Die Entwicklung der Streitgegenstandslehre in Deutschland und Europa und ihre Vorbildwirkung für das chinesische Recht [1 ed.] 9783428540617, 9783428140619

Der Begriff Streitgegenstand ist eine Schöpfung der deutschen Prozessualisten zu dem Problem, worüber in einem Prozess v

126 35 2MB

German Pages 329 Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Entwicklung der Streitgegenstandslehre in Deutschland und Europa und ihre Vorbildwirkung für das chinesische Recht [1 ed.]
 9783428540617, 9783428140619

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Schriften zum Prozessrecht Band 226

Die Entwicklung der Streitgegenstandslehre in Deutschland und Europa und ihre Vorbildwirkung für das chinesische Recht Von Ding Ma

Duncker & Humblot · Berlin

DING MA

Die Entwicklung der Streitgegenstandslehre in Deutschland und Europa und ihre Vorbildwirkung für das chinesische Recht

Schriften zum Prozessrecht Band 226

Die Entwicklung der Streitgegenstandslehre in Deutschland und Europa und ihre Vorbildwirkung für das chinesische Recht

Von Ding Ma

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau hat diese Arbeit im Wintersemester 2012/2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 25 Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-14061-9 (Print) ISBN 978-3-428-54061-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84061-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Großmutter Yaping, Zhao und meinem Großvater Yongqing, Ma

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Wintersemester 2012/2013 als Disser­ tation angenommen. Literatur und Gesetzgebung konnten bis zum Januar 2012 berücksichtigt werden. Mein ganz besonderer, herzlicher Dank gilt meinem hochverehrten Doktor­ vater, Professor Dr. Dres. h. c. Rolf Stürner, für die wertvollen Anregungen, das an­dauernde Vertrauen und die vielfältige Unterstützung. Er war immer meinen Anliegen gegenüber offen und brachte mir viel Verständnis entgegen. Ohne seine großzügige Förderung und stetige Ermutigung wäre das Zustandekommen dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Besonderen Dank schulde ich auch Herrn Professor Dr. Alexander Bruns, LL. M. (Duke Univ.), für die Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Dr. Florian R. Simon (LL. M.) und dem Verlag Duncker &  Humblot danke ich für die freundliche Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Die großzügige und freundliche Unterstützung seitens der Friedrich-Ebert-Stiftung kam mir vom Anfang bis Ende meines Doktorstudiums zugute. Für ihre Hilfe, Geduld und ihr Verständnis bin ich sehr dankbar. Weiter ist ein besonderer Dank den Sekretärinnen Frau Victoria Marini und Frau Barbara Wiechmann sowie den damaligen und heutigen wissenschaftlichen Mit­ arbeitern am Institut für Deutsches und Ausländisches Zivilprozessrecht, Abt. 1, vor allem Herrn Professor Dr. Christoph A. Kern, LL. M. (Harvard), und Herrn Christian Fix, auszusprechen, die mir bei meinem Studium in vieler Hinsicht geholfen haben. Ein spezieller Dank geht an Frau Marini für die arbeitsintensive Betreuung des Manuskripts. Für die zuverlässige Korrektur meines Manuskripts danke ich insbesondere Herrn Dr. Volker Manz. Spezieller Dank geht auch an die Wissenschaftler sowie meine Freunde, die meinen Studienaufenthalt und die Arbeit an der Dissertation durch Zuspruch und Ermutigung unterstützt haben. Anstatt einer erschöpfenden Aufzählung ihrer Namen möchte ich mich ihrer Hilfe stets in besonderer Dankbarkeit erinnern. Der größte Dank gebührt meinen lieben Eltern, die die Studien meiner Frau und meine Studien in Deutschland vorbehaltlos unterstützt und auf unsere Rückkehr in die Heimat für mehrere Jahre ruhig gewartet haben. Ihr Vertrauen hat mir jederzeit Kraft und Zuversicht gegeben. Meinen Schwiegereltern, die mich

8

Vorwort

auf verschiedene Weise großzügig unterstützt haben, gebührt ebenfalls ein g­ roßes Dankeswort. Mein letzter und wichtigster Dank geht an meine Frau. Ohne sie wäre mein frohgemuter und seelenruhiger Studienaufenthalt wohl unmöglich gewesen. Freiburg i. Br., im Dezember 2012

Ding Ma

Inhaltsübersicht Kapitel 1 Einführung 31 A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Erster Teil



Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

42

Kapitel 2

Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht

42

A. Die Lehre der actio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 B. Die litis contestatio im Legisaktionen- und Formularverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 C. Die Bedeutung von intentio, demonstratio, condemnatio und praescriptio in der ­formula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 D. Die prozessuale Konsumtion und die allgemeine Ausschlusswirkung . . . . . . . . . . . . 48 E. Das Problem des concursus actionum im römischen Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . 52 F. Zusammenfassung der Entwicklung im klassischen römischen Verfahrensrecht . . . . 54 G. Das Streitgegenstandsproblem in der Entwicklung des klassischen Kognitionsverfahrens und des nachklassischen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Kapitel 3

Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht

58

A. Die Hauptquellen des gemeinen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 B. Die grundlegende Tendenz in der Entwicklung des gemeinen Rechts: Die Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 C. Der Begriff des „Anspruchs“ im gemeinen Recht und die Instabilität seines Inhalts . . 64

10

Inhaltsübersicht

D. Der Grundsatz iura novit curia im gemeinen Recht und seine Bedeutung . . . . . . . . . 66 E. Das Konkurrenzproblem im gemeinen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 F. Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Kapitel 4



Das römische und gemeine Zivilprozessrecht als historische Grundlage des modernen Zivilprozessrechts in Europa: Charakter und Einfluss

83

A. Einleitung: Vererbung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 B. Würdigung der Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im römischen Recht . . 83 C. Würdigung der Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im gemeinen Recht . . . 86 D. Das historische Gedankengut und seine Weiterführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Zweiter Teil



Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

90

Kapitel 5

Der materiellrechtliche Anspruch und die Anspruchskonkurrenz im deutschen Zivilrechtssystem

90

A. Der Begriff und Inhalt des materiellrechtlichen Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 B. Gesetzeskonkurrenz und Anspruchskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 C. Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ und ihre Besonderheiten . . . . . . . . . . 98

Kapitel 6

Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ und der Gegenstand des Zivilverfahrens

101

A. Die Entstehung beider Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 B. Der Zusammenhang beider Rechtsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 C. Die Funktion der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Inhaltsübersicht

11

Dritter Teil



Das Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

107

Kapitel 7

Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland

107

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 B. Die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 C. Die klassische zweigliedrige prozessuale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 D. Die eingliedrige prozessuale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 E. Die neuen materiellrechtlichen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 F. Die prozessualen Streitgegenstandstheorien und der Weg zur Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 G. Die neue Entwicklungstendenz der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Kapitel 8

Die Streitgegenstandslehre und ihre Anwendung auf prozessrechtliche Institute

119

A. Streitgegenstandslehre und objektive Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 B. Streitgegenstandslehre und Klageänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 C. Streitgegenstandslehre und Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 D. Streitgegenstandslehre und materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Kapitel 9

Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen

136

A. Die Parteidisposition über die Rechtsschutzform und der Inhalt des Streitgegenstandes 136 B. Leistungsklage und Streitgegenstandsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 C. Feststellungsklage und Streitgegenstandsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 D. Gestaltungsklage und Streitgegenstandsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 E. Zusammenfassende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

12

Inhaltsübersicht Kapitel 10



Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart

146

A. Die Lehre vom relativen Streitgegenstandsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 B. Der weit verstandene Sachverhalt und der weit gefasste Anspruch als Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 C. Die Funktion der materiellrechtlichen Norm bei der Identifizierung oder Differenzierung des Lebenssachverhalts – Die Anknüpfung der prozessualen Streitgegenstandslehre an das materielle Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Vierter Teil



Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

183

Kapitel 11

Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

184

A. Art. 27 Abs. 1 EuGVVO (Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ) und seine Zielsetzung . . . . . . . . . 184 B. Die Entstehung der „Kernpunkttheorie“ in den EuGH-Entscheidungen . . . . . . . . . . . 184 C. Inhalt der Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 D. Zielsetzung und Begründung der Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Kapitel 12

Vergleich zwischen der Kernpunkttheorie und der deutschen Streitgegenstandslehre

200

A. Notwendigkeit des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 B. Inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 C. Begründungen der Unterschiede beider Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 D. Meinungsstand der deutschen Prozessualisten zur Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . 206 E. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Inhaltsübersicht

13

Fünfter Teil



Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

217

Kapitel 13



Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre und ihres Verhältnisses zu Prozessrechtsgrundsätzen und Prozessrechtsinstituten

217

A. Streitgegenstandsbegriff, Rechtstradition und Prozesskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 B. Die dogmatischen Bestrebungen zur Schaffung einer allgemeinen Streitgegenstandslehre in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 C. Ideologische Fragen des Zivilprozessrechts, Verfahrensstruktur und Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 D. Das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht und seine Bedeutung für die Streitgegenstandsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Sechster Teil



Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China und die Vorbildfunktion der Streitgegenstandslehre in Europa

260

Kapitel 14

Historische Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts

260

A. Die Entwicklung des Prozessrechts seit der chinesischen Neuzeit (1840 bis heute) . 260 B. Überblick über das Zivilprozessrechts- und Justizsystem im gegenwärtigen China . . 264 C. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Kapitel 15



Die Lage der Nation und ihr Anspruch auf ein chinesisches Zivilprozessrecht sowie die Prozessrechtsrezeption

272

A. Einleitung: Die Bedeutung der Lage der Nation für das nationale Rechtssystem – eine Vorfrage der Rechtsvergleichung und -rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 B. Die Wandlung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger und ihre Spiegelung im Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

14

Inhaltsübersicht

C. Die Begründung der Marktwirtschaft und ihr Einfluss auf das Zivilprozessrecht . . . 274 D. Harmoniestreben in Geschichte und Gegenwart und sein Einfluss auf das chinesische Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 E. Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Kapitel 16

Möglichkeit und Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre

280

A. Möglichkeit und Notwendigkeit als Vorfragen der Rechtsrezeption . . . . . . . . . . . . . . 280 B. Möglichkeit der Rezeption einer Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 C. Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 D. Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Kapitel 17

Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre für das chinesische Prozessrecht

291

A. Vorschläge zur Definition und Abgrenzung des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . 291 B. Voraussetzungen und Durchsetzung der vorgeschlagenen Theorierezeption . . . . . . . 294 C. Besondere Streitgegenstandslehre für den grenzüberschreitenden Rechtsstreit . . . . . 301 D. Zusammenfassende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Literaturverzeichnis der chinesischen Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einführung

31

A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Die Methode der historischen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II. Die rechtsvergleichende Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Die Methode der systematischen Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 IV. Die rechtsphilosophische und rechtspolitische Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . 36 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I. Die geschichtliche Grundlage der Streitgegenstandslehre: Das Streitgegenstandsproblem im römischen und gemeinen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 II. Die institutionelle Grundlage der Streitgegenstandslehre: Der Zusammenhang zwischen Streitgegenstands- und Anspruchskonkurrenzproblem . . . . . . . . . . . . . 38 III. Die Entwicklung und Anwendung der Streitgegenstandslehre in Deutschland . . 39 IV. Die Kernpunkttheorie des EuGH und der Vergleich zwischen ihr und der deutschen Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 V. Umfassende Bewertung und Kritik der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . 40 VI. Überblick über das chinesische Zivilprozessrecht und Vorschläge zum Aufbau einer nationalen Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Erster Teil



Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

42

Kapitel 2

Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht

42

A. Die Lehre der actio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 B. Die litis contestatio im Legisaktionen- und Formularverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 C. Die Bedeutung von intentio, demonstratio, condemnatio und praescriptio in der ­formula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 D. Die prozessuale Konsumtion und die allgemeine Ausschlusswirkung . . . . . . . . . . . . 48

16

Inhaltsverzeichnis

E. Das Problem des concursus actionum im römischen Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . 52 F. Zusammenfassung der Entwicklung im klassischen römischen Verfahrensrecht . . . . 54 G. Das Streitgegenstandsproblem in der Entwicklung des klassischen Kognitionsverfahrens und des nachklassischen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Kapitel 3

Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht

58

A. Die Hauptquellen des gemeinen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 I. Der dauernde Einfluss des römischen Prozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Die Besonderheit des germanischen prozessualen Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . 59 B. Die grundlegende Tendenz in der Entwicklung des gemeinen Rechts: Die Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I. Die Entstehung des Gedankens vom „objektiven Recht“ und die Achtung des klägerischen Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Die Aufspaltung des Aktionensystems im materiellen Recht und Prozessrecht . . 62 III. Die Aufspaltung von materiellrechtlichem Anspruch und Klagerecht . . . . . . . . . 63 IV. Bewertung dieser Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 C. Der Begriff des „Anspruchs“ im gemeinen Recht und die Instabilität seines Inhalts . . 64 D. Der Grundsatz iura novit curia im gemeinen Recht und seine Bedeutung . . . . . . . . . 66 E. Das Konkurrenzproblem im gemeinen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 F. Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 I. Klageänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 II. Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 III. Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Kapitel 4



Das römische und gemeine Zivilprozessrecht als historische Grundlage des modernen Zivilprozessrechts in Europa: Charakter und Einfluss

83

A. Einleitung: Vererbung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 B. Würdigung der Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im römischen Recht . . 83 C. Würdigung der Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im gemeinen Recht . . . 86 I. Die Geburt der selbständigen Prozesswissenschaft und die kasuistisch-empirische Arbeitsweise der gemeinrechtlichen Gelehrten beim Streitgegenstandsproblem . 86

Inhaltsverzeichnis

17

II. Das Aufkommen des Grundsatzes iura novit curia und die Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes im gemeinen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 III. Besonderheit und Bedeutung der gemeinrechtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . 88 D. Das historische Gedankengut und seine Weiterführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Zweiter Teil



Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

90

Kapitel 5

Der materiellrechtliche Anspruch und die Anspruchskonkurrenz im deutschen Zivilrechtssystem

90

A. Der Begriff und Inhalt des materiellrechtlichen Anspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I. Die historische Entwicklung des Anspruchsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 II. Die Bedeutung des materiellrechtlichen Anspruchs als Rechtsbegriff und Rechtsinstitut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 III. Die Struktur des Anspruchs und die Anspruchsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 IV. Anspruch im subjektiven und objektiven Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 B. Gesetzeskonkurrenz und Anspruchskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Das Rechtsphänomen der Konkurrenz und seine begriffliche Unklarheit . . . . . . 95 II. Die Gesetzeskonkurrenz im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 III. Die Gesetzeskonkurrenz im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 IV. Die „Anspruchskonkurrenz in weiterem Sinne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 C. Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ und ihre Besonderheiten . . . . . . . . . . 98 I. Die Charakteristika der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ . . . . . . . . . . 98 II. Die Ursache der Problematik der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ . . . 99 III. Die Rechtsnatur der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ . . . . . . . . . . . . . 100

Kapitel 6

Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ und der Gegenstand des Zivilverfahrens

101

A. Die Entstehung beider Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 B. Der Zusammenhang beider Rechtsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 C. Die Funktion der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

18

Inhaltsverzeichnis Dritter Teil



Das Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

107

Kapitel 7

Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland

107

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 B. Die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 C. Die klassische zweigliedrige prozessuale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 D. Die eingliedrige prozessuale Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 E. Die neuen materiellrechtlichen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 F. Die prozessualen Streitgegenstandstheorien und der Weg zur Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 G. Die neue Entwicklungstendenz der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Kapitel 8

Die Streitgegenstandslehre und ihre Anwendung auf prozessrechtliche Institute

119

A. Streitgegenstandslehre und objektive Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I. Zweck des Instituts der objektiven Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 II. Die Rolle des Sachverhaltes beim Institut der objektiven Klagenhäufung . . . . . . 120 III. Das Institut der objektiven Klagenhäufung und die Streitgegenstandstheorien . . 120 1. Die ein- und die zweigliedrigen Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Unterschied und Gemeinsamkeit beider Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . 121 B. Streitgegenstandslehre und Klageänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 I. Zweck des Instituts der Klageänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 II. Die zulässige und die unzulässige Klageänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Inhaltsverzeichnis

19

III. Die Rolle des Sachverhaltes beim Institut der Klageänderung . . . . . . . . . . . . . . . 123 IV. Das Institut der Klageänderung und die Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . . . 124 C. Streitgegenstandslehre und Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 I. Zweck des Instituts der Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Das Institut der Rechtshängigkeit und die Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . 125 III. Die Rechtshängigkeitssperre bei unterschiedlichen Rechtsschutzformen und die Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 IV. Das Rechtshängigkeitsproblem bei einer Klage aus dem Wechsel . . . . . . . . . . . . 129 V. Das Rechtshängigkeitsproblem bei der Teilklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 D. Streitgegenstandslehre und materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 I. Zweck des Instituts der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 II. Die Bedeutung der Streitgegenstandslehre für das Institut der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Die zweigliedrige Theorie als herrschende Lehre beim Institut der materiellen Rechtskraft und ihre Mängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

Kapitel 9

Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen

136

A. Die Parteidisposition über die Rechtsschutzform und der Inhalt des Streitgegenstandes 136 B. Leistungsklage und Streitgegenstandsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 I. Ziel und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 II. Theoretische Kontroversen über die Festlegung des Umfangs des Streitgegenstandes der Leistungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 III. Das Problem der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ bei der Leistungsklage und seine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 C. Feststellungsklage und Streitgegenstandsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Ziel und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 II. Die Arten der Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 III. Das Verhältnis zwischen Leistungsklage und Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . 141 1. Leistungsklage und positive Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Leistungsklage und negative Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Positive und negative Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 IV. Die Abgrenzung des Streitgegenstandes der Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . 144 D. Gestaltungsklage und Streitgegenstandsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 I. Ziel und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II. Die Abgrenzung des Streitgegenstandes der Gestaltungsklage . . . . . . . . . . . . . . 145 E. Zusammenfassende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

20

Inhaltsverzeichnis Kapitel 10



Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart

146

A. Die Lehre vom relativen Streitgegenstandsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 I. Der einheitliche Streitgegenstandsbegriff als allgemeine Vorstellung . . . . . . . . . 146 II. Die Entstehung der Theorien vom relativen Streitgegenstandsbegriff . . . . . . . . . 147 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Unterscheidung von Prozessgegenstand und Urteilsgegenstand . . . . . . . . . 147 b) Bestimmung des Streitgegenstandes nach Klagearten und Rechts­instituten 148 c) Bestimmung des Streitgegenstandes nach Prozessmaximen . . . . . . . . . . . . 149 III. Kritik an den relativen Streitgegenstandstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Unterscheidung zwischen Verfahrens- und Urteilsgegenstand . . . . . . . . . . . . . 150 2. Einfluss der Klagearten auf die Bestimmung des Streitgegenstandes . . . . . . . 150 3. Einfluss der Verfahrensmaximen auf die Bestimmung des Streitgegenstandes 151 IV. Bedeutung der Lehre vom relativen Streitgegenstandsbegriff und heutiger Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 V. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 B. Der weit verstandene Sachverhalt und der weit gefasste Anspruch als Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 I. Die Einführung des Begriffs „Lebenssachverhalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Der Begriff „Lebenssachverhalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Meinungsstreit über Angaben zum Grund des Rechtsbegehrens . . . . . . . . . . . 158 3. Die Methode zur Abgrenzung des Lebenssachverhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4. Spannungsverhältnis zwischen dem weit verstandenen Lebenssachverhalt und der Verhandlungsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5. Funktion des Begriffs „Lebenssachverhalt“ und heutiger Meinungsstand . . . . 161 II. Der weit verstandene Klageanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1. Theorienstreit zum Wesen des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 2. Ansätze zu einem weit verstandenen klägerischen Anspruch . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Inhalt und Ziel des weit verstandenen Klageanspruchsbegriffs . . . . . . . . . . . . 168 4. Spannungsverhältnis zwischen dem weit verstandenen Klageanspruch und der Dispositionsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5. Der weit verstandene Klageanspruch und die vernünftige Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 III. Bewertung und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Zum „Lebenssachverhalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Zum „Klagebegehren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Inhaltsverzeichnis

21

3. Der innere Zusammenhang zwischen dem weit verstandenen Sachverhalt und dem weit verstandenen Klageanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Vorzugswürdigkeit beider Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 C. Die Funktion der materiellrechtlichen Norm bei der Identifizierung oder Differenzierung des Lebenssachverhalts – Die Anknüpfung der prozessualen Streitgegenstandslehre an das materielle Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 II. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 III. Bewertung des Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Positive Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Abgrenzung von der ursprünglichen und neuen materiellrechtlichen Theorie . 178 3. Beschränkung des Umfangs des Lebenssachverhalts durch materiellrechtliche Normen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 IV. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Vierter Teil



Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

183

Kapitel 11

Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

184

A. Art. 27 Abs. 1 EuGVVO (Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ) und seine Zielsetzung . . . . . . . . . 184 B. Die Entstehung der „Kernpunkttheorie“ in den EuGH-Entscheidungen . . . . . . . . . . . 184 I. Die autonome Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. „Gubisch/Palumbo“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 III. „Tatry/Maciej Rataj“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. „Drouot assurances/CMI industrial sites“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 V. „Erich Gasser GmbH/MISAT Srl.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 VI. „Mærsk Olie & Gas/Firma M. De Haan en W. De Boer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 C. Inhalt der Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 I. Voraussetzungen für die Berücksichtigung der ausländischen Rechtshängigkeit nach Art. 27 E ­ uGVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Identität des Lebenssachverhaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Identität der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. „Derselbe Anspruch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 II. Wesen des „Kernpunktes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 D. Zielsetzung und Begründung der Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

22

Inhaltsverzeichnis Kapitel 12



Vergleich zwischen der Kernpunkttheorie und der deutschen Streitgegenstandslehre

200

A. Notwendigkeit des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 B. Inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I. Unterschiedliche Tragweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 II. Wesentlicher Unterschied: Klägerischer Antrag und „Kernpunkt“ . . . . . . . . . . . 202 1. Die Bedeutung des konkreten Inhaltes des klägerischen Antrags . . . . . . . . . . 202 2. Die Bedeutung der Rechtsschutzform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. Die Bedeutung der Parteirolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 C. Begründungen der Unterschiede beider Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 I. Unterschiedliche Konstellationen des nationalen und internationalen Rechts . . . 204 II. Unterschiedliche Aufgabe und Zielsetzung beider Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 D. Meinungsstand der deutschen Prozessualisten zur Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . 206 I. Bewertung der Kernpunkttheorie durch die deutsche Prozessualistik . . . . . . . . . 206 1. Kritische Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Befürwortende Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 II. Übertragbarkeit der Kernpunkttheorie auf die nationale Prozessrechtsdogmatik

210

1. Zustimmende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Ablehnende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. Vermittelnde Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 E. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I. Würdigung der Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 II. Notwendigkeit einer Übernahme der Kernpunkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 III. Gemeinsamkeiten der deutschen und der europäischen Lehre und der Einfluss der Kernpunkttheorie auf das deutsche nationale Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 IV. Nebeneinander der europäischen und der nationalen Streitgegenstandslehre . . . 216

Inhaltsverzeichnis

23

Fünfter Teil



Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

217

Kapitel 13



Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre und ihres Verhältnisses zu Prozessrechtsgrundsätzen und Prozessrechtsinstituten

217

A. Streitgegenstandsbegriff, Rechtstradition und Prozesskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 I. Die unterschiedlichen Prozesskulturen und die allgemeine Bedeutung des Streitgegenstandsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 II. Methodische Besonderheiten der deutschen Prozessualistik bei der Lösung des Streitgegenstands- und Anspruchskonkurrenzproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 III. Streitgegenstand als „Lieblingskind“ der Begriffsjurisprudenz? . . . . . . . . . . . . . 223 B. Die dogmatischen Bestrebungen zur Schaffung einer allgemeinen Streitgegenstandslehre in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 I. Überblick über die Entwicklung der deutschen Streitgegenstandslehre . . . . . . . . 225 II. Die Balance zwischen theoretischer Kontroverse und herrschender Meinung . . . 228 1. Die Bedeutung der theoretischen Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Die Übereinstimmungen der deutschen Prozessualisten . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Die Begründung einer herrschenden Meinung und ihre Bedeutung . . . . . . . . . 229 4. Die Streitgegenstandslehre und die gerichtliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 III. Die Vor- und Nachteile der Lehre vom Streitgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 C. Ideologische Fragen des Zivilprozessrechts, Verfahrensstruktur und Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 I. Parteifreiheit und Parteiverantwortung als Grundstein des europäischen Zivilprozessrechts und ihr Einfluss auf die Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 II. Zweckmäßigkeit der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Zweckvorgaben des Zivil- und Prozessrechts und ihre Verkörperung in der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Spannungsverhältnis zwischen den Zielen des materiellen Rechts und Prozessrechts und seine Auswirkungen in der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . 235 3. Lösung von Wertekonflikten im Rahmen der Streitgegenstandslehren . . . . . . 237 III. Verfahrensgrundsatz, Verfahrensstruktur, Rolle des Richters im Prozess und die vernünftige Lösung wichtiger Streitfragen der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . 238 1. Der Grundsatz iura novit curia und seine Bedeutung für die Aufgabenverteilung zwischen Parteien und Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 a) Die Begründung des Grundsatzes iura novit curia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 b) iura novit curia und Parteidisposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

24

Inhaltsverzeichnis c) iura novit curia und die Aufgabenaufteilung zwischen Parteien und Richter im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht als Mittel zur Harmonisierung unterschiedlicher Zielorientierung bei der Lösung von Streitgegenstandsproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 a) Entwicklung und Inhalt der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht 241 b) Die Bedeutung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht für die Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3. Die dialogische Struktur des Erkenntnisverfahrens und ihr Vorzug . . . . . . . . . 244 a) Normative Grundlage und Inhalt der Dialogik des Verfahrens . . . . . . . . . . 244 b) Die Bedeutung der dialogischen Struktur des Verfahrens für die Konzeption der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4. Der Gedanke des sozialen Prozesses und sein Einfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 5. Das Zusammenspiel prozessrechtlicher Elemente und seine Bedeutung für die vernünftige Lösung von Streitgegenstandsproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 IV. Charakteristische Grundzüge des deutschen Prozessrechts und die Lösung der Streitgegenstandsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 V. Historische, gesellschaftliche und juristische Grundlagen der deutschen Streit­ gegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

D. Das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht und seine Bedeutung für die Streitgegenstandsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 I. Das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht in der Geschichte und seine Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 II. Die grundlegende Bedeutung der prozessualen Streitgegenstandstheorie für die Lösung des Anspruchskonkurrenzproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 III. Die vielseitige Bedeutung des materiellen Rechts für die Streitgegenstandsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Die Abgrenzung des Lebenssachverhalts durch die materiellrechtliche Norm 255 2. Materielles Recht und Aufstellung einer sachgemäßen Rechtsfolgenbehauptung im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Zusammenhang zwischen materiellem Recht und materieller Rechtskraft . . . 256 4. Das Verhältnis zwischen materiellem Recht und prozessualem Anspruch bei den verschiedenen Rechtsschutzformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5. Einfluss des materiellen Rechts auf die Abgrenzung des Streitgegenstandes und die Beurteilung der Streitgegenstandsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 IV. Das Zusammenwirken des materiellen Rechts und des Prozessrechts bei der Lösung der Streitgegenstandsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

Inhaltsverzeichnis

25

Sechster Teil



Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China und die Vorbildfunktion der Streitgegenstandslehre in Europa

260

Kapitel 14

Historische Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts

260

A. Die Entwicklung des Prozessrechts seit der chinesischen Neuzeit (1840 bis heute) . 260 I. Das traditionelle chinesische Rechtssystem und sein Untergang . . . . . . . . . . . . . 260 II. Die Entwicklung in der späten Qing-Dynastie (1902–1911) . . . . . . . . . . . . . . . . 261 III. Die Entwicklung in der Republik China (1912–1949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 IV. Die Entwicklung in der Volksrepublik China (1949 bis heute) . . . . . . . . . . . . . . 262 B. Überblick über das Zivilprozessrechts- und Justizsystem im gegenwärtigen China . . 264 I. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 II. Rechtsprinzipien, Aufgaben sowie Ziele des Prozessrechts und Verfahrensmaximen 264 III. Gericht und Richter in der zivilprozessrechtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 C. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 I. Einige Bemerkungen zur Entwicklung und zu Besonderheiten des chinesischen Zivilprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 1. Rechtstraditionelle und rechtskulturelle Unterschiede des chinesischen Prozessrechts im Vergleich zu den europäischen Prozessrechten . . . . . . . . . . . . . 268 2. Die Rolle des Richters im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3. Die Hinwendung zum kontinental-europäischen Rechtskonzept . . . . . . . . . . . 270 II. Errungenschaften des heutigen Zivilprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 III. Mängel des heutigen Zivilprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Kapitel 15



Die Lage der Nation und ihr Anspruch auf ein chinesisches Zivilprozessrecht sowie die Prozessrechtsrezeption

272

A. Einleitung: Die Bedeutung der Lage der Nation für das nationale Rechtssystem – eine Vorfrage der Rechtsvergleichung und -rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 B. Die Wandlung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger und ihre Spiegelung im Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 C. Die Begründung der Marktwirtschaft und ihr Einfluss auf das Zivilprozessrecht . . . 274

26

Inhaltsverzeichnis I. Die Rolle der Marktwirtschaft für den Aufbau eines modernen Zivilprozessrechtssystems in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 II. Die Grenze der Marktidee und -ideologie im Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . 275

D. Harmoniestreben in Geschichte und Gegenwart und sein Einfluss auf das chinesische Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 E. Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Sozialer Wandel und Änderung der Rezeptionsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 II. Gegenwärtige Geistesströmungen in China und ihre Ansprüche an das Zivil­ prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Kapitel 16

Möglichkeit und Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre

280

A. Möglichkeit und Notwendigkeit als Vorfragen der Rechtsrezeption . . . . . . . . . . . . . . 280 B. Möglichkeit der Rezeption einer Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 C. Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 I. Das Anspruchskonkurrenzproblem und seine Lösung nach geltendem Recht . . . 283 1. Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 2. Die Anspruchskonkurrenz in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3. Die Lösung des Anspruchskonkurrenzproblems in der Rechtsprechung . . . . . 284 II. Die Streitgegenstandsproblematik und ihre Lösung nach geltendem Recht . . . . . 285 1. Gesetzliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Ansichten zum Streitgegenstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Lösung der Streitgegenstandsproblematik in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . 287 III. Unzulänglichkeit der chinesischen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 1. Schwäche bei der Lösung des Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Ursache der Schwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 D. Zusammenfassende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Kapitel 17

Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre für das chinesische Prozessrecht

291

A. Vorschläge zur Definition und Abgrenzung des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . 291 I. Zum Wesen des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Vorzugswürdigkeit der prozessualen Streitgegenstandsauffassung . . . . . . . . . 291

Inhaltsverzeichnis

27

2. Definition des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 II. Zur Abgrenzung des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 1. Vorzugswürdigkeit der zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie . . . . . . . . . . . 293 2. Vorzugswürdigkeit einer einheitlichen Streitgegenstandstheorie . . . . . . . . . . . 293 B. Voraussetzungen und Durchsetzung der vorgeschlagenen Theorierezeption . . . . . . . 294 I. Rezeption der Streitgegenstandslehre als reine Wissenschaftsrezeption? . . . . . . 294 II. Gedankliche Grundlagen einer Übertragung der modernen zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Aufgabe des Zivilprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Parteidisposition über den Streitgegenstand und Bindung des Gerichts an den Parteiantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 3. Richterliche Pflicht und richterliche Befugnis zur umfassenden Würdigung des Rechtsstreites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4. Richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 III. Vorschläge zur Verbesserung des chinesischen Prozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . 298 1. Zur Konkurrenz der Zuständigkeiten mehrerer Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 2. Zur objektiven Klagenhäufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Zur Klageänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4. Zur Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 5. Zur materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 C. Besondere Streitgegenstandslehre für den grenzüberschreitenden Rechtsstreit . . . . . 301 D. Zusammenfassende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Literaturverzeichnis der chinesischen Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

Abkürzungsverzeichnis ABGB Österreich Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Abs. Absatz Abt. Abteilung AcP Archiv für die civilistische Praxis AGO Allgemeine Gerichtsordnung ALR Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten AML American Law Institute Art. Artikel Aufl. Auflage Bd. Band Bearb. Bearbeiter Begr. Begründer BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBAT Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts BGH Bundesgerichtshof BGHZ Entscheidungssammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen bzw. beziehungsweise CPO Civilprozessordnung ders. derselbe d. h. das heißt dies. dieselbe Einl. Einleitung EuGH Europäischer Gerichtshof EuGVÜ Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen EuGVVO Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung EWS Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht f. folgende(r), Singular FamRZ Zeitschrift für das gesamte Familienrecht ff. folgende, Plural FG Festgabe Fn. Fußnote(n) FS Festschrift ggf. gegebenenfalls GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GOG Gerichtsorganisationsgesetz GRUR Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht GS Gedächtnisschrift h. L. herrschende Lehre h. M. herrschende Meinung Hrsg. Herausgeber

Abkürzungsverzeichnis insb. insbesondere IPRax Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts JbAkDR Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht JBl. Juristische Blätter (Österreich) JR Juristische Rundschau JRA Jüngster Rechtsabschied Jura Juristische Ausbildung JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung m. E. meines Erachtens m. w. N. mit weiteren Nachweisen n. F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift Nr. Nummer NVK Nationaler Volkskongress China OVG Oberstes Volksgericht China RabelsZ Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RG Richtergesetz RGZ Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen RIW Recht der Internationalen Wirtschaft Rn. Randnummer S. Seite(n) sog. sogenannte(r) u. a. unter anderem, und andere(s) Unidroit International Institute for the Unification of Private Law usw. und so weiter u. U. unter Umständen vgl. vergleiche Vol. Volume VRC Volksrepublik China WRP Wettbewerb in Recht und Praxis WTO World Trade Organisation z. B. zum Beispiel ZchinR Zeitschrift für Chinesisches Recht ZPG Zivilprozessgesetz der Volksrepublik China ZPO Zivilprozessordnung ZPR Zivilprozessrecht ZVglRWiss Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft ZZP Zeitschrift für Zivilprozeß ZZP Int. Zeitschrift für Zivilprozeß International

