltung, durch die die Integrität der Länder der ungarischen Krone in keiner Weise berührt wird, soll jedem nationalen Einzelstaate seine Selbständigkeit gewährleisten; ... Bis diese Umgestaltung auf gesetzlichem Wege vollendet ist, bleiben die bestehenden Einrichtungen zur Wahrung der allgemeinen Interessen unverändert aufrecht ... An die Völker, auf deren Selbstbestimmung das neue Reich sich gründen wird, ergeht Mein Ruf, an dem großen Werke durch Nationalräte mitzuwirken, die - gebildet aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation - die Interessen der Völker zueinander sowie im Verkehr mit meiner Regierung zur Geltung bringen sollen ... "

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bar. 77 Auch der Beschluß der provo NV für Deutschösterreich vom 30. Oktober 1918, StGBl. Nr. 1, über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt 78 enthielt keine ausdrückliche Erklärung über die Staatsform und über das Verhältnis zu den anderen Nationalitäten der Monarchie. Allerdings hatte der Lauf der Ereignisse bereits Fakten geschaffen, auf Grund deren sich die am 21. Oktober 1918 ernannte k.u.k. Regierung Lammasch von Anfang an nur mehr als "Exekutivausschuß der Nationalitäten für die Liquidierung des Gesamtstaates" betrachtete. 79 Nachdem die Entente schon die provisorische Regierung eines unabhängigen tschechoslowakischen Staates anerkannt hatte, der sich als im Kriegszustand mit Österreich-Ungarn erklärte, war die Anerkennung der Selbständigkeit der Tschechoslowaken (wie auch der Jugoslawen) durch die k.u.k. Regierung 77 Aus der "Kundgebung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten" (Blg. 1 Steno Prot. Provo NV): "Das deutsche Volk in Österreich ist entschlossen, seine künftige staatliche Ordnung selbst zu bestimmen, einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden und seine Beziehungen zu den anderen Nationen durch freie Vereinbarungen mit ihnen zu regeln. Der deutschösterreichische Staat beansprucht die Gebietsgewalt über das ganze deutsche Siedlungsgebiet, insbesondere auch in den Sudetenländern. Jeder Annexion von Gebieten, die von deutschen Bauern, Arbeitern und Bürgern bewohnt werden, durch andere Nationen wird sich der deutschösterreichische Staat widersetzen ... Das deutsche Volk in Österreich wird ein konstituierende Nationalversammlung wählen. Die konstituierende Nationalversammlung, auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gewählt, wird die Verfassung des deutschösterreichischen Staates festsetzen ... Die Vollversammlung der Abgeordneten der deutschen Wahlbezirke beschließt daher: 1. Sich als provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich zu konstituieren; 2. einen Vollzugsausschuß von zwanzig Mitgliedern zu wählen, der der Nationalversammlung Anträge über die Verfassung des deutschösterreichischen Staates zu unterbreiten, bis zur Bildung der deutschösterreichischen Regierung das deutsche Volk in Österreich gegenüber der österreichisch-ungarischen und der österreichischen Regierung und gegenüber den anderen Nationen zu vertreten und die Stellung Deutschösterreichs bei den Friedensverhandlungen vorzubereiten hat;

Die Reichstagsabgeordneten des deutschen Volkes sind bereit, auf der noch bestehenden Verfassungsgrundlage an dem Zustandekommen aller jener Maßnahmen mitzuwirken, die notwendig sind, um das Rechts- und Wirtschaftsleben bis zur Übernahme aller staatlichen Verpflichtungen durch die Völker zu sichern." Mit dieser Deklaration konstituierte sich die provisorische Nationalversammlung am 21. Oktober 1918, um 17 Uhr im niederösterreichischen Landhaus in Wien; es traten 208 Reichsratsabgeordnete (65 Christlichsoziale, 37 Sozialdemokraten, 106 Vertreter verschiedener deutschnationaler und liberaler Gruppierungen) zusammen, die ihre Legitimierung als Volksvertreter im Sinne der nach dem Manifest vom 16. Oktober 1918 zu bildenden Nationalräte (vgl. FN 76) von den letzten Reichratswahlen im Jahre 1911 ableiteten (s. hiezu Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 26 ff.; Kelsen, Verfassungsgesetze I 5 ff.; HGM Streitkräfte 139 f.). 78 Siehe die Steno Prot. Prov. NV 1918 (RV 2 dBlg. 30-49). 79 Siehe Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 29.

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nur mehr eine Sanktionierung von Tatsachen. In dieser Situation bildete der zit. Beschluß der provo NV vom 30. Oktober 1918 die provisorische Verfassungsgrundlage des damit ins Leben tretenden deutschösterreichischen Staates. Indem die oberste Staatsgewalt in Gesetzgebung und Vollziehung ausdrücklich von der NV in Anspruch genommen wurde, vollzog sich die staatsrechtliche Lösung des neuen Staatswesens aus der Verfassungsordnung der zerfallenden Monarchie. Die Vollziehung wurde einem aus der Mitte der NV zu wählenden Vollzugsausschuß ("Staatsrat") im Wege der von ihm Beauftragten ("Staatssekretäre") übertragen, die in ihrer Gesamtheit die Staatsregierung bildeten; entsprechend den einzelnen Vollziehungsbereichen war den Staatssekretären jeweils ein Staatsamt zugeordnet. Hinsichtlich der Vollziehung militärischer Angelegenheiten war nach § 13 des Verfassungsbeschlusses vom 30. Oktober 1918 "einstweilen" ein Staats amt für Heereswesen einzurichten, "das in sich die Aufträge und Vollmachten des k.u.k. Kriegsministeriums einschließlich der Marinesektion und des kk. Ministeriums für Landesverteidigung vereinigt". Durch § 16 waren zwar die in den Reichsratsländern in Kraft stehenden Gesetze und Einrichtungen, soweit sie nicht durch diesen Beschluß aufgehoben oder geändert wurden, in die neue Rechtsordnung rezipiert worden; die weitgehende Einbindung des Wehrrechts in die Verfassung der Monarchie, insbes. die Rechtsetzungsbefugnisse des Kaisers im militärischen Bereich und organisationsrechtliche Kriterien bewirkten in der Praxis aber weitgehend eine Unanwendbarkeit der einschlägigen Gesetze. Es bedurfte daher einer grundlegend neuen Wehrgesetzgebung für einen Staat, der allerdings in völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Hinsicht noch ein Bild voll Unklarheiten und Unsicherheiten bot. Dies zeigte sich insbes. auch am Beschluß der Provo NV vom 30. Oktober 1918, StGBl. Nr. 2, betreffend die National- und Bürgergarden. 80 Auf Antrag des Vollzugsausschusses wurde damit bestimmt, "daß die Organisation der bewaffneten Macht ausschließlich Aufgabe der Staatsgewalt ist und daß daher kein Privater das Recht besitzt, Nationalgarden zu bilden oder zu ihrer Bildung aufzurufen. Insoweit Landesregierungen und Gemeindevorstände aus Gründen der öffentlichen Sicherheit Bürgergarden aufzustellen beabsichtigten, haben sie unter Vorlage des Organisationsstatuts die Genehmigung des Staatsrates einzuholen." Diesem staatlichen Monopolanspruch im militärischen Bereich standen im Gefolge des Waffenstillstands vom 3. November 1918 81 allerdings Tatsachen gegenüber, die Siehe die Steno Prot. Provo NV 49; s. ferner Pernthaler, Rechtsstaat 125 f. Über den Waffenstillstand von Villa Giusti und die sich daran schließenden Ereignisse S. Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 34 ff.; HGM Streitkräfte 103 ff. 80

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nur allzu deutlich die militärische Ohnmacht der staatlichen Autorität erkennen ließen. Etwa 350.000 Soldaten waren noch im Anschluß an den Waffenstillstand in Kriegsgefangenschaft geraten, die alte Armee befand sich in Auflösung, eine geordnete Rückführung der Truppen kam unter diesen Umständen des Zerfalls nicht zustande. Italien sowie die neu begründeten Nachfolgestaaten Tschechoslowakei und Jugoslawien nahmen beträchtliche Gebietsteile des schon in der Willenskundgebung vom 21. Oktober 1918 und später noch durch das Gesetz vom 22. November 1918, StGBl. Nr. 40, über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich sowie die diesbezügliche Staatserklärung StGBl. Nr. 41/1918 zum deutschösterreichischen Staatsgebiet erklärten "geschlossenen Siedlungsgebietes der Deutschen innerhalb des bisher im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder" in Anspruch. Damit stellte sich diesem Gemeinwesen bereits in statu nascendi die staatliche Uraufgabe des Schutzes von Staatsvolk und Staatsgebiet gegen äußere Bedrohungen. Neben der zunächst als provisorische Wehrmacht ohne gesetzliche Grundlage im Wege von Anwerbungen aufgestellten "Volkswehr" bildeten sich in den Ländern aus dem Zwang der Umstände auch ungeachtet des erwähnten Beschlusses vom 30. Oktober 1918 Wehrformationen (als "Heim-, Bürger- oder Bauernwehren" bezeichnet), die regionale Selbstschutzaufgaben wahrnahmen. Während auf diese Weise die von Italien und der Tschechoslowakei tatsächlich bereits in Besitz genommenen Gebiete (im wesentlichen Südtirol, Deutschböhmen und das Sudetenland) sowie die von Jugoslawien ebenfalls bereits militärisch besetzte Untersteiermark nicht behauptet werden konnten, setzten sich Kärntner Heimwehrverbände gemeinsam mit Volkswehreinheiten gegen jugoslawische Einbrüche erfolgreich zur Wehr. 82

82 Deutschböhmen und das Sudetenland hatten am 29. bzw. 30. Oktober 1918 unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht gern. dem Nationalitätenprinzip ihren Beitritt zum neuen Staat Deutschösterreich erklärt und sich damit aus den bisherigen Kronländern Böhmen, Mähren und Schlesien gelöst; im Art. 8 der provisorischen Verfassung Deutschböhmens war u. a. ausdrücklich die Einrichtung einer Volkswehr vorgesehen, die in Leitmeritz und Troppau eingesetzten Landesbefehlshaber mußten aber nach kurzer Zeit dem tschechischen Druck weichen; infolge der militärischen Ohnmacht, Südtirol, Deutschböhmen, das Sudetenland, die Untersteiermark und andere Teile des Staatsgebietes zu behaupten, verblieb nur der formelle Protest durch das Gesetz vom 12. März 1919, StGBl. Nr. 175, über das besetzte Staatsgebiet; s. auch den Beschluß der Prov. NV vom 12. November 1918, StGBl. Nr. 23, betreffend die feierliche Beitrittserklärung der Länder, Kreise und Gaue des Staatsgebietes, und die auf Grund des § 3 des Gesetzes StGBl. Nr. 40 / 1918 erlassene Vollzugsanweisung des Deutschösterreichischen Staatsrates vom 3. Jänner 1919, StGBl. Nr. 4, über die das deutschösterreichische Staatsgebiet bildenden Gerichtsbezirke, Gemeinden und Ortschaften, ferner Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 60 ff.; Kelsen, Verfassungsgesetze I 62 ff, III 118 ff., 179 ff., (Anhang); Jedlicka, Heer 14 ff., 33, 34, 44, 48.

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Die Wehrverbände wurden - entsprechend ihren örtlichen Wurzeln und Bindungen - naturgemäß von den jeweiligen politischen Verhältnissen ihres Raumes geprägt, woraus sich besondere Konsequenzen für die politische Entwicklung der beiden nächsten Jahrzehnte ergaben. Nicht ohne Einfluß war dabei auch der Umstand, daß sich in der provisorischen Wehrmacht selbst politische Aktivitäten zeigten, deren radikale Strömungen zu Besorgnis Anlaß gaben; die revolutionäre Gesinnung dieser Volkswehrangehörigen dokumentierte sich nicht nur an ihrer Adjustierung, wie etwa der Führung des Sowjetsterns, 83 sondern reichte über Demonstrationen bis zum Waffengebrauch gegen staatliche Sicherheitsorgane und zur aktiven Unterstützung der am 21. März 1919 in Budapest proklamierten ungarischen Räterepublik. Besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der kommunistisch ausgerichteten "Roten Garde" zu, die im Volkswehrbataillon 41 konzentriert war. 84 Nachdem der Kaiser am 11. November 1918 auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet und die Entscheidung Deutschösterreichs über seine künftige Staatsform im voraus anerkannt hatte, wurde von der Provo NV am 12. November 1918 das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, StGBl. Nr. 5/1918, beschlossen. Damit wurde der provisorische Verfassungsbeschluß vom 30. Oktober 1918 ausdrücklich und formell durch die Erklärung des neuen Staates zur Republik ergänzt. 85 Gleichzeitig erklärte sich Deutschösterreich im Art. 2 leg. cit. zum Bestandteil der Deutschen Republik. Diese Bestimmung hatte als staatsrechtliche Willensäußerung allerdings nur programmatische Bedeutung; zu ihrer völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Wirksamkeit hätte es - wie auch im zit. Artikel aus dem Hinweis auf "besondere Gesetze" hervorgeht - noch entsprechender näherer Regelungen bedurft. Ungeachtet dessen blieb aber die Zielsetzung, wie sich in der Folge zeigte, nicht ohne Auswirkungen auf die österreichische Wehrgesetzgebung. Durch Art. 3 leg. cit. wurde der Verfassungsbeschluß vom 30. Oktober 1918 - "einstweilen" bis.zur Normierung der endgültigen Verfassung - dahingehend modifiziert,daß die nach der alten Verfassung dem Kaiser vorbehaltenen Rechte auf den deutschösterreichischen Staatsrat übergingen. Davon waren insbes: "auch der kaiserliche Oberbefehl, das Recht zu Kriegserklärung und Friedensschluß sowie die verfassungsrechtliche Organisations- und VerordnungsgeSiehe HGM Streitkräfte 153 f. Über die politische Problematik der Volkswehr s. Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 49 ff.; Jedlicka, Heer 15, 17 f.; s. auch die Ausführungen des Abg. Dr. Heinrich Mataja in der NV am 19. Jänner 1920 (Sten. Prot. 1519). 85 Siehe Kelsen, Verfassungsgesetze I 29 ff.; mit dem am 12. März 1919 von der Konstituierten NV beschlossenen Gesetz über die. Staatsform, StGBl. Nr. 174, wurde der Inhalt der Art. 1 und 2 des zit. Gesetzes vom 12. November 1918 in deklaratorischer Form wiederholt und bekräftigt. 83 84

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walt des Kaisers in militärischen Angelegenheiten erfaßt. Art. 6 leg. cit. erklärte ausdrücklich die Beamten, Offiziere und Soldaten des dem Kaiser geleisteten Treueides entbunden, dennoch blieb die Frage des Soldateneides in den nächsten Jahren noch Gegenstand politisch-publizistischer Auseinandersetzungen. 86 Eine weitere Modifizierung erfuhr der Verfassungsbeschluß vom 30. November 1918 durch die Verfassungsnovelle vom 19. Dezember 1918, mit der u. a. die Leitung und Verwendung der Wehrmacht dem Staatsratsdirektorium übertragen wurde. 87 Damit war der erste verfassungsrechtliche Ansatz für die später im vorläufigen Wehrgesetz von 1919 und im Wehrgesetz von 1920 - schließlich durch das Bundes-Verfassungsgesetz und seine weitere Entwicklung - im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses gestaltete Aufteilung der Verfügungs- und Befehlsgewalt zwischen den obersten Staatsorganen geschaffen. Im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Gesetz vom 22. November 1918, StGBl. Nr. 40, über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich wurde in der diesbezüglichen Staatserklärung vom selben Tage, StGBl. Nr. 41/1918, unter dem Titel des Selbstbestimmungsrechtes - über den Rahmen der Reichsratsländer hinaus - der Anspruch auf "die geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete der Komitate Preßburg, Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg" angemeldet; da es sich bei dem als "Deutschwestungarn " bezeichneten Gebiet, wie Staatskanzler Dr. Karl Renner am 14. November 1918 in der NV erklärte, um "staatsrechtlich fremdes Gebiet" handelte, wurde die Realisierung dieses Anspruches den Friedensverhandlungen vorbehalten. Bei der Eingliederung der im Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye Österreich zugesprochenen Gebiete (die nun das "Burgenland" bildeten) kam es 1919 und 1920 im Rahmen eines "Grenzschutzes Ost" zum Einsatz von Volkswehrverbänden und 1921 zum ersten Einsatz des neuen österreichischen Bundesheeres. 88 86 Siehe hiezu Jedlicka, Heer 26 ff.; s. ferner zur ethischen und politischen Thematik des Eides Auer, Der Soldat zwischen Eid und Gewissen, Österr. Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft 7 (1983) insbes. 37 ff., 79 ff., 139 ff.; sowie Wendel v. Rabenau, Der Fahneneid als ethische Grundlage des Gehorsams, Neue Zeitschrift für Wehrrecht 1984, 199 ff. 87 § 8 des Gesetzes vom 19. Dezember 1918, StGBl. Nr. 139, womit einige Bestimmungen des Beschlusses der Prov. NV für Deutschösterreich über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 1918, StGBl. Nr. 1, abgeändert oder ergänzt werden; durch § 6 leg. cit. wurde bestimmt, daß die drei Präsidenten der NV das Staatsratsdirektorium bilden (nach § 5 Abs. 2 des Verfassungsbeschlusses vom 30. November 1918 hatten diesem Organ auch der Staatskanzler und der Staatsnotar angehört); s. hiezu Kelsen, Verfassungsgesetze II 138 ff. 88 Über die Einverleibung des Burgenlandes in die Republik Österreich und ihre Vorgeschichte s. Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 81 ff.; HGM Streitkräfte 177 ff.; Schlag, Burgenland 1921, Österr. Militärische Zeitschrift 1971, 342 ff.

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Angesichts der skizzierten Problematik des Ringens um das Staatsgebiet mit unzulänglichen Mitteln sowie der revolutionären Tendenzen innerhalb der provisorischen Wehrmacht war es für die junge Republik dringend erforderlich, ihrer bewaffneten Macht eine gesetzliche Grundlage zu geben und damit eine gefährliche Lücke in ihrer Rechtsordnung zu schließen. Dies geschah mit dem Gesetz vom 6. Februar 1919, StGBl. Nr.91, betreffend vorläufige Bestimmungen über die bewaffnete Macht. 89 Der schon im Titel erklärte Charakter eines Provisoriums ergab sich aus mehrfachen Gründen. Das Ergebnis der Friedensverhandlungen mit seinen völkerrechtlichen Grundbedingungen für den neuen Staat lag noch nicht vor, die endgültige Verfassung sollte erst von der konstituierenden NV geschaffen werden, der beabsichtigte Anschluß an Deutschland erforderte eine Bedachtnahme auf die spätere Gestaltung eines gemeinsamen Wehrrechts, die innerstaatliche Problematik und ein weitgehender Mangel an konkreten wehrpolitischen Konzepten ließen ebenfalls eine vorläufige Regelung zweckmäßig erscheinen. So wies auch der Berichterstatter in der NV darauf hin, daß mit dieser Vorlage kein "ausgebautes Wehrgesetz" geschaffen werden solle, es handle sich vielmehr "um einzelne Bestimmungen, welche für die augenblicklichen Bedürfnisse, die heute vorliegen, berechnet sind und welche den Übergang zu der späteren Form unserer Wehrverfassung bilden sollen, also um eine Art Notgesetz, das von vorübergehender Dauer ist." Das auf freiwilligen Meldungen aufgebaute System der bisherigen Volkswehr sollte möglichst bald und reibungslos überwunden und in ein dauerhaftes System übergeführt werden, das "nach allgemeiner Auffassung nur das Milizsystem sein kann". In diesem Sinne bildete die "allgemeine und gleiche Wehrpflicht" die Grundlage des vorläufigen Wehrsystems. Trotz des provisorischen Charakters kommt aber dem Wehrgesetz von 1919 als dem Wendepunkt von der Wehrverfassung der Monarchie zur demokratischen Wehrverfassung der Republik besondere rechtshistorische Bedeutung zu. Wie in der Begründung des Gesetzentwurfes bemerkt ist, wurde damit bewirkt, "daß die Militärgewalt der gesetzmäßigen bürgerlichen Gewalt in jeder Beziehung untergeordnet ist". Dies wurde vor allem in der Regelung des Verfügungsrechtes über die bewaffnete Macht deutlich. Die Verfügung kam der NV als der umfassenden Gesetzgebungs- und Vollziehungseinrichtung zu, wobei die Verwendung und Leitung der bewaffneten Macht in Übereinstimmung mit der Verfassungsnovelle vom 19. Dezember 1918 dem Staatsratsdirektorium zugeordnet waren und im übrigen die Angelegenheiten der bewaffneten Macht in den Wirkungskreis des Staatssekretärs für Heerwesen gehörten. 89 Über die parlamentarische Behandlung dieses vorläufigen Wehrgesetzes s. die Steno Prot. NV 1919 (RV 87 dBlg. AB 128, 193 dBlg.; 320, 471, 472, 669-686); zu diesem Wehrgesetz s. ferner Kelsen, Verfassungsgesetze III 41 ff.

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Das Aufgebot des Heeres "zur Verteidigung des Vaterlandes gegen Angriffe äußerer Feinde, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Innern, soweit hierzu die der gesetzmäßigen bürgerlichen Gewalt zu Gebote stehenden Mittel nicht ausreichen, und zum Schutze gegen Naturgewalten, die das Leben oder das Eigentum der Bürger bedrohen", 90 war von der NV, bei Gefahr im Verzug vom Staatsrat (unter nachträglicher Einholung der Genehmigung der NV), im Falle der Katastrophenhilfe aber von der Landesregierung (unter nachträglicher Information der NV) zu erlassen. Eine "Bereitstellung", d. h. ein für Wehrpflichtige geltendes Verbot, das Staatsgebiet ohne besondere Bewilligung zu verlassen, war vom Staatsrat (unter nachträglicher Einholung der Genehmigung der NV) anzuordnen. Der "Oberbefehl" erhielt einen völlig veränderten Begriffsinhalt. Er bildete nicht mehr die früher dem Kaiser vorbehaltene oberste Verfügungs- und Befehlsgewalt über das Heer, sondern er wurde in Unterordnung unter die politische Führung zur weisungsgebundenen obersten militärischen Kommandoebene. Ein "Oberbefehlshaber" war - in Anlehnung an die militärische Führungsstruktur der Schweiz - nur für die Dauer eines Aufgebotes sowie "der gegenwärtig bestehenden außergewöhnlichen Verhältnisse" vorgesehen; "in gewöhnlichen Zeiten" sollten dessen Aufgaben vom Chef des Generalstabes oder von einem Truppeninspektor zu versehen sein. Der Oberbefehlshaber war vom Staatsratsdirektorium zu bestellen und dem Staatssekretär für Heerwesen unterstellt. Diese Regelung wurde allerdings erst im Zuge der parlamentarischen Beratungen getroffen. Die Vorlage des Staatsrates hatte eine Scheidung zwischen der militärischen Führung, die dem Staatsratsdirektorium zugeordnet und durch den Oberbefehlshaber auszuüben war, und der dem Staatssekretär für Heerwesen als Organ des Staatsrates obliegenden Organisation und Verwaltung vorgesehen. Dabei hatte das Direktorium den Oberbefehlshaber zu bestellen und ihm die Zwecke der Verwendung der bewaffneten Macht zu bezeichnen; mit Ausnahme der Angelegenheiten ihrer Verwendung und militärischen Führung sollte jedoch der Oberbefehlshaber dem Staatssekretär für Heerwesen unterstehen. Diese Doppelunterstellung wurde jedoch bei den Ausschußberatungen als nicht zweckmäßig erachtet. Der Oberbefehlshaber wurde nur dem Staatssekretär für Heerwesen unterstellt, wobei dessen Wirkungskreis dementsprechend in den Bereich der Verfügungsgewalt erweitert wurde, allerdings unter Bindung an den Auftrag des Direktoriums hinsichtlich der Verwendung der bewaffneten Macht. Im Ausschußbericht ist zu dieser 90 Mit den §§ 1 Abs. 1 und 8 Abs. llit. b. leg. cit. wurde dem Heer im sicherheitspolizeilichen Bereich nur mehr eine subsidiäre Aufgabe zugeordnet, wobei die Entscheidung über seine Heranziehung der gesetzmäßigen bürgerlichen Gewalt vorbehalten blieb;, Die schon bisher faktisch bestehende Aufgabe der Katastrophenhilfe wurde erstmalig ausdrücklich gesetzlich normiert (§ 1 Abs. 2, § 8 Abs. 1 lit. c. leg. cit.).

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Veränderung der Stellung des Oberbefehlshabers ausgeführt: "Durch die Eingliederung des Oberbefehlshabers in das Staatsamt für Heerwesen wird auch eine einheitliche Auffassung und Behandlung aller militärischen Angelegenheiten erreicht und insbesondere ermöglicht, daß der Oberbefehlsha):>er auf alle Angelegenheiten den ihm gebührenden und im Interesse der Landesverteidigung nötigen Einfluß erhält, ohne daß dadurch die Gefahr entstünde, daß sich eine verantwortungslose militärische Stelle im alten Sinne geltend machen könne." Um bis zur Einführung des beabsichtigten Milizsystems "in der Übergangszeit einen kleinen Friedensstand aufzubringen", war eine "außerordentliche Dienstleistung der Wehrpflichtigen in der Dauer von vier Monaten und in einem Gesamtrahmen von höchstens 24.000 Mann vorgesehen. Dieser Rahmen war allerdings - wie der Berichterstatter in der NV bemerkte - unter Einbeziehung auch jener Gebiete berechnet, "welche heute vom Feind besetzt, also nicht frei sind, wo also Aushebungen wahrscheinlich nicht möglich sein werden". 91 Der Bedarf an Kaderpersonal war "aus den vorhandenen Berufsmilitärpersonen zu decken", wobei Angehörigen der Volkswehr "unter sonst gleichen Voraussetzungen" ein Vorzug eingeräumt wurde. Die militärischen Dienstvorschriften waren "vom Staatsrat oder mit dessen Zustimmung" zu erlassen. Den Soldaten waren die staatsbürgerlichen Rechte garantiert, im Dienst war aber jede parteipolitische Betätigung untersagt; 92 die bewaffnete Macht als solche war" von jeder politischen Betätigung oder Verwendung unbedingt fernzuhalten". Die Regelung der Interessenvertretung der Soldaten war durch die Problematik der "Soldatenräte" in der provisorischen Wehrmacht vorbelastet. Diese Soldatenräte hatten sich zunächst im Anschluß an den Zusammenbruch der Monarchie ohne gesetzliche Grundlage gebildet; ihr Mandat war damals, wie der Staatssekretär für Heerwesen Josef Mayer in der NV ausführte, "teilweise vielleicht ein Mandat der Gasse, des Zufalls, teils ein Mandat, das sich der Betreffende selbst gegeben hat". In der Folge war vom Siehe hiezu FN 82. Gern. dem ersten Ausschußbericht sollte die parteipolitische Betätigung auch in örtlicher Hinsicht "innerhalb militärischer oder zum militärischen Gebrauche bestimmter Gebäude und Örtlichkeiten" verboten sein. Nach der Rückverweisung der Vorlage an den Ausschuß am 23. Jänner 1919 wurde in den weiteren Beratungen von dieser Beschränkung Abstand genommen; der Berichterstatter bemerkte hiezu in der Nationalversammlung, daß zunächst für das vorliegende Gesetz kein Einwand gegen politische Versammlungen in den Kasernen unmittelbar in der Wahlzeit bestehe. In einer Entschließung zu diesem Wehrgesetz wurde aber die Aufnahme einer Bestimmung in das Dienstreglement gefordert, nach der sich der Soldat stets vor Augen halten sollte, daß "eine ausgeprägte politische Betätigung" im erwähnten militärischen Bereich geeignet sein kann, "das gute Zusammenleben der Kameraden zu stören", er sollte daher bei dieser Betätigung "alles vermeiden, was die Gefühle andersdenkender Kameraden zu verletzen geeignet ist". 91 92

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Staatsamt für Heerwesen versucht worden, aus diesen Soldatenräten eine gewählte und geordnete Einrichtung entstehen zu lassen, die auch an der Gestaltung des vorläufigen Wehrgesetzes mitwirken sollte. Dennoch führten die Erfahrungen aus Übergriffen und radikalen Tendenzen zu ernsten Vorbehalten gegen diese Einrichtung; vom Berichterstatter wurde in der NV hiezu ein Hinweis auf Rußland aus den Reihen der Soldatenvertreter selbst zitiert: "Sie haben in Rußland genug Unheil angerichtet." In der Vorlage des Staatsrates wie auch in der Fassung des ersten Ausschußberichtes waren als Vertretungsorgan der Soldaten gewählte "Soldatenausschüsse" mit einem taxativ umschriebenen Wirkungsbereich (Beschwerdefunktion, ferner Kontrollfunktion hinsichtlich der vorschriftsmäßigen Besoldung, Verpflegung, Bekleidung und Unterbringung) vorgesehen. In den weiteren Beratungen des Entwurfes kehrte man aber wieder zum Begriff "Soldatenrat" zurück und normierte diese Einrichtung in einer nur global gefaßten Bestimmung "für die Wahrung der Interessen der Soldaten und zur Pflege des republikanischen Geistes in der Soldatenschaft"; eine nähere Determinierung des Wirkungskreises der Soldatenräte wurde dem Verordnungswege vorbehalten. In einer Entschließung zu diesem Wehrgesetz wurde den Soldatenräten hinsichtlich dieser Verordnung ein Anhörungsrecht und bereits in Konkretisierung der Gesetzesnorm eine Kontrollfunktion gegenüber ihren Vorgesetzten zum Schutz der republikanischen Verfassung zuerkannt. Dies entsprach dem Selbstverständnis der Soldatenräte als "Schützer der Republik", das auch jener Ergänzung des gesetzlichen Aufgabenkataloges der bewaffneten Macht zugrundeliegt, mit der auf Verlangen der Soldatenräte der Schutz der Grundgesetze der Republik ausdrücklich als militärische Aufgabe erwähnt wurde (§ 1 Abs. 1 des vorläufigen Wehrgesetzes). Das vorläufige Wehrgesetz von 1919 stellt eine Kompromißlösung in einer Notsituation dar und wurde als solche von allen Parteien einhellig beschlossen. Ungeachtet dessen hat aber in diesem Gesetz - so insbes. in der Ausrichtung auf das Milizsystem - wehrpolitisches Gedankengut der Sozialdemokratischen Partei in hohem Maße seinen Niederschlag gefunden, zumal die anderen Parteien noch kaum konkrete wehrpolitische Konzepte entwickelt hatten. 93 93 Hinsichtlich des Wehrsystems war eine programmatische Zielsetzung der Sozialdemokratie bereits im "Neudörfler Programm" von 1874 und im "KautskyProgramm" von 1882 (Punkt 5 bzw. 7: "Errichtung der Volkswehr an Stelle des stehenden Heeres") sowie in weiterer Folge in der Prinzipien-Erklärung des Hainfelder Parteitages 1888/89 (Punkt 6: " ... Es ist daher für den Ersatz des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung einzutreten.") und im "Wiener Programm" von 1901 (Punkt 11: "Ersatz des stehenden Heeres durch die Volkswehr; Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit; allgemeine Volksbewaffnung; Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung") enthalten; im nationalen Lager enthielt lediglich das Programm der Deutschen Arbeiterpartei von 1913 eine

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Der von der Konst. NV mit dem Gesetz vom 12. März 1919, StGBl. Nr. 174, über die Staatsform neuerlich bekundete Anschlußgedanke fand im Gesetz vom 14. März 1919, StGBl. Nr. 180, über die Staatsregierung hinsichtlich des militärischen Bereichs insofern seinen besonderen Niederschlag, als das Staatsamt für Heerwesen nach Art. 10 dieses Gesetzes zu jenen Staatsämtern zählte, die nur bis zur Eingliederung Deutschösterreichs in das Deutsche Reich bestehen sollten, weil ihre Wirkungsbereiche voraussichtlich nicht in die Kompetenz des künftigen Gliedstaates, sondern in die des Reiches fallen würden. 94 Dieser Zielrichtung trat jedoch das Anschlußverbot des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye und in dessen Durchführung das Gesetz vom 21. Oktober 1919, StGBl. Nr. 484, über die Staatsform entgegen. Die Übergangsphase zur neuen Ordnung der völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Verhältnisse erforderte auch auf dem Gebiet des militärischen Leistungswesens ein Gesetzesprovisorium. Da nämlich die Verpflichtung zu Kriegsleistungen nach dem Gesetz betreffend die Kriegsleistungen, RGBl. Nr. 236/1912, aufgehoben wurde,95 die aus der Monarchie rezipierten Einquartierungs- und Vorspanngesetze (RGBl. Nr. 93/1879, 100/1895, 86/1905) "nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut nur für den Friedenszustand Geltung haben", diese Voraussetzung aber bis zur Ratifizierung der Friedensverträge noch nicht gegeben war, ergab sich hinsichtlich der diesbezüglichen Sachleistungsbedürfnisse eine Lücke. Diese wurde mit dem Gesetz vom 5. Dezember 1919, StGBl. Nr.558, betreffend den Vorspann und die Einquartierung 96 geschlossen. Gesetzestechnisch ist die neue Regelung auf den erwähnten Einquartierungs- und Vorspanngesetzen der Monarchie in entsprechenden Abänderungen bzw. Ergänzungen aufgebaut. Die besondere Situation der erwähnten Übergangsphase tritt insbes. in einer ähnliche Zielsetzung (Punkt II / 7: "Entsprechend der allgemeinen Wehrpflicht die Ausgestaltung der Armee zu einem Volksheer ... "); das Programm der Wiener christlichsozialen Partei von 1919 enthielt - im Hinblick auf die erwähnte politische Problematik der Volkswehr - als Punkt 5 das Postulat: "Der Sicherheitstruppe und der Armee der Republik muß durch ihre Organisation und durch die Auswahl ihrer Angehörigen der Charakter einer unparteiischen Wehr zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung gesichert werden." Der 1. christlichsoziale Verfassungsentwurf vom 14. Mai 1919 enthielt den Grundsatz der "Wehrpflicht nach dem Milizsystem" (Sten. Prot. Konst. NV, 231 dBlg.). Siehe zur wehrpolitischen Programmatik der Parteien Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868-1966 (1967) 115 f., 129 f., 137 ff., 145 ff., 225 ff., 363 ff; sowie ferner Jedlicka, Heer 18 und in HGM Streitkräfte 18 ff. 94 Es handelt sich hiebei um die Angelegenheiten der Staatsämter für Äußeres, für Heerwesen und für Verkehrswesen; s. Kelsen, Verfassungsgesetze 156. 95 Dies geschah gern § 2 leg. cit. durch die Volksanweisung des Staatsamtes für Heereswesen vom 5. Dezember 1919, StGBl. Nr. 560, betreffend das Erlöschen der Verpflichtung zu Kriegsleistungen. 96 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes s. die die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 380 dBlg. AB 480 dBlg.; 760, 1236-1240).

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Bestimmung dieses Gesetzes zutage, über die in der Begründung der RV folgendes ausgeführt ist: "Auch ist dafür Grundlage zu schaffen, daß den aus dem Waffenstillstandsvertrage und voraussichtlich auch aus dem Friedensvertrage berechtigten Militärpersonen der alliierten und assoziierten Mächte wie auch den Militärpersonen der liquidierenden militärischen Stellen der bestandenen österreichisch-ungarischen Monarchie auf öffentlich-rechtlicher Basis und unter für den deutschösterreichischen Staatsschatz nicht ungünstigeren Bedingungen wie für die eigene bewaffnete Macht die erforderlichen Vorspänne und Unterkünfte bereitgestellt werden können." Eine den Bedingungen und Bedürfnissen des neuen Staates und des neuen Heeres angemessene Neuordnung des militärischen Leistungsrechtes mußte einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben; in der RV ist hiezu bemerkt: "Eine solche Änderung setzt aber vorerst die Regelung verschiedener grundlegender Fragen, insbesondere über die Gestaltung unserer künftigen bewaffneten Macht, deren Größe, Organisation etc. voraus, die derzeit - wie bekannt - noch nicht möglich ist." Eine besondere Verpflichtung des Staates lag in der Sicherung von Versorgungsleistungen im notwendigen Umfang für die zahlreichen Kriegsopfer durch entsprechende gesetzliche Regelungen. Dies galt vor allem für den großen Bereich der auf Grund der Wehrpflicht Einberufenen, deren Versorgungsrecht unabhängig von den für Berufsmilitärpersonen geltenden Grundsätzen einer umfassenden Neuregelung bedurfte. Nach dem Gesetz vom 25. April 1919, StGBl. Nr. 245, über die staatliche Entschädigung der Kriegs-Invaliden, -Witwen und -Waisen (Invalidenentschädigungsgesetz)97 wurde diesen Wehrpflichtigen sowie Zivilpersonen, die unverschuldet durch militärische Handlungen Gesundheitsschädigungen erlitten haben, ein "Anspruch auf Vergütung aus Staatsmitteln" eingeräumt (im wesentlichen Heilbehandlung, Ausstattung mit Körperersatzstücken, berufliche Ausbildung und Rentenleistungen). Da auch die "völlig rückständigen und unzulänglichen Militärversorgungsgesetze" der Berufsmilitärpersonen einer Erneuerung bedurften, der Zusammenhang dieser Gesetzgebungsmaßnahmen mit den entsprechenden Neuregelungen für Zivilbedienstete aber im Verhältnis zum raschen In97 Über die parlamentarische Behandlung des Invalidenentschädigungsgesetzes s. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 114 dBlg. AB 156 dBlg.; 140, 141, 143,258-265, 273 - 298); das Invalidenentschädigungsgesetz wurde in der Folge durch nachstehende Rechtsvorschriften abgeändert und (insbes. auch in Erweiterung seines Anwendungsbereiches) ergänzt: StGBl. Nr. 118/1920, 197/1920, BGBl Nr. 467/1920, 174 /1921, 345/1921, 426/1921, 641/1921, 739/1921, 112/1922, 430/1922, 256/ 1924, 66/1927, 318/1928, 383/1929, 95/1934, 65/1934 II, 449/1935, 20/1937; mit den Verordnungen des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom 5. August 1922, BGBL Nr. 598, vom 4. Mai 1927, BGBL Nr. 161, und vom 19. September 1934, BGBL Nr. 250 II, war die zu diesen Zeitpunkten geltende Fassung des Invalidenentschädigungsgesetzes jeweils kundgemacht worden.

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krafttreten des Invalidenentschädigungsgesetzes noch beträchtliche Zeit in Anspruch genommen und damit zu einer Benachteiligung der Berufsmilitärpersonen geführt hätte, wurde als vorläufiger Schritt vorgesehen, "durch kurze, gesetzliche Bestimmungen eine Ausdehnung des Invalidenentschädigungsgesetzes auf die Berufsmilitärpersonen zu bewerkstelligen". Dabei ergab sich aber in dieser Übergangsphase aus dem Zusammenbruch der Monarchie in eine neue staatliche und zwischenstaatliche Ordnung eine spezielle Abgrenzungsproblematik hinsichtlich des Kreises der Anspruchsberechtigten. Im Bericht des Ausschusses für Heerwesen ist diesbezüglich ausgeführt: "Nachdem der deutschösterreichische Staat der erste ist, der für die Invaliden Renten bezahlt, könnten alle jene Personen, die seinerzeit das Bekenntnis abgelegt,98 den Anspruch erheben, selbst wenn sie seither abgewandert sind. Deutschösterreich hätte Lasten zu tragen, die sonst den anderen Staaten zufallen würden. Der Ausschuß ist zur Überzeugung gelangt, daß die Frage durch eine bindende Bestimmung eines Gesetzes derzeit überhaupt nicht gelöst werden kann, denn wird der Anspruch auf Unterstützung an die bereits zu einem früheren Zeitpunkt erworbene Staatsbürgerschaft und an den dauernden Wohnsitz im Inland gebunden, so wären damit eine Reihe von Berufsmilitär von der Unterstützung zu Unrecht ausgeschlossen; wenn man aber diese beiden Voraussetzungen abschwächt oder durch andere ersetzt, so ist nicht abzusehen, welche unberechtigte finanzielle Belastung der deutschösterreichische Staat dadurch erfährt. Eine nachträgliche Abänderung gesetzlicher Bestimmungen, durch die eine Reihe von Personen Rechtsansprüche an den Staat bereits erworben haben, soll nach Auffassung des Ausschusses vermieden werden. Aus diesen Erwägungen heraus ist der Ausschuß zu dem Entschluß gelangt, der Nationalversammlung den Antrag zu unterbreiten, an Stelle des Gesetzes über die Anwendung des Invalidenentschädigungsgesetzes auf Personen des militärischen Berufsstandes und ihrer Hinterbliebenen ein Ermächtigungsgesetz zu beschließen, durch das die Regierung befugt wird, die Bestimmungen des dem Ausschuß zugewiesenen Gesetzes durch Vollzugsanweisung in Kraft zu setzen." Diesem Antrag folgend wurde von der NV am 3. Juli 1919 das Gesetz, mit welchem die Staatsregierung zur Erlassung vorläufiger Bestimmungen über die Anwendung des Invalidenentschädigungsgesetzes auf Personen des militärischen Berufsstandes und ihre Hinterbliebenen ermächtigt wird, StGBl. Nr. 356/1919,99 beschlossen. Auf gleiche Weise erfuhr das ebenfalls unzureichend gewordene Pensionsrecht der Berufsmilitärpersonen, das gegenüber den Ansprüchen der 98 Es handelt sich um das Bekenntnis zum deutschästerreichischen Staat als Grundlage des Staatsbürgerschaftserwerbs. 99 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes s. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 259 dBIg., AB 288 dBIg.; 429, 430, 603, 604), S. ferner die Verordnung BGBL Nr. 263/1921.

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Zivilbediensteten - nicht zuletzt als Folge des Dualismus - zurückgeblieben war, durch das Gesetz vom 3. Juli 1919, StGBl. Nr. 355, mit welchem die Staatsregierung zur Erlassung vorläufiger neuer Bestimmungen über die Versorgung der Personen des militärischen Berufsstandes und ihrer Hinterbliebenen ermächtigt wird (Militärpensions-Ermächtigungsgesetz), 100 eine vorläufige Neuregelung. Der Weg des Ermächtigungsgesetzes wurde auch hier erst im Zuge der parlamentarischen Beratungen durch einen Unterausschuß des Finanz- und Budgetausschusses beschritten. Für die Empfänger von Unterhaltsbeiträgen nach den Gesetzen RGBl. Nr. 313/1917 und RGBl. Nr. 126/1918 101 - durch die neue Versorgungsregelung des Invalidenentschädigungsgesetzes waren es im wesentlichen nur mehr die Angehörigen von Kriegsgefangenen - wurden diese Zuwendungen mit dem Gesetz vom 28. Juli 1919, StGBl. Nr. 387, über die Gewährung eines Zuschusses zu den Unterhaltsbeiträgen an die Angehörigen von Kriegsgefangenen und über Änderungen und Ergänzungen zu den Gesetzen vom 27. Juli 1917, RGBl. Nr. 313, und vom 31. März 1918, RGBl. Nr. 126, (Unterhaltsbeitragsnovelle) um 50 % für einen Zeitraum von drei Monaten erhöht; im Anschluß daran war der Staatssekretär für Heerwesen ermächtigt, einvernehmlich mit dem Staatssekretär für Finanzen nach Maßgabe der mit demselben Gesetz normierten Einsparungen (durch Anspruchsbeschränkungen in den Fällen einer anderweitigen Sicherstellung des Unterhalts) sowie "der Preise der Lebensmittel und der sonstigen Gegenstände des täglichen Bedarfes den Zuschuß entweder einheitlich oder für bestimmte Gebiete weiter zu gewähren" .102 Bereits mit dem Gesetz vom 3. April 1919, StGBl. Nr. 214, über die Kriegsgefangenen und Zivilinterniertenfürsorge war "zur einheitlichen und wirksamen Wahrung der Interessen der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten und zur ständigen Beratung der Staatsregierung in allen die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten betreffenden Angelegenheiten" eine Staatskommission geschaffen worden, der ein dem Staatsamt für Heerwesen unterstelltes Amt beigegeben war. 103 100 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes s. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 262 dBlg., AB 289 dBlg.; 489, 596-603). 101 Siehe hiezu FN 68 und 69. 102 Über die parlamentarische Behandlung der Unterhaltsbeitragsnovelle von 1919 s. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 322 dBlg., AB 325 dBlg.; 659, 660, 680690); gesetzliche Anhebungen der Zuschüsse durch die Ir. Unterhaltsbeitragsnovelle, BGBL Nr. 174/1921, und durch die ur. Unterhaltsbeitragsnovelle, BGBL Nr. 739/ 1921; mit dieser wurden auch die Angehörigen der Kriegsgefangenen in den Anwendungsbereich des Invalidenentschädigungsgesetzes einbezogen. 103 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes S. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 88 dBlg., AB 108 dBlg.; 130, 156-161, 176); die Kommission setzte sich aus Regierungsvertretern und Vertretern der Organisationen der Heimkehrer und der Angehörigen von Kriegsgefangenen zusammen, ihr Präsident und ihr Vizepräsident gehörten der Nationalversammlung an.

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In einem Gesetzesprovisorium wurde ferner die Besoldung der Berufsmilitärpersonen neu normiert. Das Gesetz vom 20. Dezember 1919, StGBl. Nr. 603, zur vorläufigen Regelung der Besoldung der Personen des militärischen Berufsstandes (Militärbesoldungsübergangsgesetz) 104 entsprach in seinen Grundsätzen dem für die Zivilstaatsbeamten geltenden Besoldungsübergangsgesetz, StGBl. Nr. 570/1919, wobei neben gemeinsamen Besoldungselementen die Bezüge für Offiziere und Gleichgestellte einerseits sowie für Gagisten ohne Rangklasse und Berufsunteroffiziere andererseits nach unterschiedlichen Bestimmungen geregelt waren. Im Zusammenhang mit diesem Gesetz wurde von der NV auf eine dem neuen Staat angemessene Heeresstärke und die schon dadurch bedingte, im besonderen aber durch die Bestimmungen des zur Ratifizierung vorliegenden Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye erforderliche Reduzierung des militärischen Personalstandes hingewiesen. Mit einer Entschließung wurde die Regierung aufgefordert, "das Militärabbaugesetz der Nationalversammlung ehestens vorzulegen" . Im Bereich des militärischen Strafrechts, das verschiedentlich hinter der allgemeinen Entwicklung des Strafrechts zurückgeblieben war, stellte sich der Gesetzgebung in den Anfängen der Republik vor allem die Aufgabe entsprechender Angleichungen. Diesem Ziel dienten das Gesetz vom 5. Dezember 1918, StGBl. Nr. 89, womit mehrere Bestimmungen des Militärstrafgesetzes abgeändert und ergänzt werden (Militärstrafgesetznovelle vom Jahre 1918),105 das Gesetz vom 19. Dezember 1918, StGBl. Nr.137, über das Militärstrafverfahren (Militärstrafprozeßnovelle vom Jahre 1918) 106 und das Gesetz vom 20. Dezember 1919, StGBl. Nr. 601, über die Folgen militärgerichtlicher Verurteilungen. 107 Die Militärstrafgesetznovelle vom Jahre 1918 brachte im wesentlichen eine Angleichung an die im allgemeinen Strafrecht für die strafrechtliche Beurteilung von Delikten gegen das Vermögen maßgebenden Beträge. Der Bericht des Justizausschusses enthält zu diesem Nachholbedarf folgende bemerkenswerte Ausführungen: "Da das Militärstrafgesetz aus dem Jahre 1855, also aus der Zeit vor dem 67er Ausgleich stammt, wurde es nämlich 104 Über die parlamentarische Behandlung des Militärbesoldungsübergangsgesetzes s. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 583 dBlg., AB 599 dBlg.; 1319, 1436, 1437). 105 Über die parlamentarische Behandlung der Militärstrafgesetznovelle von 1918 s. die Steno Prot. Prov. NV 1918 (RV 19 dBlg., AB 67 dBlg.; 122, 284); zur 2. Militärstrafgesetznovelle StGBl. Nr. 34/1920. s. FN 1?9. 106 Über die parlamentarische Behandlung der Militärstrafprozeßnovelle von 1918 s. die Steno Prot. Prov. NV 1918 (RV 20 dBlg., AB 83 dBlg.; 122, 374-376). 107 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes s. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 319 dBlg., AB 589 dBlg.; 660, 1439); bereits durch das Gesetz RGBl. Nr. 510/1917 war eine Überprüfung von militärgerichtlichen Verurteilungen im Feld- oder standrechtlicher Verfahren ermöglicht worden (s. hiezu auch die Verordnungen RGBl. Nr. 156/1914, 307/1914 und 284/1917 sowie FN 139).

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von den Ungarn nie als ein verfassungsmäßig zustande gekommenes Gesetz betrachtet. Sie haben allerdings notgedrungen den rein strafrechtlichen Inhalt des Militärstrafgesetzes auch für Ungarn als geltend erklärt, indem sie in verschiedenen Gesetzen, so insbesondere im Wehrgesetz und in der Militärstrafprozeßordnung, erklärten, daß die Militärpersonen den militärischen Strafbestimmungen unterstehen, sie haben aber immer ängstlich vermieden, das Militärstrafgesetz als ,Gesetz' zu bezeichnen, sondern sie sprachen früher von ,militärischen Strafvorschriften' und später vom ,Militärstrafrecht' . Diese Nichtanerkennung des Militärstrafgesetzes als eines ,Gesetzes' hinderte sie aber, das Militärstrafgesetz zu ändern, denn dazu hätten sie ein Gesetz machen müssen und sie fürchteten, dadurch anzuerkennen, daß das, was die mit einem Gesetz änderten, selbst ein Gesetz sei ... Die staatsrechtlichen Änderungen der letzten Wochen machen uns auch auf dem Gebiete der Militärstrafgesetzgebung von Ungarn unabhängig und wir können nun darangehen, das was wir schon länger für nötig erkannt haben, auch wirklich durchzuführen." Im Motivenbericht der Vorlage des Staatsrates, betreffend die Militärstrafprozeßnovelle vom Jahre 1918, wurde einleitend festgestellt, daß es sich um ein Notstandsgesetz handle, das die Umarbeitung der Militärstrafprozeßordnung einer späteren Zeit überläßt und nur jene Bestimmungen ersetzen will, "die am drückendsten empfunden werden". Neben Anpassungen an die geänderten staatsrechtlichen Verhältnisse bewirkte die Novelle insgesamt eine verstärkte Einbindung der Militärgerichtsbarkeit in die rechtsstaatliche Ordnung. Nachdem schon im Grundgesetz vom 22. November 1918, StGBl. Nr. 38, über die richterliche Gewalt festgelegt worden war, daß der Wirkungskreis der Militärgerichte durch Gesetz bestimmt wird, wurde nun die in diesem Grundgesetz verankerte Selbständigkeit und Unabhängigkeit des richterlichen Amtes auch für die als Militärrichter wirkenden Offiziere des Justizdienstes sichergestellt sowie das militärische Verfahrensrecht insbes. hinsichtlich der Rechtsmittel, des Fristenlaufes, der Wiederaufnahme des Verfahrens und der Rechtsfolgen verbessert. Mit dem Gesetz über die Folgen militärgerichtlicher Verurteilungen wurde, wie in den Erläuternden Bemerkungen der RV ausgeführt ist, "die Unbilligkeit, daß die Rechtsfolgen der Verurteilungen wegen militärischer Verbrechen überhaupt nicht erlöschen", beseitigt und eine gesetzliche Grundlage für die Tilgung militärgerichtlicher Verurteilungen geschaffen. Besondere Umstände des Krieges, vor allem seines Endes, lagen dem Gesetz vom 19. Dezember 1918, StGBl. Nr. 132, über die Feststellung und Verfolgung von Pflichtverletzungen militärischer Organe im Kriege 108 so108 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes s. die Steno Prot. Prov. NY 1918 (Antrag 79 dBlg., AB 82 dBlg.; 315, 376-396; ferner Anträge 37 und 52 dBlg.), hinsichtlich der Novelle StGBl. Nr. 582/1919, mit der eine verfahrensrechtli-

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wie dem Gesetz vom 3. April 1919, StGBl. Nr. 213, über die Begnadigung von russischen und finnischen Kriegsgefangenen und internierten Zivilangehörigen und die Nachsicht von Strafen wegen Verletzung des wirtschaftlichen Kampfrechtes im Verhältnisse zu Rußland und Finnland 109 zugrunde. Schwere Vorwürfe gegen die Heeresführung und die Heeresverwaltung - so insbes. der Mangel an Verantwortungsgefühl für das Staatsinteresse und für das Wohl der anvertrauten Truppen, Verständnislosigkeit gegenüber den Erfordernissen und Bedürfnissen der Zivilbevölkerung - führten zu mehreren Initiativanträgen, mit denen eine Untersuchung und KlarsteIlung gefordert wurde. Dabei standen die Vorgänge beim Zusammenbruch der Monarchie im Herbst 1918, vor allem an der Südwestfront, 110 im Zentrum des Interesses. Durch das Gesetz StGBl. Nr. 132/1918 wurde eine kommissionelle Untersuchung zur Feststellung, ob und inwiefern im Verlauf des Krieges höheren Kommandanten, gleichgestellten Leitern militärischer Behörden und Anstalten sowie deren Hilfsorganen "ein grobes Verschulden bei der Führung der Truppen oder andere schwere Verstöße gegen ihre Dienstpflichten zur Last fallen", vorgesehen. Dabei hatten sich die Erhebungen im besonderen "auf das Schicksal der deutschösterreichischen Truppen und auf den Verlust von Kriegsgerät und Vorräten bei dem Zusammenbruche der Wehrmacht der österreichisch-ungarischen Monarchie im Herbst 1918 zu erstrecken". Sofern sich aus den Erhebungen der vom Staatsrat bestellten Kommission der Verdacht einer strafbaren Handlung ergab, waren die Unterlagen dem Generalstaatsanwalt zu übermitteln. Für die strafrechtliche Ahndung war die ausschließliche Zuständigkeit des OGH normiert, wobei dem entscheidenden Senat auch Mitglieder des Obersten Militärgerichtshofes anzugehören hatten. Hiezu ist im Bericht des Ausschusses für Heerwesen angemerkt, dies stelle sich "nicht als eine Ausnahmegerichtsbarkeit dar, die den Bestimmungen des § 2 Abs. 1 des Grundgesetzes über die richterliche Gewalt zuwider wäre. Sie soll vielmehr dem Beschuldigten und der Öffentlichkeit höhere Gewähr für eine sachgemäße und unabhängige Rechtssprechung bieten." Es wurde allerdings auch die Meinung vertreten, es handle sich doch um eine Änderung des genannten Grundgesetzes, so daß die Beschlußfassung einer Zweidrittelmehrheit bedürfe. Im Hinblick darauf wurde bei der Abstimmung in der NV ausdrücklich festgestellt, daß das Gesetz mit dieser Mehrheit angenommen wurde. Nach dreijähriger Tätigkeit und 32 an die NV und den NR erstatteten Berichten war bei der Kommission kein Fall mehr anhängig. Das Gesetz che Zweifelsfrage bereinigt wurde, s. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 450 dBlg., AB 539 dBlg.; 1319, 1320). 109 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes S. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 79 dBlg., AB 119 dBlg.; 117, 118, 130, 196, 197). 110 Siehe hiezu FN 81. 44 Parlamentarismus

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StGBl. Nr. 132/1918 wurde daher mit dem Bundesgesetz vom 24. März 1922, BGBl. Nr. 203, betreffend die Aufhebung des Gesetzes vom 19. Dezember 1918, StGBl. Nr. 132, über die Feststellung und Verfolgung von Pflichtverletzungen militärischer Organe im Kriege 11 ! aufgehoben. Das Gesetz StGBl. Nr. 213/1919 bildete eine Konsequenz aus Zusatzverträgen, die Österreich-Ungarn im Anschluß an den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit Rußland und Finnland abgeschlossen hatte. Nach diesen Verträgen sollte für alle während der Kriegsgefangenschaft vor dem 30. Oktober 1918 verübten gerichtlich oder disziplinär strafbaren Handlungen volle Straffreiheit gewährt werden; gleiches sollte auch für internierte Zivilpersonen gelten, "insbesondere in dem Falle, wenn sie diese Straftaten zugunsten ihres Heimatlandes begangen haben". Im Bericht des Ausschusses für Heerwesen wurde die Annahme dieses Gesetzes als "eine Pflicht der Anständigkeit" erachtet, kam auch seine Anwendung nur mehr für einen kleinen Personenkreis in Betracht. 2. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Der Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye, der am 10. September 1919 unterzeichnet worden war, am 16. Juli 1920 in Kraft getreten ist und am 21. Juli 1920 im StGBl. unter der Nr. 303 kundgemacht wurde, brachte neben notwendigen Grundlagen für die völkerrechtliche Stellung Österreichs als Staat (wie insbes. die mit schmerzlichen Verlusten verbundene Abgrenzung seines Staatsgebietes) schwerwiegende und weitgehende Eingriffe in die freie Gestaltungsmöglichkeit des Staatswesens. 112 Die 111 Über die parlamentarische Behandlung dieses Gesetzes s. die Steno Prot. NR 1922 (RV 797 dBlg., AB 830 dBlg.; 3236, 3253, 3314-3318) und die die Steno Prot. BR 1922 (481, 482); die Kommission hatte insgesamt 484 Fälle behandelt, von denen nur 8 Fälle zu einem gerichtlichen Strafverfahren führten, sechs dieser Verfahren endeten mit Freisprüchen, zwei mit Verurteilungen (s. HGM Streitkräfte 145, 146; S. insbes. auch den 8. Bericht der Kommission, 974 dBlg. zu den Steno Prot. Konst. NV ); S. hiezu auch Doppelbauer, Gericht über die Armee - Kriegsverbrecherprozesse in Österreich nach 1918, in Truppendienst (1988) 505 ff. 112 Über die parlamentarische Behandlung des Staatsvertrages und über sein Zustandekommen S. die Steno Prot. Konst. NV 1919 (RV 379 dBlg.; 316-318, 763798,843-845); am 8. Mai 1919 wurde Staatskanzler Dr. Karl Renner von der NV einstimmig als bevollmächtigter Vertreter der deutschösterreichischen Republik bestimmt und ihm als politische Berater die Abg. Dr. Alfred Gürtler und Dr. Ernst Schänbauer beigegeben; am 17. Mai überreichte die Delegation ihre Vollmachten in Paris; am 26. Juli 1919 gab Vizekanzler Jodok Fink der NV einen Bericht über die Friedensverhandlungen; am 6. September 1919 wurde nach einem mündlichen Bericht des Hauptausschusses Staatskanzler Karl Renner von der NV beauftragt, "als Leiter der Friedensdelegation in Saint Germain den Vertrag zu unterzeichnen"; am 17. Oktober 1919 wurde der Staatsvertrag nach dem mündlichen Bericht des zu seiner Beratung eingesetzten Ausschusses von der NV genehmigt. Siehe hiezu ferner Kelsen, Der Staatsvertrag von St. Germain vom 10. September 1919, in Klecatsky,

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unmittelbare Konsequenz daraus war das noch vor dem Inkrafttreten des Staatsvertrages beschlossene Gesetz über die Staatsform, StGBl. Nr. 484/ 1919. Mit diesem Gesetz wurde u. a. die Bezeichnung "Republik Österreich", unter der allein der neue Staat internationale Anerkennung zu finden vermochte, als Staatsname bestimmt sowie die Erklärung Deutschösterreichs zum Bestandteil der Deutschen Republik (Art. 2 des Gesetzes StGBl. Nr. 5/1918 und Art. 1 Z 2 des Gesetzes StGBl. Nr. 174/1919) im Hinblick auf das mit dem Art. 88 des Staatsvertrages verfügte Anschlußverbot aufgehoben. Darüber hinaus setzte aber der Staatsvertrag noch verschiedene andere Maßstäbe und Schranken für die von der Konst. NV auszuarbeitende Verfassung, insbes. auch für die Wehrerfassung. Im V. Teil des Staatsvertrages ("Bestimmungen über Land-, See- und Luftstreitkräfte") wurden Österreich sowohl hinsichtlich des Wehrsystems als auch hinsichtlich Art und Umfang seiner Streitkräfte tiefgreifende Beschränkungen auferlegt. 113 Die allgemeine Wehrpflicht wurde untersagt, das Heer durfte "nur auf dem Wege freiwilliger Verpflichtung aufgestellt und ergänzt werden", seine Gesamtstärke war mit höchstens 30.000 Mann "einschließlich der Offiziere und der Depottruppen" begrenzt; Luftstreitkräfte jeglicher Art waren Österreich überhaupt verboten. Für die Formationen des Heeres waren in detaillierten Tabellen die zulässigen personellen Höchst- und Mindeststände sowie die zulässigen Höchststände an Waffen für je 1000 Mann und Munition (pro Waffe) festgelegt, wobei für die Artilleriemunition noch bestimmte Mengenbegrenzungen über bzw. unter dem Kaliber von 105 mm galten; der Anteil der Offiziere (einschließlich Stabspersonal und Spezialdienste) am Gesamtpräsenzstand durfte die Höchstgrenze eines Zwanzigstels, das der Unteroffiziere die Höchstgrenze eines Fünfzehntels dieses Standes nicht überschreiten. Alle Mobilisierungsmaßnahmen oder auf die Mobilisierung bezughabende Maßnahmen waren verboten. Die Verwendung des Heeres wurde ausdrücklich "nur zur Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb des österreichischen Gebietes und zum Grenzschutz" erlaubt. 114 Die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial war ausschließlich "in einer einzigen Fabrik", die sich im Eigentum und in der Verwaltung des Staates befinden mußte, zulässig; die Erzeugung mit der Bestimmung zur Ausfuhr sowie die Einfuhr von Waffen, Munition und Kriegsgerät aller Art waren untersagt. Die weiteren, vielfältiDie Republik Österreich (1968) 63 ff.; Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 60 ff. 113 Siehe hiezu insbes. auch die BIg. 68 zum "Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in Saint Germain-en-Laye" als Teil der BIg. 379 zu den die Steno Prot. Konst. NV 1919. 114 Der an erster Stelle genannte sicherheitspolizeiliche Verwendungszweck läßt erkennen, daß die Siegermächte Österreich nur eine Sicherheitstruppe, die auch zum Grenzschutz geeignet war, zugestehen wollten. 44"

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gen Beschränkungen der österreichischen Wehrhoheit durch diesen Staatsvertrag reichten u. a. bis zu bindenden Kriterien für die Gestaltung des Dienstverhältnisses der Offiziere und Unteroffiziere sowie für die Schülerzahlen an den Militärschulen. Zur Überwachung der von Österreich vorzunehmenden Durchführungsmaßnahmen - insbes. der Reduzierung der Heeresbestände auf die zulässigen Ausmaße innerhalb von drei Monaten, aber auch der erforderlichen Legislativmaßnahmen - wurden interalliierte Ausschüsse mit entsprechenden Befugnissen vorgesehen. Die militärischen Bestimmungen des Staatsvertrages von Saint-Germainen-Laye bildeten die - solcherart einschränkenden und bis in zahlreiche Einzelheiten gehenden - völkerrechtlichen Grundlagen für die neu zu schaffende österreichische Wehrverfassung und für das österreichische Wehrrecht überhaupt. Die erwähnten Bestimmungen wurden allerdings angesichts der allgemeinen Notlage des Staates und der insgesamt als ungerechtes Diktat empfundenen Bedingungen dieses Vertrages anläßlich seiner parlamentarischen Genehmigung in der NV nicht näher erörtert. Den leidvollen Weg Österreichs durch die nächsten Jahrzehnte hat der Berichterstatter Dr. Richard Weiskirchner am 17. Oktober 1919 in beklemmend zutreffender Weise skizziert: "Nicht hoffnungslos und nicht verzweifelt wollen wir den Weg betreten, wenn es uns auch fast gewiß ist, daß erst unsere Enkelkinder als freie Bürger auf freier Scholle die Früchte ihrer Arbeit ungeschmälert und unbedrückt werden genießen können." Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der neuen Republik Österreich wurden - auch für den militärischen Bereich - durch das Gesetz vom 1. Oktober 1920, StGBl. Nr. 450/1920 und BGBl. Nr. 1/1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz), geschaffen. 115 Art. 9 des B-VG erklärte "die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts" zu Bestandteilen des Bundesrechtes. Nach dieser Bestimmung werden die generell-abstrakten Rechtssätze des Völkergewohnheitsrechts und die allgemeinen anerkannten Rechtsgrundsätze (Art. 38, Abs. 1 lit. bund c des Statutes des Internationalen Gerichtshofes) in das innerstaatliche Recht inkorporiert, ohne daß es für ihre innerstaatliche Wirksamkeit eines besonderen innerstaatlichen Rechtssetzungsaktes oder einer Kundmachung be115 Über die parlamentarische Behandlung des B-VG s. die die Steno Prot. Konst. NV 1920 (1. und 2. christlichsozialer Entwurf 231 U. 888 dBlg., großdeutscher Entwurf 842 dBlg., sozialdemokratischer Entwurf 904 dBlg., AB 991 dBlg.; 33753404, 3409-3455, 3469-3470); über seine Entstehung S. auch Kelsen, Österreichisches Staatsrecht (1923) 160 ff; Ermacora, Zur Entstehung in Schambeck, Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung (1980) 33 ff, sowie ders., Quellen und ders. Die Entstehung der Bundesverfassung 1920 (1986); Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung (1981), ferner Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte UO,f!..