29

Kapitel 1

Einführung A. Problemstellung „In jedem Prozeß muß feststehen, worüber verhandelt und entschieden wird.“1 Der Streitgegenstand als ein abstrakter, grundlegender Begriff ist eines der wichtigsten Ergebnisse in der Entwicklung des deutschen Zivilprozessrechts. Auch wenn es viele unterschiedliche Theorien zur Streitgegenstandslehre gibt, ist diese ohne Zweifel ein Eckpfeiler des Zivilprozessrechts des germanischen Rechtskreises. Insbesondere die heftige Debatte über Inhalt und Anwendung der Streitgegenstandslehre in der Gegenwart hat zur theoretischen und institutionellen Entwicklung des Zivilprozessrechts viel beigetragen. Zusammen mit den anderen relevanten Lehren, wie der Parteilehre und der Rechtskraftlehre, wurde das Zivilprozessrecht zu einem selbständigen und ausgereiften System entwickelt. Solche Theorien steuern „zur richtigen Erfassung des Wesens jeder einzelnen Prozessrechtsfigur“ bei, stellen sie in den Dienst der Verwirklichung der Ziele des Zivilprozessrechts und verkörpern das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht.2 Der Begriff und die Lehre zum Streitgegenstand sind wohl ein charakteristisches Merkmal des germanischen Rechtskreises im Bereich des Zivilprozessrechts. Ihre Relevanz in der prozessrechtlichen Dogmatik und der Rechtspraxis der betroffenen Staaten ist nicht zu bezweifeln.3 Erst ab 1840 hat China allmählich mit seiner schwierigen Modernisierung begonnen. Das hoch entwickelte und weit verbreitete „traditionelle chinesische Rechts­ system“ war nur schwer fortzuführen,4 und die grundlegende Reform der Gesellschaft und des Staates verlangte eine entsprechende Veränderung des Rechtssystems. Dabei galt das Recht der westlichen Länder als Vorbild für das neue chinesische Recht. Insbesondere spielte das deutsche Recht in diesem Pro-

1 Lüke,

ZPR, S. 156. in: Dogmatische Grundfragen, S. 7 ff. 3 Für Österreich siehe Böhm, FS Kralik, S. 83 ff.; für die Schweiz siehe von Arx, Streit­ gegenstand, 2007; für Griechenland siehe Beys, ZZP 105, S. 145 ff.; für Japan siehe Nakamura, M., in: Grundprobleme des Zivilprozeßrechts, S. 107 ff. 4 Zum traditionellen chinesischen Rechtssystem vgl. Zhang, Jinfan (Hrsg.), Die Rückschau und Vorschau auf das Traditionelle Chinesische Rechtssystem; Guo, Chengwei, Der Geist des Traditionellen Chinesischen Rechtssystems; Hao, Tiechuan, Untersuchung zum Traditionellen Chinesischen Rechtssystem. 2 Koussoulis,

32

Kap. 1: Einführung

zess eine wichtige Rolle.5 Der Einfluss des deutschen Rechts auf China liegt nicht nur in dem Aufbau verschiedener Rechtsinstitute und der Gesetzgebung, sondern auch im juristischen Denken und der Rechtskultur. Daher ist der Aussage zuzustimmen, dass das kontinentale China seit Beginn seiner Modernisierung zum kontinental-europäischen Rechtskreis gehört.6 Besonders nach der schrittweisen Einführung des marktwirtschaftlichen Systems am Ende des 20. Jahrhunderts sind die Forschungen zu dem westlichen Recht und seiner Übertragung auf China – mit Hilfe der rechtsvergleichenden Methode – in größerem Umfang verstärkt worden. Trotz vieler Erfolge gibt es bei dieser Übertragung jedoch auch Probleme, so vor allem im Hinblick auf die schrittweise Vorgehensweise und die fehlende Rücksichtnahme auf systematische und dogmatische Zusammenhänge. Wenn die chinesischen Juristen Fortschritte im Bereich des Zivilprozessrechts machen wollen, ist es unerlässlich, Forschungen über die grundlegenden wissenschaftlichen Theorien zu unternehmen. Nur wenn die einzelnen Theorien ihren richtigen Platz finden, ist das Rechtssystem kein auf pragmatischen Gedanken basierendes Flickwerk, sondern ein dienliches Werkzeug für die Realisierung der Ziele des Rechts.7 Daher sind die Streitgegenstandslehren in Deutschland und Europa von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts.8 Ihre Vorbildwirkung ist offensichtlich: Eine Untersuchung der Entstehung, des Inhalts und der Wirkung dieser Lehren erleichtert die Arbeit der chinesischen Juristen, angesichts der besonderen Gegebenheiten und Bedürfnisse der chinesischen Rechts­ entwicklung eine eigene Streitgegenstandslehre als Rückgrat des Zivilprozessrechts aufzubauen. Die Darstellung der Streitgegenstandslehren anderer Länder 5 Zum Einfluss des deutschen Rechts auf das kontinentale China vgl. Sun, Xianzhong, ­­ RabelsZ 71, S. 644 ff.; Schulze, in: Rechtstransfer durch Zivilgesetzbücher, S. 45 ff.; Shao, Jiandong, JZ 1999, S. 80 ff.; Liang, Huixing, in: Newsletter der Deutsch-Chinesischen Juristenvereinigung 2003, S. 68 ff.; Manthe, Jahrbuch für Ostrecht 1987, S. 11 ff.; Nörr, FS Zentaro Kitagawa, S. 231 ff. Zum Einfluss des deutschen Rechts auf die anderen ostasiatischen Länder vgl. Lee, ZVglRWiss 86, S. 158 ff.; Wendehorst, in: Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, S. 20 ff.; Igeta, in: Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte, S. 28 ff.; Marutschke, Einführung in das japanische Recht, S. 27 ff.; Rehbinder (Hrsg.), Zur Rezeption des deutschen Rechts in Korea. 6 Einige chinesische Gelehrte befürworten die Einordnung des heutigen chinesischen Rechts in das sog. „Mixed Legal System“. Der Unterschied zwischen den beiden Ansichten ist recht gering. Grundsätzlich hatte China das Recht des kontinental-europäischen Rechts­kreises rezipiert, zugleich aber hatte auch der anglo-amerikanische Rechtskreis einen gewissen Einfluss auf das chinesische Recht. Vgl. Wu, Shuchen, Peking University Law Journal, Nr. 2, 1995, S.  1 ff.; Xu, Aiguo, Social Science Journal, Nr. 1, 2010, S. 47 ff.; Zhu, Qingyu, Peking University Law Review, Nr. 2, 2001, S. 553 ff. Zu erwähnen ist, dass die Hong Kong Special Administrative Region (SAR) als ehemalige Kolonie von Großbritannien – im Vergleich zum kon­ tinentalen China, zu Taiwan und Makau – dem anglo-amerikanischen Rechtskreis angehört. 7 Vgl. von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I, S. V. 8 Im letzten Jahrhundert hatten die Rechtsordnungen der westlichen Länder die Rechts­ systeme der Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika stark beeinflusst. Die Tendenz der Rechtsmodernisierung solcher Entwicklungsländer nach dem Vorbild der Rechtsordnungen der entwickelten Länder ist ein rechtskulturelles Phänomen der Gegenwart auf der ganzen Welt.

Kap. 1: Einführung

33

und die Entwicklung einer nationalen Lehre können dazu beitragen, dass das Zivilprozessrecht nicht als „technisches Recht“,9 sondern als Wissenschaft mit eigenem Geist betrachtet wird.10

B. Forschungsmethoden I. Die Methode der historischen Betrachtungsweise Wer die Geschichte nicht gut kennt, kann auch die Gegenwart nicht gut verstehen. Die Rechtsordnung der Vergangenheit hat das heutige Recht in kultureller, gedanklicher und institutioneller Hinsicht tiefgreifend beeinflusst. Das moderne Rechtsdenken und Rechtssystem sind nicht nur das Ergebnis der Bestrebungen der gegenwärtigen Juristen, sondern auch die Frucht der wissenschaftlichen und praktischen Entwicklung des Rechts der Vergangenheit.11 Das Streitgegenstands­ problem ist ein gutes Beispiel für die These, dass die heute zu lösenden Rechts­ probleme schon in der Geschichte auftauchten und dass die heutigen Lösungen dieser Probleme von den Lösungen in der Geschichte beeinflusst werden. Sie sind daher nicht etwas völlig Neues.12 Diese Einsichten sind von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit, die es unternimmt, die im Rahmen der westlichen Rechtskultur entstandene Streitgegenstandslehre den chinesischen Juristen vorzustellen. Die größte Schwierigkeit beruht hierbei darauf, dass die kontinental-europäischen und ostasiatischen Länder keine gemeinsame Rechtstradition und Rechtkultur besitzen. Ohne eine zureichende Berücksichtigung solcher Unterschiede kann eine Vorstellung der Streitgegenstandslehre nur oberflächlich und daher kaum sinnvoll sein. Und es ist durchaus vorstellbar, dass der Versuch einer solchen Rechtsrezeption angesichts markanter Unterschiede scheitern wird. Eine bloße Untersuchung des positiven 9 Siehe die berühmte Behauptung von Stein: „Ganz dagegen an rechtsphilosophischen Betrachtungen: der Prozeß ist für mich das ‚technische Recht‘ in seiner allerschärfsten Ausprägung, von wechselnden Zweckmäßigkeiten beherrscht, der Ewigkeitswerte bar.“ Vgl. Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, S. XIV. 10 Schwab schrieb in seiner Habilitationsschrift im Jahr 1954: „Zu den wichtigsten Aufgaben, die der Zivilprozeßrechtswissenschaft heute gestellt sind, gehört die Erforschung des Streitgegenstands“; Schwab, Streitgegenstand, S. 1 ff. Vgl. Stürner, FS Lüke, S. 831. Am Anfang des 21. Jahrhunderts werden die chinesischen Prozessualisten mit der gleichen Mission betraut, der die deutsche Prozessualistik sich vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zu der späten Nachkriegszeit gewidmet hatte, nämlich eine systematische und theoretisch saubere Prozessrechtswissenschaft zu schaffen. 11 Es ist notwendig, „die Wirklichkeit und Interpretation der jeweiligen Rechtsgegenwart nicht nur in sich selbst, etwa rechtsdogmatisch und rechtssoziologisch, fortlaufend zu durchdenken, sondern sie auch beständig auf dem Hintergrunde der ja dauernd die Gegenwart hervorbringenden Vergangenheit zu überprüfen“; Kaufmann, JZ 1964, S. 489. 12 Stürner, FS Heldrich, S. 1061 ff.; ders., in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 32 f.; ders., FS Schumann, S. 491 ff.

34

Kap. 1: Einführung

Rechts und der heutigen Theorie sind daher für eine erfolgreiche Rezeption nicht ausreichend. Daher ist die Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung des Streitgegenstandsproblems in den folgenden Hinsichten von Relevanz: Erstens erklärt sie den Ursprung der heutigen Rechtsinstitute und Rechtsgedanken und hilft uns, die heutige Lehre und Rechtsentwicklung des Streitgegenstandsproblems besser zu verstehen; zweitens bietet sie die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen unterschiedlichen Rechtskulturen, womit sie eine notwendige Bedingung für die Übertragung von Rechtsinstituten ist. Entsprechend sind Darstellung und Würdigung des Streitgegenstandsproblems und seiner Lösung in der Geschichte des deutschen und europäischen Rechts eines der Anliegen der vorliegenden Arbeit.13 II. Die rechtsvergleichende Methode Zur Lösung der Problematik des Streitgegenstandes haben die ­verschiedenen Prozessrechtsordnungen unterschiedliche Stile entwickelt. Im germanischen Rechtskreis haben sich der Begriff und die Theorien zum Streitgegenstand herausgebildet.14 Die­ser Begriff und die ihm entsprechende Lehre sind hingegen in den Prozessrechtsordnungen des anglo-amerikanischen Rechtskreises kaum denkbar.15 Und im romanischen Rechtskreis gibt es zwar einen mit dem „Streitgegenstand“ vergleichbaren Begriff, jedoch ist eine systematische und theoretisch saubere Darstellung schwer zu finden.16 Die vorliegende Untersuchung gilt hauptsächlich den verschiedenen Theorien und Prozessrechtsinstituten in Deutschland, die den Streitgegenstandsbegriff geprägt haben und die Arbeit am Streitgegenstand bereits

13 Erst

durch den Vergleich der gedanklichen und traditionellen Elemente können die Juristen eines Landes beurteilen, ob eine Rezeption des fremden Rechts sinnvoll und möglich ist. Dieser Vergleich dient auch dazu, ein geeignetes Konzept der Rezeption zu entwickeln. Fehlt eine solche vorbereitende Arbeit, wird die rezipierte Vorschrift häufig – wie das chinesische Sprichwort besagt – „ein Baum ohne Wurzel“ und „ein Fluß ohne Quelle“. 14 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92; Rechberger/Simotta, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 383 ff.; von Arx, Streitgegenstand. 15 Die Begriffe wie „subject matter of the controversy“ oder „object of the controversy“ findet man weder in den Vorschriften noch in der Literatur der Länder des anglo-amerikanischen Rechtskreises. Anzumerken ist aber, dass, wenn es keine Lehre vom Streitgegenstand in einer Rechtsordnung gibt, dies nicht bedeutet, dass in ihr auch kein Streitgegenstandsproblem und keine dementsprechende Lösung bestehen. Vgl. die Rolle der Institute von „lis pendens“ und „res judicata“ im anglo-amerikanischen Recht. Siehe Stürner, RabelZ 2005, S. 249(m.w. Literaturhinweisen); ders., ZZP Int 2006, S. 399. 16 Beispielsweise das „object du litige“ in Art. 4. des „Nouveau Code de Procédure Civile“ Frankreichs. Zu dem diesbezüglichen Problem in Frankreich vgl. Bunge, Zivilprozess und Zwangsvollstreckung in Frankreich und Italien, S. 52 f., 59 f., 72 ff.; Herzog/Weser, Civil Procedure in France, S. 551–555; Stürner, FS Schütze, S. 926 ff.; Wernecke, Begriff vom Streit­ gegenstand, S. 116 ff.; Kössinger, Rechtskraftprobleme im deutsch-französischen Rechtsverkehr, S. 64; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, S. 125 ff.; Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 131 ff.

Kap. 1: Einführung

35

zu einer Wissenschaftstradition haben werden lassen.17 Da aber die Vorzüge und Nachteile der deutschen Lösung deutlicher herausgearbeitet werden können, wenn man sie mit anderen Lösungen vergleicht,18 wird zugleich die Auf­fassung des EuGH zum Streitgegenstandsproblem (die sich in der Kernpunkt­theorie äußert) dargestellt und analysiert. Diese Auffassung gilt – nach Ansicht vieler deutscher Prozessualisten – als eine Herausforderung an die deutsche Streitgegenstandslehre.19 Das Ziel besteht darin, Vorschläge zum Aufbau einer für China geeigneten Streitgegenstandslehre zu erarbeiten. Um eine angemessene Lösung für das chinesische Recht zu finden, ist eine Untersuchung zu der Lage der Nation, der gesamten Rechtsordnung und dem Prozessrechtssystem in China von Relevanz. Wie bereits erwähnt, setzt eine erfolgreiche Rezeption voraus, dass die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Rechtsordnungen zwischen dem rechtsaus­führenden und dem rechtseinführenden Staat erkannt, deutlich gemacht und berücksichtigt werden. Angesichts der Besonderheit des Streitgegenstandsproblems wird der Vergleich in dieser Arbeit in drei Schichten erfolgen: Es findet der rechtskulturelle sowie rechtstheoretische Vergleich, die „Makrovergleichung“ von System und Rahmen des Prozessrechts, und schließlich die „Mikrovergleichung“ der einzelnen Rechtsinstitute statt.20 III. Die Methode der systematischen Betrachtungsweise Ein grundlegendes Charakteristikum der deutschen Rechtswissenschaft ist der sog. systematische Konstruktivismus.21 Dieses Charakteristikum äußert sich in der Systematisierung der Rechtsstoffe, der Schaffung der abstrakten Rechtsbegriffe und Theorien sowie der systematisch-deduktiven Jurisprudenz.22 Die Bemühung 17 In den folgenden Teilen zur historischen Entwicklung wird untersucht, warum im germanischen Rechtskreis – insbesondere in Deutschland –, aber nicht in anderen Rechtskreisen eine Streitgegenstandslehre entstanden ist. 18 Der Vergleich zwischen den unterschiedlichen Lösungen dieser Problematik wird insbesondere im Hinblick auf das sog. „Funktionalitätsprinzip“ der Lehre der Rechtsvergleichung durchgeführt. Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33; Gottwald, FS Schlosser, S. 231. 19 Rüßmann, ZZP 111, S. 399 ff.; Walker, ZZP 111, S. 429 ff.; Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 86 ff.; Stürner, FS Lüke, S. 836. 20 Zu den Methoden der „Makrovergleichung“ und der „Mikrovergleichung“ des Zivilprozessrechts vgl. Gottwald, FS Schlosser, S. 235 ff. 21 Vgl. vor allem Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 137 ff., 141 ff.; Canaris, Sys­temdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. Zum Gebiet des Prozessrechts vgl. Stürner, FS Lüke, S. 830 ff. 22 Im Gegensatz zu der kasuistisch-empirischen Denkweise der römischen und mittelalterlichen Juristen und des anglo-amerikanischen Rechtskreises, die auf die praktische Lösung der Einzelfälle ausgerichtet ist, strebt die deutsche Rechtswissenschaft danach, die Rechts­ probleme gründlich zu untersuchen und systematisch zu lösen. Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 5 ff.; Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 7 ff.

36

Kap. 1: Einführung

um eine systematische Rechtsordnung schafft die Bedingungen für die Bildung abstrakter Theorien, während abstrakte Theorien wiederum die weitere Systema­ tisierung des Rechts befördern. Nach der deutschen Vorstellung ist das Zivilprozessrecht nicht eine bloße Sammlung einzelner Vorschriften, sondern ein System, das eine bestimmte Konstruktion und Struktur aufweist. Es besteht ein innerer Zusammenhang der prozessrechtlichen Institute, so dass die Änderung eines Instituts die anderen Institute nicht unberührt lässt. Die systematische Regulierungstechnik und die abstrakte Denkweise der deutschen Prozessualistik zeigt sich insbesondere in der Lösung, die die Problematik des Streitgegenstandes findet: Der Wert und die Bedeutung der Streitgegenstandstheorien sind klar zu erkennen, wenn die Zusammenhänge und die gegenseitigen Wirkungen zwischen einigen relevanten Rechtsinstituten entdeckt werden. Begriff und Theorie des Streitgegenstandes lassen sich erst dann richtig verstehen, wenn solche Zusammenhänge und Wirkungen klargemacht werden.23 Aufgrund dieser Überlegungen wird in der vorliegenden Arbeit folgenden Punkten besondere Aufmerksamkeit geschenkt: der Streitgegenstandslehre und ihrer Anwendung in den unterschiedlichen Rechtsschutzformen; der Streitgegenstandslehre und ihrer Anwendung in den verschiedenen Rechtsinstituten; dem Streitgegenstandsproblem und seiner Bedeutung für das ganze Prozessrechtssystem. IV. Die rechtsphilosophische und rechtspolitische Betrachtungsweise Die Probleme im Hinblick auf den Gegenstand eines Verfahrens sind konkrete Probleme in der prozessrechtlichen Praxis. Demgegenüber ist die Streitgegenstandslehre ein theoretisches Gebilde, das die konstruktive Systematik der ganzen Prozessordnung, das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht sowie die Denkweise der Prozessualistik und der Prozesskultur insgesamt einbeziehen muss.24 Unterscheiden sich die Rechtsphilosophie und das juristische Denken der verschiedenen Länder voneinander, so werden sich auch die Ansichten und Lösungen zum Streitgegenstandsproblem unterscheiden. Die Entwicklung der Streitgegenstandslehre in Deutschland wurde von verschiedenen Strömungen beeinflusst, so der Pandektistik, der Begriffsjurisprudenz, dem Gedanken

23 Grundlegender

Charakter und eine Gemeinsamkeit der wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Streitgegenstand ist die systematische Darstellung der entsprechenden prozessrecht­ lichen Institute. Vgl. Lent, ZZP 65, S. 315 ff.; ders., ZZP 72, S. 63 ff.; Schwab, Streitgegenstand; Habscheid, Streitgegenstand; Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 8. Anzumerken ist, dass die systematische Darstellung der Streitgegenstandsproblematik nicht ohne Weiteres zu einer einheitlichen Streitgegenstandslehre führt. 24 Es geht bei der vorliegenden Arbeit daher vor allem um die Prozessrechtsdogmatik, nicht um die konkreten Vorschriften oder einzelnen Institute. Vgl. die Behauptung von Georgiades zur Problematik der Anspruchskonkurrenz: Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 4 f.

Kap. 1: Einführung

37

vom Rechtsfrieden, dem Gedanke der Prozessökonomie, dem teleologischen Gedanken, dem Rechtspragmatismus usw. Eine tiefgreifende Darstellung und Analyse der Streitgegenstandslehre verlangt daher eine Antwort auf die Frage, wie die Streitgegenstandslehre von solchen juristischen Begriffen, Theorien und Denk­ weisen – in Geschichte und Gegenwart – beeinflusst und geprägt wurde und wird.25 Zu beachten gilt, dass das Streitgegenstandsproblem in gewissem Sinne ein rechtspolitisches Problem ist. Es gibt nur „geeignete“, aber keine „richtigen“ Vorstellungen und Lösungen zum Streitgegenstandsproblem. Die Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten ist eher ein Prozess der Abwägung zwischen verschiedenen Werten und Elementen, nicht die Suche nach dem notwendigen, logisch „richtigen“ Ergebnis. Um eine angemessene Entscheidung zu treffen, muss die Aufmerksamkeit auf zwei Fragen gerichtet werden. Die erste fragt danach, welche Lösungen annehmbar sind, und die zweite, welche unter ihnen die am besten geeignete Lösung ist, die es daher anzustreben lohnt. Die zweite Frage bezieht sich auf das Ziel des Prozessrechts und seine Funktion in der Gesellschaft und ist daher eine Wertungsfrage.26 Zusammenfassend kann behauptet werden, dass die Darstellung und die Analyse des Streitgegenstandsproblems sich nicht auf die geltende Zivilprozessrechtsordnung beschränken dürfen, sondern auch die Form einer rechtshistorischen und rechtskulturellen Untersuchung annehmen müssen. Die zügige Rezeption der Idee vom Streitgegenstand und die Entwicklung einer nationalen eigenen Streitgegenstandslehre setzt voraus, dass diese Problematik aus rechtsgeschichtlicher, rechtsvergleichender, systematischer und rechtstheoretischer Sicht eingehend untersucht wird.

C. Gang der Untersuchung I. Die geschichtliche Grundlage der Streitgegenstandslehre: Das Streitgegenstandsproblem im römischen und gemeinen Recht Der Begriff „Streitgegenstand“ wurde erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen; die Lehre trat später hinzu. Das Streitgegenstandsproblem ist aber an sich jeder Prozessrechtsordnung immanent und tauchte schon in den Prozessrechten der älteren Geschichte auf: Im römischen Recht und im Recht des Mittel 25 Beispielsweise haben die drei Phasen der Entwicklung des Prozessrechts nach ­Koussoulis – die Bemühung um die Verselbständigung, die Überbetonung des eigenständigen Wertes und die Wiederentdeckung der Zusammenhänge zwischen Prozess- und Zivilrecht – sich in der Entwicklung der Streitgegenstandslehre deutlich widergespiegelt. Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 8 ff. 26 Das Streitgegenstandsproblem ist eine systematische Problematik im Prozessrecht. Zudem bezieht es sich auf die Rechtstradition, die Lage der Nation, die gesellschaftliche Strömungen und die politische Entscheidung, was zu seiner Kompliziertheit und Schwierigkeit beitragt.

38

Kap. 1: Einführung

alters musste festgestellt werden, was im Prozess behandelt wurde und ob zwei Prozesse sich auf den gleichen Rechtsstreit bezogen. Obwohl es keine ausdifferenzierte Theorie zu dieser Problematik gab, hatten die römischen und gemeinrecht­ lichen Juristen praktische Lösungen und Rechtsinstitute entwickelt, die die heutige Streitgegenstandslehre deutlich geprägt haben. Für eine Darstellung der historischen Grundlage werden zunächst die Struktur und Besonderheit des römischen Prozessrechts vorgestellt. Insbesondere wird der Einfluss des damaligen aktionenrechtlichen Denkens und Aktionenrechtssystems auf das Streitgegenstandsproblem analysiert. Danach werden die Erscheinungsform, die gedankliche und die institutionelle Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im gemeinen Recht dargelegt. Die wesentliche Entwicklung in dieser Periode liegt – so wird sich zeigen – in der Auflösung des Aktionenrechtssystems und der Begründung des Grundsatzes iura novit curia. Schließlich wird die Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im römischen und gemeinen Recht bewertet. II. Die institutionelle Grundlage der Streitgegenstandslehre: Der Zusammenhang zwischen Streitgegenstands- und Anspruchskonkurrenzproblem Das Ziel der Zivilprozessordnung liegt darin, den Bürgern die Wahrnehmung ihrer Rechte zu gewährleisten und bei deren Realisierung zu helfen. Auf die Verwirklichung dieses Zieles wirken sowohl das Prozessrecht als auch das Zivilrecht ein. Daher ist die Kohärenz von materiellem Recht und Prozessrecht von großer Bedeutung. In der Geschichte und auch in der Gegenwart gibt es das Rechts­ phänomen, dass ein klägerischer Anspruch sich gleichzeitig auf mehrere materiellrechtliche Normen gründen kann; dies wird als Anspruchskonkurrenz (in engerem Sinne) bezeichnet. Dieses Phänomen, bei dem die Anzahl der klägerischen Ansprüche und der Anspruchsgrundlagen ungleich sind und das häufig auftritt, macht das Streitgegenstandsproblem zu einer schwierigen Problematik im Prozessrecht.27 Zweifellos ist daher eine umfassende Untersuchung des Anspruchskonkurrenzproblems die notwendige Grundlage für die Analyse und Behandlung des Streitgegenstandsproblems. In diesem Teil werden zuerst der Inhalt und Charakter des Phänomens der Anspruchskonkurrenz dargelegt. Danach konzentrieren sich die Ausführungen auf die Klärung des Zusammenhangs zwischen Anspruchskonkurrenzproblem und Streitgegenstandsproblem.

27 Das Streitgegenstandsproblem ist nicht bloß eine Problematik innerhalb des Prozessrechts; es ist mit dem Aufbau und Inhalt des materiellen Rechts, dem Verhältnis zwischen mate­ riellem Recht und Prozessrecht und dem Ziel der gesamten Rechtsordnung verknüpft.

Kap. 1: Einführung

39

III. Die Entwicklung und Anwendung der Streitgegenstandslehre in Deutschland Die dauernden und intensiven Auseinandersetzungen über die Streitgegenstandslehre veranschaulichen die Schwierigkeit dieser Problematik. Sie geht auf die Versuche der deutschen Prozessualisten zurück, durch abstrakte Begriffe das ganze Zivilprozessrechtssystem zu erfassen.28 Die Lehre vom Streitgegenstand entwickelte sich unter nachhaltigen Impulsen der Prozessualisten zur „glänzenden Perle auf der Krone der Zivilprozessrechtswissenschaft“. Wenn man die Varianten fein genug einordnet, erkennt man zahlreiche Theorien vom Streitgegenstand: Einige behaupten die Einheitlichkeit des Streitgegenstandsbegriffs,29 während andere die flexible Bestimmung des Streitgegenstands je nach den unterschiedlichen Rechtsinstituten und Klagearten befürworten:30 Er sei eingliedrig31 oder zweigliedrig32 festzustellen; ihm liege ein prozessualer33 oder ein materiellrechtlicher34 Anspruch zugrunde.35 In diesem Teil wer­den vor allem die relevanten Theorien der Neuzeit und Gegenwart eingehend dargestellt und analysiert. Danach werden die Auswirkungen unterschiedlicher Lehrmeinungen für einzelne Rechtsinstitute, wie der Klagenhäufung, der Klageänderung, der Rechtshängigkeit sowie der materiellen Rechtskraft,36 und die drei Rechtsschutzformen dargelegt und verglichen, um ihre Vorteile und Nachteile zu verdeutlichen. Schließlich gilt es, die jüngste Entwicklung der Streitgegenstandslehre detailliert darzustellen.

28 Koussoulis,

in: Dogmatische Grundfragen, S. 13. So z. B. Schwab, Streitgegenstand; Habscheid, FS Schwab, S. 189 ff. 30 Beispielsweise Baumgärtel, JuS 1974, S. 69 ff.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn.  46 ff. 31 Vor allem die Auffassung Schwabs: Schwab, Streitgegenstand, S. 199 f.; ders., FS Lüke, S.  793 ff. 32 So die herrschende Lehre, vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92; Lüke, FS Schwab, 1990, S. 309 ff. Vgl. auch die sog. dreigliedrige Streitgegenstandstheorie Habscheids in: Streitgegenstand, S. 221 f. 33 So die herrschende Lehre, vgl. z. B. MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 32; Stein/Jo­nas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 11; Schilken, ZPR, Rn. 229. 34 Georgiades, Anspruchskonkurrenz; Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch; Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand; ders., Prozessrecht und materielles Recht, S. 125 ff. 35 Die Streitfragen erschöpfen sich nicht in der obigen Aufzählung, so dass Rüßmann dazu sagte, es gebe womöglich so viele Theorien, „wie es deutsche Zivilprozessrechtslehrer gibt“. Vgl. Rüßmann, ZZP 111, S. 400. Für weitere Streitfragen vgl. insbesondere Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisi­tions­maxime und Streitgegenstand; Yoshimura, ZZP 83, S. 245 ff.; Habscheid, FamRZ 1971, S. 297 ff. 36 Die Lehren und begrifflichen Festlegungen des Streitgegenstandes haben für fünf Gebiete des deutschen Zivilprozessrechts besondere Bedeutung: Die Bestimmung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit in bestimmten Fällen (z. B. § 32 ZPO), die (objektive) Klagen­ häufung (§ 260 ZPO), die Rechtshängigkeitssperre (§ 261 Abs. 3. Nr. 1 ZPO), die Klage­ änderung (§§ 263, 264 ZPO) sowie die materielle Rechtskraft (§ 322 ZPO). Vgl. Baumgärtel, JuS 1974, S. 69 f.; Rüßmann, ZZP 111, S. 399. 29

40

Kap. 1: Einführung

IV. Die Kernpunkttheorie des EuGH und der Vergleich zwischen ihr und der deutschen Streitgegenstandslehre In der Gegenwart stehen die traditionellen Theorien der deutschen Prozessrechtswissenschaft den starken Herausforderungen der Rechtvereinheitlichung in Europa gegenüber.37 Dies gilt auch für die Lehre vom Streitgegenstand. Eine neue, von der deutschen Lehre unabhängige Auffassung zur Bestimmung des Streitgegenstandes hat der EuGH durch eine Reihe von Entscheidungen entwickelt.38 In diesem Teil werden zuerst die Entscheidungen des EuGH zum Streitgegenstandsproblem kurz dargestellt. Ausgehend von dem bereits oben erwähnten Überblick werden der Inhalt und das Merkmal der Kernpunkttheorie analysiert. Die Diskussion, ob und wie die deutsche Streitgegenstandslehre von der Vorstellung des EuGH beeinflusst wird, gibt es seit Langem. Ein Vergleich der beiden Theorien ermöglicht es den deutschen Prozessua­lis­ten, über die eigene Theorie nachzudenken und nach neuen Ideen zu suchen.39 Nach einer Betrachtung der Auseinandersetzungen zu den Vor- und Nachteilen der deutschen Lehre und der Übertragbarkeit der Kernpunkttheorie auf das deutsche nationale Recht gilt es dann, eine eigene Stellungnahme zu entwickeln. V. Umfassende Bewertung und Kritik der Streitgegenstandslehre Vor dem Hintergrund der so erfolgten Darstellung des Streitgegenstands­ problems in rechtshistorischer, institutioneller und dogmatischer Hinsicht unternimmt dieser Teil die umfassende Würdigung der theoretischen Entwicklung zur Lösung des Streitgegenstandsproblems. Zuerst werden die Transnationalität des Streitgegenstandsproblems und die Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Lösungen dargestellt. Nach diesem rechtskulturellen Vergleich ist dann 37 Die Gesetzgebung und Rechtsprechung des EuGH orientieren sich selbstverständlich nicht am Modell des Rechts eines Mitgliedstaates. Vielmehr werden sie das deutsche Prozessrecht „nach und nach beeinflussen und teilweise grundlegend verändern“. Vgl. Stürner, FS Lüke, S. 835. 38 Vgl. die folgenden Entscheidungen des EuGH: Urt. v. 8.12.1987, Rs.144/86, Slg.1987, 4871 (Gubisch/Palumbo); Urt. v. 6.12.1994, Rs.C-406/92, Slg.1994 I-5460 (Tatry/Maciej R ­ ataj); Urt. v. 19.5.1998, Rs.C-351/96, Slg.1998 I-3091 (Drouot assurances/CMI industrial sites); Urt. v. 9.12.2003, Rs.C-116/02, Slg. 2003 I-Rz. 41 (Erich Gasser GmbH/MISAT Srl.); Urt. v. 14.10.2004, Rs.C-39/02, Rev. crit. 2005, 118 Rz. 31 (Mœrsk Olie & Gas/Firma M. De Haan en W. De Boer). 39 Nur durch die Kenntnis von den Vor- und Nachteilen der eigenen Theorie können die deutschen Prozessualisten einen geeigneten Weg zur Harmonisierung des nationalen und euro­ päischen Rechts finden und weiterhin zur Rechtsvereinheitlichung in Europa und zur Entwicklung der allgemeinen Zivilprozessrechtslehre beitragen. Siehe dazu Leipold, GS Arens, 1993, S.  227 ff.; Rüßmann, ZZP 111, S. 399 ff.; Walker, ZZP 111, S. 429 ff.; Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 85 ff.; Prütting, GS Lüderitz, S. 623 ff.; Haas, FS Ishikawa, S. 165 ff.; Otte, FS Schütze, S. 619 ff.; Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand.

Kap. 1: Einführung

41

insbesondere die gesamte Entwicklung der deutschen Streitgegenstandslehre zu bewerten. Anschließend wird der Einfluss einiger grundlegender Werte des Prozessrechts, wie Parteidisposition, Rechtsfrieden, Verfahrensökonomie und materielle Gleichheit der Parteien usw., auf die Festlegung und Abgrenzung des Streitgegenstandes erörtert. Schließlich gilt es, die Bedeutung der Streitgegenstandslehre für die Problematik des Verhältnisses zwischen materiellem Recht und Prozessrecht zu analysieren. VI. Überblick über das chinesische Zivilprozessrecht und Vorschläge zum Aufbau einer nationalen Streitgegenstandslehre Keine Streitgegenstandstheorie ist allgemeingültig. Beim Aufbau einer nationalen Lösung der Streitgegenstandsproblematik müssen die chinesischen Prozessualisten daher den Rat beherzigen, dass eine Theorie dann geeignet ist, wenn sie zu der Nation und ihrem Recht passt. Aus diesem Grunde werden als Erstes die Rechtstradition und die heutige Rechtsordnung in China dargelegt. Zweitens soll die grundlegende Motivation für die Entwicklung des chinesischen Prozessrechts, nämlich der Wunsch der Gesetzgeber und Bürger zur Rechtsreform, offengelegt werden. Schließlich gilt es, vor dem Hintergrund der bereits genannten Voraus­ setzungen40 Vorschläge zum Aufbau einer nationalen Streitgegenstandslehre zu machen und entsprechend zu begründen.

40 Diese Voraussetzungen sind: die Erklärung und Bewertung der als Vorbild dargestellten Theorie; die Feststellung der Übertragbarkeit der ausländischen Theorie, also die Ermittlung der rechtlichen und gesellschaftlichen Lage der Gesellschaft, in welche die Übertragung stattfinden soll; schließlich die Notwendigkeit einer Rezeption, also das Bestehen eines Reform­ bedürfnisses in Form einer nationalen Lösung.

Erster Teil

Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems 1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems Wie in der Darstellung der Forschungsmethoden dieser Arbeit schon klar­ gemacht wurde, spielen die Rechtstradition und die rechtskulturellen Elemente eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Streitgegenstandstheorie der Gegenwart. Daher soll die folgende Darstellung der rechtsgeschichtlichen Aspekte dazu dienen, die historische Grundlage der für das Streitgegenstandsproblem relevanten Institute zu erhellen und die wesentlichen Rechtsgedanken in Bezug auf das Streitgegenstandsproblem und Anspruchskonkurrenzproblem in der Vergangenheit zu ermitteln.41 Bemerkenswert ist: „Eine Lehre vom Streitgegenstand, aus der sich entnehmen ließe, wie sein Inhalt und seine Bedeutung in früheren Prozeß­ordnungen bestimmt und umgrenzt wurde, kannte weder das alte römische noch das germanische, das kanonische oder auch das gemeine Prozeßrecht. Daß jedoch jeder Prozeß zu allen Zeiten einen ‚Streitgegenstand‘ gehabt hat [,] […] versteht sich vom Standpunkt unserer heutigen Rechtsauffassung ohne weitere Erläuterung.“42

Kapitel 2

Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht Das römische Zivilprozessrecht ist der Ursprung des Zivilprozessrechtssystems der westlichen Ländern. Die meisten gegenwärtigen Prozessrechtsinstitute finden ihre historische Wurzele schon im Römischen Recht. Die folgende Darstellung 41 Eine gesetzliche Definition des Begriffs Streitgegenstand war in der Rechtsgeschichte vor der Neuzeit kaum zu finden. Auch eine Klärung des Begriffs Streitgegenstand war im Schrifttum ganz selten. Die Überlegungen zum Streitgegenstandsproblem und die entsprechenden prozessrechtlichen Lösungen in der Geschichte findet man vielmehr in den jeweiligen prozessualen Grundsätzen, in der Konstruktion und im Aufbau des damaligen Verfahrens und vor allem in den Verfahrensinstituten, die eng an Inhalt und Umfang des gerichtlichen Streites gebunden sind. Die folgende Darstellung beschränkt sich darauf, die wesentlichen Begriffe, Institute und Elemente in Bezug auf das Streitgegenstandsproblem in der historischen Entwicklung zu skizzieren. Die relativ eingehend durchgeführte Untersuchung zu einigen Punkten wird nur wiedergegeben, insofern sie zur Erklärung der Erscheinungsform und des Wesens des Streit­ gegenstandsproblems erforderlich ist. 42 Vgl. Löwisch, historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 4.

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

43

schildert einige wichtige Punkte des Problems des Gegenstands des Rechtsstreites im Römischen Recht, um die historischen Grundlagen zu verdeutlichen.

A. Die Lehre der actio Bei der Entwicklung des römischen Zivilprozessrechts spielte das Institut der „actio“ eine wichtige Rolle.43 „[Die actio] – und nicht das ius – stand im Mittelpunkt des römischen Rechtsdenkens.“44 Sie war der Schlüssel zum Verständnis vieler relevanter Probleme im römischen Recht. Dabei war der Begriff der actio mehrdeutig. Nach dem „Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts“ von Heumann und Seckel konnte er mit folgenden Bedeutungen verwendet werden:45 (1) Handlung, Tat; (2) insbesondere Handlung vor dem Magistrate, Verhandlung: i) feierliche prozessuale Verhandlung vor dem Magistrat, durch welche nach älterem Recht (vor Einführung des Verfahrens per formulas) ein Prozeß eingeleitet wurde, indem die streitenden Teile durch förmliche, den Gesetzesworten angepaßte Wechselreden vor dem Magistrat ihre Ansprüche darlegten; ii) der rechtsgeschäftliche Akt, der sich dieser prozessualen Form anschloß; iii) das Recht des Magistrats, rechtliche Verhandlungen solcher Art zu leiten; (3) vornehmlich die Handlung des Klägers, das Klagen; (4) die Formel, welche vom Magistrate zum Zwecke der Rechtsverfolgung verhießen wurde; (5) hieraus die Aussicht auf Rechtshilfe, der Anspruch, das Klagrecht; (6) öffentliche Anklage; (7) Beweisdokument. Die Vielfalt der Bedeutung der actio verdeutlichte, dass die actio – ihrer Rechtsnatur nach – eine Mischung aus Rechtstatsache, Rechtshandlung, Recht und Norm (nämlich: Anspruchsnorm) war. Obwohl das römische Recht in der Geschichte viele Veränderungen durchlaufen hat, blieben Struktur und Inhalt der actio ein grundlegendes Element. 43 Nicht

nur das Rechtssystem, sondern auch die Denkweise der Römer werden stark vom Institut der actio beeinflusst. Vgl. Flume, Rechtsakt und Rechtsverhältnis, S. 9. 44 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 41. 45 Vgl. Heumann/Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, S. 9 f. Nach Windscheid waren die Bedeutungen dieses Begriffs wie folgend: „Handlung; Verhandlung (mit einem anderen); gerichtliche Verhandlung; streitige gerichtliche Verhandlung; streitige gerichtliche Verhandlung mit besonderer Beziehung auf den Angreifer, also gerichtliche Verfolgung, das, was mir Klage nennen; gerichtliche Verfolgung, Klage, nicht als Thatsache gedacht, sondern als rechtliche Zuständigkeit.“ Vgl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, S. 189.

44

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

Im römischen Recht wohnte der actio im konkreten Fall sowohl das Moment der „Tatsache“ als auch der „Norm“ inne. Der Sachverhalt und die Norm zu diesem Sachverhalt gingen hier eine enge Bindung ein. Aber auch der materielle und prozessuale Anspruch verbanden sich in der actio. Zudem war die Wahl einer actio durch den Kläger das Äußern seines Rechtsbegehrens. Daher kann man in gewisser Hinsicht behaupten, dass die vom Kläger gewählte actio den Gegenstand des gerichtlichen Streites beinhaltete. Eine Unterscheidung der in der actio verbundenen Elemente war – in jener Zeit – nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig. Ein Rechtsstreit wurde von den Römern durch dieses – in der heutigen Sichtweise – schwer zu verstehende aktionenrechtliche System gelöst.46 Insofern schien die Bestimmung des Streitgegenstandes im Römischen Recht grundsätzlich nicht besonders problematisch. Die Klageänderung47 und die Anspruchshäufung48 im heutigen Sinne sind wegen der Besonderheiten des Aktionensystems im römischen Recht gar nicht möglich. Das heißt aber nicht, dass das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht nur selten auftrat. Die Vermeidung paralleler Prozesse mit gleichem Gegenstand und eines Konflikts infolge sich widersprechender Entscheidungen kann wohl als Aufgabe eines jeden Prozessrechtssystems angesehen werden.

B. Die litis contestatio im Legisaktionenund Formularverfahren „Als Symbol für die gegenseitige Begründung des Zivilprozesses steht die l­itis contestatio.“49 „Aus der Zweiteilung des Legisaktionen- und des Formular­ prozesses erklärt sich die Funktion der litis contestatio einleuchtend. In diesem Moment stand fest, dass, zwischen wem und worüber ein Rechtsstreit geführt wer 46 Das Aktionenrechtssystem kann nach modernen Kriterien als unterentwickelt angesehen werden, es reichte aber grundsätzlich für die damalige Rechtspraxis aus. 47 „Die Möglichkeit der Klageänderung war den Römern gar nicht geläufig. Durch das dare iudicium und die litis contestatio war die Streitsache ein für allemal abschließend fixiert. Der Kläger konnte nicht von einer actio auf die andere übergehen. Es fehlte die für uns selbst­ verständliche Dispositionsfreiheit über den Streitgegenstand.“ Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 56. 48 „Da sich nämlich jeder materielle Anspruch in einer speziellen, auf den Einzelfall zugeschnittenen […] actio äußerte, und der römische Prozeß keine allgemeine inhaltlich unbestimmte Klage kannte, entfielt dort von vornherein die Möglichkeit einer Verbindung mehrerer Klagebegehren in einer actio.“ Vgl. Löwisch, historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 14. 49 Vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 2. „Mit der litis contestatio unterwarfen sich die Parteien dem Spruch des privaten Richters.“ Vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 37. Sie ist ein formeller Akt, der die Bereitschaft zur friedlichen, gerichtsförmlichen Streitbeilegung ausdrückte. Vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 635. Damit ist gemeint, dass die Durchführung der litis contestatio die Quelle der Bindungswirkung des Urteils im römischen Recht war. Vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 37.

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

45

den sollte.“50 Deswegen schien das Rechtsinstitut der litis contestatio von entscheidender Bedeutung für das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht.51 Vor dem Zeitpunkt der litis contestatio war die vom Kläger gestellte actio für den Kläger noch nicht verbindlich. Nach der litis contestatio waren jedoch eine Änderung der actio oder die Änderung der beantragten Geldsumme nicht mehr möglich. Zugleich wurde beim Eintritt der litis contestatio der Rechtsstreit zwischen beiden Parteien rechtshängig. „Die abschließende Umschreibung und Festlegung des Streitgegenstandes im konkreten Prozess (res de qua agitur) beinhaltete also grundsätzlich eine entscheidende Wirkung der litis contestatio.“52 Mit anderen Worten war das Institut der litis contestatio von Bedeutung für die Bestimmung des Umfangs des Streitgegenstandes. Zudem war sie wichtig für die Antwort auf die Frage, ob ein Prozess durchgeführt werden konnte, ob über seinen Streitgegenstand bereits ein anderer Prozess geführt oder anhängig gemacht worden war.53 Die litis contestatio hatte unter bestimmten Voraussetzungen eine Konsumtionswirkung. So konnte die gestellte ­actio (im Sinne des materiellen Anspruchs) nach der litis contestatio nicht mehr in einem anderen Prozess erhoben werden. Entsprechend wurde eine sich auf denselben Rechtsstreit beziehende actio normalerweise nur einmal vor Gericht rechtshängig gemacht und entschieden. Damit wird deutlich, dass sich schon in der römischen Zeit der Gedanke einer Gewährleistung des Rechtsfriedens fand.54 Zudem ist hervorzuheben, dass die litis contestatio ein verbindlicher Ausdruck des Willens der Parteien war, in einem Prozess entsprechend einer von dem Kläger gewählten actio ihren Rechtsstreit zu lösen. Der Prätor konnte den Kläger auf 50 Vgl.

Schlinker, Litis Contestatio, S. 37. Langem haben die Gelehrten über die Form, den Inhalt und die Funktion der litis contestatio heftig diskutiert. Anstatt einer Ansammlung der Definitionen und Lehrmeinungen wird hier nur eine kurze Darstellung zu den wesentlichen Punkte der Lehre von der litis contestatio in Bezug auf das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht gegeben. Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, § 41, 42 und 43. 52 Vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 28. 53 Nach der heutigen Ansicht ist es die Frage der Identität des Streitgegenstandes. Im Sinne der gegenwärtigen Prozessrechtswissenschaft handelt es sich um das Problem der Rechts­ hängigkeit und der materiellen Rechtskraft. 54 Das Prinzip der „prozessualen Konsumtion“ gilt – nach der Ausführung von Sohm und Mitteis – unter drei Voraussetzungen: a) „Das Recht muß in seinem ganzen Umfange Gegenstand des Prozesses gewegen sein, sich also in ihm erschöpft haben. Dies kann nur der Fall sein bei persönlichen Rechten, d. h. bei Forderungsrechten, nie bei dinglichen Rechten: denn bei diesen wird im Prozeß nie ihre gegen alle Welt gerichtete absolute Wirkung geltend gemacht, sondern nur Anerkennung dieser Wirkung von dem derzeitigen Beklagten verlangt; b) die ­intentio muss eine in ius concepta, nicht bloß eine in factum concepta gewesen sein, denn nur Rechte können erlöschen, während Tatsachen, auf welche die intentio gestellt war, nie unwahr warden können; es muß endlich c) das Prozeßverhältnis selbst ein iudicium legitimum gewesen sein.“ Vgl. Sohm/Mitteis, Institutionen, S. 715 f.; ferner Schlinker, Litis Contestatio, S. 24 ff.; Wenger, Institutionen des Römischen Zivilprozessrechts, S. 166 ff.; Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 295 ff. 51 Seit

46

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

die Geltendmachung einer anderen actio hinweisen, konnte aber die vom Kläger gestellte actio nicht selbst ändern.55 Der Kläger trug das Risiko der Klageabweisung, wenn er den Vorschlag des Prätors nicht annahm; aber seine Interessen wurden nicht durch eine mögliche willkürliche Auswahl der actio durch den Prätor beschädigt. Auf diese Weise machte die litis contestatio die Rolle der klägerischen Partei als Herr des Prozesses deutlich.56, 57

C. Die Bedeutung von intentio, demonstratio, condemnatio und praescriptio in der formula Obwohl ein den Rechtsfrieden schadender zweiter Prozess mit dem Vollzug der litis contestatio verhindert werden sollte, konnte man anhand des Instituts der litis contestatio alleine nicht beurteilen, ob die Streitgegenstände in beiden Prozessen identisch waren. Diese Beurteilung konnte erst mit Hilfe der Analyse einiger Bestandteile der formula erfolgreich vorgenommen werden.58 „Die intentio enthält das Begehren in Form einer Schlußfolgerung des Klägers; sie umfaßt sowohl den Klagegrund, also das Recht oder den Tatbestand, aus dem der Kläger sein rechtliches Verlangen herleitet, wie auch – bei den Leistungsklagen – die (primäre) Leistung, die der Kläger vom Beklagten fordert.“59 Bei der Leistungsklage enthielt die intentio noch die Klärung des Klageziels, das durch die vom Kläger geforderte Leistung ermittelt werden konnte. Ausnahmsweise bildete bei der condictio certae pecuniae und certae rei nur das Klageziel die intentio.60 Die intentio bestimmte in vielen Fällen den Gegenstand des Klagebegehrens 55 Vgl.

Hesselberger, Streitgegenstand, S. 35. der besonderen Struktur der actio (als eine Mischung von mehreren Rechtselementen) bedeutete die Achtung des klägerischen Begehrens im römischen Recht gleichzeitig die Achtung des klägerischen Rechts auf die Auswahl des materiellen Anspruchs. Die beiden trennten sich allmählich in der geschichtlichen Entwicklung. Auf letztere wurde insbesondere nach der Begründung des Prinzips iura novit curia verzichtet, während die erstere als ein Grundstein des Prozessrechts immer noch vorsichtig gewahrt wurde. 57 Zum Verständnis der litis contestatio ist ihre Funktionsdualität von großer Bedeutung. Dazu ist die klassische Ausführung von Kaser nennenswert: „Wesen und Funktion der lit. cont. sind aus dem Zusammenhang ihres ‚publizistischen‘ und ‚privatistischen‘ Gehalts zu verstehen. Sie ist nicht einfach ein Akt der staatlichen Gerichtshoheit, sondern primär ein solcher der Parteien, denen die maßgeblichen Prozeßschritte obliegen, und steht nur unter der Kontrolle des Prätors, der darüber wacht, daß der mit legis actio zu führende Streit durch Parteihandlungen eingesetzt wird, die der Rechtsordnung entsprechen und für den individuellen Streitfall geeignet sind.“ Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 77. 58 Sogar die Identität der actiones konnte die Identität der Streitgegenstände zweier Prozesse nicht genügend bezeugen. Es kann sein, dass die gleichen actiones zwischen gleichen Parteien sich auf unterschiedliche klägerische Begehren oder Sachverhalte gründen. 59 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 311. 60 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 43 f. 56 Wegen

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

47

und den Klagegrund – und damit, in welchem Umfang und mit welchem Inhalt die Klage rechtshängig gemacht wurde.61 Die demonstratio umschrieb generell den Sachverhalt des Rechtsstreites.62 In der Leistungsklage, die sich auf ein incertum bezog, war die demonstratio ein notwendiger Bestandteil der formula. Da die intentio in diesem Fall den Gegenstand des Verfahrens nicht genügend festlegen konnte, spielte die demonstratio hier eine Rolle. Durch die Formulierung des Sachverhaltes in der demonstratio wurde die intentio individualisiert und damit der Umfang und Inhalt des Gegenstandes des Rechtsstreites näher umgrenzt.63 „Die condemnatio beinhaltet die Anweisung an den iudex, den Beklagten zur Zahlung einer Geldsumme zu verurteilen oder freizusprechen.“64 Nach dem Grundsatz der condemnatio pecuniaria war im Formularprozess über jede Leistungsklage das Urteil in Form einer bestimmten Geldsumme zu fällen.65 So wurde mit Hilfe der condemnatio der Streitgegenstand quantitativ festgelegt: Entweder wurde der vom Kläger durch die intentio und demonstratio festgestellte Streitgegenstand in Form einer bestimmten Geldsumme richterlich zuerkannt oder der Richter machte von seiner Befugnis Gebrauch, seinerseits den Geldbetrag (dieser Leistungsklage) zu ermitteln und festzusetzen.66 Die praescriptio hatte die Funktion, einen Teil des Prozessstoffes vorzubehalten. „Daraus ergibt sich, daß alles, was zwar vom weiten Formelinhalt, aber nicht speziell von der praescriptio erfaßt wird, als nicht in iudicium deduziert gilt und daher auch nicht konsumiert wird.“67 Dadurch wurde die globale Rechtshängigkeit der Sache verhindert. Sie war insbesondere wichtig für den Kläger bei der actio 61 Vgl.

Schlinker, Litis Contestatio, S. 28. Wort „demonstratio“ hat die Bedeutung von der „näheren Bestimmung“, der „deut­ lichen Angabe eines Gegenstandes“; im Formularprozess bezeichnete sie den Formular­ bestandteil, der das Rechtsgeschäft als Klagegrund oder den anderweitigen Rechtsgrund umschrieb. Vgl. Heumann/Seckel, S. 133. 63 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 44 f. Wegen der ungenauen Angabe der demon­ stratio war eine neue Klage aufgrund einer modifizierten demonstratio möglich: „Ausschlaggebend ist im Formularprozess die Gestalt der Prozessformel. Diese konnte in factum konzipiert sein, also lediglich aus einer intentio als Schilderung des vom Kläger behaupteten, klagebegründenden Sachverhalts bestehen. Sie konnte aber auch ergänzend eine demonstratio mit einem bereits feststehenden Sachverhalt enthalten, also in ius konzipiert sein.“ „Eine Klage, deren Prozessformel in ius ungenau konzipiert war, litt zwar […] die Klageabweisung, konnte aber mit modifizierter demonstratio erneut vor Gericht gebracht werden.“ Vgl. Schlinker, Litis Contestatio, S. 28. Eine neue Klage war auch möglich, wenn – bei den actiones mit einer intentio incerta – der Kläger zu viel oder zu wenig beanspruchte; eine neue Klage war in diesem Fall jedoch nicht möglich, wenn es um actiones mit einer intentio certa ging. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 53. Der Grund dafür wird im Folgenden genannt. 64 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 45. 65 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 315 f. 66 Zudem ist zu erwähnen, dass das Teilurteil den Römern grundsätzlich fremd war. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 53. 67 Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 321. 62 Das

48

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

mit einer intentio incerta. In diesem Fall konnten viele Einzelansprüche aus dem in der demonstratio beinhalteten Sachverhalt hergeleitet werden. Wenn ein Anspruch im Prozess geltend gemacht wurde, war ein zweiter Prozess aufgrund eines anderen Anspruchs aus diesem Sachverhalt – der Wahrung der Rechtskraft wegen – unmöglich. Aber mit Hilfe einer praescriptio konnte der Kläger einen noch nicht geltend gemachten Anspruch einem späteren Prozess vorbehalten.68

D. Die prozessuale Konsumtion und die allgemeine Ausschlusswirkung „An die litis contestatio, mit der die Parteien den mit ihr fixierten Streitgegenstand vor Gericht anhängig (‚rechtshängig‘) machen und damit das agere vollziehen, knüpft sich die Wirkung, daß über diesen Streitgegenstand in diesem Prozeß, aber auch nur in diesem, durch Gerichtsurteil entschieden werden soll.“69 Diese negative Wirkung der litis contestatio wurde durch zwei Rechtsinstitute gewährleistet, nämlich die „prozessuale Konsumtion“ und die „allgemeine Ausschlusswirkung“. Der Unterscheidung zwischen beiden Instituten beruhte auf der unterschiedlichen Natur der actiones. Die actio in personam wurde nach dem Vollzug der litis contestatio konsumiert. Der Grund lag darin: Der actio in personam lag eine obligatio zugrunde; diese obligatio wurde nach der litis contestatio verbraucht; damit erlosch diese actio in personam. Ein vom Kläger neu angestellter Prozess war zwar möglich, aber unbegründet,70 weil der materiellrechtliche Anspruch schon durch den ersten Prozess „verbraucht“ war.71 Das Institut der prozessualen Konsumtion ließ der Wiederholung des Prozesses, der sich auf eine actio in personam gründete, keinen Raum.72 Diese Regel galt aber im Fall der actio in rem nicht. Im Gegensatz zu der actio in personam, der eine obligatio zugrunde lag, basierte die actio in rem auf einem dinglichen Recht. Das dingliche Recht konnte immer bestehen und wirkte gegen jedermann. Daher war eine Konsumtion der actio in rem durch einen Prozess nicht möglich. Aber es war notwendig, den Erfolg des Klägers in einem zweiten Prozess zu verhindern. Deswegen hatten die Römer zur Lösung dieses Problems der 68 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 320 f.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 46. 69 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 79 f. 70 Die Konsumtionswirkung zeigte sich vor allem am Verbrauch des materiellrechtlichen Anspruchs. Deswegen war die Erhebung der zweiten Klage nicht unzulässig, sondern unbegründet. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 49. 71 Dieser Gedanke gründet sich darauf, dass die Römer das materielle Recht des Klageberech­ tigten und sein prozessuales Klagerecht noch nicht unterschieden. Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 81. 72 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 299, 301.

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

49

actio in rem – und auch der actio honoraria und der actio in factum concepta73 – das Institut der allgemeinen Ausschlusswirkung entwickelt. Dem Beklagten wurde die Einrede der „exceptio rei iudicatae vel in iudicium deductae“ erteilt. Wenn er im Prozess diese Einrede geltend machte, sollte der iudex prüfen, ob dieser Streit schon vorher in einem anderen Prozess rechtshängig gemacht oder durch ein Urteil entschieden war. Wenn dies der Fall war, wurde der Beklagte freigesprochen.74 Die Konsumtionswirkung und die allgemeine Ausschlusswirkung waren die Verkörperung des durch das bekannte Sprichwort – „bis de eadem re ne sit actio“ – ausgedrückten Gedankens des Rechtsfriedens. Genau wie Kaser betont, zeigt sich dies darin, „daß mit der vom Prätor dem Urteilsgericht übertragenen Aufgabe der vom Staat zur Wahrung des Rechtsfriedens vorgesehene Schritt vollzogen ist, der den Streit in das Prozeßverfahren überführt, das ihn durch Entscheidung abschließend beendet und für eine Wiederholung keinen Raum mehr läßt“.75 Das staat­ liche Gerichtsverfahren soll dazu dienen, den wegen des Rechtsstreites zerstörten Rechtsfrieden wieder aufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss darauf geachtet werden, dass das den Streit lösende Verfahren selbst dem Rechtsfrieden nicht schadet. Dies aber droht der Fall zu sein, wenn über den schon rechtshängig gemachten oder bereits gerichtlich entschiedenen Gegenstand ein weiterer Prozess geführt wird. Diese Gefahr existierte auch im römischen Recht, und es wurde versucht, sie mit den beiden oben genannten Instituten zu beseitigen. Von vielen anderen Besonderheiten dieser beiden Institute abgesehen, ist eine – im Vergleich mit dem modernen Rechtssystem – doch sehr beachtenswert, nämlich der Zusammenhang zwischen der litis contestatio und den beiden Instituten der Konsumtionswirkung und der Ausschlusswirkung. Die Wirkung beider Institute knüpfte an den Vollzug der litis contestatio und nicht an das ergangene Urteil an. Die litis contestatio war für die beiden Institute entscheidend, weil sie der Fixpunkt für die Wirkung beider Institute war und der Zeitpunkt ihres Vollzugs als der Zeitpunkt des Eintritts der Wirkung beider Institute galt.76 Wenn die litis con­ testatio vollzogen war, konnte der Kläger keine Hoffnung mehr auf den Erfolg eines zweiten Prozesses haben, ganz gleich, ob der erste Prozess erst noch nur anhängig war oder später durch ein Urteil beendet werden würde. Deswegen scheint es, dass die Rechtshängigkeits­sperr­wir­kung und die Rechtskraftwirkung (im heu 73 Vgl.

Hesselberger, Streitgegenstand, S, 50. dieser allgemeinen Ausschlusswirkung ist zu beachten, dass (1) die „exceptio rei iudicatae vel in iudicium deductae“ erst dann als Einrede wirkte, wenn der Beklagte sie im zweiten Prozess erhob; (2) nach der Erhebung der „exceptio rei iudicatae vel in iudicium deductae“ durch den Beklagten der Prätor sie in der Formel aufnahm und der iudex sie danach prüfte. Sie wohnte dem zweiten Prozess inne. Deswegen konnte sie die Erhebung des zweiten Prozesses durch den Kläger nicht hindern; sie verhinderte vielmehr den Erfolg des Klägers im zweiten Prozess. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 51; Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 299, 302 f. 75 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 80. 76 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 51 f. 74 Bei

50

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

tigen Sinne) damals bei diesen beiden Instituten noch nicht getrennt wurden.77 Das römische Zivilprozessrecht unterschied das Problem der Rechtshängigkeit und das Problem der Rechtskraft nicht. Von den oben dargestellten Bestandteilen der formula, die den Streitgegenstand des Prozesses beeinflussten, spielten die intentio und die demonstratio eine besonders wichtige Rolle. Die intentio stellte den Klagegrund und im Fall der Leistungsklage das Klageziel dar. Durch sie wurde das Begehren des Klägers klargemacht. Mit der intentio, die den Prozess begründete und den Willen des Klägers anzeigte, wurde bereits in vielen Fällen der Streitgegenstand des Prozesses deutlich bezeichnet. Das war zumindest bei der actio mit einer intentio certa der Fall. Demgegenüber bedurfte es bei der actio mit einer intentio incerta darüber hinaus einer demonstratio. Durch diese demonstratio, die den Sachverhalt des Streites umschrieb, wurde der Gegenstand des Prozesses näher bestimmt. Ob der Gegenstand eines Prozesses identisch mit dem Gegenstand eines vorherigen Prozesses war, hing vor allem von dem Ergebnis der Prüfung der Identität der intentiones ab. Bei der actio mit einer intentio incerta wurden außerhalb der intentiones die demonstrationes herangezogen, um die Identität der prozessualen Gegenstände zu beurteilen.78 Es lohnt sich, die Wirkung der demonstratio, bei der actio mit einer intentio incerta den Prozessgegenstand zu beschränken, hier kurz darzustellen. Wurde eine intentio certa im Prozess festgestellt, spielte normalerweise nur diese intentio eine Rolle bei der Bestimmung des Prozessgegenstandes. Begehrte der Kläger zu viel, wurde seine Klage aus Rechtsgründen abgewiesen. Wichtiger war jedoch, dass die Erhebung eines anderen Prozesses nach der Durchführung des ersten Prozesses nicht mehr möglich war. Der Grund liegt darin, dass „das, was dem Kläger wirklich zustand, […] bereits durch die darüber hinausgehende intentio mitumfaßt [war]“.79 Diese umfassende intentio sollte – nach der Konstruktion des römischen Prozessrechts – so betrachtet werden, als sei sie bereits im ersten Prozess ausreichend behandelt worden. Mit anderen Worten: Sie war infolge der Konsumtionswirkung oder der allgemeinen Ausschlusswirkung bereits verbraucht worden und und erloschen.80 Im Gegensatz dazu war dies bei der actio mit einer intentio incerta nicht der Fall. Bei ihr wurde eine demonstratio zugefügt, um den Sachverhalt zu erklären. 77 Die Einheitlichkeit beider Wirkungen beruht darauf, dass im Gegensatz zu der modernen Lehre, nach der die Rechtshängigkeitssperrwirkung an den Anfang des Prozesses und die Rechtskraftwirkung an das Urteil anknüpft, sich der Eintritt der Wirkungen dieser beiden römischen Institute einheitlich mit der litis contestatio verband. 78 Die condemnatio und die praescriptio hatten auch in einem gewissen Grade Bedeutung für die Bestimmung des Prozessgegenstandes: Die condemnatio umriss den Prozessgegenstand quantitativ, und die praescriptio konnte durch den Vorbehalt des Sachverhaltes dem Kläger die Möglichkeit einer weiteren Klage einräumen, sodass der ursprünglich einheitliche Prozess­ gegenstand in zwei Prozessen getrennt behandelt werden konnte. 79 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 53. 80 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 323 f.

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

51

Dies ermöglichte es dem Kläger, durch die demonstratio den Prozessgegenstand in einem gewissen Umfang zu beschränken. Wenn die Klage, die aufgrund einer ­intentio incerta und einer bestimmten demonstratio erhoben wurde, beispielsweise wegen einer zu hohen Forderung abgewiesen wurde, hatte der Kläger immer noch die Möglichkeit, eine neue Klage mit einer geänderten demonstratio zu erheben. Wenn der Kläger – aufgrund einer demonstratio – zu wenig beansprucht hatte, hatte er unter bestimmten Voraussetzungen auch die Möglichkeit, eine neue Klage aufgrund einer berichtigten demonstratio zu stellen.81 Dies lässt deutlich erkennen, dass die demonstratio – unter bestimmten Voraussetzungen – die Funktion hatte, den Gegenstand des (ersten) Prozesses einzuschränken.82 Aber durch die demonstratio konnte der Gegenstand des Prozesses noch nicht endgültig festgelegt werden. „Was in iudicium deduziert ist, läßt sich vielmehr endgültig erst aus dem Urteil rückschauend erkennen: Gibt der Richter der Klage statt, weil er die demonstratio richtig gewählt findet, dann steht damit fest, daß der Anspruch, wie er in der demonstratio umschrieben ist, in iudicium deduziert ist. Weist jedoch der Richter die Klage ab, kann der Kläger immer noch versuchen, eine neue Klage mit veränderter demonstratio zu erwirken; für diesen zweiten Prozeß ist dann der erste bedeutungslos.“83 Deswegen konnte die Frage, ob mit der litis contestatio die Konsumtionswirkung oder die allgemeine Ausschlusswirkung eingetreten war, erst aufgrund des Ergebnisses des Prozesses beantwortet werden. Das Durchbrechen der Konsumtionswirkung und der allgemeinen Ausschlusswirkung setzte zweierlei voraus: Erstens, dass die erste Klage vom Richter abgewiesen worden war, und zweitens, dass eine Veränderung oder Berichtigung der demonstratio im zweiten Prozess möglich war oder eine praescriptio vor die Klageformel des ersten Prozesses geschrieben oder in sie integriert worden war.84 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Konsumtionswirkung und die allgemeine Ausschlusswirkung erst eintraten, wenn derselbe Kläger gegen denselben Beklagten mit der gleichen actio wieder eine Klage erhob, in der die intentio und die demonstratio grundsätzlich gleich blieben und eine praescriptio nicht gegeben war. 81 Das setzte voraus, dass der Rechtsstreit zwischen dem Kläger und dem Beklagten die Möglichkeit bot, die Auswahl zwischen mehreren Formulierungen der demonstratio zu haben, z. B. indem man eine ursprünglich gestellte demonstratio in einem anderen Prozess erweitern, einschränken, verändern oder berichtigen konnte. Vgl. die Formulierung in: Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 322 f. Die demonstratio im römischen Recht zeigte sich in einer typisierten Form. Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 322 f., insbesondere Fn. 4; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 53, insbesondere Fn. 39. 82 Dadurch wurden die Konsumtionswirkung und die allgemeine Ausschlusswirkung des ersten Prozesses (bzw. der ersten litis contestatio) auch beschränkt. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 53. Eine ausführliche Darstellung der demonstratio als ein den Prozessgegenstand einschränkendes Element findet sich bei Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 322. 83 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 322 f. 84 Zu der demonstratio vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 322 f.; zu der praescriptio vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 320 f., 323.