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darf. Für den wehrrechtlichen Bereich ist diese Verfassungsnorm inbes. hinsichtlich der leitenden Grundsätze des Kriegsrechts (einschließlich des Neutralitäts- und des humanitären Völkerrechts) von Bedeutung. 116 In der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern (Art. 10-15 B-VG) wurden die militärischen Angelegenheiten in Gesetzgebung und Vol'l.ziehung dem Bundes zugeordnet (Art. 10 B-VG); sie zählen auch zu den Materien,die "unmittelbar von Bundesbehörden versehen" werden können (Art. 102, Abs. 2 B-VG - "unmittelbare Bundesverwaltung"). Im Zusammenhang mit dieser Kompetenzregelung sind aus den Vorentwürfen der Bundesverfassung 117 insbes. der sog. "Tiroler Entwurf" sowie der erste und der zweite christlichsoziale Entwurf erwähnenswert. Nach dem "Tiroler Entwurf" hätte zwar der Schutz des Bundesgebietes gegen Angriffe von außen eine Bundesaufgabe bilden, die Gesetzgebung über das Heerwesen dem Bunde aber nur mit der Einschränkung zukommen sollen, daß die Aufbringung, Ausrüstung und Verpflegung des Bundesheeres sowie die Aufstellung und Erhaltung von Landjägertruppen den Bundesgliedern oblag. Sache des Bundes sollte aber auch "die Aufteilung der Truppenmacht nach den verschiedenen Waffengattungen auf die einzelnen Bundesglieder" sein. Eine Verwendung "der von den einzelnen Bundesgliedern aufgebrachten Truppen, Offiziere und Unteroffiziere außerhalb ihrer Grenzen" sollte nur in den Fällen eines Einsatzes gegen äußere Bedrohung oder einer Bundeshilfe "zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Inneren" sowie bei militärischen Übungen zulässig sein. Die Landjägertruppen sämtlicher Bundesglieder, denen in erster Linie die Aufrechterhaltung der Ruhe und Sicherheit innerhalb der jeweiligen Gebietsgrenzen zugedacht Wesentliche Grundsätze des Kriegsrechts sind: 1. Militärische Kampfhandlungen dürfen direkt nur gegen Kombattanten und gegen militärische Objekte gerichtet sein. 2. Kampfmittel, die überflüssige Leiden oder Schäden verursachen (d. h. solche, die zur Niederwerfung des Gegners nicht notwendig sind, wie Dum-Dum-Geschosse oder Gift), sind verboten. 3. Perfide Kampfmittel (d. h. solche, die der militärischen Ehre widerstreiten, wie Mißbrauch des Rotkreuzzeichens oder Verwendung von Abzeichen und Uniformen des Gegners während des Kampfes) sind verboten. Siehe hiezu Verdross, Völkerrecht (1964) 439 ff; zur Völkerrechtsregelung des BVG s. Adomovich, Handbuch 52 ff, ferner Rack, Das Völkerrecht im staatlichen Recht (1979) insbes. 13 ff, 54 ff. Völkerrechtliche Vereinbarungen auf dem Gebiet des Kriegsrechts, die im Wege der Transformation innerstaatliches Recht wurden, sind aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des B-VG von 1920 insbes. die Genfer Konventionen von (1864, RGBl. Nr. 97/1866) 1906, RGBl. Nr. 191/1911, sowie die Haager Abkommen von 1899 und 1907, RGBl. Nr. 174-188/1913, aus der Zeit zwischen 1920 und 1938 inbes. das Genfer Protokoll von 1925, BGBl. Nr. 202/1928, und die Genfer Abkommen von 1929, BGBl. Nr. 166/1936. 117 Siehe Ermacora, Quellen insbes. 29 ff., 193 ff., 256 f., 501 ff.; ferner Schmitz, Vorentwürfe insbes. 52, 57, 61 ff., 113 ff.; s. hiezu auch FN 115. 116

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war, sollten "im Falle der Abwehr feindlicher Angriffe von außen" der "Militärgewalt des Bundes" unterstellt werden. Im ersten christlichsozialen Entwurf war die "Regelung der Wehrpflicht nach dem Milizsystem und die Festlegung jeder Art der Heereslasten" einschließlich der jährlichen Bewilligung des Rekrutenkontingents durch die Volksvertretung dem Wirkungsbereich der Bundesgewalt zugeordnet (der Entwurf sah die allgemeine Wehrpflichtfür männliche und weibliche Staatsbürger vor, wobei "Mütter, die ihre Kinder betreuen", enthoben und zum Dienst mit der Waffe nur männliche Staatsbürger heranzuziehen waren), als Staatszweck des Bundesfreistaates war an erster Stelle "die gemeinsame Vertretung und Verteidigung nach außen" genannt; "in unauflöslicher Wehrgemeinschaft" waren die gleichberechtigten Länder des Bundesfreistaates "zur gemeinsamen Verteidigung gegen jeden feindlichen Angriff verpflichtet". Nach dem zweiten christlichsozialen Entwurf hätte bei Änderungen des Wehrgesetzes (wie bei Staatsverträgen und bei Verfassungsänderungen) eine fehlende Zustimmung des BR zum Gesetzesbeschluß des BT durch das positive Ergebnis einer Volksabstimmung ersetzt werden können. Nach dem großdeutschen und dem sozialdemokratischen Parteienentwurf sowie den Kelsen-Entwürfen I bis VI, dem "Privatentwurf Mayr", dem "Entwurf Mayr", dem "Renner-Mayr-Entwurf" und dem "Linzer Entwurf" (als Ergebnis der Linzer Länderkonferenz vom 20. bis 23. April 1920) waren ebenso wie nach dem vom Unterausschuß des Verfassungsausschusses der Konst. NV erarbeiteten Verfassungsentwurf die militärischen Angelegenheiten als Bundessache in Gesetzgebung und Vollziehung vorgesehen. 118 Im Rahmen der Kompetenzregelung des ersten christlichsozialen Entwurfes, der noch aus der Zeit vor dem Abschluß des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye stammt, war - wie bereits zitiert - auch eine normative Aussage über das Wehrsystem beabsichtigt; es sollte ein Milizsystem auf der Grundlage der Wehrpflicht sein. Der zweite christlichsoziale Entwurf enthält jedoch angesichts der völkerrechtlich vorgegebenen Bindung durch den Staatsvertrag, in dem Österreich ein Wehrsystem auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht verboten war,119 so daß nur eine 118 Hans Kelsen wurde 1919 von Staatskanzler Renner zur Ausarbeitung der neuen Verfassung herangezogen, er war an deren Entstehung sowohl mit mehreren Entwürfen als auch mit seiner legistischen Tätigkeit im Rahmen des VerfassungsUnterausschusses der NV wesentlich beteiligt; die mit dem Namen Mayr, bezeichnetenEntwürfe beziehen sich auf Dr. Michael Mayr, christlichsozialer Abg., Staatssekretär mit dem persönlichen Aufgabenkreis der Mitarbeit an der Verfassungs- und Verwaltungsreform, Vorsitzender im Kabinett, Bundeskanzler und Bundesminister; zu den angeführten Entwürfen s. insbes. Schmitz, Vorentwürfe sowie FN 115 und 117.

119 Art. 119: "Die allgemeine Wehrpflicht wird in Österreich abgeschafft. Das österreichische Heer wird künftighin nur auf dem Wege freiwilliger Verpflichtung aufgestellt und ergänzt werden."

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als Berufsheer einzurichtende Wehrmacht in Betracht kam, keine ausdrückliche Bestimmung des Wehrsystems. Auch die Kelsen-Entwürfe I bis IV und VI enthalten diesbezüglich keine Regelung. Lediglich der KelsenEntwurf V sah im Rahmen einer allgemeinen Verpflichtung der Staatsbürger, "nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten", auch die Wehrpflicht "nach den Bestimmungen des Bundeswehrgesetzes" vor. Im großdeutschen Entwurf waren "Ausgestaltung und Verwendung des Bundesheeres" der einfachgesetzlichen Regelung vorbehalten. Der sozialdemokratische Entwurf, der "Privatentwurf Mayr", der "Entwurf Mayr", der Entwurf "Renner-Mayr" und der "Linzer Entwurf" weisen Bestimmungen gleichen Wortlauts auf, nach denen das Bundesheer ein Berufsheer ist und auf dem Wege freiwilliger Verpflichtung aufgestellt und ergänzt wird. Bemerkenswert ist dabei die im "RennerMayr-Entwurf" - ungeachtet des erwähnten Verbotes einer allgemeinen Wehrpflicht im Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye - vorgesehene Verpflichtung jedes wehrfähigen Bundesangehörigen, "nach Anordnungen der Bundesversammlung an der Verteidigung der Republik wider den ins Land fallenden Feind teilzunehmen". Ein solches allgemein oder teilweise verfügtes Aufgebot wurde in den Erläuterungen dieses Entwurfes mit dem Staatsvertrag für vereinbar erachtet; die diesbezügliche Rechtsauffassung ging davon aus, daß durch das Verbot der allgemeinen Wehrpflicht nur bestimmt wird, es dürften "in Friedenszeiten keinerlei Rekrutement, keine Kaderorganisationen, keinerlei Manöver, auch keinerlei Volksbewaffnung" stattfinden, hingegen blieben davon unberührt die Berechtigung und Verpflichtung jedes Bürgers, "an der Verteidigung seines Landes mitzuwirken". Es wird damit die bereits einleitend erwähnte "staatliche Urfunktion" der militärischen Verteidigung als ein "Grundrecht jedes Staates und Volkes" zur Ausschöpfung seines Wehrpotentials angesprochen und hiezu u. a. noch speziell ausgeführt: "Auf dieses Grundrecht jedes Staates und Volkes kann die Republik Österreich nicht verzichten, und müßte sie es, so wäre der Verzicht rechtsunwirksam. Es ist praktisch schon deshalb unmöglich, weil Deutschösterreich unter Nachbarn lebt, die noch lange zu keiner ruhigen staatlichen Existenz gelangen können und die zum Teile, wie die Tschechen und Jugoslawen, das Vorrecht haben, das Vielfache unserer Wehrmacht an ständigen Formationen zu halten. Erst wenn der Völkerbund auch diese Nationen wird zur Abrüstung gezwungen haben, kann allenfalls unsererseits daran gedacht werden, auf die Pflicht der Landesverteidigung zu verzichten." 120 In der Systematik des B-VG wurden die wesentlichen Bestimmungen über das Bundesheer in das 3. Hauptstück "Vollziehung" als 3. Abschnitt des Teiles A "Verwaltung" (nach den Abschnitten "Bundespräsident" und 120

Siehe Ermacora, Quellen 197,218,256,267 sowie

FN 1.

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"Bundesregierung") eingeordnet. Damit ist unzweifelhaft dokumentiert, daß die bewaffnete Macht als Teil der staatlichen Verwaltung den rechtsstaatlichen Kriterien der Bundesverfassung und damit in vollem Umfang der Bindung an das Gesetz unterworfen ist; 121 seine Abhebung von anderen Verwaltungsbereichen durch die Behandlung in einem eigenen Abschnitt der Verfassung macht allerdings den eingangs erwähnten besonderen Charakter des militärischen Bereiches im Staat deutlich. In den Bestimmungen dieses Abschnittes wurden die Aufgaben des Bundesheeres umschrieben, das Verfügungsrecht über das Heer normiert und die Grundlage für eine Mitwirkung der Länder an der Ergänzung des Heeres sowie an der Beistellung seiner Sacherfordernisse geschaffen. Es handelte sich dabei allerdings um bereits inhaltlich vorausbestimmte Regelungen. So bestand einerseits hinsichtlich der Aufgaben des Bundesheeres die völkerrechtliche Bindung des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye, andererseits enthielt das schon am 18. März 1920 von der Konst. NV (somit nach Genehmigung des Staatsvertrages) beschlossene Wehrgesetz grundsätzliche Bestimmungen, deren Inhalt nun zum Bestandteil der Bundesverfassung wurde. 122 Auch mit der Bestimmung über eine Mitwirkung der Länder im militärischen Bereich wurde das noch aus der Monarchie stammende Gefüge gesamtstaatlicher und landesgesetzlicher Regelungen auf dem Gebiet des militärischen Leistungsrechts, wie des Einquartierungs- und Vorspannwesens, in die neue Verfassungsordnuung eingebunden; im Kelsen-Entwuf V war für die Angelegenheiten der Einquartierung und des Vorspannes eine Ausnahme von der Bundeskompetenez vorgesehen, der "Privatentwurf Mayr", der "Entwurf Mayr", der "Renner-Mayr-Entwurf" sowie der "Linzer Entwurf" enthalten aber bereits die erwähnte Regelung einer Einbindung der Länder im Wege der einfachen Bundesgesetzgebung. 123 Der Aufgabenbereich des Bundesheeres wurde im Art. 79 B-VG mit dem "Schutz der Grenzen der Republik", 124 mit der sicherheitspolizeilichen Assistenzaufgabe "zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen sowie zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Innern überhaupt" und mit der Assistenzaufgabe der "Hilfeleistung bei Elementar121 Siehe aber auch die noch in den Erläuterungen zum "Renner-Mayr-Entwurf" (FN 120) dargelegte Auffassung: "Das Heer als Organ des Vollzuges von Gesetzen aufzufassen wäre schief." 122 §§ 2 und 3 des Wehrgesetzes, StGBl. Nr. 122/1920, über den Zweck des Heeres und über das Verfügungsrecht; hinsichtlich dieses Wehrgesetzes s. im übrigen FN 154. 123 Siehe hiezu auch FN 7, 115 und 134. 124 Diese Formulierung entspricht dem im Zweifelsfalle maßgebenden französischen Text des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye, nämlich dem letzten Satz in Art. 120: "L'armee autrichienne devra etre exclusivement employee au maintien de l'ordre dans l'etendue du territoire de l'Autriche et a la police de ses frontieres. "

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ereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges" abgegrenzt. Im Gegensatz zur Aufgabenreihung im Art. 120 des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye 125 (und diesem folgend im § 2 des Wehrgesetzes von 1920) ist hier der Schutz gegen Bedrohungen von außen als die originäre militärische Aufgabenstellung vor den Assistenzaufgaben sachgerecht an die Spitze gestellt. In den Vorentwürfen der Bundesverfassung waren unterschiedliche Aufgabenreihungen enthalten. Die Kelsen-Entwürfe II und V folgten (wie auch mittelbar der "Tiroler Entwurf" in der Reihung der Bundesaufgaben, die dem Bundesheer zugeordnet wurden) diesbezüglich noch dem Wortlaut des vorläufigen Wehrgesetzes von 1919, während der sozialdemokratische Entwurf, der "Privatentwurf Mayr", der "Entwurf Mayr", der "Renner-Mayr-Entwurf" und der "Linzer Entwurf" die Aufgabenreihung des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye übernommen hatten; die beiden christlichsozialen Entwürfe sowie der großdeutsche Entwurf enthalten keine spezielle Bestimmung über die Aufgaben des Bundesheeres. Die vom Unterausschuß des Verfassungsausschusses erarbeitete Fassung weist aber bereits die Aufgaben des Bundesheeres in dem Wortlaut und in der Reihung auf, wie sie als Art. 79 B-VG schließlich Geltung erlangt haben. 126 Die schon im vorläufigen Wehrgesetz von 1919 normierte Subsidiarität der Verwendung des Bundesheeres im sicherheitspolizeilichen Bereich 127 wurde für beide Assistenzaufgaben, also auch hinsichtlich der Katastrophenhilfe, in die neue Verfassung übernommen; die seinerzeitige Aufgabe des Schutzes der Grundgesetze der Republik wurde in einer verdeutlichten Fassung ("Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen") systemgerecht der sicherheitspolizeilichen Assistenzaufgabe als besonderes Element zugeordnet. Inwieweit auch die Behörden der Länder und Gemeinden die Mitwirkung des Bundesheeres zu den erwähnten Zwecken unmittelbar in Anspruch nehmen können, wurde zunächst im Art. 80, Abs. 2 der einfachgesetzlichen Regelung durch das Wehrgesetz vorbehalten. Durch die Zweite BundesVerfassungsnovelle, BGBl. Nr. 392/1929 128 wurde diese Regelung allgeSiehe hiezu FN 114. Siehe hiezu FN 115, 117, 118. 127 Siehe hiezu FN 89 und 90. 128 Über die parlamentarische Behandlung der Zweiten Bundes-Verfassungsnovelle s. die Steno Prot. NR III. GP 1929 (RV 382 dBlg., AB 405 dBlg.; 2868-2872, 2875-2901,2903-2961,3002-3051) und die die Steno Prot. BR 1929 (1560-1570); über den Werdegang dieser Verfassungsnovelle s. ferner Dokumente und Materialien in Berchtold, Die Verfassungsreform von 1929 (1979) insbes. hinsichtlich Art. 79 und 80 im Teil I 110 f., 218 f., 301 f., im Teil II zu Art. 79 147 ff., 154 f., 206, 231, zu Art. 80 119, 122, 124, 130 ff., 206 und hinsichtlich Art. 146 Abs. 2 im Teil I 115, 238, 343, im Teil II 181; ferner Pernthaler, Rechtsstaat 46 ff; Adamovich, Handbuch 22 f.; Spanner, Entwicklung in Schambeck, Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung (1980) 39 ff; Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, 125 126

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mein auf "Behörden und Organe" erweitert und systematisch als Abs. 3 dem Art. 79 angefügt. Gleichzeitig wurde dieser Art. durch einen Abs. 4 ergänzt, nach dem zu den erwähnten Zwecken ein selbständiges militärisches Einschreiten als zulässig normiert wurde, wenn die zuständigen Behörden infolge höherer Gewalt die Assistenzleistung nicht anfordern können und bei weiterem Zuwarten ein nicht wieder gutzumachender Schaden für die Allgemeinheit entstünde, oder wenn ein gegen eine Abteilung des Bundesheeres gerichteter tätlicher Angriff oder gewalttätiger Widerstand zurückzuweisen bzw. zu beseitigen ist. Diese Ergänzung entsprach den verfassungspolitischen Zielsetzungen der Verfassungsreform von 1929 in einer "latenten Staatskrise" , nämlich - wie Peter Pernthaler ausführt - "die Demokratie wehrhafter zu machen, indem sie die Macht der Exekutive bedeutend vergrößere. Um die gefährdete Demokratie zu verteidigen, erhielten die Bundesregierung, der Bundespräsident, das Bundesheer und die Behörden der allgemeinen Sicherheitsverwaltuung außerordentliche Vollmachten - Ansätze eines Staatsnotstandsrechtes. "129 Das Verfügungsrecht über das Bundesheer war im Art. 80 des B-VG von 1920 - übereinstimmend mit dem § 3 des Wehrgesetzes von 1920 - dem NR eingeräumt, allerdings nur insoweit, als ihm "die unmittelbare Verfügung" durch das Wehrgesetz vorbehalten wird; im übrigen war "mit der Verfügung die Bundesregierung oder innerhalb der von dieser erteilten Ermächtigung der zuständige Bundesminister betraut". Nach dieser Verfassungsbestimmung war daher das Verfügungsrecht des Heeresministers nur eine von der Bundesregierung delegierte Kompetenz, das allgemeine Verfügungsrecht lag bei der Bundesregierung, während dem NR ein unmittelbares, aber auf einzelne, einfachgesetzlich bestimmte Befugnisse beschränktes Verfügungsrecht zukam. Solche Verfügungsrechte des NR waren nach § 20 des Wehrgesetzes von 1920 die Einberufung der Reserve bei außerordentlichen Verhältnissen und nach § 22 dieses Wehrgesetzes der Aufschub der Entlassung trotz vollstreckter Dienstpflicht im Falle einer Bedrohung Österreichs. Unter den Vorentwürfen zur Bundesverfassung 130 war in den Kelsen-Entwürfen II, III, V und VI sowie im "Privatentwurf Mayr" die Bundesregierung als Trägerin des Verfügungsrechtes und der Befehlsgewalt vorgesehen, wobei sie die Befehlsgewalt ausschließlich durch Geschichte 162 ff.; durch diese Novelle wurde dem B-VG u. a. auch mit dem Art. 15 Abs. 5 die besondere Kompetenzregelung für Gebäude zur kasernmäßigen Unterbringung von Heeresangehörigen eingefügt (s. hiezu auch FN 330). 129 Siehe Pernthaler, Rechtsstaat 46, hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung im inneren Einsatz des Bundesheeres 131 ff; ferner Jedlicka, Heer 78 ff.; Hecht, Österreichische und deutsche Wehrgesetzgebung, Militärwissenschaftliche und technische Mitteilungen (1929), 391 ff. 130 Siehe hiezu Schmitz, Vorentwürfe 52, 57, 70, 202 f.; ferner Ermacora, Quellen 35, 57, 67, 101, 123, 168, 219.

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Befehlshaber ausübt, die ihr verantwortlich sind. Nach dem "Tiroler Entwurf" sollte das Bundesheer "unter dem militärischen Befehl des Bundesfeldherrn " stehen, der der Bundesregierung unterstellt ist. Im ersten christlichsozialen Entwurf ist unter den von der Volksvertretung zu wählenden Spitzen der Vollziehungsgewalt (neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten des Bundesfreistaates, der Bundesregierung sowie den Mitgliedern des VfGH) für den Fall der Mobilmachung "der Herzog der Bundesarmee" genannt; der zweite christlichsoziale Entwurf weist das Verfügungsrecht über die bewaffnete Macht der Republik der Bundesversammlung zu. Nach dem großdeutschen Entwurf war der dem Bundespräsidenten zukommende Oberbefehl ausschließlich durch Befehlshaber auszuüben, die "Verwaltung des Heeres" war der Bundesregierung (soweit sie sich auf einzelne Länder bezieht, im Einvernehmen mit der Landesregierung) zugeordnet; "Ausgestaltung und Verwendung des Bundesheeres" waren der einfachen Gesetzgebung vorbehalten. Der sozialdemokratische Entwurf, der "Entwurf Mayr" und der "Linzer Entwurf" enthalten inhaltlich bereits jene Regelung des Verfügungsrechts über das Bundesheer, die schließlich als Art. 80 Abs. 1 des B-VG von 1920 Geltung erlangte; der "Renner-Mayr-Entwurf" weicht hievon insofern ab, als er die unmittelbare Verfügung in erster Linie der Bundesversammlung einräumt. Die Institution des Oberbefehls und der Befehlsgewalt als militärische Funktion der politischen Führung wurden in das B-VG von 1920 nicht aufgenommen. 131 Im Rahmen der Verfassungsreform von 1929 wurde die Regelung der staatspolitischen Leitung des Heeres im Art. 80 B-VG unter Einbeziehung der Begriffe "Oberbefehl" und "Befehlsgewalt" völlig neu gestaltet. 132 Der Oberbefehl und das bisher dem NR zukommende Verfügungsrecht wurden dem Bundespräsidenten, die Befehlsgewalt - entsprechend der schon nach dem Wehrgesetz von 1920 einfachgesetzlich geltenden Regelung - dem zuständigen Bundesminister übertragen. Als Oberbefehlshaber nimmt der Bundespräsident die Stellung des Staatsoberhauptes im Heer ein. Auf Grund der Verteilung der militärischen Befugnisse nach der Gesetzeslage handelt es sich aber beim Oberbefehl um eine weitgehend formale Kompetenz, während der Befehlsgewalt des Bundesministers angesichts seiner 131 Nach § 4 des Wehrgesetzes von 1920 übte die Befehlsgewalt der Bundesminister für Heerwesen (ausschließlich durch die militärischen Führer oder Vorstände) aus. In der Begründung der RV ist hiezu ausgeführt: "Die Bestellung eines eigenen Oberbefehlshabers ist mit Rücksicht auf den Hauptzweck des Heeres - Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Innern - für die Zeit des Friedens nicht in Aussicht genommen." Vgl. hiezu FN 114 u. Art. 79 B-VG, ferner den Oberbefehl nach § 2 des vorläufigen Wehrgesetzes von 1919. 132 Über die obersten Organe des Bundesheeres, ihre Funktionen und Beziehungen zueinander s. Pernthaler, Rechtsstaat 77 ff.; ferner Adamovich, Handbuch 386 ff.; Walter, Bundesverfassungsrecht 519 ff. sowie FN 128 (Berchtold).

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gesetzlichen Befugnisse volles Gewicht zukommt. 133 In den ersten Entwürfen der Verfassungsnovelle war das Verhältnis zwischen Oberbefehl und Befehlsgewalt in Anlehnung an die deutsche Reichsverfassung und § 8 Abs. 2 des Reichswehrgesetzes vom 23. März 1921, RGBl. S. 329, als ein Verhältnis der Über- bzw. Unterordnung konstruiert, wobei die Befehlskompetenz nach dieser Konstruktion auf beiden Ebenen das Verfügungsrecht einschloß. Die RV enthielt aber bereits die nach mehrfachen Erörterungen im Verfassungsunterausschuß schließlich einstimmig angenommene Neufassung des Art. 80 B-VG. Mit der Neufassung des Art. 80 wurde das Verfügungsrecht des Bundesministers aus einer delegierten zu einer originären Befugnis, deren Ausübung von der Bundesregierung im Wege einer Ermächtigung - von der Rechtslehre als "Rahmenermächtigung" bezeichnet - an Richtlinien gebunden werden kann. Die "Rahmenermächtigung" darf diesem Verfügungsrecht wohl generelle Schranken setzen, es aber nicht aufheben. Peter Pernthaler vergleicht diesbezüglich das normative Verhältnis zwischen der Ermächtigung der Bundesregierung und dem Verfügungsrecht des Bundesministers mit dem Verhältnis zwischen Grundsatzgesetz und Ausführungsgesetz. Einen besonderen Fall des Verfügungsrechtes über das Bundesheer stellt der ebenfalls mit der Verfassungsreform von 1929 neu gefaßte Art. 146 Abs. 2 B-VG dar, nach dem der Bundespräsident bei der Exekution von Erkenntnissen des VfGH unmittelbar zur Heranziehung des Bundesheeres befugt ist. Ebenfalls ein Verfügungsrecht besonderer Art ist die Befugnis der zuständigen zivilen Behörden zur Inanspruchnahme des Bundesheeres für die im Art. 79 Abs. 2 B-VG genannten Assistenzleistungen. Mit der schon erwähnten Bestimmung über eine Mitwirkung der Länder an der Ergänzung des Heeres und der Beistellung seiner Sacherfordernisse (Art. 81 B-VG) wurde der Bundesgesetzgeber schon in der Fassung von 1920 ermächtigt, auf einfachgesetzlichem Wege einerseits Grundsatznormen über eine solche Heranziehung der Länder im militärischen Bereich zu erlassen, andererseits den Ländern selbst eine Ausführungsgesetzgebung sowie eine mitwirkende Vollziehung auf diesem Gebiet eingeräumt. Diese Regelung, die insoweit von den Kompetenzbestimmungen der Art. 10 bis 15 B-VG abweicht, knüpft in bemerkenswerter Weise an die in der Monarchie hinsichtlich der sogenannten "Militärlasten" geltende Zuständigkeitsverteilung an und bildet solcherart auch eine neue verfassungsrechtliche Grundlage für Länderkompetenzen sowohl in einschlägigen älteren Rechts133 Aus der formellen Stellung als "militärischer Vorgesetzter" könnte der Bundespräsident allerdings in Notsituationen unter bestimmten Voraussetzungen ein Befehlsgebungsrecht arrogieren und damit unmittelbare militärische Wirksamkeit erlangen; s. hiezu insbes. Pernthaler, Rechtsstaat 119 f.

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vorschriften als auch im Wehrgesetz von 1920 bzw. in künftigen gesetzlichen Regelungen dieser Materie. 134 Im Zusammenhang mit den grundsätzlichen Bestimmungen über das Bundesheer steht noch Art. 38 B-VG, nach dem die Beschlußfassung über eine Kriegserklä!ll1lg der Bundesversammlung zukommt. Weitere verfassungsrechtliche Grundlagen im militärischen Bereich sind jene schon im B-VG von 1920 enthaltenen Bestimmungen, die sich auf die Rechtsstellung der Angehörigen des Bundesheeres beziehen. Dazu zählt Art. 65, Abs. 2, nach dem das Recht zur Ernennung der Offiziere als einer Gruppe der Bundesangestellten dem Bundespräsidenten zukommt. Von besonderer Bedeutung für die Rechtsstellung des Soldaten, darüber hinaus aber auch für die Rechtsstellung des Staatsbürgers im Verhältnis zu Belangen der bewaffneten Macht überhaupt, ist die verfassungsrechtliche Gestaltung der Grundrechte. Die Vorentwürfe der Bundesverfassung, in denen Grundrechtskataloge vorgesehen sind, weisen diesbezüglich verschiedene Konzepte auf, die zum Teil auch besondere Normen hinsichtlich der Heeresangehörigen bzw. der militärischen Erfordernisse enthalten. Den in Umfang und Ausprägung differenzierten Grundrechtskatalogen dieser Entwürfe sind jedenfalls die Grundrechte der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der persönlichen Freiheit und Freizügigkeit, der freien Meinungsäußerung, der Pressefreiheit, der Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und ihrer Lehre, der freien Berufswahl, der Auswanderungsfreiheit, des Hausrechts und des Briefgeheimnisses, des Schutzes des Eigentums sowie der Gleichheit vor dem Gesetz, insbes. auch hinsichtlich der Zugänglichkeit öffentlicher Ämter und Funktionen und der staatsbürgerlichen Rechte überhaupt, gemeinsam. 135 In den Kelsen-Entwürfen ebenso wie im "Tiroler Entwurf", im großdeutschen Entwurf, im "Privatentwurf Mayr", im "Entwurf Mayr" und im "Linzer Entwurf" sind "die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit" sowie die ungestörte Religionsausübung gewährleistet, wobei - abgesehen vom "Tiroler Entwurf" - auch ausdrücklich bestimmt wird, daß "den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen" darf. Der Kelsen-Entwurf V enthält in diesem Zusammenhang noch eine spezielle Bestimmung für die Angehörigen der Wehrmacht, nach der ihnen "die nötige freie Zeit zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten zu gewähren" ist; vergleichbare Bestimmungen enthalten auch der "Privatentwurf Mayr", der "Entwurf Mayr" und der "Linzer Entwurf" für die "Ange134 Siehe hiezu Pernthaler, Rechtsstaat 148 ff.; Walter, Bundesverfassungsrecht 518; zu Problemen der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern s. Schäfer, Verfassungsinterpretation in Österreich (1971) insbes. 83 ff. sowie ders. Kompetenzverteilung und Rücksichtnahmepflicht im Bundesstaat, ZfV 1985. 135 Siehe hiezu FN 115.

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hörigen des öffentlichen Dienstes sowie der Wehrmacht". Hinsichtlich der Religionsausübung und der Seelsorge im militärischen Bereich hatten sich infolge der vielfältigen besonderen Umstände, die sich in diesem Rahmen aus der militärischen Aufgabenstellung und den daraus resultierenden Eigenarten der militärischen Organisation und des militärischen Dienstes ergeben, bereits seit dem 16. Jahrhundert entsprechende Einrichtungen einer eigenen Militärseelsorge entwickelt. 136 Diese aus praktischen Bedürfnissen einer mehr als dreihundert jährigen Erfahrung organisch gewachsene Sonderstellung der Militärseelsorge sollte (gemeinsam mit anderen Sonderbedürfnissen der Seelsorge in "sonstigen öffentlichen Anstalten") durch nahezu wortgleiche Bestimmungen in den Kelsen-Entwürfen II, III, V und 136 Seit 1543 waren "während der Kriegs-Operationen" eigene geistliche Vorsteher in der kaiserlichen Armee vorgesehen, die als Delegaten des Apostolischen Stuhles die geistliche Jurisdiktion in der Armee ausübten ("Armee-Generalvicare"); sie hatten die Seelsorge und alle geistlichen Verrichtungen wahrzunehmen. Nach Entwicklungsschritten 1643, 1689 und 1712 wurde durch Papst Clemens XI. 1720 die kaiserliche Armee für immer von der geistlichen Jurisdiktion der Bischöfe ausgenommen und bestimmt, "daß in Zukunft immer derjenige als apostolischer Vicar (Vicarius apostolicus castrensis vel campestris) die bischöfliche Jurisdiktion über alle der Armee Angehörigen ausüben sollte, den der Kaiser zu diesem Amte ernennen würde". Mit den Breven vom 25.9.1722 (Innozenz XIII.) und vom 10.3.1741 (Benedikt XIV.) wurde jeweils der Nuntius in Wien ermächtigt, dem vom Kaiser zum Obercapellan der Armee Ernannten die bischöfliche Jurisdiktion samt allen zu seinem Amt erforderlichen, im einzelnen angeführten Fakultäten zu erteilen. 1773 wurden von Maria Theresia ein eigenes Feld-Vicariat und ein Feld-Consistorium errichtet (Dekret d. kaiserlich böhm-österr. Hofkanzlei v. 4.12.1773, Hofkriegsrätl. Reskript v. 6.3.1774), wobei die oberste Feld-Caplanay-Stelle dem Bistum Wr. Neustadt einverleibt und der Bischof von Wr. Neustadt zum apostol. FeldVicar ernannt wurde. Mit dem Breve vom 22.12.1773 (Clemens XIV.) wurde die geistliche Jurisdiktion über die kaiserliche Armee in Kriegs- und Friedenszeiten dem Bischof von Wr. Neustadt (H. J. Kerens) übertragen; mit dem Breve vom 12.10.1778 (Pius VI.) wurden die päpstlichen Fakultäten des Feld-Vicars (und aller seiner Nachfolger im Amte) erweitert und vermehrt. Es bildete in der Folge die Grundlage der militärgeistlichen Jurisdiktion der apostolischen Feld-Vicare. Neben die kirchenrechtlichen Vorschriften treten zahlreiche staatsrechtliche Regelungen (Ah. Entschließungen, Reskripte, Zirkular-Verordnungen etc.; in der Monarchie war zuletzt maßgeblich die Ah. Entschließung vom 14.4.1892), insbes. hinsichtlich der Jurisdiktionsabgrenzung ("militia vaga" - "militia stabilis") und der Gliederung des Feld-Klerus (Feld-Superiore, Feld-Kapläne). Die Militärseelsorge fand schließlich auch im Codex Iuris Canonici vom 25.5.1917 (Can 451 § 3) sowie im Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich, BGBL 11 Nr. 2/1934 (Art. VIII, Zusatzprotokoll zu Art. VIII § 1 - "Militärvikar" mit bischöflicher Würde, "Militärkapläne" mit dem Wirkungskreis von Pfarrern im Bundesheer) ihren Niederschlag. Erster Militärvikar der 1920 für das Bundesheer neu organisierten katholischen Militärseelsorge war Bischof Dr. Ferdinand Pawlikovski. Für evangelische Heeresangehörige wurde eine eigene Militärseelsorge nach ersten Ansätzen im Jahre 1832 als ständige Einrichtung 1860 errichtet. Zur Entwicklung der Militärseelsorge in der kaiserlichen Armee s. Leonhard, Verfassung der Militär-Seelsorge in den kk. österreichischen Staaten mit Rücksicht auf die Rechte und Pflichten des Civil-Clerus in den militär-geistlichen Angelegenheiten (1842); Schmid, Heeresrecht 375 ff.; hinsichtlich der späteren Entwicklung im Bundesheer nach dem Zweiten Weltkrieg s. FN 239 und 240.

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VI sowie im "Privatentwurf Mayr" , im "Entwurf Mayr" und im "Linzer Entwurf" verfassungsgesetzlich verankert werden. Abgesehen von den Gesetzesvorbehalten allgemeiner Natur, die den Grundrechten verschiedentlich beigefügt sind, ist hinsichtlich der Grundrechte des Briefgeheimnisses und der Auswanderungsfreiheit die einfachgesetzliche Beschränkbarkeit speziell auch aus militärischen Gründen in den Kelsen-Entwürfen I-IV und VI, im "Privatentwurf Mayr" und im "Entwurf Mayr", hinsichtlich der Auswanderungsfreiheit auch im "Linzer Entwurf", enthalten. Der Kelsen-Entwurf V postuliert im Rahmen seiner grundrechtlichen Bestimmungen die allgemeine staatsbürgerliche Pflicht, "nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten"; die hiezu zählende Wehrpflicht sollte sich "nach den Bestimmungen des Bundeswehrgesetzes" richten, in dem auch bestimmt werden sollte, "wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Mannszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind". Die Kelsen-Entwürfe I-IV und VI sowie der "Privatentwurf Mayr" , der "Entwurf Mayr" und der "Linzer Entwurf" weisen neben den erwähnten allgemeinen und speziellen Gesetzesvorbehalten der einzelnen Grundrechte eine "Notstandsregelung" auf, nach der "im Falle einer dringenden Gefahr für den Staat oder seine Bürger" die Grundrechte der persönlichen Freiheit, des Hausrechts, der Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie der Pressefreiheit (nach den drei zuletzt genannten Entwürfen auch die Grundrechte des Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnisses) durch Vollzugs anweisung (Verordnung) der Bundesregierung "den durch besonderes Gesetz vorgesehenen Beschränkungen unterworfen werden" können; solche Verordnungen sollten den Organen der Bundesgesetzgebung binnen drei Tagen, "falls sie nicht versammelt sind, sQgleich nach ihrem Wiederzusammentritt vorzulegen und unverzüglich außer Kraft zu setzen" sein, wenn es diese Organe beschließen. Der großdeutsche Entwurf enthält eine noch weitergehende Notstandsregelung, die dem Bundespräsidenten mit Zustimmung des BR (= Regierung) die entsprechende Kompetenz zur vorläufigen Grundrechtsbeschränkung einräumt, wobei der BT letztlich über die Aufhebung dieser Beschränkung zu entscheiden hat. Die vorgesehenen Entwurfkonzepte einer neuen Gestaltung der Grundrechte fanden jedoch keinen Eingang in das B-VG von 1920. Durch die Rezeptionsnorm des Art. 149 B-VG wurde vielmehr mit dem Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger und den anderen in diesem Art. genannten Gesetzen von 1862 die wesentliche Substanz der bisherigen Grundrechtsordnung übernommen; Ergänzungen bzw. Modifizierungen ergaben sich lediglich aus einzelnen Bestimmungen des B-VG sowie des Staatsvertrages von SaintGermain-en-Laye. Auch für Heeresangehörige war damit die Geltung der

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Grundrechte durch die Einbeziehung des militärischen Bereiches in die allgemeine Verfassungsordnung als Teil der Verwaltung sichergestellt; allerdings bieten die zahlreichen Gesetzesvorbehalte des Grundrechtskatalogs und die "immanenten Grundrechtsschranken" gerade unter den Besonderheiten der militärischen Staatsaufgabe in einem entsprechend hohen Maße Ansatzmöglichkeiten für Grundrechtsbeschränkungen. 137 Durch Art. 7 Abs. 2 B-VG wurde den Angehörigen des Bundesheeres wie den öffentlichen Angestellten überhaupt "die ungeschmälerte Ausübung ihrer politischen Rechte" ausdrücklich garantiert. 138 Auch die zur AusübUng eines Mandates im NR oder im BR sowie die zur Bewerbung um ein Mandat im NR notwendige Dienstfreistellung ohne Inanspruchnahme eines Urlaubes wurde den Angehörigen des Bundesheeres wie den anderen öffentlichen Angestellten durch Art. 59 Abs. 2 verfassungsgesetzlich gewährleistet; die gleiche Regelung wurde für die Ausübung eines Landtagmandats bzw. für die Bewerbung um ein solches dem Art. 95 durch die Bundes-Verfassungsnovelle BGBl. Nr. 268/1925 eingefügt (als Abs. 4, der durch die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle BGBl. Nr. 392/1929 zu Abs. 5 wurde). Den Abschluß der schrittweise erfolgten Einbindung des militärischen Strafrechtswesens in das allgemeine Strafrecht bildete die durch Art. 84 des B-VG von 1920 - außer für Kriegszeiten - normierte Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit. 139 Bereits in der Debatte über das B-VG von 1920 zeichnete sich das Schicksal des Bundesheeres in den folgenden Jahrzehnten als "Heer im Schatten der Parteien" - wie Ludwig Jedlicka sein Werk über die militärpolitische Lage Österreichs 1918 -1938 zutreffend nannte - ab. So wurde einerseits "eine Wehrmacht, die wirklich treu zur Republik steht" als "eine bessere Garantie für die Republik und für die Verfassung als irgendeine Abstimmung" bezeichnet (Abg. Dr. Roben Danneberg, 29. September 1920), andererseits unter dem Eindruck der problematischen Erfahrun137 Zur Geltung der Grundrechte im militärischen Bereich als Maßstab für die Verwirklichung des rechtsstaatlichen Prinzips in der Wehrfassung s. Pernthaler, Rechtsstaat 174 ff. 138 Siehe hiezu auch § 26 Abs. 2 des Wehrgesetzes von 1920; zur Frage der Interpretation des Begriffes "politische Rechte" s. insbes. Pernthaler, Rechtsstaat 177 f. 139 Nach Anpassung des materiellen Militärstrafrechts an das allgemeine Strafrecht durch die 2. Militärstrafgesetznovelle, StGBl. Nr. 34/1920, waren die aktiven Heeresangehörigen mit dem Gesetz StGBl. Nr. 323 / 1920 den allgemeinen Strafgesetzen unterstellt worden; dieses Gesetz setzte das Militärstrafgesetz von 1855 außer Kraft und ordnete die aufrechterhaltenen Sonderbestimmungen für aktive Heeresangehörige als Anhang zum allgemeinen Strafgesetze systematisch neu sein. Mit der 2. Strafprozeßnovelle vom Jahre 1920, StGBl. Nr. 321, war bereits einfachgesetzlich normiert worden, daß die Strafgerichtsbarkeit über aktive Heeresangehörige im Frieden durch die bürgerlichen Strafgerichte ausgeübt wird.

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gen mit der Volkswehr festgestellt, diese Wehrmacht habe den Beweis noch nicht erbracht, "daß sie die Wehrmacht der Republik ist" (Abg. Leopold Kunschak, 30. September 1920). Aus der Sorge um eine Verpolitisierung des Heeres entstanden Bedenken gegen die Zuerkennung der politischen Rechte an die Soldaten, "weil eine Armee, welche das Wahlrecht ausübt, keine unpolitische sein könne" (Abg. Dr. Hans Angerer, 30. September 1920). War die Entpolitisierung der Verwaltung und der Rechtsprechung insgesamt eines der erklärten Ziele der Verfassungsreform von 1929,140 so bildete doch ihr wesentliches Anliegen eine "Stärkung der staatlichen Autorität", wobei die folgenden Ausführungen im Bericht des Verfassungsausschusses vor allem auch die Neugestaltung des Art. 80 B-VG betrafen: "Zur Stärkung der Staatsgewalt ist es erforderlich, daß die obersten zentralen Vollziehungsorgane über die sogenannten Gewaltmittel des Staates derart verfügen, daß sie ihre im Rahmen der Verfassung und insbesondere ihrer Verantwortlichkeit gelegenen Intensionen jederzeit durchzusetzen in der Lage sind." Die Hoffnung, die Bundeskanzler Dr. Johann Schober in diesem Zusammenhang am 10. Dezember 1929 vor dem BR aussprach, blieb jedoch unerfüllt: "Durch die Geschichte von Jahrtausenden ist die Wahrheit des Satzes bestätigt: ,Concordia parvae res crescunt, discordia maximae labuntur!' Diese Erkenntnis soll den Bund und die Länder zu einer geschlossenen Front zusammenschließen - so klein unser Land ist, so einig soll es sein - an welcher alle Angriffe gegen die Störung des glücklich erreichten inneren Friedens zerschellen müssen." Es war der negative Wahrheitsgehalt des zit. Satzes, der sich auch für Österreich innerhalb weniger Jahre auf tragische Weise bestätigte. Auf das Ende der parlamentarischen Demokratie im Jahre 1933 folgte eine neue Verfassungsrechtslage, die auch für den militärischen Bereich Veränderungen brachte. Nach der "Verfassung 1934" 141 war u. a. das "Militärwesen mit Einschluß der Maßnahmen zur Unterbringung ausgedienter Soldaten im öffentlichen Dienste" Bundessache in Gesetzgebung und Vollziehung (Art. 34 Abs. 1 Z 16). Durch die in diesen Angelegenheiten des Bundes ergehenden Bundesgesetze konnte "die Landesgesetzgebung ermächtigt werden, zu näher zu bezeichnenden einzelnen Bestimmungen 140 Siehe hiezu Berchtold, Verfassungsreform I 94, Teil II 5. 141 Die "Verfassung 1934", BGBL Nr. 1, war mit der Verordnung der Bundesregierung vom 24. April 1934, BGBL Nr. 239, auf der Grundlage des "Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes", RGBL Nr. 307/1917, erlassen und im Wege des am 30. April 1934 durch das "Rumpfparlament" beschlossenen Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereiche der Verfassung, BGBL I Nr. 225/1934, "unter Bekräftigung ihres rechtlichen Bestandes als Bundesverfassungsgesetz auch im Sinne der gegenwärtig geltenden Bundes-Verfassung" erklärt worden. Siehe hiezu Adamovich, Handbuch 23 ff.; Spanner, Entwicklungen in Schambeck, B-VG-Entwicklung 42 ff.; Pernthaler, Rechtsstaat 52; Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 220 ff.; Jedlicka, Heer 114. 45 Parlamentarismus

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Ausführungsbestimmungen zu erlassen", wobei aber die Vollziehung auch dieser Ausführungsgesetze dem Bund zukam (Art. 34 Abs. 2). Die Regelungen der Art. 79 bis 81 des B-VG i. d. F. von 1929 wurden als Unterabschnitt "Bewaffnete Macht" des Abschnittes "Verwaltung" in systematisch gleicher Weise, jedoch mit bestimmten inhaltlichen Änderungen der neuen Verfassung eingeordnet (Art. 95-97). Die Bestimmungen über den Verwendungszweck der bewaffneten Macht (bisher Art. 79, nun Art. 85) wurden unverändert übernommen; hinsichtlich der Befugnis zum selbständigen militärischen Einschreiten wurde aber eine der beiden Voraussetzungen insofern verändert, als die Umschreibung "wenn entweder die zuständigen Behörden durch höhere Gewalt außerstande gesetzt sind, das militärische Einschreiten herbeizuführen und bei weiterem Zuwarten ein nicht wiedergutzumachender Schaden für die Allgemeinheit eintreten würde oder ... " durch die Neufassung "wenn entweder die Wirksamkeit der zuständigen Behörden aus irgendwelchen Gründen lahmliegt oder ... " ersetzt und damit eine Erweiterung dieser Befugnis bewirkt wurde. An die Stelle der gegliederten Regelung über Verfügungsrecht, Oberbefehl und Befehlsgewalt nach Art. 80 B-VG trat eine einheitliche Befehls- und Verfügungskompetenz des Bundesministers in Unterordnung unter den Oberbefehl des Bundespräsidenten: "Unter dem Bundespräsidenten als Oberbefehlshaber übt der zuständige Bundesminister die Befehlsgewalt aus und verfügt über die bewaffnete Macht" (Art. 96). Die Regelung über die Mitwirkung der Länder an der Ergänzung der bewaffneten Macht und der Beistellung ihrer Sacherfordernisse (Art. 81 B-VG) wurde auf die "Ortsgemeinden und Ortsgemeindeverbände" ausgedehnt (Art. 97). Ausnahmen von der grundsätzlich den öffentlichen Angestellten zuerkannten Ausübung ihrer politischen Rechte bilden hinsichtlich des militärischen Bereiches jene Verfassungsbestimmungen, nach denen für Angehörige der bewaffneten Macht (sowie für Staatsbedienstete im öffentlichen Sicherheitsdienst) "Beschränkungen politischer oder sonst verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte" einfachgesetzlich verfügt werden konnten (Art. 16 Abs.5) und dem genannten Personenkreis unmittelbar verfassungsgesetzlich verwehrt war, einem Organ der Bundesgesetzgebung - ausgenommen dem Staatsrat - sowie einem Landtag oder einem Gemeindetag anzugehören (Art. 72 Abs. 2, 108 Abs. 3, 127 Abs. 3). Eine verfassungsrechtliche Sonderregelung im Gefolge des nationalsozialistischen Putschversuches, in dessen Verlauf Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß ermordet worden war, stellt "die Einführung eines Militärgerichtshofes als Ausnahmegerichtes zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 im Zusammenhang stehenden strafbaren Handlungen" durch die Bundesverfassungsgesetze BGBl. Nr. 152/1934 und 175/1934 dar, die von der Bundesregierung auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. I Nr. 255/1934 erlassen wurden.

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Eine wesentliche Änderung der Wehrverfassung bewirkte das Bundesverfassungsgesetz über eine allgemeine Dienstpflicht für öffentliche Zwecke (Bundesdienstpflichtgesetz), BGBL Nr. 102/1936. 142 Es normierte im Rahmen der Verpflichtung "zu zeitlich begrenzten Diensten mit oder ohne Waffe für öffentliche Zwecke" die allgemeine Wehrpflicht und durchbrach damit die diesbezügliche Schranke des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye. Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg führte hiezu im BT aus: " ... man darf uns im Bereich der eigenen staatlichen Hoheit keine Schranken setzen, und wir können keine Schranken anerkennen dann, wenn es sich darum handelt, Ansehen und Aussehen der Wehrkraft unseres Staates zu bestimmen, darüberhinaus aber die Selbstachtung und den eindeutig bestimmten Willen zur Selbsterhaltung unseres Landes zu dokumentieren. - Es ist nicht uninteressant, in einem kurzen historischen Rückblick sich daran zu erinnern, daß mit einem Gesetz der Nationalversammlung vom 6. Februar 1919, also mitten in bewegten, von revolutionären Erschütterungen durchtobten Zeiten, Österreich die allgemeine Wehrpflicht einzuführen plante. Aus bekannten Gründen, die nicht im österreichischen Machtbereich lagen, konnte dieser Wille damals nicht zum Durchbruch gelangen. Wir gehen heute nicht von den Auffassungen der damaligen Zeit aus, sondern legen dem hohen Hause den Gesetzentwurf betreffend eine allgemeine Bundesdienstpflicht vor ... Wir lassen es offen, zu welchem Zwecke der Staat die Erfüllung dieser Bundesdienstpflicht im einzelnen Fall in Anspruch nehmen wird; kann sein, zum Beispiel auf verschiedenen Gebieten, die im Bereiche der Wohlfahrtspflege der öffentlichen Körperschaften denkbar sind; kann sein, zur Sicherung des Landes gegen einen eventuellen Feind von außen oder innen; kann sein, mit oder ohne Waffe ... " Auch der Berichterstatter Dr. Joset Resch betonte: "Es braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden, daß es zu den wesentlichsten Rechten jedes souveränen Staates gehört, seine Bürger aufzurufen und zum Schutz des Vaterlandes oder sonst für öffentliche Zwecke dienstpflichtig zu erklären. Hiebei ist keineswegs - wie man vielleicht bei flüchtiger Durchsicht glauben könnte - nur an Dienste mit der Waffe gedacht. Der Gesetzentwurf betont im Gegenteil, daß die Dienstpflicht auch für öffentliche Zwecke ohne Waffe abzuleisten ist. Und gerade darin, hohes Haus, liegt meiner Meinung nach die ungeheure sozialpädagogische Bedeutung dieses Entwurfes ... " Die allgemeine Bundespflicht war verfassungsgesetzlich für "Bundesbürger männlichen Geschlechtes vom erreichten 18. bis zum vollendeten 142 Über die Behandlung des Bundesdienstpflichtgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1936 (RV 71 / Ge dBlg.; 279 -285), hinsichtlich der Nov. BGBl. Nr. 456/1937 die Steno Prot. BT 1937 (RV 207 / Ge dBlg.; 705 -706); s. ferner Staudinger, Die österreichische Wehrgesetzgebung 1918-1938 (11), in Österr. Militärische Zeitschrift 1971, 222; Berchtold, Verfassungsreform 406 ff.

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42. Lebensjahr nach Maßgabe ihrer körperlichen und geistigen Eignung" festgelegt; sie umfaßte auch die Pflicht, sich zur Feststellung dieser Eignung einer amtlichen Untersuchung zu unterziehen. Ferner waren die Dienstpflichtigen verfassungsgesetzlich den für ihre "Befehls(Dienst)stelle" geltenden Disziplinarvorschriften und strafrechtlichen Sonderbestimmungen unterworfen. Die nähere Regelung der Bundesdienstpflicht war durch das zit. Bundesverfassungsgesetz vom Bundeskanzler im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministern im Verordnungswege zu treffen; auf diesem Wege waren insbes. Bestimmungen "über den Inhalt der Dienstpflicht, über die Art und Dauer der Dienste und über die sonstige rechtliche Behandlung der Dienstpflichtigen" sowie "über Vergütungen an die Dienstpflichtigen und über die Aufrechterhaltung ihrer Dienst(Arbeits)verhältnisse" zu erlassen. Die bewaffnete Macht, die bereits im Jahre 1933 durch die Angliederung des "Militärassistenzkorps" an das Bundesheer eine Erweiterung erfahren hatte, 143 wurde durch das Bundesverfassungsgesetz über die Eingliederung der Frontmiliz in die bewaffnete Macht, BGBL Nr. 227/1937, neuerlich in ihrem Umfang und in ihrer Zusammensetzung verändert; 144 Näheres über diese Eingliederung sowie insbes. über die Aufgaben der Frontmiliz wurden der Regelung durch einfaches Bundesgesetz vorbehalten. Die bewaffnete Macht gliederte sich nach dem zit. Bundesverfassungsgesetz in das stehende Heer (Bundesheer und Militärassistenzkorps) und in die Frontmiliz. Die Angehörigen der Frontmiliz und die im Rahmen der bewaffneten Macht Bundesdienstpflichtigen wurden - soweit sie nicht zur regelmäßigen Präsenzdienstleistung einberufen waren - von den nach der Verfassung 1934 für Angehörige der bewaffneten Macht geltenden Verboten, einem Organ der Bundesgesetzgebung, einem Landtag oder einem Gemeindetag anzugehören (Art. 72 Abs. 2, 108 Abs. 3 und 127 Abs. 3), ausgenommen; für die Dauer der Dienstleistung in der bewaffneten Macht war das Ruhen der Tätigkeit in diesen Organen normiert. Mit der Souveränität des österreichischen Staates endete im März 1938 auch seine Wehrhoheit; die Formationen seiner bewaffneten Macht wurden in die deutsche Wehrmacht eingegliedert. 145

143 Hinsichtlich des Militärassistenzkorps s. die "Assistenzkörper-Verordnungen" BGBl. Nr. 201/1933, 202/1933 und 230/1933 sowie die Vorläufige Wehrordnung 1933, BGBl. Nr. 393/1933; ferner Pernthaler, Rechtsstaat 50; Jedlicka, Heer 102; Staudinger, (FN 142) 221. 144 Über die Behandlung dieses Bundesverfassungsgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1937 (RV 171 / Ge, 543, 544); S. ferner Pernthaler, Rechtsstaat 54. 145 Siehe insbes. die Kundmachungen des Reichsstatthalters in Österreich, GBlfdLÖ Nr. 184/1938, 313/1938, 367/1938, 629/1938; s. ferner Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 262 ff; Jedlicka, Heer 171 ff.

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3. Wehrrecht der Republik 1920 -1933

Nach Genehmigung des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye durch die Konst. NV, aber schon vor der Fertigstellung der neuen Verfassung für die Republik Österreich wurden die sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich notwendigen Legislativmaßnahmen im militärischen Bereich getroffen. Hiezu zählte in erster Linie das Gesetz vom 17. März 1920, StGBl. Nr. 120, womit Maßnahmen zur Ausscheidung der überzähligen Berufsmilitärpersonen aus dem aktiven Militärdienstverhältnis getroffen werden (Militärabbaugesetz), samt seiner Novelle StGBl. Nr. 367 / 1920. 146 Damit wurde die Grundlage für die erforderliche Reduzierung des Personalstandes der Berufsmilitärpersonen geschaffen. Gesetzliche Maßnahmen, die im Gefolge des Staatsvertrages von Saint-Germainen-Laye getroffen werden mußten, waren auch das Bundesgesetz vom 11. Februar 1921, BGBl. Nr. 157, womit das Gesetz, betreffend die Stellung der Pferde und Fuhrwerke, außer Kraft gesetzt wird, 147 und das Bundesgesetz vom 28. April 1921, BGBl. Nr. 251, womit im Sinne des Art. 156 des Staatsvertrages die mit dem Inhalt des V. Teiles dieses Vertrages nicht im Einklang stehenden, vor dem 4. November 1918 erlassenen Gesetze und Verordnungen außer Kraft gesetzt werden. 148 Wie in der RV des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 157 / 1920 ausgeführt ist, hätte es "einer förmlichen Außerkraftsetzung der mit dem Staatsvertrage nicht im Einklang stehenden Bestimmungen nicht bedurft", weil der Staatsvertrag innerstaatliches Recht geschaffen hat und damit u. a. die Anwendung eines Gesetzes, das "die Aufbringung von Tieren oder anderen militärischen Transportmitteln" regelt, untersagt ist (Art. 122). Vom Interalliierten Heeresüberwachungsaus~chuß wurde jedoch die ausdrückliche Aufhebung dieses Gesetzes und in der Folge - insbes. unter Hinweis auf die Tiroler Landgesetze betreffend das Institut der Landesverteidigung und betreffend die Schießstandordnung für Tirol, LGBl. Nr. 25/1913 und 26/1913 - gefordert, "ganz allgemein die Gesetze und Verordnungen, die irgend einen Zusammenhang 146 Über die parlamentarische Behandlung des Militärabbaugesetzes und seiner Novelle StGBl. Nr. 367/1920 s. die Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 668 dBlg., AB 766 dBlg., 1678, 1689, 1939, 1940; RV 929 dBlg., AB 949 dBlg., 3085, 3086, 3284, 3285); durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 907/1922 wurde zwangsabgefertigten ehemaligen Berufsmilitärgagisten bzw. gegen Zertifikationsverzichtsentschädigun.e: ausgeschiedenen Berufsunteroffizieren eine einmalige Zuwendung gewährt; s. ferner die Vollzugsanweisung des Staatsamtes für Heerwesen vom 3. Jänner 1920, StGBl. Nr.19. 147 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 157/ 1921 s. die Steno Prot. NR., 1921 (RV 116 dBlg., AB 189 dBlg.; 311, 360, 439, 440) und die Steno Prot. BR 1921 (63). 148 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 251/ 1921 s. die Steno Prot. NR. 1921 (RV 185 dBlg., AB 309 dBlg.; 411, 502 -515, 537554, 1381-1384) und die Steno Prot. BR 1921 (108).

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mit der Mobilisierung haben und aus der Zeit vor dem 4. November 1918", dem Tag nach dem Abschluß des Waffenstillstandes von Villa Giusti stammen, aufzuheben. Hinsichtlich der Witwen- und Waisenversorgung sowie der Ruhegenußregelung für Berufsmilitärpersonen wurden nach den durch den Abschluß des Staatsvertrages eingetretenen Klärungen durch die Hinterbliebenenversorgungsnovelle vom 18. März 1920, StGBl. Nr. 131,149 die Unfallhinterbliebenennovelle vom 1. Oktober 1920, StGBl. Nr. 447,150 und das Pensionistengesetz vom 18. März 1920, StGBl. Nr. 132,151 verschiedene Verbesserungen "der bisherigen unzulänglichen Pensionen" sowie für Zivilpensionisten Begünstigungen auf Grund "der in aktiver Militärdienstleistung zugebrachten Zeit", im besonderen der Zeit eines Frontdienstes, vorgesehen. Einer möglichst weitgehenden Eingliederung der Kriegsbeschädigten in das Erwerbsleben dienten in Fortsetzung des schon 1919 beschrittenen Weges das Gesetz vom 1. Oktober 1920, StGBl. Nr. 459, über die Einstellung und Beschäftigung Kriegsbeschädigter 152 sowie das Bundesgesetz vom 27. Jänner 1921, BGBl. Nr. 90, betreffend das Dienstverhältnis der kriegsbeschädigten Bundesangestellten. 153 Neben den durch den Staatsvertrag bedingten bzw. sozialpolitisch notwendigen Gesetzgebungsmaßnahmen des Jahres 1920 wurde auch der Kern des neuen Wehrrechts, das Wehrgesetz, StGBl. Nr. 122/1920, noch vor dem B-VG am 18. März 1920 von der Konst. NV beschlossen. 154 Es brachte die durch den Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye erzwungene Abkehr vom System der allgemeinen Wehrpflicht, das im vorläufigen Wehrgesetz von 1919 vorgesehen war, knüpfte aber in verschiedenen anderen Punkten an dieses erste Wehrgesetz der Republik an. Innerhalb weniger Monate folgten dem Wehrgesetz - ebenfalls noch vor der Beschlußfassung über die neue Bundesverfassung - das Gesetz vom 20. Mai 1920, BGBl. Nr. 235, 149 Über die parlamentarische Behandlung der Hinterbliebenenversorgungsnovelle s. die Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 724 dBIg., AB 763 dBIg.; 1741, 1742, 19731982). 150 Über die parlamentarische Behandlung der Unfallhinterbliebenennovelle S. die Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 982 dBIg., AB 1030 dBIg.; 3375, 3469, 3487 -3488). 151 Über die parlamentarische Behandlung des Pensionistengesetzes S. Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 723 dBIg., AB 762 dBIg.; 1741, 1742, 1743-1982); zu diesem Gesetz erging die Novelle BGBl. Nr. 167/ 1921. 152 Über die parlamentarische Behandlung des Invalidenbeschäftigungsgesetzes S. die Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 934 dBIg., AB 1022 dBIg.; 3086, 3476-3479). 153 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 90/ 1921 S. die Steno Prot. NR 1923 (RV 82 dBIg., AB 147 dBIg.; 181, 215, 396-401) und die Steno Prot. BR 1923 (41, 42). 154 Über die parlamentarische Behandlung des Wehrgesetzes von 1920 S. die Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 613 dBIg., AB 773 dBIg.; 1471-1479, 1516-1543, 19461972); S. ferner Pernthaler, Rechtsstaat 41 ff.; Jedlicka, Heer 21 ff.