52

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

E. Das Problem des concursus actionum im römischen Prozessrecht In der Entwicklung des römischen Rechts häuften sich allmählich die Fälle, in denen die Rechtsordnung dem Kläger für die Rechtsverfolgung aufgrund eines bestimmten Rechtsstreites zwei oder sogar mehrere actiones anbot.85 Insbesondere war die Konkurrenz der actiones in folgender Lage problematisch: „Wenn ein einheitlicher Sachverhalt, ein einheitliches Rechtsverhältnis, mehrere Ansprüche begründete, die im wesentlichen auf denselben Erfolg gerichtet waren, so standen dem Berechtigten entsprechend den einzelnen materiellen Rechten mehrere actiones zu, die sämtlich der Erreichung eines einzigen bestimmten Zieles dienten. Der Kläger konnte in derartigen Fällen eine Rechtsbehauptung, die sich auf verschiedene Rechtsgrundlagen stützen ließ, nur unter jeweils einem rechtlichen Gesichtspunkt mit einer actio verfolgen; allerdings stand ihm für jeden Rechtsgrund eine selbständige actio zu Gebote. Unter den verschiedenen actiones hatte der Kläger die Wahl, und es stand in seinem Belieben, auf welchen Rechtsgrund er sich im Einzelfall berufen wollte.“86 Problematisch wurden solche Fälle aber erst, wenn der Kläger versuchte, die auf dasselbe Ziel gerichteten actiones nacheinander in verschiedenen Verfahren geltend zu machen. Wenn der Kläger in beiden Prozessen gewann, konnte er von dem Beklagten – formell gesehen – zweimal die Erfüllung seines Begehrens verlangen. Da diese actiones ein und demselben wirtschaftlichen Zweck des Klägers dienten und die Leistung nur einmal zu erbringen war, erschien dieses Verfahrensergebnis für den Beklagten ungerecht. Wenn der Kläger hingegen nur in einem Prozess gewonnen hatte, bestand die Gefahr von sich einander widersprechenden Urteilen. Unter diesen Umständen wusste der Beklagte nicht, wie er sich verhalten sollte; gleichzeitig drohte die Autorität der Justiz Schaden zu nehmen. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die prozessuale Verfolgung sich konkurrierender actiones den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit schwerwiegend gefährden konnte. Die Römer standen daher vor zwei Fragen: (1) Wie ließ sich festlegen, dass zwei oder mehrere actiones dasselbe Ziel hatten und insofern miteinander konkurrierten? (2) Wie sollte ein solcher Fall in juristisch vernünftiger Weise behandelt werden? 85 Der Ausdruck concursus actionum war in den römischen Quellen gebräuchlich. Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 11. 86 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 14 f. Darüber hinaus gab es noch die Möglichkeit der Personenkonkurrenz, bei der die gleiche actio zwischen verschiedenen Personen geltend gemacht wurde. Sie war aber im Vergleich mit der Aktionenkonkurrenz (im engen Sinne), bei der die verschiedene actiones sich auf das gleiche Klageziel richteten, relativ leicht zu lösen. Auf eine Darstellung der Personenkonkurrenz wird daher in dieser Arbeit verzichtet. Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 303, 306. Die Aktionenkonkurrenz kam häufig bei den actiones in rem vor; aber auch die Fälle der Konkurrenz von actiones in personam, bei der zwei oder mehrere actiones aufgrund desselben Sachverhaltes das gleiche Ziel verfolgten, tauchten im römischen Recht auf.

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

53

Konkurrenzfälle tauchten im römischen Recht nicht so häufig auf wie im Rechtssystem der Gegenwart. Dementsprechend hatten die Römer eine systematische und selbstständige Konkurrenzlehre, aufgrund derer die Konkurrenzfälle festgelegt, analysiert und gelöst werden konnten, nicht entwickelt. Das zeigt sich daran, dass die Römer über kein klares Kriterium für die Beurteilung der Aktionenkonkurrenz verfügten. Das Problem der sog. „eadem res“ stellte sich nicht nur, wenn die gleiche actio zwischen denselben Parteien wiederholt wurde, sondern auch in den Fällen, in denen zwei oder mehrere auf dasselbe Ziel gerichtete actiones vom Kläger in unterschiedlichen Verfahren gestellt wurden.87 „Die Frage, ob eadem res vorliegt, hängt davon ab, ob die beiden Aktionen denselben Klagegrund (causa) und dasselbe Klageziel haben.“88 Bei den actiones in rem war der Klagegrund das dingliche Recht; bei den actiones in personam war es der Vertrag oder der vertragsähnliche Tatbestand oder das Delikt oder das sonstige als Klagegrund anerkannte factum. „Das Ziel der actio besteht bei den ‚sachverfolgenden‘ Klagen in dem Ausgleich des Vermögensnachteils, den der Kläger durch die Nicht­ erfüllung seines berechtigten Begehrens oder durch den sonstigen klagebegründenden Sachverhalt erlitten hat; bei den ‚pönalen‘ Klagen in der Geldstrafe […].“89 Grundsätzlich sind die drei erwähnten Kriterien für die Feststellung einer Aktionenkonkurrenz von ausschlaggebender Bedeutung: die Identität der Personen, die Identität des Klagegrundes und die Identität des Klagezieles. Allerdings sollte darauf hingewiesen werden, dass diese Kriterien erst im Laufe der Rechtsgeschichte durch die Lehre zusammengefasst wurden. In der römischen Rechtspraxis vollzog sich die Beurteilung der Aktionenkonkurrenz – genau wie die Beurteilung der Identität der Prozessgegenstände – mit Hilfe der Ermittlung der Identität von intentiones und demonstrationes in beiden Verfahren. Aufgrund der Ähnlichkeit des Problems der Aktionenidentität und des Problems der Aktionenkonkurrenz im römischen Recht wurde das Problem der Aktionenkonkurrenz dadurch gelöst, dass man die Anwendung der Lehre der Konsumtion und der allgemeinen Ausschlusswirkung auf das Problem der Aktionenkonkurrenz erstreckte. Bei den actiones in personam trat die Konsumtionswirkung nach dem Vollzug der litis contestatio ein; bei den anderen actiones kam es zur allgemeinen Ausschlusswirkung nach dem Vollzug der litis contestatio. Die Erhebung einer anderen Klage, in dem der Kläger eine auf dasselbe Ziel gerichtete actio geltend machte, war daher unmöglich.90

87 Mit anderen Worten wurden das Problem der Identität der Gegenstände und das Problem der Aktionenkonkurrenz im römischen Recht einheitlich behandelt. 88 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 304; nach der Auffassung Levys kam eadem res vor, wenn die Identität der Personen, des Ziels und des Klagegrundes in beiden Verfahren gegeben waren. Vgl. Levy, Konkurrenz der Aktionen und Personen im klassischen römischen Recht, Bd. 1, S. 78 ff. 89 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 304. 90 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 57.

54

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

F. Zusammenfassung der Entwicklung im klassischen römischen Verfahrensrecht Im römischen Zivilprozessrecht wurde der Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens generell durch die gewählte actio individualisiert. „Infolge der Notwendigkeit, beim Prätor eine bestimmte, fest umrissene actio beantragen zu müssen (editio actionis), lagen sowohl Inhalt als auch Klagegrund und damit der Umfang des gewährten Rechtsschutzes fest.“91 Wurde dadurch der Verfahrensgegenstand noch nicht genügend bestimmt, standen zusätzlich die intentio, die demonstratio und die praescriptio zur Verfügung, um ihn zu ermitteln. Deswegen lässt sich behaupten, dass die Festlegung des Inhalts und des Umfangs des Prozessgegenstandes im klassischen römischen Recht grundsätzlich nicht besonders problematisch war. Das damalige Problem des Prozessgegenstandes zeigte sich vielmehr hauptsächlich bei der Gegenstandsidentität und Aktionenkonkurrenz und konnte dort den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit schädigen. Schon in der römischen Zeit zeigte sich diese Schwierigkeit, die der heutigen Problematik der Rechts­ hängigkeit und Rechtskraft ähnelt.92 Die Lösung dieser Probleme handhabten die Römer eher pragmatisch, eine systematische Darstellung und systematische Lösungsverschläge zum Problem der Gegenstandsidentität und Aktionenkonkurrenz fehlen in der römischen Rechtsliteratur. Das Rechtssystem war damals noch nicht so entwickelt und solche schwierig zu lösenden Rechtsphänomene kamen in der Praxis noch nicht allzu häufig vor. Aber wie die folgende Untersuchung zeigen wird, hat das römische Zivilprozessrecht die Weiterentwicklung der Lösung des Streitgegenstandsproblems gedanklich und institutionell stark beeinflusst.

G. Das Streitgegenstandsproblem in der Entwicklung des klassischen Kognitionsverfahrens und des nachklassischen Verfahrens Nach dem Übergang zum klassischen Kognitionsverfahren hatte die Struktur des römischen Zivilprozessrechts sich stark verändert: Die staatliche Gewalt war im Rahmen der Rechtspflege in vielerlei Hinsicht größer geworden; die Zwei­ teilung des Verfahrens wurde allmählich aufgegeben; die Formularerteilung und die litis contestatio verloren ihren Sinn, den sie im klassischen Prozess gehabt hatten. Der inhaltliche Schwerpunkt eines Verfahrens galt nach und nach weniger der Möglichkeit prozessualer Rechtsverfolgung als dem klägerischen Anspruch im materiellrechtlichen Sinne. Eine grundlegende und offensichtliche Änderung

91 Vgl. 92 Vgl.

Schlinker, Litis Contestatio, S. 13. Dieser Ansicht ist grundsätzlich zuzustimmen. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 29 f.

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

55

hatte der Begriff der actio erlebt. „Actio bedeutet den Rechtslehrern dieser Zeit nur mehr den materiellrechtlichen Anspruch […]. Damit vollzieht sich eine gewisse Los­lösung vom ‚aktionenrechtlichen‘ Denken der Klassiker und verstärkt sich der schon seit der späten Klassik fühlbare Übergang zu einer mehr an Regeln gebundenen Anschauung des Rechts […].“93 Das als System der individualisierten privatrechtlichen Ansprüche verstandene Aktionensystem hat die Rechtsanwendung und die Prozessrechtsinstitute in der nachklassischen Zeit stark beeinflusst. Davon konnte die rechtliche Lösung des Streitgegenstandsproblems nicht unberührt bleiben.94 Die Wirkung der Rechtshängigkeit war an den Zeitpunkt geknüpft, zu dem der Beklagte in der Verhandlung vor dem Gerichtsherrn das Begehren des Klägers bestritt. Von diesem Zeitpunkt an – und nicht (wie in der klassischen Zeit) nach dem Vollzug der litis contestatio – stand fest, dass es zu einem Prozessverfahren kam.95 „Von dem Grundsatz, daß über den Gegenstand eines früheren Prozesses nicht nochmals prozessiert werden darf, handeln wir bei den Wirkungen des Urteils.“96 Damit aber war die unterschiedliche Wirkung von Rechtshängigkeit und materieller Rechtskraft anerkannt. Obwohl die formula vom Kläger herangezogen werden konnte, um den Gegenstand des Streites zu umreißen, war sie nicht mehr notwendiger Teil des Verfahrens. Die Beurteilung der Identität der Gegenstände hing demgemäß von der Ermittlung des Urteilsinhalts des ersten Prozesses und des Inhalts der Klageschrift des zweiten Prozesses ab. „Der Anspruch und sein verfahrensrechtliches Schicksal bildeten keine Einheit mehr.“97 Daher wurde der klägerische Anspruch nicht mehr (nach der litis contestatio) konsumiert.98 Aber das Verbot, den einmal Belangten erneut gerichtlich zu verfolgen, galt noch. Deswegen spielte der Gedanke der allgemeinen Ausschluss 93 Vgl.

Kaser, Das Römische Privatrecht, Bd. 2, S. 65. der Entwicklung in Bezug auf das Problem des Prozessgegenstandes im klassischen Kognitionsverfahren und im nachklassischen Verfahren vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 484, 491, 499, 580, 588, 615 ff.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 62 ff. 95 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 490. 96 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 484, 615. Im Formularverfahren knüpfte diese Präklusionswirkung an die litis contestatio an, und sie wurde mit der Rechtshängigkeitswirkung einheitlich geregelt. Aber im Kognitionsverfahren knüpfte sie an das Urteil an, und sie wurde als von der Rechtshängigkeitswirkung getrenntes Rechtsinstitut verstanden. Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 499. Die litis contestatio verlor ihre Wirkung einer Prozessbegründung; zudem war der Vollzug der litis contestatio nicht mehr entscheidender Zeitpunkt für die Wirkung der Rechtshängigkeit und der materiellen Rechtskraft. 97 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 65. 98 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 491, 580. Zwar gab es noch wesentliche Unterschiede zwischen dinglichen und persönlichen Rechten, aber in dieser Zeit wurde der Gegensatz zwischen dinglicher und persönlicher Klage (im klassischen römischen Recht) überhaupt verwischt. Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 577 f.; Kaser, Das Römische Privatrecht, Bd. 2, S. 66 f. 94 Zu

56

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

wirkung in diesem Zeitraum eine wichtige Rolle. Sie knüpfte nicht mehr – wie in der klassischen Zeit – an der litis contestatio an, sondern an das Urteil. Daher durfte der Inhalt des Urteils nicht mehr Gegenstand eines anderen Prozesses sein. Als Mittel zur Geltendmachung der Ausschlusswirkung hatte Justinian die „­exceptio rei in iudicium deductae“ planmäßig aus den Quellen beseitigt und die „exceptio rei iudicatae“ bei allen Arten der Klagansprüche angewandt.99 Zur Lösung der Probleme in Fällen, in denen sich aus dem klägerischen Sachvortrag mehrere auf dasselbe Ziel gerichtete Ansprüche ergaben, wurde in diesem Zeitraum die Lehre der „Solutionskonkurrenz“ entwickelt.100 Nach dieser Lehre stand der Geltendmachung einer zweiten Klage, die das ganz oder teilweise das gleiche Ziel wie die ersten Klage hatte, ein prozessuales Hindernis grundsätzlich nicht entgegen; die zweite Klage wurde nur noch dann versagt, „wenn und soweit der Kläger durch die mit der ersten Klage erreichte Leistung befriedigt worden“ war.101 Dieser Gedanke gründete sich darauf, dass die Ansprüche, die sich auf dasselbe Ziel richteten, in der Weise realisiert werden sollten, dass einer davon – aber eben nur einer – erfüllt wurde, wenn solche Ansprüche aufgrund des Sachverhaltes begründet zu sein schienen. Wenn das berechtigte Begehren des Klägers nach dem ersten Prozess nicht oder nicht völlig erfüllt war, war es rechtsethisch richtig, ihm die Möglichkeit zu geben, sein Begehren in einem zweiten Prozess neu zu erheben; wenn jedoch der Kläger schon im ersten Prozess Erfolg gehabt hatte, stand ihm ein anderer Rechtsverfolgungsversuch (nämlich: Gerichtsverfahren) nicht zur Verfügung.102 Die Verfahren, die auf denselben wirtschaftlichen Erfolg zielten, verdrängten – formell gesehen – so einander nicht. „Das bedeutet: Für die Oströmer lagen im Falle der Konkurrenz mehrerer Aktionen mehrere selbständige Streitgegenstände

99 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 499, 615. Die Trennung von Konsumtionswirkung und allgemeiner Ausschlusswirkung verschwand; die allgemeine Ausschlusswirkung trat in allen Fällen ein, in denen die Gegenstände zweier Prozesse dieselben waren. 100 Auf eine Anwendung der Lehre der allgemeinen Ausschlusswirkung in den Fällen der Aktionenkonkurrenz wurde in der nachklassischen Zeit verzichtet. In diesem Übergangsstadium war ein Lösungsversuch bemerkenswert. Oft sahen sich die Juristen jener Zeit in der Praxis mit Fällen konfrontiert, in denen trotz der unterschiedlichen Klagegründe oder trotz unterschiedlicher Klageziele der actiones der Ausschluss eines zweiten Prozesses – rechtspolitisch gesehen – notwendig war. Die damaligen Juristen wollten die Reichweite der „eadem res“ aber nicht ausdehnen; hingegen versuchten sie, durch die rechtsschöpferische Tätigkeit des Prätors und des Judex und mit Hilfe verschiedener Rechtsinstrumente (z. B. exceptio doli, denegatio, Kautionszwang) den zweiten Prozess zu verhindern. Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 17. 101 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 616. 102 Das damalige Rechtssystem legte den Schwerpunkt auf die Befriedigung des Klägers. Daran kann man deutlich sehen, dass schon in der römischen Zeit die Juristen zur Lösung des Streitgegenstandsproblems den teleologischen Gedanken herangezogen hatten. Diese Denkweise hatte die Ausformung der Lehre der Neuzeit stark beeinflusst.

Kap. 2: Das Streitgegenstandsproblem im römischen Zivilprozessrecht 

57

vor, die sich gegenseitig prozessual nicht beeinflußten.“103 Daran lässt sich erkennen, dass die als materiellrechtlicher Anspruch verstandene actio im justinianischbyzantinischen Recht den Gegenstand des Prozesses bildete. Mit anderen Worten war die ursprüngliche Form des materiellen Rechts der Verfahrensgegenstand.104 Im Zuge der Umwandlung der Bedeutung der actio wurde der Schwerpunkt der Lehre vom „concursus actionum“ schrittweise auf das materielle Recht gelegt. Die Konkurrenzlehre war nunmehr eine Lehre auf dem Gebiet des materiellen Rechts und nicht des Prozessrechts. „Im justinianischen Recht hat also die eine actio auf die andere, der eine Prozess auf den anderen überhaupt keinen konsumierenden Einfluß.“105 Die Antwort auf die Frage, ob in beiden Prozessen eadem res vorlag, ging allmählich vom prozessrechtlichen zum materiellrechtlichen Gesichtspunkt über: Im klassischen Recht verglich man den Inhalt und das Ziel der actiones, im justinianisch-byzan­ti­ni­schen Recht hingegen den Inhalt und das Ziel der durch die actiones dargestellten materiellen Rechte.106 „Der Streitgegenstand, der rechtshängig gemacht ist, wird, nachdem die Bindungen an die formula weggefallen sind, nach dem Willen der Parteien und des Richters bestimmt.“107 Im Zuge der Auflösung der actio konnte es nun vorkommen, dass die Anzahl der Ansprüche und diejenige der Prozesse nicht identisch waren. Damit wurde die Möglichkeit der Klagehäufung geschaffen.108 Und auch eine Klageänderung war infolge der genannten Veränderungen möglich.109

103 Vgl.

Hesselberger, Streitgegenstand, S. 67. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 67. 105 Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 17 f. 106 Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Oströmer ihre Aufmerksamkeit vor allem dem Prozess und seiner Wirkung schenkten. Beispielsweise wurde im Fall der Solutionskonkurrenz der zweite Prozess behindert, wenn durch das Urteil des ersten Prozesses das klägerische Begehren schon erfüllt wurde. 107 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 580. 108 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 67. Die Frage, ob es in einem Prozess dann einen oder zwei Gegenstände gab, blieb unbeantwortet. 109 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 65, 67. 104 Vgl.

58

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

Kapitel 3

Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht A. Die Hauptquellen des gemeinen Rechts I. Der dauernde Einfluss des römischen Prozessrechts Das gemeine Recht hat seinen Ursprung im römischen, germanischen und kanonischen Recht. Die einzelnen Elemente haben sich in der allmählichen Entwicklung des gesamten mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechts einander angepasst und bilden gemeinsam die Grundlage des gemeinen Rechts.110 Trotz der Veränderungen und Umwandlungen, die in vielerlei Hinsicht erfolgten, wirkte sich das römische Prozessrecht stark auf das gemeine Verfahrensrecht aus. In den gemeinrechtlichen Lehren wurden „alle auftauchenden Fragen nur in Anlehnung an das römische Recht oder in Auseinandersetzung mit ihm“ gelöst.111 Und die damalige juristische Ausbildung bestand hauptsächlich in der Vermittlung der von den Gelehrten gewonnenen Kenntnisse über das römische Recht.112 Nach der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts war seine Vorherrschaft auch im Bereich des Prozessrechts offensichtlich.113 Das kanonische Prozessrecht entwickelte sich seit dem 13. Jahrhundert. Die Kirche dehnte ihre kirchliche Gerichtsbarkeit allmählich auf weltliche Angelegenheiten aus. Sein Einfluss auf die deutsche Rechtsentwicklung vollzog sich seit dem 14. Jahrhundert zunehmend über gelehrten Juristen, die als Richter und Urteilende die Gerichte zu beherrschen begannen.114 Das kanonische Prozessrecht hat seine historischen Wurzeln im römischen und germanischen Recht und wurde insbesondere von Ersterem beeinflusst. Aus diesem Grund wurde es als das „romanischkanonische Prozessrecht“ bezeichnet.115

110 Zum

Begriff vom „gemeinen Prozess“ vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 4, Rn. 1,

24.

111 Hesselberger,

Streitgegenstand, S. 69. Streitgegenstand, S. 69. 113 Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 339 ff. 114 Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 397; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 456; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 4, Rn. 15 ff. 115 Vgl. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 490. Zu den Einzelheiten des Streitgegenstandsproblems und des Problems der Aktionenkonkurrenz im kanonischen Recht vgl. Lickleder, Der Streitgegenstand im kanonischen Zivilprozessrecht, S. 22 ff. 112 Hesselberger,

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

59

II. Die Besonderheit des germanischen prozessualen Rechtsdenkens Obwohl viele Einzelheiten des germanischen Rechts bis heute unklar geblieben sind, wird es als eine wichtige Quelle des gemeinen Rechts angesehen. Allgemein anerkannt ist, dass das System des frühen germanischen Prozessrechts – im Vergleich mit dem römischen Prozessrecht – unterentwickelt war. Ein Sytem der Aktionen, die die rechtliche und die tatsächliche Seite des Klagegrundes umfassen, ist für das germanische Recht undenkbar. Es interessierte sich nicht für die Verwirklichung des subjektiven Rechts, sondern für die Bewahrung des friedlichen Rechtslebens und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch den Prozess.116 Am Anfang des Prozesses brachte der Kläger sein Verlangen vor und behauptete den Sachverhalt, der die Klageerhebung und das Verlangen begründete. Anders gesagt: Der Kläger musste gegenüber dem Gericht sowohl den Zweck seiner Klage als auch den tatsächlichen Klagegrund (den Sachverhalt) vorbringen. Dementsprechend wurden die Verfahrensarten im germanischen Recht nach dem Klagezweck und den tatsächlichen Umständen und nicht – wie im römischen Recht – nach dem rechtlichen Grund der Klage bestimmt.117 Das germanische Prozessrecht legte seinen Schwerpunkt auf das Vorbringen, Bestreiten und Beweisen der die Klage begründenden Tatsachen.118 Deswegen kann man wohl behaupten, dass der Gegenstand des Verfahrens nach dem germanischen Recht – in gewissem Sinne – der Sachverhalt im Prozess war. Die Bedeutung des Klagezwecks und Sachverhalts wurde im germanischen Prozess besonders betont. Hier – auf der Ebene des Rechtsdenkens – unterschied er sich deutlich vom römischen Prozess. Der Hauptgrund liegt darin, dass im germanischen Recht ein feines System der (materiellen) Rechte nicht entwickelt war. Den Vortrag des rechtlichen Grundes (oder besser gesagt: des materiellrechtlichen Gesichtspunktes) konnte das Gericht vom Kläger nicht verlangen; es selbst konnte das – mangels eines entwickelten Zivilrechtssystems – lange Zeit nicht leisten. Tatsächlich war der rechtliche Grund für die damalige gerichtliche Praxis nicht von Relevanz. Die Aufgabe des Verfahrens war in jener Zeit dann erfüllt, wenn der Richter aufgrund des klägerischen Verlangens und der Tatsachen ein Urteil „finden“ konnte. Dieser Rechtsgedanke, der den noch wenig entwickelten Stand 116 Mitteis/Lieberich,

Deutsche Rechtsgeschichte, S. 45. erhobenen Klagen wurden in drei Gruppen eingeteilt: die bürgerliche, die pein­liche und die gemischte Klage. Dazu Schwerin und Thieme: „Während aber die römische actio durch den Klagegrund bestimmt war (z. B. actio emti), war der Gesichtspunkt der Einteilung im deutschen Recht der Klagezweck.“ Schwerin/Thieme, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 216. Unter den bürgerlichen Klagen gab es drei Arten: die Klage um Schuld (Geldschuld), die Klage um Gut (bewegliches Gut) und die Klage um Eigen und Erbe (Liegenschaften). Dazu Mit­ teis und Lieberich: „Die Klagen wurden also nicht nach dem Grunde eingeteilt wie im römischen ­Actionensystem, sondern nach dem Gegenstand.“ Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechts­ geschichte, S. 308. Zu den Klagearten vgl. auch: Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 1, S. 388; Planitz/Eckhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 228. 118 Schwerin/Thieme, deutsche Rechtsgeschichte, S. 32. 117 Die

60

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

des damaligen Rechtssystems deutlich macht, hatte in gewissem Sinne seine Vorteile: In der historischen Entwicklung wurde der Klagegrund allmählich in den Rechtsgrund und den tatsächlichen Grund aufgeteilt, und zur Begründung des Urteils zogen die Germanen den tatsächlichen Grund der Klage, nicht den Rechtsgrund heran. Diese Vorgehensweise erleichterte die Behandlung der Fälle, in denen ein einheitlicher Sachverhalt unter mehrere Rechtsgründe gefasst werden konnte, weil die Richter sich so nicht mit den verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten auseinandersetzen mussten. Im Gegensatz zum römischen Recht, in dem sich das Urteil auf das subjektive Recht des Klägers ausrichtete, stützte sich das Urteil des germanischen Verfahrens auf den Sachverhalt. Entsprechend wurde im germanischen Recht durch das Urteil der weit verstandene Streit zwischen beiden Parteien und nicht der Streit mit einem bestimmten rechtlichen Inhalt erledigt.119 Wichtig ist, dass in dem frühen germanischen Recht die Parteien im Verfahren verschiedene Freiheiten und Rechte hatten und das Gericht um die Erledigung des Streits nur dann bemüht sein konnte, wenn die Parteien um gerichtliche Hilfe baten. Das heißt, das germanische Prozessrecht wurde in seinem frühen Stadium von der Verhandlungs­maxime und dem Dispositionsgrundsatz beherrscht.120 Dieser Charakter des germanischen Rechts hat – gemeinsam mit der römischen Rechtstradition – das heutige Prozessrecht in Europa tiefgreifend beeinflusst.121 Insgesamt bleiben zwar viele Einzel­heiten des germanischen Rechts und der Umfang seines Einflusses auf das gemeine und moderne Recht im Unklaren, sein gedanklicher Wert sollte aber nicht unterschätzt werden.122

119 Damit wurde der gesamte Sachverhalt im gerichtlichen Verfahren behandelt und der Streit (im sozialen Leben) möglichst in einem Verfahren komplett gelöst. Zwischen diesem germanischen Gedanken und den folgenden modernen Rechtsgedanken besteht eine gewisse Ähnlichkeit, wie die Vorgehensweise der deutschen Gerichte im Unterhaltsprozess, die Kernpunkttheorie der EuGH und der weit verstandene Begriff des Sachverhalts als „Lebenssachverhalt“, „Tatsachenkomplex“ oder „historischer Vorgang“ zeigen. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 92, Rn.  18 ff.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 11, 44. Bis heute kann die rechtsgeschichtliche Forschung nicht überzeugend nachweisen, dass solche modernen Gedanken ihre historische Wurzel direkt im frühen germanischen Recht finden, jedoch ist die gedankliche Ähnlichkeit ein interessantes Phänomen der Rechtskultur. 120 Der Verhandlungsgrundsatz findet sich schon in der Frühzeit des germanischen Rechts. Vgl. Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 44 f.; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 29; Planitz/Eckhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 63. 121 Vgl. unten Kapitel 13 C. I. 122 Sogar in der frühen Neuzeit (im Prozess des Reichskammergerichts und im sächsischen Prozess) fand man noch Spuren des germanischen Rechtsgedankens, nämlich die Betonung der tatsächlichen Seite des Klagegrundes. Vgl. Schwerin/Thieme, Deutsche Rechtsgeschichte, S.  356 ff.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

61

B. Die grundlegende Tendenz in der Entwicklung des gemeinen Rechts: Die Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht Schon im justinianischen Recht findet man Ansätze zu einer Auflösung des Aktionen­systems. Diese Tendenz wurde in der nachfolgenden Entwicklung immer offensichtlicher. Aber erst im späten gemeinen Recht gelang der gedankliche und institutionelle Abschied vom Aktionensystem.123 Viele moderne Rechtsbegriffe und Rechtsinstitute, die ihre Wurzeln im Aktionensystem haben, verselbständigten sich im Zuge der Entwicklung des gemeinen Rechts und errichteten gemeinsam das heutige Zivil- und Prozessrechtssystem. I. Die Entstehung des Gedankens vom „objektiven Recht“ und die Achtung des klägerischen Begehrens Bei der Rechtsanwendung in der Praxis hatten die Juristen nach und nach erkannt, dass die in den Rechtsquellen formulierte actio und die einem Prozess tatsächlich zugrunde gelegte actio wohl unterschiedliche Dinge waren. Bevor eine actio einem Prozess zugrunde gelegt wurde, war sie ein abstraktes Gebot mit einer „Wenn-Dann“-Struktur. Hatte der Kläger eine Klage erhoben und die Erteilung einer bestimmten actio verlangt, wurde sie eng mit dem klägerischen Begehren und dem konkreten Lebenssachverhalt in Verbindung gebracht, um so die Grundlage für das Urteil zu bilden.124 Daher gelangten die damaligen Juristen zu der Erkenntnis, dass das Aktionensystem eigentlich ein verdecktes System objektiven Rechts sei.125 Die Durchsetzung des objektiven Rechts setzte voraus, dass es sich zuerst in ein subjektives Recht verwandelte. Bei dieser Umwandlung war der Anspruch des Rechtssubjektes von entscheidender Bedeutung. Konkret gesagt: Das (objektives) Recht war nur durchsetzbar, wenn ein Bürger das Rechtsgefühl hatte, dass sein Interesse von jemandem ungerecht geschädigt wurde, und dann ein Rechtsbegehren vor das Gericht brachte. Dieses Begehren nannte man im mittelalterlichen Prozess „petitio“. Der Kläger musste am Anfang des Prozesses nicht mehr um die Erteilung einer actio bitten, sondern eine petitio aufstellen, deren Inhalt der Kläger selbst bestimmen konn 123 Kaufmann,

JZ 1964, S. 484 ff.; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 43. 124 Vgl. die damalige „Mutter-Tochter-Theorie“, nach der die obligatio als die Mutter und die actio als die Tochter angesehen wurde. In dieser Theorie findet man den Ansatz der Trennung von Recht und Durchsetzung des Rechts. Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 485 sowie die Klagerechtstheorie von Savigny in: System des heutigen römischen Rechts, Bd. V, S. 5 ff.; Hessel­ berger, Streitgegenstand, S. 72 ff. 125 Das bildete die gedankliche Grundlage für den Aufbau des materiellrechtlichen Systems und die Trennung von objektivem und subjektivem Recht.

62

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

te.126 Die petitio – anstatt der actio – stellte das prozessuale Ziel des Klägers dar. Obwohl eine petitio – wegen der anhaltenden aktionenrechtlichen Denkweise – in einem langen Zeitraum praktisch häufig von einer bestimmten actio geprägt war, schuf die Schaffung des Begriffs „petitio“ doch die Möglichkeit, das klägerische Begehren und die als rechtlicher Klagegrund verstandene actio allmählich als unterschiedliche Begriffe zu verstehen und zu gebrauchen.127 Nach einer lang dauernden Entwicklung hatten das prozessuale Ziel und der Wille des Klägers endlich die Beschränkungen der actio überwunden. Von nun an galt das klägerische Begehren als Grundlage des prozessualen Verfahrens und des Urteils – das klägerische Begehren sollte stets vom Richter beachtet werden.128 II. Die Aufspaltung des Aktionensystems im materiellen Recht und Prozessrecht Die Auflösung des Aktionenrechtssystems hatte dazu beigetragen, dass die materiell­rechtlichen und die prozessrechtlichen Elemente sich allmählich gegenüber dem ursprünglichen einheitlichen Rechtssystem verselbständigten. Diese Tendenz stellte die damalige Rechtswissenschaft vor die Aufgabe, die ihrer Natur nach unterschiedlichen Rechtsmaterien voneinander zu unterscheiden und dadurch das eigenständige Zivil- und Prozessrechtssystem zu entwickeln. Die gemeinrechtlichen Juristen hatten bemerkt, dass die Zivil- und die Prozessrechtswissenschaft sich im Hinblick auf die Methode, den Zweck und den Inhalt voneinander unterschieden.129 Diese wissenschaftliche Aufspaltungstendenz war in der Literatur130 immer offensichtlicher und führte in der Neuzeit dazu, dass einerseits die Pandekten als systematisiertes Zivilrecht entstanden und andererseits selbständige Lehrbücher und Monographien zum Zivilprozessrecht und zu prozes­sualen

126 Vgl.

Kaufmann, JZ 1964, S. 484. nachherige Entwicklung hat bestätigt, dass das Begehren des Klägers mit dem anzuwendenden materiellen Recht nicht identisch war. Dieser Gedanke war insbesondere in den Fällen von Bedeutung, in denen derselbe klägerische Zweck von mehreren actiones unterstützt werden konnte. 128 Das wurde als Grundsatz anerkannt und ging in den Jüngsten Rechtsabschied (JRA) von 1654 ein. Danach trug der Kläger lediglich ein durch Tatsachenvortrag begründetes Begehren an das Gericht heran. Dieser Grundsatz hat – zusammen mit dem Grundsatz iura novit curia – die Aufgabeeinteilung zwischen dem Richter und den Parteien in der Neuzeit gegründet. Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 487 f. 129 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 68. 130 Diese Tendenz fand ihren Niederschlag insbesondere in dem Phänomen, dass die Prozessrechtswissenschaft sich nach und nach von der Wissenschaft des materiellen Rechts verselbständigte, welche die Glossatoren aus den Stoffen im römischen Recht entwickelt hatten. Schon im 12. Jahrhundert entwickelte sich eine juristische Literaturart (die ordines), die das Prozessrecht systematisch darstellte. Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 484; Landau, in: Der Einfluss der Kanonistik, Bd. I, S. 7 ff. 127 Die

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

63

Problemen erschienen.131 Die Trennung des materiellen Rechts vom Prozessrecht im Bereich der Gesetzgebung bahnte sich seit dem 15. Jahrhundert an132 und wurde dann durch einige wichtige Gesetzgebungswerke im 18. und 19. Jahrhundert institutionalisiert.133 III. Die Aufspaltung von materiellrechtlichem Anspruch und Klagerecht Die gemeinrechtlichen Zivilrechtslehrer und Prozessualisten entwickelten aus dem aufgelösten Aktionensystem die Begriffe des „materiellrechtlichen Anspruchs“ und des „Klagerechts“. Die Pandektisten waren in ihrer Forschung über die privatrechtliche Wirkung der actiones zu dem Ergebnis gelangt, dass die unterschiedlichen actiones grundsätzlich einen gemeinsamen Kern haben, nämlich: „von jemandem etwas verlangen“.134 Damit war der Begriff des materiellrecht­ lichen Anspruchs geboren. Im Zuge dieser Entwicklung wurde im Bereich des Zivilrechts allmählich ein Rechtssystem von materiellen Ansprüchen aufgebaut und zugleich das seit Langem vorherrschende aktionenrechtliche Denken abgeschafft.135 Die Herauslösung der materiellrechtlichen Elemente aus der actio und ihre Zusammenfassung in dem Begriff des materiell­rechtlichen Anspruchs waren eine wichtige Entwicklung des Zivilrechts und ermöglichten es, die restlichen Elemente der actio zu entdecken, zu erforschen und zusammenzufassen. Die Untersuchung der Natur und des Inhalts des Rechts auf Rechtsverfolgung galt als die erste Aufgabe der selbständigen Prozessrechtswissenschaft. In der Geschichte der Dog 131 Zum Zivilrecht z. B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I–III, 1862–1870; Dernburg, Pandekten, Bd. I–III, 1884–1887; von Wächter, Pandekten, Bd. I–II, 1880–1881. Zum Prozessrecht z. B. von Seuffert, Kommentar zur Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich, 7. Aufl., 1895; Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses, Bd. I–IV, 2. Aufl., 1804; von Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung, Bd. I–VI, 1864–1874; Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 1861; Muther, Zur Lehre von der Römischen Actio, dem heutigen Klagerecht, der Litiscontestation und der Singularsuccession in Obligationen, 1857; Bülow, Die Lehre von den Process­ einreden und die Processvoraussetzungen, 1868; Degenkolb, Einlassungszwang und Urteilsnorm, 1877; Schmidt, Die Klageänderung, 1888. Daher lässt sich behaupten, dass die deutsche Prozessrechtswissenschaft und ihre Dogmatik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet wurden. 132 Vgl. die Reichskammergerichtsordnungen von 1495, 1496, 1500 usw. sowie die Literatur in: Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, S. 21. 133 Vgl. die preußische AGO (1793) und das preußische ALR (1794); die österreichische AGO (1781) und das österreichische ABGB (1811); den Code civil (1804) und den Code de procédure civile (1806) in Frankreich; Kaufmann, JZ 1964, S. 487. 134 Vgl. das bahnbrechende Werk von Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts: vom Standpunkt des heutigen Rechts, 1856. Er fasste die materiellrechtlichen Elemente der actio zusammen und eliminierte die Verfolgbarkeit aus der actio, um den Begriff des rein materiellrechtlichen Anspruchs zu bilden. 135 Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 488.