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über die Gebühren der österreichischen Wehrmacht (Heeresgebührengesetz)l55 und das Gesetz vom 22. Juli 1920, BGBL Nr. 368, über die Handhabung der Disziplinarstrafgewalt im Heer (Heeresdisziplinargesetz).156 Beide Gesetze bildeten gemeinsam mit dem Wehrgesetz zentrale Elemente des Wehrrechts der Republik. Durch das Heeresgebührengesetz wurden den Wehrmännern in Anlehnung an die Besoldung der Amtsdiener des Zivilstaatsdienstes sowie unter Einrechnung des Wertes der in natura gegebenen Bekleidung und Unterkunft Gebühren zuerkannt, die in "regelmäßigen Gebühren" (Tages- bzw. Monatslöhnung, Kostgeld etc.) und "besondere Gebühren" (Anspruch auf ärztliche Betreuung, Sanitätszubußen) sowie "Zuwendungen für die Familien" (gleich den Zivilstaatsangestellten) gegliedert waren. Versorgungsansprüche der Wehrmänner und ihrer Familien richteten sich nach dem Invalidenentschädigungsgesetz. Für Offiziere, Berufsunteroffiziere und Zivilangestellte der Heeresverwaltung galten Gebührenansprüche nach den jeweiligen gesetzlichen Regelungen des allgemeinen staatlichen Besoldungsrechtes. 157 Mit dem Heeresdisziplinargesetz wurde der rechtsstaatlichen Forderung nach einer gesetzlichen Grundlage für das militärische Disziplinarwesen, die schon in der Monarchie laut geworden war, entsprochen. Dieses Heeresdisziplinarrecht wurde in weitgehender Anlehnung an die für die zivilen Staatsbeamten geltenden disziplinarrechtlichen Regelungen der Dienstpragmatik, RGBL Nr. 15/1914, gestaltet. Man unterschied wie dort zwischen den Kategorien der Ordnungs- und Disziplinarstrafen, und sah auch vergleichbare Strafen vor. Freiheitsstrafen sowie die Degradierung wurden als nicht zweckmäßige Disziplinarstrafen und "einem neuzeitlichen Disziplinarverfahren" nicht entsprechend erachtet; sie fanden daher keine Aufnahme in das neue Heeresdisziplinarrecht der Republik. Bei der Bildung der Disziplinarkommissionen bzw. ihrer Senate hat der Gedanke des "Kameradschaftsgerichtes" insofern einen Niederschlag gefunden, als in erster Instanz beide Beisitzer, in zweiter Instanz zwei von vier Beisitzern derselben Kategorie 155 Über die parlamentarische Behandlung des Heeresgebührengesetzes s. die Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 814 dBlg., AB 773 dBlg.; 2105, 2872-2875). 156 Über die parlamentarische Behandlung des Heeresdisziplinargesetzes s. die Steno Prot. Konst. NV 1920 (RV 927 dBlg., AB 959 dBlg.; 3085, 3086, 3282-3284). 157 Siehe hiezu das Militärbesoldungsübergangsgesetz, StGBl. Nr. 603 / 1919 und dessen Novelle BGBL Nr. 116/1921; im Besoldungsgesetz, BGBL Nr. 376/1921 (und später im Gehaltsgesetz, BGBL Nr. 245/1924) wurde - unter gleichzeitiger Aufhebung der die Löhnung, das Kostgeld und die Teuerungszulage betreffenden §§ 1 bis 3 und 5 des Heeresgebührengesetzes - die Besoldung für alle Heeresangehörigen geregelt, so daß der Geltungsbereich des Heeresgebührengesetzes vom Inkrafttreten der maßgeblichen Bestimmung des Besoldungsgesetzes (30. Juni 1921) bis zum Inkrafttreten des Heeresgebührengesetzes 1932, BGBL Nr. 29/1933, (1. Jänner 1933) im wesentlichen auf die Abfertigungs-, Krankenbehandlungs- und Versorgungsansprüche der Heeresangehörigen beschränkt war. Zum Besoldungsgesetz und zum Gehaltsgesetz s. ferner das Bundesgesetz BGBL Nr. 70/1925 sowie die Verordnungen BGBL Nr. 504/1933 und BGBL Nr. I 200/1934.

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von Heeresangehörigen (Offiziere, Unteroffiziere, Wehrmänner) wie der Beschuldigte anzugehören hatten; den Vorsitz im Senat der zweiten Instanz hatte ein Richter zu führen. Den Schwerpunkt der Wehrgesetzgebung bildete aber, sowohl an ihrem Beginn wie in ihrer weiteren Entwicklung, das Wehrgesetz. So spiegelt sich die Problematik, mit der die Wehrgesetzgebung der Republik von Anfang an belastet war, in den einleitenden Worten des Berichterstatters zum Wehrgesetz, Dr. Heinrich Mataja, vor der NV am 18. März 1920: "Hohes Haus! Die Wehrvorlage, die ich namens des Heeresausschusses dem hohen Haus zu unterbreiten die Ehre habe, ist ein unter dem Drucke des Friedensdiktates von Saint-Germain abgeschlossener Kompromiß zwischen Parteien von grundsätzlich entgegengesetzter Weltanschauung." Die weiteren Ausführungen über die Dringlichkeit der Wehrvorlage kennzeichnen die labile politische Lage: "Die Materie der Wehrvorlage ist nun einmal in weiten Kreisen, namentlich bei dem heutigen Herüberspielen der Verhältnisse von Berlin, 158 ein Gegenstand, der die Leidenschaften, Besorgnisse und Befürchtungen aufregt. Es ist daher im Interesse des ganzen Staates, daß diese Vorlage rasch erledigt wird, bevor sie zum Gegenstand von Agitationen gemacht wird." In der Erläuterung der RV durch den Staatssekretär für Heerwesen Dr.

Julius Deutsch anläßlich ihrer Einbringung in die NV am 14. Jänner 1920,

in der er die Notwendigkeit einer Wehrmacht für den neuen Kleinstaat Österreich - selbst angesichts der Katastrophe des Weltkrieges - begründete, ist vor allem der dabei erwähnte Neutralitätsgesichtspunkt bemerkenswert: 159 "Gewiß, wir wollen keinen Krieg. Wir lehnen es ab, die Streitfragen der Völker mit den Waffen in der Hand auszutragen. Leider nützt es uns aber nichts, wenn wir allein bereit sind, auf jede gewaltsame Austragung von Gegensätzen zu verzichten. Noch ist die Welt in Unruhe, noch ist vor allem in Mitteleuropa die Entwicklung im Flusse und noch muß deshalb damit gerechnet werden, daß das kriegerische Feuer da und dort wieder aufflammt. Selbst wenn wir gar nicht selbst in die Händel der Welt einbezogen werden, kann es doch sehr leicht geschehen, daß unsere 158 Mit diesem Hinweis ist der sogenannte "Kapp-Putsch", der nach wenigen Tagen scheiterte, gemeint (13. bis 17. März 1920). Siehe hiezu, insbes. zu den Auswirkungen auf das österreichische Wehrrecht, Jedlicka, Heer 24 f.; Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 108. 159 Vgl. hiezu auch die Ausführungen von Bundeskanzler Dr. Johann Schober in seiner Regierungserklärung vom 27. September 1929 (Sten. Prot. NR. IH. GP 1929, 2789-2820): "Unsere Politik ist erstens eine Politik der Freundschaft mit allen Staaten und ganz besonders mit unseren Nachbarn. Darauf folgt, daß sie zweitens eine Politik der Neutralität ist und bleiben muß. Wir treten keiner Staatengruppe bei und richten unsere Politik gegen niemanden. Wir wünschen außenpolitisch neutral zu sein und glauben damit nicht nur unseren Interessen, sondern auch denen aller anderen europäischen Staaten am weitaus besten zu dienen ... "

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Nachbarn miteinander in Konflikt kommen. Wären wir bei einem solchen Konflikt nicht imstande, unsere Neutralität aufrecht zu erhalten, dann könnte es schließlich geschehen, daß die Kriege der Nachbarn auf deutschösterreichischem Boden ausgefochten werden. - Es wäre eine geradezu strafwürdige Unterlassung, wenn wir nicht alles tun würden, was in unserer Macht liegt, um unser Land davor zu bewahren, daß es bei der oder jener Gelegenheit zum Kriegsschauplatz fremder Mächte werde. Wir müssen wenigstens soweit wehrhaft sein, daß wir imstande sind, unsere Grenzen zu sichern ... " Wehrsystem und Stärke des Heeres - ein Berufsheer von höchstens 30.000 Mann - waren durch den Staatsvertrag von Saint-Germain-enLaye vorgegeben. Auch der Verwendungszweck wurde diesem Staatsvertrag folgend gesetzlich festgelegt; in Übereinstimmung mit der entsprechenden Regelung des vorläufigen Wehrgesetzes von 1919 wurde dabei auch die Katastrophenhilfe neben der sicherheitspolizeilichen Assistenz und dem "Schutz der Grenzen" in den Aufgabenkreis des Heeres einbezogen. In den Ausschußberatungen wurde die Heranziehungsbefugnis in einer näheren Ausführung des Begriffes "gesetzmäßige bürgerliche Gewalt" den Behörden und Organen des Staates, der Länder und Gemeinden eingeräumt, eine Regelung, die auch in das B-VG Eingang gefunden hat. Das Verfügungsrecht über das Heer kam nach der ursprünglichen Fassung des Wehrgesetzes von 1920 (und aus diesem in den Art. 80 Abs. 2 des B-VG von 1920 übernommen) grundsätzlich der NV zu, soweit dieser aber das Verfügungsrecht nicht gesetzlich vorbehalten wurde, war damit "die Staatsregierung und innerhalb der von ihr erteilten Ermächtigung der Staatssekretär für Heereswesen betraut". Die Befehlsgewalt lag beim Staatssekretär für Heereswesen, der sie allerdings ausschließlich durch die Führer der militärischen Stellen auszuüben hatte. 160 Die militärischen Dienstvorschriften waren von der Staatsregierung zu erlassen. Mit dem Inkrafttreten des B-VG von 1920 traten an die Stelle der NV und der genannten obersten Vollziehungsorgane der NR bzw. die Bundesregierung und der zuständige Bundesminister; das Heer erhielt die verfassungsgesetzliche Bezeichnung "Bundesheer" . 161 Föderalistische Akzente enthielt das Wehrgesetz von 1920 in den Bestimmungen über die Heeresverwaltungsstellen in den Ländern, über die Werbebereiche sowie über die Benennung und Adjustierung der Truppen. Die Leiter der für administrative Angelegenheiten, insbes. auch für die Werbung, zuständigen Heeresverwaltungsstellen in den einzelnen Bundesländern waren von der Bundesregierung zu ernennen; diese Ernennung bedurfSiehe hiezu FN 131 und 132. Siehe § 7 bzw. § 27 des Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, StGBl. Nr. 451, betreffend den Übergang zur bundesstaatlichen Verfassung. 160 161

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te aber der Zustimmung der jeweiligen Landesregierung. Ferner war diesem Leiter eine beratende Kommission aus drei vom Landtag nach dem Verhältniswahlrecht gewählten Mitgliedern beigegeben. Jedes Land bildete einen eigenen Werbebereich, jeder Standeskörper war innerhalb seines Werbebereiches zu garnisonieren, Ausnahmen bedurften der Zustimmung der betroffenen Landesregierungen; auch die Zuweisung eines !licht im Werbebereich heimatberechtigten Heeresangehörigen zu einem Standeskörper dieses Werbebereiches war an die Zustimmung der Landesregierung gebunden. Bei der einer besonderen Regelung vorbehaltenen Benennung und Adjustierung der Truppen waren "die geschichtlichen Überlieferungen und die Eigenarten der Länder entsprechend zu berücksichtigen". Ein beträchtlicher Teil dieser föderalistischen Ausgestaltung, nämlich die Zustimmungsrechte der Landesregierungen, wurden der RV im Zuge der Ausschußberatungen eingefügt. Peter Pernthaler bezeichnet diese Zustimmungsrechte "als ein partielles Verfügungsrecht der Landesregierungen über das Bundesheer" . 162 Für die Aufnahme in das Bundesheer wurden, abgesehen von verschiedenen Eignungsvoraussetzungen, ein Alter zwischen dem vollendeten 18. und dem vollendeten 26. Lebensjahr sowie lediger Stand oder kinderloser Witwerstand gefordert. Vom Zeitpunkt der Anwerbung an galt für Unteroffiziere und Wehrmänner ein Eheverbot; in Ausnahmefällen war eine militärbehördliche Ehebewilligung vorgesehen. Für Offiziere war eine regelmäßige Dienstpflicht von mindestens 20 Jahren im Präsenzdienst, für Unteroffiziere und Wehrmänner von mindestens 12 Jahren, und zwar mindestens sechs Jahre Präsenzdienst, die restliche Zeit in der Reserve, vorgesehen. Die Reservedienstpflicht bestand in der Verpflichtung, "einem Einberufungsbefehle zum aktiven Dienste Folge zu leisten", sowie "jeden Wechsel seines ständigen Aufenthaltsortes binnen längstens acht Tagen seinem Standeskörper zu melden"; ferner bedurften die Reservedienstpflichtigen zum Verlassen des Bundesgebietes einer besonderen Bewilligung ihres Standeskörpers. "Bei außergewöhnlichen Verhältnissen" bzw. "wenn die Republik Österreich bedroht ist", war die Einberufung der Reserve bzw. der Aufschub der Entlassung und der Übersetzung in die Reserve trotz vollstreckter Dienstpflicht vorgesehen. Diese Maßnahmen hatte - in Ausübung des Verfügungsrechtes - der NR, bei Gefahr im Verzuge (unter nachträglicher Einholung der Genehmigung des NR) die Bundesregierung zu beschließen. Die Meinungsverschiedenheiten der politischen Lager hinsichtlich politischer Rechte der Soldaten traten in der parlamentarischen Behandlung des Wehrgesetzes deutlich hervor und wurden in einem Komprorniß überbrückt, nach dem den Soldaten die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten 162

Siehe Pernthaler, Rechtsstaat 43.

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im selben Umfang wie den anderen Staatsbürgern, die ungehinderte Ausübung dieser Rechte "nach Maßgabe des Dienstes" gesetzlich garantiert und neuerlich bestimmt wurde, daß das Bundesheer als Einrichtung des Staates "von jeder parteipolitischen Betätigung und Verwendung unbedingt fernzuhalten", darüber hinaus aber im Dienst "auch dem einzelnen Heeresangehörigen jede parteipolitische Betätigung untersagt" ist; in den Unterkunftsräumen der Soldaten und in den Kasernenhöfen wurde die Abhaltung politischer Versammlungen verboten. 163 Diesem Bestreben, politische Auseinandersetzungen vom militärischen Bereich fernzuhalten, waren allerdings die ebenfalls im Wehrgesetz vorgesehenen Einrichtungen der Vertrauensmänner (Soldatenräte) sowie des Zivilkommissariats im Bundesministerium für Heerwesen (seit der Zweiten Wehrgesetznovelle von 1923 "ständige Parlamentskommission für Heeresangelegenheiten" beim Bundesministerium für Heereswesen) nicht förderlich. Den Vertrauensmännern (Soldatenräten) war als Aufgabengebiet "die Wahrung der Interessen und der vertraglichen Rechte" der Soldaten (im einzelnen Mitwirkungsrechte bei der Aufnahme in das Heer und bei vorzeitiger Entlassung, in Besoldungs-, Verpflegungs-, Unterkunfts-, Bekleidungs-, Urlaubs- und Disziplinarangelegenheiten, bei Wünschen und Beschwerden, ferner in Angelegenheiten der staatsbürgerlichen und republikanischen Erziehung sowie der Vorbereitung der Wehrmänner für ihr späteres bürgerliches Leben) eingeräumt; sie waren in Wählergruppen (Offiziere einerseits, Unteroffiziere und Wehrmänner andererseits) zu wählen. Im Sinne dieser Aufgabenstellung als Interessenvertreter bildeten sich gewerkschaftliche Organisationen, so auf sozialdemokratischer Seite der zunächst dominierende "Militärverband", in der Folge auf christlichsozialer Seite der "Wehrbund" , die um mehr Einfluß im Heer rangen. 164 Es kennzeichnet den hohen Grad politischer Sensibilität es militärischen Bereiches, daß die sozialdemokratisch-christlichsoziale Koalitionsregierung am 10. Juni 1920 letztlich an der Frage der Gesetzmäßigkeit eines Erlasses des Staatssekretärs Dr. Deutsch über den Wirkungskreis der Soldatenräte zerbrach, ein Ereignis, dessen Bedeutung für die weitere innenpolitische Entwicklung erst nachträglich in seiner vollen Tragweite erkannt wurde. Walter Goldinger stellt hiezu fest: "Dieser Tag war gewiß einer der folgenschwersten in der Geschichte der Republik ... Hatte das Versagen der parlamentarischen Regie auch nicht so schwere Folgen wie am 4. März 1933, so ist man doch damals unversehens in Dinge hineingeschlittert, die in ihrer Fernwirkung zu dem verhängnisvollen 4. März 1933 geSiehe hiezu FN 92. Siehe hiezu Jedlicka, Heer 20 ff., 56 f.; wie auch Pernthaler, Rechtsstaat 44 hiezu bemerkt, führten die Soldatengewerkschaften trotz einer ausdrücklichen Verbotsnorm des Wehrgesetzes in der Praxis zu Beeinträchtigungen der Befehlsgewalt. 163

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führt haben." 165 In besonderer Weise problematisch erwies sich aber vor allem auch das Zivilkommissariat bzw. seine Nachfolgeeinrichtung, die ständige Parlamentskommission. Dieser aus Parlamentariern gebildeten Institution war unter dem Grundgedanken einer besonderen zivilen und demokratischen Kontrolle des Militärs ein umfassendes Aufgabengebiet, insbes. auch hinsichtlich der militärischen Ausbildung, der allgemeinen staatsbürgerlichen und republikanischen Erziehung sowie einer Vorbereitung der Soldaten "für ihr späteres bürgerliches Leben", eingeräumt. Sie war berechtigt, "in die Verwaltung der Heeresangelegenheiten Einblick zu nehmen und zu diesem Zwecke Akten anzufordern" (11. Vollzugs anweisung zum Wehrgesetz, StGBl. Nr. 378/1920). Der ersten Novellierung des Wehrgesetzes von 1920, der Wehrgesetznovelle vom Jahre 1921, BGBL Nr. 248,166 lagen Forderungen des Interalliierten Heeresüberwachungsausschusses, der die Durchführung der militärischen Bestimmungen des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye zu kontrollieren hatte, zugrunde. Einzelne Bestimmungen des ästerreichischen Wehrgesetzes schienen den Alliierten geeignet, eine nach dem Staatsvertrag unzulässige Reserve zu bilden; diese Bestimmungen sollten daher - auch unter terminologischen Gesichtspunkten (z. B. Heeresstärke statt Präsenzstärke, Beurlaubtenstand statt Reserve) - entsprechend geändert werden. 165 Den Anlaß für das Zerbrechen der Koalition bildete eine seitens der großdeutschen Vereinigung am 10. Juni 1920 eingebrachte Dringliche Anfrage der Abg. Dr. Hans Schürf!, Dr. Sepp Straffner und Gen. an den Herrn Staatskanzler, betreffend die gesetzeswidrige Herausgabe der Dienstvorschrift für Soldatenräte in der neuen Wehrmacht durch den Herrn Staatssekretär für Heerwesen; die Anfrage lautete: "Ob der Staatskanzler für diese von einseitigem Parteiinteresse diktierte Dienstvorschrift, die entgegen dem Geiste und dem Wortlaute des Wehrgesetzes in völlig eigenmächtiger Weise vom Staatssekretär für Heereswesen in Form eines Erlasses herausgegeben wurde, die Verantwortung zu übernehmen bereit ist?" Sie wurde mit folgender Feststellung eingeleitet: "Der Staatssekretär für Heereswesen hat mit Amtsleitungszahl 4995 vom 25. Mai 1920 ohne vorherige Fühlungsnahme mit den Landesregierungen, mit den militärischen Verwaltungs- und Kommandostellen, unter Übergehung des beim Staatsamt für Heereswesen bestehenden, von der Nationalversammlung gewählten Zivilkommissariats und entgegen allen Vorschlägen und Vorstellungen der militärischen Fachreferenten lediglich unter dem scharfen Drucke der ehemaligen Volkswehrsoldatenräte einen Erlaß von allerhöchster wehrpolitischer Tragweite herausgegeben, der mit seinen Bestimmungen für die Soldatenräte auf die Verankerung des Rätesystems in der neuen Wehrmacht hinausläuft. - L?ut § 10 des Wehrgesetzes sind militärische Dienstvorschriften von der Staatsregierung zu erlassen ... Es handelt sich weithin zweifellos um eine Dienstvorschrift, zu deren Herausgabe der Staatssekretär nicht berechtigt war ... " (s. Steno Prot. Konst. NV 1920, 2905 - 2920): S. ferner Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt 109 f.; Jedlicka, Heer 29 ff. 166 Über die parlamentarische Behandlung dieser Wehrgesetznovelle s. die Steno Prot. NR. 1921 (RV 186 dBlg., AB 310 dBlg.; 411, 537 - 554, 1381-1384) und die Steno Prot. BR 1921 (108, 109); S. in diesem Zusammenhang die ebenfalls "unter dem Drucke der Entente" beschlossenen Bundesgesetze BGBL Nr. 157/1921 u. 251 / 1921 (FN 147 U. 148).

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Die terminologischen Änderungen erforderten auch entsprechende Anpassungen im Heeresdisziplinargesetz, BGBL Nr. 368/1920, sowie in den die Strafgerichtsbarkeit über Heeresangehörige betreffenden Gesetzen StGBl. Nr. 321/1920 und 323/1920; diese Anpassungen wurden in die Wehrgesetznovelle vom Jahre 1921 als Art. III und IV eingebunden. Noch vor dem Wehrgesetz war im selben Jahre auch das Heeresgebührengesetz durch das Bundesgesetz vom 11. Februar 1921, BGBL Nr. 117 (Erster Nachtrag zum Heeresgebührengesetz), novelliert worden. 167 Damit erfolgte eine Besoldungsanhebung im angemessenen Verhältnis zu den Bezügen der vergleichbaren Zivilstaatsbediensteten samt einer Verbesserung der Abfertigungsregelung. Mit der vorläufigen Heeresverordnung Burgenland, BGBL Nr. 480/1921, und der 2. Heeresverordnung Burgenland, BGBL Nr. 861/1921, wurde auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes BGBL Nr. 85/1921 im Hinblick auf die Angliederung des Burgenlandes die Anwendung der wesentlichen österreichischen Wehrrechtsvorschriften auf dieses neue Bundesland verfügt. 168 Das Heeresdisziplinarrecht wurde 1922 durch das Bundesgesetz vom 7. April 1922, BGBL Nr. 234, womit das Gesetz vom 22. Juli 1920, StGBl. Nr. 368 (Heeresdisziplinargesetz), ergänzt und abgeändert wird (Heeresdisziplinargesetznovelle vom Jahre 1922),169 und durch das Bundesgesetz vom 13. Juli 1922, BGBL Nr. 455, über die Handhabung der Disziplinargewalt gegen Bundesangestellte der Heeresverwaltung (Heeresbeamtendisziplinargesetz - HBDG)170 umfassend geändert. 167 Über die parlamentarische Behandlung dieser Heeresgebührengesetznovelle s. die Steno Prot. NR. 1921 (RV 144 dBIg., AB 193 dBIg.; 366, 429, 440-442) und die Steno Prot. BR 1921 (51); hinsichtlich der Besoldungsregelung für Heeresangehörige durch das Besoldungsgesetz, BGBL Nr. 376/1921, S. FN 157. 168 Die erste Verordnung erfaBte das Wehrgesetz, das Heeresdisziplinargesetz, das Militärbesoldungsübergangsgesetz, das Heeresgebührengesetz, die Gesetze über die Versorgung der Berufsmilitärpersonen und deren Hinterbliebenen, das Militärabbaugesetz (jeweils samt Durchführungsverordnungen) sowie die Vollzugsanweisungen über die Anstellung ausgedienter Unteroffiziere, StGBl. Nr. 482 / 1919 und 19/ 1920; die Geltung des Invalidenentschädigungsgesetzes wurde mit der Verordnung BGBL Nr. 481 / 1921, die Geltung des Besoldungsgesetzes mit der Verordnung BGBL Nr. 860/1922, die Geltung weiterer Wehrrechtsvorschriften mit der Verordnung BGBL Nr. 86/1922 auf das Burgenland erstreckt. Siehe hiezu ferner FN 88. 169 Über die parlamentarische Behandlung dieser Heeresdisziplinargesetznovelle S. die die Steno Prot. NR. 1922 (RV 814 dBIg., AB 869 dBIg.; 3267, 3278, 3433 -3449) und die die Steno Prot. BR 1922 (515, 516); dieser Novelle ging eine im Hinblick auf die folgende umfassende Novellierung zurückgezogene RV aus dem Jahre 1921 voraus, (429 dBIg.). 170 Über die parlamentarische Behandlung des Heeresbeamtendisziplinargesetzes s. die Steno Prot. NR. 1922 (RV 442 dBIg., AB 1091 dBIg.; 1681,4003-4014 und die Steno Prot. BR. 1922 (389).

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Zur Novellierung des Heeresdisziplinargesetzes führt der Bericht des Ausschusses für Heerwesen u. a. aus: "Die Absicht der Regierungsvorlage, den beiden Hauptzielen jeder neuzeitlichen Disziplinargesetzgebung Schutz der Disziplin, aber auch Schutz des Beschuldigten - gerecht zu werden, läßt sich in ihren Einzelbestimmungen unschwer erkennen: Eine Reihe von Bestimmungen dient durch Ausbau des Strafensystems und Verschärfung der geltenden Strafen der Festigung der Disziplin und der Hebung der Kommandogewalt. Ebenso zahlreich sind aber die Bestimmungen des Entwurfes, die eine gerechte, gleichmäßige und raschere Handhabung der Disziplinarrechtspflege gewährleisten sollten." Die Änderungen betrafen neben einem aktuellen Problem - nämlich eine sachgerechte Regelung, um Heeresangehörige, die wegen bestimmter Delikte vor ihrem Dienstantritt gerichtlich bestraft wurden, auf disziplinarrechtlichem.Wege aus dem Heer entfernen zu können - insbes. eine Stärkung und Staffelung der Ordnungstrafgewalt, die Einführung neuer Strafen, Verbesserungen auf dem Gebiet der Rechtsmittel sowie Neugestaltungen im Bereich des Verhältnisses zwischen disziplinärer und strafgerichtlicher Ahndung. Durch das Heeresbeamtendisziplinargesetz wurde für die Zivilangestellten der Heeresverwaltung eine besondere Regelung auf dem Gebiet des Disziplinarwesens geschaffen, die auf die Eigenart ihres Dienstes Bedacht nimmt. In der Begründung der RV ist hiezu einleitend ausgeführt: "Mit dem Gesetze vom 20. Mai 1920, StGBl. Nr. 235 (Heeresgebührengesetz), wurde der Begriff der ,Zivilangestellten der Heeresverwaltung' in die legistische Terminologie eingeführt. Sie sind ehemalige Gagisten und Unteroffiziere des Berufsstandes, die - außerhalb des Heeres stehend - bestimmt sind, die Vorbedingungen und Mittel für das Heer zu beschaffen; insbesondere obliegt ihnen die Befriedigung der sachlichen Bedürfnisse des Heeres ... Da die Zivilangestellten der Heeresverwaltung (Angestellte) nicht nur bei Heeresbehörden und -anstalten, sondern zum Teil auch bei der Truppe in Verwendung stehen, mußte den Forderungen des militärischen Dienstes ein Einfluß auf die Gestaltung des Disziplinarrechtes eingeräumt werden. Der Entwurf will das Problem dadurch lösen, daß er sich im allgemeinen dem Disziplinarrecht der Dienstpragmatik anschließt, jedoch auch einige Bestimmungen des Heeresdisziplinargesetzes rezipiert." Weitere wesentliche Änderungen des Wehrrechts erfolgten 1923 durch Novellierungen des Wehrgesetzes und des Heeresgebührengesetzes; beide Gesetze wurden zweimal novelliert. Mit der Wehrgesetznovelle vom 15. März 1923, BGBl. Nr. 145,171 wurden die Aufgaben der Heeresverwaltungsstellen in den Ländern beträchtlich 171 Auf Grund der Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922, BGBl. Nr. 842, die für das von Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel eingeleitete wirtschaftliche Sanierungswerk die Basis bildeten, war mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 26. November 1922,

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eingeschränkt; nach der Neufassung des § 8 des Wehrgesetzes oblagen ihnen im wesentlichen nur die Aufrechterhaltung der "regelmäßigen Beziehungen zur Landesregierung" sowie die Leitung und Durchführung der Werbungen. Mit der Zweiten Wehrgesetznovelle vom Jahre 1923, BGBL Nr. 216,172 wurden die Regelungen über das bisherige "Zivilkommissariat" - nunmehr die "ständige Parlamentskommission" für Heeresangelegenheiten" - sowie über die Interessenvertretung der Soldaten neu gestaltet. Während das Zivilkommissariat aus fünf Mitgliedern bestand, und das Gesetz über seinen Wirkungskreis keinerlei Aussage traf, sondern dessen Bestimmung dem Verordnungswege überließ, war die Zusammensetzung der neuen Parlamentskommission aus drei Mitgliedern unter Bedachtnahme auf beide Kammern des Parlaments vorgesehen, und ihr allgemein die gesetzliche Berechtigung eingeräumt, "in die Verwaltung der Heeresangelegenheiten Einblick zu nehmen"; im übrigen war der Wirkungsbereich ebenfalls im Verordnungswege zu bestimmen. 173 Die Tätigkeit dieser Kommission, die praktisch ohne Einflußmöglichkeit des zuständigen Bundesministers ausgeübt wurde, führte mehrfach zu Konflikten sowie zu zahlreichen parlamentarischen Interventionen und Denunziationen. Der Vorstand des Rechtsbüros im Bundesministerium für Heerwesen, Sektionschef Dr. Robert Hecht, bemerkte hiezu am 26. März 1929 in einem Vortrag u. a.: " ... Es genügt die Feststellung, daß nach diesem Aufbau die in Österreich verfassungsgesetzlich festgelegte Amtsverschwiegenheitspflicht ungesühnt verletzt werden kann ... Andere Mißstände ergeben sich daraus, daß die Amtsakten in den Besitz von Personen gelangen, die vom Minister unabhängig sind. Die Parlamentskommissäre sind daher in der Lage, die Rückstellung der ihnen zur Einsicht übermittelten Amtsakten zu verzögern, ja an ihnen ein förmliches ,Retentionsrecht' auszuüben. Danach könnte es vorkommen - auch hier will ich in der Bedingungsform sprechen - daß der Heeresminister die Verteidigungsmittel gegen parlamentarische Angriffe nur aus seinem Gedächtnis und dem seiner Mitarbeiter schöpfen muß, weil gerade die einschlägigen Amtsakten von einem Mitglied der Parlamentskommission nicht herausgegeben werden. - Zu diesen Verwaltungsschwierigkeiten kommt noch, daß die Parlamentskommissionäre befugt BGBl. Nr. 84, ein "außerordentlicher Kabinettsrat" (Bundesregierung und 26 vom NR aus dem Kreise seiner Mitglieder und der Mitglieder des Bundesrates gewählte Staatsräte) mit der Befugnis, Reformmaßnahmen im Wege gesetzesändernder Verordnungen zu treffen, geschaffen worden; nach dieser Regelung ist die zit. Wehrgesetznovelle außerhalb der parlamentarischen Gesetzgebung als Verordnung der Bundesregierung erlassen worden; s. in diesem Zusammenhang Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (1956) 449 ff.; Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 122 ff. 172 Über die parlamentarische Behandlung dieser Wehrgesetznovelle s. die Steno Prot. NR. 1923 (RV 1449 dBlg., AB 1456 dBlg.; 5408, 5427, 5437 -5439) und die Steno Prot. BR. 1923 (813, 814). 173 Siehe die IV. Durchführungsverordnung zum Wehrgesetz BGBl. Nr. 240/1923.

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sind, Mitteilungen von Heeresangehörigen über Angelegenheiten - selbstverständlich dienstlicher Natur - entgegenzunehmen. Da aber jeder Parlamentskommissär im allgemeinen immer nur für Parteizugehörige interessiert, so erfährt durch solche Interventionen die Parteizugehörigkeit des einzelnen Soldaten eine unerwünschte Hervorhebung ... "174 Der Umstand, daß die erwähnte Einrichtung in mehrfacher Hinsicht verfassungsrechtlich bedenklich war, führte schließlich zu ihrer Beseitigung durch das Erkenntnis des VfGH vom 4. Juni 1932, VfSlg 1454/1932, mit dem die relevanten Bestimmungen des Wehrgesetzes (§ 7 und § 25 Abs. 1 letzter Satz) sowie die Verordnung über diese Kommission (IV. Durchführungsverordnung zum Wehrgesetz, BGBL Nr. 240/1923) für verfassungswidrig bzw. gesetzwidrig erklärt und aufgehoben wurden; die Kundmachung der Aufhebung im BGBL erfolgte am 15. Juni 1932 unter den Nr. 162 und 163. Die Bestimmungen über die Vertrauensmänner - die Bezeichnung "Soldatenräte" entfiel- wurden in der zit. Novelle systematisch neu geordnet und näher präzisiert. Neu vorgesehen wurde ein Heerespersonalausschuß für sämtliche Heeresangehörige. Sein Wirkungskreis umfaßte die Begutachtung und Antragstellung hinsichtlich Vorschriften allgemeiner Art, in Besoldungs-, Bekleidungs-, Unterbringungs-, Verpflegungs-, Beurlaubungsangelegenheiten und in Angelegenheiten der staatsbürgerlichen und beruflichen Ausbildung, die Mitwirkung bezüglich wirtschaftlicher Einrichtungen für die Gesamtheit oder für Gruppen von Heeresangehörigen sowie unter bestimmten Voraussetzungen die Abgabe von Äußerungen in Personalangelegenheiten. 175 Das Bundesgesetz vom 14. April 1923, BGBl. Nr. 218, womit einige Bestimmungen des Gesetzes vom 20. Mai 1920, StGBl. Nr. 235, über die Gebühren der österreichischen Wehrmacht (Heeresgebührengesetz), abgeändert und ergänzt werden, 176 hatte eine klarstellende Bereinigung auf dem Gebiete des militärischen Versorgungsrechtes zum Ziel. Durch die Neufassung des § 13 des Heeresgebührengesetzes wurde sichergestellt, daß die Regelungen des Invalidenentschädigungsgesetzes und seiner Durchfüh174 Robert Hecht, Österreichische und deutsche Wehrgesetzgebung, Militärwissenschaftliche und technische Mitteilungen 1929, 390; hinsichtlich des Standpunktes der Parlamentskommission im Schreiben v. BR Dr. Franz Hemala vom 23. Oktober 1920 s. Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich (1975) 103; s. ferner Pernthaler, Rechtsstaat 42 f.; Jedlicka, Heer 79 f.; Vergleichshinweise auf den Landesverteidigungsrat und die Beschwerdekommission in militärischen Angelegenheiten nach dem Wehrgesetz 1978 (wie auch schon nach dem Wehrgesetz von 1955) s. Ermacora / Kopf / Neisser, Das österreichische Wehrrecht I (1980) 128. 175 Siehe die V. Durchführungsverordnung zum Wehrgesetz, BGBl. Nr. 241/1933; ferner vgl. hiezu FN 156 sowie Robert Hecht, (FN 174) 404. 176 Über die parlamentarische Behandlung dieser Heeresgebührengesetznovelle s. die Steno Prot. NR. 1923 (RV 1450 dBlg., AB 1457 dBlg.; 5408, 5427, 5439-5441) und die die Steno Prot. BR 1923 (814).

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rungsvorschriften "auf die wegen unbehebbarer Dienstuntauglichkeit aus dem Heere entlassener Wehrmänner (Wehrmannschargen und die aus dem Wehrmannsstande hervorgegangenen Unteroffiziere), deren Erwerbsfähigkeit durch eine im Dienste des Heeres erlittene Gesundheitsschädigung eine Verminderung erfahren hat, und auf deren Hinterbliebene" Anwendung finden. Mit der 2. Heeresgebührengesetznovelle vom Jahre 1923, BGBL Nr. 401,177 wurde - gleichsam eine Ergänzung zu § 13 - eine weitere versorgungsrechtliche Regelung getroffen. An Stelle der für Invalide des Weltkrieges nach den Bundesgesetzen BGBL Nr. 90/1921 und 425/1921 vorgesehenen Überführung in ein pragmatisches oder unkündbares Dienstverhältnis wurde für Invalide des Bundesheeres eine Regelung in das Heeresgebührengesetz eingefügt, nach der sie - im Falle ihres Ablebens ihre Hinterbliebenen - unter bestimmten Voraussetzungen durch die Zurechnung von Dienstjahren einen erhöhten Abfertigungsanspruch erlangten. Durch eine besondere Ermächtigungsbestimmung wurde diese Regelung auch auf Invaliditätsfälle vor dem Inkrafttreten der Novelle, insbes. solche "infolge einer feindlichen Einwirkung bei der Landnahme des Burgenlandes" , anwendbar. Nachdem das Reformprogramm des wirtschaftlichen Sanierungswerkes auf der Grundlage der Genfer Protokolle vom 4. Oktober 1922, BGBL Nr. 842, schon in der ersten Wehrgesetznovelle von 1923 einen Niederschlag im Wehrrecht gefunden hatte,178 ergaben sich weitere Auswirkungen auf die Wehrgesetzgebung durch das Verwaltungsentlastungsgesetz, BGBL Nr. 277/1925. Im Rahmen der damit "zur Entlastung der Verwaltungsbehörden" getroffenen Legislativmaßnahmen wurden auch Bestimmungen des Wehrgesetzes, des Heeresgebührengesetzes, des Heeresdisziplinargesetzes und des Heeresbeamtendisziplinargesetzes in vielfältigen verfahrensrechtlichen bzw. organisatorischen Einzelheiten geändert. Auf der Grundlage des Verwaltungsentlastungsgesetzes wurden ferner noch im Jahre 1925 das Wehrgesetz, das Heeresdisziplinargesetz und das Heeresbeamtendisziplinargesetz unter Berücksichtigung der bisherigen inhaltlichen und terminologischen Änderungen mit Verordnungen des Bundesministeriums für Heereswesen vom 16. September 1925 als "Wehrgesetz, BGBL Nr.361 vom Jahre 1925", "Heeresdisziplinargesetz, BGBL Nr.362 vom Jahre 1925" und "Heeresbeamtendisziplinargesetz, BGBL Nr. 364 vom Jahre 1925" wiederverlautbart. Im Gefolge der Verfassungsreform von 1929, die auch wesentliche Änderungen der Wehrverfassung bewirkte, wurden 1931 mehrere wehrrechtliche 177 Über die parlamentarische Behandlung der 2. Heeresgebührengesetznovelle vom Jahre 1923 s. die Steno Prot. NR. 1923 (RV 1608 dBIg., AB 1634 dBIg.; 6318, 6332-6335) und die Steno Prot. BR 1923 (854, 855). 178 Siehe hiezu FN 171. 46 Parlamentarismus

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RV in den NR eingebracht, die - als "Kleine Heeresreform" bezeichnetZielsetzungen der Verfassungsreform ("Stärkung der staatlichen Autorität", "Entpolitisierung") auf einfachgesetzlichem Wege im militärischen Bereich weiterverfolgen sollten. Es handelt sich dabei um die Entwürfe einer Wehrgesetznovelle 1931 (111 dBlg. Steno Prot. NR. IV. GP 738, 812 ff.), eines Heeresrefom-Einführungsgesetzes (112 dBlg.), eines HeeresbeamtenÜbersteIlungsgesetzes (113 dBlg.), eines "Eignungsnachweisgesetzes" (114 dBlg.) und einer Militär-Disziplinarnovelle (117 dBlg.). Durch die Wehrgesetznovelle 1931 sollten neben notwendigen Anpassungen an die neue Verfassungsrechtslage Änderungen vorgenommen werden, deren Motive spezielle militärische Anliegen, eine weiterführende Entpolitisierung des Heeres und Vereinfachungen der Administration waren. So wurden in dieser RV die bisher dem NR eingeräumten Verfügungsrechte an den Bundespräsidenten übertragen, wobei dies - wie in der Begründung betont wird - im Hinblick auf seine Stellung als Oberbefehlshaber geschah: "Da die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle durch die Neufassung des Artikels 80 B-VG dem Nationalrat die Verfügung über das Heer entzogen hat, müssen nun auch die einzelnen Befugnisse, in denen sich dieses Verfügungsrecht vormals ausgedrückt hat, zwangsläufig auf den Bundespräsidenten als den nunmehrigen Träger des Oberbefehls übergehen." Ferner wurde die Verleihung der höheren KommandosteIlen, die bisher der Bundesregierung zukam, dem Bundespräsidenten - ebenfalls im Sinne seiner Funktion als Oberbefehlshaber - übertragen. Der Bundesregierung wurde auch die Kompetenz zur Erlassung der militärischen Dienstvorschriften, und zwar zugunsten des Bundesministers für Landesverteidigung, entzogen; dies entsprach allerdings einer auf Grund des Art. 2 des Verwaltungsentlastungsgesetzes geübten Praxis, nach der die Bundesregierung den Bundesminister zur Ausübung dieser Kompetenz ermächtigte. Im Zusammenhang damit wurde in der RV der Standpunkt vertreten, daß es sich bei den militärischen Dienstvorschriften nicht um eine Rechtsverordnung, sondern um "bloße Dienstanweisungen (Instruktionen)" handle, die nicht der Kundmachung im BGBl. bedürfen. 179 An Stelle der Bestimmungen über die allgemeine staatsbürgerliche und republikanische Erziehung sowie die Vorbereitung auf einen Zivilberuf als Bestandteil der Ausbildung sollte normiert werden, daß den Soldaten im Rahmen der Ausbildung "auch die Kenntis ihrer staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Pflichten zu vermitteln" ist, und daß Mannschaftspersonen und zeitverpflichtete Unteroffiziere "auf ihr Ansuchen eine Vorbereitung für das bürgerliche Berufsle179 Siehe hiezu jedoch das Erkenntnis des VfGH vom 17. März 1970, VfSlg 6163/ 1970, mit dem hinsichtlich der Allgemeinen Dienstvorschriften für das Bundesheer (ADV) festgestellt wurde, daß eine Vorschrift, die das Verhalten des Soldaten im Dienst und außerhalb des Dienstes regelt, keine Verwaltungsverordnung ist und daher im BGBL zu verlautbaren wäre.

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ben" zu erhalten haben. Zum erstgenannten Ausbildungsbereich ist in der Begründung der RV ausgeführt: "Diese Unterweisung hat als reine Rechtsund Pflichtenlehre mit Fragen der Weltanschauung und Politik nichts zu tun, wenn sie auch einem erzieherischen Zweck dienstbar gemacht und den Soldaten - wie es im Ausschußbericht zur einschlägigen Bestimmung des deutschen Wehrgesetzes heißt - ,die Notwendigkeit seiner politischen Neutralität einsehen lassen' soll." Für "die unmittelbare Übernahme von Mannschaftspersonen und zeitverpflichteten Unteroffizieren auf Dienstposten im Bereich der Heeresverwaltung und der sonstigen Bundesverwaltung" wurde eine besondere Verordnungsermächtigung der Bundesregierung vorgesehen; dies sollte aber nur ein erster Schritt vor einer weitergehenden gesetzlichen Regelung sein, mit der es "vermöge einer Verfassungsänderung gelingen könnte, auch Posten des Landes- und Gemeindedienstes in das Anstellungsgebiet einzubeziehen". 180 Dem militärischen Bedürfnis nach einer Einbindung der - infolge der Beschränkungen des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye - außerhalb des Heeres stehenden Militärärzte und Militärveterinäre samt ihrem Hilfspersonal in den Heeresverband sollte nach erlangter Zustimmung der Alliierten 181 in entsprechenden Bestimmungen der RV dieser Wehrgesetznovelle 1931 sowie mit den RV eines Heeresbeamten-Überstellungsgesetzes und eines Bundesgesetzes über den Nachweis der Eignung für bestimmte Dienstzweige im Bereich des Bundesheeres und der Heeresverwaltung durch die Einordnung der erwähnten Personengruppen als "Offiziere des höheren Militärsanitätsdienstes" bzw. "Offiziere des höheren Militärveterinärdienstes" sowie als Unteroffiziere der entsprechenden Fachrichtungen Rechnung getragen werden. Dem Ziel der "Entpolitisierung des Heeres" dienten in der RV der Wehrgesetznovelle 1931 im besonderen die beabsichtigte Auflösung der ständigen Parlamentskommission und der bel den Heeresverwaltungsstel180 Im Zuge von Bestrebungen nach einer umfassenden Reform der Soldatenversorgung waren bereits 1924 Anträge, betreffend die Anstellung ausgedienter Soldaten im öffentlichen Dienst (Antrag der BR Hans Hocheneder und Genossen im BR vom 7. März 1924; Antrag der Abg. Thomas Klimann und Genossen im NR vom 27. März 1924) gestellt worden; durch Bundesminister Karl Vaugoin waren am 13. Juli 1926 der Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes, mit dem Dienstposten "der Länder, der Bezirke und der Städte mit eigenem Statut (mit geregeltem Magistrat) und bestimmter Zwangsverbände des öffentlichen Rechtes für Zwecke der Anstellung ausgedienter Soldaten" im Wege der Bundesgesetzgebung herangezogen werden sollten, (RV 599 dBlg., 11. GP) sowie der Entwurf eines Soldatenversorgungsgesetzes mit Ansprüchen auf Anstellung im öffentlichen Dienst oder in bestimmten privaten Diensten, auf Zivilberufsausbildung und auf Abfertigung (RV 600, 11. GP) in den NR eingebracht, von diesem aber ebenso wie die neue RV eines Soldatenversorgungsgesetzes von 1927 (RV 5 dBlg., IU. GP) nicht verabschiedet worden. Vgl. ferner § 148 Abs. 6 und 7 BDG 1979, BGBl. Nr. 333, § 12 Abs. 6 und 7 sowie § 33 Abs. 2 und 3 des Wehrgesetzes 1978, BGBl. Nr. 150, und § 33 Abs. 8 und 9 leg. cit. i. d. F. des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1983, BGBl. Nr. 577. 181 Note der Botschafterkonferenz vom 25. Juli 1927.

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len eingerichteten Landeskommissionen, einschränkende Änderungen der Bestimmungen über die Vertrauensmänner und eine Erweiterung des Verbotes der politischen Betätigung für Soldaten. In der Begründung der RV wurde zu diesen Maßnahmen bemerkt, daß sie zwar "einen Schritt vorwärts auf dem Weg der Entpolitisierung des Bundesheeres" bedeuten, gleichzeitig aber festgestellt: "Sicher ist, daß die vorgeschlagenen Bestimmungen von der Angleichung an das deutsche Recht und der vollständigen Entpolitisierung noch entfernt sind." 182 Die RV einer Militär-Disziplinarnovelle umfaßte Änderungen des Heeresdisziplinargestzes, des Heeresbeamtendisziplinargesetzes sowie disziplinarrechtliche Bestimmungen des Pensionsrechts der Berufsmilitärpersonen des Ruhestandes. Sie bildete vor allem im Hinblick auf die enge Verflechtung des militärischen Disziplinarrechts mit zahlreichen Regelungen in den erwähnten "Heeresreformgesetzen " einen notwendigen Bestandteil dieses Vorhabens. Im übrigen sollte das militärische Disziplinarrecht durch diese Novelle nach den einleitenden Ausführungen in der Begründung der RV "noch in einigen anderen Belangen Abänderungen erfahren, die ihre Handhabung ohne Beeinträchtigung der durch sie verbürgten Rechtssicherheit zeitgemäß vereinfachen, die Disziplinarrechtspflege überhaupt beschleunigen und damit ihrem Zweck - rasche Ahndung der disziplinären Verfehlungen besser dienstbar machen werden". Mit der RV eines Heeresreform-Einführungsgesetzes sollte in erster Linie die notwendige Übereinstimmung der einzelnen Gesetze dieses Reformwerkes und ihr gleichzeitiges Inkrafttreten sichergestellt werden, wie in der Begründung zu Art. I dieser RV dargelegt ist: "Die angeführten militärischen Gesetze, die in ihrer Gesamtheit als ,Heeresreformgesetze' bezeichnet werden, sind so eng miteinander verbunden, daß ihr gleichzeitiger Wirksamkeitsbeginn durch eine besondere gesetzliche Bestimmung festgesetzt werden mußte. Eine Durchsicht der geltenden militärischen Gesetze hat ferner ergeben, daß zahlreiche Bestimmungen anderer Gesetze dem Wehrgesetz in seiner letzten Fassung anzupassen sind. Schließlich wurden noch verschiedene Bestimmungen militärischen Inhaltes, die keinem der einzelnen Reformgesetze eingegliedert werden konnten, in einem Sammelgesetz vereinigt, das die Bezeichnung ,Heeresreform-Einführungsgesetz' erhalten soll. " Die RV dieser Reformgesetze wurden allerdings vom NR vor seiner "Selbstausschaltung" am 4. März 1933 nicht mehr beschlossen und erlangten daher nicht auf parlamentarischem Wege Gesetzeskraft. 183

182

Zur "Entpolitisierung" des Bundesheeres s. auch Pernthaler, Rechtsstaat 48 f.

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Nachdem sich die neue Wehrmacht in den ersten Jahren der Republik radikal von der altösterreichischenTradition abgewandt hatt'e, wurde diese militärische Tradition seit 1924 wieder in steIgendem Maße gepflegt. In diesem Zusammenhang knüpften das Bundesgesetz vom 26. März 1931, BGBl. Nr.97, betreffend die Gewährung von Zulagen an Besitzer von Tapferkeitsmedaillen (Tapferkeitsmedaillenzulagengesetz) 184 und das Bundesgesetz vom 21. Dezember 1932, BGBl. Nr. 361, über die Schaffung einer Kriegserinnerungsmedaille (Kriegserinnerungsmedaillengesetz) 185 an ursprünglich aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert stammende Regelungen an. Eine wesentliche Änderung der Wehrrechtslage brachte das Bundesgesetz vom 22. Februar 1933, BGBl. Nr. 29, über die Gebühren der zeitverpflichteten Heeresangehörigen (Heeresgebührengesetz 1932 - HGG).186 Mit diesem Gesetz wurden die zeitverpflichteten Soldaten (Mannschaft und zeitverpflichtete Unteroffiziere) aus dem Besoldungsrecht der Bundesbeamten herausgelöst und für sie eine umfassende Anspruchsregelung (Dienstgrade, Naturalbezüge, alle Besoldungsansprüche) vorgesehen. Die Neuordnung stand im Zusammenhang mit Bemühungen, den Personalstand des Bundesheeres auf die bisher nicht erreichte Heeresstärke von 30.000 Mann, die nach dem Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye zulässig war, anzuheben, wobei sich allerdings aus der schwierigen Budgetlage, insbes. aus der Kürzung des Heersbudgets finanzielle Probleme ergaben. Auf diesen Gesichtspunkt wurde vom Bundesminister Vaugoin am 9. November 1932 bei der ersten Lesung der RV im NR hingewiesen: "Von 183 Siehe die als Verordnungen der Bundesregierung erlassenen Regelungen: 1., 2. und 3. Wehrgesetznovelle 1933, BGBL Nr. 62, 67 und 296, Heeresbeamten-Überstellungsverordnung, BGBL Nr. 297/ 1933, Verordnung betreffend den Nachweis der Eignung für bestimmte Dienstzweige im Bereich des Bundesheeres und der Heeresverwaltung, BGBL Nr. 504/1933, Verordnung über die Handhabung der Disziplinarstrafgewalt gegen Militärpersonen des Präsenzdienstes, BGBL Nr. 561/1933 (diese in der Folge novelliert durch die Bundesgesetze BGBL Nr. 275/1935, 364/ 1936 und 121/1937; s. auch FN 202 und 204). 184 Über die parlamentarische Behandlung des Tapferkeitsmedaillenzulagengesetzes s. die Steno Prot. NR. IV. GP 1931 (RV 92 dBIg., AB 99 dBIg.; 698, 710, 717 -723) und die die Steno Prot. BR 1931 (1691); s. auch die Novelle BGBL Nr. 331 / 1937 (RV 180/ Ge, 555): vgl. das Tapferkeitsmedaillen-Zulagengesetz 1958, BGBL Nr. 53, und das Tapferkeitsmedaillen-Zulagengesetz 1962, BGBL Nr. 146. 185 Über die parlamentarische Behandlung des Kriegserinnerungsmedaillengesetzes s. die Steno Prot. NR. IV. GP 1932 (RV 454 dBIg., AB 460 dBIg.; 2826, 2850, 28892892) und die die Steno Prot. BR 1932 (1969 -1971). 186 Über die parlamentarische Behandlung des Heeresgebührengesetzes 1932 s. die Steno Prot. NR. IV. GP 1932,1933 (RV 438 dBlg., AB 450, 487, 499 dBIg.; 2644, 27442750, 2826-2843; Einspruch des BR, Beharrungsbeschluß: 3007, 3008, 3065-3068, 3231, 3236) und die Steno Prot. BR 1932, 1933 (1963, 1991-2010, 2028); in der Folge wurde durch das Löhnungsumstellungsgesetz, BGBL Nr. 457 / 1935, ein dort näher bestimmter Kreis von Militärpersonen im Wege einer speziellen Besoldungsregelung dem 1. Hauptstück des HGG unterstellt.

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allen Seiten wird der Ruf laut, die Stände der Wehrmacht auf den im Friedensvertrag gestatteten Höchststand aufzufüllen. Die finanzielle Lage des Staates ist aber gegenwärtig leider eine derartige, daß mit den geltenden Gebühren diese Auffüllung eine Unmöglichkeit wäre. Die Regierung hat daher dem hohen Haus heute eine Vorlage unterbreitet, in der die Geldbezüge der Jungmänner herabgesetzt werden." In der RV wurden die geringeren Bezugsansätze im übrigen mit einer gewissen Bezugsdiskrepanz begründet, die zwischen den zeitverpflichteten Soldaten und anderen Bundesbediensteten, insbes. im Verhältnis zu den Offizieren, entstanden war. Um bereits im Präsenzdienst stehenden zeitverpflichteten Soldaten die Besoldungsansprüche ungeschmälert zu erhalten, erfolgte die Neugestaltung in einem langfristig gespaltenen System (nach dem Dienstantritt vor bzw. nach der Jahreswende 1932/33). Die Besoldung der Offiziere und Berufunteroffiziere erfolgte, wie im AB speziell vermerkt ist, auf Grund des Gehaltsgesetzes, "da die dienstrechtliche Stellung der pragmatisch Angestellten von jener der zeitverpflichteten Heeresangehörigen grundverschieden ist". Hinsichtlich des Einsparungseffektes und der damit verbundenen Zielsetzungen enthält der AB folgende Ausführung: "Die durch die Regierungsvorlage erzielten Einsparungen im Personalaufwand können nun zur Erhöhung der Stände verwendet werden, so daß das Heer auf jenen Höhestand wird gebracht werden können, der nach dem Staatsvertrag von SaintGermain Österreich zugebilligt wurde. Eine vollständige Auswirkung dieser Ersparungen aber wird erst dann eintreten, bis alle zeitverpflichteten Soldaten dem neuen Besoldungssystem eingegliedert sind." Die Opposition wandte sich gegen die vorgesehene Regelung mit den Argumenten, sie bringe eine Verschlechterung und eine Spaltung in der Besoldung der Soldaten mit Präjudizwirkungen für die Bundesangestellten überhaupt; ferner sei eine solche grundsätzliche Neuregelung im gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem sich Österreich bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen um die Möglichkeit der Einführung des Milizsystems bemühe, nicht zweckmäßig. Tatsächlich wurde von allen Parteien die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht angestrebt, was auch in der Debatte um das Heeresgebührengesetz 1932 mehrfach zum Ausdruck kam. 187 Im BR wurde gegen den Gesetzesbeschluß des NR auf Antrag des Ausschusses für wirtschaftliche 187 Das Bemühen der österreichischen Delegation bei der Genfer Abrüstungskonferenz in den Jahren 1932 und 1933 um eine Beseitigung der Beschränkungen der österreichischen Wehrhoheit, insbes. im Hinblick auf ein Wehrsystem der allgemeinen Wehrpflicht, führte zwar nicht zum angestrebten Ziel, brachte aber gewisse Erleichterungen (s. hiezu Jedlicka, Heer 100 ff.); zur Haltung der Parteien in dieser Frage s. insbes. die Ausführungen von Bundesminister Karl Vaugoin und des Abg. Dr. Julius Deutsch am 9. November 1932 sowie des Abg. Dr. Sepp Straffner am 13. Dezember1932 (2745, 2747 der Steno Prot. NR. IV. GP); zur oppositionellen Kritik am Heeresgebührengesetz 1932 s. ferner insbes. den Debattenbeitrag von BR Theodor Körner am 1. Februar 1933 (2000-2004 der Steno Prot. BR).

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Angelegenheiten am 1. Februar 1932 Einspruch erhoben. Dieser Einspruch war im wesentlichen mit den gleichen Argumenten begründet, die von der Opposition schon im NR geäußert worden waren; seitens der Nationalsozialisten, die aus den Landtagswahlen von 1932 gestärkt hervorgegangen waren, wurden hiebei heftige Angriffe geführt, denen von christlichsozialer Seite insbes. BR Dr. Franz Hemala entgegentrat. 188 Der NR schloß sich entsprechend dem Bericht des Finanz- und Budgetausschusses vom 21. Februar 1933 (499 dBlg.) den vom BR für seinen Einspruch geltend gemachten Gründen nicht an und wiederholte am 22. Februar 1932 den ursprünglichen Gesetzesbeschluß vom 13. Dezember 1932. Anläßlich dieser ersten Beschlußfassung über das Heeresgebührengesetz 1932 war am 13. Dezember 1932 auch ein Entschließungsantrag des Abg. Dr. Sepp Straffner angenommen worden, der im Sinne der Bestrebungen nach Entpolitisierung des militärischen Bereiches die Bundesregierung aufforderte, "dem Nationalrat bis spätestens Ende Jänner 1933 einen Gesetzentwurf, betreffend die Entpolitisierung des Bundesheeres vorzulegen".189 Mit der RV eines Bundesgesetzes über die Beschränkung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten der Heeresangehörigen des Präsenzdienstes (Heeres-Entpolitisierungsgesetz) 190 kam die Bundesregierung dieser parlamentarischen Initiative nach. In der Begründung der RV ist einleitend bemerkt, der Entwurf sehe - "dem Beispiel der Rechtsordnung in vielen ausländischen Staaten, vor allem jedoch der Gesetzgebung des Deutschen Reiches folgend - so weitgehende Einschränkungen der politischen und sonst verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte für die Angehörigen des Bundesheeres vor, daß er ohne Änderung der Bundesverfassung nicht Gesetzeskraft erlangen könnte. Deshalb mußten unter einem dem Nationalrat im Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes, betreffend die Abänderung der Artikel 7, 59 und 95 des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929, entsprechende Vorschläge unterbreitet werden." Mit der vorgesehenen Regelung sollte für Heeresangehörige des Präsenzdienstes das aktive und das passive Wahlrecht in die allgemeinen Vertretungskörper (ausgenommen den noch nicht verwirklichten Ständerat) sowie das Recht zur Teilnahme an der Wahl des Bundespräsidenten, an Volksbegehren und an Volksabstimmungen ruhen, ferner sollte ihnen jegliche parteipolitische Betätigung, die Zugehörigkeit zu politischen Vereinen und die Teilnahme an Versammlungen, die sich als politische Veranstaltungen oder Kundgebungen darstellen, verboten sein; hinsichtlich sonstiger Versammlungen "in 188 Siehe die Steno Prot. BR, 1997, 1998 (1. Februar 1933). 189 Siehe die Steno Prot. NR. IV. GP 1932, 2834, 2843. 190 Siehe 485 dBlg. zu den Steno Prot. NR IV. GP; S. hiezu auch die RV eines Bun-

desverfassungsgesetzes betreffend die Abänderung der Art. 7, 59 und 95 des B-VG in der Fassung von 1929 (486 dBlg. zu den Steno Prot. NR. IV. ~P).

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militärischen oder vom Militär besetzen Gebäuden und Räumlichkeiten einschließlich der Kasemhöfe und militärischen Lager" war ein allgemeines Verbot vorgesehen. Diese Legislativvorhaben erlangten aber - ebenso wie die RV der "Reformgesetze" von 1931- nicht mehr im Wege von Beschlüssen des NR und des BR Gesetzeskraft. 191 Die seit geraumer Zeit eingetretene Verschärfung der innenpolitischen Lage, die wachsende Bedeutung der politischen Wehrverbände, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen diesen, der Brand des Justizpalastes (15. Juli 1927), der Putschversuch der steirischen Heimwehr unter Dr. Walter Pfrimer (13. September 1931), Befürchtungen offensiver Maßnahmen des Schutzbundes nach der Entdeckung geheimer Waffen- und Sprengstofflager sowie in steigendem Maße radikale Aktivitäten der Nationalsozialisten führten in engem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und außenpolitischen Schwierigkeiten Österreichs zu einer Krise der parlamentarischen Demokratie, die schließlich am 4. März 1933 durch den Rücktritt aller drei Präsidenten des NR infolge von Meinungsverschiedenheiten über ein Abstimmungsergebnis in die "Selbstausschaltung des Parlaments" - und damit auch in das Ende seiner Wehrgesetzgebung - mündete. 192 Der Inhalt der vom NR noch nicht erledigten RV der "Heeresreformgesetze" von 1931 und des Heeres-Entpolitisierungsgesetzes erlangte zu einem großen Teil im Wege von Verordnungen der Bundesregierung, die sich auf das sog. "Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz", RGBl. Nr. 307 / 1917, stützten, normative Kraft (1., 2. und 3. Wehrgesetznovelle 1933, BGBl. Nr.62, 67 und 296, Heeresbeamten-Überstellungsverordnung, BGBl. Nr. 297/1933, "Eignungsnachweisverordnung", BGBl. Nr. 504/1933, mit einer Novelle BGBl. I Nr. 200/1934, "Militär-Disziplinamovelle", BGBl. Nr. 561/1933).193 Dieser Weg wurde bis Ende April 1934 an Stelle des bisherigen Weges der Bundesgesetzgebung allgemein beschritten. Das Wehrrecht wurde in diesem Zeitraum über die vorhin erwähnten Verordnungen hinaus durch die Assistenzkörper-Verordnungen, BGBl. Nr. 201/1933, 202/1933 und 230/1933, durch die Militäruniformverordnung, BGBl. Nr. 254/1933, durch die Wehr-Übergangsverordnung, BGBl. Nr. 392/1933, und - auf Grund des Art. V dieser Verordnung als Wiederverlautbarung des Wehrgesetzes nach der zuletzt geltenden Fassung - die Vorläufige Wehrordnung (VWO), BGBl. Nr. 393/1933,194 sowie in sozialpo191 Siehe hiezu die im Art. II Z 26 der Verordnung der Bundesregierung vom l. September 1933, BGBl Nr. 392, betreffend vorläufige Bestimmungen über die bewaffnete Macht (Wehr-Übergangsverordnung), als neuer § 26 Abs. 3 des Wehrgesetzes enthaltene Regelung bzw. die als "Vorläufige Wehrordnung (VWO)" unter der BGBL Nr. 393/1933 erfolgte Wiederverlautbarung des Wehrgesetzes. 192 Siehe hiezu Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte 145 ff. 193 Siehe hiezu FN 183.

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litischer Hinsicht durch die Verordnung über die Aufrechterhaltung von Dienst(Arbeits)verhältnissen der zur Dienstleistung in der bewaffneten Macht einberufenen Dienstpflichtigen des Beurlaubtenstandes, BGBL Nr. 490/1933, weiter entwickelt. Die freiwilligen Assistenzkörper wurden als "von der Bundesregierung aufgestellte, nach militärischem Muster eingerichtete Formationen" gebildet; als Aufgabe war ihnen ausdrücklich die im Wehrgesetz normierte Assistenzleistung auf sicherheitspolizeilichem Gebiet übertragen. Das Potential für die Assistenzkörper bildeten im wesentlichen die schon fallweise zu "hilfspolizeilichen Funktionen" herangezogenen Wehrverbände. Mit der Verordnung der Bundesregierung, betreffend die Aufstellung eines freiwilligen Schutzkorps (Schutzkorpsverordnung), BGBL Nr. 292/1933, wurde diese Formation "aus Verbänden, die für die Bildung der freiwilligen Assistenzkörper des Bundesheeres in Betracht kommen", gebildet; sie war als "Reserve für die staatliche Exekutive, im besonderen für die Bundespolizei und Bundesgendarmerie" subsidiär für sicherheitspolizeiliche Aufgaben heranzuziehen, durfte aber nur "unter Leitung und nach Weisung jener staatlichen Sicherheitsbehörde oder deren Organe in Aktion treten, denen sie zur Dienstleistung zugewiesen" war. Die Errichtung dieser Formationen war der erste Schritt zur Eingliederung der "die Staatspolitik der Regierung unterstützenden Organisationen", wie der Österreichische Heimatschutz oder die Ostmärkischen Sturmscharen, in die bewaffnete Macht des Staates und führte letztlich zur Auflösung dieser Wehrverbände im Jahre 1936. 195 Eine Regelung über die Pflicht bzw. über die Erlaubnis zum Tragen der militärischen Uniform wurde mit der Militäruniformverordnung (samt ihren Novellen BGBL Nr. 437/1933 und BGBL II Nr. 251/1934) getroffen. 194 Siehe hiezu Pernthaler, Rechtsstaat 50 f; Krones, Die Entwicklung d~r österreichischen Wehrverfassung von 1920-1936, in Handbuch der bewaffneten Macht für Heer und Volk (1937) 34; vgl. hiezu FN 19l. 195 Siehe hiezu Goldinger, Geschichtlicher Ablauf in Benedikt, Geschichte insbes. 201, und Jedlicka, Heer 142; über das Schutzkorps s. in der Folge die Verordnungen BGBl. Nr. 402/1933, 506/1933, 576/1933, BGBl. I Nr. 55/1934, die Bundesgesetze BGBl. II Nr. 21/1934, 441/1934, 453/1934, BGBl. Nr. 108/1935, die Verordnung BGBl. Nr. 192/1935, die Bundesgesetze BGBl. Nr. 165/1935 und 254/1935 sowie die Verordnungen BGBl. Nr. 261/1935 und 302/1935; folgende Wehrverbände wurden ausdrücklich zu Schutzkorpsverbänden erklärt (BGBl. Nr. 261/1935): der Österreichische Heimatschutz, die Ostmärkischen Sturmscharen, die Wehrzüge der Christlich-deutschen Turnerschaft Österreichs, der Freiheitsbund, die Burgenländisehen Landesschützen. Bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen konnte die österreichische Delegation, der vom Bundesministerium für Landesverteidigung Generalmajor Alfred Jansa, der spätere Chef des Stabes der bewaffneten macht, und Sektionschef Dr. Robert Hecht angehörten, erreichen, daß zwar die Assistenzkörper, nicht aber die Wehrverbände auf den zulässigen Höchststand der Streitkräfte von 30.000 Mann angerechnet wurden; das Bundesheer hatte damals einen Stand von ca. 22.000 Mann (s. hiezu FN 187 und Jedlicka, Heer 102).

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In dieser Regelung wurde auch die Uniform des Bundesheeres und der Heeresverwaltung sowie - in Pflege der altösterreichischen Militärtradition - des k.u.k. Heeres, der k.u.k. Kriegsmarine und der kk. Landwehr unter gesetzlichen Schutz gestellt. Ergänzend hiezu erfolgte später noch eine allgemeine Regelung durch das Uniformschutzgesetz, BGBl. II Nr. 268/1934. Die in der Wehr-Übergangsverordnung bzw. in der Vorläufigen Wehrordnung enthaltenen Änderungen des Wehrrechts folgten der rechtspolitischen Linie, die auf diesem Gebiet seit der Verfassungsreform von 1929 durch die realisierten oder erst vorbereiteten Legislativrnaßnahmen markiert war. Wesentlich war dabei zunächst die Schaffung des Militärassistenzkorps als "eine zeitlich begrenzte Einrichtung" der bewaffneten Macht; sie bedingte deren Gliederung in zwei Teile, das Bundesheer und das Militärassistenzkorps. Entsprechend dieser Organisationsänderung wurde auch die Gruppierung der Heeresangehörigen neu geordnet, und zwar in die Offiziere (Berufsoffiziere), Unteroffiziere (Berufsunteroffiziere und zeitverpflichtete Unteroffiziere) sowie in den Mannschaftsstand, der sich aus kurzdienenden Mannschaftspersonen (A-Mannschaft) und die längerdienenden Mannschaftspersonen (B-Mannschaft) zusammensetzte. Die Regelungen über das Verfügungsrecht, den Oberbefehl und die Befehlsgewalt (Art. 80 B-VG), die schon in der RV Wehrgesetznovelle 1931 vorgesehen waren, fanden Eingang in diese Fassung des Wehrgesetzes. Die Ressortbezeichnung "Heereswesen" wurde durch "Landesverteidigung" ersetzt. Die ständige Parlamentskommission, deren gesetzliche Grundlagen vom VfGH am 4. Juni 1932 als verfassungswidrig aufgehoben worden waren, erhielt keinerlei Nachfolgeeinrichtung. Die Heeresverwaltungsstellen in den Ländern samt den beigegebenen Landtagskommissionen wurden beseitigt; die föderalistischen Elemente der Garnisonierung, jedes Standeskörpers in seinem Werbebereich sowie des Zustimmungsrechts der Landesregierung bei Zuweisung einer im Werbebereich nicht heimatberechtigten Militärperson blieben aber erhalten. Die Werbung wurde der inhaltlichen und organisatorischen Regelung durch das Bundesministerium für Landesverteidigung vorbehalten. Durch die Verordnung der Bundesregierung vom 6. Oktober 1933, BGBl. Nr. 464, betreffend die Wahlen für die Personalvertretung in der bewaffneten Macht, wurde das Wahlrecht i~ Bereich der Interessenvertretung der Soldaten bis zur Neuregelung dieses Bereiches auf der Grundlage der Verfassung 1934 beseitigt. 196 Damit wurde im Wehrrecht auf dem seit der Verfassungsreform von 1929 beschrittenen Weg - Abkehr von parlamenta196 Siehe hiezu die Verlängerung der Geltungsdauer der Verordnung BGBl. Nr. 464/1933 durch die Verordnung BGBl. I Nr. 49/1934 und durch das Bundesgesetz BGBl. II Nr. 252/1934 sowie die Neuregelung in der Wehrgesetznovelle 1934, BGBl. II Nr. 440.

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rischen Mitwirkungsregelungen und von kollegial eingerichteten Organen, Stärkung des monokratischen Gefüges - ein weiterer, wesentlicher Schritt gesetzt. Das Wehrrecht hatte sich schrittweise den leitenden Grundsätzen der Verfassung 1934 genähert. 4. Wehrrecht des Bundesstaates

Die ersten wehrrechtlichen Gesetze nach dem Inkrafttreten der Verfassung 1934 wurden noch nicht von dem als Gesetzgebungsorgan neu vorgesehenen BT, sondern auf der Grundlage des weiterhin geltenden Bundesverfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung, BGBl. Nr. 255/1934, von der Bundesregierung beschlossen. Nachdem es sich bei dem Bundesgesetz, betreffend die Schaffung von Titularchargen für Mannschaftspersonen der bewaffneten Macht, BGBl. II Nr. 231/1934, und der Novelle zur Militäruniformverordnung BGBl. II Nr. 251/1934, lediglich um Dienstgradregelungen gehandelt hatte, enthielt die Wehrgesetznovelle 1934, BGBl. II Nr. 440/1934, wesentliche Wehrrechtsänderungen. 197 Die neuen Bestimmungen betrafen neben Anpassungen an die veränderten Verfassungsnormen für den militärischen Bereich vor allem die "öffentlich-rechtliche Sonderstellung der Militärpersonen" sowie die "Kameradschaft der Angehörigen der bewaffneten Macht" als eine Fachkörperschaft i. S. d. Bundesgesetzes über die Einrichtung des Berufsstandes der öffentlichen Bediensteten, BGBl. II Nr. 294/ 1934 und der Verordnung BGBl. II Nr. 377/1934. Allen Militärpersonen des Präsenzdienstes wurde die Zugehörigkeit zu Vereinen, die politischen Ziele dienen, untersagt; die Mitgliedschaft in nichtpolitischen Vereinen war an eine generelle oder individuelle "Freigabeerklärung" des zuständigen Vorgesetzten, das Recht zur Teilnahme an Versammlungen an bestimmte gesetzliche Beschränkungen bzw. an eine militärdienstliche Bewilligung gebunden. Den Kasern- bzw. Lagerkommandanten war für den militärischen Dienstbereich eine Verbotsbefugnis hinsichtlich Zeitungen und anderer Druckwerke eingeräumt. Die erwähnte "Kameradschaft" übernahm als berufsständige Einrichtung im wesentlichen den Wirkungskreis der bisherigen Vertrauensmänner bzw. der bisherigen Personalvertretung mit einer Gliederung dieses Berufszweiges in die Dienstgruppen der Offiziere, der Unteroffiziere und der zeitverpflichtenden Militärpersonen. Ihre Organe wurden nicht durch Wahl, sondern durch Ernennung auf Grund von Dreiervorschlägen gebildet, die auf der niedrigsten Vertretungs ebene unmittelbar von den Heeresangehörigen, auf den höheren Vertretungsebenen 197 Siehe hiezu Pemthaler, Rechtsstaat 52 ff.; ferner die 1. Durchführungsverordnung zur Wehrgesetznovelle 1934, BGBl. Nr. 212/1935; über die Behandlung der Militärkameradschaftsnovelle im BT s. die Steno Prot. BT 1937 (RV 169/ Ge dBlg., 541, 542).

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von den Kameradenvertretern des jeweiligen Bereiches zu erstatten waren. Der Bundesminister für Landesverteidigung war zur Absetzung von Funktionären der Kameradschaft berechtigt, "wenn sie die aus militärischen Rücksichten zu fordernde Eignung für die übertragene Funktion vermissen lassen". Das Inkrafttreten der Bestellungsregelung war allerdings dem Verordnungswege vorbehalten; bis dahin waren die Funktionäre vom Bundesminister für Landesverteidigung frei zu bestellen und abzuberufen. Die nach der Wehrgesetznovelle 1934 und der Verordnung BGBL II Nr. 377/ 1934 geltende Gliederung in getrennte Kameradschaften entsprechend der berufsständischen Trennung in "Berufstätige" (präsent dienende Angehörige der bewaffneten Macht) und "Berufszugehörige" (Pensionisten samt Familienangehörigen und versorgungsberechtigte Hinterbliebene des Berufsstandes) wurde durch die Militärkameradschaftsnovelle BGBL Nr. 230/ 1937 197 beseitigt und die Interessenvertretung im militärischen Bereich zusammengefaßt. Mit dem Bundesgesetz über die begünstigte Einstellung von arbeitslosen abgerüsteten Angehörigen des freiwilligen Schutzkorps und des Militärassistenzkorps, BGBL Nr. 165/1935, wurden im Sinne einer sozialpolitischen Hilfestellung für diesen Personenkreis gewerbliche Betriebe, staatliche Monopolbetriebe, land- und forstwirtschaftliche "sowie alle sonst auf Gewinn oder Erwerb berechneten Betriebe" mit mindestens 25 Arbeitnehmern verpflichtet, auf eine Arbeitnehmerquote dieser Größe ("Pflichtzahl ") je einen der erwähnten ehemaligen Schutzkorps- oder Assistenzkorpsangehörigen (mit einer Mindestdienstzeit von 6 Monaten seit 1. August 1934) einzustellen. 198 Diese Einstellungspflicht wurde durch die Novelle BGBL Nr. 172/1936 noch erweitert. Dem Bundesgesetz über das Erfordernis einer militärischen Ausbildung für die Aufnahme in den öffentlichen Dienst, BGBL Nr. 233/1935,199 lagen wehrpolitische Überlegungen hinsichtlich des Wehrdienstes im Rahmen der staatlichen Verwaltung insgesamt, im besonderen aber Bestrebungen zugrunde, ihn nicht überwiegend als "ein Unterkommen in der Not der Arbeitslosigkeit" (Berichterstatter Dr. Mohr im BT, 13. Juni 1935) erscheinen zu lassen. Das Bundesgesetz, betreffend die Ableistung des Präsenzdienstes auf eigene Kosten durch Angehörige des Militärassistenzkorps, BGBL Nr. 423/1935,200 bildete eine neue Grundlage für eine Wehrdienstregelung in Anlehnung an das System der "Einjährig-Freiwilligen" im Wehrrecht der Monarchie. 198 Siehe hiezu auch FN 195. 199 Über die Behandlung dieses Bundesgesetzes s. die Steno Prot. BT 1935 (RV 26 / Ge dBlg., 78, 79). 200 Diese Bundesgesetze wurden nicht vom BT, sondern auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. I Nr. 255/1934 von der Bundesregierung beschlossen.

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In der Fortführung der schon 1931 in ersten Ansätzen vorgesehenen Eingliederung von Verwendungsbereichen, die bisher einen Teil der Heeresverwaltung gebildet hatten, in das Heer, wurden durch das Bundesgesetz über die Einteilung des Offizierskorps in Standesgruppen (Offizierskorpsgesetz), BGBL Nr. 470/1935,200 die Standesgruppen "Offiziere des Soldatenstandes" und "Offiziere der Sonderdienste" geschaffen. Zu den Offizieren der Sonderdienste zählten verschiedene Dienstzweige bestimmter Fachrichtungen, wie die Militärgeistlichen, die Offiziere des Sanitätsdienstes, des Ingenieurdienstes, des Intendanzdienstes u. a. Das Offizierkorpsgesetz traf zu dieser neuen Gliederung in komplexer Weise auch die entsprechenden Regelungen auf gehaltsgesetzlichem, wehrgesetzlichem und disziplinarrechtlichem Gebiet. Ergänzend hiezu bedurfte es aber noch einer Heeresbeamtendisziplinarnovelle, BGBL Nr. 68/1936,201 mit der den Konsequenzen, die sich aus der Überstellung eines großen Teiles von Militärbeamten in das Offizierkorps für die Funktionsfähigkeit der Disziplinarrechtspflege im Bereich der Militärbeamten ergaben, Rechnung getragen wurde. Einem gleichen Zweck diente in der Folge auch das Bundesgesetz BGBL Nr. 121/1937 hinsichtlich der Disziplinarrechtspflege in der bewaffneten Macht. 202 Auf dem Gebiet der Strafgerichtsbarkeit fand der militärische Bereich insofern eine besondere Regelung, als nach dem Militärschöffengesetz, BGBL Nr. 118/1935, (novelliert durch das Bundesgesetz BGBL Nr. 398/1935) bei den Schwurgerichten und Schöffengerichten zur Behandlung und Entscheidung über Anklagen in Militärsachen den Senaten als Schöffen ausschließlich Militärpersonen des Präsenzstandes ("Militärschöffen") anzugehören hatten. Mit dem Bundesgesetz BGBL Nr. 94/1935 200 wurde das Gesetz RGBL Nr. 86/1905, betreffend den Militärvorspann im Frieden entsprechend den aktuellen Bedürfnissen novelliert und mit der Verordnung BGBL Nr. 369/ 1935 wiederverlautbart. Die als Kern der Bundesdienstpflicht mit dem Bundesdienstpflichtgesetz, BGBL Nr. 102/1936, im Verfassungsrang eingeführte Wehrpflicht wurde nach Art. 3 leg. cit. entsprechend den dort normierten Grundsätzen in den Jahren 1936 bis 1938 durch sieben Verordnungen des Bundeskanzlers im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministern - somit nicht im Wege der neuen Gesetzgebung - geregelt. 203 Nach diesen Bestimmungen umfaßte die Dienstpflicht in der bewaffneten Macht einen regelmäßigen Präsenz201 Über die Behandlung dieses Bundesgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1936 (RV 58/ Ge dBlg. 277 /278). 202 Über die Behandlung dieses Bundesgesetzes im BT S. die Steno Prot. BT 1937 (RV 140/ Ge dBlg. 496). 203 Siehe die L-VIL Verordnung zum Bundesdienstpflichtgesetz BGBL Nr. 176/ 1936, 285/1936,286/1936, 397/1936, 26/1937, 89/1937, 30/1938.

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dienst von einem Jahr Dauer sowie Reserve- und Ersatzreservedienstpflichten. Zu den Reservepflichten zählten insbes. die Verpflichtungen zum Präsenzdienst in den verfassungsgesetzlich normierten Einsatzfällen zum Schutz der Grenzen und zur Assistenz im sicherheitspolizeilichen Bereich sowie zur Leistung von "Waffenübungen bis zur Gesamtdauer von 20 Wochen, verteilt auf höchstens 4 Wochen in einem Jahr"; für Ersatzreservisten war im wesentlichen eine Ausbildung von drei Monaten Dauer und die Pflicht zum Präsenzdienst in den erwähnten Einsatzfällen vorgesehen, im übrigen waren für die Dienstpflichtigen in der bewaffneten Macht ("DMannschaft") Regelungen hinsichtlich einer freiwilligen Präsenzdienstverlängerung, eines Aufschubes des Präsenzdienstes aus Studien- oder sonstigen Berufsausbildungsgründen, hinsichtlich Befreiungen aus öffentlichen Interessen, ferner hinsichtlich der Besoldung, der Arbeitsplatzsicherung und anderer sozialrechtlicher Belange teils durch ausdrückliche Bestimmungen, teils im Wege einer sinngemäßen Anwendung bereits geltender wehr- und sozialrechtlicher Vorschriften getroffen. Durch die VII. Verordnung zum Bundesdienstpflichtgesetz, BGBl. Nr. 30/1938, wurde der regelmäßige Präsenzdienst der Dienstpflichtigen - ausgenommen Maturanten und Absolventen bestimmter künstlerischer Bildungsstätten - auf 18 Monate verlängert. Infolge der Einführung einer Wehrdienstpflicht war die zunächst auch für die Ahndung von Pflichtverletzungen der Dienstpflichtigen in der bewaffneten Macht geltende Strafe der Entlassung nicht mehr zielführend geworden. Mit dem Militärstrafrechtsänderungsgesetz, BGBl. Nr. 364/ 1936,204 wurde daher diese Strafe für den Bereich des Strafgesetzes und des militärischen Disziplinarrechtes auf Offiziere, Unteroffiziere und die längerdienende Mannschaft beschränkt. Gleichzeitig wurden für die kurz dienenden Heeresangehörigen die Disziplinarstrafen Disziplinararrest und strenger Disziplinararrest sowie Disziplinarhaft und strenge Disziplinarhaft mit einem Höchstmaß von 30 Tagen eingeführt. Entlassene Heeresangehörige blieben mit dem niedersten Mannschaftsdienstgrad in der Reserve bundesdienstpflichtig. Das Offiziers-Ehrenratsgesetz, BGBl. Nr. 365/1936,205 knüpfte - dem traditionellen Wehrrechtsgefüge der Monarchie folgend - an eine Bestimmung der Vorläufigen Wehrordnungan, in der diese Einrichtung bereits vorgesehen war. In der RV ist diesbezüglich bemerkt: "Die Wiedereinführung des ehemaligen ehrenrätlichen Verfahrens, von der sich eine raschere, dem Offiziersempfinden nach Inhalt und Form einwandfrei gerecht wer204 Über die Behandlung des Militärstrafrechtsänderungsgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1936 (RV 97/ Ge dBlg. 338, 339). 205 Über die Behandlung des Offiziers-Ehrenratsgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1936 (RV 98/ Ge dBlg., 339, 340).

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dende Austragung ehrenrätlicher Angelegenheiten der Offiziere erWarten läßt, soll nun nicht länger aufgeschoben bleiben." Als Folge einer ehrenrätlich festgestellten Verletzung der Standesehre wurde der Verlust des Dienstgrades normiert. Die Abgrenzung des Wirkungskreises der Ehrenräte von dem der Disziplinarkommissionen war durch die "ehrenrätliche Vorschrift", die der Bundesminister für Landesverteidigung zu erlassen hatte, zu bestimmen. Für die Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere wurde mit dem Bundesgesetz über die Dienstbezüge der Berufsmilitärpersonen, BGBL Nr. 310/ 1936,206 eine umfassend neue Besoldungsregelung getroffen. Dabei wurde aus militärischen Gründen normiert, daß die Anzahl der Dienstposten dieser Berufsmilitärpersonen und ihre Gliederung nicht im Bundesvoranschlag bestimmt, sondern "im Rahmen der im Bundesvoranschlag hiefür zur Verfügung gestellten Mittel von der Bundesregierung festgesetzt" wird. Die entsprechende Regelung für zeitverpflichtete Unteroffiziere und Mannschaftspersonen sah das Bundesgesetz, womit die Bestimmungen des Heeresgebührengesetzes 1932, BGBL Nr. 29/1933, über die Festsetzung der Stände und Dienstposten abgeändert werden, BGBL Nr. 366/1936,207 vor. In den Erläuternden Bemerkungen der RV ist hiezu ausgeführt: "Alle Staaten sind bestrebt, den Stand, den der Ausbau ihrer Wehrmacht jeweils erreicht hat, möglichst geheim zu halten. Es werden daher Ausweise über die militärischen Stände im allgemeinen nicht veröffentlicht werden; denn aus diesen Ständen kann ein militärischer Fachmann weitgehend Schlüsse auf die Organisation und die Rüstungsbereitschaft eines Heeres ziehen."

Ausdrücklich "für den Kriegsfall" getroffene Sonderregelungen bildeten die Bundesgesetze BGBL Nr. 2/1936 und 150/1936,206 betreffend die Übertragung besonderer militärischer Aufgaben an die Organe der Bundesgendarmerie und der Bundespolizei. In knapper Form war damit bestimmt, daß diese Organe "ausnahmsweise auch mit besonderen militärischen Aufgaben betraut werden" konnten; die mit solchen Aufgaben betrauten Gendarmerie- bzw. Polizeiorgane waren militärischen Dienststellen zu unterstellen. Mit dem Bundesgesetz über die "Vaterländische Front", BGBL Nr. 160/ 1936,208 wurde innerhalb dieser Einrichtung "eine uniformierte, nach mili206 Diese Bundesgesetze wurden nicht vom BT, sondern auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. I Nr. 255/1934 von der Bundesregierung beschlossen. 207 Über die Behandlung dieses Bundesgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1936 (RV 99/ Ge dBlg., 340). 208 Diese Bundesgesetz wurde nicht vom Bundestag, sondern auf Grund des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. I Nr. 255/1934 von der Bundesregierung beschlossen. Nach § 1 dieses Gesetzes war die Vaterländische Front "der politische

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tärischem Muster eingerichtete Formation (Frontmiliz)" auf freiwilliger Grundlage geschaffen und mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet. Personen, die in der bewaffneten Macht Dienst leisteten oder im öffentlichen Sicherheitsdienst tätig waren, durften der Frontmiliz nicht angehören. Mit der Verordnung BGBl. Nr. 248/1936 wurde den Angehörigen des Schutzkorps die Möglichkeit einer Überleitung in die Frontmiliz auf Grund freiwilliger Meldung eröffnet und die sinngemäße Anwendung der für das Schutzkorps geltenden Vorschriften auf die Frontmiliz normiert. Die in der Verordnung BGBl. Nr. 261/1935 zu Schutzkorpsverbänden erklärten Wehrverbände wurden durch das Bundesgesetz über die Auflösung der freiwilligen Wehrverbände, BGBl. Nr. 335/1936,209 mit Wirkung vom 10. Oktober 1936 aufgelöst. Damit war außerhalb staatlicher Einrichtungen bzw. des öffentlichrechtlichen Verbandes der Vaterländischen Front militärischen Formationen kein Raum mehr gegeben. Auch die Frontmiliz sollte schließlich im folgenden Jahr in die bewaffnete Macht eingegliedert werden. Vorher wurden aber noch auf wehrrechtlichem Gebiet vom BT das Bundesgesetz über den Bildungsgang der Berufsoffiziere der bewaffneten macht (Offiziersvorbildungsgesetz), BGBl. Nr. 69/1937,210 das Bundesgesetz, womit im Interesse der Landesverteidigung die Herstellung von Lichtund Laufbildern und sonstiger bildlicher oder graphischer Darstellungen beschränkt wird, BGBl. Nr. 122/1937,211 das Bundesgesetz über das Züchten, Halten und Schulen von Brieftauben (Brieftaubengesetz), BGBl. Nr. 123/1937,212 und das Titularchargengesetz, BGBl. Nr. 161/1937,213 beschlossen. Das Offiziersvorbildungsgesetz regelte die Bildungsvoraussetzungen und die militärische Ausbildung der Berufsoffiziere einschließlich der Generalstabsausbildung sowie der verschiedenen akademischen Ausbildungsvoraussetzungen und militärfachlichen Ausbildungen für Offiziere der Sonderdienste. Das sog. "Bildbeschränkungsgesetz" und das Brieftaubengesetz normierten zur Wahrung der militärischen Interessen in diesen Verband öffentlichen Rechtes" mit Rechtspersönlichkeit und "der einzige Träger der politischen Willensbildung im Staate". (Vgl. das Bundesgesetz vom 1. Mai 1934, BGBl. II Nr. 4, betreffend die "Vaterländische Front"); hiezu auch die Verordnung BGBl. Nr. 248/1936. 209 Dieses Gesetz wurde nicht vom BT, sondern auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. I Nr. 255/1934 von der Bundesregierung beschlossen, s. hiezu FN 187. 210 Über die Behandlung des Offiziersvorbildungsgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1937 (RV 136/ Ge dBlg., 489, 490. 211 Über die Behandlung dieses Bundesgesetzes im BT S. die Steno Prot. BT 1937 (RV 141/ Ge dBlg., 496, 497). 212 Über die Behandlung des Brieftaubengesetzes im BT S. die Steno Prot. BT 1937 (RV 143/ Ge dBlg., 497, 498). 213 Über die Behandlung des Titularchargengesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1937 (RV 149/ Ge dBlg., 505, 506).

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Sachgebieten entsprechende Verbots- bzw. Bewilligungskompetenzen des Bundesministers für Landesverteidigung. Durch das Titularchargengesetz wurde die Dienstgradregelung des Bundesgesetzes BGBl. II Nr. 231/1934 in einem erweiterten Umfang neu gestaltet. In Ausführung des Bundesverfassungsgesetzes über die Eingliederung der Frontmiliz in die bewaffnete Macht, BGBl. Nr. 227/1937, wurde vom BT am 8. Juli 1937 das Bundesgesetz, womit nähere Bestimmungen über die Eingliederung der Frontmiliz in die bewaffnete Macht getroffen werden (Frontmilizgesetz), BGBl. Nr. 232/1937,214 beschlossen. Nach dieser Regelung wurde die Frontmiliz im Wege freiwilliger Meldung gebildet und ergänzt; sie trat als Teil der bewaffneten Macht neben das "stehende Heer" (Bundesheer und Militärassistenzkorps) und war in die "allgemeine Miliz" und in die "Sondermilizen" gegliedert. Ein "Generalkommandant" der Frontmiliz, der dem Bundesminister für Landesverteidigung unterstellt war, wurde auf Vorschlag der Bundesregierung (oder des von ihr ermächtigten Bundesministers) vom Bundespräsidenten ernannt. Der allgemeinen Miliz waren "Milizkader" aus dem stehenden Heer beigegeben. Die Aufbietung der allgemeinen Miliz wie auch der Sondermilizen zu den verfassungsgesetzlichen Einsatzzwecken der bewaffneten Macht (Art. 95 Abs. 1 und 2 der Verfassung 1934, gleichlautend mit Art. 79 Abs. 1 und 2 B-VG i. d. F. von 1929) verfügte der Bundeskanzler. Im Falle der Aufbietung sowie beim Auftreten der allgemeinen Miliz gemeinsam mit dem Heer fanden insbes. Art. 95 Abs. 2 und 4 der Verfassung 1934, gleichlautend mit Art. 79 Abs. 2 und 4 B-VG i. d. F. von 1929, sowie die für das stehende Heer geltenden Vorspann- und Einquartierungsvorschriften Anwendung. Soweit für einzelne Sachgebiete, wie etwa die Besoldung, die Arbeitsplatzsicherung oder die Invalidenversorgung, nicht Regelungen durch Verweisung auf andere Gesetze oder Rechtsverordnungen des Wehrrechts bzw. durch modifizierende Bestimmungen zu diesen Wehrrechtsvorschriften getroffen wurden, überließ das Frontmilizgesetz - durchaus vergleichbar der Wehrrechtsordnung der Monarchie - weite Bereiche einer Regelung "durch Dienstvorschrift". Die Aufstellung der Sondermilizen war vom Bundesminister für Landesverteidigung im Einvernehmen mit dem "nach ihrem Sonderzweck zuständigen Bundesminister" bzw. mit der nach diesem Zweck zuständigen Landesregierung (Stadt Wien) zu verfügen. Diese Sondermilizen (z. B. Eisenbahnmiliz, bestimmte Betriebsmilizen) hatten "besondere Aufgaben im Rahmen jener Einrichtungen zu erfüllen, für welche oder innerhalb 214 Hinsichtlich des zitierten Bundesverfassungsgesetzes s. FN 144; über die Behandlung des Frontmilizgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1937 (RV 172 / Ge dBIg., 544, 545); in der Begutachtung des Gesetzentwurfes war vom Bundeswirtschaftsrat angeregelt worden, die "Frontmiliz" als "Landwehr" zu bezeichnen; diesem Vorschlag wurde aber in der Folge nicht nähergetreten. 4 7 Parlamentarismus

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welcher sie aufgestellt worden sind". Im übrigen waren die näheren Regelungen über die Sondermilizen "durch Dienstvorschrift" zu treffen. Durch das Bundesgesetz über die Aufstellung eines Militärbeamtenkorps (Militärbeamtengesetz), BGBl. Nr. 458/1937,215 wurden Beamte bestimmter Verwendungsbereiche der Heeresverwaltung - in Anknüpfung an ein vergleichbares System in der Monarchie - zu einer Kategorie "Militärbeamte" zusammengefaßt (Militärapothekerdienst, Militärland- und -forstwirtschaftsdienst, Militärwirtschaftsdienst u. a.). Das Bundesgesetz über die militärische Impfpflicht (Militärimpfgesetz), BGBl. Nr. 56/1938,216 bildete eine gesundheitspolitische Maßnahme im militärischen Bereich, die vor einer beabsichtigten allgemeinen Regelung getroffen wurde, um damit den besonderen Bedingungen des militärischen Dienstes Rechnung zu tragen, aus denen sich beim Auftreten von Epidemien eine erhöhte Gefährdung der Soldaten ergibt. Die Impfpflicht galt für die Angehörigen des stehenden Heeres und der zum Schutz der Grenzen oder zur sicherheitspolizeilichen Assistenz aufgebotenen Frontmiliz, darüber hinaus aber auch für Gendarmeriebeamte und für Polizeiorgane, die nach den Bundesgesetzen BGBl. Nr. 2/1936 und 150/1936 mit besonderen militärischen Aufgaben betraut und militärischen Dienststellen unterstellt sind. Wenige Wochen, nachdem der BT dieses Bundesgesetz am 24. Februar 1938 beschlossen hatte, endete mit dem "Anschluß" auch die österreichische Wehrgesetzgebung, das deutsche Wehrrecht wurde im "Land Österreich" stufenweise eingeführt, die bewaffnete Macht Österreichs wurde in die deutsche Wehrmacht eingegliedert. 217 III. 1955 -1993 1. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Grundlagen

Unter Berufung auf die Moskauer Deklaration der Alliierten aus dem Jahre 1943 218 wurde von österreichischer Seite in der "Unabhängigkeitserklärung" vom 27. April 1945, StGBl. Nr. 1, die Wiederherstellung der de215 Über die Behandlung des Militärbeamtengesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1937 (RV 208/ Ge dBlg., 706, 707). 216 Über die Behandlung des Militärimpfgesetzes im BT s. die Steno Prot. BT 1938 (RV 221/Ge dBlg., 726-728). 217 Siehe hiezu FN 145. 218 In der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 erklärten Großbritannien, die Sowjetunion und die USA die Wiederherstellung eines freien, unabhängigen und demokratischen Österreich zu einem Kriegsziel der Alliierten; Frankreich folgte dieser Deklaration mit der Erklärung des französischen National-Verteidigungsausschusses in Algier am 16. November 1943.

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mokratischen Republik Österreich und ihre Einrichtung im Geiste der Verfassung von 1920 verkündet. Ähnlich wie die Provo NV im Jahre 1918 nahm 1945 eine provisorische Staatsregierung nicht nur die oberste Vollziehungsgewalt, sondern vorerst auch die ausschließliche Gesetzgebung für das ganze Staatsgebiet in Anspruch. 219 Das Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über das neuerliche Wirksamwerden des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fa,ssung von 1929 (Verfassungs-Überleitungs gesetz - V-ÜG), StGBl. Nr. 4, bestimmte, daß "das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 sowie alle übrigen Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Bundesgesetzen enthaltenen Verfassungsbestimmungen nach dem Stande der Gesetzgebung vom 5. März 1933" wieder in Wirksamkeit gesetzt werden. Das Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr.6, über die Wiederherstellung des Rechtslebens in Österreich (Rechts-Überleitungsgesetz R-ÜG) setzte im übrigen alle "Gesetze und Verordnungen, die nach dem 13. März 1938 für die Republik Österreich oder ihre Teilbereiche erlassen wurden", bis zur Neugestaltung der einzelnen Rechtsgebiete als österreichische Rechtsvorschriften - sofern sie nicht "mit dem Bestand eines freien und unabhängigen Staates Österreich oder mit den Grundsätzen einer echten Demokratie unvereinbar sind", dem Rechtsempfinden des österreichischen Volkes widersprechen oder typisches Gedankengut des Nationalsozialismus enthalten (§ lIeg. cit.) - in vorläufige Geltung. Mit dem Gesetz vom 20. Juli 1945, StGBl. Nr. 94, über die Überleitung der Verwaltungsund Justizeinrichtungen des Deutschen Reiches in die Rechtsordnung der Republik Österreich (Behörden-Überleitungsgesetz - Behörden-ÜG) wurde die erforderliche Regelung hinsichtlich der Vollziehungseinrichtungen getroffen. Dennoch war Österreich noch nicht wieder zum souveränen Staat geworden. Eine Regime der Besatzungsmächte unterwarf die österreichische Gesetzgebung und Vollziehung der übergeordneten Entscheidungsund Kontrollbefugnisse des "Alliierten Rates". 220 219 Die provisorische Staatsregierung wurde von Vertretern der Sozialistischen Partei Österreichs, der Österreichischen Volkspartei und der Kommunistischen Partei Österreichs gebildet, Staatskanzler war Dr. Karl Renner; sie wurde durch das Memorandum des Alliierten Rates vom 20. Oktober 1945 anerkannt. In der Vorläufigen Verfassung,' StGBl. Nr. 5/1945, wurde die provisorische Staatsregierung "bis zum Zusammentritt der auf Grund des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Verhältniswahlrechts neu bestellten Volksvertretung" als "das oberste Organ der Republik Österreich" bestimmt, dem "die einheitliche Leitung der staatlichen Gesetzgebung und der obersten staatlichen Vollziehung für alle Teilbereiche des Staates" zukam. 220 Das Regime der Besatzungsmächte in Österreich war durch das 1. Kontrollabkommen vom 4. Juli 1945, später durch das 2. Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946 geregelt; diese Abkommen wurden zwischen den Regierungen der Besatzungsmächte, nicht jedoch mit Österreich abgeschlossen. Österreich hat gegen die Fortdauer der militärischen Besetzung, die jeder völkerrechtlichen Grundlage entbehrte, wiederholt protestiert und die Einschränkung seiner Souveränität durch das Besatzungsregime formell nicht anerkannt, sondern als Tatsache einer höheren Gewalt

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Für den militärischen Bereich bestanden auf Grund der erwähnten Rechtsüberleitung entsprechende Grundlagen auf verfassungsrechtlicher, nicht aber auf einfachgesetzlicher Ebene. Da das deutsche Wehrrecht gem. § 1 des Rechts-Überleitungsgestzes und der Kundmachung der Staatsregierung vom 3. Juli 1945, StGBl. Nr. 50, über die Aufhebung des deutschen Wehrrechtes (9. Kundmachung über die Aufhebung von Rechtsvorschriften des Deutschen Reiches) außer Kraft getreten war, frühere österreichische Rechtsvorschriften aber nicht gem. § 1 Abs. 3 R-ÜG an die Stelle der aufgehobenen deutschen getreten sind, war dieses Rechtsgebiet auf der Grundlage des B-VG in der Fassung von 1929 völlig neu aufzubauen. Ein erster Ansatz für die Entwicklung eines neuen österreichischen Wehrrechts war im Behörden-Überleitungsgesetz enthalten. Durch dieses Gesetz wurden im Rahmen der provisorischen Staatsregierung der Staatskanzlei "bis zur Errichtung eines selbständigen Staatsamtes für Heerwesen" Zuständigkeiten in militärischen Angelegenheiten übertragen, die zunächst von einem Unterstaatssekretär für Heerwesen in der Staatskanzlei wahrgenommen werden sollten. 221 Mit den Beschlüssen vom 30. November und vom 10. Dezember 1945 verbot jedoch der "Alliierte Rat als oberste Macht in Österreich" jegliche militärische Tätigkeit. 222 Dies bedeutete den völligen Entzug der Wehrhoheit. In der 2. Behörden-ÜberleitungsgesetzNovelle, BGBL Nr. 64/1946, wurde diesem Umstand durch die Beseitigung der Kompetenz der Staatskanzlei (nunmehr Bundeskanzleramt) in militärischen Angelegenheiten Rechnung getragen. Erst mit dem Staatsvertrag vom 15. Mai 1955, BGBL Nr. 152, betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich 223 erlangte Österreich seine Wehrhoheit wieder. gewertet. Nach dem Kontrollabkommen waren alle Gesetzesbeschlüsse und internationalen Abkommen vor ihrer Publikation und Inkraftsetzung dem Alliierten Rat zur Genehmigung vorzulegen. Bei Verfassungsgesetzen bedurfte es der schriftlichen Zustimmung dieses Organs, bei anderen Gesetzen und internationalen Abkommen galt die Zustimmung als erteilt, wenn der Alliierte Rat der österreichischen Regierung nicht binnen 31 Tagen nach Einlangen der Vorlage seinen Einspruch mitteilte; eine Publikation dieser Rechtsvorschriften war erst nach Ablauf der Frist zulässig. Verwaltungsmaßnahmen unterlagen voll der Kontrolle des Alliierten Rates, sie waren auf dessen Einspruch jederzeit rückgängig zu machen oder abzuändern. Siehe hiezu Admamovich, Handbuch 29 ff.; Spanner, Entwicklung in Schambeck, B-VG Entwicklung 46; Walter, Bundesverfassungsrecht 41 f.; Klecatsky / Morscher, Das österreichische Bundesverfassungsrecht (1982) 59 f. 221 Siehe hiezu auch § 13 des Beamten-Überleitungsgesetzes, StGBl. Nr. 134/ 1945, und das Berufsmilitärpersonengesetz, StGBl. Nr. 154/1945; zur "Demobilisierung" der Angehörigen der deutschen Wehrmacht österr. Staatsangehörigkeit s. das Demobilisierungsgesetz, StGBl. Nr. 24/1945, und das Berufsmilitärpersonengesetz. 222 Der Wortlaut des Beschlusses vom 10. Dezember 1945 ist zitiert in Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 17 f. (dort Anm. 76). 223 Über die parlamentarische Behandlung des Staatsvertrages s. die Steno Prot. NR, VII. GP 1955 (RV 517 dBlg., AB 519 dBlg.; 3080, 3096-3145) und die Steno Prot.

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Dieser Staatsvertrag von 1955 bewirkte in seinen Art. 12 bis 15 gewisse Beschränkungen auf militärischem Gebiet, doch sind diese keineswegs mit den weitreichenden Ein~chränkungen der Wehrhoheit durch den Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye vergleichbar; Art. 17 bietet im übrigen die Möglichkeit von Abänderungen durch Abkommen Österreichs mit den Alliierten und Assoziierten Mächten 224 oder mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. In der RV des Staatsvertrages von 1955 ist zu diesen Bestimmungen einleitend ausgeführt: "Die militärischen und Luftfahrtbestimmungen des Teiles 11 beschränken die Wehrhoheit Österreichs, die das Attribut jedes souveränen Staates ist, nur in unwesentlicher Weise ... Österreich wird seine Wehrfassung (allgemeine Wehrpflicht, Miliz oder Söldnerheer) völlig frei bestimmen können. Das Fehlen wesentlicher Beschränkungen seiner Wehrhoheit ermöglicht Österreich nunmehr die Beobachtung einer auch militärisch gesicherten Neutralität." Die militärischen Bestimmungen des Staatsvertrages wurden mit dem Verbot des Dienstes in den österreichischen Streitkräften für bestimmte Personenkreise und dem Verbot der Herstellung von Kriegsmaterial 225 deutschen Entwurfes sowie dem Verbot des Erwerbs und Besitzes von Kriegsmaterial deutscher Erzeugung, deutschen Ursprungs oder deutschen Entwurfes (ausgenommen für Zwecke der Ausrüstung des neuen Bundesheeres beschränkte Mengen der nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich verbliebenen Bestände) in erster Linie auf die Unabhängigkeit Österreichs gegenüber Deutschland und die Verhinderung einer Wiederaufrüstung Deutschlands ausgerichtet. Eine weitere Beschränkung erfolgte durch ein Verbot von "Spezialwaffen", die in der Z 1 des Art. 13 aufgezählt sind, wie insbes. Atomwaffen, sonstige Massenvernichtungswaffen und als lit. c "irgendeine Art von selbstgetriebenen oder gelenkten Geschossen, Torpedos sowie Apparaten, die für deren Abschuß und Kontrolle dienen". Das zuletzt erwähnte Waffenverbot - das sog. "Raketenverbot" - wurde wiederholt im Hinblick auf den Begriffsinhalt der verwendeten Ausdrücke BR 1955 (2360-2383); gern. seinem Art. 38 ist der Staatsvertrag am 27. Juli 1955 in Kraft getreten, seine Publikation erfolgte am 30. Juli 1955; die Alliierten Streitkräfte wurden in Übereinstimmung mit Art. 20 des Staatsvertrages mit 25. Oktober 1955 aus Österreich zurückgezogen, das 2. Kontrollabkommen (s. hiezu FN 220) verlor mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrages seine Wirksamkeit. Zur Vorgeschichte des Staatsvertrages s. Ermacora, Österreichs Staatsvertrag und Neutralität (1957) 10 ff., zu den militärischen Bestimmungen 75 f.; ferner Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 71 ff. 224 Die "Alliierten Mächte" sind die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich, die den Staatsvertrag mit Österreich abgeschlossen haben, die "Assoziierten Mächte" sind jene Staaten, die dem Vertrag gern. Art. 37 beigetreten sind; s. hiezu Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 75 (dort Anm. 4). 225 Eine Definition des Begriffes "Kriegsmaterial" i. S. d. Staatsvertrages und eine Liste der davon erfaßten Waffen-, Munitions- und Ausrüstungsgegenstände bilden den Annex I des Staatsvertrages.

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diskutiert, zumal nach dem allgemeinen waffentechnischen Entwicklungsstand Lenkwaffen eine Standardausrüstung zur Panzerbekämpfung und in der Luftabwehr, somit im Bereich der Defensivwaffen, bilden. Aus der Entstehungsgeschichte dieses Waffenverbots im Zusammenhang mit Verbotsbestimmungen gleicher Art in den Friedensverträgen der Alliierten mit Italien (Art. 51), Bulgarien (Art. 13), Rumänien (Art. 14), Ungarn (Art. 15) und Finnland (Art. 17), aus der Titelbezeichnung "Verbot von Spezialwaffen" für den Art. 13 des österreichischen Staatsvertrages sowie aus dem systematischen Zusammenhang und der Art der dort aufgezählten Waffen samt Abschuß- und Kontrolleinrichtungen ergibt sich die Interpretation der "selbstgetriebenen oder gelenkten Geschosse" als weitreichende Offensivwaffen (strategische Fernkampfmittel). Wie die historischen Quellen, technische Kriterien und deren rechtliche Ausprägung in den erwähnten Vertragsbestimmungen erkennen lassen, war das "Raketenabwehrverbot" 1947 und 1955 - offenbar unter dem Eindruck der während des Zweiten Weltkrieges durch die deutsche Wehrmacht entwickelten und eingesetzten "V-Waffen" - gegen Offensivwaffen der erwähnten Art gerichtet, 226 nicht aber gegen defensive Standardbewaffnung auf der Ebene taktischer Gefechtsfeldwaffen, über die Italien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Finnland schon seit geraumer Zeit verfügen, und zwar ungeachtet der zitierten Verbotsbestimmungen in den Friedensverträgen von 1947 und ohne Protest der Signatarmächte dieser Verträge. Auf dieser Abgrenzung beruht offensichtlich auch die Aussage in der RV des Staatsvertrages, die zu Art. 13 lautet: "Die Bestimmungen dieses Artikels stellen wohl eine Beeinträchtigung militärischer Vorsorgen dar, fallen aber nicht so sehr ins Gewicht, da die österreichischen Streitkräfte nur rein defensiven Aufgaben zu dienen haben." Die Ausrüstung des österreichischen Bundesheeres erfolgte allerdings auf diesem Gebiet zurückhaltend, zumal von österreichischer Seite kein Interesse bestand, die Interpretation einer unpräzisen, anderen Verträgen nachgebildeten Formulierung in eine allgefällige Revisionsproblematik münden zu lassen. Die Waffenverbote des Art. 13 wurden aber bereits anläßlich der parlamentarischen Behandlung des Staatsvertrages am 7. Juni 1955 vom Berichterstatter im NR, Abg. Dr. Lujo Toncic-Sorinj, als "nicht sehr sinnvolle Bestimmungen in diesem Vertrag" bezeichnet. Eine Auseinandersetzung mit den militärischen Souveränitätsbeschränkungen insgesamt ist jedoch in einer politisch und rechtlich geänderten Situation nur mehr historisch relevant geworden. 226 Siehe hiezu Rudol! Hecht, Militärische Bestimmungen in den Friedensverträgen von 1947, Österr. Militärische Zeitschrift 1979, 377 ff.; ferner Die Entstehung des Raketenverbotes in den Friedensverträgen von 1947, in Studien und Berichte (Landesverteidigungsakademie) April 1977 sowie Vetschera, Die Rüstungsbeschränkungen des Österreichischen Staatsvertrages aus rechtlicher und politischer Sicht, Österr. Militärische Zeitschrift 1985, 500 ff.

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Seit dem Abschluß des Staatsvertrages von 1955 sind nämlich als Folge wesentlicher politischer Veränderungen in Europa auch die für die Souveränitätsbeschränkungen Österreichs durch die militärischen und Luftfahrtbestimmungen dieses Vertrages maßgeblichen Voraussetzungen weggefallen. Sowohl in der Anwendungspraxis der letzten Jahre als auch vor allem im Abschluß des "Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" vom 12. September 1990 hat sich die geänderte Rechtsüberzeugung der Signatarstaaten Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich manifestiert, wonach die Verpflichtungen Österreichs insbes. im Zusammenhang mit einer "Verhinderung der deutschen Wiederaufrüstung" hinfällig geworden sind. Die Übereinstimmung der Rechtsauffassung der Signatarstaaten und Österreichs in dieser Frage bewirkt, daß die militärischen und Luftfahrtbestimmungen des Staatsvertrages von 1955 (Art. 12 bis 18) - ebenso wie Art. 22 Z 13 mit analoger Zielsetzung - nicht mehr gelten, weil sie obsolet geworden sind. Die Verpflichtung, keine atomaren, biologischen oder chemischen Waffen herzustellen, zu besitzen oder zu Versuchen zu verwenden, bleibt für Österreich aber auf Grund anderer völkerrechtlicher Vertragsbindungen (so inbes. die Verträge BGBL Nr. 258/ 1970 und 432/1975) aufrecht. Von der Bundesregierung wurde am 6. November 1990 ein entsprechender Beschluß über die Feststellung der Ob soleszenz der erwähnten Bestimmungen des Staatsvertrages gefaßt und in der Folge die diesbezügliche Mitteilung den vier Signatarstaaten auf diplomatischem Wege zur Kenntnis gebracht. Angesichts der Natur eines völkerrechtlichen Vertrages als besondere Rechtsquelle im innerstaatlichen Recht erlischt die innerstaatliche Wirksamkeit dieser Bestimmungen - ungeachtet ihres Ranges in der Rechtsordnung - mit dem Ende der völkerrechtlichen Geltung, ohne daß es hiezu eines speziellen Rechtsaktes bedarf; die Mitteilung an die Signatarstaaten stellt keinen normativen Akt mit konstitutiver Wirkung für das Außerkrafttreten der Bestimmungen dar. Im Anschluß an die Genehmigung des Staatsvertrages hat der NR am 7. Juni 1955 auf Antrag des Hauptausschusses einstimmig eine Entschließung gefaßt, in der die Bundesregierung aufgefordert wurde, "dem Nationalrat den Entwurf eines die Neutralität regelnden Bundesverfassungsgesetzes vorzulegen, alle Schritte zu unternehmen, um die endliche Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen, um die Österreichs bereits angesucht hat, zu erreichen, sobald der österreichische Staatsvertrag in Kraft getreten ist und Österreich von den Besatzungstruppen geräumt sein wird, dieses Gesetz allen Staaten mit dem Ersuchen um Anerkennung der Neutralität Österreichs mitzuteilen".227 In diesem Zusammenhang wurde 227 Antrag der Abg. Dr. Alfred Maleta, Dr. Bruno Pittermann, Dr. Herbert Kraus, Koplenig und Genossen, betreffend die Erklärung der Neutralität Österreichs (An-

trag 161/ A, s. die Steno Prot. NR, VII. GP 1955, 520 dBlg.; 3145-3164).

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auch bereits mehrfach auf den besonderen militärischen Aspekt hingewiesen, der sich für Österreich aus der Erklärung der dauernden Neutralität innerstaatlich und völkerrechtlich ergibt. 228 Entsprechend der zit. Entschließung erfolgte die innerstaatlich und völkerrechtlich verbindliche Erklärung der dauernden Neutralität Österreichs im Wege des Bundesverfassungsgesetzes vom 26. Oktober 1955, BGBL Nr. 211, über die Neutralität Österreichs 229 und dessen Notifikation gegenüber allen Staaten, mit denen Österreich diplomatische Beziehungen unterhielt. Mit den im Gesetzestext ausgesprochenen Verpflichtungen, Österreich werde seine immerwährende Neutralität "mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen" sowie "in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen", wurden wesentliche Teile der militärischen Pflichten im Rahmen des allgemeinen Neutralitätsrechtes in diese innerstaatliche Verfassungsnorm gefaßt. Diese Neutralitätspflichten, auf deren Erfüllbarkeit in einem Kriegsfall der dauernd neutrale Staat schon im Frieden durch entsprechende Maßnahmen und Vorkehrungen Bedacht zu nehmen hat, ergeben sich aus dem V. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges, RGBL Nr. 181/1913, und dem XIII. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Seekrieges, RGBL Nr. 188/ 1913, aus den Genfer Abkommen vom 12. August 1949, BGBL Nr. 155/ 1953, sowie aus dem einschlägigen völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht. 230 Zu den militärischen Neutralitätspflichten zählen - aus dem Grundsatz der Nichtteilnahme an Kriegshandlungen und der Unparteilichkeit - insbes. die Pflichten zur Selbstverteidigung und zur Bündnislosigkeit, die Pflicht keine Benützung neutralen Gebietes einschließlich des Luftraumes für kriegerische Maßnahmen, Stützpunkte, Nachrichtenanlagen oder Depots sowie keinen Transit von Truppen, Munitions- und Verpflegungskolonnen zu dulden, ferner die Pflicht zur Internierung von Kombattanten, die auf neutrales Gebiet übertreten. Der neutrale Staat hat zur Erfüllung seiner Pflichten alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen. Wie Alfred Verdroß in diesem Zusammenhang ausdrücklich feststellt, "kann sich ein Staat nicht damit entschuldigen, daß die Gesetzgebung der Regie228 Siehe hiezu in den Steno Prot. NR, VII. GP 1955, insbes. die Ausführungen der Abg. Dr. Lujo Toncic-Sorinj (3145 f.), Dr. Alfons Gorbach (3153 f.), Dr. Bruno Pittermann (3155 ff.). 229 Über die parlamentarische Behandlung des "Neutralitätsgesetzes" die Steno Prot. NR, VII. GP 1955 (RV 598 dBlg., AB 626 dBlg.; 3444, 3686-3716) und die Steno Prot. BR 1955 (2568-2578); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 85 ff. 230 Zum Neutralitätsrecht s. insbes. Verdroß, (FN 116) 480 ff.; ferner Verosta, Die dauernde Neutralität (1967) 12 ff., 44 ff.

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rung nicht die nötigen Verteidigungsmittel bewilligt hat, da jeder Staat für alle seine Organe verantwortlich ist". Die Neutralitätspflichten finden aber entsprechend dem allgemeinen Rechtsgrundsatz "ultra posse nemo tenetur" - wie jegliche völkerrechtliche Pflicht - ihre Grenze an der Selbsterhaltung des verpflichteten Staates. Ein neutraler Staat ist daher beispielsweise seiner völkerrechtlichen Verantwortlichkeit enthoben, wenn er es unterläßt, mit einer Atomladung ausgerüstete Flugzeuge oder Lenkwaffen, insbes. auch Marschflugkörper, in seinem Luftraum abzuschießen. Eine unbewaffnete Neutralität dauernd neutraler Staaten ist jedoch - abgesehen vom Sonderfall des dauernd neutralen Staates der Stadt des Vatikans - nach dem geltenden Völkerrecht nicht zulässig. 231 Daß die dauernde Neutralität keine "ideologische Neutralität" einschließt, wurde seitens der österreichischen Regierung und des österreichischen Parlaments von Anfang an deutlich festgestellt. So ist diesbezüglich in der RV des "Neutralitätsgesetzes" unter Hinweis auf das Beispiel der Schweiz ausgeführt: "Die geistige und politische Freiheit des einzelnen, insbesondere die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung, wird durch die dauernde Neutralität des Staates nicht berührt. Daß die Neutralität nicht zur ideologischen Neutralität verpflichtet, ergibt sich unter anderem daraus, daß die Neutralität den Staat, nicht aber den einzelnen Staatsbürger bindet." Da aber Staat und Staatsvolk nach außen hin eine Einheit darstellen, muß - wie im Jahre 1967 der spätere Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger als a. o. Gesandter und bev. Minister in einem Referat vor dem Österreichischen Juristentag erklärte, 232 "der einzelne dort, wo sein Verhalten für die Erfüllung einer völkerrechtlichen Pflicht des Staates wesentlich ist, d. h. wo das Verhalten des einzelnen dem Staat zugerechnet wird, sich in diese Pflicht einordnen.... Dem einzelnen Normunterworfenen muß aber die Möglichkeit geboten werden, durch verfassungsmäßig zustande gekommene Rechtsvorschriften genau informiert zu sein, wann im Neutralitätsfalle eine Beschränkung seines Tuns und Handeins zu erwarten ist, und wann nicht." Solche Rückwirkungen der dauernden Neutralität auf das interne Recht sind in Österreich beispielsweise Normen über eine Genehmigungspflicht der Ausfuhr von Kriegsmaterial oder strafgesetzliche Normen, die be231 Zur Abgrenzung der militärischen Neutralitätspflichten s. insbes. Verdroß, (FN 116) 487; Verosta, (FN 230) 74; ferner auch Korkisch, Marschflugkörper: Funktion und Möglichkeiten der Bekämpfung, Österr. Militärische Zeitschrift 1984, 213 ff. 232 Zur Rückwirkung der dauernden Neutralität auf das interne Recht Österreichs s. die Referate von Kirchschläger und Pahr zum Thema "Der österreichische Status der dauernden Neutralität und seine Rückwirkung auf das interne Recht des dauernd neutralen Staates", in Verhandlungen des Dritten Österreichischen Juristentages 1967, II 2. Teil 5 ff. und 23 ff.; als Beispiele s. das Bundesgesetz über die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial, BGBI. Nr. 540/1977, (novelliert durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 358/1982) und § 320 StGB ("Neutralitätsgefährdung").

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stimmte Verhaltensweisen als eine Gefährdung der Neutralität unter Strafsanktion stellen. 232 Im übrigen ist durch das "Neutralitätsgesetz" der Gesetzgebung und der Vollziehung sowohl des Bundes als auch der Länder verfassungsrechtlich die Verpflichtung auferlegt, ihre staatlichen Aufgaben unter BeachtpIlg der dauernden Neutralität zu besorgen, insbesondere die schon im Fri~en notwendigen Vorkehrungen für den Neutralitätsfall zu treffen. Dazu zählt angesichts der Bedeutung der militärischen Neutralitätspflichten vor allem auch eine entsprechende Wehrgesetzgebung. Die Frage der Wehrbereitschaft nach zwei Weltkriegskatastrophen hatte der Abg. Dr. Ernst Kore! bereits anläßlich der Genehmigung des Staatsvertrages durch den NR mit einem Ausblick auf den künftigen Status Österreichs als dauernd neutraler Staat behandelt: "Bei leidenschaftsloser Betrachtung und Beurteilung des Problems wird man zugeben müssen, daß es die moralische Verpflichtung eines jeden freien und unabhängigen Staates ist, Vorsorge für die Verteidigung seiner Freiheit und Unabhängigkeit zu treffen, auch dann, wenn sich ein Staat zur Neutralität entschließt. Ja gerade diese legt ihm - man denke an die Schweiz und an Schweden die Verpflichtung auf, seine Neutralität unter Schutz zu stellen, aber nicht bloß unter den Schutz der anderen, sondern auch unter seinen eigenen Schutz. Es handelt sich hier um ein Recht der Notwehr, das auch in den Satzungen der Vereinten Nationen anerkannt ist und daher für jeden neutralen Staat zur Pflicht wird." Die Aufgaben des Bundesheeres nach Art. 79 B-VG erfuhren durch die dauernde Neutralität inhaltlich keine Änderung, doch traten hinsichtlich der Art ihrer Erfüllung die neutralitätsrechtlichen Bedingungen neu hinZU. 233 Hinsichtlich des Art. 38 B-VG, wonach die Kriegserklärung der Bundesversammlung in öffentlicher Sitzung obliegt, könnte man geneigt sein, diese Verfassungsnorm angesichts der dauernden Neutralität Österreichs als überholt und damit als "totes Recht" zu qualifizieren; dennoch könnte einer solchen Erklärung im Falle eines völkerrechtlichen Unterganges der Neutralität durch einen gegen Österreich gerichteten Angriff im Sinne einer eindeutigen Deklaration dieses Aggressionsaktes nach außen etwa als "Feststellung des eingetretenen Verteidigungsfalles" - Bedeutung zukommen. Hinsichtlich der Verfügung über das Bundesheer durch den Bundesminister für Landesverteidigung nach Art. 80 B-VG bestand zunächst eine Ermächtigung der Bundesregierung vom 21. Juli 1959, die in der Folge durch die Ermächtigung der Bundesregierung vom 28. Juni 1966 (mit einer Änderung vom 9. Mai 1967) ersetzt wurde. Sie bestimmt im wesentlichen, 233 Siehe hiezu auch den durch das Bundesverfassungsgesetz BGBL Nr. 368/ 1975 dem B-VG neu eingefügten Art. 9 a.