64

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

matik wurden die zivilistische Klagetheorie (Savigny), die publizistische Klagetheorie (Degenkolb und Plósz) und die Lehre vom Rechtsschutzanspruch (Wach, Hellwig und Bülow) nacheinander entwickelt.136 IV. Bewertung dieser Entwicklung Wie die obige Darstellung gezeigt hat, wurden das materielle Recht und das Prozessrecht im gemeinen Recht nach und nach gedanklich, inhaltlich und institutionell getrennt. Diese Entwicklungstendenz hat die Konstruktion des materiellen Rechts und Prozessrechts und das Verhältnis zwischen beiden Rechtsgebieten in unserer Zeit stark beeinflusst. Damit hat sich auch die Konstellation der Entstehung und Lösung des Konkurrenzproblems und des Streitgegenstandsproblems im gemeinen und heutigen Recht geändert.

C. Der Begriff des „Anspruchs“ im gemeinen Recht und die Instabilität seines Inhalts Das Wort „Anspruch“ bedeutet – seinem ursprünglichen Sinne nach – das klägerische Verlangen oder Begehren gegenüber dem Beklagten. Anders gesagt verwies man mit dem Wort „Anspruch“ im ursprünglichen Sprachgebrauch auf nichts anders als den prozessualen Anspruch. Dies änderte sich, als die Gelehrten im späten gemeinen Recht den Begriff des materiellrechtlichen Anspruchs entwickelten und in der Literatur etablierten.137 Der Begriff des materiellrechtlichen Anspruchs weist auf den materiellen Inhalt des Verlangens, das ein Rechtssubjekt von einem anderen Rechtssubjekt einfordert. Der Inhalt des materiellrechtlichen und des prozessualen Anspruchs können im selben Fall unterschiedlich sein: Der materiellrechtliche Anspruch wird durch einige Tatbestandsmerkmale und die entsprechende Rechtsfolge bestimmt, während der Inhalt des prozessualen Anspruchs von der vom Kläger beanspruchten Prozessfolge und dem Sachverhalt abhängt. In der Literatur des späten gemeinen Rechts wurden der materiellrechtliche und der prozessuale Anspruch noch nicht begrifflich differenziert. Dement­sprechend war mit dem Anspruchsbegriff manchmal der Anspruch im materiellrechtlichen 136 Solchen Lehren kann hier nicht konkret nachgegangen werden. Einen Überblick dazu findet man in Hesselberger, Streitgegenstand, S. 72 ff., 96 ff., 101 ff.; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, 68 f., 85 f. (insbesondere der Gegensatz zwischen Windscheid und Theodor Muther); Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 3, Rn. 5 ff. 137 Vgl. das epochemachende Werk von Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts. Jauernig bezeichnet die Trennung des materiellrechtlichen Anspruchs von seiner gerichtlichen Verwirklichung als die „Emanzipation des Prozessrechts aus den Fesseln zivilistischen Denkens“. Vgl. Jauernig, Das fehlerhafte Zivilurteil, S. 1. Die Schaffung des Begriffs des materiellrechtlichen Anspruchs war ein wichtiges Ergebnis in einem Prozess, der das aktionenrechtliche Denken allmählich beseitigte und das Zivilrecht verselbständigte.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

65

Sinne, manchmal das Begehren des Klägers in einem Prozess gemeint. Die exakte Bedeutung ergab sich in der damaligen Literatur erst aus dem Kontext.138 Das geschichtliche Phänomen, dass der Inhalt eines Rechtsbegriffs instabil war, zeigte sich auch bei den Begriffen „actio“, „obligatio“ und „Klagerecht“.139 Dies war die natürliche Konsequenz der damaligen unterentwickelten Rechtstheorie. Im Zuge der allmählichen Trennung des Zivil­rechts vom Prozessrecht im späten gemeinen Recht wurde der Begriff „Anspruch“ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht. Aber die begriffliche Unterscheidung (nämlich als „materieller Anspruch“ und „prozessualer Anspruch“) war erst möglich, als sich die beiden Rechtssysteme theoretisch und institutionell jeweils verselbständigt und voneinander getrennt hatten. Die Instabilität der Bedeutung des Anspruchsbegriffs war ein typisches Phänomen im Übergangsstadium vom einheitlichen Aktionensystem zum Dualismus von materiellem Recht und Prozessrecht.

138 Hierzu die Ausführungen der damaligen Gelehrten, in denen der Begriff „Anspruch“ im prozessualen Sinne gebraucht wurde. Die Darstellung von Dernburg: „Die Ansprüche charakterisieren sich durch den Leistungsgegenstand; sie enthalten ein bestimmtes Begehren. Die Rechte individualisieren sich vorzugsweise nach ihrem Entstehungsgrund. Derselbe Anspruch kann auf verschiedenen Klagegründen […] beruhen.“ (Dernburg, Pandekten, Bd. I, 7. Aufl., S. 87); die Darstellung von Windscheid: „Die Einrede der abgeurteilten Sache wird dadurch nicht ausgeschlossen, daß der in dem früheren Prozeß vorgebrachte Anspruch gegenwärtig unter Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes, unter Berufung auf einen anderen Rechtssatz, wieder vorgebracht wird. Indem entschieden ist, daß ein Anspruch nicht begründet sei, ist entschieden, daß er überhaupt, nicht bloß, daß er nach diesem oder jenem rechtlichen Gesichtspunkt nicht begründet sei.“ (Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, 9. Aufl., S. 654); die Darstellung von Eisele: „Danach scheint es geboten zu sein, statt des Begriffes Obligation […] einen weiteren Begriff zu verwenden, welcher außer der Obligation auch das aus einem dinglichen Recht durch Verletzung desselben erzeugte Recht gegen den Verletzer umfaßt […] wir müßten daher das Wort Anspruch im doppelten Sinne gebrauchen. In einem mehr formellen, rein juristischen Sinne hätten wie ebenso viele Ansprüche als actiones, in ökonomischer Auffassung dagegen nur einen Anspruch einen Activ- resp. Passivposten.“ (Eisele, AcP 79, S. 332.) 139 Wenn die damaligen Gelehrten das Mutter-Tochter-Bild von obligatio und actio bemühten, bedeutete die obligatio normalerweise die konkrete materiellrechtliche Norm und die actio die aufgrund der obligatio vorgenommene prozessuale Verfolgung oder einfach die ­petitio. Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 485. Die actio wurde auch häufig verwendet, um eine konkrete Norm zu bezeichnen. Die obligatio bedeutete gelegentlich die abstrakte rechtliche Grundlage eines Falles. Vgl. Eisele, AcP 79, S. 331. Das Wort „Klagerecht“ bedeutete unter einigen Juristen die prozessuale Verfolgung eines Rechts im abstrakten Sinne; andere Juristen verstanden darunter die Befugnis, durch Klage ein konkretes materiellrechtliches Recht zu behaupten. Es wurde auch gebraucht, um das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz zu beschreiben. Vgl. ­Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. V, S. 5 ff.; Eisele, AcP 79, S. 331; Degenkolb, Einlassungszwang und Urteilsnorm, S. 31 ff.

66

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

D. Der Grundsatz iura novit curia im gemeinen Recht und seine Bedeutung Die Formel iura novit curia ist bislang in den römischen Rechtsquellen nicht nachgewiesen worden. Sie und auch das Sprichwort da mihi facta, dabo tibi ius sollen, so die Forschung, nicht dem corpus iuris entnommen, sondern von den Glossatoren geprägt sein.140 Bereits im klassischen römischen Recht hatte der Richter die Befugnis, durch die Erteilung einer actio das im Prozess anzuwendende Recht festzulegen.141 Im justinianischen Prozessrecht durfte der Kläger keine actio in der Klageschrift anführen – der Richter sollte aufgrund des klägerischen Begehrens und der Tatsachen das geeignetes Recht finden und anwenden.142 Im gemeinen Recht besagte das iura novit curia – in seiner ursprünglichen Bedeutung – so viel wie: „Die Gerichte hätten mit all ihren Beisitzern den romanischen und kanonischen Rechtsstoff von Amts wegen zu kennen, während die ‚Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten der Fürstentümer, Herrschaften und Gerichte‘ (also auch der Gerichtsgebrauch) nur dann von ihnen beim Urteil zu berücksichtigen waren, wenn letztere ‚vor sie gebracht würden‘“.143 Das heißt, das Sprichwort iura novit curia war am Anfang nur eine Anweisung für die Aufteilung der Verantwortlichkeit zwischen den Parteien und dem Richter, in den unterschiedlichen Rechtsquellen das für den konkreten Fall geeignete Recht zu finden und in den Prozess einzuführen. Dieser Satz durchlief dann im gemeinen Recht allmählich einen Bedeutungswandel.144 Danach besagte er, dass der Richter die ausschließ­ 140 Iura novit curia dürfte auf den folgenden Satz im kanonischen Recht zurückgehen: „iuris probationes apud nos necessariae non existunt“ (in: C. 44X de appell. 2, 28.). Vgl. Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 3. Aufl., S. 178 f.; Schwander, FG Schönenberger, S. 199; Wiegand, FS Kellerhals, S. 128 f. Es wird auch versucht, den Spruch iura novit curia auf das altrömische prätorische Edikt zurückzuführen, „das den Richter nicht nur anwies, das geltende Recht von Amtes wegen zu beherrschen, sondern ihn auch ermächtigte, es in einem gewissen Umfang selber weiterzubilden, also zu schaffen“. Vgl. Müller, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 91, S. 91. 141 Zwar konnte der Kläger vor dem Prätor die Erteilung einer bestimmten actio beantragen, aber dies hatte für den Prätor nur den „Charakter eines Vorschlags, einer Bitte“. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 35. 142 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 65. 143 So die Darstellung in der Reichskammergerichtsordnung von 1495. Vgl. Weiß, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanische Abt.) 33, S. 239, Fn. 4. „Vor den Richter bringen“ bedeutete nach Stölzel nicht etwa bloß, „daß die Partei auf das Partikularrecht sich dem Gericht und dem Gegner gegenüber berufen soll, damit das Gericht nach der Existenz dieses Rechtes forsche“, sondern „daß sie es auch beweisen soll“. Daher war die Natur des Partikularrechts factum und nicht ius. Vgl. Stölzel, Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung, S. 79. Vgl. auch die Darstellung von Wetzell: Obschon die Rechtssätze (in einem bestimmten historischen Zeitraum) „in einem weiteren Sinne Thatsachen zu nennen sind, werden sie doch den rechtserzeugenden Thatsachen entgegengesetzt, und nach der Regel ‚Jura novit curia‘ als dem Richter bekannt angenommen“. Vgl. Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 3. Aufl., S. 179. 144 Vgl. Bayer, Vorträge über den deutschen gemeinen Civilprozeß, S. 682. Die praktische Durchsetzung dieser neuen Tendenz verlief aber in der Geschichte nicht so reibungslos. Vgl.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

67

liche Macht besitzt, den Fall rechtlich zu qualifizieren und zu würdigen sowie die Norm auszulegen und anzuwenden.145 Es ist jedoch hervorzuheben, dass diese neue Bedeutung von iura novit curia erst in der Spätzeit des gemeinen Rechts geschaffen und in der Rechtspraxis durchgesetzt wurde.146 Eine der grundlegenden Ursachen dieses Bedeutungswandels liegt darin, dass die Stellung des damaligen Richters – im Zuge des andauernden Wachsens der Staatsgewalt – deutlich gestärkt wurde.147 Die immer wichtigere Rolle des Richters im Verfahren forderte, dass er die Befugnis besaß, den Sachverhalt selbst rechtlich zu würdigen und das geeignete Recht zu suchen. Nach einer langwierigen Entwicklung verfügte das gemeine Recht allmählich über die Voraussetzungen, die richterliche Gewalt entsprechend auszuweiten. Das wird insbesondere durch die folgende drei Punkte verdeutlicht: Erstens ermöglichten die Zusammenfassung des Rechtsstoffes in den amtlichen und privaten Sammlungen und die theore­ tischen Bemühungen zur Systematisierung der zivilen Rechte es dem Richter, das für den konkreten Fall passende Recht zu finden.148 Zweitens eroberten die gelehrKaufmann, JZ 1964, S. 486 f. Die Einzelheiten dieser Wandlung sind in der rechtshistorischen Untersuchung bislang noch offengeblieben. 145 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 71, 78, 82; Kaufmann, JZ 1964, S. 487 f. Zur ursprünglichen Bedeutung vgl. beispielsweise Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, 9. Aufl., S. 91; zur neuen Bedeutung vgl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, 9. Aufl., S. 75. Zwar bleibt seine ursprüngliche Bedeutung noch teilweise im modernen Prozessrecht erhalten, sie erscheint jedoch – im Vergleich mit der neu zugewiesenen Bedeutung – nicht so relevant. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 111, Rn. 14. 146 Das aktionenrechtliche Denken der Römer dauerte weitgehend in der Rechtstheorie und Rechtspraxis des Mittelalters fort. Der Zwang auf den Kläger, durch die Angabe eines nomen actionis sich selbst und das Gericht auf einen bestimmten Rechtssatz festzulegen, hinderte den Richter, andere rechtliche Gesichtspunkte zu prüfen und anzuwenden. Die Begründung des Grundsatzes iura novit curia als ein Erfolg der Rechtsentwicklung kam erst später im gemeinen Recht vor. Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 484 ff.; Löwisch, historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 43 ff. Schon nach dem Jüngsten Reichsabschied (JRA) von 1654 wurde der Kläger davon entbunden, sich in seiner Klage auf eine bestimmte actio festzulegen. Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 487; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 71. Nach der Regelung der AGO im Jahr 1793 war der Richter befugt, andere als die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche zu suchen. Der Richter sollte aber in diesem Fall „die Sache nach dem veränderten Gesichtspunkt hin mit den Parteien so erörtern, daß er auch ‚über den während des Laufes der Instruktion zum Vorschein gekommenen anderweitigen Anspruch des Klägers ein Endurteil abfassen‘ konnte“. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 76. 147 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 4, Rn. 13; Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 101; Planitz/Eckhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 111; Schwerin/Thieme, deutsche Rechtsgeschichte, S. 98; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 197. Eine weitere Ursache liegt darin, dass der Aufbau des gemeinen Rechts vom germanischen Rechtsgedanken deutlich beeinflusst wurde, nach welchem die Parteien keine Pflicht haben, das anzuwendende Recht in den Prozess einzuführen. Insofern einerseits die Parteien – nach dem Gedanken der Germanen – diese Pflicht nicht hatten und andererseits der Richter – nach der Entwicklungstendenz im Mittelalter – die rechtsanwendende Befugnis besaß, entstand der Grundsatz iura novit curia im gegenwärtigen Sinne. 148 Vgl. Weiß, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte(Romanische Abt.) 33, S. 239; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 488 ff.

68

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

ten Juristen nach und nach alle Zweige der Rechtsanwendung, womit die Qualität der Rechtsprechung stark erhöht werden konnte.149 Drittens entwickelte sich im Mittelalter die Rechtswissenschaft, sodass die theoretische Unterscheidung von ius und factum sich endlich durchsetzen konnte.150, 151 Zwar galt schon im klassischen römischen Recht das iura novit curia,152 es war aber in dem damaligen Rechtssystem nicht so relevant. Der Grund dafür war, dass der Prozess und das in diesem Prozess angewandte Recht im Aktionensystem eng miteinander verbunden waren. Im nachklassischen Recht und insbesondere im gemeinen Recht waren die Umstände jedoch stark verändert. Die Tendenz der Aufspaltung von Prozessrecht und materiellem Recht wurde nach und nach immer deutlicher. Dadurch trat das Rechtsphänomen, dass vom Kläger mehrere miteinander konkurrierende Rechte in einem Verfahren verfolgt wurden, immer häufiger auf.153 Die Erweiterung der richterlichen Macht ermöglichte es, diese offensichtlich schwierigen Fälle mit Hilfe des in seiner Bedeutung gewandelten Grundsatzes iura novit curia zu lösen. Zwar war das iura novit curia mehrdeutig, der Schwerpunkt seiner Bedeutung lag aber von jener Zeit an darin, dass der Richter die Pflicht und Befugnis hatte, bei der Behandlung der Fälle das Recht oder die Rechte zu finden und anzuwenden, während die Parteien nicht weiter verpflichtet waren, ihre rechtlichen Ansichten in den Prozess einzubringen.154 Der Richter konnte selbst entscheiden, welche Norm angewandt und wie sie angewandt wurde, während die Parteien die richterliche Rechtswürdigung grundsätzlich nicht beeinflussen konnten.155 149 Vgl. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 344 ff.; Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 329. 150 Vgl. Broggini, AcP 155, S. 477. Dieser Punkt war von entscheidender Bedeutung: Das materielle Recht war danach System der Rechte, deren Anwendung und Auslegung die Aufgabe des Richters waren; nach der Verhandlungsmaxime sollten die Parteien die tatsächliche Grundlage für die richterliche Entscheidung, aber nicht etwas Rechtliches vorbringen. 151 Ein anderer Grund für diesen Bedeutungswandel liegt vielleicht in der Rezeption des römischen Rechts. Im Verlaufe des 15. und 16. Jahrhunderts wurde das justinianische Recht in Deutschland rezepiert. Die oben erwähnten Ansätze des justinianischen Rechts, nämlich die Aufspaltung von materiellem Recht und Prozessrecht und die verstärkte Rolle des Richters im justinianischen Prozess, haben in gewissem Sinne zur Begründung des Grundsatzes iura novit curia im gemeinen Recht beigetragen. Vgl. den Überblick über das justinianische Recht oben Kapitel 2 G. 152 Im klassischen römischen Recht bedeutete er nur, dass das Gericht die Rechtssätze kannte. Vgl. Creifelds Rechtswörterbuch, S. 254. Dagegen Weiß, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte(Romanische Abt.) 33, S. 239; Stürner, FS Weber, S. 590. 153 Die Entwicklung des materiellen Rechts, insbesondere die Vermehrung der materiellrechtlichen Ansprüche, hatte auch dazu beigetragen. 154 Das Gericht folgte grundsätzlich der Regel, alle anwendbaren Normen heranzuziehen, auch wenn sie von den Parteien nicht benannt wurden. Vgl. Müller, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 91, S. 43. 155 Das Gericht konnte dem Klageantrag aus einem anderen Rechtsgrund als dem vom Kläger vorgebrachten stattgeben. Vgl. die Bedeutung von iura novit curia in: Tilch (Hrsg.), Deutsches Rechtslexikon, S. 2375; Creifelds Rechtswörterbuch, S. 627. Vgl. auch die Bedeutung von da mihi factum, dabo tibi ius, in: Creifelds Rechtswörterbuch, S. 254.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

69

Dieser im gemeinen Recht gewonnene neue Sinne des Grundsatzes iura novit curia ist für die Prozessrechtstheorie und gerichtliche Praxis bis heute von tiefgreifender Bedeutung. Die Verteilung der Aufgaben zwischen Richter und Parteien im modernen Sinne wird dadurch festgelegt: Die Suche und Anwendung des Rechts ist Aufgabe des Richters;156 die Aufgabe, die tatsächliche Grundlage für das Urteil zu schaffen, ist entweder nach der Verhandlungsmaxime den Parteien oder nach der Inquisitionsmaxime dem Richter zuzuweisen.157 Der Grundsatz iura novit curia ermächtigt den Richter, den ganzen Sachverhalt eines Falles umfassend zu qualifizieren, alle möglichen rechtlichen Gesichtspunkte zu finden und schließlich eine Rechtsnorm oder mehrere Rechtsnormen anzuwenden. Daher war seine Anwendung im gemeinen Recht ein Ansatz, den Fall durch einen Prozess umfassend rechtlich zu behandeln und den Streit zwischen beiden Parteien möglichst ein für alle Mal zu lösen. Zudem ist er auch ein Grundstein des modernen Rechts­ instituts der „richterlichen Aufklärungs­pflicht“ (§ 139 ZPO): Nur wenn der Richter den Sachverhalt nach allen möglichen rechtlichen Gesichtspunkten würdigen kann, kann er den Parteien helfen, ihren Sachverhalts­vortrag zu ergänzen und ihren Antrag zu ändern.158 Die Bedeutung dieses Grundsatzes in der Geschichte und Gegenwart soll daher nicht unterschätzt werden.159 Trotzdem ist darauf hinzu­ weisen, dass das iura novit curia erst durch die Polemik zwischen den Anhängern der Substantiierungs- und der Individualisierungstheorie in der Neuzeit seine zentrale Stellung eingenommen hat.160

E. Das Konkurrenzproblem im gemeinen Recht Wegen der langen Geschichte des Streitgegenstandes und der Vielfalt des Quellenstands erscheinen die Darstellungen des Konkurrenzproblems im gemeinen Recht unsystematisch, veränderlich und sogar häufig kontrovers. Trotzdem war eine grundlegende Entwicklungstendenz erkennbar. In einer langen historischen Periode herrschten das aktionen­rechtliche Denken und das Aktionen­system im gemeinen Recht, weshalb der römisch-rechtliche Grundansatz zur Aktionen­ konkurrenz führte. Erst im späten gemeinen Recht wurde anstatt des Begriffs der 156 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 9, § 132, Rn. 34 f.; Schilken, ZPR, Rn. 346. 157 Daher kann iura novit curia – im Vergleich mit der Verhandlungsmaxime (oder Inquisitionsmaxime) und der Dispositionsmaxime als Grundsatz für die Freiheit und Pflicht der Parteien – als Grundsatz für das richterliche Verhalten im Prozess angesehen werden. Vgl. Siegert, AcP 155, S. 44, insbesondere die Darstellung über die Gültigkeit dieses Grundsatzes in vielen Staaten in Fn. 91; Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß, S. 18. 158 Vgl. unten Kapitel 13 C. III.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 77, Rn. 25. 159 Dazu die Behauptung von Otto Müller: „Iura novit curia, ein hohes und ernstes Gebot für den Richter, eine Verheissung, ja ein Trost für den Rechtsuchenden, der sein ganzes Vertrauen in die rechtlichen Kenntnisse des Richters setzt.“ Müller, S. 58. 160 Vgl. unten Kapitel 10 B. I. 2. und Kapitel 13 C. III. 1.

70

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

„Aktionenkonkurrenz“ der Begriff der „Klagenkonkurrenz“ verwendet. Diese Begriffswandlung bedeutete aber nicht die Überwindung der aktionenrechtlichen Denkweise beim Konkurrenzproblem.161 Erwähnenswert ist, dass später eine generelle Klassifizierung der Klagenkonkurrenzfälle entwickelt wurde, in der insbesondere der „elektiven Konkurrenz“ Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Unter „elektiver Klagenkonkurrenz“ verstand man diejenige Form, „bei der der Berechtigte unter mehreren konkurrierenden Klagen eine wählen konnte, nach deren Erhebung aber die übrigen ausgeschlossen waren“.162 Von entscheidender Bedeutung in der Konkurrenzlehre ist die Schaffung des Begriffs „materieller Anspruch“.163 Nach dem im späten gemeinen Recht entwickelten materiellrechtlichen Denken ging es in dem mit dem Stichwort „Konkurrenz“ bezeichneten Problem um die Konkurrenz der materiellen Ansprüche und nicht mehr um die actiones oder die Klagerechte. Diese tiefgreifende gedankliche Änderung bedeutete die „Verlagerung des Konkurrenzproblems vom prozessualen in das materielle Recht“.164 Danach lag sein Schwerpunkt nicht mehr auf der formalen, sondern auf der inhaltlichen Seite der Klage.165 Noch heute wird weitgehend anerkannt, dass die Anspruchskonkurrenz ein Rechtsphänomen im Bereich des Zivilrechts ist.166 Zur Erfassung der Klagen- oder Anspruchskonkurrenz wurden in der ge­ meinrechtlichen Lehre unterschiedliche Kriterien entwickelt. Auffällig war die Kontroverse über die Kriterien der „elektiven (oder: echten) Konkurrenz“. Wie oben erwähnt, handelte es sich bei der sog. „elektiven Konkurrenz“ um die Fälle, in denen die aus unterschiedlichen Klagerechten oder Normen hergeleiteten Forderungen des Klägers nicht zusammen erfüllt werden sollten. Nach langer Auseinandersetzung einigten sich die damaligen Gelehrten auf zwei Kriterien für diesen Konkurrenzfall: die Gleichheit der Personen auf der Gläubiger- sowie auf der Schuldnerseite und die Identität der juristischen Gegenstände oder Zwecke.167 Insbesondere der letzte Gesichtspunkt entschied, ob eine Klage zu der anderen im Verhältnis der Ausschließlichkeit stand. Hierbei war eine teleologische Denk 161 Unter Klagenkonkurrenz verstanden die damaligen Gelehrten das Rechtsphänomen, dass viele miteinander konkurrierende Klagen dem Berechtigten zur Verfügung standen. Daher lag der Schwerpunkt dieses Problems noch auf prozessualer Ebene. 162 Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 21. 163 Vgl. Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts. 164 Vgl. Georgaides, Anspruchskonkurrenz, S. 31. 165 Nach diesem Gedanken konkurrierten in den Konkurrenzfällen eigentlich die materiellrechtlichen Ansprüche miteinander, nicht die Klagen. 166 Ob dieses Problem aus zivilrechtlicher oder prozessrechtlicher Sicht zu lösen ist, ist aber eine andere Frage. Eine hitzige Debatte hierüber fand in der Zivil- und Prozessrechtswissenschaft der Neuzeit statt. Dazu vgl. unten Kapitel 7. 167 Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 22 ff., insbesondere S. 24, Fn. 14. Im Gegensatz zum römischen Recht setzte die Konkurrenz im späten gemeinen Recht nicht mehr denselben Klagegrund (causa) voraus. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 77. Ganz gleich, ob die Entstehungsgründe der Klagen (Ansprüche) gleich oder unterschiedlich waren, wurde eine Konkurrenz angenommen, wenn durch diese Klagen (Ansprüche) dasselbe Klageziel verfolgt wurde.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

71

weise offensichtlich. Die damaligen Juristen sahen von den formalen Unterschieden der actiones oder Klagerechte ab und legten das Gewicht auf die Identität der durch solche Klagen zu verfolgenden rechtlichen oder wirtschaftlichen Zwecke des Klägers.168 Die Lösungen des Problems der echten Konkurrenz (bzw. der Konkurrenz in engerem Sinne) waren in unterschiedlichen Perioden des gemeinen Rechts unterschiedlich. Zuerst wurde der Lehre der Solutionskonkurrenz des justinianischen Rechts gefolgt.169 Der Kläger konnte die Klagen eine nach der anderen erheben, bevor er sein klägerisches Ziel durch einen gerichtlichen Prozess erreichte. Danach wurde aber ein gegensätzlicher Gedanke entwickelt: Wenn der Kläger eine Klage erhoben hatte, konnte er nachher keine mit ihr konkurrierende andere Klage mehr einreichen, ganz egal, ob sein Wunsch durch das Urteil des ersten Verfahrens erfüllt wurde.170 Nach der Einführung des Anspruchsbegriffs wurde allmählich anerkannt, dass nicht die Klagen, sondern die materiellrechtlichen Ansprüche unter bestimmten Umständen in Konkurrenz zueinander stehen konnten. Daher wurde die Ausschlusswirkung in den Konkurrenzfällen geändert: Wenn ein Anspruch geltend gemacht wurde, konnten die mit ihm konkurrierenden anderen Ansprüche nicht in demselben oder in einem anderen Prozess geltend gemacht werden. Nach der Entstehung des Grundsatzes iura novit curia sollten alle anwendbaren Ansprüche zu einem Rechtsstreit möglichst in einem Prozess geprüft werden.171 Deswegen verdrängte der Prozess, in dem ein Anspruch verfolgt wurde, andere nachfolgende Prozesse, in denen Ansprüche verfolgt wurden, die mit dem im ersten Prozess verfolgten Anspruch konkurrierten.172 Daher kann man in der späten Entwicklung der gemeinrechtlichen Konkurrenzlehre Ansätze zum modernen Rechtskraftgedanken erblicken.173 Die Befriedigung des Klägers war nicht mehr das höchste Ziel der Prozessrechtsordnung; die Meinung, dass die Autorität des Gerichts und die Kraft des Urteils zu wahren sei, dominierte.174 Obwohl keine sys-

168 Vgl.

Hesselberger, Streitgegenstand, S. 76. Dieser Gedanke der Solutionskonkurrenz stand aber offensichtlich nicht in Einklang mit dem modernen Rechtskraftgedanken. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 89. 169 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 76, 89. 170 Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 22 f. 171 Von tiefgreifender Bedeutung in der gemeinrechtlichen Konkurrenzlehre war die Geltung des Grundsatzes iura novit curia. Durch ihn wurde es ermöglicht, das Konkurrenzproblem in einem Prozess befriedigend zu lösen. 172 Konkreter gesagt verdrängten die Durchführung und das Beenden eines Prozesses (durch das Urteil) die Durchführung anderer Prozesse, in denen dasselbe Ziel wie im ersten Prozess verfolgt wurde. 173 Zu der Bedeutung von iura novit curia in der Problematik der Anspruchskonkurrenz im gemeinen Recht vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 77 f., 82. 174 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 71.

72

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

tematische und vollständige Konkurrenzlehre entwickelt wurde, gab es schon im gemeinen Recht in vielerlei Hinsicht Ansätze zur modernen Lehre.175

F. Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Recht Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff „Streitgegenstand“ in der juristischen Literatur verwendet.176 Jedoch findet man niemals eine detaillierte und systematische Darstellung über das Streitgegenstandsproblem in der Zeit des gemeinen Rechts. Zwar ist die deutsche Prozessrechtswissenschaft seit ihrer Geburt von der Suche nach der Bildung von abstrakten Begriffen und einem einheitlichen System gekennzeichnet, die damalige Lehre ging aber die mit dem Streitgegenstand zusammenhängenden prozessualen Probleme kasuistisch an.177 Der Grund ist hauptsächlich darin zu sehen, dass eine dogmatisch saubere Lehre vom Streitgegenstand wegen der damaligen Entwicklungsstufe der Prozessrechts­ wissenschaft noch undenkbar war. Trotzdem kann man durch die Untersuchung einiger Prozessrechtsinstitute als Bewährungspunkte des Streitgegenstandsproblems ermitteln, welche Fortschritte das gemeine Recht gemacht hat und in welchen Punkten die gemeinrechtliche Lehre weiterentwickelt werden sollte.178 I. Klageänderung Bevor auf die Zulässigkeit der Klageänderung im gemeinrechtlichen Prozess eingegangen wird, sollen die Form und der Inhalt der Klage jener Zeit kurz dargestellt werden. Abgesehen von der späten Zeit beherrschte das aktionenrechtliche Denken das gemeine Recht. Daher war der Kern einer Klage eine actio im gemeinrechtlichen Sinne, und zwar ein ausgewähltes materielles Recht. Im Prozess wurde diese actio in der Form eines Klaglibells eingeführt.179 Die wesentlichen 175 Die obige Darstellung bietet nur einen grundlegenden Überblick über die Lösung zum Konkurrenzproblem im gemeinen Recht. Die Begriffe wie „actio“, „Klagerecht“ und „Anspruch“ wurden uneinheitlich verwendet und die Ansichten vieler Gelehrten zur Konkurrenz waren folgewidrig. Eine unumschränkt herrschende und dogmatisch saubere Lehre war in jener Zeit undenkbar. 176 Vgl. von Linde, Lehrbuch des deutschen gemeinen Civilprozesses, 6. Aufl., 1843, S. 230 f.; Osterloh, Lehrbuch des gemeinen, deutschen ordentlichen Civilprozesses, Bd. I, 1856, S. 217 f. 177 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 83, 84. Daher war es verständlich, dass die damaligen Lehren zur Klageänderung, Klagenhäufung, Rechtshängigkeit und Rechtskraft in vielerlei Hinsicht widersprüchlich waren. Der innere Zusammenhang zwischen solchen prozessualen Rechtsinstituten wurde damals noch nicht gut erkannt. 178 Eine systematische und in Einzelheiten eingehende Darstellung dieser Probleme findet man in der gemeinrechtlichen Literatur nicht. Sie wurden vielmehr von den damaligen Juristen nur gelegentlich erwähnt. Daher beschränkt sich die folgende Darstellung auf die Schilderung der allgemeinen Entwicklung in Bezug auf das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Recht. 179 Das Libell war daher „die Erscheinungsform der actio“ im Prozess. Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 46.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

73

Bestandteile des Klaglibells waren das „fundamentum agendi“ und das „petitum“. Unter „fundamentum agendi“ verstand man den Grund der Klage. Es bestand aus dem „fundamentum agendi proximum“ (tatsächlicher Grund) und dem „fundamentum agendi remotum“ (Rechtsgrund). Unter „petitum“ verstand man die Klagebitte oder das klägerische Gesuch. Das „petitum“ bestand ebenfalls aus zwei Teilen, nämlich dem „petitum processus“ und dem „petitum causae“. Das „petitum processus“ bedeutete das Gesuch auf die Einleitung und Durchführung des Prozesses. Das „petitum causae“ entsprach dem Antrag des Klägers auf eine Verurteilung des Beklagten. Beide Teile des „fundamentum agendi“ dienten dazu, jeweils aus rechtlicher und tatsächlicher Perspektive den Anspruch des Klägers zu rechtfertigen.180 Das „fundamentum agendi proximum“ (Vortrag des Sachverhalts) und das „­petitum causae“ (klägerischer Antrag) waren für das Institut der Klageänderung im gemeinen Recht von entscheidender Bedeutung. Sie zählten beide als Kernpunkte des Klaglibells: Das „fundamentum agendi proximum“ zeigte den Grund der Klage und das „petitum causae“ war der Ausdruck des Gegenstandes der Klage. „Da nämlich jede actio ihre Eigenart aus der Verbindung zwischen dem Grund und dem Gegenstand der Klage herleitete, mußten diese beiden Bestandteile in ihrem Verhältnis zueinander unverändert erhalten bleiben, damit die actio ihre Individualität und Identität bewahrte.“181 Änderte sich eines der beiden Elemente, erfuhr die im Prozess behandelte actio eine inhaltliche Änderung; wurde die actio wesentlich geändert, handelte es sich – den gemeinrechtlichen Gelehrten zufolge – um eine Klageänderung.182 Die Zulässigkeit der Klageänderung im späten gemeinen Recht hing davon ab, ob die litis contestatio schon geleistet worden war. Vor der litis contestatio konnte der Kläger nach Belieben sein Klaglibell durch ein anderes ersetzen. Dadurch wurden auch die Klage und die in der Klage enthaltene actio geändert. Diese Art der Klageänderung war zulässig, weil der Beklagte vor der litis contestatio noch kein Interesse an einer Beibehaltung der ursprünglich gestellten Klage hatte.183 Nach der litis contestatio war die Änderung der Klage im Prinzip ausgeschlossen.184 Die 180 Vgl.

Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 46 f. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 49. 182 Die sog. „mutationes“. Aber nicht jede Art der Änderung im Klaglibell bildete im ge­ meinen Recht eine Klageänderung. Im Zuge der Tendenz der Auflösung des Aktionensystems wurden die Verbesserung, Berichtigung und Erklärung zum Klaglibell (die sog. „emendationes“ und „declarationes“) nicht als Klageänderung angesehen. Im Gegensatz zum klassischen römischen Recht, in dem die Klageerhebung die mit einem bestimmten Inhalt geschriebene formular voraussetzte, herrschte im gemeinen Recht in gewissem Umfang der Gedanke der Formfreiheit. Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 46. 183 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 52. 184 Der Grund liegt im Folgenden: Nach der damaligen geltenden Eventualmaxime sollte der Beklagte seine gesamte Verteidigung bis in die kleinsten Einzelheiten vorbringen. Dies setzte voraus, dass die gestellte Klage nach der litis contestatio als Grundlage des Prozesses unverändert blieb. Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 52; Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 60. 181 Vgl.

74

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

Klageänderung war aber ausnahmsweise zulässig, wenn der Beklagte in diese Änderung einwilligte. Zudem wurde eine besondere Art von „Klageänderung“ im gemeinen Recht entwickelt. Der Kläger konnte nach dem Verlust des ersten Prozesses eine andere Klage erheben, wenn die neu gestellte Klage mit der alten Klage nicht im Verhältnis der „echten Konkurrenz“ stand und der Kläger dem Beklagten die ihm durch den bisherigen Prozess verursachten Kosten vergütete.185 „Man stellte nämlich darauf ab, ob der neuen actio die exceptio rei iudicatae aus dem früheren Prozeß entgegenstehen würde, falls die erste actio bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung durchgeführt worden wäre.“186 Dadurch wurde die Ansicht der gemeinrechtlichen Gelehrten zum Rechtskraftproblem im Fall der „Konkurrenz in engerem Sinne“ deutlich: Die zweite actio, die mit der ersten actio in einem Konkurrenzverhältnis stand, wurde von der Rechtskraft des auf die erste actio ergehenden Urteils erfasst; unter diesen Umständen konnte der Kläger nicht mit der zweiten actio in einen neuen Prozess übergehen. Es handelte sich in dieser sog. „Klageänderung“ eigentlich darum, dass der Kläger – um den Erfolg im gerichtlichen Verfahren zu erzielen – von einem Prozess in einen anderen Prozess überging. Daher war sie ihrer Natur nach völlig unterschiedlich von der Klageänderung im heutigen Sinne.187 Das Institut der Klageänderung hat im gemeinen Recht eine starke Veränderung erfahren. Die Regelungen in der Allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten (AGO) können hier als Beispiel dienen. Danach wurde der Wechsel von einem Anspruch zum anderen, der mit dem ersten in einem Konkurrenzverhältnis stand, nicht als Klageänderung angesehen.188 Der Wechsel der Ansprüche innerhalb eines Prozesses war zulässig; der Übergang von einem Verfahren zu einem anderen war nicht mehr nötig, wenn man nur das im Prozess anzuwendende (materiellrechtliche) Recht ändern wollte.

185 Bayer, Vorträge

über den deutschen gemeinen Civilprozeß, S. 550 ff. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 53. 187 Die Klageänderung im heutigen Sinne bedeutet die Änderung des wesentlichen Inhalts der Klage (Änderung des Streitgegenstandes) innerhalb eines Prozesses. Die sog. „Klageänderung“ im gemeinen Recht war – nach moderner Ansicht – vielmehr eine Verbindung von Klagerückname und neuer Klageerhebung. Als Übergang von einer actio zu einer anderen actio ist diese sog. „Klageänderung“ ein gutes Beispiel dafür, dass das gemeinrechtliche Prozessrecht lange von dem aktionenrechtlichen Denken beherrscht wurde. Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 61. Zu der theoretischen Schwierigkeit dieses gemeinrechtlichen Instituts der „Klageänderung“ vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 53 ff.; Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 61 f. 188 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S, 77. 186 Vgl.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

75

II. Klagenhäufung Die gemeinrechtliche Klagenhäufung (oder: cumulatio actionum) bedeutete die Verbindung mehrerer actiones desselben Klägers gegen denselben Beklagten in einem Klaglibell. Infolge der in der historischen Entwicklung gewonnenen Schriftlichkeit des Verfahrens und der Formfreiheit der Klageschrift war das Zusammentreffen mehrerer actiones in einem Verfahren zulässig geworden.189 Wie oben bereits erwähnt, wurde eine Lehre der Konkurrenz in der gemeinrechtlichen Theorie entwickelt. Man unterschied die verschiedenen Formen der Konkurrenz, beispielsweise die „kumulative“, die „elektive“, die „alternative“ und die „eventuelle Konkurrenz“.190 Von besonderer Bedeutung für das Streitgegenstands­problem war die „Konkurrenz in engerem Sinne“, in welchem Fall mehrere ­actiones denselben juristischen oder wirtschaftlichen Zweck verfolgten. Die Fälle, in denen mehrere actiones in engerem Sinne miteinander konkurrierten, kamen in der Zeit des gemeinen Rechts noch häufiger vor als in der römischen Zeit. Im Zuge der Auflösung des Aktionenrechtssystems und der Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens war der Gedanke einer Konkurrenz der Klagen allmählich altmodisch.191 Die Konkurrenz der actiones oder der Klagen ging nach und nach in die Konkurrenz der materiellen Rechte über. Wenn – nach der materiellrecht­ lichen Ordnung – mehrere Ansprüche dem Kläger zur Verfügung standen, war es ungerecht, dass der Kläger – im prozessualen Bereich – nur eine davon in einem Prozess geltend machen konnte. Dies galt auch für die Fälle der „Konkurrenz in engerem Sinne“. Im Vergleich mit den anderen hatten diese Fälle aber ihre Besonderheit. Soweit das gemeinsame Ziel solcher Ansprüche durch die rechtskräftige Entscheidung über einen der konkurrierenden Ansprüche erreicht wurde, wurde die Geltendmachung der anderen Ansprüche ausgeschlossen. Daher war die prozessual gerechte Behandlung der „Konkurrenz in engerem Sinne“ eine Aufgabe der damaligen Juristen.

189 Vgl.

Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 56; Lenze, Von der ­actio zum Streitgegenstand, S. 56. 190 Der Wortgebrauch zu den unterschiedlichen Formen der Konkurrenz war unter gemeinrechtlichen Gelehrten uneinheitlich. Die Fälle, in denen mehrere actiones denselben juristischen oder wirtschaftlichen Zweck verfolgten, wurden von einigen als „elektive Konkurrenz“ bezeichnet und so behandelt, dass solche actiones alternativ oder eventuell in ein Klaglibell gestellt wurden. Unter „elektiver Konkurrenz“ verstanden aber andere die Fälle, in denen der Kläger unter den verfügbaren actiones nur eine wählen und sie ins Klaglibell einführen konnte. Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 21; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 58. Deshalb wird der oben genannte erste Typ der Fälle im Folgenden als „echte Konkurrenz“ oder „Konkurrenz in engerem Sinne“ bezeichnet. Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 57 f. 191 Zu der Entwicklung von der Solutionskonkurrenz über die Klagenkonkurrenz bis zur Anspruchskonkurrenz vgl. oben Kapitel 3 E.

76

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

Es gab nach dem gemeinen Recht im Falle der „Konkurrenz in engerem Sinne“ zwei Möglichkeiten für den Kläger. Er konnte die Ansprüche192 in einem Klag­ libell alternativ kumulieren, von denen nur dem einen oder dem anderen stattgegeben werden sollte. Keiner der Ansprüche hatte Vorrang; dem Kläger war es gleichgültig, mit welchem Anspruch sein Ziel erreicht wurde. Demgegenüber konnte der Kläger die Ansprüche auch miteinander verbinden und in einer bestimmten Rangfolge geltend machen, so dass ein Anspruch nur dann im Prozess behandelt wurde, wenn der Anspruch, der den Vorrang vor ihm hatte, abgewiesen worden war.193 Indem zugelassen wurde, dass die konkurrierenden Ansprüche alternativ oder in einer Rangfolge in einen Prozess eingeführt wurden, tauchte bald die Frage auf, wie viele Ansprüche der Kläger in der Tat in einem Prozess geltend gemacht hatte. Diese Frage war ins­besondere in der Rechtspraxis von Bedeutung, wenn der Kläger zwar nur eine Klagebitte vorgebracht hatte, zu ihrer Erfüllung aber mehrere konkurrierende Ansprüche zur Verfügung standen. Wenn durch das Klaglibell nicht ermittelt werden konnte, ob der Kläger nur einen Anspruch oder doch mehrere Ansprüche (in alternativer oder kumulativer Weise) geltend machen wollte, sollte der Richter dem Kläger vorschlagen, die Klageschrift zu modifizieren. Die Modifikation sollte dazu dienen, den Inhalt und die Summe des Klagegrundes aufzuzeigen. Die Individualität der actiones (Ansprüche) ließ sich durch das zweigliedrige Kriterium festlegen, nämlich die Klagebitte und den Klagegrund. Da im Fall der „Konkurrenz in engerem Sinne“ die juristischen Ziele der konkurrierenden Ansprüche weitgehend dieselben waren, wurde die Individualität solcher Ansprüche hauptsächlich anhand der Unterschiede der Klagegründe dargestellt.194 Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Kläger im Prozess mehrere konkurrierende Ansprüche gestellt hatte, wenn ein identischer Zweck und unterschiedliche Klagegründe im Klaglibell gegeben waren.195 Obwohl die konkurrierenden Ansprüche in einem Prozess geltend gemacht werden konnten, handelte es sich nach der Vorstellung der gemeinrechtlichen Gelehrten in diesem Fall um eine Häufung der Klagen. Die Zulässigkeit der Häufung von 192 Zwar

lehnten sich die actiones im späten gemeinen Recht in der Tat an das materielle Recht an, der Wortgebrauch „actio“ (als Bezeichnung des materiellrechtlichen Anspruchs) wurde aber fortgeführt. 193 Die Eventualhäufung. Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 60. Vgl. auch die Darstellung zur alternativen und eventuellen Kumulation von Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 59. 194 Der Klagegrund bestand aus dem Rechtsgrund (der Norm) und dem tatsächlichen Grund. Der Grund, den der Kläger in seiner Klageschrift zum Ausdruck bringen sollte, war – nach meiner Vermutung – der rechtliche Grund. Denn wenn der Kläger die anzuwendenden Normen nicht kannte, wusste er auch nicht, wie viele konkurrierende Ansprüche er im Prozess geltend machen konnte. In diesem Fall kam dann die Erhebung mehrerer miteinander konkurrierender Ansprüche nicht in Frage. Das Vorbringen des Rechtsgrunds war ein Erfordernis vor der Geltung des Grundsatzes iura novit curia. 195 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 60 f.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

77

konkurrierenden Ansprüchen gründete sich nicht auf die immanente Forderung des Prozessrechts, sondern darauf, den Kläger zu begünstigen. Daher wurden – trotz des einheitlichen Prozesses – so viele Streitgegenstände wie die Summe der geltend gemachten konkurrierenden Ansprüche anerkannt.196 Diese Ansicht war jedoch offensichtlich unhaltbar: In den Fällen, in denen der Richter mehrere konkurrierende Ansprüche für begründet hielt, konnte er den Beklagten nicht mehrmals zu der von dem Kläger begehrten Leistung verurteilen; und in den Fällen, in denen der Richter einen Anspruch für begründet und einen anderen für unbegründet hielt, konnte er nicht gleichzeitig das klägerische Begehren bejahen und verneinen.197 In der damaligen Praxis lehnte der Richter sich nicht an die oben genannte Ansicht an und nahm im Fall einer „Kon­kur­renz in engerem Sinne“ vielmehr einen einheitlichen Streitgegenstand an. „Instinktiv“ hatten die damaligen Juristen den richtigen Weg gefunden.198 III. Rechtshängigkeit Im Gegensatz zum römischen Recht, in dem die „exceptio rei in iudicium deduc­tae“ galt, gab es im gemeinen Prozess die „exceptio litis pendentis“ als Einrede der Rechtshängigkeit. Die beiden Einreden waren inhaltlich und funktionell unterschiedlich: Die „exceptio rei in iudicium deductae“ bedeutete, dass eine bestimmte res nicht noch einmal verhandelt und entschieden werden durfte. Hingegen verhinderte die „exceptio litis pendentis“ nur die gleichzeitige Verhandlung derselben lis (derselben Streitsache) in mehreren Prozessen.199 Nach gemeinrechtlicher Auffassung war die Verhinderung von wiederholten Entscheidungen über dieselbe lis eine Aufgabe des Instituts der materiellen Rechtskraft. Daher war die römisch-rechtliche einheitliche Gestalt von Rechtshängigkeit und Rechtskraft im gemeinen Recht aufgespalten. Zudem war der Zeitpunkt, zu dem die Wirkung der Rechtshängigkeit eintrat, im gemeinen Recht gegenüber der Regelung im klassischen römischen Recht verschoben. Die Rechtshängigkeitswirkung trat nicht mehr nach der Litiskontestation ein, sondern begann erst mit der Insinuation des ersten gerichtlichen Dekrets.200

196 Die moderne Lehre nimmt im Fall der „Konkurrenz in engerem Sinne“ nur einen Streitgegenstand an und erkennt in diesem Fall keine alternative oder eventuelle Häufung an. Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 58 ff. 197 Zudem war die Ansicht, dass es mehrere Streitgegenstände im Fall der „Konkurrenz in engerem Sinne“ gebe, auch im Bereich der Rechtshängigkeit und Rechtskraft problematisch. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 89 f. 198 Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 89 f. Vgl. auch zur praktischen Lösung nach der AGO Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 76. 199 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 63; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 62. 200 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 63; zu dem Grund dieser Änderung vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 61 f.

78

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

Hinsichtlich der Frage, wann es sich in zwei oder mehreren Prozessen um dieselbe lis handelte, stimmten die gemeinrechtlichen Prozessualisten nicht völlig überein. So kam die „exceptio litis pendentis“ zur Anwendung, „wenn ‚mehrere Sachen ganz identisch‘ seien, wenn in zwei Prozessen ‚das nämliche Streitverhältnis‘ verhandelt werde oder der Beklagte ‚wegen des nemlichen Rechtsstreits‘, wegen ‚einer und der nehmlichen sache‘ vor mehrere Gerichte gezogen werden solle“.201 Solche Angaben lassen erkennen, dass die Einrede der Rechtshängigkeit dann gegeben war, wenn der Kläger dieselbe actio in einem späteren Prozess noch einmal erhob. Zweifellos lag die Identität der Streitsachen vor, wenn die Identität der actiones gegeben war. Problematisch und dogmatisch relevant war die Frage, ob die Rechtshängigkeitswirkung im gemeinen Recht eintrat, wenn die im ersten und zweiten Prozess erhobenen actiones in einem Konkurrenzverhältnis in engerem Sinne standen. Nach der Darstellung vieler damaliger Gelehrter war die Konkurrenz in engerem Sinne nicht ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der „exceptio litis pendentis“ ausgeschlossen. Das bedeutete aber nicht, dass die „exceptio litis pendentis“ – ihrer Ansicht nach – auch im Fall der Konkurrenz in engerem Sinne galt, sondern nur, dass diese Problematik von den meisten Juristen jener Zeit nicht berücksichtigt wurde.202 Anhand der allgemeinen Darstellung der damaligen Literatur zum Problem der Rechtshängigkeit erkennt man, dass die Rechtshängigkeitseinrede nur in den Fällen anzuwenden war, in denen dieselbe actio in einem anderen Prozess erneut vorgebracht wurde. Der Grund, dass die gemeinrechtlichen Gelehrten die Konkurrenz in engerem Sinne nicht in den Geltungsbereich der „exceptio litis pendentis“ einbezogen, lag – nach heutiger Vermutung – zumindest in den folgenden beiden Punkten: Erstens hatten die gemeinrechtlichen Prozessualisten bei der Untersuchung der Natur von konkurrierenden actiones bemerkt, dass bis zur Erreichung ihres gemeinsamen Ziels (durch einen Prozess) die einzelnen dieses Ziel in unterschiedlicher Weise verfolgenden actiones ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit bewahrten. Der Gedanke, dass der Erhebung aller konkurrierenden actiones die Rechtshängigkeitseinrede entgegenstand, wenn eine actio rechtshängig war, wurde von den gemeinrechtlichen Gelehrten abgelehnt. Ihrer Meinung nach hinderte dieser Gedanke die Durchsetzung des klägerischen Interesses, da so die mehrfache Verhandlung derselben Streitsache aufgrund unterschiedli­cher konkurrierender actiones nicht mehr möglich wäre.203 Zweitens wurde, im Gegensatz zum römi 201 Vgl.

die Zitate von Löwisch, historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 62. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 63. Abweichend von der damaligen allgemeinen Ansicht behandelte Wetzell die exceptio litis pendentis analog der exceptio rei iudicatae, er bezog die Fälle der Klagenkonkurrenz mit in die Rechtshängigkeit ein. Vgl. Die Darstellung in: Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 65. 203 Die gemeinrechtlichen Gelehrten hatten hierbei offensichtlich nur eine Seite des Problems der Konkurrenz in engerem Sinne berücksichtigt. Die andere Seite der Problematik ist darin zu sehen, dass der Beklagte – ungerechterweise – durch mehrere Urteile mehrfach aufgefordert 202 Vgl.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

79

schen Gedanken, dem zufolge „eadem res“ das Kriterium für die Feststellung der Rechtshängigkeits- und Rechtskraftwirkung war, im gemeinen Recht die Gleichheit von „lis“ als Kriterium für die Rechtshängigkeitseinrede gewählt. Der Wandel von „res“ zu „lis“ bedeutete in der historischen Entwicklung eine Änderung des Rechtshängigkeitsgedankens. Die Rechtshängigkeitswirkung im römischen Recht erstreckte sich auf die actiones, die einander nur insofern beeinflussten, als sie sich auf „eadem rem“ bezogen. Demgegenüber griff die gemeinrechtliche Rechts­ hängigkeitseinrede ein, wenn die actiones sich auf „eandem litem“ bezogen. Die „lis“ wurde nach gemeinrechtlicher Lehre durch die actio konkretisiert und war in ihrer Identität abhängig von der Individualität der einzelnen sie einleitenden actio. Die gemeinrechtliche Lehre der Rechtshängigkeit legte den Schwerpunkt auf die Identität der in den Prozessen angewandten Normen, und nicht darauf, ob die actiones sich auf dieselbe Streitsache bezogen und daher in einem Konkurrenzverhältnis in engerem Sinne standen.204 Ob es sich in den gleichzeitigen Prozessen um die gleichen actiones handelte, war durch die Ermittlung des Klagegrunds und der Klagebitte in den Klaglibellen festzulegen. Wenn „die neu erhobene actio in ihrer zweigliedrigen Zusammen­ setzung aus dem Grund und dem Gegenstand der Klage mit dem Grund und dem Gegenstand der Klage des bereits rechtshängigen Verfahrens“ übereinstimmte, wurde sie wegen der Rechtshängigkeitswirkung verhindert.205 Auffällig war das Phänomen, dass nach heutiger Ansicht Grund und Gegenstand der in engerem Sinne konkurrierenden actiones – wie bei der Identität der actiones – dieselben waren. Da nach dem gemeinen Recht der Richter die Angabe einer bestimmten ­actio durch den Kläger nicht forderte und erst durch die Ermittlung des im Klag­ libell stehenden Klagegrunds und Klagebegehrens die geltend gemachte actio festlegte, war es theoretisch möglich, dass die Festlegung einer actio die Benutzung der anderen mit ihr konkurrierenden actiones in anderen Prozessen wegen der Rechtshängigkeitseinrede verhinderte. Diese Ansicht konnte sich wegen der Herrschaft des damaligen aktionenrechtlichen Denkens offensichtlich nicht durch­ setzen. So viele actiones, so viele Streitgegenstände des Prozesses. Die Berücksichtigung aller rechtlichen Gesichtspunkte in einem Prozess und ein weiter Umfang der Rechtshängigkeit (auf alle konkurrierenden actiones) waren erst möglich, als sich der Grundsatz iura novit curia herausbildete. So ging beispielsweise die AGO davon aus, dass „alle sich aus dem [vom] Kläger vorgetragenen Sachverhalt auf das gleiche Ziel gerichteten Ansprüche rechtshängig wurden“.206 Allgemein gesagt beherrschte das aktionenrechtliche Denken die gemeinrechtliche prozessuale Rechtstheorie. Grundsätzlich war die Einrede der Rechts­ werden kann, das klägerische Begehren zu erfüllen, wenn die Erhebung einer actio nicht zu der Rechtshängigkeit der anderen mit ihr konkurrierenden actiones führt. 204 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 63 f. 205 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 64. 206 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 77 f.

80

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

hängigkeit im gemeinen Recht nur dann gegeben, wenn die actiones beider Prozesse identisch waren.207 Die gemeinrechtliche Rechtshängigkeitslehre hat den Fall der Konkurrenz in engerem Sinne fast nicht berücksichtigt. Die von ihr gebotene Lösung war daher – in Bezug auf das Problem der Konkurrenz in engerem Sinne – problematisch und nicht zukunftsträchtig. IV. Rechtskraft Die gemeinrechtlichen Prozessualisten haben dem Rechtshängigkeitsproblem nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Jedoch findet man in der damaligen Literatur heftige Diskussionen über das Problem der Rechtskraft.208 Dieses Phänomen war kein Zufall. Das Rechtskraftproblem hatte wohl die größte Bedeutung in der Diskussion um Inhalt und Umfang des Streitgegenstandes. Und die Schwierigkeit der Problematik der Konkurrenz in engerem Sinne zeigt sich insbesondere im Bereich des Instituts der Rechtskraft. Der Ausgangspunkt der gemeinrechtlichen Rechtskraftlehre war – wie im römischen Recht – die „exceptio rei iudicatae“.209 Die „exceptio rei iudicatae“ beruhte auf dem Grundsatz „bis de eadem re ne sit actio“. Ursprünglich bedeutete sie, dass dieselbe actio nicht zwei- oder mehrmals entschieden werden sollte. Danach kam aber eine neue Bedeutung hinzu: Sie sollte widersprüchliche Urteile verhindern. Die erste Bedeutung wurde als negative und die zweite als positive Funktion der „exceptio rei iudicatae“ bezeichnet. Die Lehrmeinungen waren nicht einheitlich. Die negative Funktion wurde in der weiteren Entwicklung allmählich von den Gelehrten vernachlässigt. Sie ging schließlich von der positiven Funktion auf.210 Das Problem, das tiefgehende und hitzige Auseinandersetzungen unter den gemeinrechtlichen Prozessualisten veranlasste, war der objektive Umfang der Rechtskraft. Diese Auseinandersetzung um die Rechtskraft bezog sich auf ihre Wirkung, nach der ein Urteil ein anderes späteres Urteil verdrängte. Daher war die Frage von zentraler Bedeutung, unter welchen Umständen die Inhalte bei 207 Vgl.

Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 65; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 65. 208 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 65 f.; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 65 ff. 209 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 66; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 65. 210 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 66, insbesondere Fn. 1. Lenze meint, dass diese Funktionsunterscheidung keine erhebliche Bedeutung für das Problem des Streit­ gegenstandes im gemeinen Recht hatte. Tatsächlich scheinen die unterschiedlichen Lehren zur Funktion der Rechtskraft sehr wohl eine bestimmte Bedeutung für das Streitgegenstands­ problem gehabt zu haben. Nach der Lehre der positiven Funktion, die hauptsächlich die Vermeidung widersprüchlicher Urteile beabsichtigte, war der Umfang der Rechtskraft weiter, als die Lehre der negativen Funktion es vorsah, da die Lehre der negativen Funktion nur auf die Verhinderung der wiederholten Geltendmachung derselben actio abzielte.

Kap. 3: Das Streitgegenstandsproblem im gemeinen Zivilprozessrecht 

81

der Urteile identisch waren. Es handelte sich hier um die Festlegung der Identität des Streites oder der „eiusdem rei“. Dabei entwickelte sich die Lehre vom engeren Umfang der Rechtskraft (abgekürzt als: engere Auffassung) und die Lehre vom weiteren Umfang der Rechtskraft (abgekürzt als: weitere Auffassung). Nach der engeren Auffassung sollte die „exceptio rei iudicatae“ es verhindern, dass über dieselbe actio nochmals gerichtlich entschieden wurde, ganz gleich, ob das Urteil des ersten Verfahrens zu Gunsten des Klägers oder des Beklagten gesprochen worden war. Daher lag „eadem res“ dann vor, wenn in beiden Prozessen die ­actiones dieselbe waren. Aus heutiger Sicht könnte man unter der Erhebung einer actio unter damaligen Umständen nichts anderes als die Geltendmachung eines materiell­ rechtlichen Anspruchs verstehen. Deswegen wollte die engere Auffassung eigentlich die erneute Erhebung desselben materiellrechtlichen Anspruchs im anderen Prozess verhindern. Demgegenüber waren die Anhänger der weiteren Auffassung der Ansicht, dass die Wirkung der Rechtskraft sich nicht allein auf die Fälle beschränkte, in denen es um dieselbe actio ging, „sondern sie hielten die Voraussetzungen der exceptio rei iudicatae immer dann für gegeben, wenn sich ein neu eingeleiteter Rechtsstreit auf ‚dieselbe (konkrete) Streitfrage‘ oder ‚dieselbe Rechtsfrage‘ bezog wie ein bereits rechtskräftig abgeschlossener Prozeß“.211 Die Antwort auf die Frage, wann „eadem res“ vorlag, war nach beiden Lehren unterschiedlich: Die engere Auffassung nahm die Identität der actio in beiden Prozessen als Kriterium, während die weitere Auffassung die „res“ in ihrer Stellung innerhalb der „exceptio rei iudicatae“ als „Klagerecht“ auffasste. „Diesem ‚Klage­ recht‘ kam seine eigene Bedeutung neben der einzelnen Klage zu, wenngleich Klage­recht und actio weitgehend aufeinander bezogen waren. So erwuchs dem Kläger aus jedem Rechtsgrund im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel zunächst ein spezielles Klagerecht, und dieses Klagerecht begründete erst die dem Rechtsgrund und Ziel entsprechende actio, in Einzelfällen – je nach den Eigentümlichkeiten des Aktionensystems – auch mehrere actiones“.212 Wenn in beiden Prozessen dieselbe actio zwischen denselben Parteien gegeben war, handelte es sich selbstverständlich um dasselbe Klagerecht. Aber auch die unterschiedlichen actiones gingen auf dasselbe Klagerecht zurück, wenn ihr Entstehungsgrund und ihr Ziel als identisch angesehen werden konnten. Daher lag „eadem rem“ – nach der weiteren Auffassung – auch vor, wenn es um die Konkurrenz in engerem Sinne ging. Die konkurrierenden actiones bildeten das einheitliche Klagerecht, weil sie „auf demselben Rechtsverhältnis beruhten und das gleiche juristische Ziel verfolgten“.213 Ging man von der weiteren Auffassung aus, dann griff die „exceptio rei i­udicatae“ ein, wenn in dem zweiten Prozess dieselbe actio wie im ersten Prozess erhoben wurde oder eine mit der im ersten Prozess behandelten actio konkurrierende a­ ctio ge 211 Vgl.

Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 66. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 68. Zum Bedeutungswandel der „res“ von der römischen Zeit bis ins gemeine Recht vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 67 ff. 213 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 69. 212 Vgl.

82

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

geben war. Nach dieser Lehre richtete sich die Rechtskraft nach dem Klagerecht, nicht nach der einzelnen actio. Die Rechtskraft beantwortete die Frage, über welches durch Klagegrund und Klagezweck abgegrenzte Klagerecht – und nicht über welchen Anspruch im heute materiellrechtlichen Sinne – schon entschieden worden war. In Fällen, in denen die Konkurrenz in engerem Sinne nicht vorkam, unterschieden sich der Umfang und der Inhalt der Rechtskraft nach den Kriterien beider Lehren nicht wesentlich. Der Unterschied zwischen beiden Lehren lag hauptsächlich in der Behandlung der Fälle der Konkurrenz in engerem Sinne. Nach der engeren Auffassung wurde die Unabhängigkeit der konkurrierenden actiones betont. Deshalb war nach dieser Lehre anzunehmen, dass das über eine actio gefällte Urteil den Prozess, in dem die mit ihr konkurrierende actio aufgehoben war, nicht hindern sollte. Demgegenüber lag der Schwerpunkt der weiteren Auffassung auf der Gemeinsamkeit des Sachverhalts und der Identität des klägerischen wirtschaft­ lichen Ziels solcher konkurrierenden actiones. Die Schwäche der engeren Auffassung war – wie oben erwähnt – offensichtlich. Das bedeutete aber nicht, dass die weitere Auffassung damals eine geeignete Lösung für die Rechtspraxis war. Die weitere Auffassung ließ sich erst gut begründen, als der Grundsatz iura novit curia weitgehend in der Prozessrechtslehre und der gerichtlichen Praxis anerkannt war. Denn wenn alle miteinander konkurrierenden actiones nicht möglichst in einem Prozess berücksichtigt werden sollten, schadete der Ausschluss der Erhebung solcher actiones in anderen Prozessen un­ gerechterweise dem Interesse des Klägers auf Erfüllung seines Begehrens.214 Es lohnt sich, das Kriterium für die Beurteilung von „eadem res“ in beiden Lehren abschließend auf einen kurzen Nenner zu bringen. Nach der engeren Auf­ fassung lag „eadem res“ vor, wenn in beiden Prozessen dieselbe actio benutzt wurde. Die actio dieser Lehre bedeutete nach heutiger Sicht nichts anderes als den materiellrechtlichen Anspruch. Dieser Lehre zufolge war also „eadem res“ ge­geben, wenn die materiellrechtlichen Ansprüche in beiden Verfahren identisch waren. Demgegenüber sah die weitere Auffassung „eadem res“ dann als gegeben, wenn das Ziel des Prozesses (das klägerische Begehren) und der Sachverhalt (der Tatsachenkomplex) in beiden Verfahren identisch waren.215 Die weitere Auffassung spiegelte so das frühe Bemühen des gemeinen Rechts wider, das Konkurrenzproblem aus prozessrechtlicher Sicht zu betrachten und zu lösen. Obwohl diese Auffassung nicht als herrschende Lehre des gemeinen Rechts angesehen werden konnte und in der damaligen Rechtspraxis nicht mehrheitlich angenommen war,216 214 Daher lässt sich behaupten, dass beide Auffassungen einseitig waren. Der Grund dafür liegt in der besonderen Natur der Konkurrenz in engerem Sinne. Vgl. unten Kapitel 5 C. Die beiden Auffassungen zur Rechtskraft in der gemeinrechtlichen Lehre waren die historische Wurzel der Substantiierungs- und der Individualisierungstheorie der Neuzeit. 215 Vgl. Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 79. 216 Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 73.