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daß der Bundesminister für Landesverteidigung den Einsatz des Bundesheeres gegen Bedrohungen von außen auf Grund von Richtlinien zu verfügen hat, die von der Bundesregierung im jeweiligen Bedarfsfall zu beschließen sind; diese Bindung gilt nicht für Einsatzvorsorgen, wie die notwendigen Bereitschafts-, Alarmierungs- und Sicherungsmaßnahmen, für die Beobachtung des Luftraumes sowie für den Fall, daß die Bundesregierung nicht rechtzeitig zur Beschlußfassung zusammentreten kann. Die Ermächtigung wurde in einem Bericht des Bundeskanzlers dem NR vorgelegt, im Verfassungsausschuß beraten und vom Plenum am 23. Juni 1967 einstimmig zur Kenntnis genommen. 234 Sie wurde schließlich durch eine neue Ermächtigung vom 6. November 1984 ersetzt, die sich von der aus dem Jahre 1966 vor allem durch eine stärkere Bindung und Informationspflicht des Bundesministers für Landesverteidigung unterscheidet; ein Bericht an den NR ist hinsichtlich dieser Ermächtigung nicht erfolgt. Auf diesen Grundlagen des Staatsvertrages von Wien, der verfassungsgesetzlich verankerten dauernden Neutralität und des B-VG von 1920 i. d. F. 1929 wurde das neue österreichische Bundesheer nach dem System der allgemeinen Wehrpflicht eingerichtet, wobei diese zunächst nur einfachgesetzlich normiert und erst 20 Jahre nach der Wiedererlangung der Wehrhoheit auf verfassungsgesetzlicher Ebene festgelegt worden ist. 235 Aus der allgemeinen Wehrpflicht ergab sich hinsichtlich der Grundrechte der Heeresangehörigen und der wehrpflichtigen Staatsbürger eine geänderte Perspektive gegenüber der diesbezüglichen Rechtslage für die Heeresangehörigen von 1920. 236 Im besonderen trat dabei die Frage der Abgrenzung des Grundrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit hinsichtlich der Wehrpflicht als einer staatsbürgerlichen Pflicht in den Vordergrund, der nach Art. 14 Abs.2 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867, durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen darf. Nach der herrschenden gesellschaftlichen Auffassung, die ein wesentlicher Maßstab für die sachliche Rechtfertigung diesbezüglich differenzierender Bestimmungen ist, wurde durch eine einfachgesetzliche Regelung Wehrpflichtigen, die aus ihrem ernsthaften religiösen Bekenntnis oder aus Gewissensgründen die Anwendung von Waffengewalt unter allen Umständen ablehnen, eine Wehrdienstleistung ohne Waffe ermöglicht; seit 1975 gilt für diesen Personenkreis ein verfassungsgesetzlich verankertes Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung mit der Verpflichtung, anstelle des Wehrdienstes einen zivilen Ersatzdienst zu leisten. 237 Siehe die Steno Prot. NR, XI. GP (AB 577 dBlg.; 4860). Siehe § 1 Abs. 1 und 2 des Wehrgesetzes, BGBl. Nr. 181/1955, und FN 255 sowie Art. 9a Abs. 3 B-VG und FN 246. 236 Siehe hiezu FN 137. 237 Siehe hiezu die §§ 25 bis 28 des Wehrgesetzes, BGBl. Nr. 181 / 1955, § 2 Abs. 1 des Zivildienstgesetzes, BGBl. Nr. 187/1974, und Art. 9a Abs. 3 B-VG sowie die FN 234

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Eine weitere Modifikation der Wehrpflicht unter dem erwähnten grundrechtlichen Gesichtspunkt bildet die einfachgesetzlich normierte Befreiung von der Stellungspflicht (und damit von der Präsenzdienstpflicht) für bestimmte Funktionsträger einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft und die einer solchen angehörenden Studierenden der Theologie in Vorbereitung auf ein geistliches Amt. 238 Das Konkordat BGBl. II Nr. 2/1934 bildet als völkerrechtliche Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich im Rahmen des österreichischen Staatskirchenrechts auch für die neue Wehrverfassung gemeinsam mit den grundrechtlichen Verfassungsnormen und speziellen kirchenrechtlichen Regelungen eine wesentliche Grundlage der katholischen Militärseelsorge. 239 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Apostolische Konstitution "Spirituali Militum Curae" vom 21. April 1986; mit ihr ist nämlich an die Stelle der bis dahin "vikarischen" Struktur der katholischen Militärseelsorge, in der die Militärvikare die personale Jurisdiktion über den jeweiligen Militärvikariatsbereich im Namen des Papstes, des Ordinarius aller dieser Bereiche, ausgeübt hatten, die eigenständige Jurisdiktion des vom Papst ernannten Militärordinarius (Militärbischof) über die nun als Militärordinariate (Feldordinariate) bezeichneten bisherigen Militärvikariate getreten. 240 Die Geltung bestehender Vereinbarungen 255 und 246; s. ferner zur Waffendienstverweigerung Pernthaler, Rechtsstaat 210 ff.; Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht (1972) 109 f.; zur Wehrdienstverweigerung Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht (1984) 15 f. Zur weiteren Entwicklung, insbes. über die Zivildienstgesetz-Novelle s. FN 304. 238 Siehe § 24 Abs. 3 des Wehrgesetzes 1978, BGBl. Nr. 150; s. hiezu auch can. 289 des Codex Iuris Canonici vom 25. 1. 1983; s. Pernthaler, Rechtsstaat 210 f; Gampl, (FN 237) 183 ff. 239 Siehe hiezu Art. VIII des Konkordates mit den Bestimmungen des Zusatzprotokolles zu Art. VIII § 1, can. 451 § 3 des Codex Iuris Canonici vom 27.5.1917, can. 569 des Codex Iuris Canonici vom 25. 1. 1983, die Instructio de Vicariis Castrensis "Sollemne semper" der Konsistorialkongregation vom 23.4. 1986; im Zuge des Aufbaues des Bundesheeres hat die Bundesregierung entsprechend den maßgeblichen staats-, völker- und kirchenrechtlichen Grundlagen am 4. 10. 1951 und die Apostolische Konstitution "Spirituali Militum Curae" vom 21. 4. 1986; die Errichtung einer katholischen Militärseelsorge beschlossen; s. im übrigen hinsichtlich der Militärseelsorge auch Pernthaler, Rechtsstaat 210; Gampl, (FN 237) 39 ff, 237 f; Pree, (FN 237) 65. 240 Nach der Apostolischen Konstitution "Spirituali Militum Curae" kommt dem Militärordinarius, der nach Maßgabe des Art. II § 1 "sämtliche Rechte der Diözesanbischöfe genießt und an ihre Verpflichtungen gebunden ist", die personale, ordentliche und eigenständige Jurisdiktion über den abgegrenzten Personenkreis des militärischen Bereiches (Art. I, IV, V und X) kumulativ zur Jurisdiktion des Diözesanbischofs zu; die in Militärordinariate umgewandelten bisherigen Militärvikariate werden "rechtlich den Diözesen angeglichen" (Art. I § 1); im Bundesheer nimmt als Generalvikar des Militärbischofs der ranghöchste Offizier des Militärseelsorgedienstes mit dem Amtstitel (Dienstgrad) "Militärgeneralvikar" die Leitung des Militärordinariates wahr; der erste Militärvikar nach der Wiedererlangung der Wehrhoheit war Kardinal Dr. Franz König, zum ersten Militärordinarius von Österreich wurde

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zwischen dem Heiligen Stuhl und den einzelnen Staaten - so auch die Geltung des vorerwähnten Konkordates - bleibt durch diese Neuordnung im übrigen unberührt (Art. I § 1 der Konstitution). Die Grundlage der evangelischen Militärseelsorge bildet im Zusammenhang mit den einschlägigen Grundrechtsregelungen das Bundesgesetz vom 6. Juli 1961, BGBl. Nr. 182, über die äußeren Rechtsverhältnisse der Evangelischen Kirche. In diesem Gesetz ist unter anderem ausdrücklich normiert, daß die Ausübung der Seelsorge an den evangelischen Angehörigen des Bundesheeres durch den Bund der Evangelischen Kirche (AB und RB) zu gewährleisten ist (§ 17 leg. cit). Im zwischenstaatlichen Bereich haben seit 1955 mehrere Abkommen, die das Wehrwesen betreffen, Eingang in die österreichische Rechtsordnung gefunden. Hiezu zählen in erster Linie die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutz der Opfer de!? Krieges, BGBl. Nr. 155/1953, mit den beiden Zusatzprotokollen zu diesen Abkommen, BGBl. Nr.527/ 1982, das Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer) Waffen und von Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen, BGBl. Nr. 432/1975, und das Übereinkommen über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können, BGBl. Nr. 464/1983. 241 Das Übereinkommen BGBl. Nr. 464/1983, in dessen Präambel u. a. auch auf eine neue Verbotsnorm zum Schutz der natürlichen Umwelt hingewiesen wird, umfaßt ein Verbot hinsichtlich "nichtentdeckbarer Splitter" sowie Verbote bzw. Einschränkungen des Einsatzes von Minen, Sprengfallen und ähnlichen Vorrichtunam 12.11. 1986 Bischof Dr. Alfred Kostelecky ernannt, der erste Militärgeneralvikar des Bundesheeres war Prälat Mag. Josef Leban. 241 Über die parlamentarische Behandlung der vier Genfer Abkommen von 1949 s. die Steno Prot. NR, VII. GP 1953 (RV 66 dBIg., AB 119 dBIg.; 285, 286, 395, 396) und die Steno Prot. BR 1953 (1863-1865), hinsichtlich d. beiden Zusatzprotokolle die Steno Prot. NR, XV. GP 1982 (RV 897 dBIg., AB 1167 dBIg.; 10429, 12476) und die Steno Prot. BR 1982 (16137, 16138), hinsichtlich d. Übereinkommens BGBl. Nr. 432 / 1975 die Steno Prot. NR, XIV. GP 1975 (RV 566 dBIg., AB 684 dBIg.; 5745, 5762,6312-6318) und die Steno Prot. BR 1975 (9430-9435), hinsichtlich d. Übereinkommens BGBl. Nr. 464/1983 die Steno Prot. NR XV. GP 1983 (RV 1118 dBIg., AB 1339 dBIg.; 12507, 14588) und die Steno Prot. BR 1983 (16665-16668); ratifiziert wurden die Genfer Abkommen von 1949 am 27. August 1953, die Zusatzprotokolle am 13. August 1982, das Übereinkommen BGBl. Nr. 432/1972 am 10. August 1973, das Übereinkommen BGBl. Nr. 464/1983 am 14. März 1983, in Kraft getreten sind diese Staatsverträge (in der erwähnten Reihenfolge) am 27. Februar 1954, am 13. Februar 1983, am 26. März 1975 und am 2. Dezember 1983. Zur Problematik einer "verbesserten kriegsrechtlichen Durchdringung der innerstaatlichen Friedlosigkeit" S. Lombardi, Bürgerkrieg und Völkerrecht (1976) insbes. 39 ff., 302 ff. Mit dem Rotkreuzschutzgesetz, BGBl. Nr. 196/1962, wurden die Österr. Gesellschaft vom Roten Kreuz sowie das Rotkreuzzeichen unter staatlichen Schutz gestellt (s. hiezu Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 91 ff.; hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit siehe die Kundmachung BGBl. Nr. 231/1963).

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gen sowie von Brandwaffen, insbes. zum Schutz der Zivilbevölkerung; eine besondere Regelung zum "Schutz der Truppen und Missionen der Vereinten Nationen vor Wirkungen von Minenfeldern, Minen und Sprengfallen" verpflichtet die Konfliktparteien zu entsprechenden Maßnahmen, wie z. B. zur Beseitigung dieser Kampfmittel oder zu ausreichender Information. In der RV ist hiezu ausgeführt: "Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, daß Truppen und Missionen der Vereinten Nationen vielfach in Gebieten tätig werden müssen, in denen kurz zuvor Feindseligkeiten stattgefunden haben und in denen sich noch Minen und Sprengfallen befinden können. Es war daher ein besonderes Anliegen der Kontingente stellenden Staaten, die in der Vergangenheit Minenopfer zu beklagen hatten, darunter auch Österreich, daß für solche Situationen entsprechende Vorsorge getroffen wird .... Subsidiär obliegt es den in diesem Artikel genannten Organen der Vereinten Nationen, für ihren eigenen Schutz zu sorgen, und zwar auf der Grundlage der ihnen von den Konfliktparteien über Aufforderung zu übermittelnden Minenpläne und sonstigen einschlägigen Aufzeichnungen." In der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die von Österreich am 5. August 1958 ratifiziert wurde, am 3. September 1958 in Kraft getreten und im BGBl. am 24. September 1958 unter der Nr. 210 kundgemacht worden ist,242 sind u. a. militärische Dienstleistungen sowie Ersatzdienstleistungen an Stelle des Wehrdienstes im Falle eines Rechtes auf Wehrdienstverweigerung vom allgemeinen Verbot einer Zwangs- oder Pflichtarbeit ausgenommen; die Entscheidung über die Einräumung eines Rechtes auf Wehrdienstverweigerung bleibt der innerstaatlichen Gesetzgebung vorbehalten. Die Konvention vom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten, BGBl. Nr. 58/1964,243 (ratifiziert am 6. März 1964, in Kraft getreten am 25. Juni 1964) enthält Regelungen über einen allgemeinen Schutz und einen Sonderschutz von Kulturgut im Wege von "Bergungsorten" und "Denkmalorten" sowie über eine spezielle Kennzeichnung von Kulturgut. Mit dem Protokoll vom 12. April 1930 über militärische Pflichten in gewissen Fällen doppelter Staatsangehörigkeit, BGBl. Nr. 214/1958,244 (ratifi242 Über die parlamentarische Behandlung der "Menschenrechtskonvention" s. die Steno Prot. NR, VIII. GP 1958 (RV 459 dBlg., AB 509 dBIg.; 2627, 2931-2951) und die Steno Prot. BR (3212-3221). 243 Über die parlamentarische Behandlung der "Kulturgutkonvention" S. die Steno Prot. NR, X. GP 1962 (RV 701 dBIg., AB 758 dBIg.; 4405, 4497, 4498) und die Steno Prot. BR 1962 (4589, 4592). 244 Über die parlamentarische Behandlung des Protokolls BGBL Nr. 214/1958 S. die Steno Prot. NR, VIII. GP 1958 (RV 429 dBIg., AB 452 dBIg.; 2560, 2651, 2652) und die Steno Prot. BR 1958 (3173, 3174), hinsichtlich des Übereinkommens BGBL Nr. 471 / 1975 S. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1975 (RV 1438 dBlg., AB 1524 dBIg.; 13263, 13820, 13821) und die Steno Prot. BR 1975 (10891-10894), hinsichtlich des Vertrages BGBL Nr. 450/1981 s. die Steno Prot. NR, XV. GP 1981 (RV 341 dBlg., AB 616 dBIg.; 3500, 6467, 6468) und die Steno Prot. BR 1981 (14947).

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ziert am 15. Juli 1958, in Kraft getreten am 26. Oktober 1958) sowie mit dem Übereinkommen vom 6. Mai 1963 über die Verminderung der Fälle mehrfacher Staatsangehörigkeit und über die Militärdienstpflicht in Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit, BGBl. Nr. 471 / 1975,244 (ratifiziert am 30. Juni 1975, in Kraft getreten am 31. August 1975) und mit dem Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Argentinischen Republik über die Ableistung des Militärdienstes 'von Doppelbürgern, BGBl. Nr. 450/ 1981,244 (ratifiziert am 3. Septemb~r 1981, in Kraft getreten am 1. Dezember 1981) wurden Regelungen getroffen, nach denen Angehörige der erwähnten Personenkreise ihren Wehrdienst im allgemeinen nur in einem Staat abzuleisten haben. Im Zusammenhang mit den Bemühungen der Vereinten Nationen um die Beseitigung bzw. Eindämmung internationaler Krisenherde entwickelte sich seit der Kongokrise im Jahre 1960 ein System der Hilfeleistung durch die Entsendung von Kontingenten der Mitgliedstaaten, das in der österreichischen Rechtsordnung zu einer besonderen verfassungsrechtlichen Regelung - auch hinsichtlich der Aufgaben des Bundesheeres - führte (vgl. auch den Niederschlag dieser friedenssichernden Maßnahmen im Übereinkommen BGBl. Nr. 464/1983). Sowohl die staatspolitische Bedeutung der Frage, ob einem Ersuchen der Vereinten Nationen um die Entsendung einer österreichischen Einheit entsprochen werden soll, als auch die Rechtsstellung der Angehörigen einer solchen Einheit im Ausland als Träger österreichischer Hoheitsgewalt erforderten die Schaffung geeigneter verfassungsrechtlicher Grundlagen. Mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 30. Juni 1965, BGBl. Nr. 173, über die Entsendung österreichischer Einheiten zur Hilfeleistung in das Ausland auf Ersuchen internationaler Organisationen 245 wurde die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuß des NR zur Entscheidung über ein solches Entsendungsersuchen ermächtigt. Die zu entsendenden Einheiten können auf Grund freiwilliger Meldung aus Angehörigen des Bundesheeres, der Wachkörper des Bundes sowie für den betreffenden Einsatz vertraglich verpflichteten Personen gebildet werden. Diese verfassungsrechtliche Regelung fand in der Folge noch eine nähere Ausführung für den :r;nilitärischen Bereich auf einfachgesetzlicher Ebene. Besondere Bedeutung über den militärischen Bereich hinaus kommt dem Bundesverfassungsgesetz vom 10. Juni 1975, BGBl. Nr. 368, mit dem das BVG i. d. F. 1929 durch die Einfügung von Bestimmungen über die umfassen245 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. Nr. 173/1965 s. die Steno Prot. NR, X. GP 1965 (RV 633 dBlg., AB 759 dBlg.; 4096, 4097) und die Steno Prot. BR 1965 (5630, 5631); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 94 ff; s. ferner FN 241 (Übereinkommen BGBl. Nr. 464 / 1983) und 263 (Bericht über den ersten österr. UN-Einsatz) sowie den Notenwechsel BGBl. Nr. 60/ 1966.

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de Landesverteidigung geändert wird,246 zu. Durch diese Novelle wurde wie schon ihr Titel sagt - der staatspolitischen Zielsetzung "Landesverteidigung" auf verfassungsgesetzlicher Ebene ein umfassender Charakter gegeben, der nicht wie bisher auf die militärische Aufgabenstellung begrenzt ist, sondern in mannigfache Kompetenzen des Bundes und der Länder reicht. In einem neuen Art. 9a wird diese "umfassende Landesverteidigung" - bestehend aus den vier Teilbereichen militärische, geistige, zivile und wirtschaftliche Landesverteidigung - als gesamtstaatliche Aufgabe, "die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neu trali tä t", definiert. In den Erlä u terungen der RV ist hiezu einleitend u. a. ausgeführt: "Diese Konzeption der Landesverteidigung soll nun Gegenstand einer klaren Aussage des Bundesverfassungsgesetzgebers werden, wobei die aus dem Neutralitätsstatus der Republik Österreich sich ergebenden Verpflichtungen besonders zu berücksichtigen sein werden ... Mit einer solchen bundesverfassungsrechtlichen Regelung wird auf normativer Ebene einer Entwicklung Rechnung getragen, die seit der Wiederherstellung ·der vollen Handlungsfähigkeit der Republik Österreich nach Abzug der Besatzungstruppen von den zuständigen Staatsorganen konsequent eingeleitet und weiterverfolgt worden ist." Der Normsetzung selbst ging nämlich eine langjährige Entwicklung voraus, die bereits im Jahre 1959 einsetzte und zunächst in den Beschlüssen der Bundesregierung vom 18. Juli 1961, vom 20. Feber 1962, vom 11. Mai 1965 und vom 14. Juni 1966 ihren strukturellen und organisatorischen Niederschlag fand. Mit dem Bundesministeriengesetz 1973, BGBL Nr. 389, ist in der weiteren Folge dem Bundeskanzleramt die "Koordinierung in Angelegenheiten der umfassenden Landesverteidigung" im Rahmen der "Koordination der gesamten Verwaltung des Bundes" übertragen worden. Hinsichtlich der Länderebene war in der Landeshauptmännerkonferenz am 31. Oktober 1968 die Einrichtung von Landeskoordinationsausschüssen zur Durchführung von Maßnahmen der umfassenden Landesverteidigung beschlossen worden; im Beschluß der Landeshauptmännerkonferenz vom 19. Oktober 1972 bekannten sich die Länder zu den ihnen nach der bestehenden Kompetenzverteilung zukommenden Aufgaben der umfassenden Landesverteidigung.

246 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. Nr. 368/1975 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1975 (RV 1461 dBlg., AB 1643 dBlg.; 13263, 13357, 14243 -14272) und die Steno Prot. BR 1975 (10931-10942), hinsichtlich der Entschließung des NR S. 1643 dBlg., hinsichtlich der des BR S. 1373 dBlg.; s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 25 ff. und Pernthaler, Die Rolle der Länder in der Umfassenden Landesverteidigung, Schriftenreihe des Instituts für Föderalismusforschung (1984) insbes. 42 ff.

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Neben der Normierung der umfassenden Landesverteidigung als gesamtstaatliche Aufgabe wurde im neuen Art.9a B-VG auch die bisher nur einfachgesetzlich festgelegte Wehrpflicht in den Verfassungsrang erhoben, wobei das seit 1. Jänner 1975 als Verfassungsbestimmung im Rahmen des Zivildienstgesetzes, BGBl. Nr. 187/1974, geltende Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, das mit der Pflicht zur Leistung eines Ersatzdienstes ("Zivildienst") verbunden ist, entsprechend seinem sachlichen Zusammenhang mit der Wehrpflicht systemgerecht in denselben Art. des B-VG aufgenommen wurde. Im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Neugestaltung der Verteidigungsaufgabe durch den neuen Art. 9a B-VG erfuhr auch Art. 79 eine Neufassung. 246 Hiebei wurden allerdings die Abs. 1 und 2 dieses Art., in denen die Aufgaben des Bundesheeres genannt sind, inhaltlich nicht verändert, sondern nur im Wortlaut von antiquierten Wendungen befreit sowie deutlicher und übersichtlicher formuliert. Durch die Einleitung der Z. 1 des Art. 79 Abs. 2 wurde eine besondere KlarsteIlung im Hinblick auf die Formen subversiver Kriegsführung getroffen. Die Erläuterung der RV führen hiezu aus: "Es soll aber der Wortlaut des Art. 79 Abs. 2 dahin geändert werden, daß zum Ausdruck kommt, daß der Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Innern auch dem Bereich der militärischen Landesverteidigung zugehören können, nämlich dann, wenn es sich um die Abwehr von Gefahren handelt, die von außen drohen und denen nur mit militärischen Mitteln begegnet werden kann." Im Art. 79 Abs. 1 trat an die Stelle der Wendung "Schutz der Grenzen der Republik" entsprechend der neuen Terminologie im Art. 9 a der Begriff "militärische Landesverteidigung" . Damit ist die militärische Verteidigungsaufgabe des Bundesheeres als militärische Komponente der umfassenden Landesverteidigung in diesen gesamtstaatlichen Aufgabenkomplex eingebettet und an der Definition des Art. 9a meßbar. Ein neuer Abs. 3, nach dem "weitere Aufgaben des Bundesheeres durch Bundesverfassungsgesetz geregelt" werden, nimmt auf mögliche Entwicklungen des Aufgabengebietes Bedacht, wie sie etwa bereits hinsichtlich der Auslandseinsätze im Wege des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. Nr. 173/1965 ihre verfassungsrechtliche Normierung gefunden haben. Einem einstimmig beschlossenen Antrag des Verfassungsausschusses folgend hat der NR am 10. Juni 1975 gemeinsam mit der Beschlußfassung über das Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 368/1975 eine Entschließung zur umfassenden Landesverteidigung (Verteidigungsdoktrin) einstimmig angenommen. 246 Vom BR wurde auf Antrag des Rechtsausschusses ebenfalls einstimmig eine gleiche Entschließung zur Gestaltung der umfassenden 48 Parlamentarismus

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Landesverteidigung nach den dargelegten Grundsätzen an die Bundesregierung gerichtet. Entsprechend ihrem Charakter als Entschließung des NR kommt der Verteidigungsdoktrin zwar keine normative Kraft zu; sie stellt aber eine Absichtserklärung im Sinne einer authentischen Interpretation des Art. 9 a B-VG dar und bildet damit die erforderliche Grundsatzkonzeption im weitgespannten Komplex vielfältiger staatspolitischer Einzelaufgaben der umfassenden Landesverteidigung. In der Verteidigungsdoktrin sind die Grundsätze und Zielsetzungen zusammengefaßt, nach denen die Bundesregierung im Rahmen ihres Aufgabenbereiches die umfassende Landesverteidigung gestalten soll. Die militärische Landesverteidigung ist hiebei als Auftrag des Bundesheeres in Beziehung zu den Bedrohungsfällen näher umschrieben, die schon im Beschluß der Bundesregierung vom 11. Mai 1965 als Maßstäbe für die konkreten Zielsetzungen genannt sind. Ausgehend vom geringsten Gefährdungsgrad, dem "Krisenfall" ("Fall einer internationalen Spannung oder eines Konflikts mit der Gefahr einer Ausweitung auf Österreich"), werden die Grundlinien der jeweils zu treffenden militärischen Maßnahmen dargelegt. Während im Krisenfall diese Maßnahmen darauf ausgerichtet sind, "jedem Versuch einer solchen Ausweitung zu begegnen, die Grenzen zu schützen und die Lufthoheit zu wahren", ist im "Neutralitätsfall" ("Fall einer militärischen Auseinandersetzung in der Nachbarschaft") durch den Einsatz "aktiver Verbände" und "mobilgemachter Reserveverbände" im bedrohten Gebiet "die Aufrechterhaltung der Neutralität zu Land und in der Luft zu ermöglichen", wobei das Eindringen fremder Truppen auf österreichisches Territorium zu verhindern ist und allenfalls übergetretene Teile dieser Truppen zu entwaffnen und zu internieren sind. Für den "Verteidigungsfall" ("Fall eines militärischen Angriffs auf Österreich") gelten folgende Zielsetzungen: Das Bundesheer hat den Auftrag, "den Abwehrkampf an der Grenze aufzunehmen, durch die Mobilmachung die volle militärische Verteidigungsfähigkeit in kürzestmöglicher Zeit zu erzielen und allenfalls verlorengegangene Gebiete zurückzugewinnen". An diesen Aufgabenstellungen haben sich die Führungsgrundsätze, die Gliederung sowie die Ausbildung, Ausrüstung und Versorgung des Bundesheeres zu orientieren. Es ist daher ein in der Verteidigungsdoktrin ausdrücklich genanntes Wesenselement der Heeresorganisation, "daß auch im Frieden sofort einsatzfähige Verbände in angemessener Stärke verfügbar sind". Dazu zählen auch Luftstreitkräfte, Einrichtungen für die Luftraumüberwachung und ein technisches Luftaufklärungsund Fliegerleitsystem, "die den Aufgaben der Verteidigung und des Neutralitätsschutzes entsprechen". Neben einer entsprechenden Behandlung auch der anderen Teilbereiche der umfassenden Landesverteidigung nimmt die Verteidigungsdoktrin noch speziell auf den Fall Bedacht, daß im Zuge eines bewaffneten Konflikts "Teile des Bundesgebietes vorübergehend oder län-

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gerfristig in den Besitz eines Angreifers fallen sollten". Die Bundesregierung ist diesbezüglich aufgefordert, bei den vorbereitenden Maßnahmen zur Verwirklichung der in der Verteidigungsdoktrin dargelegten Zielsetzungen "in Zusammenarbeit mit den Organen der Länder und Gemeinden und mit allen nach ihrem Aufgabenbereich sonst in Betracht kommenden Einrichtungen" inbes. auch für diesen Fall entsprechende Vorsorgen zu treffen. Das förderalistische Gefüge Österreichs und seine Behördenstruktur geben hiebei zweckmäßige Ansatzpunkte. Zur Ausführung der Verteidigungsdoktrin in konkreten Maßnahmen mündet sie mit ihrem letzten Punkt in den Auftrag an die Bundesregierung, "die vorstehend niedergelegten Zielsetzungen der umfassenden Landesverteidigung sowie Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung im Landesverteidigungsplan zusammenzufassen, der vor der Beschlußfassung im Landesverteidigungsrat zu beraten ist". Der Landesverteidigungsplan bildet eine wesentliche Planungsgrundlage für den weiteren Ausbau der umfassenden Landesverteidigung und die hiezu notwendigen Durchführungsmaßnahmen im einzelnen. Die Beratungen über den Landesverteidigungsplan wurden im Landesverteidigungsrat mit den Beschlüssen vom 22. März 1983 und vom 27. Juni 1984 abgeschlossen. Die Bundesregierung hat diesen Landesverteidigungsplan in den Sitzungen am 22. November 1983 und am 19. Juni 1984 angenommen. Im Rahmen einer Teilverwirklichung des "Forderungsprogrammes der Bundesländer" von 1976 wurde im Bundesverfassungsgesetz vom 27. November 1984, BGBl. Nr. 490, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 geändert wird,247 u. a. eine Notstandsregelung geschaffen, die in besonderer Weise auch den militärischen Bereich betrifft. Die diesbezügliche Forderung (Pkt. A 26 des Forderungsprogrammes) war darauf gerichtet, daß dem Landeshauptmann "in außerordentlichen Fällen" die Führung der unmittelbaren Bundesverwaltung zustehen sollte. Zur Begründung wurde im besonderen auf die notwendigen "Vorsorgemaßnahmen der umfassenden Landesverteidigung im Sinne der Verteidigungsdoktrin 1975" hingewiesen. Die genannte B-VG-Novelle trug dem Anliegen der Länder Rechnung, wobei in der Fassung der neuen Bestimmung gegenüber dem Textvorschlag des Forderungsprogrammes die Zielsetzung einer umfassenden Regelung für Notstandsfälle verschiedener Art in einer ähnlichen Regelungen des B-VG entsprechenden Formulierung erkennbar ist. Durch einen neuen Abs.8 des Art. 102 B-VG ist dem Landeshauptmann die Befugnis (und Verpflichtung) übertragen, in Angelegenheiten der unmittelbaren Bundesverwaltung die "zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit" unaufschiebbaren 247 Über die parlamentarische Behandlung dieses Bundesverfassungsgesetzes s. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1984 (RV 446 dBlg., AB 468 dBlg.; 5629-5652) und die Steno Prot. BR 1984 (18158-18208). 48'

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Maßnahmen im Lande an Stelle der obersten Organe der Verwaltung des Bundes zu treffen, wenn diese dazu nicht in der Lage sind. 248 Nach dieser Verfassungsbestimmung kommen auf militärischem Gebiet prinzipiell Maßnahmen des Landeshauptmanns in Ausübung der Verfügungsrechte des Bundespräsidenten bzw. des Bundesministers für Landesverteidigung (so etwa die Verfügung eine personellen Teilmobilmachung 249 oder in Ausübung der Befehlsgewalt dieses Bundesministers, aber auch der sog. Sonderverfügungsrechte, die gern. § 2 des Wehrgesetzes 1978 der Bundesregierung bzw. einzelnen Bundesministern zukommen, in Betracht. Zur Bewältigung einer Notstandssituption i. S. d. Art. 102 Abs. 8 B-VG könnten daher alle Kompetenzen zur Verfüg\.mg über das Bundesheer ,und zu seiner obersten Führung, die sonst entsprechend dem einleitend erwähnten Grundgedanken eines gewaltenteilenden Staatsaufbaues verfassungsrechtlich zwischen dem Bundesminister, der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten aufgeteilt sind, bei einem Organ vereinigt werden. Es ist dabei allerdings zu beachten, daß die Zuständigkeit des Landeshauptmanns nach Art. 102 Abs.8 B-VG nur dann in Betracht kommt, wenn auch die nach den speziellen Vertretungsregelungen für die obersten Organe des Bundes (Art. 64, 69 Abs.2, 73 B-VG) zur Vertretung berufenen Organe wegen höherer Gewalt zur Wahrnehmung der unaufschiebbaren Maßnahmen nicht in der Lage sind; hat das vorgesehene Vertretungsorgan seine Handlungsfähigkeit beibehalten, ist für eine Anwendung des Art. 102 Abs. 8 B-VG kein Raum gegeben. Die Frage, ob das oberste Bundesorgan wegen höherer Gewalt nicht in der Lage ist, die notwendigen Notstandsmaßnahmen zu treffen, wird letztlich im jeweiligen Falle vom Landeshauptmann zu beurteilen sein. Er bildet in seiner Funktion nach Art. 102 Abs. 8 B-VG gegenüber den betroffenen Bundesbehörden im Lande - so im Rahmen der militärischen Angelegenheiten inbes. gegenüber dem Militärkommando an Stelle des obersten Organs der Bundesverwaltung das vorgesetzte Organ (Art. 20 Abs. 1 B-VG) und die instanzenmäßig übergeordnete Behörde. Für die Anwendung des Art. 102 Abs.8 B-VG scheinen allerdings, inbes. für einen Notstandsfall der militärischen Landesverteidigung, noch einzelne näher ausführende Klärungen notwendig. So trifft die zitierte Bestimmung keine spezielle Aussage über die Vorgangsweise in jenen Fällen, in denen ein Gebiet betroffen ist, das auch Teile eines anderen Landes umfaßt oder sich überhaupt auf mehrere Länder erstreckt. Man wird dabei wohl vom Einvernehmen der Landeshauptmänner auszugehen haben. Ferner müßte man hinsichtlich des Wortlauts der Kompetenz "die ... unaufschiebbaren Maßnahmen im Lande ... zu treffen" im Sinne der Zielsetzung dieser: 248 Vgl. die Voraussetzungen für die Erlassung von Notverordnungen des Bundespräsidenten nach Art. 18 Abs. 3 B-VG sowie für ein selbständiges militärisches Einschreiten nach Art. 79 Abs. 5 B-VG. 249 Vgl. § 36 Abs. 3 des Wehrgesetzes 1978, BGBL Nr. 150.

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Bestimmung von einer Interpretation ausgehen, nach der die Maßnahme bestimmte, für ihre Realisierung "im Lande" essentielle Rechtswirkungen auch außerhalb des Landes einschließt. Nur auf Grund einer solchen Abgrenzung der Notstandsregelung wäre es etwa möglich, die Einsatzbereitschaft von Teilen des Bundesheeres in einer bestimmten Region durch eine personelle Teilmobilmachung unter der notwendigen Erfassung organisatorisch eingebundener Wehrpflichtiger aus Gebieten außerhalb des Landes herzustellen. Abgesehen davon stellt Art. 102 Abs. 8 B-VG insgesamt den Ansatzpunkt für die weitere Ausgestaltung eines Notstandsrechtes dar, dem gerade das bundesstaatliche Gefüge eine zweckmäßige Grundlage bietet, um den vielschichtigen Bedürfnissen dieser Materie - vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der komplexen Aufgabenstellung der umfassenden Landesverteidigung - auf verfassungsgesetzlicher wie auf einfachgesetzlicher Ebene gerecht zu werden. Eine Änderung der Verfassungsrechtslage für den Bereich der Landesverteidigung von ähnlich grundlegender Bedeutung wie jene aus dem Jahre 1975, betreffend die umfassende Landesverteidigung und die allgemeine Wehrpflicht, erfolgte mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 23. Juni 1988, BGBl. Nr. 341, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 geändert wird. 250 Die in diesem Bundesverfassungsgesetz enthaltene Ergänzung des Art. 79 B-VG entspricht der sicherheitspolitischen Konzeption der Bundesregierung, zu der Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky in der Regierungserklärung vom 28. Jänner 1988 vor dem NR u. a. folgendes ausgeführt hat: "Gemeinsam mit einer aktiven Außenpolitik bildet die vom österreichischen Volk getragene umfassende Landesverteidigung einen integralen Bestandteil unserer Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung bekennt sich daher zur bewaffneten Neutralität als Beitrag zur Friedenssicherung und -bewahrung in Europa. Grundlage hiefür ist der Landesverteidigungsplan, zu dessen Erfüllung das Bundesheer entsprechend ausgebaut werden muß. Die Bundesregierung bekennt sich zum Milizsystem und zum Konzept der defensiven Raumverteidigung zu Land und in der Luft. Der Milizbegriff soll gesetzlich verankert werden." Diese Zielsetzung der Bundesregierung wurde durch den Bundesminister für Landesverteidigung Dr. Robert Lichal noch dadurch vertieft, daß er Initiativen für eine verfassungsgesetzliche Verankerung der Milizidee als maßgebliches Prinzip der Landesverteidigung gesetzt hat. Einvernehmlich zwischen dem Bundesministerium für Landesverteidigung und dem Bundeskanzleramt wurde der Entwurf einer Änderung des B-VG ausgearbeitet, nach dem Art. 79 Abs. 1 B-VG folgende Fassung erhält: 250 Über die parlamentarische Behandlung dieses Bundesverfassungsgesetzes s. die Steno Prot. NR, XVII. GP 1988 (RV 498 dBIg., AB 594 und 654 dBIg.; 6379, 7234, 7765-7777) und die Steno Prot. BR 1988 (22003-22016).

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,,(1) Dem Bundesheer obliegt die militärische Landesverteidigung. Es ist nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten." Hiezu ist in den Erläuterungen der RV einleitend bemerkt, daß "dieses Vorhaben, seiner Bedeutung und seinem Rang im Stufenbau der Rechtsordnung gemäß der ebenfalls bereits in legistischer Vorbereitung befindlichen wehrrechtlichen Ausprägung eines eigenständigen österreichischen Milizsystems auf einfachgesetzlicher Ebene vorgeordnet werden" soll. In diesem Sinne wurde die RV zunächst gemeinsam mit der in der RV eines: Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 vorgesehenen einfachgesetzlichen Ausprägung des Milizsystems dem Landesverteidigungsausschuß zugewiesen, der einstimmig dem NR die Annahme des Entwurfes empfahl. Die Vorlage wurde jedoch in der Plenarsitzung des NR am 26. Mai 1988 an den Verfassungsausschuß zur Vorberatung verwiesen, um diese Novellierung des Art. 79 Abs. 1 B-VG mit weiteren vorgeschlagenen Änderungen des B-VG in einen Gesetzentwurf zusammenfassen zu können. Die entsprechende Behandlung im Verfassungsausschuß erfolgte am 17. Juni 1988; der in dieser Ausschußsitzung ebenfalls behandelte Antrag des Abg. Wabl und Genossen (51/ A), der auf eine Beseitigung der sicherheitspolizeilichen Assistenzaufgabe des Bundesheeres im Art. 79 Abs. 2 B-VG gerichtet war, fand nicht die Zustimmung der Ausschußmehrheit. Infolge der Verweisung an den Verfassungsausschuß konnte der Gesetzesbeschluß des NR über die verfassungsrechtliche Verankerung des Milizprinzips im Art. 79 Abs. 1 B-VG erst nach der vom NR bereits am 26. Mai 1988 beschlossenen einfachgesetzlichen Ausprägung des Milizsystems gefaßt werden; die Publikation im BGBL erfolgte jedoch am 30. Juni 1988 im Sinne er zitierten Ausführungen der RV. Die Formulierung der neuen Bestimmung im Art. 79 Abs. 1 B-VG trägt dem in den Erläuterungen der RV näher dargestellten Charakter des MilizBegriffes 251 Rechnung, der "ein Begriff von verhältnismäßig hohem Abstraktionsgrad" ist und "in einem breiten Spektrum möglicher Erscheinungsformen unterschiedliche Konkretisierungen" erlaubt. Ungeachtet'der Bildung mannigfacher Arten von Milizsystemen im Zuge historischer und regional unterschiedlicher Entwicklungen ist ihnen aber - wie in den Erläuterungen der RV hervorgehoben wird - jedenfalls gemeinsam

251 Das Wort "Miliz" leitet sich aus dem Lateinischen her (miles = Soldat, militia =Kriegsdienst, Kriegsrnacht) und ist seit dem 17. Jahrhundert über das Französische

("milice") in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen. Es bezeichnet nach einem Wandel seiner ursprünglichen Bedeutung nur im Kriege bestehende Streitkräfte, die in er Regel Selbstschutzkräfte einer Gemeinschaft sind, im Gegensatz zum "stehenden Heer", das als Berufsheer organisiert ist oder zumindest starke berufsmäßige Anteile aufweist. Siehe hiezu auch FN 11.

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eine Gestaltung der Schutz- und Verteidigungsvorkehrungen (zumin..: dest überwiegend) nicht im Wege einer berufsmäßigen Institulion, sondern als Gemeinschaftsaufgabe, die Organisation der Verbände (zumindest überwiegend) nicht als ständig präsente Einrichtungen, sondern in einem nur zur Grundausbildung, zu Übungen und für den Einsatzfall gebildeten Präsenzstand, sowie die geistige Bereitschaft zur ständigen Mitwirkung an der Gemeinschaftsaufgabe der Verteidigung nach Maßgabe der jeweiligen individuellen Möglichkeiten."

Die lange Wehrtradition Österreichs zeigt eine vielfältige Entwicklung verschiedener Milizsysteme. In den Erläuterungen der RV wird auf diese "Landesaufgebote" , "Landesdefensionen", die "Militärgrenze" 252 im Südosten als "Schutzwall" des Reiches, die Tiroler Wehrverfassung 253 sowie auf andere regionale Systeme im städtischen wie im ländlichen Bereich hingewiesen, die - insbes. zur Abwehr der Türken-, Kuruzzen- und Franzosengefahr im 17. und 18. Jahrhundert - auch neben einem zunehmenden Ausbau von Söldnerheeren und einer allgemeinen Entwicklung zum Berufsheer in unterschiedlicher Prägung bestanden. Es handelt sich dabei um Aufgebote mit der Aufgabe des Abwehrkampfes, aber auch um milizartige Strukturen mit Schutz- und Verteidigungs aufgaben anderer Art, wie der Instandhaltung von Fluchtburgen, der Errichtung und Aufrechterhaltung akustischer und visueller Warnsysteme, der Versorgungssicherung etc. Aus 252 Dieses Milizsystem besonderer Art wurde 1538 durch den späteren Kaiser Ferdinand 1. im Gefolge der Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1529 und des Türkeneinfalls in die östlichen Erblande von 1532 geschaffen. Es hatte seine Grundlage in der Ansiedlung von Wehrbauern in den weitgehend entvölkerten Gebieten der "windischen und kroatischen Grenze" mit der "Pflicht zum beständigen Kriegsdienst" und einer Ausstattung dieser "Grenzer" mit bestimmten Privilegien; das System der Militärgrenze wurde seit 1578 durch die Eingliederung von Berufssoldaten im Sinne einer Kadermiliz ausgebaut und reichte in seiner vollen Ausdehnung von der Adria bis Siebenbürgen. Mit einem Manifest Kaiser Franz Josefs 1. vom 15.7.1881 wurde das System der Militärgrenze endgültig aufgelöst. 253 Die Tiroler Wehrverfassung bildet im besonderen das Beispiel eines dauerhaften Milizsystems, das über Jahrhunderte hinweg bis zum Ersten Weltkrieg in einer fließenden Anpassung an das allgemeine Wehrsystem Bestand hatte und wirksam blieb. Seine maßgebliche Grundlage war - aus älteren Wurzeln gewachsen - die "Zuzugsordnung" Kaiser Maximilians 1. von 1511 ("Tiroler Landlibell"); durch das Innsbrucker Libell von 1518 wurde sie in ein umfassendes Landesdefensionssystem der österreichischen Länder eingebunden. Als weitere Entwicklungsstufen sind unter zahlreichen Ergänzungen und Erneuerungen insbes. die verbesserte Zuzugsordnung von 1605, das Sturmpatent von 1647, das Kreidfeuerverzeichnis von 1647, das Zuzugspatent von 1714 und verschiedene Ordnungen für das Schützen- und Schießstandswesen zu nennen; hinsichtlich der jüngeren Entwicklung s. FN 15 und 37. Das Milizsystem der Tiroler Landesverteidigung hat sich insbes. beim Kriegseintritt Italiens im Jahre 1916 bewährt, als die Tiroler Südgrenze zunächst von diesen Kräften allein erfolgreich verteidigt wurde.

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historischen Beispielen dieser Art wird deutlich, daß das Milizprinzip in einem wesensmäßigen Zusammenhang mit der umfassenden Landesverteidigung steht. Schutz und Verteidigung der Gemeinschaft durch eigene Kräfte können nämlich wirksam nur in der komplexen Aufgabenstellung mit den notwendigen Sicherungen und Vorsorgen für den zivilen und wirtschaftlichen Bereich wahrgenommen werden. Auch in diesen Bereichen sind die Milizelemente entsprechender Leistungen des einzelnen auf obligatorischer und freiwilliger Basis unverzichtbar. Bemerkenswert in diesem Sinne ist dabei die typisch miliz artige Struktur von Organisationen des Feuerwehr- und Rettungswesens. Daß die geistige Landesverteidigung ein Wesenselement des Milizprinzips ist, bedarf keiner näheren Erörterung und ergibt sich aus dem erwähnten Idealtypus der Miliz. Ein Milizsystem erschöpft sich nicht in organisatorischen Kriterien, sondern setzt eine Gesinnung voraus, die im besonderen die Leistungsbereitschaft des einzelnen zur Bewältigung der gemeinschaftlichen Verteidigungsaufgabe einschließt. Die Wirksamkeit eines Milizsystems ist daher wesentlich von der Stärke dieser Gesinnung in der Gesellschaft abhängig. Daraus ergibt sich, daß vor allem die geistige Landesverteidigung, aber auch die anderen Bereiche der umfassenden Landesverteidigung (Art. 9a B-VG), von der Milizidee durchdrungen und getragen sein müssen. Bezüglich des Milizcharakters des Bundesheeres unter dem Gesichtspunkt des § 67 des Wehrgesetzes 1978, nach dem eine Bereitschaftsgruppe als organisatorische Komponente ständig einsatzbereiter Streitkräfte mit der Aufgabe normiert ist, "die zunächst erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zur Verteidigung Österreichs, eine geordnete Mobilmachung und die notwendige Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges" sicherzustellen, sowie angesichts sonstiger ständiger Einrichtungen der Heeresorganisation ist in den Erläuterungen der RV folgendes ausgeführt: "Der entsprechend der ,Verteidigungsdoktrin' (Entschließung des Nationalrates vom 10. Juni 1975) ausgearbeitete Landeverteidigungsplan in der Fassung vom 15. Juni 1984 nennt als die beiden Zielsetzungen, die ,den gegenwärtigen Umstrukturierungsprozeß des Bundesheeres' bestimmen: Umstellung auf ein größeres Heer mit milizartigem Charakter; Ausbau der Bereitschaftstruppe. Beide Zielsetzungen stehen ebensowenig zueinander im Widerspruch wie die Existenz einer Bereitschaftstruppe zu einem Milizsystem. Da der eingangs erwähnte Idealtypus der Miliz in Wehrsystemen moderner Staaten praktisch nicht in sinnvoller Weise realisierbar ist, weist jegliches Milizsystem ein gewissen Maß an ständig präsenten Anteilen auf. Ob ein Wehrsystem im Hinblick auf diesen Anteil noch als Milizsystem gelten kann, ist

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daher im Einzelfall nach Art und Höhe des Anteils der ständig präsenten Streitkräfte zu beurteilen. Für das österreichische Bundesheer steht außer Zweifel, daß auf Grund der Relation zwischen Bereitschaftstruppe und nicht ständig präsenten Verbänden die Einsatzorganisation des Bundesheeres insgesamt den eingangs dargestellten Grundsätzen eines Milizsystems entspricht. Überdies enthält die einschlägige Fachliteratur eindeutige Aussagen darüber, daß das Organisationselement einer Bereitschaftstruppe durchaus mit einem Milizsystem vereinbar ist." Das organisatorische Gefüge des Bundesheeres hat bereits seit 1958 Milizkomponenten entwickelt. Es handelte sich dabei zunächst um die sog. Grenzschutzeinheiten, die in der folge durch die Aufstellung territorialer Sicherungskompanien in der Tiefe des Staatsgebietes ergänzt wurden; 1968 erfolgte die Zusammenfassung und Umwandlung dieser Grenzschutz- und Sicherungseinheiten in Landwehrbataillone und Landwehrregimenter unter einem Begriff, mit dem im österreichischen Wehrwesen schon 1808 das allgemeine Milizsystem einer gesamtstaatlichen Territorialverteidigungsorganisation bezeichnet worden ist. Die Bundesheer-Reform von 1970/71 brachte eine weitere, verstärkte Hinwendung zu einem Milizsystem, das sich zum Zeitpunkt seine verfassungsgesetzlichen Verankerung in einem bereits weit fortgeschrittenen, jedoch keineswegs abgeschlossenen Entwicklungsstadium befindet. Darauf wies auch der Abg. Dr. Felix Ermacora in der Plenarsitzung des NR am 23. Juni 1988 hin, indem er unter anderem feststellte: "Daß das Bundesheer milizartig strukturiert wird und wurde, steht schon heute in der Praxis fest. Die verfassungsgesetzliche Regelung schreibt diese Praxis fort ... " Diese verfassungsgesetzliche Verankerung des Milizprinzips für das Bundesheer bildet einen Markstein in der österreichischen Wehrgesetzgebung, der 120 Jahre nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Österreich, nach dem ersten parlamentarisch beschlossenen Wehrgesetz und den ersten parlamentarischen Gesetzesinitiativen hinsichtlich eines allgemeinen Milizsystems in der bewaffneten Macht Österreichs - es waren dies die ersten RV eines Landwehrgesetzes und eines Landsturmgesetzes aus dem Jahre 1868 - von richtungweisender Bedeutung für die weitere Wehrgesetzgebung und darüber hinaus für die umfassende Landesverteidigung insgesamt ist. 2. Die "Stammgesetze" 1955/1956

Nach der Wiedererlangung der Wehrhoheit wurde die Besorgung der Geschäfte der obersten Bundesverwaltung in militärischen Angelegenheiten durch das Bundesgesetz vom 22. Juni 1955, BGBl. Nr. 142, womit der Wirkungsbereich des Bundeskanzleramtes in Angelegenheiten der Landesverteidigung festgesetzt wird, zunächst dem Bundeskanzleramt übertragen.

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Schon im folgenden Jahr ging jedoch mit dem Bundesgesetz vom 11. Juli 1956, BGBl. Nr. 134, über die Errichtung eines Bundesministeriums für Landesverteidigung und über die Neuordnung des Wirkungsbereiches einiger Bundesministerien die dem Bundeskanzleramt zugewiesene Kompetenz in militärischen Angelegenheiten auf das neugeschaffene Bundesministerium für Landesverteidigung über. Erster Bundesminister für Landesverteidigung nach der Wiedererlangung der Wehrhoheit war Ferdinand Graf, der bereits vor dem Jahre 1955 unter den Bedingungen des Besatzungsregimes als Staatssekretär im Bundesministerium für Inneres Vorbereitungen für die Aufstellung eines neuen österreichischen Bundesheeres getroffen hatte. Der Wirkungsbereich des Bundesministeriums für Landesverteidigung fand schließlich gemeinsam mit dem der anderen Ressorts im Bundesministeriengesetz 1973, BGBl. Nr. 389, eine umfassende Regelung. 254 Das Kernstück der Wehrgesetzgebung, das auf einfachgesetzlicher Ebene alle wesentlichen Grundlagen des Wehrsystems sowie die Anknüpfungspunkte für spezielle Regelungen des Wehrrechts, und zwar auch in anderen Rechtsbereichen, wie insbes. im Dienst-, Sozial- und Arbeitsrecht, enthält, ist das Wehrgesetz. Es wurde vom NR am 7. September 1955 als Bundesgesetz, womit Bestimmungen über das Wehrwesen erlassen werden (Wehrgesetz), beschlossen und unter der BGBl. Nr. 181 kundgemacht; es ist mit 22. September 1955 in Kraft getreten. 255 Der Aufbau und Ausbau eines neuen Wehrsystems nach einem langjährigen Entzug der Wehrhoheit sowie mannigfache und rasche Veränderungen auf den für das Wehrwesen maßgeblichen Sachgebieten erforderten in den folgenden Jahren zahlreiche Novellierungen des Wehrgesetzes. Die dadurch bewirkte Unübersichtlichkeit des Rechtsbestandes ließ bisher zweimal eine Wiederverlautbarung geboten erscheinen, die im Jahre 1978 unter der BGBl. Nr. 150 und im Jahre 1990 unter der BGBl. Nr. 305 erfolgte. In der zuletzt wiederverlautbarten Fassung führt das Wehrgesetz nunmehr die Bezeichnung "Wehrgesetz 1990 -WG". Das 1955 im Wehrgesetz festgelegte Wehrsystem beruht auf der allgemeinen Wehrpflicht und sieht ein Rahmen- bzw. Kaderheer vor, das sich aus dem Kader und den Präsenzdienst leistenden Wehrpflichtigen zusammen254 Über die parlamentarische Behandlung der "Kompetenzgesetze" , BGBL Nr. 142/1955 und 134/ 1956 s. die Steno Prot. NR, VII. GP 1955 (RV 559 dBlg., AB 564 dBlg.; 3169, 3275 -3290) und VIII. GP 1956 (RV 5 dBlg., AB 17 dBlg.; 1428, 14711499) sowie die Steno Prot. BR 1955 (2412-2425) und 1956 (2689-2699), hinsichtlich des Bundesministeriengesetzes 1973 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1972, 1973 (RV 483 dBlg., AB 863 dBlg.; 4077, 4200, 7568-7627) und die Steno Prot. BR 1973 (95769595); es wurde als "Bundesministeriengesetz 1986" unter der BGBL Nr. 76/1986 wiederverlautbart. 255 Über die parlamentarische Behandlung des Wehrgesetzes S. die Steno Prot. NR, VII. GP 1955 (RV 604 dBlg., AB 608 dBlg.; 3444, 3460-3526) und die Steno Prot. BR 1955 (2496 -2525).

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setzt. Der Kader (ständiger Führungs-, Ausbildungs- und Verwaltungsapparat) sollte nach der ursprünglichen Fassung des Wehrgesetzes aus Berufsoffizieren, die als öffentlich-rechtlich Bedienstete grundsätzlich bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres dem Dienststand angehören, sowie aus Unteroffizieren und Chargen, die als zeitverpflichtete Soldaten in einem zeitlich begrenzten öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis von höchstens 9 Jahren Dauer stehen, gebildet werden. Aus dem Kreis der Präsenzdienst leistenden Wehrpflichtigen sollte im Wege von Waffenübungen auf freiwilliger Basis ein Reservekader von Reserveoffizieren, Reserveunteroffizieren und Reservechargen geschaffen werden. Die zur Durchführung solcher Waffenübungen notwendigen gesetzlichen Regelungen fehlten jedoch vorerst. Die Wehrdienstpflicht beschränkte sich auf den "ordentlichen Präsenzdienst" von 9 Monaten und den für Fälle eines Einsatzes des Bundesheeres vorgesehenen "außerordentlichen Präsenzdienst" . Auf Grund freiwilliger Meldungen konnte ein" verlängerter ordentlicher Präsenzdienst" im Ausmaß von 6 Monaten im Anschluß an den ordentlichen Präsenzdienst geleistet werden. Der Mangel einer gesetzlichen Regelung über Waffenübungen - sowohl auf verpflichtender als auch auf freiwilliger Grundlage - wurde vom Abg. Dip.-Ing. Eduard Hartmann (später Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft sowie Landeshauptmann von Niederösterreich) in der Nationalratsdebatte am 7. September 1955 als "Schönheitsfehler" des Wehrgesetzes bezeichnet, der rasch beseitigt werden. sollte (wie dies auch tatsächlich wenige Jahre später mit der ersten und zweiten Novellierung des Wehrgesetzes geschah): "Ich persönlich bin davon überzeugt, daß es sich in ganz kurzer Zeit als dringend notwendig erweisen wird, durch Wiederholungskurse, oder nennen wir es Waffenübungen, unsere Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere mit den Neuerungen auf dem Gebiete der Technik bekannt zu machen." Im Wege eines besonderen Verfahrens war den Wehrpflichtigen ein Recht auf Verweigerung des Dienstes mit der Waffe auf Grund eines ernsthaften religiösen Bekenntnisses oder aus Gewissensgründen eingeräumt; für die als Waffendienstverweigerer anerkannten Personen war die Dauer des ordentlichen Präsenz dienstes mit 12 Monaten festgelegt. Für das Ergänzungswesen war in jedem Bundesland ein Ergänzungskommando zuständig, wobei dieser Zuständigkeitsbereich hinsichtlich des Stellungswesens in Stellungsbezirke, die örtlich mit den politischen Bezirken übereinstimmten, aufgegliedert war; in den einzelnen Stellungsbezirken waren die Stellungskommissionen tätig. Als Verfügungsrechte des Bundespräsidenten nach Art. 80 Abs. 2 B-VG wurden ihm die Verfügung der Einberufung zum außerordentlichen Prä-

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senzdienst sowie die Verfügung des Aufschubes der Rückversetzung Wehrpflichtiger in die Reserve "trotz vollstrecktem ordentlichem Präsenzdienst" bei außergewöhnlichen Verhältnissen eingeräumt. Ferner kommt ihm außer der Ernennung der Berufsoffiziere als Bundesbeamte - nach dem Wehrgesetz die Ernennung der Reserveoffiziere zu. Beim Bundeskanzleramt wurde ein "Landesverteidigungsrat" als Beratungs- und Empfehlungsorgan errichtet, das sich unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers aus Angehörigen der Bundesregierung, sachkundigen Beamten und Vertretern der im Hauptausschuß des NR vertretenen Parteien zusammensetzt. Dieses Gremium, das insbes. zur Behandlung von Angelegenheiten, die über die Zuständigkeit des Bundesministerium für Landesverteidigung hinausgehen, vorgesehen wurde, zeigt damit schon Ansätze jener komplexen Sicht der Landesverteidigung, aus der sich später die "umfassende Landesverteidigung" entwickelte. Durch die Einrichtung einer ebenfalls als Empfehlungsorgan gestalteten Beschwerdekommission in militärischen Angelegenheiten", die aus dem Bundesminister für Landesverteidigung als Vorsitzendem und - ähnlich der Regelung für den Landesverteidigungsrat - aus Parteienvertretern bestand, sollte jedem Soldaten die Möglichkeit zur Beschwerde auch außerhalb der militärischen Hierarchie gegeben werden. Ferner wurde die Wahl von "Soldatenvertretern" - in drei Wählergruppen: Offiziere, Unteroffiziere sowie Chargen und Soldaten ohne Chargengrad - mit einem Mitwirkungsrecht bei Besoldung, Bekleidung, Unterbringung und Verpflegung sowie in Urlaubsangelegenheiten, beim Vorbringen von Wünschen und Beschwerden und "in Disziplinarsachen in Gemäßheit der Disziplinarvorschriften " vorgesehen. Die im Wehrgesetz grundsätzlich normierten Pflichten und Rechte der Soldaten fanden ihre nähere Ausführung in den Allgemeinen Dienstvorschriften für das Bundesheer (ADV), einer Verordnung der Bundesregierung vom 30. Oktober 1956, der damals der Charakter einer Verwaltungsverordnung beigemessen wurde; sie wurde daher nicht im BGBL für die Republik Österreich publiziert. Dieser Beurteilung schloß sich jedoch der VfGH in seinem Erkenntnis vom 17. März 1970 nicht an, so daß die ADV in der Folge als Rechtsverordnung neu erlassen und entsprechend kundgemacht wurden. 256

256 Siehe hiezu auch FN 179. Die Rechtsmeinung, die ADV seien eine Vorschrift, "die dem Charakter des Bundesheeres als eine unselbständige Anstalt des Bundes entsprechend ausschließlich an unterstellte Verwaltungsorgane ergeht und unmittelbar nicht über den Bereich des Bundesheeres hinauswirkt" , fußt auf der eingangs erwähnten "Anstaltstheorie" (vgl. Ermacora / Loebenstein, Das österreichische Wehrrecht (1958) 152.

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Erwähnenswert ist in diesem Rahmen aus der ursprünglichen Fassung des Wehrgesetzes noch jene Übergangsbestimmung, die es "nach Bedarf für die Dauer von zwei, höchstens vier Jahren" ermöglichte, Beamte und Vertragsbedienstete bestimmter Verwendungs- bzw. Entlohnungsgruppen aus dem Bereich der Heeresverwaltung zur Ausübung von Unteroffizierfunktionen heranzuziehen. Aus dieser Übergangsbestimmung entwickelte sich nämlich - wie noch näher ausgeführt werden wird - in mehrfachen Novellierungsschritten ein "unechtes" Berufsunteroffizierskorps. Im BR wurde am 14. September 1955 durch den Berichterstatter und späteren Bundesminister für Landesverteidigung Dr. Georg Prader ein Entschließungsantrag des Verfassungsausschusses gestellt, in dem auf die Zeitnot hingewiesen wurde, unter der das Wehrgesetz geschaffen werden mußte, "was wiederum dazu führte, daß weder den Ländern noch den sonst betroffenen Gebietskörperschaften die Möglichkeit gegeben war, zum Inhalt des Gesetzes vor seiner parlamentarischen Behandlung Stellung zu nehmen". Der BR ersuchte daher mit dieser Entschließung das Bundeskanzleramt als Amt für Landesverteidigung, im besonderen den vom BR geteilten Bedenken der oberösterreichischen Landesregierung in ihrer Stellungnahme vom 30. August 1955 bei der Durchführung des Wehrgesetzes "so weit als möglich Rechnung zu tragen und auch im übrigen bei der Handhabung der Wehrkompetenzen auf die Interessen und Rechte von Ländern und Gemeinden die weitest mögliche Rücksicht zu nehmen". Die erwähnten Bedenken richteten sich im wesentlichen gegen Mitwirkungspflichten im Ergänzungswesen, so insbes. gegen die permanente Heranziehung eines rechtskundigen Beamten der Bezirksverwaltungsbehörde zu den Stellungskommissionen, sowie gegen das Weisungsrecht und die übergeordnete Instanz der Ergänzungskommanden gegenüber den Bezirksverwaltungsbehörden (diesbezüglich wurde - offenbar in Verkennung der Rechtslage nach Art. 81 B-VG - auf die verfassungsrechtlich erforderliche Zuständigkeit des Landeshauptmanns verwiesen). Die weiteren "Stammgesetze" des Wehrrechts einschließlich seiner arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Komponente wurden vom NR am 18. Juli 1956 beschlossen und am 27. Juli 1956 im BGBl. für die Republik Österreich kundgemacht. Eine dieser zentralen Grundlagen des Wehrrechts bildet das Bundesgesetz vom 18. Juli 1956, BGBl. Nr. 152, über die Regelung der Bezüge und sonstigen Ansprüche der Wehrpflichtigen während der Dauer des Präsenzdienstes (Heeresgebührengesetz). 257 Wie schon aus dem Titel hervorgeht, 257 Über die parlamentarische Behandlung des Heeresgebührengesetzes, des Arbeitsplatz-Sicherungsgesetzes, des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 153/1956 und des Heeresdisziplinargesetzes s. die Steno Prot. NR, VIII. GP 1956 (70, 71, 132 -155) und die Steno Prot. BR 1956 (2704 - 2714), hinsichtlich RV und AB des Heeresgebührenge-

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sind in diesem Gesetz die Besoldung der Wehrpflichtigen, ihre Sachbezüge, ihre gesundheitliche Betreuung sowie die finanzielle Absicherung ihrer Familienangehörigen im Wege eines Anspruches auf Familienunterhalt geregelt. Die Besoldung der Wehrpflichtigen bestand nach der ursprünglichen Fassung des Heeresgebührengesetzes aus Taggeld, Dienstgradzulage und einem Zuschuß zu der am Ende des ordentlichen Präsenzdienstes gebührenden Dienstfreistellung von zwei Wochen. Der Anspruch auf Familienunterhalt wurde grundsätzlich für die Ehefrauen mit 50% und für jede andere zum Haushalt des Wehrpflichtigen gehörende unterhaltsberechtigte Person mit 10%, insgesamt mit höchstens 80% der Bemessungsgrundlage (Durchschnitt des Nettoeinkommens vor dem Präsenzdienstantritt) begrenzt; für besondere Unterhaltssituationen wurden noch entsprechende spezielle Regelungen vorgesehen. Für die Vollziehung der Bestimmungen über den Familienunterhalt wurde - abweichend von der im allgemeinen für die militärischen Angelegenheiten vorgesehenen unmittelbaren Bundesverwaltung - der Weg der mittelbaren Bundesverwaltung beschritten, der in diesen Belangen den Interessen sowohl der Anspruchsberechtigten als auch der Verwaltungsökonomie besser entspricht. Während die gesundheitliche Betreuung der Wehrpflichtigen durch das Bundesheer im Wege seiner Sanitätseinrichtungen - allenfalls auch im Wege der Inanspruchnahme öffentlicher oder privater Krankenanstalten - im Heeresgebührengesetz sichergestellt wurde, bedurfte es hinsichtlich der Familienangehörigen einer sozialversicherungsrechtlichen Sonderregelung. Mit dem Bundesgesetz vom 18. Juli 1956, BGBl. Nr. 154, über die Sicherung des Arbeitsplatzes der zum Präsenzdienst einberufenen Dienstnehmer (Arbeitsplatz-Sicherungsgesetz) 257 wurde für den im Titel genannten Personenkreis ein besonderer Kündigungs- und Entlassungsschutz normiert. Das Dienstverhältnis des Wehrpflichtigen bleibt nach diesen Bestimmungen zwar in seinem Bestand unberührt, doch ruhen die Pflichten des Dienstnehmers und Dienstgebers zur Leistung der Dienste bzw. zur Entrichtung des Entgelts. Entsprechend dieser arbeitsrechtlichen Regelung wurde mit dem Bundesgesetz vom 18. Juli 1956, BGBl. Nr. 153, über den sozialversicherungsrechtlichen Schutz der den Präsenzdienst leistenden Wehrpflichtigen 257 normiert, daß eine im Zeitpunkt des Präsenzdienstantritts bestehende Krankenversicherung für die Dauer des Präsenzdienstes aufrechtersetzes RV 23 dBlg., AB 40 dBlg., des Arbeitsplatz-Sicherungsgesetzes RV 25 dBlg., AB 43 dBlg., des Bundesgesetzes BGBL Nr. 153/1956 RV 24 dBlg., AB 42 dBlg., des Heeresdisziplinargesetzes RV 22 dBlg., AB 39 dBlg.; zum Bundesgesetz BGBL Nr. 153/1956 ergingen vor seiner Aufhebung noch die Novellen BGBL Nr. 297/1960 und 325/1963; die geringfügige Novelle zum Heeresdisziplinargesetz BGBL Nr. 264/1957 enthielt lediglich Fristerstreckungen im Hinblick auf den Personalaufbau.

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halten bleibt, der Anspruch des Wehrpflichtigen auf Leistungen sowie seine und seines Dienstgebers Beitragspflicht aber für diesen Zeitraum ruhen. Den Familienangehörigen der Wehrpflichtigen bleibt der Leistungsanspruch jedoch gewahrt; für die Dauer des Präsenzdienstes hat der Bund dem Versicherungsträger für jeden Familienangehörigen einen monatlichen Pauschalbetrag zu überweisen. Die Pensionsversicherung des Wehrpflichtigen endet nach dem Bundesgesetz BGBL Nr. 153/1956 mit dem Antritt des Präsenzdienstes, doch gilt die Präsenzdienstzeit als Ersatzzeit. Im Zuge der weiteren Entwicklung des Sozialversicherungsrechtes wurde das genannte Gesetz durch Art. IX Abs. 2 der 29. ASVG-Novelle, BGBL Nr. 31/1973, aufgehoben; an seine Stelle traten entsprechende Bestimmungen im ASVG, die in der Folge auch für den Bereich der anderen Sozialversicherungsgesetze Geltung erlangten. Das Heeresdisziplinarwesen als ein weiteres Grundelement der Wehrgesetzgebung fand im Bundesgesetz vom 18. Juli 1956, BGBL Nr. 151, über die disziplinäre Behandlung von Heeresangehörigen (Heeresdisziplinargesetz) eine umfassende Regelung. 257 Der Umstand, daß sich das Bundesheer - wie schon erwähnt - als Kaderheer aus Heeresangehörigen mit unterschiedlicher Rechtsstellung zusammensetzt, bedingt auch eine entsprechende Differenzierung des Diziplinarrechts für die einzelnen Personengruppen. Im Hinblick auf die Zusammensetzung des Bundesheeres aus Berufssoldaten und Präsenzdienst leistenden Wehrpflichtigen wäre legistisch entweder eine aufgespaltene Regelung durch Einfügung von Sonderbestimmungen für die Berufssoldaten des Dienststandes und des Ruhestandes in das Disziplinarrecht der Bundesbeamten sowie ein gesondertes Disziplinarrecht für die Wehrpflichtigen im Präsenzdienst und in der Reserve oder eiri alle Personengruppen, allerdings in einer entsprechend differenzierten Gliederung, umfassendes Bundesgesetz in Betracht gekommen. Der Gesetzgeber entschied sich aus grundsätzlichen und praktischen Gründen für die zweite Lösungsmöglichkeit, die das gemeinsame Spezifikum des Disziplinarwesens im militärischen Bereich durch ein eigenes Heeresdisziplinargesetz für alle Heeresangehörigen deutlich erkennbar macht. Das Heeresdisziplinargesetz von 1956 unterschied zwischen Ordnungswidrigkeiten und Dienstvergehen, wobei die Strafen für die Berufssoldaten weitgehend dem seinerzeit in der Dienstpragmatik enthaltenen Strafkatalog für Bundesbeamte mit einzelnen militärischen Modifikationen (wie etwa Degradierung) entsprachen. Hinsichtlich der Präsenzdienst leistenden Wehrmänner und Chargen wurden traditionell für diesen Personenkreis geltende Strafen, wie etwa die Ausgangsbeschränkung, das Ausgangsverbot und die Disziplinarhaft, vorgesehen; dies insbes. auch deshalb, weil bei dem erwähnten Personenkreis geeignete Geldstrafen mangels eines entsprechenden Diensteinkommens nicht in Betracht gezogen werden konnten.

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Militärische Elemente kommen aber vor allem in den Bestimmungen über die Strafbefugnisse und die Zuständigkeiten, die eng mit der Heeresorganisation und deren Elastizitätserfordernissen verbunden sind, sowie in einzelnen Verfahrensregelungen zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang ist der Gedanke des "Kameradschaftsgerichtes" erwähnenswert, der in der Zusammensetzung der Disziplinarkommission und ihrer Senate seinen Niederschlag gefunden hat. Durch ein besonderes Verfahren wurde diesbezüglich gewährleistet, daß den über die Beschuldigten entscheidenden Senaten jeweils auch Soldaten angehören, deren Stellung nach Rang, Fachbereich bzw. Verwendung und organisatorischer Einordnung der Stellung des Beschuldigten möglichst ähnlich ist. Wie Dr. Altons Gorbach in der Nationalratsdebatte über das Heeresdisziplinargesetz am 18. Juli 1956 ausführte, bilden aber - vorgeordnet jeglicher disziplinarrechtlichen Regelung - Verantwortung und Vertrauen die Grundlage von Gehorsam und Befehl; es liege die Ehre des Soldaten darin, "mit der Macht menschlich und im tiefsten Sinne gewissenhaft umzugehen", es liege "in der Ausgewogenheit, im Profil des Vorgesetzten, dafür zu sorgen, daß das Aufeinandertreffen von militärischer Disziplin und demokratischer Freiheit nicht zum Konflikte führt". Von wesentlicher Bedeutung für den Aufbau des Bundesheeres waren schließlich auch die notwendigen gesetzlichen Grundlagen im Bereich des Dienstrechts, mit denen die neu vorgesehenen Berufsoffiziere und zeitverpflichteten Soldaten strukturell und besoldungsmäßig (als eine Besoldungsgruppe mit den Verwendungsgruppen Hl und H2 bzw. H3 und H4) in das System der Bundesbeamten eingeordnet wurden. Diese Einordnung erfolgte mit ihren maßgeblichen Elementen im Rahmen des Bundesgesetzes vom 12. Dezember 1946, BGBL Nr. 22/1947, über das Diensteinkommen und die Ruhe- und Versorgungsgenüsse der Bundesbeamten (Gehaltsüberleitungsgesetz) durch die 2. GÜG-Novelle 1955, BGBL Nr. 182,258 sowie im Bundesgesetz vom 26. Feber 1956, BGBL Nr. 54, über die Bezüge der Bundesbeamten (Gehaltsgesetz 1956).259 Für zeitverpflichtete Soldaten wurde unter bestimmten Voraussetzungen eine bevorzugte Übernahme auf einen Dienstposten einer anderen Besoldungsgruppe vorgesehen. Im Wege der seinerzeitigen Verordnung der Bundesregierung vom 11. Oktober 1955, BGBL Nr. 205, zur Durchführung der Bestimmungen des Gehaltsüberleitungsgesetzes über die Dienstzweige, die 258 Über die parlamentarische Behandlung der 2. Gehaltsüberleitungsgesetz-Novelle 1955 s. die Steno Prot. NR, VII. GP 1955 (RV 605 dBlg., AB 609 dBlg.; 3444, 3462-3526) und die die Steno Prot. BR 1955 (2496-2525). 259 Über die parlamentarische Behandlung des Gehaltsgesetzes 1956 S. die Steno Prot. NR, VII. GP 1956 (RV 737 dBlg., AB 759 dBlg.; 4542, 4574-4613) und die Steno Prot. BR 1956 (2647 -2657).

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Amtstitel und die Erfordernisse zur Erlangung von Dienstposten für die Berufsoffiziere und zeitverpflichtenden Soldaten (Heeres-Dienstzweigeverordnung) erfolgte die fachliche Einteilung der Verwendungsgruppen in die einzelnen Dienstzweige, wie beispielsweise "höherer militärischer Dienst" (später als "Offiziere des Generalstabsdienstes" bezeichnet), "militärärztlicher Dienst" (später unter Einbeziehung von Veterinären und Apothekern als "Offiziere des militärmedizinischen Dienstes" bezeichnet), "Truppenoffiziere" (später als "Offiziere des Truppendienstes" bezeichnet), "Kanzleiunteroffiziere" , "Truppenunteroffiziere" . Im Gehaltsgesetz, 1956 wurde für die Berufsoffiziere im wesentlichen die gleiche Besoldungsregelung wie für die Beamten der allgemeinen Verwaltung vorgesehen; der Eigenart des militärischen Dienstes wurde jedoch durch spezielle Zulagen Rechnung getragen. Für die zeitverpflichteten Soldaten wurde im Hinblick auf den besonderen Charakter ihres Dienstverhältnisses von begrenzter Dauer ein eigenes Besoldungsschema mit einem nach der Dauer des jeweiligen Dienstverhältnisses gestaffelten Abfertigungssystem entwickelt. Als eine Dienstrechtsvorschrift von grundsätzlicher Bedeutung für den militärischen Bereich ist in diesem Zusammenhang noch die Verordnung der Bundesregierung vom 29. Mai 1955, BGBl. Nr. 133, betreffend die Gebühren bei Dienstreisen, Dienstverrichtungen im Dienstort, Dienstzuteilungen und Versetzungen (Reisegebührenvorschrift 1955), zu nennen (mit dem Inkrafttreten des Gehaltsgesetzes 1956 wurde diese Verordnung durch § 92 Abs. lIeg. cit. auf Gesetzesstufe gehoben; sie gilt seither als Bundesgesetz). Da bei militärischen Dienstleistungen die vom Anwendungsbereich der Reisegebührenvorschrift 1955 erfaßten Ortsveränderungen in verhältnismäßig hohem Maße und vielfach unter besonderen Umständen, wie etwa bei Übungen oder Einsätzen, auftreten, enthält diese Rechtsvorschrift unter anderem auch einen Sonderabschnitt für Berufsoffiziere und Beamte der Heeresverwaltung (daß hiebei die zeitverpflichteten Soldaten nicht genannt sind, ist offenbar eine "planwidrige Unvollständigkeit", die in der Praxis durch Analogie geschlossen wird). Die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung waren bereits 1945 zunächst in einer vorläufigen Regelung durch das Gesetz der provisorischen Staatsregierung vom 12. Juni 1945, StGBl. Nr.36, dann durch das Bundesgesetz vom 14. Juli 1949, BGBl. Nr. 197, über die Versorgung der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen (Kriegsopferversorgungsgesetz - KOVG)260 getroffen worden. Fortschrei260 Über die parlamentarische Behandlung des KOVG s. die Steno Prot. NR, V. GP 1949 (RV 903 dBIg., AB 959 dBIg.; 3226, 3227, 3377 - 3388) und die Steno Prot. BR 1949 (824 - 826). 49 Parlamentarismus

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tende Verbesserungen der Kriegsopferversorgung und die Entwicklung der Sozialleistungen insgesamt erforderten mehrfach Änderungen dieses Bundesgesetzes, das als "Kriegsopferversorgungsgesetz 1957 - KOVG 1957", BGBL Nr. 152, wiederverlautbart, in der Folge aber weiterhin vielfach novelliert worden ist. 3. Ausbau 1957 -1971 Dem Aufbau des Bundesheeres und der hiefür grundlegenden Wehrgesetzgebung folgte ein Ausbau des neuen Wehrsystems, der seinen legislativen Niederschlag vor allem in Änderungen bzw. Ergänzungen des Wehrgesetzes und anderer Stammgesetze fand, darüber hinaus aber auch in einer Erweiterung des Wehrrechts durch gesonderte neue Gesetze sowie in vielfältigen speziellen Einbettungen dieses Rechtsbereiches in den Gesamtkomplex der Rechtsordnung durch die Aufnahme von Sonder- bzw. Ausnahmeregelungen in verschiedene andere Verwaltungsrechtsgebiete. Die Novellierungen im zentralen Bereich der Wehrgesetzgebung betrafen in erster Linie das Wehrgesetz und das Heeresgebührengesetz. Durch die 1. Heeresgebührengesetz-Novelle 1957, BGBL Nr. 140,261 wurde neben ergänzenden Kosten- bzw. Verfahrensregelungen ein erhöhtes Taggeld für Einsatzfälle geschaffen. Die N ovellierungen des Heeresgebührengesetzes durch die Bundesgesetze BGBL Nr. 116/1962 und 12/1967 262 brachten allgemeine Erhöhungen der Taggelder, die zuletzt genannte Novelle ferner eine Erhöhung der Dienstgradzulagen sowie Verbesserungen auf den Gebieten der gesundheitlichen Betreuung der Wehrpflichtigen und des Familienunterhaltes. Weitere Novellierungen des Heeresgebührengesetzes erfolgten im Hinblick auf ihren sachlichen Zusammenhang mit Änderungen des Wehrgesetzes jeweils gemeinsam mit diesen in den Bundesgesetzen BGBL Nr. 185/1966 und 272/1969. Die erste Änderung erfuhr das Wehrgesetz durch die Wehrgesetz-Novelle 1960, BGBL Nr.310. 263 Damit wurden die notwendigen Bestimmungen 261 Über die parlamentarische Behandlung der 1. Heeresgebührengesetz-Novelle 1957 s. die Steno Prot. NR, VIII. GP 1957 (RV 222 dBlg., AB 235' dBlg.; 1295, 1306 und 1307) und die die Steno Prot. BR 1957 (2935, 2936). 262 Über die parlamentarische Behandlung der Novelle BGBl. Nr. 116/1962 S. die Steno Prot. NR, IX. GP 1962 (RV 604 dBlg., AB 613 dBlg.; 4123, 4216-4219) und die Steno Prot. BR 1962 (4484-4487), hinsichtlich der Novelle BGBl. Nr. 12/1967 die die Steno Prot. NR, XI. GP 1967 (RV 289 dBlg., AB 311 dBlg.; 2570, 3250-3256) und die Steno Prot. BR 1967 (6114-6120). 263 Über die parlamentarische Behandlung der Wehrgesetz-Novelle 1960 s. die Steno Prot. NR, IX. GP 1960 (RV 343 dBlg., AB 356 dBlg.; 2330, 2514-2515) und die Steno Prot. BR 1960 (4070-4079; anläßlich der Behandlung dieses Gesetzes im BR berichtete der Bundesminister für Landesverteidigung Ferdinand Graf auch über den ersten Einsatz eines österr. UN-Sanitätskontingents im Kongo, insbes. auch über

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geschaffen, um im Wege freiwilliger Waffenübungen einen Reservekader auf der Offizier- und Unteroffizierebene aufbauen zu können. Zur Durchführbarkeit der freiwilligen Waffenübungen bedurfte es aber auch noch einer geeigneten Regelung hinsichtlich der Abgeltung des Verdienstentganges der Wehrpflichtigen während der Übungsdauer. Mit dem Bundesgesetz vom 15. Dezember 1960, BGBL Nr. 311 /1960, über Ansprüche aus der Ableistung freiwilliger Waffenübungen 264 wurde für unselbständig bzw. selbständig Erwerbstätige eine Entschädigungsregelung im Rahmen einer Mindest- und Höchstbegrenzung normiert; eine entsprechende Entschädigung wurde ferner für Wehrpflichtige, die im Familienbetrieb ohne Dienstnehmereigenschaft mittätig sind, für Arbeitslose sowie für Studenten und sonst in Berufsausbildung stehende Wehrpflichtige vorgesehen. Für den Bereich des öffentlichen Dienstes wurde in diesem Bundesgesetz - soweit die Gesetzgebungskompetenz dem Bund zusteht - an Stelle der Entschädigungsregelung eine Fortzahlungsregelung getroffen, nach der den öffentlichen Bediensteten währen der freiwilligen Waffenübungen die Bezüge bis zum Ausmaß der Entschädigungshöchstgrenze ohne Unterbrechung gebühren. Im Kompetenzbereich der Landesgesetzgebung wurden in den folgenden Jahren in Anlehnung an die bundesgesetzliehe Fortzahlungsregelung entsprechende landesgesetzliche Regelungen getroffen. Eine weitere Ausbaustufe bildet die Wehrgesetz-Novelle 1962, BGBL Nr. 221. 265 Dieser Novelle kommt in mehrfacher Hinsicht Bedeutung zu. Durch eine Erweiterung der Möglichkeit zur Zeitverpflichtung sowie durch die neue Einrichtung der sog. Beamten und Vertragsbediensteten in Unteroffiziersfunktion (§ 11 des Wehrgesetzes) wurden gesetzliche Grundlagen für eine Verbesserung des Kaders aus Berufssoldaten geschaffen. Es hatte sich nämlich schon bald gezeigt, daß mit der ursprünglichen Konstruktion eines allein aus zeitverpflichteten Soldaten gebildeten Unteroffizierskorps nicht das Auslangen gefunden werden konnte. Aus der schon erwähnten Übergangsbestimmung des § 49 Abs. 6 des Wehrgesetzes wurde eine Dauereinrichtung entwickelt, nach der Beamte und Vertragsbedienstete bestimmter Verwendungs- bzw. Entlohnungsgruppen aus dem Personalstand des Bundesministeriums für Landesverteidigung, sofern sie Chargen oder Unteroffiziere der Reserve sind, bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres die Gefangennahme dieses Kontingents und seine Befreiung durch nigerische Truppen, 4068 -4070). 264 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBL Nr. 311 / 1960 s. die Steno Prot. NR, IX. GP 1960 (RV 344 dBlg., AB 357 dBlg.; 2330, 25142515) und die Steno Prot. BR 1960 (4070 -4079). 265 Über die parlamentarische Behandlung der Wehrgesetz-Novelle 1962 s. die Steno Prot. NR, IX. GP 1962 (RV 759 dBlg., AB 770 dBlg.; 4484, 4672-4675) und die Steno Prot. BR 1962 (4679-4685); s. hiezu auch Kopf, Zehn Jahre Wehrgesetzgebung (1961-1971), Österr. Militärische Zeitschrift 1971, 384 f. 49'

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mit ihrer Zustimmung zur Ausübung einer Unteroffiziersfunktion herangezogen werden können. Damit war der erste Schritt getan, um dem bisherigen Mangel eines Berufsunteroffizierskorps zu begegnen. Die Wehrgesetz-Novelle 1962 enthält aber auch die gesetzlichen Grundlagen für den Aufbau eines Reservekaders nach den Grundsätzen eines territorialen Grenzschutzes mit milizähnlichem Charakter. Um in diesem Sinne Grenzschutzverbände bilden und deren Ausbildungsstand auf dem erforderlichen Niveau halten zu können, wurden für die Wehrpflichtigen der Reserve die Verpflichtung zur Teilnahme an Inspektionen und Instruktionen sowie die Verpflichtung zur Übernahme und Verwahrung von Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenständen geschaffen. Damit sollten eine regelmäßige Standesevidenzkontrolle sowie kurze Waffenübungen im Verband (Höchstdauer der Inspektionen / Instruktionen pro Jahr insgesamt vier Tage; Höchstdauer einer Inspektion / Instruktion bzw. einer Instruktion zwei Tage) und ein rasches Zusammentreten des Grenzschutzverbandes am vorgesehenen Sammelort ermöglicht werden. Von den sonstigen Änderungen dieser Novelle seien noch eine Erweiterung der Mitwirkungspflicht der Bezirksverwaltungsbehörden, Bundespolizeibehörden und Gemeinden bei der Erfassung, Stellung und Einberufung Wehrpflichtiger, eine verstärkte Ausrichtung des Landesverteidigungsrates auf die in Entwicklung begriffene umfassende Landesverteidigung sowie die Ersetzung des Bundesministers für Landesverteidigung als Vorsitzender der Beschwerdekommission in militärischen Angelegenheiten - angesichts ihres Charakters als Empfehlungsorgan - durch einen vom NR zu bestellenden Vorsitzenden erwähnt. Diese Erweiterung der verfassungsgesetzlich bestimmten Aufgaben des NR erfolgte durch die Einfügung einer entsprechenden Verfassungsbestimmung in das Wehrgesetz. Das Bundesgesetz vom 7. Juli 1966, BGBL Nr. 185, mit dem wehrrechtliche Bestimmungen abgeändert werden,266 setzte den mit den WehrgesetzNovellen 1960 und 1962 beschrittenen Weg konsequent fort. Schwerpunkte dieser Novelle, die außer Änderungen des Wehrgesetzes auch solche des Heeresgebührengesetzes und des Bundesgesetzes über Ansprüche aus der Ableistung freiwilliger Waffenübungen umfaßt, waren Neuregelungen auf organisatorischem und personellem Gebiet, die insbes. einem weiteren Aufbau der territorialen Verteidigung dienten (so eine Erweiterung der Heranziehungsmöglichkeit der Beamten und Vertragsbediensteten in Unteroffiziersfunktion zu einer solchen Funktion sowie der Offiziere, Unteroffiziere und technischen Spezialkräfte zu Übungen bis zum 65. Lebensjahr, die Einbindung der bisherigen Ergänzungskommanden in die Militärkom266 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBL Nr. 185/ 1966 s. die Steno Prot. NR, XI. GP 1966 (RV 47 dBlg., AB 140 dBlg.; 448,1475-1486), und die Steno Prot. BR 1966 (5910-5917); s. hiezu auch Kopf, (FN 265) 385 f ..

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manden, eine Differenzierung der Mobilmachungsmöglichkeiten nach territorialen und ausbildungsmäßigen Kriterien verbunden mit der Einführung von "Bereitstellungsscheinen"), sowie eine Anhebung der Ober- und Untergrenze für Entschädigungen bei freiwilligen Waffenübungen. Angesichts der neuen Funktion der militärkommanden als Verwaltungsbehörde und als militärisches Führungsorgan bedurfte es in diesem Zusammenhang einer ausdrücklichen Klarstellung im EGVG 1950, daß die Verwaltungsverfahrensgesetze von den Militärkommanden im Befehlsbereich nicht anzuwenden sind (Bundesgesetz BGBl. Nr. 143/1969). Für eine allfällige Inanspruchnahme des Bundesheeres zur Assistenzleistung auf sicherheitspolizeilichem Gebiet wurde die Anordnung des Einsatzes der Bundesregierung - bei Gefahr im Verzug dem Bundesminister für Inneres einvernehmlich mit" dem Bundesminister für Landesverteidigung vorbehalten, wenn die Assistenz mehr als 100 Soldaten umfaßt. Eine solche Anordnung sollte nach den Erläuterungen der RV "im Interesse einer zweckmäßigen und koordinierten Durchführung des Einsatzes" grundsätzlich durch die Bundesregierung getroffen werden. Die historische Belastung der sicherheitspolizeilichen Assistenzaufgabe des Bundesheeres wurde in diesem Zusammenhang am 20. Juli 1966 von BR Dr. Joset Reichl seitens der Sozialistischen Partei angesprochen: "Skeptische Gedanken hegt der österreichische Staatsbürger immer dann, wenn er von der Aufrechterhaltung der Ordnung durch das Bundesheer hört. Hier wirkt das Trauma der österreichischen Geschichte immer noch auf uns ein. Aber da die Inanspruchnahme so erfolgt, daß zwei Ministerien zunächst konsultiert und auch beansprucht werden, ist schon eine gewisse Schutzklausel gegeben." Im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz BGBl. Nr. 185/1966 wurd·en vom NR Anfang Juli 1966 auch mehrere Entschließungen gefaßt, die im wesentlichen personalpolitischer Natur waren und Verbesserungen im Bereich der Besoldung und Beförderung der Unteroffiziere sowie eine Erhöhung der Abfertigung für zeitverpflichtete Soldaten bzw. deren bevorzugte Übernahme in den Bundesdienst betrafen. Vorerst ergebnislos blieb der ebenfalls angenommene Entschließungsantrag der Abg. Dr. Hermann Withalm, Dr. Bruno Pittermann, Dr. Emil van Tongel und Genossen, betreffend eine RV zur Neufassung des Art. 79 Abs. 1 B-VG; diese Neufassung erfolgte schließlich mit dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. Nr. 368/ 1975. 267 Im Jahre 1969 wurde das Wehrgesetz zweimal geändert, und zwar durch die Wehrgesetz-Novelle 1969, BGBl. Nr. 96,268 und durch das Bundesgesetz 267 Siehe hiezu FN 246. 268 Über die parlamentarische Behandlung der Wehrgesetz-Novelle 1969 s. die Steno Prot. NR, XI. GP 1969 (RV 1053 dBlg., AB 1147 dBlg.; 9257,11351-11359) und die Steno Prot. BR 1969 (7132-7136).

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vom 8. Juli 1969, BGBl. Nr. 272, mit dem wehrrechtliche Bestimmungen neuerlich geändert werden. 269 Die zuletzt genannte Novelle umfaßte ähnlich der Novelle im Jahre 1966 - Änderungen des Wehrgesetzes und des Heeresgebührengesetzes. Die Wehrgesetz-Novelle 1969 brachte die neue Einrichtung des "Offiziers auf Zeit", mit der eine zweckmäßige Altersstruktur des Offizierskorps gewährleistet werden sollte. Das Dienstverhältnis dieses Personenkreises wurde auf der Grundlage eines Reserveoffizierdienstgrades im Wege eines Sondervertrages nach dem Vertragsbedienstetengesetz 1948 gestaltet, wobei eine Höchstdauer von 10 Jahren und ein Höchstalter von 40 Jahren sowie eine Abfertigungsregelung gleich der für zeitverpflichtete Soldaten geltenden vorgesehen wurden. Disziplinär wurden die "Offiziere auf Zeit" gleich Reserveoffizieren dem Heeresdisziplinargesetz unterworfen. Ferner wurde die Reservistenausbildung insofern weiterentwickelt, als die Heranziehung zu Inspektionen / Instruktionen an Stelle von maximal 4 Tagen jährlich nunmehr auch in einem geschlossenen Zeitraum von höchstens 8 Tagen innerhalb von zwei Jahren ermöglicht wurde. Auch die Funktionsfähigkeit des Landesverteidigungsrates wurde durch die Einführung von Ersatzmitgliedern verbessert. Für die Verfügung der Einberufung zum außerordentlichen Präsenzdienst in den Einsatzfällen sowie für die Verfügung des Aufschubes der Rückversetzung in die Reserve wurden besondere Kundmachungsvorschriften in einer den außergewöhnlichen Umständen entsprechenden elastischen Fassung normiert. Die zweite Novelle des Jahres 1969 enthielt Besoldungs- und Dienstfreistellungsregelungen für die Wehrpflichtigen im verlängerten ordentlichen Präsenzdienst. Im Wege eines Antrages der Abg. Dr. Bruno Pittermann, Dr. Hermann Withalm, Friedrich Peter und Genossen wurde hinsichtlich der parlamentarischen Parteienvertreter im Landesverteidigungsrat noch durch eine gesonderte Novelle zum Wehrgesetz (BGBl. Nr. 184/1970)270 auf den Fall Bedacht genommen, daß zwei Parlamentsfraktionen im Hauptausschuß des NR gleich stark vertreten sind. Den Entwicklungen auf Grund der skizzierten Novellierungen des Wehrgesetzes seit 1960 wurde auf disziplinarrechtlichem Gebiet im wesentlichen durch das Bundesgesetz vom 14. Juli 1965, BGBl. Nr. 234, mit dem das Heeresdisziplinargesetz neuerlich abgeändert wird, Rechnung getragen. 271 269 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 272/ 1969 s. die Steno Prot. NR, XI. GP 1969 (RV 1199 dBlg., AB 1355 dBlg.; 11625, 12684) und die Steno Prot. BR 1969 (7459, 7460). 270 Über die parlamentarische Behandlung der Novelle zum Wehrgesetz, BGBl. Nr. 184/1970 S. die Steno Prot. NR, XII. GP 1970 (Antrag II-11 dBlg., AB 22 dBlg.; 250-253,275-282) und die Steno Prot. BR 1970 (7769, 7770)

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Veränderungen der Heeresorganisation fanden ihren Niederschlag in den Bestimmungen über die Strafbefugnisse sowie über die organisatorische Einordnung, die Zuständigkeit und die Zusammensetzung der Disziplinarkommissionen einschließlich ihrer Senate. Hiebei wurden diese Regelungen auch - den militärischen Bedürfnissen nach organisatorischer Beweglichkeit entsprechend - elastischer gestaltet. Der Ausbau des Reservekaders führte zu einer Ergänzung des für Reservisten geltenden Abschnittes, das "unechte" Berufsunteroffizierkorps der Beamten und Vertragsbediensteten in Unteroffiziersfunktion wurde in das System des Heeresdisziplinargesetzes eingegliedert. Ebenfalls im Jahre 1965 war durch die neue Aufgabenstellung der Auslandseinsätze auf Grund des Bundesverfassungsgesetzes BGBL Nr. 173/ 1965 eine gesonderte gesetzliche Regelung im Rahmen des Wehrrechts notwendig geworden. Mit dem Bundesgesetz vom 14. Juli 1965, BGBL Nr. 233, über die Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres zur Hilfeleistung in das Ausland, 272 wurde für solche Auslandseinsätze eine neu Art des außerordentlichen Präsenzdienstes auf freiwilliger Basis geschaffen und die den besonderen Umständen der Organisationsform und des Einsatzes im Ausland entsprechenden Abweichungen von den im Inland geltenden Regelungen des Heeresgebührengesetzes und des Heeresdisziplinargesetzes normiert. Weitere Bedürfnisse nach besonderen wehrrechtlichen Regelungen fanden ihren Ausdruck im Bundesgesetz vom 10. Juli 1963, BGBL Nr. 204, über militärische Sperrgebiete,273 im Bundesgesetz vom 31. Mai 1967, BGBL Nr. 197, über militärische Munitionslager 274 und im Militärleistungsgesetz, BGBL Nr. 174/1968. 275 271 Über die parlamentarische Behandlung der Novelle zum Heeresdisziplinargesetz, BGBL Nr. 234/1965, s. die Steno Prot. NR, X. GP 1965 (RV 820 dBlg., AB 846 dBlg.; 4549, 4648, 4649) und die Steno Prot. BR 1965 (5699-5707). 272 Über die parlamentarische Behandlung des "Auslandseinsatzgesetzes" s. die Steno Prot. NR, X. GP 1965 (RV 821 dBlg., AB 847 dBlg.; 4549, 4550, 4648, 4649) und die Steno Prot. BR 1965 (5699 - 5707); s. auch Ermarcora / Kopf / Neisser, Wehrrecht I 100 ff. 273 Über die parlamentarische Behandlung des "Sperrgebietsgesetzes" s. die Steno Prot. NR, X. GP 1963 (RV 164 dBlg., AB 198 dBlg.; 975, 1105) und die Steno Prot. BR 1963 (5027 -5029); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht 111 169 ff.; ferner Pernthaler, Militärisches Sperrgebiet und Naturschutz, ZfV 1977, 1 ff., und hiezu Schäffer, Kompetenzverteilung und Rücksichtnahmepflicht im Bundesstaat, ZfV 1985, 357 ff., sowie die Initiative des BR von 1977 (FN 311). 274 Über die parlamentarische Behandlung des "Munitionslagergesetzes" s. die· Steno Prot. NR, XI. GP 1967 (RV 423 dBlg., AB 472 dBlg.; 4073, 4509, 4510) und die Steno Prot. BR 1967 (5027 -5029), hinsichtlich der Novelle BGBL Nr. 265/1972 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1972 (RV 327 dBlg., AB 354 dBlg.; 2477, 2589, 29642967) und die Steno Prot. BR 1972 (8928); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht 111 128 ff.

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Das Bundesgesetz über militärische Sperrgebiete ermöglicht es, Truppenübungsplätze und besonders sicherungswürdige Bereiche militärischer Anlagen zu dauernden Sperrgebieten zu erklären; Gebiete, die dem Bundesheer vorübergehend für Übungszwecke zur Verfügung stehen, können für den erforderlichen Zeitraum zu Sperrgebieten erklärt werden. Die Erklärung zum Sperrgebiet erfolgt durch Verordnung des Bundesministers für Landesverteidigung im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Inneres. Hinsichtlich der Sperrgebiete gelten verschiedene Beschränkungen (so vor allem das Verbot des Betretens und Befahrens), von denen allerdings aus triftigen Gründen Ausnahmen gewährt werden. Bestimmte ausdrücklich angeführte staatliche Organe haben kraft Gesetzes freien Zutritt; ihnen ist lediglich eine Verständigungspflicht gegenüber der zuständigen militärischen Dienststelle auferlegt. Da die maßgebliche Bestimmung Organe der Länder und Gemeinden im allgemeinen unberücksichtigt läßt, wurde sie zum Anlaß kritischer Erörterungen der Frage einer verfassungskonformen Koordination von bundes- und landesrechtlichen Regelungen i. S. d. Kompetenzverteilung. Dieser allgemeinen Grundsatzfrage kommt über den Anlaßfall hinaus im besonderen für Regelungen der militärischen Interessensphäre Bedeutung zu. In Judikatur und Literatur ist zu dieser Frage eine Entwicklung der "Gesichtspunktetheorie" (nach der es zulässig ist, einen Lebenssachverhalt unter verschiedenen Gesichtspunkten zum Gegenstand mehrerer gesetzlicher Regelungen auf verschiedenen kompetenzrechtlichen Grundlagen zu machen) zu einer verstärkten Beachtung der "Rücksichtnahmepflicht" zwischen Bund und Ländern festzustellen. Wie Schäfter im Zusammenhang mit dieser Verpflichtung, die Zuständigkeiten und Interessen der gegenbeteiligten Gebietskörperschaft zu wahren, bemerkt, "wird von jeder der beiden Autoritäten zu beachten sein, daß sie nicht in den Kern der Kompetenz der anderen durch ihre Regelung eingreift und damit die Verwirklichung jenes Staatszweckes vereitelt, um dessentwillen eben jener Autorität ihre Kompetenz verliehen ist". 273 Mit dem Bundesgesetz über militärische Munitionslager wurden geeignete gesetzliche Grundlagen für die Errichtung dieser Anlagen sowie für die notwendige Sicherheit des Lagers und seiner Umgebung geschaffen. Diesem Zweck dient vor allem die Festlegung von Gefährdungsbereichen, in denen bestimmte Beschränkungen aus Sicherheitsgründen bestehen. Die Gefährdungsbereiche werden durch Verordnung des Bundesministers für 275 Über die parlamentarische Behandlung des Militärleistungsgesetzes s. die Steno Prot. NR, XI. GP 1968 (RV 524 dBlg., AB 807 dBlg.; 4573,7839-7860) und die Steno Prot. BR 1968 (6695, Verstreichen der Einspruchsfrist ohne Behandlung); bisher erfolgte nur eine geringfügige Novellierung (betr. die Übermittlung von Kfz.Daten an militärische Dienststellen) durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 869/1992 (Antrag 399/ A II-7455 dBlg., AB 750 dBlg. Steno Prot. NR XVIII. GP 1992, 1070810720, und Steno Prot. BR 1992, 27087 - 27089); S. auch Kopf / Rauter, Militärleistungsgesetz (1968) insbes. 6 ff., 37 ff.; Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 1 ff.

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Landesverteidigung bestimmt, wobei vor der Errichtung bzw. Erweiterung des Munitionslagers u. a. der Landeshauptmann und der Bürgermeister, deren Landes- bzw. Gemeindegebiet vom Gefährdungsbereich berührt werden wird, zu hören sind. Mit der Novellierung durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 265/1972 wurde neben verschiedenen Präzisierungen im Interesse einer besseren Bedachtnahme auf militärische Geheimhaltungsbedürfnisse eine besondere Kundmachungsregelung für die Verordnungen über Gefährdungsbereiche getroffen. Das Militärleistungsgesetz beschränkt sich in seiner geltenden Fassung auf die materielle Ergänzung des Heeres mit den notwendigen Transportmitteln (Kraftfahrzeuge, Luftfahrzeuge, Schiffe) und Baumaschinen im Wege von Leistungspflichten. Hiebei wurde die Leistungspflicht grundsätzlich subsidiär normiert, durch ein besonderes System suspensiv bedingter Bescheide ("Bereitstellungsbescheide"), aber auch den Bedürfnissen nach sachgerechten Vorbereitungsmaßnahmen für den Bedarfsfall- ausschließlich zum Zwecke der militärischen Landesverteidigung, nicht aber für Assistenzleistungen - Rechnung getragen. Ferner wurde auf die wesentlichen Träger der zivilen Landesverteidigung (z. B. Feuerwehr- und Rettungsinstitutionen) durch Ausnahmebestimmungen Bedacht genommen. Hinsichtlich der Bedürfnisse der umfassenden Landesverteidigung insgesamt fehlt allerdings noch ein umfassendes Leistungsrecht, wenn auch in einzelnen Bereichen bestimmte bundes- bzw. landesgesetzliche Vorschriften leistungsrechtlicher Natur, wie etwa das Versorgungssicherungsgesetz, BGBl. Nr. 282/1980, oder Katastrophengesetze der Länder, bestehen. Die Vielfalt der Sachbereiche, in denen solche Regelungen erforderlich sind, und die diesbezügliche Aufspaltung der Kompetenzen bedingen eine vielseitige Verflechtung der notwendigen Maßnahmen. Ein Leistungsrecht, das allen Notstandssituationen des Staates in umfassender Weise gerecht werden soll, bedarf daher umfangreicher Vorbereitung und wohlüberlegter Akkordierung. Auch auf dem Gebiet des militärischen Ehrenzeichenwesens waren nach dem langjährigen Entzug der Wehrhoheit geeignete Regelungen zu treffen. So wurde ein schon im 18. Jahrhundert grundgelegter und 1931 dem Wehrrecht der Republik gesetzlich eingefügter Zulagenanspruch für Besitzer von Tapferkeitsmedaillen durch das Tapferkeitsmedaillen-Zulagengesetz 1958, BGBl. Nr. 53, neu geregelt. 276 Dieses Bundesgesetz wurde in der Folge durch das Tapferkeitsmedaillen-Zulagengesetz 1962, BGBl. Nr. 146, ersetzt; 277 im Zuge mehrfacher Novellierungen wurden auch die Träger des 276 Über die parlamentarische Behandlung des Tapferkeitsmedaillen-Zulagengesetzes 1958 s. die Steno Prot. NR, VIII. GP 1958 (RV 401 dBlg., AB 406 dBlg.; 2415, 2470-2473) und die Steno Prot. BR 1958 (3126, 3127); S. hiezu auch FN 184 277 Über die parlamentarische Behandlung des Tapferkeitsmedaillen-Zulagengesetzes 1962 S. die Steno PI.'ot. NR, IX. GP 1962 (RV 636 dBlg., AB 644 dBlg.; 4246,

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Militär-Maria-Theresien-Ordens als Ehrensoldempfänger in den Kreis der Anspruchsberechtigten einbezogen. Mit dem Kärntner Kreuz-Zulagengesetz 1970, BGBl. Nr. 194,278 wurde für die Träger des Kärntner Kreuzes für Tapferkeit eine ähnliche Zulagenregelung geschaffen. Entsprechend einer altösterreichischen Tradition wurde mit dem Bundesgesetz vom 10. Juli 1963, BGBl. Nr. 202, über das Bundesheerdienstzeichen 279 ein Ehrenzeichen zur Würdigung langjähriger treuer Dienste im Bundesheer geschaffen. Das Bundesheerdienstzeichen wird in drei Klassen verliehen und war ursprünglich nur für Berufssoldaten vorgesehen; im Jahre 1969 wurden auch Reservisten, die freiwillige Waffenübungen in bestimmtem Ausmaß geleistet haben, in den Anwendungsbereich einbezogen. Gleichzeitig mit dem Bundesheerdienstzeichen wurde durch das Bundesgesetz vom 10. Juli 1963, BGBl. Nr. 203, über die Wehrdiensterinnerungsmedaille 280 diese Medaille für Wehrpflichtige vorgesehen, die den ordentlichen Präsenzdienst absolviert haben; im Jahre 1969 wurde eine zweite Medaillenstufe ("in Silber") geschaffen, mit der auf die Teilnahme an Inspektionen / Instruktionen Bedacht genommen wurde. Beide Wehrdienst-Auszeichnungen erfuhren 1989 im Zusammenhang mit der Ausformung des Milizsystems eine gemeinsame gesetzliche Neuregelung. Eine versorgungsrechtliche Regelung für die Wehrpflichtigen wurde mit dem Heeresversorgungsgesetz, BGBl. Nr. 27/1964, getroffen. 281 Gesundheitsschädigungen, die Wehrpflichtige infolge einer Präsenzdienstleistung 4308, 4309) und die Steno Prot. BR 1962 (4501, 4502); zu diesem Gesetz ergingen die Novellen BGBL Nr. 197' /1964, 196/1965, 266/1966, 271 / 1969, 237/1971, 20/ 1974, 13/1975 und 388/1975; S. hiezu auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 231 ff. 278 Über die parlamentarische Behandlung des Kärntner Kreuz-Zulagengesetzes 1970 s. die Steno Prot. NR, XII. GP 1970 (Antrag II-7 dBlg., AB 29 dBlg.; 33, 142, 250) und die Steno Prot. BR 1970 (7766 -7769); s. hiezu auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 244 ff. 279 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes über das Bundesheerdienstzeichen s. die Steno Prot. NR, X. GP 1963 (RV 165 dBlg., AB 199 dBlg.; 1105-1108) und die Steno Prot. BR 1963 (5027-5029); das Gesetz wurde durch die Novellen BGBL Nr. 97/1969,272 / 1971,422/1974 und.577 / 1983 geändert; S. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 201 ff.; hinsichtlich des späteren Wehrdienstzeichens S. FN 354. 280 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes über die Wehrdiensterinnerungsmedaille s. die Steno Prot. NR, X. GP 1963 (Antrag des Landesverteidigungsausschusses 200 dBlg.; 11 05 -11 08) und die Steno Prot. BR 1963 (50275029); das Gesetz wurde durch die Novellen BGBI. Nr. 98/1969,272/1971 und 422 / 1974 geändert; S. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 214 ff.; hinsichtlich der späteren Wehrdienstmedaille S. FN 354. 281 Über die parlamentarische Behandlung des HVG s. die Steno Prot. NR, X. GP 1964 (RV 158 dBlg., AB 349 dBlg.; 975, 2287 -2310) und die Steno Prot. BR 1964 (5194-5203); S. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht Ergänzungsband 1981 insbes. 1 ff; das HVG wurde mehrfach novelliert.

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bzw. bestimmter anderer, damit in Zusammenhang stehender Anknüpfungspunkte (so insbes. Unfälle bei der Stellung und sog. "Wegunfälle" bei Antritt und Entlassung aus dem Präsenzdienst sowie bei Dienstfreistellungen) erlitten haben, begründen als "Dienstbeschädigung" Versorgungsansprüche nach diesem Bundesgesetz. Die Versorgungsleistungen nach dem HVG sind - ebenso wie nach dem KOVG 1957 - Rehabilitationsleistungen (Heilfürsorge, orthopädische Versorgung, berufliche und soziale Maßnahmen) und finanzielle Zuwendungen (Beschädigtenrente, verschiedene Zulagen, Hinterbliebenenrente, Witwen- und Waisenbeihilfe etc.). Das Militärstrafrecht, das seit 1920 dem allgemeinen Strafgesetz als Anhang eingefügt war und trotz einzelner Änderungen zum großen Teil noch aus dem 19. Jahrhundert stammte, bedurfte dringend einer Reform. Anläßlich der Behandlung der Strafgesetznovelle 1957, BGBl. Nr. 30, hat der NR am 23. Jänner 1957 die Bundesminister für Justiz und für Landesverteidigung aufgefordert, den Entwurf eines neuen Militärstrafgesetzes, das den modernen Anforderungen gerecht wird, vorzulegen. Als Ergebnis der entsprechend tiefgreifenden Reformarbeit wurde vom NR am 30. Oktober 1970 das Militärstrafgesetz, BGBl. Nr. 344/1970,282 das mit 1. Jänner 1971 in Kraft getreten ist, beschlossen. Das neue Militärstrafgesetz beseitigte die überstrengen Strafdrohungen sowie die Kasuistik und begriffliche bzw. sprachliche Überalterung des bisherigen Anhangs zum allgemeinen Strafgesetz; es brachte wesentliche Vereinfachungen und eine den heutigen kriminalpolitischen Erkenntnissen entsprechende Neuregelung der Strafbestimmungen. Eine unmittelbare Auswirkung dieser Strafrechtsreform ergab sich auf das Wehrgesetz durch die Aufhebung bzw. Änderung einzelner Strafbestimmungen des Wehrgesetzes im neuen Militärstrafgesetz, eine mittelbare Auswirkung auf das Heeresdisziplinargesetz ergab sich durch die Notwendigkeit sachgerechter Neuregelungen des Heeresdisziplinarrechts angesichts der Verweisung verschiedener militärischer Delikte aus der gerichtlichen Strafbarkeit in den Bereich der disziplinären Ahndung. Diese Veränderung des Heeresdisziplinarrechts folgte - im Zusammenhang mit weiteren Novellierungsbedürfnissen infolge Systemänderungen des Dienstrechts und des Wehrrechts - im Jahre 1975 durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 369/1975. Im Zuge des Ausbaues der Wehrgesetzgebung erwies es sich, wie schon erwähnt, als notwendig, in Rechtsvorschriften anderer Verwaltungsbereiche verschiedentlich spezielle Sonder- bzw. Ausnahmeregelungen für den militärischen Bereich zu normieren. Diese Verzweigung wehrrechtlicher 282 Über die parlamentarische Behandlung des Militärstrafgesetzes s. die Steno Prot. NR, XII. GP 1970 (RV 53 dBlg., AB 156 dBlg.; 301, 379, 957 -968) und die Steno Prot. BR 1970 (7887 -7890); s. auch Foregger / Kunst, Das österreichische Militärstrafgesetz (1976) insbes. 24 ff., 162 ff.

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Bestimmungen ergibt sich vielfach aus engen Verflechtungen militärischer und ziviler Sachgebiete innerhalb derselben Materie. Aber auch der schon eingangs erwähnte Gesichtspunkt der besonderen Regelungsbedürfnisse aus der militärischen Aufgabenstellung, vor allem für den Fall eines Einsatzes oder für Einsatzübungen, erfordert entsprechende Sonderbestimmungen. Systematische und praktische Gründe, insbes. die in den erwähnten Fällen häufige Notwendigkeit einer einvernehmlichen Vollziehung durch die sachlich berührten Bundesminister, sprechen für die Einbettung der Sondemormen in die geschlossene gesetzliche Regelung der jeweiligen Materie und gegen eine Aufspaltung in vielfältige Regelungen mit schlechterer Übersichtlichkeit und kaum vermeidbaren Überlappungen. Als Beispiel für eine Abwägung beider legistischen Wege dienen das seinerzeitige Heereskraftfahrgesetz 1958, BGBl. Nr. 52, 283 und das Kraftfahrgesetz 1967, BGBl. Nr. 267,284 in dessen umfassendem Rahmen nunmehr auch die zahlreichen Regelungen des militärischen Kraftfahrrechts enthalten sind. Eine vergleichbare Eingliederung der militärischen Regelungen in die Gesamtregelung der Materie ist auch im Luftfahrtgesetz, BGBl. Nr. 253/1957,285 und im Schiffahrtspolizeigesetz, BGBl. Nr. 91/ 1971,286 erfolgt. Weitere Beispiele solcher wehrrechtlicher Verzweigungen in zahlreichen Bundesgesetzen sind das Waffengesetz 1967, BGBl. Nr. 121,287 und das Strahlenschutzgesetz, BGBl. Nr. 227/1969. 288

283 Über die parlamentarische Behandlung des Heereskraftfahrgesetzes s. die Steno Prot. NR, VIII. GP 1958 (RV 400 dBlg., AB 407 dBlg.; 2415, 2468-2470) und die Steno Prot. BR 1958 (3128, 3129); s. auch Ermacora / Loebenstein, (FN 256) 52 ff. 284 Über die parlamentarische Behandlung des Kraftfahrgesetzes 1967 s. die Steno Prot. NR, Xl. GP 1966, 1967 (RV 186 dBlg., AB 576 dBlg.; 1943, 4787 -4847) und die Steno Prot. BR 1967 (6405 - 6414); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 25 ff. 285 Über die parlamentarische Behandlung des Luftfahrtgesetzes s. die Steno Prot. NR, VIII. GP 1957 (RV 307 dBlg., AB 318 dBlg.; 1532, 1562 -1567) und die Steno Prot. BR 1957 (3005 -3008); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 62 ff. 286 Über die parlamentarische Behandlung des Schiffahrtspolizeigesetz s. die Steno Prot. NR, XII. GP 1971 (RV 81 dBlg., AB 328 dBlg.; 639, 2803-2805) und die Steno Prot. BR 1971 (6405 -6414); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 113 ff. 287 Über die parlamentarische Behandlung des Waffengesetzes 1967 s. die Steno Prot. NR, Xl. GP 1967 (RV 99 dBlg., AB 405 dBlg.; 1380, 3750-3762) und die Steno Prot. BR 1967 (6271-6274); hinsichtlich der Waffengesetznovelle 1979 s. die Steno Prot. NR, XV. GP 1979, 1980 (RV 82 dBlg., AB 199 dBlg.; 2297 -2302) und die Steno Prot. BR 1980 (14001-14004); s. auch Czeppan / Szirba, Waffengesetz 1967 (1967) 118 ff., 131 ff., (1980) 5 f., 137 ff., 175 ff. 288 Über die parlamentarische Behandlung des Strahlenschutzgesetzes s. die Steno Prot. NR, Xl. GP 1969 (RV 1235 dBlg., AB 1291 dBlg.; 11859, 12169 -12201) und die Steno Prot. BR 1969 (7317 -7323); s. auch Ermacora / Kopf / Neisser, Wehrrecht III 181 ff.

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Für den Bereich der Landesgesetzgebung erweist sich eine Wahrung der militäri:;;chen Interessen nicht in gleicher Weise wie in Bundesgesetzen möglich, weil dem Landesgesetzgeber eine Regelung militärischer Angelegenheiten entzogen ist (Art. 10 Abs. 1 Z 15 B-VG). Dennoch können militärische Interessen auf der Ebene des Landesrechtes im Sinne der gebotenen verfassungskonformen Koordination von Bundes- und Landesrecht entsprechend berücksichtigt werden. So haben die Landesgesetze i. S. d. föderalistischen Bindungsprinzips den notwendigen Raum für eine ausreichende Wahrnehmung der militärischen Aufgaben zu bieten. Als Beispiel hiefür sei das Vorarlberger Naturschutzgesetz, LGBl. Nr. 36/1969, genannt, in dem ausdrücklich bestimmt ist, daß "Flächen, die ausschließlich oder vorwiegend Zwecken des Bundesheeres ... dienen, in ihrer Benutzung durch den Naturschutz nicht beeinträchtigt werden" dürfen. Auch ohne ausdrückliche Normierung einer konkreten Rücksichtnahmepflicht ergibt sich aber aus verfassungskonformer Sicht ein Verbot der wechselseitigen Behinderung von Bundes- und Landesrecht. Darüber hinaus hat sich in Judikatur und Literatur aus dem erwähnten Bindungsprinzip ein "Berücksichtigungsprinzip" entwickelt, nach dem es dem Bund und den Ländern nicht verwehrt ist, im Rahmen der Regelung eigener Zuständigkeiten auch sachlich zusammenhängende öffentliche Interessen aus dem Zuständigkeitsbereich der gegenbeteiligten Gebietskörperschaft mit zu berücksichtigen. Dieser Koordinationsform, mit der den Gebietskörperschaften eine gewisse kompetenzübergreifende Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeit geboten wird, kommt vor allem für die komplexen Bereiche der Raumordnung und der umfassenden Landesverteidigung praktische Bedeutung zu. 289 4. Strukturwandel 1971

Das Jahr 1971 markiert eine Zäsur in der Wehrgesetzgebung, die ihren Ursprung in der Regierungserklärung der Bundesregierung am 27. April 1970 hat und einen weitgehenden Strukturwandel bewirkte. Auf Grund der erwähnten Regierungserklärung wurde durch die Bundesregierung eine Bundesheer-Reformkommission aus Vertretern der politischen Parteien, der zuständigen Bundesministerien, der Kammern, der Gewerkschaften, der Österreichischen Hochschülerschaft sowie verschiedener Jugendorganisationen und sachlich berührten Verbände gebildet. Diese Kommission hatte den Auftrag, Reformvorschläge für die Struktur des Bundesheeres mit dem Ziel der Herabsetzung der Dauer des ordentlichen Präsenzdienstes von neun auf sechs Monate unter Gewährleistung der Einsatzfä-

289

Vgl. hiezu FN 134 und 273.

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higkeit zum Schutz der Neutralität in allen Krisen-, Spannungs- und Katastrophenfällen auszuarbeiten. 290 Im Bericht der Bundesheer-Reformkommission wurde grundlegend festgestellt, diese Reform müsse sicherstellen, "daß die der militärischen Landesverteidigung zukommenden Aufgaben unter Berücksichtigung der von der Bundesregierung am 11. Mai 1965 erteilten Aufträge in den festgelegten Bedrohungsfällen erfüllbar sind. Alle Maßnahmen sind jedoch auf den Verteidigungsfall auszurichten; Vorkehrungen für den Krisen- und Neutralitätsfall müssen mit inbegriffen sein". In operativer Hinsicht wurde es auf Grund der dauernden Neutralität und der geopolitischen Lage Österreichs für geboten erachtet, "eine von der Mobilmachung unabhängige, jederzeit verfügbare, einsatzbereite Truppe präsent zu halten. Diese Bereitschaftsverbände, deren Friedensdislokation neutralitätspolitischen Gesichtspunkten folgen muß, werden in allen Fällen, in denen noch keine direkte Bedrohung gegen Österreich erkennbar ist (Krisenfall), durch raschen Einsatz in den bedroht erscheinenden Räumen von Anbeginn an den Willen Österreichs zur Wahrung seiner Souveränität unmißverständlich zu dokumentieren haben. Sie müssen nach Umfang, Organisation und Bewaffnung befähigt sein, im Sinne des Ministerratsbeschlusses vom 11. Mai 1965 die Sicherung eines bedrohten Abschnittes der Staatsgrenze oder eines bedrohten Raumes wenigstens im beschränkten Umfang zu übernehmen. - Besondere Bedeutung kommt im Krisenfall wie im Neutralitätsfall der Bewahrung der Lufthoheit zu." Darüber hinaus sollten die im Bedrohungsfalle durch eine Mobilmachung aufzustellenden Landwehrverbände "die Masse der österreichischen Streitkräfte" darstellen. Für die Abwehrmaßnahmen wurde ein System der "Gesamtraumverteidigung" entwickelt. Es basiert "auf der Zusammenziehung starker beweglicher Verbände (Bereitschaftsverbände und taktisch bewegliche Landwehrkräfte) in operativ entscheidenden Räumen sowie auf einer starken und wirkungsvollen Sicherung des gesamten übrigen Staatsgebietes an taktisch wichtigen Abschnitten und 290 Die konstituierende Sitzung der Bundesheer-Reformkommission fand am 15. Mai 1970 statt. Der Kommission gehörten 5 Vertreter der politischen Parteien, 27 Vertreter der zuständigen Bundesministerien (davon 7 Angehörige des Bundesheeres), 2 Vertreter der Gewerkschaften, 7 Vertreter von Verbänden, 3 Vertreter der Kammern, 4 Vertreter der Österr. Hochschülerschaft und 7 Vertreter verschiedener Jugendorganisationen an. Vorsitzender der Kommission war der Bundesminister für Landesverteidigung Johann Freihsler, geschäftsführender Vorsitzender MinR Dr. Franz Sailler; Vorsitzende der einzelnen Arbeitsausschüsse waren General Erwin Fussenegger, Brigadier Gustav Habermann , MinR Dr. AdolJ Kolb, Generalmajor Gustav WeinkopJ, Brigadier Otto Heller, Brigadier Maximilian Grohs, Brigadier Karl LütgendorJ, Brigadier Karl Ruby, Oberstintendant Dr. Kurt Schneider und Oberstintendant Dkfm. Helmut Klapita-Etzler. Die Gliederung der Kommission, ihre Zusammensetzung im einzelnen sowie die Eröffnungsrede von Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky und Grundsatzerklärung des Bundesministers für Landesverteidigung sind aus der Österr. Militärischen Zeitschrift 1970, 312 ff. ersichtlich.

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Punkten durch raumgebundene Kräfte (territoriale Landwehr). Ziel aller Abwehrmaßnahmen muß es sein, jeden auch mit überlegenen Kräften geführten Angriff in einem tiefgestaffelten System von Verzögerungs-, Widerstands- und Verteidigungszonen festlaufen zu lassen". Zur Erfüllung der Aufgaben der Bereitschaftsverbände wurde eine Stärke von 15.000 Mann, "die sich aus Berufssoldaten, zeitverpflichteten Soldaten und längerdienenden Soldaten (fiS) zusammensetzen müssen, für erforderlich gehalten". Zur Erfüllung der Aufgaben der Landwehr wurde die Einführung von Pflichtreserveübungen als notwendig erachtet, wobei festgestellt wurde, daß im Falle der Verkürzung des ordentlichen Präsenzdienstes "ein größeres Ausmaß von Reserveübungen als die bisherigen Instruktionen vorzusehen sein" wird. In der Frage der Wehrdienstverweigerung empfahl die Bundesheer-Reformkommission der Bundesregierung "die gesetzlichen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen, durch die Wehrpflichtigen, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst - gleichgültig, ob den Wehrdienst überhaupt oder den Wehrdienst mit der Waffe - ablehnen, die Leistung eines Wehrersatzdienstes ermöglicht wird". Als wesentliche Schlußfolgerung ihrer Beratungen stellte die Kommission in ihrem Bericht zusammenfassend fest: "Für die Reform hat zu gelten: 1. Für eine Verwendung der Landwehr erscheint ein Grundwehrdienst in

der Dauer von 6 Monaten nur unter der Voraussetzung ausreichend, daß eine genügende Anzahl von Reserveübungen in einer jeweils entsprechenden Dauer gewährleistet ist. Durch ein System von ausreichenden PfIichtreserveübungen soll die Landwehr zur Trägerin der Verteidigungsbereitschaft werden.

2. Für die Bereitschaftsverbände ist eine bestimmte Anzahl von längerdienenden Soldaten erforderlich. Die zur Gewinnung dieser längerdienenden Soldaten geeigneten Maßnahmen wären zu treffen. 3. Die qualitative und quantitative Verbesserung des Kaderpersonals ist das Schlüsselproblem. Hiezu sind alle möglichen Anstrengungen, insbesondere auf dienstrechtlichem Gebiet, zu machen. Bei allen im Rahmen der Reform des Bundesheeres vorgesehenen Maßnahmen sind die neutralitätspolitischen Auswirkungen, die durch Regelungen eintreten könnten, die die Einsatz- und Verwendungsbereitschaft des Bundesheeres vermindern, zu bedenken. Durch Übergangsbestimmungen ist sicherzustellen, daß das Bundesheer jederzeit in der Lage ist, den ihm erteilten Auftrag zu erfüllen. Die Reform wird nur in sorgfältig geplanten Übergangsphasen (Prioritätenkalender) durchführbar sein. Für diese Phasen ist ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen.

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Das Bundesheer wird die ihm übertragenen Aufgaben nur dann erfüllen können, wenn die im Zusammenhang mit der Verkürzung der Grundwehrdienstzeit vorgeschlagenen Maßnahmen durchgeführt werden; andernfalls wird das Bundesheer dem ihm erteilten Auftrag nicht entsprechen können." Unabhängig von den Beratungen der Bundesheer-Reformkommission stellten die Abg. KarZ BZecha, Erwin Lanc, Dr. KarZ Reinhart, Peter Schied er und Genossen am 20. Mai 1970 einen Antrag betreffend ein Bundesgesetz, mit dem die Dauer der ordentlichen Präsenzdienstzeit von 9 auf 6 Monate reduziert wird. 291 Dieser Antrag war allerdings in der vorgelegten Fassung nicht geeignet, der Zielsetzung der Heeresreform gerecht zu werden; er war auch offensichtlich - wie der einleitende Hinweis auf die am 25. Februar 1970 in der Wahlwerbung öffentlich abgegebene Verpflichtungserklärung, einen solchen Antrag im Falle der Wahl zu stellen, erkennen läßt - nur als politisch-demonstrativer Akt der Einlösung dieser Zusage gedacht. Ein weiterer Initiativantrag, der die Gewährung einer Fahrtkostenvergütung für Wehrpflichtige bei Antritt und Beendigung sowie einmal im Monat des Präsenzdienstes zum Ziel hatte, wurde am 1. Juli 1970 von den Abg. Othmar TödZing, Werner Melter, Franz Mayr, Gustav Zeillinger, Joset Steiner und Genossen gestellt. 292 Beide Anträge wurden gemeinsam mit der 1971 dem NR vorgelegten RV einer weitreichenden Wehrrechtsänderung der parlamentarischen Behandlung unterzogen. Von den Abg. Dr. AZois Mock, Othmar TödZing und Genossen wurde am 17. Februar 1971 eine Entschließung beantragt,293 mit der die Bundesregierung aufgefordert wird, "durch die unverzügliche Einbringung einer Regierungsvorlage in aller Öffentlichkeit Klarheit zu schaffen über die Vorstellungen der Bundesregierung von einer Verkürzung des ordentlichen Präsenzdienstes auf sechs Monate bei Gewährleistung der Einsatzbereitschaft des Bundesheeres, wie sie im Neutralitätsgesetz 1955 und im Ministerratsbeschluß vom 11. Mai 1965 festgelegt wurde und wie sie in der Regierungserklärung Dr. Kreisky vom 27. April 1970 und den Beschlüssen der Bundesheerreformkommission zugrunde lag". Dieser Entschließungsantrag fand keine Mehrheit. Hingegen wurde am selben Tage ein Entschließungsantrag der Abg. Gustav Zeillinger, Friedrich Peter und Genossen angenommen, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, "ihre Verhandlungen mit den drei im Nationalrat vertretenen Parteien zu intensivieren und so rasch wie möglich zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen, damit die Reform des Bundesheeres von einer Willenseinigung aller drei Parteien getragen wird". 291 Siehe II-29 dBlg. Steno Prot. NR, XII. GP (Antrag 8/ A). 292 Siehe II - 217 dBlg. Steno Prot. NR, XII. GP (Antrag 26 / A). 293 Siehe die Steno Prot. NR, XII. GP 1971, 2760, 2761, 2800, 2801.