Kap. 4: Das römische und gemeine Zivilprozessrecht: Charakter und Einfluss

83

lässt sich doch behaupten, dass mit dieser weiteren Auffassung die gemeinrecht­ lichen Juristen den Grundstein zur prozessualen Streitgegenstandstheorie der Neuzeit gelegt hatten.

Kapitel 4

Das römische und gemeine Zivilprozessrecht als historische Grundlage des modernen Zivilprozessrechts in Europa: Charakter und Einfluss A. Einleitung: Vererbung und Entwicklung Die Darstellung des Streitgegenstandsproblems im römischen und gemeinen Recht hat Zweierlei gezeigt: Erstens kann die Festlegung und Abgrenzung des Objekts des gerichtlichen Verfahrens wohl als Aufgabe aller Rechtssysteme zu allen Zeiten angesehen werden. Zweitens unterscheiden sich die Erscheinungsformen und die Charakteristik der Streitgegenstandsprobleme, weil sich die Konstruktionen der Rechtssysteme im Einzelnen unterscheiden.217 Die Gemeinsamkeiten im römischen und gemeinen Recht geben Aufschluss darüber, inwieweit das gemeine Recht der römisch-rechtlichen Tradition gefolgt ist und wie es diese rechtskulturelle Erbschaft weiter ins neuzeitliche und moderne Recht gebracht hat. Die Analyse der Unterschiede zeigt auf, in welchem Umfang das gemeine Recht auf dem Gebiet der Streitgegenstandsproblematik wissenschaftliche und institutionelle Fortschritte gemacht und Grundlagen für die weitere Entwicklung geschaffen hat.

B. Würdigung der Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im römischen Recht Schon in der römischen Zeit stellte sich das Problem des prozessualen Streit­ gegenstandes in vollem Umfang. Zwar hatten die Römer keine eigene Theorie entwickelt, es war aber wegen des Erfordernisses des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit unumgänglich, in mindestens pragmatischer Art und Weise festzulegen, unter welchen Umständen die Gegenstände zweier Prozesse identisch waren oder

217 „[…] daß es kein von Zeit und Raum unabhängiges richtiges Verständnis vom Verhältnis des materiellen zum Prozeßrecht gibt. Die Deutung kann immer nur historisch, das heißt mit Bezug auf die jeweiligen Bedingungen zutreffend sein, unter welchen die Rechte der Bürger im Prozeßwege geschützt und durchgesetzt werden.“ Kaufmann, JZ 1964, S. 488.

84

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

einander verdrängten.218 Folgerichtig haben schon die Römer den Kern der Streitgegenstandsproblematik entdeckt: Was ist der Gegenstand des Zivilprozesses? Wie wird sein Umfang in den konkreten Fällen abgegrenzt? Die erste Frage bezieht sich auf die grundsätzliche Substanz des Streitgegenstandes, bei der zweiten Frage geht es um die wissenschaftliche Erfassung und pragmatische Behandlung des Problems im Einzelnen. Um diese Fragen zu beantworten, haben die römischen Juristen eine Reihe von Rechtsinstituten entwickelt, die das heutige Prozessrecht direkt oder indirekt beeinflusst haben. Trotz vieler Änderungen während einer langen historischen Entwicklung haben einige rechtskulturelle Elemente es römischen Rechts die Zeiten überlebt. Erstens kann die richterliche Achtung des Parteiwillens als wichtigster Charakterzug des römischen Rechts angesehen werden. Die umfangreiche Dispositionsfreiheit der Parteien des Prozesses – insbesondere die Parteidisposition über den prozessualen Gegenstand – war der römischen Rechtspraxis ein offensichtliches Grundanliegen.219 Zweitens war die materielle Gerechtigkeit immer ein anzustrebendes Ziel des römischen Prozessrechts. Als Beispiel kann man den „Hinweis des Prätors auf die Wahl der actio“ und die „Solutionskonkurrenz“ nennen.220 Drittens hatten die Römer erkannt, welche Rolle die Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit für den Aufbau eines vertrauenswürdigen und stabilen Rechtssystems spielte. In allen Perioden der römischen Rechtsentwicklung erfuhr die Autorität der Justiz gebührende Würdigung.221 Offensichtlich lag der Grund hierfür nicht nur im Respekt vor der richterlichen Gewalt, sondern auch darin, dass den Römern durchaus bewusst war, welch großen Einfluss gerichtliche Entscheidungen auf das Leben der Bürger und die Stabilität der Gesellschaft haben konnten. Viertens wurde die Prozessökonomie in der damaligen Rechtspraxis in gewissem Umfang berücksichtigt. Offensichtliche Beispiele hierfür sind die allmählich anerkannte Klageänderung und die Klagenhäufung. Diese rechtskulturellen Elemente haben den Geist des römischen Prozessrechts gestaltet und lassen sich als römisch-

218 Der Ewigkeitscharakter des Streitgegenstandsproblems beruht darauf, dass der Rechtsfrie­ den eines der zentralen und unverzichtbaren Ziele eines jeden Rechtssystems ist. Die Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit im römischen Recht fand insbesondere in der wichtigen Rolle der Institute der Rechtshängigkeit und Rechtskraft in der damaligen Rechtspraxis ihren Ausdruck. Den inneren Zusammenhang zwischen den beiden Instituten und dem Streitgegenstandsproblem haben die römischen Juristen entdeckt. 219 Stürner, FS Heldrich, S. 1062 f.­ 220 Im Legisaktionen- und Formularprozess konnte der Prätor nach Prüfung des Sach­verhaltes den Kläger darauf hinweisen, anstatt der vom Kläger gewählten actio eine andere actio geltend zu machen. Dieser Hinweis gründete sich darauf, dass mit der vom Prätor vorgeschlagenen actio das klägerische Interesse besser geschützt werden konnte. Das Ziel des Instituts „Solu­tionskonkurrenz“ im klassischen Kognitionsverfahren und nachklassischen Verfahren lag darin, dass der Kläger, wenn er zu Recht etwas vom Beklagten verlangte, erneut versuchen konnte, durch den gerichtlichen Prozess sein Interesse zu verwirklichen, selbst wenn sein Versuch schon einmal oder mehrmals gescheitert war. 221 Vgl. Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 80, 301.

Kap. 4: Das römische und gemeine Zivilprozessrecht: Charakter und Einfluss

85

rechtliche Grundsätze verstehen.222 Sie manifestierten sich in den einzelnen Instituten des römischen Prozessrechts und ihrer Konstruktion und prägten die nachfolgenden europäischen Zivilprozessrechte. Obwohl das römische Prozessrecht also wertvolle Grundgedanken entwickelt hat, zeigt es aber auch einige Schwächen. Im Folgenden sollen beispielhaft zwei ungelöste Probleme des römischen Prozessrechts – zwei Konflikte zwischen unterschiedlichen rechtlichen Grundsätzen – dargestellt werden. Der erste Konflikt bestand darin, dass im klassischen römischen Prozess die Parteidisposition häufig in einem Spannungsverhältnis zum Gedanken materieller Gerechtigkeit stand. Nach herrschendem aktionenrechtlichem Denken durfte und sollte der Kläger bei der Klageerhebung eine actio wählen, auf die sich der ganze Prozess gründete. Das klägerische Begehren und seine rechtliche Begründung verkörperten sich einheitlich in der gewählten actio. Das Problem lag darin, dass der Kläger normalerweise Laie war und bei der Wahl der passenden actio auf Schwierigkeiten stoßen konnte. Wenn der Kläger mit einer falschen actio eine Klage erhob, war der Richter eigentlich gebunden, nach dem in dieser actio beinhalteten rechtlichen Gesichtspunkt den Fall zu entscheiden. Eine Abweisung der Klage infolge klägerischer Ungeschicklichkeit war ohne weiteres denkbar. Und eine aufgrund einer anderen actio gestellte neue Klage konnte wegen der Konsumtionswirkung oder der allgemeinen Ausschlusswirkung erfolglos sein.223 Unter diesen Umständen stand der gescheiterte prozessuale Versuch des Klägers mit der materiellen Gerechtigkeit im Widerspruch. Wenn der Richter dem Kläger bei der Wahl der actio half, dann drohte er – und nicht der Kläger – Art und Inhalt des prozessualen Anspruchs zu bestimmen. Diese Vorgehensweise hätte u. U. eine Aufhebung der Parteidisposition bedeutet und wurde daher von einigen römischen Juristen abgelehnt. Eine befriedigende Lösung dieses Problems war aufgrund der Struktur des Aktionensystems im römischen Recht kaum möglich.224 Der zweite Konflikt zeigte sich darin, dass im römischen Prozessrecht manchmal das Bestreben nach materieller Gerechtigkeit mit dem Gedanken des Rechtsfriedens in Widerspruch stand. Ein offensichtliches Beispiel ist das Phänomen der „Solutionskonkurrenz“. Im klassischen römischen Verfahrensrecht wurde die Bedeutung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit besonders betont. Deswegen wurde normalerweise nach dem Verlust der ersten Klage eine zweite Klage auch

222 Vgl.

Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 8 ff. Wechsel von einer actio im ersten Prozess zu einer anderen actio im zweiten Prozess änderte den rechtlichen Gesichtspunkt, nicht aber die Parteien und das klägerische Ziel. Deswegen war es durchaus möglich, dass die zweite Klage wegen der Konsumtionswirkung oder der allgemeinen Ausschlusswirkung abgewiesen wurde. 224 Erst als folgende drei Punkte realisiert waren, wurde eine befriedigende Lösung für dieses Problem gefunden: die Auflösung des Aktionenrechtssystems; die Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens; die richtige Verteilung der Aufgabe zwischen Parteien und Richter im Prozess (also die gedankliche und institutionelle Begründung des iura novit curia). 223 Der

86

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

dann abgelehnt, wenn der Kläger die actio in der nachfolgenden Klage änderte.225 Diese Ablehnung schädigte aber die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit, wenn das Recht in der Tat auf der Seite des Klägers war. Aus diesem Grund wurde im nachklassischen Verfahrensrecht allmählich die Lehre von der Solutions­ konkurrenz entwickelt. Ihr zufolge konnte der Kläger grundsätzlich neue Klagen erheben, bis sein gerechter Anspruch in einem Prozess vollständig bejaht war. Die Idee der Solutionskonkurrenz legte Gewicht auf die materielle Gerechtigkeit und die Befriedung des Klägers. Dadurch wurde versucht, das Rechtssicherheits­ denken der klassischen Zeit zu berichtigen. Allerdings hatte diese Idee selbst eine unvermeidliche Schwäche: Sie schädigte die Rechtskraftwirkung der vorherigen Urteile und die Autorität der Gerichte. Rechtsfrieden und Rechtssicherheit konnten so nicht gewährleistet werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Römer manchmal die Gerechtigkeit bevorzugten, manchmal aber auch dem Rechtsfrieden den Vorrang gaben. Eine befriedigende Lösung für die spannungsreiche Beziehung zwischen beiden Rechtsgrundsätzen wurde in der römischen Zeit nicht gefunden.

C. Würdigung der Entwicklung des Streitgegenstandsproblems im gemeinen Recht Grundsätzlich wurde die römische Rechtstradition vom gemeinen Prozessrecht übernommen, aber es hat auch eigene neuen Gedanken und Institute entwickelt. Schon im gemeinen Recht und gemeinen deutschen Prozess gibt es Ansätze zu einigen relevanten gegenwärtigen Lehren zum Streitgegenstand. Die gemeinrechtliche Lösung von Streitgegenstandsproblemen, wie sie die Praxis und die Literatur prägte, gilt als direkte gedankliche Vorlage für die heutige Vorgehensweise. I. Die Geburt der selbständigen Prozesswissenschaft und die kasuistisch-empirische Arbeitsweise der gemeinrechtlichen Gelehrten beim Streitgegenstandsproblem Im Zuge der Auflösung des Aktionenrechtssystems und der Überwindung des entsprechenden Denkens wurde das Prozessrecht nach und nach als selbständige Disziplin der Rechtswissenschaft anerkannt. Aber erst mit der Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht wurde eine formelle Selbständigkeit der Prozesswissen­schaft geschaffen. Gedanklich wurde das Prozessrecht ursprüng 225 Vgl. die Funktion und Bedeutung der Konsumtionswirkung und der allgemeinen Ausschlusswirkung in Kapitel 2 D. Zudem entsprach diese Vorgehensweise gleichzeitig den Anforderungen der Prozessökonomie und dem Interesse des Beklagten.

Kap. 4: Das römische und gemeine Zivilprozessrecht: Charakter und Einfluss

87

lich weitgehend als „Annexum“ des Zivilrechts angesehen; eine systematische und dogmatisch saubere Prozessrechtswissenschaft war von den gemeinrecht­ lichen Gelehrten nicht zu erwarten.226 Trotzdem kann man nicht übersehen, dass die Verselbständigung der Prozessrechtswissenschaft es ermöglichte, das Streitgegenstandsproblem aus stärker prozessrechtlicher Sicht aus zu analysieren und zu behandeln. Der Begriff Streitgegenstand wurde im späten gemeinen Recht von der prozessrechtlichen Literatur geprägt. Von jener Zeit an gewann die Streitgegenstandslehre langsam Selbständigkeit. Jedoch wurde sie nicht als Grundpfeiler der gemeinen Prozessrechtswissenschaft angesehen. Prozessuale Institute, die in gedanklicher Verbindung zum Streitgegenstand standen, wurden von den damaligen Gelehrten separat diskutiert; Zusammenhänge zwischen solchen Instituten waren noch nicht entdeckt. Sogar im späten gemeinen Recht gingen die Gelehrten bei der Darstellung des Streitgegenstands- und Anspruchskonkurrenzproblems kasuistisch vor.227 Die entsprechenden Fragen wurden anhand einzelner Beispiele dar­ gestellt, analysiert und beantwortet. Eine systematische Darstellung der Streitgegenstandsprobleme und eine abstrakte, umfassende Lehre waren im gemeinen Recht kaum erkennbar. Erst in der neuzeitlichen Entwicklung wurde versucht, das Zivilprozessrecht systematisch aufzubauen und einheitliche prozessuale Theorien zu schaffen.228 Danach gewannen der Begriff und die Lehre vom Streitgegenstand ihre besondere Bedeutung als „Rückgrat“ des deutschen Zivilprozessrechts. II. Das Aufkommen des Grundsatzes iura novit curia und die Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes im gemeinen Recht Wie oben dargestellt, geriet im römischen Recht der Gedanke des Rechts­ friedens mit dem Gedanken der Gerechtigkeit im Rahmen der Konkurrenzproblematik manchmal in Widerspruch. Dieses schwierige Problem fand seine Lösung erst nach der Entstehung des Grundsatzes iura novit curia im mittelalterlichen Recht. Davor wurde in der Regel eine actio bzw. ein durch sie „verdeckter“ materiellrechtlicher Anspruch als Gegenstand eines Verfahrens verstanden. Nach Auf 226 Hesselberger, Streitgegenstand, S. 95. Eine Diskussion um das Ziel des Zivilprozesses und die Struktur der Prozesswissenschaft gab es nicht; prozessuale Lehren wurden nur herangezogen, wenn sie für die Lösung von praktischen oder zivilrechtlichen Problemen unverzichtbar waren. 227 Hesselberger, Streitgegenstand, S. 82; Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 5 ff.; Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 68. Zu den Ansätzen der systematischen Darstellung solcher Probleme in der späteren Entwicklung vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 142, 146. 228 In dieser geschichtlichen Periode wurde die Entwicklung des deutschen Prozessrechts stark von der Begriffsjurisprudenz und dem Pandektensystem (als Vorbild einer systematischen Rechtsordnung) beeinflusst. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 95.

88

1. Teil: Die historischen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

kommen dieses Grundsatzes zeichnete sich aber nach und nach eine neue Tendenz ab: Das klägerische Begehren, das vom konkreten Klageantrag und dem entsprechenden Klagegrund eingegrenzt war, wurde als Gegenstand des Verfahrens angesehen.229 Diese Vorgehensweise, nach der gemeinrechtliche Juristen den Streitgegenstand nach prozessrechtlichen und nicht nach materiellrechtlichen oder prozessrechlich und materiellrechtlich gemischten aktionenrechtlichen Elemente festlegten, gilt als wichtiger Ansatz des neuzeitlichen und gegenwärtigen Denkens. Trotzdem muss bedacht werden, dass die damalige gerichtliche Praxis dem Grundsatz iura novit curia nicht einheitlich und uneingeschränkt folgte; auch die theoretische Debatte kam niemals zur Ruhe. Die Gleichsetzung des Streit­ gegenstands mit einer actio oder einem materiellrechtlichen Anspruch im Einzelfall blieb in Theorie und Praxis gebräuchlich. Erst nach der Schaffung einer systematisch und dogmatisch exakter aufgebauten Prozessrechtswissenschaft in der Neuzeit, insbesondere nach der Überwindung der Individualisierungs- und Substan­tiierungstheorie, war es möglich, das Streitgegenstands- und Anspruchskonkurrenzproblem unter rein prozessrechtlichen Aspekten zu analysieren und zu lösen. III. Besonderheit und Bedeutung der gemeinrechtlichen Entwicklung Das ganze gemeine Recht entwickelte sich in der Übergangsperiode zwischen dem alten und modernen Recht. Dieser Übergangscharakter hat die gemeinrecht­ liche Lösung des Streitgegenstands- und Konkurrenzproblems tief geprägt. Die gemeinrechtlichen Juristen haben die Begriffe, die von relevanter Bedeutung für die beiden Probleme waren, nicht einheitlich verwendet. Auch waren die Lehrmeinungen zu diesen Problemen weitgehend kontrovers. Das Aktionenrechtssystem löste sich allmählich auf, das aktionenrechtliche Denken war jedoch noch nicht völlig überwunden. Die Ansätze der neuen Lehren begannen sich zwar nach und nach zu etablieren, sie befanden sich aber bei weitem nicht in der Position einer herrschenden Meinung. Trotzdem sollte die Bedeutung der gemeinrechtlichen Entwicklung nicht unterschätzt werden. Der gemeine Prozess hat die Tendenz zur Auflösung des Aktionensystems im späten römischen Recht weiter vorangetrieben. Im Zuge der Entstehung der zivilrechtlichen Theorie wurde versucht, die Streitgegenstandsproblematik und das Konkurrenzproblem auf materiellrechtlicher Basis – anstatt auf der Basis aktionenrechtlichen Denkens – zu lösen. Nach dem Aufkommen der Prozessrechtswissenschaft haben die gemeinrechtlichen Gelehrten mit Hilfe des Grundsatzes iura novit curia versucht, anhand prozessrechtlicher Betrachtungsweise eine Lösung des Konkurrenzproblems zu erarbeiten und das Wesen des Streitgegenstandes zu klären. Daher kann behauptet werden, dass sich 229 Hesselberger,

Streitgegenstand, S. 71 f.

Kap. 4: Das römische und gemeine Zivilprozessrecht: Charakter und Einfluss

89

schon im gemeinen Recht die Ansätze zur neuzeitlichen und modernen Streitgegenstandslehre finden lassen. Trotz der Kontroversen in Theorie und Praxis haben die gemeinrechtlichen Juristen kontinuierlich danach gestrebt, eine Systematik des Zivilprozessrechts und eine allgemeine Zivilprozessrechtswissenschaft aufzubauen. Wie die Rechtsgeschichte gezeigt hat, waren die Untersuchungen zum Streit­gegenstandsproblem und die Erarbeitung einer überzeugenden Dogmatik ein wichtiger Teil dieses Prozesses.230

D. Das historische Gedankengut und seine Weiterführung Das römische und gemeine Prozessrecht hat das moderne europäische Prozessrecht ideengeschichtlich und rechtskulturell stark beeinflusst.231 Grundlegende Charakteristika des deutschen Prozessrechts wurden von diesen beiden Rechtssystemen geprägt. Rechtsgedanken wie die Parteidisposition über den Verfahrens­ gegenstand und die Bewahrung des Rechtsfriedens führen zum römischen und germanischen Prozessrecht zurück. Rechtstheorie und -praxis des Mittelalters haben diese Grundgedanken übernommen, weiter in das Rechtssystem integriert und dann dem modernen Recht überliefert.232 Die Rechtsinstitute der alten Rechte, die eng mit der Streitgegenstandslehre verbunden waren, unterschieden sich in vielerlei Form von denen des modernen Rechts. Es ist aber zu erkennen, dass die grundlegende Struktur und Zielsetzung solcher Institute in der Vergangenheit und Gegenwart weitgehend identisch oder ähnlich sind. Dieses Phänomen weist auf den starken Einfluss der Rechtstradition. Die Streitgegenstandsproblematik durchdenken die heutigen Prozessualisten vielfach anders als die römischen oder gemeinrechtlichen Gelehrten; die grundlegenden Prinzipien und Ideen zur Lösung der Streitgegenstandsproblematik wurden aber schon in der Geschichte vorgeprägt. Die moderne Lehre kann sich von dieser rechtskulturellen und rechtstraditionellen Grundlage nicht abwenden, und selbstverständlich will sie dies auch nicht. Was die moderne Lehre leisten kann, ist, sich auf der Grundlage des gedanklichen Kanons der Vergangenheit ständig um eine bessere Lösung zu bemühen.

230 „[…] daß die gemeinrechtliche Prozeßrechtslehre noch weit von einem einheitlichen Streitgegenstandsbegriff entfernt ist, sich aber immerhin auf dem Weg dazu befindet.“ Hesselberger, Streitgegenstand, 85. 231 Stürner, FS Schumann, S. 491. 232 Stürner, FS Heldrich, S. 1062 f.; ders., in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 32 f.

Zweiter Teil

Die institutionellen Gundlagen des Streitgegenstandsproblems 2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems Kapitel 5

Der materiellrechtliche Anspruch und die Anspruchskonkurrenz im deutschen Zivilrechtssystem A. Der Begriff und Inhalt des materiellrechtlichen Anspruchs I. Die historische Entwicklung des Anspruchsbegriffs Der materiellrechtliche Anspruchsbegriff wurde von Windscheid mit seinem Werk „Die Actio des Römischen Civilrechtes vom Standpunkt des heutigen Rechts“ 1856 in die moderne Zivilrechtsdogmatik eingeführt.233 Durch die Analyse der Natur und Funktion der actio im römischen und älteren gemeinen Recht hat er diesen Begriff für das materielle Privatrecht der Neuzeit geschaffen.234 Seinen Forschungen zufolge hatte die actio bei den Römern sechs unterschiedliche Bedeutungen.235 Eine allgemeine Definition ist kaum möglich, vielmehr entsteht der Eindruck, dass in dem Begriff die Bedeutungen von gerichtlicher Verfolgung, prozessualem Anspruch und materiellrechtlicher Grundlage der klägerischen Rechtsbehauptung vermengt sind.236 Windscheid behauptete, dass die römische Vorstellung einer Ver 233 Windscheid,

Die Actio des Römischen Civilrechtes: vom Standpunkt des heutigen Rechts, 1856. Von dem materiellrechtlichen Anspruch ist der prozessuale Anspruch zu unterscheiden. Als prozessualen Anspruch bezeichnet man das Begehren des Klägers oder einfach den Streitgegenstand. Seine Natur und Funktion sind ganz unterschiedlich vom materiellrechtlichen Anspruch. Der Unterschied wird deutlich, wenn man einen Blick auf den prozessualen Anspruch der Feststellungs- und Gestaltungsklage wirft. Vgl. Schapp, Einführung in das Bürgerliche Recht, S. 25. 234 Diese Erfindung wird als epochemachend bezeichnet. Vgl. Kaufmann, JZ 1964, S. 488; Diederichsen, Der Allgemeine Teil des BGB, S. 53 f. 235 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechtes, Bd. I, 9. Aufl., S. 189. 236 So Celsus, D. 44, 7, 51: nihil aliud est actio quam ius quod sibi debeatur iudicio persequendi. Auf Deutsch lautet es: Die Actio ist nichts anderes als das Recht, das, was einem geschuldet wird, in einem Gerichtsverfahren zu verfolgen. Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, § 4 II 1 Rd. 6; Kaser/Hackel, Das Römische Zivilprozessrecht, S. 236.

Kap. 5: Der materiellrechtliche Anspruch im deutschen Zivilrechtssystem

91

bindung des (materiellen) Rechts und seiner prozessualen Ausübung, die das Verständnis der actio prägten, mit den Zeit- und Geistesströmungen des 19. Jahrhunderts nicht mehr in Einklang zu bringen waren. Aus heutiger Sicht bestand Mitte des 19. Jahrhunderts eine Tendenz zur formellen und inhaltlichen Trennung des materiellen Rechts und Prozessrechts und zur Verselbständigung beider Rechte.237 Im Lehrbuch des Pandektenrechtes von Windscheid wurde der Anspruch wie folgt definiert: „[…] das Recht von einem anderen etwas zu verlangen“.238 Er fasste die materiellrechtlichen Elemente der actio zu dem Begriff des Anspruchs zusammen; nicht der Anspruch, sondern das Klagerecht sei im Falle der Ver­ letzung des subjektiven Rechts die wesentliche Ordnungsgröße. Die actio im prozessualen Sinne sei demnach nur „die jedem Recht anklebende Befugnis, für den Fall, dass es verletzt werden sollte, den Schutz richterlicher Gewalt anzurufen.“239 Larenz formuliert zu Recht: „Windscheid wollte damit der Auffassung Rechnung tragen, daß das subjektive Privatrecht das primäre, die Möglichkeit seiner klage­ weisen Durchsetzung das sekundäre ist, der Prozeß die Aufgabe hat, das vorprozessual gegebene materielle Recht, wenn es verletzt oder bestritten wird, außer Zweifel zu stellen und zu verwirklichen.“240 Windscheid wies darauf hin, dass das Wichtigste für den Kläger im römischen Recht nicht das Recht sei, sondern die Frage, „ob das Gericht für ihn sei, [also] nicht ob er ein Recht habe, sondern ob er klagen könne“.241 Dies galt auch im mittelalterlichen Recht und im Recht der frühen Neuzeit. Als Folge der Bestrebungen der Pandektisten hat sich dieses Verständnis grundlegend geändert: Das subjektive Recht und der materiellrechtliche Anspruch entwickelten sich anstelle der actio zu den zentralen Begriffen des Privatrechts.242 Diese wissenschaftliche Entwicklung führte schlussendlich dazu, dass der materiellrechtliche Anspruchsbegriff dem BGB zugrunde gelegt wurde. Seit jener Zeit werden Denkweise, Rechtsauslegung und Rechtsausbildung auf dem Gebiet des deutschen Zivilrechts von diesem Begriff wesentlich geprägt.243

237 Zur Windscheid’schen Lehre bemerkt Coing: [Seine Lehre über den materiellrechtlichen Anspruch] „bedeutet eine schärfere Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht“ [und hat sich] „trotz anfänglicher Kritik in der deutschen Rechtswissenschaft durchgesetzt und liegt auch dem deutschen BGB zugrunde.“ Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. II, S. 275. Vgl. auch Hessel­ber­ger, Streitgegenstand, S. 93. 238 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechtes, Bd. I, 9. Aufl., S. 182. 239 Windscheid, Die Actio des Römischen Civilrechtes, S. 2. 240 Larenz, BGBAT, 7. Aufl., S. 245. 241 Windscheid, Die Actio – Abwehr gegen Theodor Muther, S. 7, hier zitiert nach Böhler, Der materiellrechtliche Anspruch, S. 46. 242 Im Lehrbuch der Pandekten von Puchta ist die Klage „das Annexum eines Rechts, ein Zusatz zu seinem Inhalt“; In Pandekten von Wächter ist das Klagerecht „ein Bestandteil desjenigen Rechts, zu dessen Schutz die Klage dient“. Vgl. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 8. Aufl., S. 126; von Wächter, Pan­dek­ten, Bd. I, S. 503. 243 Statt vieler Medicus, AcP 174, S. 313 ff.; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 2009.

92

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

II. Die Bedeutung des materiellrechtlichen Anspruchs als Rechtsbegriff und Rechtsinstitut Im Windscheid’schen System des Anspruchs wird dieser einerseits als das Recht, „von einem anderen etwas zu verlangen“, andererseits aber als „die Richtung des Rechtes auf Unterwerfung fremden Willens“ definiert.244 „So schwankt sein ‚Anspruch‘ im Ergebnis zwischen der Annahme, dass er das subjektive Recht selbst verkörpere, und der Annahme, dass er lediglich ein Element, eine Funktion des subjektiven Rechts darstelle.“245 Der Grund liegt darin, dass die Unterscheidung von selbständigen und unselbständigen Ansprüchen damals noch nicht entwickelt war.246 Obwohl man mit dem Begriff des Anspruchs in einigen Fällen das subjektive Recht selbst, in anderen Fällen das Recht zum Schutz des subjektiven Rechtes bezeichnet, haben alle Ansprüche eine Gemeinsamkeit, nämlich die von der Rechtsordnung zugeordnete Macht, von jemandem etwas zu verlangen, um das Interesse des Rechtssubjektes zu befriedigen. Zwar war es das Anliegen Windscheids, dem römischen Aktionenrechts­system einen rein materiellrechtlichen Begriff zu entnehmen und ein eigenständiges Rechtsinstitut zu schaffen. Dennoch hat er nicht auf die Möglichkeit verzichtet, dem Berechtigten mit Hilfe des Gerichts zu seinem Recht zu verhelfen. Das subjektive Recht steht jedoch im Vordergrund, seine gerichtliche Verfolgbarkeit ist etwas Selbstverständliches.247 Mit dem Begriff des materiellrechtlichen Anspruchs wird die Trennung zwischen dem materiellen Recht und seiner gerichtlichen Ausübung vollzogen. Dadurch wird einem Spielraum des Berechtigten Rechnung getragen: Er kann seinen Anspruch durch ein gerichtliches Verfahren verwirklichen, er kann ihn aber auch in vielen Fällen außergerichtlich (z. B. durch Aufrechnung) verwirklichen oder ihn einfach abtreten oder erlassen. Wie dargelegt legt die ­actio 244 Vgl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechtes, Bd. I, 9. Aufl., S. 182. Diese Varianz mag auf seinem Bewusstsein des Unterschiedes zwischen actio in rem und actio in personam im römischen Recht beruhen. Vgl. auch Böhler, Der materiellrechtliche Anspruch, S. 59 ff. 245 Böhler, Der materiellrechtliche Anspruch, S. 62. Zur Geschichte des Verhältnisses von actio, jus, subjektivem Recht, Klagerecht, Anspruch und Klage vgl. Neussel, Anspruch und Rechtsverhältnis, S. 9 ff. 246 Zu den zwei Arten der Ansprüche vgl. Larenz, BGBAT, 7. Aufl., S. 246 ff. Der typische selbständige Anspruch ist die Forderung, nach welcher der Berechtigte direkt vom Schuldner etwas verlangen kann. Der typische unselbständige Anspruch, z. B. der Abwehranspruch des Eigentümers, kommt nur vor, wenn sein Besitz, Gebrauch oder Genuss der Sache von jemandem beeinträchtigt wird. Der Unterschied dieser beiden Arten von Ansprüchen liegt im Folgenden: Mit dem einen möchte die Rechtsordnung den verletzten Rechtszustand zwischen beiden Parteien wiederherstellen, mit dem anderen einen neuen Rechtszustand nach dem Willen der Parteien oder dem Gesetz neu gestalten. 247 Ist das Begehren nach dem Gesetz zu bejahen, so kann das Gericht grundsätzlich nicht zu einem anderen Ergebnis kommen; ist das Begehren nach dem Gesetz zu verneinen, so kann es auch nicht vom Gericht bejaht werden. (Diese Ansicht ist in gewissem Sinne problematisch, da sie sich völlig an den Rechtspositivismus anlehnt und dem Richter eine äußerst funktionale Rolle zuweist.)

Kap. 5: Der materiellrechtliche Anspruch im deutschen Zivilrechtssystem

93

das Gewicht auf das gerichtliche Verfahren, auf die Geltendmachung und die Verwirklichung des Rechts vor Gericht, während mit dem Begriff des materiellrechtlichen Anspruchs deutlich wird, dass das subjektive Recht eine Position ist, die nicht von äußerer Gewalt (insbesondere nicht vom Gericht und einem entsprechenden gerichtlichen Verfahren) abhängt, sondern völlig vom Berechtigten selbst beherrscht ist und in unterschiedlicher Weise realisiert werden kann. „Ob ein Rechtssubjekt ein Recht hat“ unterscheidet sich davon, „ob sein Recht durch einen Prozess verwirklicht wird“. Dadurch werden die Rolle des Berechtigten bei der Rechtsausübung248 und die Unabhängigkeit des materiellen Rechts von seiner prozessualen Verfolgung betont. Die Entwicklung von der actio des römischen Rechts zum materiellrechtlichen Anspruch des heutigen Rechts folgte aus der Trennung des materiellen Rechts und Prozessrechts im Rahmen der wissenschaftlichen Dogmatik der gemeinrecht­ lichen Juristen. Sie hat das aktionenrechtliche Denken überwunden und der europäischen Rechtskultur neue Denkkategorien gebracht. Nach dieser revolutionären Veränderung verlagerte sich der gedankliche Schwerpunkt des Rechtssystems vom Gericht und Prozess hin zum materiellrechtlichen Recht des kodifizierten Gesetzbuches. Dementsprechend war die Rechtsanwendung weniger auf den Prozess als auf die Prüfung ausgerichtet, ob der Tatbestand einer Anspruchsnorm vom Sachverhalt eines Falles erfüllt wird. III. Die Struktur des Anspruchs und die Anspruchsnorm Die Legaldefinition des materiellrechtlichen Anspruchs findet sich in § 194 Abs. 1 BGB. Nach diesem ist der Anspruch das Recht, „von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen“. Diese Definition nennt drei Elemente, die für alle materiellrechtlichen Ansprüche notwendig sind, nämlich der Berechtigte, der Verpflichtete und der Anspruchsinhalt. Nach dem Muster dieser Legaldefinition sind viele Anspruchsnormen des BGB und anderer Gesetze aufgebaut, welche die verschiedenen Ansprüche der einzelnen Rechtssubjekte konkretisieren.249 Nach der allgemeinen Lehre zur logischen Struktur des Rechtssatzes sind bei jeder Anspruchsnorm zwei Teile zu unterscheiden, nämlich der Tatbestand und die Rechtsfolge.250 Der Tatbestand bestimmt die Voraussetzungen für die Anwendung einer Anspruchsnorm. Wenn der Tatbestand vom Sachverhalt eines Falls erfüllt ist, 248 Grundlage der deutschen Rechtsordnung ist dementsprechend: die Selbstbestimmung des Rechtssubjektes in der Gestaltung seiner Rechtsverhältnisse und die Herrschaft über seinen individuellen Freiheitsbereich (Grundsatz der Privatautonomie). 249 Bemerkenswert ist das Phänomen, dass in vielen Anspruchsnormen nicht das Wort „Anspruch“, sondern andere Ausdrücke verwendet werden. Vgl. Böhler, Der materiellrechtliche Anspruch, S. 26. 250 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 240  ff.; Medicus/Petersen, Bürger­ liches Recht, S. 1 f.