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Die Verhandlungen über die RV eines Bundesgesetzes, mit dem wehrrechtliche Bestimmungen neuerlich geändert werden, führten jedoch nicht zur Einigung aller drei Parteien, wobei vor allem Umfang und gesetzliche Verankerung der Bereitschaftstruppe, ein Finanzierungskonzept für den Mehraufwand des vorgesehenen Systems, Besoldungsfragen und bestimmte andere "flankierende Maßnahmen" zur Gewährleistung der Einsatzbereitschaft des Bundesheeres Streitpunkte bildeten. Nach Meinung der Österreichischen Volkspartei wurde durch die RV trotz zahlreicher Änderungen im Zuge der Ausschußberatungen das Reformziel nicht erreicht. Wie im Minderheitsbericht zum AB ausgeführt ist, scheine dieses Ziel nicht erreichbar, "da in der Bereitschaftstruppe nur längerdienende Soldaten' verwendet werden können. Diese werden sich aber keinesfalls in genügender Anzahl freiwillig melden, so daß zur Ergänzung Wehrpflichtige herangezogen werden müssen, die sich freiwillig bereit erklären, unmittelbar im Anschluß an ihren Grundwehrdienst auch die Truppenübungen abzudienen. Da nur etwa 42.000 Wehrpflichtige pro Jahr vorhanden sind (14.000 je Turnus), reichen diese Wehrpflichtigenkontingente knapp aus, um die Einsatztruppen aufzufüllen, den Ausbildnerstand zu ergänzen, die Versorgungsteile und sonstige notwendige Truppendienste zu bewältigen. Für das Schwerpunktziel, nämlich für die Ausbildung von Soldaten für die Landwehr, bleiben so gut wie keine Wehrpflichtigen, so daß das taktisch operative Reformziel nicht erreicht werden kann. Die Reform geht daher ins Leere." Seitens der beiden anderen Parteien wurde dagegen der Standpunkt vertreten, diese Legislativmaßnahme bilde in der aus den Ausschußberatungen hervorgegangenen Fassung einen ersten und grundlegenden Schritt zur Reform des Bundesheeres im Sinne der Regierungserklärung vom 27. April 1970; es seien "flankierende Maßnahmen" in ausreichendem Umfang vorgesehen, durch die neue Rechtslage werden entsprechend dem Reformziel die Effektivität erhöht und mehr "Wehrgerechtigkeit" geschaffen. Die Standpunkte blieben unvereinbar. Die bisherige Konsenspolitik in Angelegenheiten der Landesverteidigung scheiterte an diesem im Inland heftig umstrittenen und im Ausland mit Interesse verfolgten Gesetzesvorhaben. Das Bundesgesetz, mit dem wehrrechtliche Bestimmungen neuerlich geändert werden, wurde vom NR am 15. Juli 1971 mit einigen Änderungen gegenüber der Fassung des AB mehrheitlich beschlossen und am 30. Juli 1971 unter der BGBL Nr. 272 kundgemacht. 294 Dieses Bundesgesetz (in der Praxis als "Wehrrechtsnovelle 1971" bezeichnet) enthält in seinem Kern eine umfangreiche und tiefgreifende 294 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 272 / 1971 s. die Steno Prot. NR, XII. GP 1971 (RV 350 dBlg., AB 552 dBlg.; 2835, 2949, 3385,4240-4346) und die Steno Prot. BR 1971 (8294-8319); S. auch Kopf, (FN 265) 388 f.

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Novellierung des Wehrgesetzes, darüber hinaus aber auch Änderungen das Heeresgebührengesetzes, des Bundesgesetzes über Ansprüche aus der Ableistung freiwilliger Waffenübungen, des Heeresdisziplinargesetzes, des Bundesgesetzes über die Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres zur Hilfeleistung in das Ausland, des Bundesgesetzes über die Wehrdiensterinnerungsmedaille und des Bundesgesetzes über das Bundesheerdienstzeichen; in fünf eigenständigen Art. dieser Novelle wurden noch zusätzliche Sonder- und Übergangsregelungen getroffen. Entsprechend der Zielsetzung der Bundesheerreform bildete die schon erwähnte Verkürzung der Präsenzdienstdauer das zentrale Element dieser Änderung der Wehrrechtslage. An die Stelle des bisherigen ordentlichen Präsenzdienstes von 9 Monaten traten ein "Grundwehrdienst" von 6 Monaten sowie Pflichtwaffenübungen ("Truppenübungen") von insgesamt 60 Tagen, wobei für die Heranziehung der Wehrpflichtigen zu den Truppenübungen eine zeit- und quotenmäßige Staffelung festgelegt wurde. In einem der erwähnten eigenständigen Art. der Wehrrechtsnovelle 1971 wurde den Wehrpflichtigen die Möglichkeit eingeräumt, auf Grund einer annahmebedürftigen freiwilligen Meldung an Stelle des sechsmonatigen Grundwehrdienstes samt Truppenübungen einen Grundwehrdienst von 8 Monaten zu leisten. Ferner wurde der verlängerte ordentliche Präsenzdienst, der in den vergangenen Jahren im Verordnungswege auf eine Verlängerungs dauer von maximal 15 Monaten ausgedehnt worden war, durch eine neue Einrichtung, den "freiwillig verlängerten Grundwehrdienst" ersetzt, der in Verpflichtungszeiträumen von jeweils 6 Monaten oder einem Vielfachen davon (als erste Verpflichtung auch in der Dauer von 3 Monaten) bis zu einem Höchstausmaß von 3 Jahren geleistet werden kann. Diese Präsenzdienstart sollte gemeinsam mit der Einrichtung des zeitverpflichteten Soldaten in erster Linie dazu dienen, eine "Bereitschaftstruppe" zu bilden, mit der "die zunächst erforderlichen Sichel1.lI~gsmaßnahmen zur Verteidigung Österreichs, eine geordnete Mobilmachung und die notwendige Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges sichergestellt werden". Der freiwillig verlängerte Grundwehrdienst wurde aber auch außerhalb der Bereitschaftstruppe - in gleicher Weise wie der seinerzeitige verlängerte ordentliche Präsenz dienst - für besondere Ausbildungsgänge sowie für Kaderfunktionen vorgesehen. Zur Steigerung der Attraktivität dieses Präsenz dienstes und zur Erleichterung der beruflichen Existenzsicherung der Wehrpflichtigen wurde für Verpflichtungen im Höchstmaß von 3 Jahren ein Anspruch auf Berufsweiterbildung im letzten Jahr der Dienstleistung geschaffen. Auf zeitverpflichtete Soldaten wurde diese Regelung für sinngemäß anwendbar erklärt.

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Dem Reservekader wurde mit den neu vorgesehenen "Kaderubungen" neben den freiwilligen Waffenübungen ein zweiter Ausbildungsweg eröffnet. Diese Kaderubungen wurden grundsätzlich ebenfalls auf freiwilliger Basis vorgesehen; lediglich für Reserveoffiziersanwärter und ehemalige Berufssoldaten wurde eine Verpflichtungsmöglichkeit normiert. Nach dem jeweiligen Ausbildungsziel wurden die Kaderubungen (von je 15 Tagen Dauer) zu Blöcken zusammengefaßt. Anders als bei freiwilligen Waffenübungen, kann sich die freiwillige Meldung bei den Kaderubungen nicht auf eine einzelne Übung, sondern nur auf den jeweiligen Block beziehen. "Als vorsorgliche Maßnahme zur Verstärkung der Verteidigungsbereitschaft" wurde die Einrichtung der "außerordentlichen Übungen" geschaffen, die es ermöglicht, bei außergewöhnlichen Verhältnissen durch die Einberufung von Wehrpflichtigen einen entsprechend erhöhten Präsenzstand zu erreichen, ohne daß es einer Mobilmachung bedarf. Das Recht zur Verfügung dieser Maßnahme wurde dem Bundesminister für Landesverteidigung eingeräumt. Einer raschen Verfügbarkeit ausgebildeter Wehrpflichtiger diente auch der neu vorgesehene Beurlaubtenstand in der Reserve, in dem für 3 Monate unmittelbar im Anschluß an den Grundwehrdienst bestimmte Melde- und Bewilligungspflichten festgelegt wurden. Im Zusammenhang mit diesen strukturellen Änderungen des Präsenzdienstes ist auch dessen systematische Gliederung neu geordnet worden. Die einzelnen Präsenzdienstarten wurden nach den Kriterien des allgemeinen Verpflichtungscharakters bzw. der Freiwilligkeit oder der an besondere Umstände gebundenen Verpflichtung in die Kategorien "ordentlicher Präsenzdienst" bzw. "außerordentlicher Präsenzdienst" eingegliedert. Nach diesem System bilden der Grundwehrdienst und die Truppenübungen den ordentlichen Präsenzdienst, alle anderen Präsenzdienstarten den außerordentlichen Präsenzdienst. Angesichts der neu vorgesehenen Struktur von Grundwehrdienst und Truppenübungen konnten die Inspektionen / Instruktionen entfallen. Es war allerdings notwendig, diese Übungseinrichtung in einem beschränkten Ausmaß bis 31. Dezember 1976 aufrechtzuerhalten, um eine personelle Überleitung aus dem bisherigen Reserveheer in das nach dem neuen System zu bildende Milizheer zu ermöglichen. Auf dem Gebiet der Besoldung wurden für Wehrpflichtige, die einen freiwillig verlängerten Grundwehrdienst leisten, besondere Begünstigungen im Wege eines erhöhten Taggeldes und einer monatlichen Prämie geschaffen; diese Begünstigungen wurden auch für den achtmonatigen Grundwehrdienst ab dem siebenten Monat vorgesehen. Für alle Wehrpflichtigen wurde eine Regelung über die Vergütung bestimmter Fahrtkosten geschaffen. Hinsichtlich der Truppenübungen, Kaderubungen, Inspek50'

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tionen / Instruktionen und außerordentlichen Übungen wurde dem Heeresgebührengesetz ein neues Entschädigungssystem eingefügt, das eine Abgeltung des Verdienstentganges durch Pauschalbeträge und darüber hinaus auf Antrag individuell bis zu der auch für freiwillige' Waffenübungen geltenden Entschädigungsgrenze vorsieht. Gleichzeitig wurde das Mindestund Höchstausmaß der Entschädigung bei freiwilligen Waffenübungen angehoben. Die übrigen Bestimmungen der Wehrrechtsnovelle 1971 dienen der Anpassung verschiedener Wehrrechtsbereiche an die erwähnten Änderungen sowie der Überleitung in die neue Rechtslage. 5. Korrekturen und Konsequenzen nach 1971

Die auf das "Reformjahr" 1971 folgenden Jahre waren vor allem von jenen Legislativmaßnahmen gekennzeichnet, die sich aus der Anwendung der Wehrrechtsnovelle 1971 bzw. aus der geänderten Wehrstruktur in der Praxis als notwendig erwiesen. So wurden durch das Bundesgesetz vom 5. Feber 1974, BGBL Nr. 89, mit dem wehrrechtliche Bestimmungen geändert werden,295 verschiedene Verbesserungen an der Wehrrechtsnovelle 1971 vorgenommen, wie etwa eine Präzisierung und Vervollständigung der für zeitverpflichtete Soldaten geltenden Regelung über die Berufsweiterbildung, eine Ergänzung der Verpflichtungsregelung bei Kaderübungen hinsichtlich der Reserveoffiziere, verbunden mit einer Verbesserung der Systematik im Interesse der Verständlichkeit, und eine die Absicht des Gesetzgebers eindeutig formulierende Neufassung der Übergangsregelung hinsichtlich der Inspektionen / Instruktionen; darüber hin allS wurden aber auch Konsequenzen aus praktischen Erfahrungen gezogen, wie etwa mit der Einschränkung des Zeitraumes für die Zurückziehung einer Meldung zum freiwillig verlängerten Grundwehrdienst. In der parlamentarischen Behandlung dieses Gesetzes, dem ein Antrag der Abg. Walter Mondl und Genossen zugrunde lag, spiegelten sich noch die Auseinandersetzungen um den mit der Wehrrechtsnovelle 1971 bewirkten Strukturwandel und die gegensätzlichen Standpunkte in der aktuellen Wehrpolitik. Einerseits wurden die im Initiativantrag (sowie bei dessen Beratung im Landesverteidigungsausschuß) vorgenommenen Korrekturen zu Neuregelungen von 1971 - so insbes. vom Abg. Dr. Georg Prader, dem ehemaligen Bundesminister für Landesverteidigung - als Zeichen einer Konzeptlosigkeit gewertet, andererseits wurde - so insbes. vom Abg. 295 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBL Nr. 89/ 1974 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1974 (Antrag 94/ A, AB 989 dBlg.; 7642, 7690, 9297 -9305; Behandlung nach Einspruch des BR: AB 1024 dBlg.; 9583, 9695, 98129843) und die Steno Prot. BR 1973, 1974 (9914-9924, 9983).

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Walter Mondl - auf die nur stufenweise möglichen Reformmaßnahmen zur Erreichung der neuen Organisationsstrukturen hingewiesen. Angesichts des Vorwurfes einer mangelhaften Information des Parlaments über Umfang und Zielsetzung der Bundesheerreform sowie über die derzeitige Situation im Bundesheer wurde anläßlich des Gesetzesbeschlusses am 14. Dezember 1973 auf Antrag der Abg. Rudolf Marwan-Schlosser und Genossen eine Entschließung, betreffend die Vorlage eines entsprechenden Berichtes des Bundesministers für Landesverteidigung an den NR, gefaßt. Vom BR wurde gegen den Gesetzesbeschluß des NR auf Antrag der BR Johann Bürkle und Genossen am 20. Dezember 1973 Einspruch erhoben. Dieser Einspruch war damit begründet, "daß mangels eines Situationsberichtes über das Bundesheer beziehungsweise die Heeresreform keinerlei Maßstäbe vorhanden sind, ob diese Novelle überhaupt den sachlichen Notwendigkeiten gerecht wird", und eine vom Bundesminister für Landesverteidigung vorgesehene "umfassende Novelle" durch den Initiativantrag unterlaufen wurde. Gegen die Argumente des BR verwies Ab. Karl Blecha im NR auf den in der Zwischenzeit vorgelegten Bericht des Bundesministers für Landesverteidigung über die Lage der militärischen Landesverteidigung. Der NR wiederholte am 5. Feber 1974 seinen Gesetzesbeschluß vom 14. Dezember 1973. Im Zusammenhang damit wurde auch ein Antrag des Abg. Dr. Georg Prader und Genossen, betreffend eine Änderung des Heeresgebührengesetzes, 296 behandelt, jedoch unter dem Gesichtspunkt der Kostenbegrenzung abgelehnt. Eine umfangreiche Wehrrechtsänderung brachten die Wehrgesetz-Novelle 1977, BGBl. Nr. 385, sowie die mit ihr in engem Zusammenhang stehenden Bundesgesetze BGBl. Nr. 387/1977 und BGBl. Nr. 386/1977, mit denen das Heeresgebührengesetz und das Bundesgesetz über Ansprüche aus der Ableistung freiwilliger Waffepübungen novelliert wurden. 297 Korrekturen und Konsequenzen im erwähnten Sinne enthält die Wehrgesetz-Novelle 1977 hinsichtlich des Komplexes jener Bestimmungen, die dem weiteren Aufbau des Reserveheeres, insbes. der Kaderausbildung und Kaderstruktur, sowie unmittelbar der Verbesserung der Einsatzfähigkeit dienen. Es handelt sich hiebei im wesentlichen um die Bestimmungen über Waffenübungen (größere Flexibilität bei Truppenübungen, subsidiäre VerSiehe 11-3085 dBIg. Steno Prot. NR,. XIII. GP (Antrag 103/ A, AB 1026 dBIg.). Über die parlamentarische Behandlung der Wehrgesetz-Novelle 1977 (als RV "Wehrgesetz-Novelle 1976") s. die Steno Prot. NR, XIV. GP 1976, 1977 (RV 162 dBIg., AB 566 dBIg.; 1893,2019,5845-5902) und die Steno Prot. BR 1977 (12210-12227); die Bundesgesetze BGBl. Nr. 387/1977 und 386/1977 wurden mit der WehrgesetzNovelle 1977 gemeinsam behandelt (s. hiezu ergänzend die Anträge des Landesverteidigungsausschusses des NR, 567 und 568 dBIg.); zu den drei erwähnten Gesetzen S. auch Rauter, Wehrrechtsänderung 1977, Österr. Militärische Zeitschrift, 1977, 402 ff. 296 297

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pflichtungsregelung bei Kaderübungen mit einem gesetzlichen Quantitätsrahmen), über den "Offizier auf Zeit", den freiwillig verlängerten Grundwehrdienst und über den Mobilmachungsvorgang. Das Verfügungsrecht hinsichtlich der Einberufung von Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes in den Einsatzfällen wurde dem Bundesminister für Landesverteidigung übertragen. Verschiedene weitere Verbesserungen betreffen die rechtliche Stellung von Heeresangehörigen, wie auf den Gebieten der beruflichen Bildung, der Dienstfreistellung und der Soldatenvertreter. Durch die Einbeziehung der Bestimmungen über den achtmonatigen Grundwehrdienst, der in der Wehrrechtsnovelle 1971 außerhalb des Wehrgesetzes als Art. XI enthalten war, in den geschlossenen Gesetzestext wurde dieser systematische Mangel behoben. Im Rahmen einer Neufassung der Bestimmungen über den Landesverteidigungsrat wurde der Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten als ständiges Mitglied vorgesehen, das Aufgabengebiet des Landesverteidigungsrates systematisch geordnet zusammengefaßt und seine Funktionsfähigkeit durch einzelne weitere Änderungen verbessert. Einen Schwerpunkt der Novelle bildet die völlige Neugestaltung des Stellungswesens. Nach dem neuen System werden die Stellungen unter Einsatz moderner medizinisch-technischer Geräte von 6 Stellungskommissionen in ortsfesten "Stellungszentralen" durchgeführt. Es bedurfte daher elastischer Bestimmungen über die Organisation des Stellungswesens, um entsprechend der Kapazität der Stellungszentralen deren Einsatz auch über die Grenzen eines Bundeslandes hinweg ohne Veränderung der Zuständigkeitsbereiche der Militärkommanden als Ergänzungsbehörde zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wurden die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, um im Verordnungswege zu bestimmen, in welchen Ergänzungsbereichen Stellungskommissionen zu errichten sind und welcher Stellungskommission sich die Militärkommanden für ihren Ergänzungsbereich bzw. für Teile davon zu bedienen haben. 298 Im übrigen enthält die WehrgesetzNovelle 1977 die notwendigen Anpassungen an die durch das Bundesverfassungsgesetz BGBL Nr. 368/1975 geänderte Verfassungsrechtslage (Art. 9a, Art. 79 B-VG). Nachdem schon durch die Bundesverfassungsnovelle von 1975 über die umfassende Landesverteidigung und die allgemeine Wehrpflicht ein Markstein der Wehrverfassung einvernehmlich von allen parlamentarischen Par298 Die entsprechenden Regelungen wurden zunächst in einer gestuften Ausbauphase mit den Verordnungen BGBl. Nr. 6/1978, 616/1978, 414/1979, 401/1981 und 375/1982 sowie in der Folge in einer zusammenfassenden und bereinigenden Fassung (mit der die vorhergegangenen Regelungen außer Kraft gesetzt wurden) durch die Verordnung BGBl. Nr. 573 / 1982 getroffen; diese Verordnung wurde bisher einmal, und zwar hinsichtlich der Ergänzungsbereiche Salzburg und Steiermark durch die Verordnung BGBl. Nr. 462 / 1983, novelliert.

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teien gesetzt und damit die Wiederherstellung der Konsenspolitik in Angelegenheiten der Landesverteidigung eindrucksvoll dokumentiert worden war, konnte auch über die für den militärischen Bereich wesentlichen Legislativmaßnahmen des Jahrs 1977 im NR und im BR Übereinstimmung aller Fraktionen erzielt werden. Die gemeinsam mit der Wehrgesetz-Novelle 1977 beschlossenen Novellen BGBl. Nr. 387/1977 und 386/1977 betrafen im wesentlichen Besoldungsverbesserungen, und zwar eine Anhebung der Entschädigungshöchstgrenzen sowie ein erhöhtes Taggeld für Wehrpflichtige, die im Rahmen des Grundwehrdienstes der vorbereitenden Kaderausbildung unterzogen werden. Auf dem Gebiet der Besoldung der Wehrpflichtigen waren bereits 1972, 1974 und 1976 durch Novellierungen des Heeresgebührengesetzes und des Bundesgesetzes über Anspruche aus der Ableistung freiwilliger Waffenübungen verschiedene Verbesserungen vorgenommen worden. Durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 221/1972 299 waren Taggeld, Dienstgradzulagen sowie Mindest- und Höchstbemessungsgrundlagen des Familienunterhalts erhöht und die Auszahlungsmodalitäten zweckmäßiger gestaltet worden. Die Bundesgesetze BGBl. Nr. BGBL Nr. 413/1973 300 und 414 /1974 301 brachten neben verschiedenen Adaptierungen vor allem die Erweiterung der bisher nur für Übungen geltenden Entschädigungsregelung des Heeresgebührengesetzes auf den außerordentlichen Präsenzdienst in den Einsatzfällen und eine an den Gehaltsansätzen des Gehaltsgesetzes 1956 orientierte "Dynamisierungsautomatik" der Entschädigungsgrenzen sowie der Mindest- und Höchstbemessungsgrundlagen für den Familienunterhalt. Gegenstand der Heeresgebührengesetz-Novelle 1976, BGBl. Nr. 313,302 waren im wesentlichen eine neue Taggelderhöhung, eine weitgehende Neufassung der Bestimmungen über die· gesundheitliche Betreuung sowie eine spezielle Auszahlungsregelung bei Einsätzen und einsatzähnlichen Übungen. Schließlich führte das unter der BGBl. Nr. 596/1978 kundgemachte Erkenntnis des VfGH zu § 21 Abs.1 des Heeresgebührengesetzes (VfSlg 8417/1978) dazu, daß die schon seit geraumer Zeit unbefriedigende Rechts299 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 221/ 1972 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1972 (RV 326 dBlg., AB 353 dBlg.; 2477, 2589, 2667-2701) und die Steno Prot. BR 1972 (8806-8817). 300 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 413/ 1974 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1974 (RV 1118 dBlg., AB 1197 dBlg.; 10412, 10518,11125-11132) und die Steno Prot. BR 1974 (10460). 301 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 414/ 1974 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1974 (RV 1119 dBlg., AB 1198 dBlg.; 10412, 10518, 11125 -11132) und die Steno Prot. BR 1974 (10460. 10461). 302 Über die parlamentarische Behandlung der Heeresgebührengesetz-Novelle

1976 s. die Steno Prot. NR, XIV. GP 1976 (RV 160 dBlg., AB 270 dBlg.; 1893, 2019, 2518) und die Steno Prot. BR 1976 (11589-11594).

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lage auf dem Gebiet der Mietzinsbeihilfe für Wehrpflichtige im Wege eines Dreiparteienantrages (Abg. Johann Hatzl, Dr. Heinrich Neisser, Dipl.-Vw. Helmut Josseck und Genossen) mit dem Bundesgesetz BGBl. Nr. 105/ 1979 303 bereinigt wurde; durch eine grundsätzliche Neuregelung ("Wohnkostenbeihilfe") wurde auf die unterschiedlichen Rechtsformen Bedacht genommen, die für die Kosten "der erforderlichen Beibehaltung der notwendigen Wohnung" maßgeblich sein können. Im Jahre 1978 wurde das Wehrgesetz, dessen Normenbestand durch die zahlreichen Novellierungen unübersichtlich geworden war sowie einer systematischen und terminologischen Bereinigung bedurfte, als "Wehrgesetz 1978" wiederverlautbart; diese Wiederverlautbarung erfolgte mit der Kundmachung BGBl. Nr. 150/1978. Als eine Konsequenz aus den Empfehlungen der Bundesheer-Reformkommission wurde durch das Zivildienstgesetz, BGBl. Nr. 187/1974 304 ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen, verbunden mit der Pflicht zur Leistung eines Ersatzdienstes ("Zivildienst"), geschaffen. Diese Regelung trat mit 1. Jänner 1975 an die Stelle der Regelung über die Waffendienstverweigerung nach dem Wehrgesetz. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung ist nach dem Zivildienstgesetz durch Antrag geltend zu machen; zur Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung als Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen war bis zum 1. Jänner 1992 eine beim Bundesministerium für Inneres eingerichtete Kommission berufen; diese Anerkennung bewirkt die Befreiung von der Wehrpflicht und die Verpflichtung zur Leistung des Zivildienstes. Durch die ZivildienstgesetzNovelle 1991, BGBl. Nr. 675,304 wurde die Kommission und damit jegliche Prüfung der Glaubwürdigkeit behaupteter Gewissensgründe mit Wirkung vom 1. Jänner 1992 beseitigt. Die Dauer des ordentlichen Zivildienstes wurde mit Wirkung vom 1. Juni 1992 generell von 8 auf 10 Monate erhöht; lediglich bei Verwendungen, in denen die zu erbringende Dienstleistung mit "besonderen physischen, psychischen und arbeitszeitlichen Belastungen" (wie in der "sozialen oder gesundheitlichen Betreuung von pflegebedürftigen oder kranken Menschen") verbunden ist, blieb die achtmonatige Dauer 303 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 105/ 1979 s. die Steno Prot. NR, XIV. GP 1979 (Antrag 143/ A, AB 1177 dBlg.; 11805, 11961, 12234, 12235) und die Steno Prot. BR 1979 (13484). 304 Über die parlamentarische Behandlung des Zivildienstgesetzes s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1974 (RV 603 dBlg., AB 1048 dBlg.; 5746, 5763, 10018-10037) und die Steno Prot. BR 1974 (10053 -10069); das Zivildienstgesetz wurde in der Folge mehrfach novelliert. Über die parlamentarische Behandlung der ZivildienstgesetzNovelle 1991, BGBl. Nr. 675, s. die Steno Prot. NR, XVIII. GP 1991 (RV 249 dBlg., AB 330 dBlg.; 4819-4846) und die Steno Prot. BR 1991 (25675-25680) sowie RauteT, Bundesdienstpflicht statt Wehrpflicht?, Österr. Militärische Zeitschrift 1991, 377 ff.; s. auch FN 237.

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unverändert. Obwohl die Berufung auf Gewissensgründe und die Bezeichnung als Ersatzdienst beibehalten wurden, ist der Zivildienst durch diese Novelle de facto zu einem Alternativdienst geworden. Eine Konsequenz in mehrfacher Hinsicht stellt das Bundesgesetz vom 10. Juni 1975, BGBl. Nr. 369, mit dem das Heeresdisziplinargesetz geändert wird, dar. 305 Diese Änderungen des Heeresdisziplinarrechts waren einerseits durch die strafrechtspolitischen Gesichtspunkte des Militärstrafgesetzes, BGBl. Nr. 344/1970, andererseits durch den dargelegten StrukturwandeI im militärischen Bereich sowie durch dienstrechtliche Veränderungen bedingt. So wurden beispielsweise die im zivilen Dienstrechtsbereich seit 1969 geltenden Einrichtungen der Verjährung und des Schuldspruchs ohne Strafe in das Heeresdisziplinarrecht eingeführt sowie Verbesserungen des Rechtszuges übernommen. Die seit dem Inkrafttreten des Bundes-Personalvertretungsgesetzes, BGBl. Nr. 133/1967, dieser Institution vorbehaltene Interessenvertretung der Berufssoldaten erforderte eine entsprechende Neuregelung des Mitwirkungsrechtes der Soldatenvertreter im Disziplinarverfahren. Die bisher durch die lex fugitiva des Art. II der WehrgesetzNovelle 1969 dem Heeresdisziplinargesetz unterstellten "Offiziere auf Zeit" wurden in dieses nunmehr systemgerecht eingeordnet. Zu jenen Änderungen, die sich aus Bedürfnissen der Praxis, insbes. auch auf Grund der Wehrrechtsnovelle 1971, ergeben haben, zählen beispielsweise die Einführung von Geldersatzstrafen, die an die Stelle nicht vollziehbarer Freiheitsstrafen treten (etwa bei Übungen von kurzer Dauer), eine Verbesserung der Vollstreckungsregelung für Freiheitsstrafen und eine Reduzierung der Zahl der Disziplinarkommissionen durch ihre Einordnung auf höheren Organisationsebenen. Die Verweisung verschiedener Delikte aus der gerichtlichen in die disziplinäre Strafbarkeit durch das Militärstrafgesetz führte zu entsprechenden Verschärfungen von Disziplinarstrafen. Im Zusammenhang mit dieser Novellierung des Heeresdisziplinargesetzes, aber auch aus verschiedenen praktischen Bedürfnissen, erwies sich eine Novellierung des Bundesgesetzes über die Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres zur Hilfeleistung in das Ausland durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 370/1975 als notwendig. 306 Hinsichtlich der besonderen Komponente des Auslandseinsatzes bei der Besoldung der Bundesbediensteten, die einer nach dem Bundesverfassungs305 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 369/ 1975 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1975 (RV 754 dBlg. AB 1627 dBlg.; 6743, 6820, 14272 -14274) und die Steno Prot. BR 1975 (10931-10942); s. auch RauteT, Veränderungen des Heeresdisziplinarrechts, Österr. Militärische Zeitschrift 1976, 51 ff. 306 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 370/ 1975 s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1975 (RV 930 dBlg. AB 1527 dBlg.; 7779, 7867, 14272, 14273) und die Steno Prot. BR 1975 (10931-10942).

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gesetz BGBl. Nr. 173 /1965 gebildeten Einheit angehören, wurde eine spezielle Regelung mit dem Bundesgesetz über die Gewährung von Auslandseinsatzzulagen für Angehörige österreichischer Einheiten, die zur Hilfeleistung in das Ausland auf Ersuchen internationaler Organisationen entsandt werden, BGBl. Nr. 375/1972,307 getroffen. Bedauerliche Vorfälle bei Auslandseinsätzen des Bundesheeres im Rahmen der friedenserhaltenen Aktionen der Vereinten Nationen waren der Anlaß für das Bundesgesetz über die Verwundetenmedaille, BGBl. Nr. 371 / 1975,308 das wie schon die anderen erwähnten Regelungen militärischer Ehrenzeichen an ein altösterreichisches Vorbild anknüpft. Auf dienstrechtlichem Gebiet fanden die neuen Strukturen der Heeresorganisation ihren besonderen Niederschlag in der Einrichtung der Korpskommanden I und 11, des Militärkommandos Wien, der Kommanden der Fliegerdivision und der 1. Panzergrenadierdivision sowie des Heeres-Materialamtes als Dienstbehörden' erster Instanz durch die N ovellierung des Dienstrechtsverfahrensgesetzes mit dem Bundesgesetz BGBl. Nr. 116/ 1978 309 und die Novellierung der Dienstrechtsverfahrensverordnung 1969 mit den Verordnungen BGBl. Nr. 146/1978 und 4/1979. An die Stelle dieser Rechtsvorschriften sind in der Folge das Dienstrechtsverfahrensgesetz 1984, BGBl. Nr. 29, und die Dienstrechtsverfahrensverordnung 1981, BGBl. Nr. 162, getreten, wobei die Regelung für die militärischen Dienstbehörden erster Instanz im wesentlichen unverändert blieb. Eine umfassende Neugestaltung erfuhr das Dienstrecht der Berufssoldaten im Rahmen des Beamten-Dienstrechtsgesetzes 1979, BGBl. Nr. 333. 310 307 Über die parlamentarische Behandlung des "Auslandseinsatzzulagengesetzes" s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1972 (RV 396 dBIg" AB 455 dBIg.; 2872, 2893, 3656, 3657) und die Steno Prot. BR 1975 (10909); das "Auslandseinsatzzulagengesetzes" wurde durch die Novelle BGBl. Nr. 305/1975 geändert. Seit 1. September 1991 gilt ein neues AEZG, BGBl. Nr. 365/ 1991, mit einer neuen Zulagengliederung in Sockelbetrag und Zuschlag (Zonen-, Klima-, Krisen-, Funktionszuschlag) sowie entsprechenden Bemessungskriterien (Sten. Prot. NR, XVIII. GP 1991: RV 131 dBIg., AB 173 dBIg.; 3258-3283; Steno Prot. BR 1991: 25192-25199); s. auch Art. XXV der Exekutionsordnungs-Novelle 1991, BGBl. Nr. 628. 308 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes über die Verwundetenmedaille s. die Steno Prot. NR, XIII. GP 1975 (RV 1483 dBIg., AB 1628 dBIg.; 13357, 13376, 14274) und die Steno Prot. BR 1975 (10931-10942); bei Auslandseinsätzen haben bis März 1993 insgesamt - insbes. auch durch Minenunfälle (s. die besondere Schutznorm des Übereinkommens BGBl. Nr. 464/1983 für "Truppen und Missionen der Vereinten Nationen") - 30 Angehörige des Bundesheeres den Tod gefunden, 8 Soldaten, die bei diesen Einsätzen infolge ihres Dienstes durch "Einwirkungen von Kampfmitteln" Verwundungen erlitten haben (§ 2 Abs. lIeg. cit.), wurde eine Verwundetenmedaille verliehen. 309 Über die parlamentarische Behandlung dieser Novelle zum Dienstrechtsverfahrensgesetz s. die Steno Prot. NR, XIV. GP 1978 (RV 704 dBIg., AB 772 dBIg.; 6796, 6888, 8005) und die Steno Prot. BR 1978 (12582 -12585).

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Die neue Regelung brachte für die Bedürfnisse des militärischen Dienstes u. a. eine größere Elastizität hinsichtlich der Verwendungsmöglichkeiten des Bediensteten innerhalb seiner Verwendungsgruppe sowie erweiterte Möglichkeiten, die Ausbildungsgänge auf die jeweiligen Verwendungen im besonderen auszurichten. Es handelt sich bei diesen Änderungen militärischer Dienstrechtsbestimmungen allerdings um den Randbereich einer Totalreform des Dienstrechts der Bundesbeamten, die sich noch weitgehend und langfristig im Fluß befindet. Erwähnenswert als Rechtsvorschrift von besonderer Bedeutung für den Dienstbetrieb bei der Truppe ist in diesem Zusammenhang die bereits auf der Grundlage der wiederverlautbarten Fassung des Wehrgesetzes 1978, BGBl. Nr. 150, mit Zustimmung des Hauptausschusses des NR erlassene Verordnung der Bundesregierung vom 1. Jänner 1979, BGBl. Nr. 43, über die Allgemeinen Dienstvorschriften für das Bundesheer (ADV), in deren vielfältigen Regelungen wesentliche Entwicklungslinien des militärischen Dienstes konkreten Ausdruck finden. Eine föderalistische Initiative aus den. BR berührte 1977 und 1979 u. a. auch militärische Belange. 3l1 Es handelte sich dabei um eine Reihe von Gesetzesanträgen der BR Dr. Herbert Schambeck und Genossen, mit denen Punkte aus dem "Forderungsprogramm der Bundesländer" von 1976 aufgegriffen wurden, um - wie in der Begründung der Anträge ausgeführt ist - "die parlamentarische Behandlung der von allen Bundesländern beschlossenen Vorschläge einzuleiten". Einer dieser Anträge betraf eine Änderung des Bundesgesetzes über militärische Sperrgebiete, BGBl. Nr. 204/ 1963, mit dem Ziele, eine für bestimmte staatliche Organe geltende ex legeAusnahme vom grundsätzlichen Verbot des Betretens und Befahrens militärischer Sperrgebiete hinsichtlich der Organe der Länder und Gemeinden zu erweitern. Die Gesetzesanträge wurden zunächst in den zuständigen Ausschüssen des BR mit Stimmengleichheit abgelehnt, im Plenum des BR am 7. Juli 1977 aber wiederholt und dort mit Mehrheit angenommen; durch die Beendigung der XIV. Gesetzgebungsperiode des NR sind die Anträge in der Folge allerdings verfallen. Am 14. Dezember 1979 brachten die BR Dr. Herbert Schambeck und Genossen neuerlich entsprechende Anträge ein, die jedoch von der SPÖ-Mehrheit des BR mit der auch schon 1977 geltend gemachten Begründung abgelehnt wurden, das Forderungsprogramm der Bundesländer sei nur als Einheit zu behandeln und die Initiative des BR 310 Über die parlamentarische Behandlung des BDG 1979 s. die Steno Prot. NR, 1979 (RV 11 dBlg., AB 32 dBlg.; 16, 39, 190-216) und die Steno Prot. BR 1979 (1368813698). 311 Siehe die Steno Prot. BR 1977 (1681, 1683, 1684, 1692 und 1693 dBlg.; 1213312164) sowie 1979 (2057, 2058, 2059 und 2061 dBlg.; 13858 -13893); vgl. hiezu FN 273.

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würde die Verhandlungen des Länderkomitees mit der Bundesregierung stören. Umfangreiche Änderungen der Wehrrechtslage wurden in den Jahren 1981 bis 1983 auf dem Gebiet des Besoldungswesens für Wehrpflichtige vorgenommen. Mit dem Bundesgesetz BGBL Nr. 255/1981 312 wurde zunächst nur der Anspruch auf Fahrtkostenvergütung für Wehrpflichtige während des Grundwehrdienstes oder eines freiwillig verlängerten Grundwehrdienstes im Heeresgebührengesetz erweitert. Ein in diesem Zusammenhang von den Abg. Dr. Felix Ermacora und Genossen gestellter Antrag 312 auf weitergehende Besoldungsverbesserungen - im wesentlichen eine Anhebung des Taggeldes - fand nicht die Mehrheit; er wurde unter Hinweis auf die angespannte Budgetsituation und die finanziellen Erfordernisse des Ausbauprogrammes für das Heer abgelehnt. Mit der Heeresgebührengesetz-Novelle 1982, BGBL Nr. 285 313 wurden die Bestimmungen über die Barbezüge der Wehrpflichtigen sowie über den Familienunterhalt neu gestaltet und die bisher gesondert normierte Anspruchsregelung für Wehrpflichtige, die freiwillige Waffenübungen leisten, in den Gesamtrahmen des Heeresgebührengesetzes systemgerecht eingeordnet. In diesem Zusammenhang wurde auch für Truppenübungen und Kaderübungen die Regelung über eine Fortzahlung der Dienstbezüge öffentlich Bediensteter, die bisher nur für freiwillige Waffenübungen gegolten hat, vorgesehen. Ein bereits am 16. Dezember 1982 eingebrachter Antrag der Abg. Dr. Felix Ermacora und Genossen, der ebenfalls auf eine Änderung des Heeresgebührengesetzes, und zwar auf eine Taggeld- und Prämienerhöhung, gerichtet war, wurde in die Ausschußberatungen der RV einbezogen; er fand - ausgenommen die Prämienerhöhung - in weitgehender Übereinstimmung mit der RV seinen Niederschlag in der Entwurffassung des AB. Gemeinsam mit dem einstimmigen Gesetzesbeschluß wurde dem Antrag des Landesverteidigungsausschusses entsprechend - ebenfalls einstimmig - eine Entschließung gefaßt, mit der der Bundesminister für 312 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 255/ 1981 s. die Steno Prot. NR, xv. GP 1981 (RV 638 dBIg., AB 688 dBIg.; 6620, 6732, 7345 -7353) und die Steno Prot. BR 1981 (15061-15070); hinsichtlich des Antrages des Abg. Dr. Felix Ermacora und Genossen s. 11-2208 dBlg. (Antrag 106/ A), AB 689 dBlg. 313 Über die parlamentarische Behandlung der Heeresgebührengesetz-Novelle 1982 s. die Steno Prot. NR, XV. GP 1982 (RV 1003 dBIg., AB 1107 dBIg.; 10924, 11601-11622) und die Steno Prot. BR 1982 (16006-16012); hinsichtlich des Antrages des Abg. Dr. Felix Ermacora und Genossen s. 11-3329 dBlg. (Antrag 146/ A), AB 1107 dBIg.; das Bundesgesetz BGBl. Nr. 311 / 1960, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. Nr. 386/1977, wurde durch die Heeresgebührengesetz-Novelle 1982 aufgehoben.

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Landesverteidigung ersucht wurde, nach Ablauf von zwei Jahren einen Bericht über die Auswirkungen der neuen Besoldungsregelungen für Wehrpflichtige im freiwillig verlängerten Grundwehrdienst vorzulegen, sowie "die Verhandlungen über die Schaffung des Typus Soldaten auf Zeit mit den zuständigen Ressorts zügig fortzusetzen und tunlichst bis zur Berichterstattung abzuschließen." Dieser Entschließung des NR liegt der Umstand zugrunde, daß sich für den Bereich der längerdienenden Soldaten die bisher entwickelte Rechtslage als unbefriedigend erwiesen hatte. So konnte insbes. die wehrrechtliche Einrichtung des freiwillig verlängert~n Grundwehrdienstes die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, auch die dienstrechtliche Einrichtung des zeitverpflichteten Soldaten wurde angesichts einzelner Konsequenzen aus ihrem Charakter als öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis für bestimmte Bedürfnisse des militärischen Dienstes, insbes. für den Einsatzfall, nicht voll angemessen erachtet, das Sondervertragsverhältnis der sogenannten "Offiziere auf Zeit" schließlich wurde als umständliche "Notlösung" empfunden; die zersplitterte Rechtslage für den Bereich der längerdienenden Soldaten insgesamt verlangte nach einer einheitlichen Lösung. Eine solche Lösung wurde i. S. d. Entschließung des NR vom 1. Juli 1982 mit dem Bundesgesetz vom 10. November 1982, BGBl. Nr. 577, mit dem das Wehrgesetz 1978, das Heeresgebührengesetz, das Bundesgesetz über das Bundesheerdienstzeichen, das Bundesgesetz über die Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres zur Hilfeleistung in das Ausland und das Heeresversorgungsgesetz durch die Einfügung von Bestimmungen über den Wehrdienst als Zeitsoldat geändert werden (Wehrrechtsänderungsgesetz 1983),314 getroffen. Es wurde dadurch eine neue Art des außerordentlichen Präsenzdienstes, nämlich der "Wehrdienst als Zeitsoldat" , geschaffen, der - allerdings im Wege einer mehrjährigen Übergangsphase - an die Stelle der bisherigen Einrichtungen des freiwillig verlängerten Grundwehrdienstes, des zeitverpflichteten Soldaten und der Verwendung in einer Offiziersfunktion trat. Der Wehrdienst als Zeitsoldat wird im Wege einer freiwilligen Meldung, die der Annahme durch das zuständige Militärkommando bedarf, begründet und konnte bis zur Neuregelung dieser Präsenzdienstart im Wehrrechtsänderungsgesetz 1988, BGBl. Nr. 342, in einer Dauer von mindestens drei Monaten bis zu höchstens 10 Jahren (bei Militärpiloten bis zu höchstens 15 Jahren) geleistet werden. Das Kalenderjahr, in dem der Zeitsoldat 314 Über die parlamentarische Behandlung des WehrrechtSänderungsgesetzes 1983 s. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1983 (RV 51 dBlg., AB 133 dBlg.; 708, 846, 847, 1457 -1485) und die Steno Prot. BR 1983 (17167 -17176); zur Rechtsstellung des Zeitsoldaten s. auch die Weiterentwicklung durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 1988, BGBl. Nr. 342, und die 44. ASVG-Novelle, BGBl. Nr. 609/1987.

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das 40. Lebensjahr vollendet, darf jedoch nicht überschritten werden. Wie oft und zu jeweils welcher Dauer Verpflichtungen als Zeitsoldat zulässig sind, ist durch eine Verordnung des Bundesministers für Landesverteidigung auf Grund des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1983 zu bestimmen. 315 In Anlehnung an vergleichbare bisherige Bestimmungen des Wehrgesetzes 1978 ist dem Zeitsoldaten ab einer Dienstleistungszeit von drei Jahren ohne Unterbrechung ein Anspruch auf berufliche Bildung eingeräumt. So wie schon bisher für zeitverpflichtete Soldaten und "Offiziere auf Zeit" ist auch für den Zeitsoldaten unter bestimmten Voraussetzungen eine bevorzugte Aufnahme in den Bundesdienst sowie eine Verordnung der Bundesregierung über den Vorbehalt bestimmter Planstellen der Bundesverwaltung zur Aufnahme ehemaliger Zeitsoldaten vorgesehen.

Die Interessen der Zeitsoldaten werden - entsprechend dem Charakter dieses Wehrdienstes als Präsenzdienst - durch Soldatenvertreter wahrgenommen, deren Aufgabenbereich aber über die Aufgaben der Soldatenvertreter im Grundwehrdienst hinaus angesichts der besonderen Interessenlage, die sich aus dem i. d. R. mehrjährigen Wehrdienst als Zeitsoldat ergibt, auch berufliche Angelegenheiten einschließlich der beruflichen Bildung sowie wirtschaftliche, soziale, kulturelle und gesundheitliche Angelegenheiten erfaßt. Der Anspruch auf Dienstfreistellung wurde für die Zeitsoldaten auf der Grundlage der bisher für den freiwillig verlängerten Grundwehrdienst geltenden Regelung an die Urlaubsbestimmungen für öffentlich Bedienstete angeglichen. Die Besoldung des Zeitsoldaten ist seiner Rechtsstellung entsprechend im Heeresgebührengesetz, und zwar im Rahmen der für das System des Präsenzdienstes vorgesehenen Barbezüge geregelt. Der Schwerpunkt liegt hiebei in der Monatsprämie. Zeitsoldaten, die nicht am Dienstort wohnen, gebührt ferner zweimal monatlich die Fahrtkostenvergütung nach dem Heeresgebührengesetz. Ein Anspruch auf Familienunterhalt und Wohnkostenbeihilfe besteht für Zeitsoldaten nicht. Ähnlich dem Abfertigungsanspruch des bisherigen zeitverpflichteten Soldaten gebührt dem Zeitsoldaten nach einer mindestens dreijährigen Dienstzeit eine Überbrückungshilfe. Neben der erwähnten Besoldung gewährt das Heeresgebührengesetz i. d. F. des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1983 den Zeitsoldaten noch die Sozialleistungen eines Versicherungsschutzes in der Kranken-, Pensions315 Siehe die Verordnung BGBl. Nr. 623/1983 und die Verordnung BGBl. Nr. 50/ 1985, die nach einer ersten Phase der Erprobung des neuen Systems eine flexible und den unterschiedlichen militärischen Ausbildungs- bzw. Verwendungserfordernissen angemessene Regelung getroffen hat; seit 1.1.1989 gilt die Verordnung BGBl. Nr. 590/ 1988.

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und Arbeitslosenversicherung, der bis zu seiner Erweiterung durch die 44. ASVG-Novelle im letzten Jahr ihres Wehrdienstes eintrat, sofern sie einen Anspruch auf berufliche Bildung hatten (d. h. i. d. R. bei einer mindestens dreijährigen Dienstzeit); ferner ist im Falle einer Notsituation bei vorzeitiger Entlassung für die Höchstdauer eines Jahres ein Unterhaltsbeitrag vorgesehen. Zur Inanspruchnahme einer zugewiesenen Unterkunft und zur Teilnahme an der Verpflegung sind die Zeitsoldaten nur unter bestimmten militärischen Voraussetzungen (wie Einsatz oder Einsatzübungen) verpflichtet. Im Sinne einer systemgerechten Einordnung wurde durch diese Novelle die Regelung der militärischen Dienstgrade aus dem Heeresgebührengesetz in das Wehrgesetz 1978 übertragen, wobei diese Bestimmungen näher ausgeführt und hinsichtlich des Dienstgrades "Brigadier" als höchster Reserveoffiziersdienstgrad ergänzt wurden. Weitere Regelungen des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1983 betreffen im Wehrgesetz 1978 eine Neugestaltung der Bestimmungen über die vorzeitige Entlassung wegen Dienstunfähigkeit sowie im Heeresgebührengesetz einen Anspruch Wehrpflichtiger auf Reisekostenersatz im Falle einer befehlsgemäß nicht angetretenen bzw. abgebrochenen Dienstfreistellung, eine ausdrückliche gesetzliche Regelung der Soldatenheime als "Freizeitzentren" im Unterkunftsbereich und Vereinfachungen der Auszahlungsbestimmungen. Im Zusammenhang mit der Beschlußfassung über das Wehrrechtsänderungsgesetz 1983 hat der NR am 10. November 1983 auch zwei Entschließungen zur beruflichen Absicherung ausgeschiedener zeitverpflichteter Soldaten gefaßt. Etwa ein Jahr später folgten Novellen geringeren Umfanges zum Wehrgesetz 1978 und zum Heeresgebührengesetz. Auf Grund eines Initiativantrages der Abg. Roppert, Dr. Ermacora, Probst und Genossen wurde das Bundesgesetz vom 9. November 1984, BGBl. Nr. 457, mit dem das Wehrgesetz 1978 geändert wird, 316 beschlossen. Nach dieser Novelle sind für die Beschwerdekommission in militärischen Angelegenheiten - ähnlich der Struktur der Volksanwaltschaft - drei Vorsitzende vorgesehen, die sich während ihrer sechsjährigen Funktionsperiode jeweils nach zwei Jahren in der Amtsführung abwechseln. Im Zusammenhang mit der Zivildienstgesetz-Novelle 1984, BGBl. Nr. 459, wurde auf Antrag des Ausschusses für innere Angelegenheiten durch das Bundesgesetz vom 9. November 1984, BGBl. Nr. 458, mit dem das Heeresgebührengesetz geändert wird, den 316 Über die parlamentarische Behandlung der Novelle BGBL Nr. 457 / 1984 s. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1984 (Initiativantrag 107/ A, AB 429 dBlg.; 5603-5607) und die Steno Prot. BR 1984 (18150).

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Wehrpflichtigen ein erweiterter Fahrtkostenersatzanspruch - gleich dem für Zivildienstpflichtige in der zit. Novelle neu vorgesehen - eingeräumt. 317 Die zahlreichen Novellierungen des Heeresgebührengesetzes seit 1956 erforderten im Interesse der Übersichtlichkeit des Gesetzestextes - ebenso wie sich dies schon 1978 hinsichtlich des Wehrgesetzes als notwendig erwies - eine Wiederverlautbarung. Diese ist mit der Kundmachung des Bundeskanzlers und des Bundesministers für Landesverteidigung vom 21. Februar 1985, BGBL Nr. 87, erfolgt. Das Gesetz führt nunmehr den Titel "Bundesgesetz über die Regelung der Bezüge und sonstigen Ansprüche der Wehrpflichtigen während der Dauer des Präsenz dienstes (Heeresgebührengesetz 1985 - HGG)". Allerdings folgte der Wiederverlautbarung noch im selben Jahr die Heeresgebührengesetz-Novelle 1985, BGBL Nr. 266,318 deren wesentlichen Inhalt neben einzelnen Verbesserungen im administrativen Bereich Erhöhungen bestimmter Barbezüge bildeten. In mehrfacher Hinsicht reformbedürftig hat sich das Heeresdisziplinarrecht erwiesen. Die Eigenart dieses Disziplinarrechts, so vor allem sein nach differenzierten Rechtsstellungen der Heeresangehörigen (Präsenzdienstarten verschiedener Prägungen, öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Dienstverhältnisse unterschiedlicher Art) gespaltener Anwendungsbereich, die enge Beziehung zu Elementen der Heeresorganisation, wie bestimmte Kommandoebenen und Verbandsgliederungen, aber auch das wesensbedingte Spannungsverhältnis zwischen der militärischen Aufgabenstellung und den Anforderungen des Rechtsstaates haben seit 1956 zu mehrfachen und umfangreichen Änderungen des Heeresdisziplinargesetzes geführt. Der Normenkomplex wurde dadurch in zunehmendem Maße unübersichtlich. Verschiedene, teilweise tiefgreifende Änderungen der Rechtslage außerhalb dieses Gesetzes, so insbes. im Wehrrecht und im Dienstrecht, erforderten entsprechende Konsequenzen im Bereich des Heeresdisziplinarrechts; dies galt im besonderen für Konsequenzen aus dem neuen Disziplinarrecht nach dem Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 und aus der neuen Einrichtung des Zeitsoldaten nach dem Wehrrechtsänderungsgesetz 1983. Auch völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Gesichtspunkte erforderten eine grundlegende Neugestaltung. So ergab sich aus einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrech317 Über die parlamentarische Behandlung der Novelle BGBL Nr. 458 / 1984 s. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1984 (AB 450 dBlg.; 5564-5598) und die Steno Prot. BR 1984 (18139 -18145). 318 Über die parlamentarische Behandlung der Heeresgebührengesetz-Novelle 1985 S. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1985 (Antrag 150/ A, AB 653 dBlg.; 8519-8541) und die Steno Prot. BR 1985 (18958-18963).

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te, die 1976 über eine Beschwerde von fünf Soldaten gegen die Niederlande getroffen wurde 319 - wenn auch nur als mittelbare Konsequenz - für Österreich als Unterzeichnerstaat der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten die Notwendigkeit, auf die grundsätzlichen Ausführungen des erwähnten Gerichtshofes hinsichtlich der Verhängung von Freiheitsstrafen im Rahmen des militärischen Disziplinarrechts bei der innerstaatlichen Rechtsgestaltung Bedacht zu nehmen. Das Erkenntnis des VfGH vom 21. Juni 1983, Zl G 1/83-8, griff hingegen durch die Aufhebung des § 72 Abs. 1 Z 2 des Heeresdisziplinargesetzes 320 mit Wirkung vom 31. Mai 1984 unmittelbar in die geltende Rechtslage ein. Um eine sachgerechte Vorbereitung und die parlamentarische Behandlung der notwendigen umfassenden Reform des Heeresdisziplinarrechts unter den angeführten Gesichtspunkten durch den erwähnten Aufhebungstermin nicht zu beeinträchtigen, wurde dem zitierten Erkenntnis zunächst mit einer verhältnismäßig geringfügigen Novelle, dem Bundesgesetz vom 9. Mai 1984, BGBl. Nr. 211, mit dem das Heeresdisziplinargesetz geändert wird, 321 Rechnung getragen. Diese Novelle beschränkte sich angesichts der erwähnten Notwendigkeit einer umfassenden Reform auf den engsten Rahmen der als zwingende Konsequenzen aus der Judikatur des VfGH322 und infolge des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1983 unverzüglich notwendigen Änderungen. 319 Es handelt sich bei dieser Entscheidung um das sog. "Engel-Erkenntnis", in dem der Gerichtshof u. a. festgestellt hat, daß die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auch für Angehörige der Streitkräfte und nicht nur für Zivilpersonen gelten, wobei allerdings auf die besonderen militärischen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen sei; eine im Rahmen des Disziplinarrechts verhängte Arreststrafe, die in einer Zelle unter Ausschluß vom üblichen Dienst zu verbüßen ist, bildet nach diesem Erkenntnis einen Freiheitsentzug i. S. d. Art. 5 der Konvention, der nur "auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Wege" und "rechtmäßig nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht" zulässig ist; nach seiner bisherigen Judikatur geht der Gerichtshof bei der diesbezüglichen Beurteilung des maßgeblichen staatlichen Organs von einem materiellen Gerichtsbegriff aus, dessen Kriterien nach Art 6 Abs. 1 der Konvention Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Grundlage im Gesetz sind. Das "Engel-Erkenntnis" ist aus der Europäischen Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) 1976, 221 ff. ersichtlich. 320 Der VfGH erachtete in diesem Erkenntnis (kundgemacht unter BGBL Nr. 446/ 1983) den Umstand, daß die Disziplinarstrafe Disziplinararrest nur für Präsenzdienst leistende Wehnnänner und Chargen vorgesehen ist, während für Präsenzdienst leistende Offiziere und Unteroffiziere keine solche "spezifisch freiheitsentziehende und deshalb graduell besonders einschneidende (Disziplinar-)Strafe" gilt, als Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes; er hob daher die Strafe im Strafkatalog des § 72 auf. 321 Über die parlamentarische Behandlung der Novelle BGBL Nr. 211 / 1984 s. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1984 (RV 243 dBlg., AB 270 dBlg.; 3264, 3368, 3733-3739) und die Steno Prot. BR 1984 (17603, 17604). 322 Siehe hiezu neben dem zit. Erkenntnis auch die Erkenntnisse vom 2. Juli 1982, Zl G 49 / 81-14 (kundgemacht unter BGBL Nr. 415/1982), und vom 6. März 1984, Zl G 10/83-8 (kundgemacht unter BGBL Nr. 192/1984). 51 Parlamentarismus

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Mit dem Bundesgesetz vom 27. Juni 1985, BGBl. Nr. 294, über das Disziplinarrecht der Soldaten, Wehrpflichten der Reserve und Berufsmilitärpersonen des Ruhestandes (Heeresdisziplinargesetz 1985 - HDG) wurde in Verbindung mit dem Heeresdisziplinarrechtsanpassungsgesetz (HDAG), BGBl. Nr. 295/1985,323 die erwähnte Reform verwirklicht. Im Sinne der erwähnten Zielsetzungen ist die Neuregelung im wesentlichen gekennzeichnet durch die Beseitigung der bisherigen Kategorie der Ordnungsstrafen, die Beseitigung von Laufbahnstrafen im Bereich der Dienstverhältnisse, den Entfall des Disziplinararrests (außerhalb eines Einsatzes), die Beschränkung der Disziplinarhaft auf den Grundwehrdienst und durch eine weitgehende Vereinheitlichung des Strafkatalogs für alle Soldaten. Hinsichtlich der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wurde durch die Einrichtung von "Haftprüfungsorganen" als unabhängige Rechtsmittelinstanz für Freiheitsstrafen dem Art. 5 der Menschenrechtskonvention Rechnung getragen. Die neuen Haftprüfungsorgane weisen die Kriterien des materiellen Gerichtsbegriffes i. S. d. Art. 6 der Menschenrechtskonvention Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Grundlage im Gesetz - auf; im übrigen genügt es nach der erwähnten Judikatur, wenn die Anrufung eines solchen " Gerichtes " im Rechtsmittelwege sichergestellt ist. Die Kriterien dieser Judikatur ist im Heeresdisziplinargesetz 1985 durch eine verfassungsgesetzlich garantierte Unabhängigkeit der Haftprüfungsorgane und eine spezielle Unvereinbarkeitsbestimmung entsprochen. Zur Frage, ob die im Art. 6 der Menschenrechtskonvention vorgesehenen weitergehenden Garantien für das Verfahren im Falle strafgerichtlicher Anklagen auch für das Heeresdisziplinarrecht maßgeblich wären, hat der Landesverteidigungsausschuß in seinem Bericht übereinstimmend mit der RV - folgenden Standpunkt eingenommen: "Der Ausschuß vertritt die Auffassung, daß die im neuen Heeresdisziplinargesetz für die Disziplinarhaft vorgesehene geringe Strafdauer von ein bis 14 Tagen und die Art der Strafvollstreckung nicht die Voraussetzungen erfüllen, um in den Bereich des 'Strafrechtlichen' zu fallen." Die Voraussetzungen für die als Sicherungsmaßnahme mit einer Höchstdauer von 48 Stunden im Heeresdisziplinargesetz 1985 vorgesehene "vorläufige Festnahme" entsprechen den für die Zulässigkeit einer solchen Maßnahme im Art. 5 der Menschenrechtskonvention festgelegten Kriterien ("zur Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung", ferner zwecks Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde bei Verdacht einer strafbaren Handlung oder zur Hinderung an der Begehung einer strafbaren Handlung bzw. an der Flucht nach der Begehung einer solchen). 323 Über die parlamentarische Behandlung des HDG und des HDAG s. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1985 (RV 369 und 370 dBlg., AB 665 und 666 dBlg.; 8747 -8766) und die Steno Prot. BR 1985 (19024-19032).

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Zur Bedachtnahme auf die Menschenrechtskonvention bei der Gestaltung des neuen österreichischen Heeresdisziplinarrechts stellte der Abg. Dr. Felix Ermacora in der Plenarsitzung des NR am 27. Juni 1985 unter anderem fest: "Ich glaube aber, daß mit diesem Heeresdisziplinarrecht ein europäisches Modell gesetzt wurde, weil man zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Disziplinarrechte einen ganzen Rechtskomplex der Europäischen Konvention für Menschenrechte anzupassen sucht. Hier wird Österreich im Rahmen europäischer Disziplinarrechte sicherlich einen Modellfall bilden und ein Vorbild sein können. Man wird es dem österreichischen Parlament danken - wir selbst können uns ja nicht danken -, daß man europäische Grundsätze der Heeresdisziplin, wie sie in bedeutenden Erkenntnissen ausgesprochen wurden, erfüllt hat." Für das Disziplinarverfahren gelten die im Heeresdisziplinargesetz 1985 ausdrücklich genannten Bestimmungen des AVG 1950 sowie einzelne besondere Verfahrensvorschriften, die durch die Eigenart des militärischen Bereiches bedingt sind. Als Verfahrensarten sind das Kommandantenverfahren und das Kommissionsverfahren vorgesehen. Das Kommandantenverfahren stellt eine Weiterentwicklung des nach dem VII. Abschnitt des Heeresdisziplinargesetzes von 1956 für Präsenzdienst leistende Wehrpflichtige geltenden Verfahrens dar; es gilt uneingeschränkt für Präsenzdienst leistende Soldaten und Wehrpflichtige der Reserve (ausgenommen Berufsmilitärpersonen des Ruhestandes) sowie mit der Einschränkung auf eine bestimmte Strafgrenze (Geldbuße) für Soldaten, die dem Bundesheer auf Grund eines Dienstverhältnisses angehören. Das Kommissionsverfahren, das weitgehend mit dem Kommissionsverfahren nach dem BeamtenDienstrechtsgesetz 1979 übereinstimmt, gilt für den zuletzt genannten Personenkreis oberhalb der erwähnten Strafgrenze sowie für Berufsmilitärpersonen des Ruhestandes. Mit dem Heeresdisziplinarrechtsanpassungsgesetz wurden die notwendigen Anpassungen einzelner Bestimmungen des Wehrgesetzes 1978, des Bundesgesetzes über die Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres zur Hilfeleistung in das Ausland, des Beamten-Dienstrechtsgesetzes 1979, des Gehaltsgesetzes 1956, des Bundes-Personalvertretungsgesetzes, des Verwaltungs strafgesetzes und der Strafprozeßordnung 1975 an die neue Disziplinarrechtslage vorgenommen. Es trat gemeinsam mit dem Heeresdisziplinargesetz 1985 nach eine halbjährigen Legisvakanz mit 1. Jänner 1986 in Kraft. Aspekte einer besonderen rechtspolitischen Beachtung der persönlichen Freiheit, insbes. auch die diesbezügliche Judikatur des VfGH,324 erfordern 324 Dem VfGH erschienen in seinem Erkenntnis vom 2. Dezember 1987, GZ 161, 162, 201/87 - 8, der letzte Satz des § 29 Abs. 1 und § 42 Z 4 HDG als nicht mit dem Gleichheitsgebot des Art. 7 Abs. 1 B-VG entsprechend; er hat daher die genannten 51*

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allerdings entsprechende weiterführende Überlegungen hinsichtlich der disziplinarrechtlichen Freiheitsstrafen und der damit im Zusammenhang stehenden Regelungen des Heeresdisziplinargesetzes 1985. Im Jahre 1986 wurden das Bundesgesetz über die Entsendung von Angehörigen des Bundesheeres zur Hilfeleistung in das Ausland durch das Bundesgesetz vom 23. Jänner 1986, BGBl. Nr. 73,325 ferner das Bundesgesetz über militärische Sperrgebiete durch das Bundesgesetz vom 23. Jänner 1986, BGBl. Nr. 74,326 sowie das Wehrgesetz 1978 und das Heeresgebührengesetz 1985 - diese beiden gemeinsam durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 1986 vom 11. Juni 1986, BGBl. Nr. 328,327 - novelliert. Mit der zuerst genannten Novelle wurde ein neues Besoldungssystem für Präsenzdienst leistende Soldaten im Auslandeinsatz geschaffen. Durch die Novelle BGBl. Nr. 74/1986 wurden die Kundmachungsmodalitäten für Sperrgebietsverordnungen zweckmäßiger gestaltet. Das Wehrrechtsänderungsgesetz 1986 erlangte nur in Teilen des Inhalts der RV Gesetzeskraft. Der größte Teil dieser RV wurde für eine ausführliche Beratung zurückgestellt, zu der es aber infolge der vorzeitigen Beendigung der XVI. Gesetzgebungsperiode nicht mehr gekommen ist. Den Schwerpunkt der beschlossenen Änderungen bildet eine Anhebung des Dienstfreistellungs- und Prämienanspruches für Zeitsoldaten. Weitere Prämienerhöhungen folgten mit Wirkung vom 1. Juli 1987 durch das Bundesgesetz vom 26. Juni 1987, BGBl. Nr. 337,328 und mit Wirkung vom 1. Juli 1988 im Rahmen des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988, BGBl. Nr. 342. 329 Bestimmungen mit Wirksamkeit vom 30. November 1988 aufgehoben. Maßgebliche Bedeutung hiefür kommt der in diesem Erkenntnis dargelegten Auffassung zu, nach der freiheitsentziehende Disziplinarstrafen "wegen der gravierenden Bedeutung des Rechtsgutes der persönlichen Freiheit" im Vergleich zu den anderen Disziplinarstrafen besonders schwere und einschneidende Unrechtsfolgen darstellen. Da der Gesetzgeber hinsichtlich einer Schließung der so entstandenen Lücke im Disziplinarrecht bisher nicht tätig geworden ist, gilt die Disziplinarhaft seit 1. Dezember 1988 nur mehr im Einsatz gemäß den besonderen Bedingungen des § 80 HDG, und zwar für alle Kategorien von Soldaten. 325 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBL Nr. 73/ 1986 s. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1986 (RV 714 dBlg., AB 861 dBlg.; 9021, 9132, 11142-11146) und die Steno Prot. BR 1986 (19577-19580); mit Art I Z 3 (§ 4) dieser Nov. wurde auch Art. II HDAG, der dieselben Bestimmungen betrifft, geändert. 326 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBL Nr. 74/ 1986 S. die Steno Prot. NR, XVI. GP 1986 (RV 701 dBlg., AB 860 dBlg.; 9021, 9132, 11147) und die Steno Prot. BR 1986 (19580). 327 Über die parlamentarische Behandlung des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1986 S. die Steno Prot.NR, XVI. GP 1986 (RV 937 dBlg., AB 979 dBlg.; 12062, 12126, 12671-12674) und die Steno Prot. BR 1986 (20108-20110). 328 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBL Nr. 337 / 1987 S. die Steno Prot. NR, XVII. GP 1987 (71 / A, AB 174 dBlg.; 2184, 2318, 29242930) und die Steno Prot. BR 1987 (21015-21020). 329 Siehe hiezu FN 339; zur weiteren Entwicklung der Besoldung S. die FN 353, 355, 356, 357, 358.

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Sowohl unter den komplexen Gesichtspunkten der umfassenden Landesverteidigung als auch aus den eigenen Entwicklungen der verschiedenen Sach- und Rechtsbereiche ergibt sich eine fortschreitende Verzweigung des Wehrrechts in die für die jeweilige Materie maßgeblichen Rechtsvorschriften. Damit wird den besonderen militärischen Bedürfnissen in diesen Bereichen, vor allem Erfordernissen eines Einsatzes bzw. der hiefür notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen sowie hinsichtlich einsatzähnlicher Übungen, den Grundsätzen des Rechtsstaates gern. durch entsprechende gesetzliche Regelungen Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang ist das Bundesbediensteten-Schutzgesetz, BGBl. Nr. 164/1977,330 speziell erwähnenswert, weil innerhalb dieser Arbeitnehmerschutznormen für den Bundesdienst erstmalig eine gesetzliche Umschreibung jener Baulichkeiten und Anlagen vorgenommen wurde, die wegen ihrer militärischen Besonderheit in der Regel nicht zum "Bauwesen" zählen, sondern dem Kompetenztatbestand "militärische Angelegenheiten" zugehören. Diese Umschreibung als "Baulichkeiten und Anlagen von militärischer Besonderheit" ist in der für den militärischen Bereich erforderlichen Ausnahme- bzw. Sonderregelung (§ 4 Abs. 3) enthalten; in den Erläuterungen der RV ist hiezu folgendes ausgeführt; "Der besondere militärische Charakter dieser Baulichkeiten und Anlagen liegt sowohl in ihrer Beschaffenheit als auch in der Art ihrer Nutzung, die durch die militärische Aufgabenstellung bedingt ist. Zu diesen ,Baulichkeiten und Anlagen von militärischer Besonderheit' zählen beispielsweise: militärische Befestigungsanlagen und Sperren, militärische Munitionsanstalten und Munitionslager, verbunkerte Fernmeldeanlagen, ortsfeste Einrichtungen der militärischen Luftraumüberwachung und besondere Zweckbauten auf Militärflugplätzen, die dem militärischen Flugbetrieb dienen. Die militärische Besonderheit dieser Baulichkeiten und Anlagen hat auch dazu geführt, daß sie nach dem Bundesministeriengesetz 1973, BGBl. Nr. 389, dem ausschließlichen Wirkungsbereich des Bundesministeriums für Landesverteidigung zugeordnet wurden." Eine diesbezügliche Prüfung der Zuständigkeitsgrenzen zwischen Bund und Ländern zeigt, daß Befestigungsanlagen und die geheimhaltungsbedürftigen Aspekte sonstiger militärischer Objekte als militärische Angelegenheiten von der Baurechtskompetenz der Länder ausgenommen sind. So sind beispielsweise die Errichtung und Beschaffenheit von Lagerobjekten eines Munitionslagers der Anwendung der Bauordnungen entzogen, bei Objekten, die ausschließlich der kasernmäßigen Unterbringung von Soldaten dienen, bleibt hingegen die baubehördliche Zuständigkeit nach Art. 15 Abs. 5 B-VG - mit der Vollziehungskompetenz des Bundes - unberührt. Aus den verschiedenen Verwaltungsbereichen sind als weitere Beispiele der Verzweigung des 330 Über die parlamentarische Behandlung des BSG s. die Steno Prat. NR, XIV. GP 1977 (RV 408 dBIg., AB 436 dBIg.; 4392, 4511, 4932-4940) und die Steno Prat. BR 1978 (13150-13159).

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Wehrrechts ferner das Datenschutzgesetz, BGBL Nr. 565/1978,331 das Bundesgesetz vom 23. Feber 1979, BGBL Nr. 209, über die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße und eine Änderung des Kraftfahrgesetzes 1967 und der Straßenverkehrsordnung 1960 (GGSt),332 das Versorgungssicherungsgesetz, BGBL Nr. 282/1980, 333 das Arzneimittelgesetz, BGBL Nr. 185/1983,334 sowie die Forstgesetz-Novelle 1987, BGBL Nr. 576,335 zu nennen. 6. Formung eines Milizsystems

In der organisatorischen Entwicklung des Bundesheeres seit 1955 sind nach der unmittelbaren Aufbauphase schon verhältnismäßig früh milizartige Komponenten erkennbar. Bereits 1958 wies das Bundesheer mit den sog. Grenzschutzeinheiten typische Milizelemente auf, die in der Folge durch territoriale Sicherungstruppen in der Tiefe des Staatsgebietes ergänzt und schließlich - wie auch schon im Zusammenhang mit der B-VG-Novelle BGBL Nr. 341/1988 336 erwähnt - zur "Landwehr" ausgebaut wurden. Die für diese miliz artige Struktur wehrrechtlieh zunächst notwendigen Grundlagen waren durch die Wehrgesetz-Novelle 1962 337 geschaffen und durch weitere Novellierungen des Wehrgesetzes sowie anderer Wehrrechtsvorschriften, wie insbes. des Heeresgebührengesetzes, bzw. durch entsprechende neue gesetzliche Regelungen, wie das Militärleistungsgesetz, ausgestaltet worden. Es handelte sich dabei vor allem um die Bestimmungen über die Inspektionen / Instruktionen, über die Verwahrung von Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenständen durch Wehrpflichtige in der Reserve, über einen Entschädigungsanspruch der Wehrpflichtigen hinsichtlich ihrer Teilnahme 331 Über die parlamentarische Behandlung des DSG s. die Steno Prot. NR, XIV. GP 1978 (RV 72 dBlg., AB 1024 dBlg.; 1374, 1463, 10226-10267) und die Steno Prot. BR 1978 (13550 -13554). 332 Über die parlamentarische Behandlung des GGSt s. die Steno Prot. NR, XIV. GP 1979 (RV 1150 dBlg., AB 1212 dBlg.; 11822, 11962, 12332 -12337) und die Steno Prot. BR 1979 (13550-13554). 333 Über die parlamentarische Behandlung des Versorgungssicherungsgesetzes s. die Steno Prot. NR, XV. GP 1980 (RV 315 dBlg., AB 405 dBlg.; 3185, 3262, 37333833) und die Steno Prot. BR 1980 (14380-14418, 14447-14454). 334 Über die parlamentarische Behandlung des Arzneimittelgesetzes s. die Steno Prot. NR, XV. GP 1983 (RV 1060 dBlg., AB 1480 dBlg.; 11257, 11341, 15223-15244) und die Steno Prot. BR 1983 (16767, 16777). 335 Über die parlamentarische Behandlung der Forstgesetz-Novelle 1987 s. die Steno Prot. NR, XVI. und XVII. GP 1985, 1986, 1987 (RV 699 dBlg. XVI. GP; Antrag 67/ A, AB 285 dBlg. XVII. GP; 2184, 2318, 3432-3474, 3518-3531) und die Steno Prot. BR 1987 (21206-21225); um Beeinträchtigungen militärischer Erfordernisse bei einsatzähnlichen Übungen sowie bei einem Einsatz und dessen Vorbereitung zu vermeiden, bedürfte es noch weiterer Modifikationen der forstrechtlichen Regelungen. 336 Siehe hiezu FN 250. 337 Siehe hiezu FN 265.

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an Inspektionen / Instruktionen und über die materielle Ergänzung im Wege des Leistungswesens. In zahlreichen Schritten führte der Weg über die Bundesheer-Reform von 1971,338 die auf Grund der Gliederung des ordentlichen Präsenz dienstes in einen Grundwehrdienst von sechs Monaten und Truppenübungen von 60 Tagen eine verstärkte Hinwendung zu einem Milizsystem brachte, sowie über die konzeptiven Grundlagen der Verteidigungsdoktrin von 1975 und des Landesverteidigungsplanes von 1984 zu der ebenfalls bereits im Zusammenhang mit der B-VG-Novelle BGBl. Nr. 341/ 1988 zitierten Regierungserklärung vom 28. Jänner 1987; in ihr bekennt sich die Bundesregierung im Rahmen ihrer sicherheitspolitischen Zielsetzungen zum Milizsystem und zum Konzept der Raumverteidigung, wobei sie im besonderen eine gesetzliche Verankerung des Milizbegriffes hervorhebt. Im Sinne dieser programmatischen Erklärung und in unmittelbarem Zusammenhang mit der ebenfalls dieser Intention gemäß durch den Bundesminister für Landesverteidigung Dr. Robert Lichal veranlaßten verfassungsgesetzlichen Verankerung des Milizprinzips für das Bundesheer wurde die entsprechende wehrrechtliche Ausgestaltung eines Milizsystems auf einfachgesetzlicher Ebene durch eine RV vorgesehen, die gleichzeitig mit der RV, betreffend die erwähnte Verfassungsänderung, in den NR eingebracht wurde. Hinsichtlich Zielsetzung und Inhalt dieser weitgespannten Wehrrechtsnovelle ist in den Erläuterungen der RV einleitend unter anderem folgendes ausgeführt: "Zur näheren Ausprägung eines speziell den Bedürfnissen der Landesverteidigung Österreichs angemessenen Milizsystems, dessen erste Ansätze - wie schon eingangs bemerkt wurde - bereits erkennbar geworden sind, bedarf es sowohl auf gesetzlicher Ebene als auch im Bereich der Vollziehung einer schrittweisen Entwicklung in steter Wechselbeziehung zu den praktischen Erfahrungen. Der vorliegende Entwurf eines Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 enthält die als Grundlage für die weitere Entwicklung notwendigen Novellierungen des Wehrgesetzes 1978, des Heeresgebührengesetzes 1985 und des Heeresdisziplinargesetzes 1985. Darüber hinaus enthält der vorliegende Entwurf Neuregelungen des Wehrgesetzes 1978 und des Gehaltsgesetzes 1956 für Militärpiloten, die sowohl den speziellen Erfordernissen dieses militärischen Verwendungsbereiches - insbesondere in dienst- und besoldungsrechtlicher Hinsicht als auch den Grundsätzen des neuen Milizgefüges Rechnung tragen. In den vorliegenden Entwurf wurden ferner Bestimmungen aufgenommen, die in der Regierungsvorlage eines Wehrrechtsänderungsgesetzes 1986 338 Siehe hiezu FN 290-294.

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(937 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XVI. GP) enthalten waren, vom Nationalrat aber infolge der vorzeitigen Beendigung der XVI. GP nicht mehr abschließend behandelt werden konnten. Ferner soll durch das im Entwurf vorliegende Wehrrechtsänderungsgesetz 1988 die gesetzliche Vertretung der Zeitsoldaten mit einem Verpflichtungsraum von mindestens einem Jahr entsprechend dem Charakter einer solchen Wehrdienstleistung ausgebaut werden, wobei insbesondere auch Kollegialorgane vorgesehen sind. Die Erweiterung des sozialversicherungsrechtlichen Schutzes für Zeitsoldaten durch die 44. ASVG-Novelle erfordert entsprechende Anpassungen des § 6 Abs. 3 und des § 24 des Heeresgebührengesetzes 1985 an diese neue Rechtslage. " Das vom NR am 26. Mai 1988 beschlossene Bundesgesetz, mit dem das Wehrgesetz 1978, das Heeresgebührengesetz 1985, das Heeresdisziplinargesetz 1985, das Gehaltsgesetz 1956 und das Vertragsbedienstetengesetz 1948 geändert werden (Wehrrechtsänderungsgesetz 1988), BGBl. Nr. 342,339 enthält somit in seinem Schwerpunkt und dem überwiegenden Teil seiner Bestimmungen die für die Formung des Milizsystems notwendigen gesetzlichen Grundlagen; doch auch die anderen Wehrrechtsänderungen in diesem Bundesgesetz weisen Zusammenhänge mit der Milizstruktur des Bundesheeres auf, die insgesamt eine deutliche Entwicklung des Wehrrechts zu einem dem Milizprinzip entsprechenden Normensystem erkennen lassen. Im Rahmen des Wehrgesetzes 1978 war bisher das Wehrsystem lediglich durch die Normierung der allgemeinen Wehrpflicht sowie durch die Umschreibung von Präsenzstand und Reserve gekennzeichnet (§ lIeg. cit). Die Gestaltung der Heeresorganisation war im übrigen der Vollziehung, und zwar dem Bundesminister für Landesverteidigung, in grundsätzlichen Angelegenheiten der Bundesregierung übertragen (§ 14 leg. cit); eine Ausnahme bildete dabei lediglich die Bereitschaftstruppe, die als einziges Element der Heeresorganisation gesetzlich verankert worden ist (§ 67 leg. cit).340 Mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz 1988 wurden die Bestimmungen über das Wehrsystem insofern verändert, als der verfassungsgesetzliche 339 Über die parlamentarische Behandlung des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 s. die Steno Prot. NR, XVII. GP 1988 (RV 499 dBIg., AB 593 dBlg.; 6647, 71957234) und die Steno Prot. BR 1988 (22003-22016), ferner die Entschließungen E 58 und E 59 vom 26.5.1988 (s. hiezu FN 353). 340 Die Einrichtung der Bereitschaftstruppe wurde im Rahmen der "Wehrrechtsnovelle 1971", BGBL Nr.272, als Art. VIII normiert (s. hiezu FN 294); mit der Wiederverlautbarung des Wehrgesetzes im Jahre 1978 wurde diese Regelung als § 67 in den geschlossenen Gesetzestext eingefügt.

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Auftrag zur Einrichtung des Bundesheeres nach den Grundsätzen eines Milizsystems - ebenso wie schon bisher die verfassungsgesetzliche Aufgabenstellung des Bundesheeres - im einfachgesetzlichen Kontext wiederholt, zwischen einer Friedensorganisation und einer Einsatzorganisation unterschieden und neben dem Präsenz- und Reservestand der neue Status des Milizstandes geschaffen wurden. Dabei sind in der Neufassung als Friedensorganisation "die ständig erforderlichen Organisationseinrichtungen" bezeichnet, die Einsatzorganisation bildet "den für die Einsatzaufgaben notwendigen Organisationsrahmen. " Als dieser besteht die Einsatzorganisation daher überwiegend nicht aus ständigen Einrichtungen, sondern aus Truppen, die nur für bestimmte Zwecke, nämlich zu Übungen und Einsätzen, zusammentreten und damit Gliederungen des Präsenzstandes werden. Hiedurch wird aber nicht ausgeschlossen, daß auch ständige Einrichtungen der Friedensorganisation, wie die Verbände der Bereitschaftstruppe, entsprechend ihrer Einordnung in den für die Einsatzaufgaben notwendigen Organisationsrahmen Bestandteile der Einsatzorganisation sein können. Hinsichtlich der beiden genannten Organisationsbereiche ist im Sinne der Aufgabenstellung nach Art. 79 B-VG noch klargestellt, daß die Friedensorganisation der Einsatzorganisation zu dienen hat. Damit wurde zum Ausdruck gebracht, daß sich System und Ausgestaltung der Friedensorganisation dieser Zweckbestimmung gemäß an den für die Einsatzorganisation maßgeblichen Kriterien zu orientieren haben. Im übrigen blieb die bisherige Regelung des Wehrgesetzes 1978 über die Heeresorganisation 341 unverändert. Eine substantielle Änderung erfuhren die Bestimmungen über das Wehrsystem durch die schon erwähnte SchaffUJlg des neuen Milizstandes, der neben den Präsenzstand und den Reservestand trat. Waren bisher für die Wehrpflichtigen nur die beiden zuletzt genannten Rechtsstellungen in Betracht gekommen, so bedingt die Ausprägung des Milizsystems einen weiteren Status, dessen Rechtsgehalt erst eine sachgerechte und rechtsstaatlich unbedenkliche Realisierung und Praktizierung dieses Systems erlaubt. Mit ihm wurden vor allem auch geeignete Rahmenbedingungen für freiwillige Leistungen geschaffen, von dene!). die Wirksamkeit eines Milizsystems in hohem Maße abhängig ist. Entsprechend dem Milizprinzip tritt grundsätzlich jeder Wehrpflichtige mit dem Abschluß des vollständig geleisteten Grundwehrdienstes für die Dauer seiner Wehrpflicht kraft Gesetzes in den Milizstand über. Er wird aus diesem nur mangels Eignung oder mangels Bedarfs für die Einsatzorganisation in den Reservestand versetzt. 342 Eine Versetzung aus dem Reservestand in den Milizstand kommt Siehe § 14 und § 67 des Wehrgesetzes 1978. Dem Reservestand gehört der Wehrpflichtige so wie bisher auch schon vor dem Antritt und während allfälliger Unterbrechungen des Grundwehrdienstes an. 341 342

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ohne Zustimmung des Wehrpflichtigen nur in den Fällen eines Einsatzes nach § 2 Abs. 1 lit. abis c des Wehrgesetzes 1978 sowie zur unmittelbaren Vorbereitung eines solchen Einsatzes nach Maßgabe von Eignung und Bedarf in Betracht; ansonsten bedarf es für diese Versetzung in jedem Falle der Zustimmung des Wehrpflichtigen. Die Wehrpflichtigen des Reservestandes bilden nämlich, ohne in einer Einrichtung der Einsatzorganisation unmittelbar eingeteilt zu sein, das Wehrpotential, das über den vorgesehenen Rahmen hinaus nach Maßgabe besonderer Bedarfssituationen eines Einsatzfalles zusätzlich bzw. ersatzweise heranzuziehen ist. Im Hinblick auf das neue System von Miliz- und Reservestand wurde aber dieser weitgehend von den bisher für die Reserve geltenden besonderen Verpflichtungen entlastet. Hinsichtlich der Pflichten und Befugnisse im Milizstand, deren Regelung systematisch in den bisher den besonderen Regelungen für die Reserve vorbehaltenen Abschnitt eingeordnet wurde, ist in den Erläuterungen der RV folgendes allgemein ausgeführt: "In der wehrrechtlichen Ausprägung des österreichischen Milizsystems sollen daher mit dem neuen Milizstand gesetzliche Verpflichtungen nur insoweit verbunden sein, als sie unbedingt notwendig erscheinen. Diese Verpflichtungen entsprechen im wesentlichen dem schon bisher für die Reserve geltenden Pflichtenkreis, der sich in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam mit anderen wehrrechtlichen Strukturen der Milizkomponente des Bundesheeres entwickelt hat. Der Schwerpunkt der Milizaktivitäten soll jedoch in freiwilligen Leistungen der Wehrpflichtigen liegen. In diesem Sinne ist vorgesehen, durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 1988 entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Es handelt sich dabei um gesetzliche Grundlagen für eine zweckmäßige und koordinierte Erfüllung militärischer Aufgaben im Milizstand, insbesondere im Verhältnis zu den ständig im Präsenzstand eingerichteten Kommanden und sonstigen Dienststellen sowie gegenüber Dritten, und zur notwendigen Absicherung Wehrpflichtiger hinsichtlich allfälliger gesundheitlicher Schädigungen bei solchen Tätigkeiten." Im einzelnen wurde diesbezüglich ein begrenztes System von Anordnungsrechten und Gehorsamspflichten für den Milizstand bzw. im Verhältnis zum Präsenzstand normiert. So kann ein Soldat343 auf Grund eines Befehles des ihm vorgesetzten, für die Mobilmachung verantwortlichen Kommandos verhalten werden, den Anordnungen eines mit einer Kaderfunktion betrauten Wehrpflichtigen des Milizstandes Folge zu leisten; dies bewirkt insofern eine Unterstellung des Soldaten unter die Weisungsbefugnis (mit Befehlswirkung im Präsenzstand) des Wehrpflichtigen des Milizstandes. Für das breite Spektrum der "Freiwilligen Milizarbeit" wurden Bestimmungen geschaffen, die den Wehrpflichti343 Diese Regelung betrifft Soldaten jeglicher Dienstgrad-Gruppe (Wehrmänner, Chargen, Unteroffiziere und Offiziere).

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gen des Milizstandes ein hohes Maß an Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Planung, Vorbereitung, Durchführung und beim Abschluß militärischer Übungs- und Einsatzmaßnahmen sowie bei der militärischen Fortbildung einräumen. Entsprechend den schon mehrfach erwähnten Bedürfnissen einer Milizorganisation sind ferner Wehrpflichtigen des Milizstandes, die mit bestimmten Kommandantenfunktionen betraut sind, in Personalangelegenheiten der ihnen in der Einsatzorganisation unterstellten Wehrpflichtigen Beförderungs- und Bestellungsbefugnisse sowie Informations- und Vorschlagsrechte eingeräumt. Wesentliche Bedeutung als gesetzliche Grundlage für eine zweckmäßige und effektive Besorgung militärischer Aufgaben im Rahmen eines Milizsystems, insbes. auch hinsichtlich der dargelegten Regelungen, kommt den neuen Bestimmungen des Wehrgesetzes 1978 über die Inanspruchnahme, Benützung und Verwahrung von Heeresgut durch Wehrpflichtige des Milizstandes zu. Die bisher für Wehrpflichtige der Reserve geltende Regelung über die Verwahrung von Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenständen findet nach der neuen Rechtslage nur auf Wehrpflichtige des Milizstandes Anwendung; die Wehrpflichtigen des Reservestandes wurden diesbezüglich entlastet. Bei der Ausführung der nunmehr gesetzlich geregelten Miliztätigkeiten ist den Wehrpflichtigen des Milizstandes neben der Benützung der zur Verwahrung übergebenen Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenstände auch die Benützung von sonstigem Heeresgut - "wenn militärische Rücksichten es erfordern ... im notwendigen Umfang und für die notwendige Dauer" - gestattet; das für die Mobilmachung verantwortliche Kommando kann nach den zitierten Kriterien den Wehrpflichtigen zur Ausführung der erwähnten Miliztätigkeiten Heeresgut (insbes. auch dienstliche Unterlagen) zur Verfügung stellen. Eine besondere Bestimmung verpflichtet die Wehrpflichtigen, dieses Heeresgut "mit Sorgfalt zu behandeln und gegen einen Zugriff Unbefugter ausreichend zu sichern", sowie diesbezüglich im übrigen die Vorschriften über die Verwahrung von Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenständen in sinngemäßer Anwendung zu beachten. In gesundheitlicher Hinsicht wurde für die Wehrpflichtigen des Milizstandes im Heeresgebührengesetz 1985 eine unmittelbare Betreuung durch heereseigene Sanitätseinrichtungen bei Milizaktivitäten im notwendigen Umfang vorgesehen. In disziplinarrechtlicher Hinsicht wurden die Wehrpflichtigen des Milizstandes den Wehrpflichtigen des Reservestandes (bisher: der Reserve) gleichgestellt.

Im Zusammenhang mit den Regelungen über die Pflichten und Befugnisse der Wehrpflichtigen des Milizstandes ist im Wehrgesetz ausdrücklich normiert, daß Wehrpflichtige die angeführten Tätigkeiten in Vollziehung

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militärischer Angelegenheiten ausüben und damit als Organe des Bundes Aufgaben der Hoheitsverwaltung erfüllen. Hinsichtlich der Haftung für allfällige Schäden, die von den Wehrpflichtigen in dieser Eigenschaft verursacht werden, gelten daher das Amtshaftungsgesetz, BGBL Nr. 20/ 1949, bzw. das Organhaftpflichtgesetz, BGBL Nr. 181/1967. Die Organstel-, lung der Wehrpflichtigen des Milizstandes bei Besorgung der gesetzlich geregelten Milizaufgaben als Aufgaben der Hoheitsverwaltung ließen es geboten erscheinen, diesbezüglich ein Verbot parteipolitischer Betätigung gleich der für Soldaten geltenden Verbotsnormen des § 46 des Wehrgesetzes 1978 festzulegen. Neben den neuen Bestimmungen, mit denen das System von Präsenz-, Miliz- und Reservestand geschaffen und die gegenwärtige Milizstruktur ihre notwendigen rechtlichen Grundlagen für die weitere Entwicklung erhalten hat, zählen zum wesentlichen Inhalt des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 VOr allem eine Neufassung der Tauglichkeitsabgrenzung, die der einschlägigen Judikatur des VwGH ebenso wie dem künftigen Personalbedarf gerecht wird,344 eine Beseitigung bzw. Erweiterung gesetzlicher Rahmenbestimmungen hinsichtlich der Truppen- und Kaderübungen, um im Bereich der Ausbildung, insbes. bei Übungen im Verbande sowie bei der differenzierten Ausbildung des Milizkaders, den Anforderungen des Milizsystems ausreichend Rechnung tragen zu können, 344 die Schaffung der neuen Präsenzdienstart "Fun~.tionsdienste" analog zu den freiwilligen Waffenübungen als eine dem Milizprinzip entsprechende Einrichtung zur Nutzung freiwilliger Leistungsbereitschaft für die Besorgung militärischer Aufgaben auch ohne unmittelbaren Zusammenhang mit einem Ausbildungszweck sowie eine Ausgestaltung der gesetzlichen Vertretung der Zeitsoldaten, die dem Charakter dieser besonderen Präsenzdienstart von längerer Dauer unter dem Gesamtaspekt des Milizgefüges entspricht. Ausbildungsprobleme bei den miliz artigen Verbänden des Bundesheeres haben es notwendig gemacht, den bisher bei Soldaten ohne Chargengrad (Wehrmänner) allgemein mit der Vollendung des 35. Lebensjahres begrenzten Zeitraum für die Heranziehung zu Truppenübungen auf die Vollendung des 40. Lebensjahres auszudehnen. 344 In der RV war ursprünglich eine 344 Es handelt sich hiebei um Regelungen, die in gleicher oder ähnlicher Weise bereits Bestandteil der RV des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1986 waren, vom NR aber infolge der'vorzeitigen Beendigung der XVI. GP nicht mehr abschließend behandelt werden konnten (s. hiezu FN 327).

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Erweiterung dieser Heranziehungsmöglichkeit bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres in Übereinstimmung mit der für Chargen, Unteroffiziere und Offiziere bereits geltenden Altersgrenze vorgesehen gewesen. Der Landesverteidigungsausschuß folgte jedoch diesem Änderungsvorhaben nicht in vollem Umfang und bemerkte hiezu im AB: "Den in den Erläuterungen der Regierungsvorlage zu § 28 Abs. 2 dargelegten Bedürfnissen nach einer möglichst langfristigen Ausbildungsmöglichkeit der einem milizartig organisierten Verband zugehörigen Wehrpflichtigen im geschlossenen Rahmen dieses Verbandes soll durch die Festlegung der Heranziehungsmöglichkeit von Wehrmännern bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres Rechnung getragen werden." Auch für die Ausbildung des Milizkaders haben sich mit fortschreitender Entwicklung der Milizstruktur die geltenden gesetzlichen Schranken als zu eng erwiesen. Es wurde daher das Gesamtausmaß der Kaderübungen ohne Differenzierungsmöglichkeit in geringere Stufen mit 90 bzw. 60 Tagen (im Umfang der bisherigen Rahmenbegrenzung) neu festgelegt und durch eine entsprechende Ergänzung die Möglichkeit geschaffen, dem Milizkaderpersonal nach Absolvierung dieser grundlegenden Ausbildung im Wege zusätzlicher, freiwilliger Kaderübungen in einem neuen Rahmen bis zu 90 bzw. 60 Tagen die notwendige qualifizierte und spezielle Kaderausbildung zu vermitteln. 345 Eine Verpflichtung zu Kaderübungen durch einen Auswahlbescheid oder kraft Gesetzes nach § 29 Abs.9 des Wehrgesetzes 1978 346 bleibt aber nur im bisherigen Gesamtausmaß von 90 bzw. 60 Tagen zulässig. 345 Durch § 29 Abs. 1lit. a und b des Wehrgesetzes 1978 in der vor dem Inkrafttreten des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 geltenden Fassung war die Gesamtdauer der Kaderübungen für eine Offiziersfunktion mit einer Rahmenbegrenzung bis zu 90 Tagen, für andere Kaderfunktionen mit einer solchen bis zu 60 Tagen festgelegt. Durch eine Verordnung des Bundesministers für Landesverteidigung war ferner u. a. zu bestimmen, "welches Ausmaß an Kaderübungen die einzelnen Kaderfunktionen erfordern"; s. die Verordnung über Kaderfunktionen, BGBl. Nr. 13/1979, die auf der Unteroffiziers- und Chargenebene eine Staffelung von 60, 30 und 21 Tagen enthielt. 346 Nach § 29 Abs. 9 des Wehrgesetzes 1978 in der vor dem Inkrafttreten des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 geltenden Fassung konnten Reserveoffiziere, Reserveoffiziersanwärter sowie sonstige Wehrpflichtige der Reserve, die Berufsoffiziere, Beamte bzw. Vertragsbedienstete in Unteroffiziersfunktion, zeitverpflichtete Soldaten oder Offiziere auf Zeit gewesen sind, oder die einen Wehrdienst als Zeitsoldat geleistet haben, bis zur Vollendung ihres 50. Lebensjahres nach den jeweiligen militärischen Erfordernissen ohne ihre Zustimmung zu Kaderübungen herangezogen werden. Mit der Änderung des persönlichen Geltungsbereiches dieser Bestimmung im Sinne des neuen Systems von Miliz- und Reservestand - wodurch nunmehr die entsprechenden Personengruppen von Wehrpflichtigen des Milizstandes erfaßt sind - wurde auch die schon bisher gegenüber der freiwillige Leistung von Kaderübungen und der Heranziehung auf Grund eines Auswahlbescheides subsidiäre Geltung des § 29 Abs. 9 leg. cit. ausdrücklich klargestellt.

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Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung der Milizkomponenten des Bundesheeres hat sich bei den Wehrpflichtigen in steigendem Maße eine Bereitschaft gezeigt, auch außerhalb von Ausbildungsgängen Wehrdienstleistungen zu erbringen, in denen sie - vielfach unter speziellem Einsatz der zivilen Kenntnisse und Qualifikationen aus ihrem Berufsleben - an der Besorgung bestimmter militärischer Aufgaben mitwirken. Diesen Erfahrungen gemäß wurde die Einrichtung der "Funktionsdienste" als eine neue, den freiwilligen Waffenübungen analog gestaltete Präsenzdienstart geschaffen. Die Funktionsdienste bilden solcherart ein typisches Element des Milizgefüges, das im Bereich des Präsenzstandes harmonisch an die Freiwillige Milizarbeit (als Element des Milizstandes) anschließt. Anläßlich der Behandlung des vom Bundesminister für Landesverteidigung vorgelegten Berichtes betreffend den Zeitsoldaten 347 hat der NR am 19. März 1986 eine Entschließung (E 60-NR / XVI. GP) gefaßt, die eine Besserstellung der Zeitsoldaten in verschiedenen Punkten zum Ziele hatte; einer dieser Punkte war auf eine "Verbesserung der Vertretung für Zeitsoldaten" gerichtet, wobei sich dieses Bedürfnis nur für Zeitsoldaten mit einem Verpflichtungszeitraum von mindestens einem Jahr entsprechend dem Charakter einer solchen Wehrdienstleistung von verhältnismäßig längerer Dauer ergab. Im Rahmen des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 wurde der zitierten Entschließung durch eine entsprechende Neugestaltung der diesbezüglichen Bestimmungen entsprochen (§§ 47 und 47 a des Wehrgesetzes 1978); ein vom Abg. Dr. Peter Pilz im Landesverteidigungsausschuß des NR zu der in der RV vorgesehenen Regelung eingebrachter Abänderungsantrag fand keine Mehrheit. Die unmittelbare Vertretungsebene des genannten Personenkreises ist nach der neuen Regelung beim Kommandanten des Truppenkörpers, die Zahl der Soldatenvertreter ist je nach der Zahl der wahlberechtigten Zeitsoldaten des Befehlsbereiches in fünf Stufen festgelegt.348 Den Kern der Ausgestaltung bildet die Einrichtung von Kollegialorganen über dieser unmittelbaren Vertretungsebene. Es handelt sich dabei um Ausschüsse auf zwei Ebenen, und zwar um die Zeitsoldatenausschüsse bei den Dienstbehörden 1. Instanz sowie um den Zentralen Zeitsoldatenausschuß beim Bundesminister für Landesverteidigung, die jeweils aus sieben Mitgliedern bestehen; die Ausschüsse sind durch Wahl aus dem Kreise der Soldatenvertreter im jeweiligen Befehlsbereich zu bilden. 349 Die Funktionsdauer der Soldatenvertreter auf der erwähnten 347 Erfahrungsbericht Zeitsoldat, III-98 und 928 dBlg., Steno Prot. NR, XVI. GP. 348 Es entsenden nach § 47 Abs.2 des Wehrgesetzes 1978 4-9 Wahlberechtigte 1 Soldatenvertreter, 10-19 Wahlberechtigte 2 Soldatenvertreter, 20-100 Wahlberechtigte 3 Soldatenvertreter, 101-200 Wahlberechtigte 5 Soldatenvertreter, über 200 Wahlberechtigte 7 Soldatenvertreter. 349 Die Dienstbehörden 1. Instanz im Bereich des Bundesrninisteriums für Landesverteidigung sind gern. § 2 Z 7 der DVV 1981, BGBl. Nr. 162, i. d. F. der Novelle

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Ebene des Truppenkörpers sowie der Mitglieder der Ausschüsse beträgt allgemein drei Jahre. Das allgemeine Aufgabengebiet der Soldatenvertreter wurde entsprechend der bisherigen Rechtslage beibehalten, die speziellen Aufgaben der Soldatenvertreter für Zeitsoldaten mit einem mindestens einjährigen Verpflichtungszeitraum wurden hingegen, wie in den Erläuterungen der RV ausgeführt ist, "durch eine demonstrative Anführung bestimmter Sachbereiche, in denen den Soldatenvertretern dieses Personenkreises das Recht auf Information, Anhörung und Erstattung von Vorschlägen zukommt (§ 47 a Abs. 2), ergänzt". 350 Hinsichtlich der Soldatenvertreter im Grundwehrdienst und für Zeitsoldaten mit einem Verpflichtungszeitraum von weniger als einem Jahr blieb die bisherige Rechtslage - allerdings ohne Differenzierung nach Unteroffizieren und Offizieren - unverändert. Die Soldatenvertreter-Wahlordnung sowie eine Geschäftsordnung für die Soldatenvertreter der Zeitsoldaten, die Zeitsoldatenausschüsse und den Zentralen Zeitsoldatenausschuß sind vom Bundesminister für Landesverteidigung durch Verordnung zu erlassen. Die umfangreiche Ausgestaltung der Vertretungsorgane für Zeitsoldaten hat nicht nur deren Rechtsstellung verbessert, sondern auch die Möglichkeit verstärkter Initiativen dieser Präsenzdienst leistenden Wehrpflichtigen im Rahmen ihrer Wehrdienstleistung von verhältnismäßig längerer Dauer geschaffen; sie folgt daher in diesem Gesichtspunkt der allgemeinen milizorientierten Grundtendenz des Wehrrechtsänderungsgesetzes 1988 Im Sinne der zitierten Entschließung des NR vom 19. März 1986 ist bereits durch die 44. ASVG-Novelle BGBL Nr. 609/1987, mit 1. Jänner 1988 eine wesentliche Verbesserung des Krankenversicherungsschutzes für Zeitsoldaten, die die Voraussetzung einer mindestens einjährigen Verpflichtung erfüllen, eingetreten. Diese Personen sind seit dem genannten Zeitpunkt für die gesamte Dauer ihres Wehrdienstes als Zeitsoldat3 51 in den gesetzlichen Krankenversicherungsschutz einbezogen. Die auch schon BGBL Nr. 707/1991 die Korpskommanden I bis III, das Militärkommando Wien, das Kommando der Fliegerdivision und das Heeres-Materialamt; die Soldatenvertreter jener wahlberechtigten Zeitsoldaten, die nicht dem Befehlsbereich einer der genannten Dienstbehörden angehören, haben für die Bildung des Zentralen Zeitsoldatenausschusses aus ihrem Kreis ein Wahlkollegium von 7 Mitgliedern zu wählen, das ebenfalls durch Wahl einen Soldatenvertreter in dieses Vertretungsorgan der höchsten Ebene entsendet. 350 Nach § 47 Abs. 2 des Wehrgesetzes 1978 haben die Soldatenvertreter insbes. ein Informations-, Anhörungs- und Vorschlagsrecht bei der Auswahl von Zeitsoldaten für die militärische Aus- und Fortbildung, der Einteilung der Dienste vom Tag, der vorzeitigen Entlassung und Weiterverpflichtung von Zeitsoldaten, in Beförderungsangelegenheiten, bei der Versetzung (ausgenommen im Rahmen der Ausbildung) und der Leistungsbeurteilung sowie in Laufbahnangelegenheiten. 351 Nach dem Wehrrechtsänderungsgesetz 1983 bestand der gesetzliche Krankenversicherungsschutz nur im letzten Jahr dieses Wehrdienstes bei einer i. d. R. mindestens dreijährigen Dienstzeit, s. hiezu FN 314.

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in den zitierten Erläuterungen der RV einleitend erwähnte Änderung der Rechtslage erforderte entsprechende Anpassungen der damit in Zusammenhang stehenden Bestimmungen des Heeresgebührengesetzes 1985, die im Rahmen des Wehrrechtsänderungsgesetzes vorgenommen wurden. Ferner wurden auf Grund von gemeinsamen Abänderungsanträgen der Abg. Dr. Felix Ermacora, Alois Roppen, Dr. Friedhelm Frischenschlager und Genossen zur RV im Wehrgesetz 1978 das Höchstmaß des Verpflichtungszeitraumes für Zeit soldaten allgemein von zehn auf 15 Jahre angehoben und im Hinblick darauf die Höchstdauer der beruflichen Bildung mit 42 Monaten neu festgelegt sowie im Heeresgebührengesetz 1985 mit Wirkung vom 1. Juli 1988 die Monatsprämie erhöht. Für Wehrpflichtige, die den Grundwehrdienst in der Dauer von 8 Monaten leisten, wurde hingegen entsprechend dem erwähnten Antrag die bisher im siebenten und achten Monat gebührenden erhöhten Ansätze von Taggeld und Monatsprämie auf das im Grundwehrdienst während des ersten bis sechsten Monats geltende geringere Ausmaß reduziert. Diese Reduzierung der erwähnten Bezugsansätze sowie eine Neufassung des Wortlautes des § 28 Abs. 3 des Wehrgesetzes 1978 weisen dem Grundwehrdienst von acht Monaten gegenüber dem Regelfall des Grundwehrdienstes von sechs Monaten (§ 28 Abs. 1 leg. cit.) eine nur nach Maßgabe militärischer Interessen erst sekundär in Betracht kommende Bedeutung zu. Es handelt sich in beiden Fällen um Änderungen, die auf eine Stärkung des Milizgefüges durch geeignete gesetzliche Regelungen, und zwar im besonderen hinsichtlich des Systems eines sechsmonatigen Grundwehrdienstes mit Truppenund Kaderübungen, ausgerichtet sind. Da für die Verfügbarkeit miliz artig organisierter Truppen einem möglichst raschen und zweckmäßigen Ablauf der Mobilmachung besondere Bedeutung zukommt, ist es notwendig, im Rahmen der Ausbildung auf diesen Gesichtspunkt entsprechend Bedacht zu nehmen und im Wege von Waffenübungen auch den reibungslosen Ablauf des Mobilmachungsvorganges samt den damit verbundenen Alarmierungsmaßnahmen zur Herstellung der Einsatzbereitschaft der einzelnen Verbände zu üben und zu prüfen. Daß die geltende Einberufungsregelung auch für solche Übungen ausreichend Raum bietet, wurde durch eine diesbezügliche Ergänzung klargestellt. 344 Die ebenfalls einer möglichst raschen und zweckmäßigen Mobilmachung dienende Einrichtung des Beurlaubtenstandes wurde in dem neuen System von Präsenz-, Miliz- und Reservestand inhaltlich beibehalten, wobei aber die Bezeichnung "Beurlaubtenstand" aus terminologischen Gründen entfiel. Neben den dargelegten Änderungen und Ergänzungen zur Ausprägung des Milizsystems enthält das Wehrrechtsänderungsgesetz 1988 auch neue dienst- und wehrrechtliche Regelungen für Militärpiloten, auf die in den

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zitierten allgemeinen Erläuterungen der RV schon hingewiesen worden ist. Sowohl die Besoldung der auf Grund eines Dienstverhältnisses dem Bundesheer angehörenden Militärpiloten als auch die Einrichtung des Wehrdienstes als Zeitsoldat haben sich bei dieser militärischen Spezialverwendung als nicht geeignet erwiesen, um den erforderlichen Personalstand, insbes. aber den entsprechenden Nachwuchs an Militärpiloten in einer zeitlich begrenzten Wehrdienstleistung, sicherzustellen. Es wurden daher entsprechende Besoldungsverbesserungen im Rahmen des Gehaltsgesetzes 1956 und des Vertragsbedienstetengesetzes 1948 vorgenommen sowie im Wehrgesetz 1978 die Einrichtung der "Militärpiloten auf Zeit" geschaffen, zu der in den Erläuterungen der RV u. a. ausgeführt ist: "Es soll daher in weitgehender Anlehnung an die seinerzeit für eine Verwendung in einer Offiziersfunktion geltenden Normen (sogenannte ,Offiziere auf Zeit' gemäß § 12 des Wehrgesetzes 1978 in der vor dem 1. Jänner 1984 geltenden Fassung) auf der Offiziers- und Unteroffiziersebene eine geeignete Regelung für ein zeitlich begrenztes Dienstverhältnis als 'Militärpilot auf Zeit' geschaffen werden. Diese als neuer § 12 des Wehrgesetzes 1978 vorgesehene Regelung fügt sich in ihrem spezifisch dienst- und wehrrechtlichen Charakter auch harmonisch in die miliz artige Ausrichtung der Personalstruktur ein. Der Abs. 2 enthält eine Legaldefinition des Begriffes ,Militärpilot' unter Bedachtnahme auf das geltende Luftfahrtrecht, insbesondere auf die Militärluftfahrt-Personalverordnung 1968. Demnach umfaßt dieser Begriff nach § 12 Abs.2 des Wehrgesetzes 1978 jene Personen, denen zumindest die Grundbefähigung zum Flugzeug- oder Hubschrauberführer im Sinne der genannten Verordnung zuerkannt wurde." Im übrigen weist das Wehrrechtsänderungsgesetz 1988 - abgesehen von zahlreichen Anpassungsbestimmungen - noch verschiedene Novellierungspunkte auf, die sich aus praktischen Erfahrungen und Bedürfnissen ergeben haben und durch die Wehrgesetz-Novelle BGBl. Nr. 205/1989 noch geringfügig ergänzt wurden. 352 Der NR hat in seiner Plenarsitzung am 26. Mai 1988 mit dem Beschluß über das Wehrrechtsänderungsgesetz 1988 und der Annahme der im Rah352 Es handelt sich dabei insbes. um Verbesserungen bzw. Klarstellungen in den Bereichen des Ergänzungswesens und der Ausbildung. Hinsichtlich der Beschwerdekommission in militärischen Angelegenheiten (§ 6 des Wehrgesetzes 1978) wurde die Entschädigung für den amtsführenden Vorsitzenden und für die beiden anderen Vorsitzenden abweichend von der RV in einem abgestuften Ausmaß neu festgelegt; ein in der Plenarsitzung des NR am 26. Mai 1988 von den Abg. Dr. Ofner und Genossen hiezu gestellter Abänderungsantrag hinsichtlich einer weitergehenden Beschränkung des Entschädigungsanspruches blieb in der Minderheit. Über die Novelle BGBl. Nr. 205/1989 (betr. die Vorlage des Beschwerdekommissions-Berichtes) s. die Steno Prot. NR, XVII. GP 1989 (AB 878 dBlg., 11445-11466) und die Steno Prot. BR 1989 (22861-22876).

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men des AB vorgelegten Entschließung, betreffend die Projektuntersuchungen für die Neugestaltung eines über sechs Monate hinausgehenden Grundwehrdienstes (E 58), auch die von den Abg. Dr. Friedhelm Frischenschlager, Alois Roppert und Dr. Felix Ermacora beantragte Entschließung, "betreffend begleitende Maßnahmen zur Wehrrechtsänderungsgesetz-Novelle 1988" (E 59), gefaßt. Die zuletzt genannte Entschließung hat folgenden Wortlaut: "Die Bundesregierung wird ersucht, geeignet erscheinende Vorschläge zu erarbeiten, welche sicherzustellen haben, daß Ungleichheiten zwischen Soldaten im Milizstand, unabhängig von ihrem dienstrechtlichen Status, abgebaut werden." 353 Sie entspricht ebenso wie die vom Landesverteidigungsausschuß vorgelegte Entschließung dem schon mehrfach erwähnten Umstand, daß sich das österreichische Milizsystem in einem noch nicht abgeschlossenen Entwicklungsstadium befindet. So wurde auf dem Gebiet des militärischen Auszeichnungswesens durch das Bundesgesetz vom 28. Juni 1989, BGBl. Nr. 361, über militärische Auszeichnungen (MAG),354 eine gesetzliche Neuregelung getroffen, die entsprechend dem Milizgedanken an die Stelle des Systems einer prinzipiell getrennten Würdigung von beruflichen und Präsenzdienstleistungen (durch das Bundesheerdienstzeichen bzw. die Wehrdiensterinnerungsmedaille) ein einheitliches Auszeichnungssystem, die "Wehrdienst-Auszeichnung" in sechs Stufen (eine dreistufige Medaillenebene - "Wehrdienstmedaille" und ein "Wehrdienstzeichen" in 3 Klassen), setzt. Darüber hinaus wurde mit diesem Gesetz ein "Militär-Verdienstzeichen" zur Würdigung besonderer Verdienste um die militärische Landesverteidigung geschaffen. Im Sinne des Milizprinzips umfaßt dieses Ehrenzeichen die Würdigung solcher Leistungen sowohl innerhalb des Heeres als auch im zivilen Bereich. Das Militär-Verdienstzeichen wird vom Bundespräsidenten, das Wehrdienstzei-

353 Siehe hiezu FN 339; die Entschließung des NR vom 26. Mai 1988 zielt ungeachtet ihrer sprachlich unklaren Fassung - auf eine Harmonisierung jener Rechtsvorschriften ab, die für Berufssoldaten im Rahmen ihres Dienstrechts bzw. für Präsenzdienst leistende Wehrpflichtige i~ Rahmen des Wehrrechts hinsichtlich Besoldung und Dienstzeit gelten. 354 Über die parlamentarische Behandlung des MAG s. die Steno Prot. NR, XVII. GP 1989 (RV 933 dBlg., AB 978 dBlg.; 12790-12793) und die Steno Prot. BR 1989 (23336 -23340); anläßlich der 70. Wiederkehr des Ja,hrestages der Kärntner Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 wurde durch die Nov. BGBl. Nr. 327/1990 (Sten. Prot. NR, XVII. GP 1990: Antrag 399/ A, II-ll093 dBlg., AB 1384 dBlg.; 1698716992; Steno Prot. BR 1990: 24222-24224) die Feststellung eingefügt, daß die durch das Kärntner Kreuz für Tapferkeit bzw. die damit verbundene Zulage gewürdigten Leistungen in den Kärntner Freiheitskämpfen 1918/1919 als besondere Verdienste im Sinne des § 5 MAG gelten. Näheres über die Ausstattung, Trageweise etc. enthalten für das Militär-Verdienstzeichen die Verordnung BGBl. Nr. 551/1989 und für die Wehrdienst-Auszeichnung die Verordnung BGBl. Nr. 552/1989.

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chen vom Bundesminister für Landesverteidigung und die Wehrdienstmedaille von den Militärkommandanten verliehen. Für die Problematik der Rechtsstellung längerdienender Soldaten konnte in den bisherigen legislativen Konstruktionen noch keine befriedigende Lösung, auch nicht in der zuletzt gewählten Rechtsform des Zeitsoldaten, gefunden werden. Es wird daher immer wieder versucht, durch Novellierungen in Teilbereichen des geltenden Systems den praktischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Dies gilt vor allem für den Bereich der Besoldung, in dem durch die HGG-Novellen BGBl. Nr. 362/1989,355 326/1990,356 26/ 1991,357 und 368/1991 358 Einzelschritte solcher Verbesserungen (insbes. hinsichtlich einer Belastungsabgeltung in bestimmten Kaderverwendungen bzw. einem Einsatz) gesetzt wurden. Für den Auslandseinsatz wurde mit dem Bundesgesetz BGBl. Nr. 328/1990 359 das 1986 geschaffene Besoldungssystem inzwischen geänderten Relationen zu den Bezügen im öffentlichen Dienst angepaßt und unerwünschte Auswirkungen eines Auslandseinsatzes für Zeitsoldaten auf sozialem Gebiet beseitigt. Wie schon erwähnt, haben zahlreiche Novellierungen, insbes. das Wehrrechtsänderungsgesetz 1988, neuerlich eine Wiederverlautbarung des schon 1978 erstmalig wiederverlautbarten Wehrgesetzes geboten erscheinen lassen. Diese Wiederverlautbarung erfolgte mit der Kundmachung des Bundesministers für Landesverteidigung vom 17. Mai 1990, BGBl. Nr. 305; das Wehrgesetz erhielt die Bezeichnung "Wehrgesetz 1990 - WG". Der Fluß der Entwicklung führte allerdings 1992 neuerlich zu umfangreichen Gesetzesänderungen. Da durch die Wehrgesetznovelle BGBl. Nr. 690/ 1992 360 fast alle Paragraphen des WG berührt und mehrere neue Paragra355 Über die parlamentarische Behandlung der HGG-Nov. BGBL Nr. 362/1989 s. die Steno Prot. NR, XVII. GP 1989 (RV 912 dBlg., AB 977 dBlg.; 12785-12790) und die Steno Prot. BR 1989 (23335 - 23338). 356 Über die parlamentarische Behandlung der HGG-Nov. BGBL Nr. 326/1990 S. die Steno Prot. NR, XVII. GP (RV 1294 dBlg., AB 1383 dBlg.; 16944 -16987) und die Steno Prot. BR 1990 (24215 - 24222). 357 Über die parlamentarische Behandlung der HGG-Nov. BGBL Nr. 26/1991 S. die Steno Prot. NR, XVIII. GP 1991 (Antrag 47 / A, II-205 dBlg., AB 27 dBlg.; 388389) und die Steno Prot. BR 1991 (24601-24605). 358 Über die parlamentarische Behandlung der HGG-Nov. BGBL Nr. 368/1991 S. die Steno Prot. NR, XVIII. GP 1991 (Antrag 163/ A, II-2155 dBlg., AB 165 dBlg.; 3143-3156) und die Steno Prot. BR 1991 (25163-25168); S. auch Art. XIX der Exekutionsordnungs-Novelle 1991, BGBL Nr. 628. 359 Über die parlamentarische Behandlung des Bundesgesetzes BGBL Nr. 328/ 1990 S. die Steno Prot. NR, XVII. GP 1990 (RV 1273 dBlg., AB 1385 dBlg.; 1699216993) und die Steno Prot. BR 1990 (24224-24225); S. auch Art. XX der Exekutionsordnungs-Novelle 1991, BGBL Nr. 628; S. auch FN 307. 360 Über die parlamentarische Behandlung dieser Wehrgesetznovelle S. die Steno Prot. NR, XVIII. GP 1992 (RV 640 dBlg., AB 687 dBlg.; 9289 - 9320) und die Steno Prot. BR 1992 (26817-26824). 52*

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phen eingefügt worden sind, ist der Effekt der Wiederverlautbarung schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder verloren gegangen. Die Änderungen und Ergänzungen dieser Novelle betreffen im wesentlichen Verbesserungen hinsichtlich der Beschwerdekommission und der Verwaltungsabläufe im Ergänzungswesen, Vereinfachungen im System der Soldatenvertretung sowie einzelne Modifikationen hinsichtlich Grundwehrdienst und Truppenübungen (subsidiäre Verpflichtungsmöglichkeit zu einem achtmonatigen Grundwehrdienst ähnlich der Regelung für Kaderübungen nach § 29 Abs. 7 und 8 WG; Truppenübungspflicht i. d. R. bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres, für Kaderübungspflichtige aber bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres) und Veränderungen der Verfügungsrechte zur Beschleunigung der Heranziehung von Milizangehörigen zu einem Einsatz (Verfügung der Einberufung und des Aufschubs der Entlassung durch den Bundesminister für Landesverteidigung bis zur Gesamtzahl von 5000 Wehrpflichtigen - ohne Einrechnung des sogenannten "Beurlaubtenstandes", s. § 35 Abs. 3, § 39 Abs. 2, § 39a WG). Wie in den Erläuterungen der RV zu den Änderungen hinsichtlich Ausbildung und Einsatz bemerkt wird, sollen die neuen Regelungen "insbes. im Lichte der praktischen Erfahrungen anläßlich des Sicherungseinsatzes an der österreichisch-jugoslawischen Staatsgrenze im Sommer 1991 dem geänderten Bedrohungsbild und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach einer möglichst raschen Verfügbarkeit ausreichender militärischer Kräfte" für einen entsprechenden Grenzschutz Rechnung tragen. Auch das HGG 1985 bedurfte nach den erwähnten mehrfachen DetailNovellierungen sowohl einer Bereinigung zum Zwecke besserer Übersichtlichkeit und Klarheit, als auch umfangreicher inhaltlicher Änderungen. Es wurde daher in diesem Falle zum Zwecke der Textbereinigung nicht der Weg einer Wiederverlautbarung beschritten, sondern das HGG in seiner Gesamtheit neu erlassen. Als Veränderungen der bisherigen Rechtslage durch das Bundesgesetz über die Regelung der Bezüge und sonstigen Ansprüche der Wehrpflichtigen (Heeresgebührengesetz 1992 - HGG 1992), BGBL Nr. 422/1992 361 sind im wesentlichen die Umwandlung des Taggeldes in einen monatlichen Barbezug unter Vereinheitlichung dieser Geldleistung für jeglichen Präsenzdienst außerhalb eines Einsatzes, die Dynamisierung der Barbezüge durch Anknüpfung an das Gehaltsgesetz 1956, eine Anhebung der Prämie für Zeitsoldaten, die Einräumung eines Anspruchs auf Fahrtkostenvergütung, auf unentgeltliche Benützung militärischer Unterkünfte und auf Teilnahme an der militärischen Verpflegung für Milizan361 Über die parlamentarische Behandlung des HGG 1992 s. die Steno Prot. NR, XVIII. GP 1992 (RV 472 dBlg., AB 556 dBlg.; 8163-8194) und die Steno Prot. BR 1992 (26538 - 26542). Über die parlamentarische Behandlung des EZG s. die Steno Prot. NR, XVIII. GP 1992 (RV 539 dBlg., AB 569 dBIg.; 8193-8200) und die Steno Prot. BR 1992 (26542 -26546).

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gehörige bei "freiwilliger Milizarbeit" (als Organe des Bundes), die Einbeziehung unterhaltspflichtiger Soldaten im Grundwehrdienst, die bisher mangels eines nachweisbaren Einkommens vor Antritt des Präsenzdienstes keinen Anspruch auf Familienunterhalt und Wohnkostenbeihilfe hatten, in den Kreis der Anspruchsberechtigten, eine Anhebung der Höchstbemessungsgrundlage für diese Leistungen sowie eine Neugestaltung der Entschädigungs- bzw. Bezugsfortzahlungsregelung bei Übungen, im Einsatz und beim Aufschub der Entlassung (insbes. allgemeine Auszahlung der Pauschalentschädigung und Möglichkeit der freiwilligen Bezugsfortzahlung gegen Kostenersatz durch den Bund für Arbeitgeber außerhalb des Bereiches des öffentlichen Dienstes) zu nennen. In engem Zusammenhang mit dem HGG 1992 steht das mit diesem gemeinsam beschlossene und kundgemachte Bundesgesetz über Einsatzzulagen für Bedienstete des Bundesministeriums für Landesverteidigung Einsatzzulagengesetz (EZG), BGBl. Nr. 423/1992. 381 Es handelt sich dabei um eine besoldungsrechtliche Regelung fur Berufssoldaten (Berufsoffiziere, Beamte und Vertragsbedienstete in Unteroffiziersfunktion, Militärpiloten auf Zeit, zeitverpflichtete Soldaten, Offiziere auf Zeit). Nach dem EZG gebührt dem genannten Personenkreis für die Dauer eines Einsatzes in den Fällen des § 2 Abs. 1 lit. abis c WG oder der unmittelbaren Vorbereitung eines solchen anstelle von Nebengebühren verschiedener Art nach dem Gehaltsgesetz 1956 und der RGV 1955 sowie anstelle eines Freizeitausgleichs nach dem BDG 1979 einheitlich die neue Einsatzzulage; bei Bediensteten, deren Tätigkeit sich durch den Einsatz nicht ändert, bleiben die diesbezüglichen (monatlich pauschalierten) Nebengebührenansprüche hievon unberührt. Diese neue Regelung hat sich - wie in den Erläuterungen der RV näher ausgeführt ist - insbes. auf Grund der Erfahrungen aus den Assistenzeinsätzen des Bundesheeres zur Überwachung der Ostgrenze und aus dem schon erwähnten Sicherungseinsatz anläßlich der Jugoslawienkrise als notwendig erwiesen, um sowohl die finanzielle Belastung des Bundes durch die anfallenden Nebengebührenansprüche der Berufssoldaten in einem vertretbaren Rahmen zu halten, als auch den Einsatzbedingungen in administrativer Hinsicht besser gerecht zu werden. 7. Ausblicke -

de lege ferenda

Es liegt in der Natur von Rechtsnormen, daß sie als Regelungsinstrumente des Gemeinschaftslebens immer wieder Veränderungen unterworfen sind, sei es aus den Erfahru:qgen ihrer Anwendung, aus neuen Regelungsbedürfnissen im Gefolge vielfältiger Entwicklungen der verschiedenen Sach- und Lebensbereiche oder im Hinblick auf gesellschaftspolitische Zielsetzungen. Dieser ständige Fluß der Gesetzgebung ist jedoch in bedenklicher Weise zu

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einer allgemein beklagten Gesetzesflut angeschwollen, deren Ausmaß in einem beträchtlichen Anteil nicht durch die erwähnten Notwendigkeiten legislativer Veränderungen allein bestimmt wird. Das schädliche Übermaß bewirken vor allem unausgereifte Konzepte, für deren Realisierung vielfach eine allzu eng begrenzte Sicht des legislativ zu lösenden Fragenkomplexes, aber auch ein allzu hoher Stellenwert taktischer Überlegungen hinsichtlich Art, System und Zeitpunkt der neuen Regelung maßgeblich sind. Der Mangel einer komplexen Betrachtungsweise bei der Vorbereitung der Neuregelung schafft oft unnötige Kasuistik und macht vermeidbare Korrekturen und Ergänzungen durch weitere Gesetzgebungsakte innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit notwendig. Solche Konsequenzen wirken sich in vielen Fällen auch auf andere, mittelbar berührte Teilbereiche der Rechtsordnung aus; sie verursachen dort neben Beeinträchtigungen der Übersichtlichkeit und Systematik verschiedentlich auch interpretative Unklarheiten. Diese insgesamt als schädlich erkannte und kritisierte Gesetzgebungspraxis führt aber nicht nur zum weitgehenden Verlust von Übersicht und Klarheit des geltenden Normenbestandes in den einzelnen Rechtsgebieten, wodurch der "Zugang zum Recht" - ungeachtet der Bemühungen um geeignete Hilfseinrichtungen in den Vollziehungsbereichen der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung - in zunehmendem Maße erschwert wird; sie ist geeignet langfristig eine staatspolitisch besonders bedenkliche Korrumpierung des Rechtsbewußtseins der Normadressaten zu bewirken. Aus den angeführten Umständen, insbes. infolge einer hohen Zahl an gesetzlichen Neuregelungen für jeweils verhältnismäßig geringfügige Teilbereiche und für eine verhältnismäßig kurze Geltungsdauer bis zur nächsten Novellierung, ergibt sich nämlich bei einer längeren Zeit hindurch geübten Gesetzgebung der geschilderten Art im Bewußtsein der Bevölkerung eine entwertende Wirkung auf die Bedeutung der Verbindlichkeit von