94

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

weist die Rechtsordnung dem Berechtigten die Rechtsmacht zu, etwas von dem Verpflichteten zu verlangen. Deswegen enthält eine vollständige Anspruchsnorm folgende strukturierte Elemente: den Tatbestand mit seinen Voraussetzungen für die Anwendung einer Norm, den Berechtigten und den Verpflichteten als Rechtssubjekte und ein „Tun“ oder „Unterlassen“ als Inhalt des Rechts oder der Pflicht. Die Funktion der Anspruchsnorm ist Bestandteil eines klaren und vollständigen Systems: Auf der materiellrechtlichen Ebene gibt sie dem Rechtssubjekt hinreichende Gewissheit über den Inhalt seines Rechts und die klare Anweisung zur Erfüllung seiner Pflicht; auf der prozessrechtlichen Ebene gewährt sie den Parteien und dem Richter alle wichtigen Informationen, die zum Schutz und zur Durchsetzung des Rechtes notwendig sind.251 So lässt sich allgemein sagen, dass die Anspruchsnormen – zusammen mit korrespondierenden weiteren Normen – den Schutz oder die Realisierung subjektiver Rechte durch den Zivilprozess gut gewährleisten können. Diese Aussage ist zumindest in den Fällen richtig, in denen aufgrund des Sachverhalts nur ein materiellrechtlicher Anspruch im Frage kommt. Die Rechtsanwendung durch das Gericht ist relativ einfach, wenn sich bei einem Sachverhalt nur eine anwendbare Anspruchsnorm findet und damit nur ein Anspruch im Prozess geltend gemacht werden kann. IV. Anspruch im subjektiven und objektiven Sinne Allgemein lässt sich sagen, dass in der Vorstellung eines Rechtssubjekts ein subjektives Recht vorliegt, wenn es einen Anspruch gegenüber einem anderen geltend macht oder vor Gericht einklagt. Wenn ein Anspruch eine abstrakte Rechtsfolge formuliert, ist er nur objektives Recht; wenn er aufgrund eines konkreten Sachverhalts von einem Rechtssubjekt geltend gemacht wird, wird er für dieses Rechtssubjekt zum subjektiven Recht. Diesem Bedeutungsunterschied des Wortes „Anspruch“ wird nur selten Aufmerksamkeit geschenkt, da die Umwandlung vom objektiven in einen subjektiven Anspruch in den meisten Fällen unproblematisch ist. Aber wie die folgende Darstellung zeigen wird, ändert sich die Situation, wenn das Phänomen der Anspruchskonkurrenz auftritt.

251 Solche Informationen können wie folgend formuliert werden: Wer kann von wem unter welchen Umständen was verlangen?

Kap. 5: Der materiellrechtliche Anspruch im deutschen Zivilrechtssystem

95

B. Gesetzeskonkurrenz und Anspruchskonkurrenz I. Das Rechtsphänomen der Konkurrenz und seine begriffliche Unklarheit Häufig gibt es Fälle, in denen mehrere Rechtsnormen den gleichen Sachverhalt erfassen. Die Konkurrenz wird als Rechtsbegriff verwendet, wenn ein Sachverhalt vom Tatbestand mehrerer Rechtssätze oder Regelungen gedeckt ist, so dass diese Rechtssätze oder Regelungen zumindest ihrem Wortlaut nach zusammentreffen.252 Es gibt mehrere Arten von Konkurrenz, und in der Literatur und Rechtspraxis wird der Begriff in unterschiedlichem Sinne gebraucht. Dies führt dazu, dass „das Verständnis der gesamten Konkurrenzlehre“ „durch die Existenz kontroverser Lehrmeinungen und das Fehlen einer einheitlichen Terminologie erschwert“ wird.253 II. Die Gesetzeskonkurrenz im Strafrecht Der Begriff der Konkurrenz bildete sich zuerst im Strafrecht heraus und wurde danach in die Zivilrechtsdogmatik übernommen. Ein kurzer Vergleich der Konkurrenzlehren beider Rechtsgebiete erscheint angebracht. Die strafrechtliche Konkurrenzlehre befasst sich mit dem Verhältnis, in dem mehrere Gesetzesverletzungen eines Täters zueinander stehen. Nehmen wir die „Idealkonkurrenz“ im Strafrecht als Beispiel. Idealkonkurrenz liegt vor, wenn dieselbe Handlung mehrere Straf­ gesetze oder mehrmals dasselbe Strafgesetz verletzt (§ 52 I StGB). Der rechtlichsozialen Bewertung zufolge ist nur eine Handlung begangen worden, weshalb der Strafrahmen des Gesetzes zur Anwendung kommt, der die schwerste Strafe androht (§ 52 II 1 StGB).254 Dieser Rechtsfolge liegt die Überlegung zugrunde, dass beim Zusammentreffen mehrerer Gesetzesverletzungen durch eine Handlung des Täters nur eine angemessene Strafe, nämlich die schwerste Strafe, zur Geltung kommen soll und nicht alle möglichen Einzelstrafen zu addieren sind. Dieser Grundgedanke gilt grundsätzlich auch im Bereich des Zivilrechtes, wenn ein von mehreren materiellrechtlichen Ansprüchen begründetes Begehren höchstens einmal zuerkannt werden kann. Im Übrigen ist jedoch ein grundlegender Unterschied zwischen Strafrecht und Zivilrecht bei der Festlegung der Rechtsfolge zu beachten. Im Strafrecht und Strafprozessrecht gibt es – im Gegensatz zum Zivilrecht – kein Rechtssubjekt, welches seine eigene Sache selbst betreibt und seine diesbezügliche Entscheidung selbst verantwortet. Vielmehr ist die strafrecht­liche Rechtsfolge immer die Folge einer Ausübung von Staatsgewalt durch entsprechende Staatsorgane. Demgegenüber genießt das Rechtssubjekt im Zivilrecht und 252 Larenz,

Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 255 ff. Strafrecht, S. 294. 254 Das heißt, normalerweise wird bei der Idealkonkurrenz eine Strafe zuerkannt, die sich nach dem schwersten der begangenen Delikte richtet. Roxin, Strafrecht, Bd. II, S. 797. 253 Wessel/Beulke,

96

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

Zivilprozessrecht umfangreiche Freiheiten,255 soweit die Gesetze nicht etwas anderes bestimmen. Die Rechtsordnung muss diese Freiheiten des Rechtssubjekts möglichst gewährleisten und gleichzeitig geeignete Grenzen setzen, um die für das Individuum und die Allgemeinheit beste Rechtsverwirklichung zu gewährleisten. Daraus ergeben sich die typischen Probleme der Streitgegenstandslehre und der Anspruchskonkurrenzlehre, die hauptsächlich auf der Wahrung notwendiger Freiheit des Rechtssubjekts und ihrer Einschränkung im Zivilprozessrecht beruhen.256 III. Die Gesetzeskonkurrenz im Zivilrecht Der Begriff „Gesetzeskonkurrenz“ wird häufig ganz unterschiedlich gebraucht. Dies gilt auch für den Begriff „Anspruchskonkurrenz“. Erst wenn die Definition eines Verfassers bekannt ist, kann bestimmt werden, was er mit dem Begriff „Konkurrenz“ meint.257 Daher ist es notwendig, alle Möglichkeiten der Konkurrenz kurz aufzuführen, um eine Grundlage für die weitere Analyse zu schaffen. Wir unterscheiden folgende Fälle: (1) Derselbe oder der doch im Wesentlichen gleiche Lebenssachverhalt kann die Tatbestände verschiedener Normen erfüllen. Wenn solche Normen auf verschiedene Ziele gerichtet sind und einander nicht beeinflussen, dann können sie bei der Normanwendung nebeneinander stehen. Man spricht in diesen Fällen von „kumulativer Gesetzeskonkurrenz“. (2) Derselbe oder der doch im Wesentlichen gleiche Lebenssachverhalt kann die Tatbestände verschiedener Normen erfüllen. Wenn solche Normen nicht nebeneinander angewendet werden können und der Berechtigte das Recht hat, die Anwendung einer Norm, d. h. ein von der Rechtsordnung zugewiesenes Recht, zu wählen, dann spricht man hier von „alternativer oder elektiver Gesetzeskonkurrenz“. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn zwei Anspruchsnormen oder eine Anspruchsnorm und eine Norm für das Gestaltungsrecht wahlweise zusammentreffen. 255 Das

Rechtssubjekt genießt vielfache Freiheiten. Der Eckpfeiler des Zivilrechts ist der Grundsatz der Privatautonomie, und im Prozessrecht wird die Dispositionsmaxime betont. Larenz, BGBAT, 7. Aufl., S. 40 f.; Jauernig, ZPR, S. 67. 256 Die Bürger haben das Recht, ihr Begehren selbst festzulegen; um ihr Interesse besser zu schützen, ist es aber von Bedeutung, dass der Richter die anzuwendende Norm feststellt und ihnen in vieler Hinsicht Hinweise gibt, was ihre freie Entscheidung bei der Aufstellung ihres Begehrens beeinflussen kann. In vielen Fällen setzt die optimale Verwirklichung der Rechte des Einzelnen durch ein Zivilverfahren voraus, seine Freiheit in gewissem Grad einzuschränken. Ansonsten könnten die Folgen der Ausübung der unbegrenzten Freiheit mit dem Interesse des Einzelnen und dem Ziel der Rechtsordnung in Widerspruch geraten. 257 Vgl. die zahlreichen Verwendungen dieses Begriffs in unterschiedlichen Bedeutungen: Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, S. 16 ff.; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 1391 f.; Larenz, BGBAT, 7. Aufl., S. 263 ff.; Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 63 ff.

Kap. 5: Der materiellrechtliche Anspruch im deutschen Zivilrechtssystem

97

(3) Derselbe oder der doch im Wesentlichen gleiche Lebenssachverhalt kann die Tatbestände verschiedener Normen erfüllen. Wenn eine Norm die Anwendung einer anderen Norm völlig verdrängen kann, wird von „normenverdrängender Konkurrenz“ ge­sprochen. Das ist vor allem der Fall, wenn die anzuwendende Norm im Vergleich mit anderen Normen „lex specialis“ ist.258 Die Frage, welches Verhältnis zwischen den konkurrierenden Normen besteht, ist – wie Enneccerus und Nipperdey dargestellt haben – „eine (oft recht schwierige) Frage der Auslegung oder der Rechtsfindung, die auf Grund des Wortlauts, des Zusammenhangs, der historischen Entwicklung und Entstehungsgeschichte, besonders aber auch nach dem Zweck der fraglichen Vorschriften und dem Wert des Ergebnisses der einen oder der anderen Auslegung zu lösen ist“.259 IV. Die „Anspruchskonkurrenz in weiterem Sinne“ Wie schon oben erwähnt, kann der Ausdruck „Anspruch“ in zwei Bedeutungen verwendet werden: als abstraktes objektives Recht (Anspruchsgrundlage) und als subjektives Recht (konkretes Begehren des Gläubigers). Wenn ein Sachverhalt die Tatbestände zweier oder mehrerer Anspruchsnormen erfüllt, dann konkur­ rieren nicht nur diese Normen miteinander, sondern auch die Ansprüche als subjektives Recht des Berechtigten. So gelten die drei Fälle der Gesetzeskonkurrenz auch in Fällen der Anspruchskonkurrenz, wenn jede konkurrierende Norm dem Berechtigten einen Anspruch zuteilt. Entsprechend werden vor allem die „kumulative Anspruchskonkurrenz“,260 die „alternative Anspruchskonkurrenz“ und die „anspruchverdrängende Konkurrenz“ unterschieden. Außer diesen drei Arten gibt es noch eine weitere, besondere Art von Anspruchskonkurrenz. Sie beruht nicht auf der Beziehung zwischen den Anspruchsnormen untereinander, sondern auf dem Anwendungsgrund der Anspruchsnormen. So stehen beispielsweise bei einem Unfall dem Straßenbahnfahrgast aus Vertrag (§§ 249 ff. BGB), Delikt (§ 823 Abs. 1 BGB) und Gefährdungshaftung (§ 7 Abs. 1 StVG) begründete Schadensersatzansprüche zu.261 Diese drei Anspruchsnormen gehören zu unterschiedlichen Gebieten und haben zumindest keine direkte Verbindung zueinander. In ihnen werden insbesondere unterschiedliche Tatbestandsmerkmale geregelt. Das Zusammentreffen dieser Normen beruht darauf, dass ein im Wesentlichen identischer Lebenssachverhalt unter verschiedene Anspruchsnormen subsumiert wird. Eine Besonderheit dieser Fallgruppe 258 Larenz,

BGBAT, 7. Aufl., S. 263.

259 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner

Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 351. gebräuchliche Termini sind „Anspruchskumulation“ oder „Anspruchshäufung“; vgl. Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 76; Köhler, BGB Allgemeiner Teil, S. 237; Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 120 f. 261 Jauernig, ZPR, S. 122. 260 Andere

98

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

liegt darin, dass die Normen – trotz der Unterschiede zwischen den Tatbestandsmerkmalen – demselben Sachverhalt inhaltlich gleiche oder ähnliche Rechtsfolgen zuweisen.262 Diese Art von Anspruchskonkurrenz wird im Folgenden als „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ bezeichnet. Lösungen für die oben genannten drei Arten der Anspruchskonkurrenz bzw. Gesetzeskonkurrenz, können schon von den Gesetzen vorgegeben sein oder durch Analyse und Auslegung der jeweils konkurrierenden Anspruchsnormen gefunden werden. Für die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ gilt dies aber nicht. Die Frage, welche Ansprüche konkurrieren, kann sich nur anhand eines konkreten Falls ergeben. Das Verhältnis solcher konkurrierenden Ansprüche lässt sich daher nicht durch allgemeine Regeln bestimmen. Die Analyse und Behandlung dieser „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ sind umstritten. Eine angemessene Lösung zu finden, ist nicht nur für die Privatrechtswissenschaft, sondern auch für die Prozessrechtswissenschaft eine große Herausforderung.263 Es ist daher unumgänglich, die Problematik der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ im Folgenden ausführlich darzustellen.

C. Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ und ihre Besonderheiten I. Die Charakteristika der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ Wichtig ist vor allem, die Eigenschaften der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ festzulegen. Meines Erachtens besitzt die Fallgruppe der „Anspruchs­ konkurrenz in engerem Sinne“ vier Charakteristika: (1) Die Tatbestände der die konkurrierenden Ansprüche begründenden Anspruchsnormen sind voneinander unabhängig. Der in einer Norm geregelte Tatbestand ist kein Unterfall des Tatbestandes der anderen Norm. Zwischen solchen Normen gibt es in Bezug auf die Tatbestände nur Ähnlichkeit. (2) Die sich aus demselben Sachverhalt ergebenden Ansprüche bestehen unabhängig voneinander, solange noch keiner der Ansprüche erfüllt wurde. Der Grund dafür liegt darin, dass solche Ansprüche von Normen aus verschiedenen Rechtsgebieten begründet werden und jeder Anspruch in seinem Rechtsgebiet sein eigenständiges Ziel hat. (3) Solche Ansprüche können gerechterweise nicht kumuliert erfüllt werden, weil die durch die Ansprüche zu erstrebenden Ziele in der Tat gleich oder fast identisch sind. Der Schuldner kann in diesem Fall nur einmal verpflichtet werden, 262 Die Gleichheit oder Ähnlichkeit der Rechtsfolgen ist manchmal nicht offensichtlich; vielmehr wird sie durch die Ermittlung des Zieles der Normen festgestellt. 263 Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, Rn. 406 f.; Larenz, BGBAT, 7. Aufl, S. 266 ff.

Kap. 5: Der materiellrechtliche Anspruch im deutschen Zivilrechtssystem

99

und zwar dann, wenn man das Ziel der gesamten Privatrechtsordnung und nicht die einzelne Ziele verschiedener Privatrechtsgebiete in Betracht zieht. (4) Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ gibt es nur im konkreten Fall. Daher ist eine allgemeine Regel für diese Problematik aus materiellrechtlicher Sicht nicht möglich. II. Die Ursache der Problematik der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ „Rechtsnormen sehen gewöhnlich vor, daß bestimmte Pflichten (als ‚Rechtsfolge‘) unter bestimmten Voraussetzungen (bei Vorliegen eines bestimmten ‚Tatbestands‘) entstehen, entfallen oder geändert werden.“264 Einerseits ist das Vor­ liegen eines bestimmten Tatbestandes ein zureichender Grund für das Bestehen des vorgesehenen Anspruchs; andererseits ist eine Anspruchsnorm geeignet, „mehrere gleichliegende Fälle zu regeln“.265 Die ursprüngliche Intention der Gesetzgeber ist es, für gleichliegende Fälle eine einzige Anspruchsnorm zu setzen. Ginge diese Intention in Erfüllung, wäre das ganze Rechtssystem ein widerspruchfreies und lückenloses System.266 Jedoch kann diese Idealvorstellung nicht völlig realisiert werden. Die Tatbestandsmerkmale, mit denen eine Anspruchsnorm die Charakteristika eines Falles erfasst, können diese Charakteristika des konkreten Falles nur teilweise abstrahieren. Der Lebenssachverhalt eines Falles kann aus unterschied­lichen Perspektiven dargestellt und bewertet werden. Beispielsweise ist der oben genannte „Straßenbahnunfall“ ein Fall des Deliktes, aber auch ein Fall der Vertragspflichtverletzung. Wenn ein konkreter Sachverhalt die Tatbestände von zwei oder mehreren Anspruchsnormen erfüllt, wird er von der Rechtsordnung tatsächlich zweimal oder mehrmals geregelt. Dieses Problem beruht auf dem Widerspruch zwischen dem geschriebenen Recht als Ergebnis der beschränkten menschlichen Rationalität und der Lebenswirklichkeit, welche Menschen oft nicht vollständig erfassen können.267

264 Zippelius,

Juristische Methodenlehre, S. 28. Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, S. 656. 266 „Der juristische Gedankengang führt zur Beurteilung (Lösung) eines beurteilungsbedürftigen Sachverhalts dadurch, daß man eine auf diesen Sachverhalt zugeschnittene Fallnorm auf ihn anwendet.“ Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, S. 272. 267 Daher kann man behaupten, dass dieses Problem für die Rechtstradition des kontinentaleuropäischen Rechtskreises typisch ist. 265 Fikentscher,

100

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

III. Die Rechtsnatur der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ Auf den ersten Blick könnte die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ als Unterfall einer Rechtslücke angesehen werden. Konkreter gesagt sieht die Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne wie eine „Kollisionslücke“ aus. Die Richtigkeit dieser Ansicht soll sorgfältig geprüft werden. Nach herrschender Auffassung ist eine Rechtslücke eine „unbefriedigende Unvollständigkeit“ innerhalb des Rechtes.268 Rufen wir uns den Charakter der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ kurz in Erinnerung: Ein im Wesentlichen identischer Lebenssachverhalt wird unter verschiedene Anspruchsnormen subsumiert; nach der Auslegung dieser Normen hat keine Rechtsfolge Vorrang; die Rechtsfolgen stehen vor der Rechts­anwendung nebeneinander, können aber nicht kumulativ verwirklicht werden. Wenn in einem konkreten Fall diese Konkurrenz von zwei oder mehreren Ansprüchen festgestellt wird, dann konkurriert die Anwendung der diese Ansprüche hervorbringenden Anspruchsnormen, es konkurrieren aber nicht die Anspruchsnormen selbst. Insofern weist die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ im Vergleich mit der Rechtslücke eine Besonderheit auf. Sie tritt nur ein, wenn zwei oder mehrere Anspruchsnormen in einem Fall angewandt werden können; zwischen diesen Anspruchsnormen gibt es aber keinen Gegensatz.269 Es handelt sich also um eine dynamische Kollision der vom subjektiven Recht begründeten Ansprüche und nicht um eine statische Kollision der Normen. Hinter der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ verbirgt sich das Problem des Verhältnisses zwischen verschiedenen Rechtsinstituten, z. B. zwischen Vertragsverletzung und Delikt.270 Es tritt auf, wenn ein Sachverhalt unter die Tatbestände zweier oder mehrerer, in verschiedenen Rechtsinstituten beheimateter Anspruchsnormen subsumiert werden kann und diese Institute durch solche Ansprüche ähnliche oder gleiche Ziele verfolgen. Daher kann behauptet werden, dass die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ zu einem gewissen Grad ein „Regelungswiderspruch“ zwischen Rechtsinstituten ist.

268 Engisch/Würtenberger,

Einführung in das juristische Denken, S. 178. ist zu unterscheiden von dem Norm-, dem Wertungs- und dem gesetzestechnischen und teleologischen Widerspruch. Vgl. Engisch/Würtenberger, Einführung in das juristische Denken, S. 211 ff.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 99 f., 112 ff. 270 Larenz weist auf diesen Umstand hin: „Daß die Reichweite der einzelnen Rechtssätze nur aus ihrem Zusammenhang mit der gesamten Regelung, der sie zugehören, darüber hinaus oft aber auch nur mit anderen Regelungen und dem Verhältnis, in dem diese Regelungen zueinander stehen, verstanden werden kann, zeigt sich besonders dann, wenn mehrere Rechtssätze oder Regelungen miteinander konkurrieren.“ Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 255, 258 f. 269 Sie

Kap. 6: Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“

101

Kapitel 6

Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ und der Gegenstand des Zivilverfahrens A. Die Entstehung beider Probleme Allgemein gesagt kam das Phänomen der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne im klassischen römischen Recht selten vor. Bevor der Kläger eine Rechtsbehauptung geltend machte, musste er entscheiden, mit welcher actio er klagte. Wegen der spezifischen Eigenschaft des Aktionenrechtssystems musste er am Anfang des Prozesses sein Begehren und die anzuwendende actio festlegen. Obwohl mehrere actiones dem Kläger zur Verfügung stehen konnten, konnte er grundsätzlich nur eine davon auswählen und in den Prozess einführen. Man kann wohl behaupten, dass im klassischen römischen Recht die in den Prozess eingeführte actio der Gegenstand des Prozesses war.271 Die Festlegung des Streitgegenstands wurde entsprechend selten zu einem Problem. Grundsätzlich hat das deutsche gemeine Recht in seiner historischen Entwicklung das römische Recht rezipiert. Aber die gemeinrechtlichen Gelehrten haben während der Rezeption das römische Recht in vielerlei Hinsicht umgestaltet. Zu den wichtigs­ten und grundlegenden Veränderungen zählen die Überwindung des aktionenrechtlichen Denkens und die Auflösung des Aktionenrechtssystems durch die Pandektisten. Dadurch wurden das materielle und das prozessuale Recht als zwei selbständige Systeme etabliert – eine epochemachende Entwicklung in der deutschen Rechtsgeschichte. Die Trennung beider Rechtsgebiete (genauer: die Loslösung des Prozessrechts vom materiellen Recht) ist in zweierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung: Einerseits erlaubte sie dem Zivilrechtssystem, sich systematisch und in verfeinerter Weise weiterzuentwickeln; andererseits wurde dadurch das Zivilprozessrecht systematisch und methodisch selbständig, was die Entstehung einer unabhängigen Prozessrechtswissenschaft ermöglichte.272 Im Zuge der Verselbständigung des materiellen Rechts und und des Prozessrechts wurden das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne und das Problem des Streitgegenstandes in diese zwei verschiedenen Rechtsgebiete eingeordnet. Seit der nachklassischen Zeit orientierte sich das römische Recht nach und nach an materiellrechtlichen Vorstellungen. Diese Tendenz führte zu einem späteren Aufblühen des Denkens in materiellen Rechten,273 wodurch die Anspruchskon­ kurrenz in engerem Sinne allmählich ein häufiges Phänomen der Rechtspraxis

271 Nakamura,

M., in: Grundprobleme des Zivilprozeßrechts, S. 111. M., in: Grundprobleme des Zivilprozeßrechts, S. 111 ff., insbesondere S. 119. 273 Beispielsweise im römisch-justinianischen Rechtsbuch Corpus iuris civilis und in den verschiedenen Gesetzbüchern in der Kodifikationsbewegung der Neuzeit. 272 Nakamura,

102

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

wurde.274 Auf dem Gebiet der Zivilrechtswissenschaft haben die Gelehrten dieses Problem erkannt und zu seiner Lösung unterschiedliche Lehrmeinungen entwickelt.275 Im Bereich des Prozessrechts haben die Gelehrten im Rahmen des Aufbaus einer allgemeinen Prozessrechtstheorie den überkommenen Begriff „Gegenstand eines bürgerlichen Rechtsstreits“276 abgelöst und den „Streitgegenstand“ als abstrak­ten allgemeinen Rechtsbegriff entwickelt.277 Die Entstehung dieses Begriffs war eng mit Untersuchungen zur „Natur des Klagerechts“ und zum „Grund der Klage“ verbunden.278 Im Zuge des Aufbaus der Prozessrechtswissenschaft war die Arbeit der deutschen Prozessualisten – genau wie die der damaligen Pandektisten – stark vom Rationalismus und Konstruktivismus beeinflusst. Die Lehre vom Streitgegenstand war in gewissem Grade von der Denkweise der Begriffsjurisprudenz geprägt.279 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Frühgeschichte des Begriffs Streitgegenstand dieser ein eher abstraktes Geschöpf war. Die Lehre vom Streitgegenstand gehörte zur allgemeinen Zivilprozessrechtswissenschaft und hatte wenig praktische Bedeutung. Anfangs gehörten die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ und die Streitgegenstandslehre zu unterschiedlichen und voneinander getrennten Rechtsgebieten. Ihre wechselseitige Beziehung war nicht Gegenstand rechtswissenschaftlicher Überlegungen.

274 Nach

Hesselberger liegt die Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne häufig in den folgenden vier Fallgruppen vor: a) das gleichzeitige Bestehen vertraglicher und deliktischer Schadensersatzansprüche; b) das gleichzeitige Bestehen dinglicher und vertraglicher Herausgabe­ ansprüche; c) das gleichzeitige Bestehen von Ersatzansprüchen aus Eigentum und Vertrag; d) das Verhältnis des Anspruchs aus dem Kausalgeschäft zu dem Anspruch aus dem abstrakten Sicherungsgeschäft. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 263 ff. 275 Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ wird zwar nicht abstrakt und einheitlich behandelt, findet aber in der damaligen Literatur eine häufige Behandlung im Hinblick auf die konkreten Fälle, beispielsweise die Konkurrenz zwischen Vertrag und Delikt. Vgl. die ausführliche Darstellung in: Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, passim. 276 Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen bürgerlichen Processes, 2. Aufl., 1805, S. 21. Dieser Betriff bezeichnete den konkreten Gegenstand eines Rechtsstreits. 277 Vgl. Linde, Lehrbuch des deutschen gemeinen Civilprozesses, 1843, S. 230 f.; Osterloh, Lehrbuch des gemeinen, deutschen ordentlichen Civilprozesses, Bd. I, 1856, S. 217 f. 278 Nakamura, M., in: Grundprobleme des Zivilprozeßrechts, S. 111 ff., insb. S. 112 f. und die Darstellungen in Fn. 6, 7). 279 Beispielsweise wurde im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung der Prozessrechtswissenschaft auch schon der „Rechtsschutzanspruch“ als „Streitgegenstand“ angesehen. Vgl. beispielsweise Wach, Handbuch des Deutschen Civilprozeßrechts, S. 296 f.; ders., FG Windscheid, S. 15 ff.; Stein/Jonas/Pohle, 19. Aufl., Einl. E III 1 c. Die Lehre vom Rechtsschutz­ anspruch wird heute überwiegend abgelehnt; auch soweit sie von der deutsche Prozessualistik aufgenommen wird, ist eine Gleichstellung von Rechtsschutzanspruch und Streitgegenstand zu verneinen, da die Lehre vom Rechtsschutzanspruch und die Streitgegenstandslehre unterschiedliche Aufgabenstellung haben. Vgl. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 17; Mes, Rechtsschutzanspruch, S. 127 f.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 124; Detterbeck, AcP 192, S. 338 f.

Kap. 6: Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“

103

B. Der Zusammenhang beider Rechtsprobleme Die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen dem Phänomen der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne und dem Streitgegenstand ergab sich erst aus der Rechtspraxis. Die Festlegung des Gegenstands eines Verfahrens war normalerweise nicht besonders schwierig; man konnte das klägerische Begehren, einen materiel­len Anspruch, das Klagerecht oder eine actio als Verfahrensgegenstand ansehen.280 Dies galt aber im Fall der Anspruchs­konkurrenz in engerem Sinne nicht. In der Rechtspraxis stellte sich die Frage: Wenn im Rahmen des Zivilrechtssystems mehrere Ansprüche auf dasselbe Ziel gerichtet sind, liegt dann – prozessual gesehen – ein Streitgegenstand vor oder entspricht der Mehrzahl der materiellrechtlichen Ansprüche eine Mehrzahl prozessualer Ansprüche? Einige Gelehrte waren der Meinung, dass Gegenstand eines Verfahrens die Frage sei, ob der vom Kläger behauptete materiellrechtliche Anspruch aufgrund des Sachverhalts begründet ist. Von anderer Seite wurde die Ansicht vertreten, Streitgegenstand sei das inhaltliche Ziel der Klage und seine Verwirklichungsmöglichkeit. Die erste Lehrmeinung richtete sich vor allem auf die Durchsetzung des materiellen Rechts. Sie betonte, jeder einzelne materielle Anspruch solle im Prozess geltend gemacht und geprüft werden können. Demgegenüber legte die zweite Lehrmeinung das Gewicht auf die prozessuale Behandlung des Klageziels und die Beilegung des Streites insgesamt. Beide Lehrmeinungen und ihre Varianten sind bis in die Gegenwart Gegenstand anhaltender Auseinandersetzung. Daher lässt sich sagen, dass die Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne zwar nicht das einzige Problem ist, welches die Streitgegenstandslehre beschäftigt, aber sie ist vielleicht doch das wichtigste Thema einer jeden Streitgegenstandslehre.281 Erst mit dem Auftreten der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne nimmt die Streitgegenstandslehre eine zentrale Position in der Prozessrechtswissenschaft ein.

C. Die Funktion der Streitgegenstandslehre Zwar ist die Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne ein Phänomen des mate­ riellen Rechts. Wie die Geschichte der Zivilrechtswissenschaft zeigt, haben die Zivilrechtslehrer trotz vieler Bemühungen bis heute für das Problem keine allgemein

280 Der

Gesetzgeber des BGB schuf keine Regelung der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne. In der CPO wurden die Begriffe „Gegenstand eines Streites“ und „Anspruch“ als gleichbedeutend verwendet. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 6 f. Daher weist Künzel darauf hin, „der Gesetzgeber habe nur den Idealfall vor Augen gehabt, […] [dass] ein materieller Anspruch in einer Klage verfolgt wird“. Künzel, in: Erlanger FS für Schwab, S. 127. 281 Wie Hesselberger zu Recht dargelegt hat: „Jede Streitgegenstandslehre wurde vor allem daran gemessen, ob es ihr gelingt, die Konkurrenz von materiellen Ansprüchen auf prozessualer Ebene dogmatisch einwandfrei und praktisch befriedigend zu lösen.“ Hesselberger, Streitgegenstand, S. 257. Vgl. auch Rechberger/Simotta, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 391.

104

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

akzeptierte Lösung zu finden vermocht.282 Aber auch für die Prozessrechtswissenschaft scheint dieses Phänomen mit seinen Besonderheiten nach wie vor eine schwierige Aufgabe zu sein: (1) Zunächst stellt sich die Frage, ob der Kläger, wenn die aufgrund einer Anspruchsgrundlage gestellte Klage abgewiesen worden ist, unter Berufung auf andere Anspruchsnormen, die auf dasselbe oder ein ähnliches Ziel wie der abgewiesene Anspruch gerichtet sind, ein weiteres Mal klagen darf. Wird die Zulässigkeit einer Erhebung der zweiten Klage bejaht, droht der Beklagte in vielleicht ungerechtfertigter Weise noch einmal in einen Prozess hineingezogen zu werden. Zudem besteht die Gefahr, dass es zu widersprüchlichen Entscheidungen kommt, was angesichts der Zielsetzung des Rechts, den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit zu wahren nicht tragbar sein dürfte. Wird hingegen die zweite Klage prinzipiell abgewiesen, kann sich der Kläger zu Recht fragen, warum er unter Berufung auf die anderen Anspruchsgrundlagen nicht ein weiteres Mal klagen darf, obwohl ihm doch aufgrund des Sachverhalts mehrere Anspruchsgrundlagen zur Verfügung stehen und im ersten Prozess nur eine davon abgewiesen worden ist. (2) Darüber hinaus bleibt die Frage, ob der Kläger, wenn er die aufgrund einer Anspruchsgrundlage eingereichte Klage gewonnen hat, unter Berufung auf die anderen Anspruchsnormen, die im Vergleich mit dem bejahten Anspruch das Interesse des Klägers besser befriedigen können,283 ein weiteres Mal klagen darf. Wird ihm dies zugestanden, kann dies dazu führen, dass der Beklagte mit zwei Vorstreckungstiteln doppelt belastet wird. Wird dem Kläger diese Möglichkeit verwehrt, stellt sich die Frage, warum die zweite Klage nicht erhoben werden darf, auch wenn der in der zweiten Klage gestellte Anspruch gut begründet ist. Im Ergebnis lässt sich die Problematik der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne folgendermaßen zusammenfassen: Es sind aufgrund eines Lebensvorgangs mehrere Anspruchsgrundlagen gegeben, die auf dasselbe oder ein ähnliches wirtschaftliches Ziel gerichtet sind. Kern der Problematik ist folglich die Ungleichheit der Anzahl von Sachverhalten und Anspruchsnormen sowie die Ungleichheit der Anzahl von Rechtsschutzmitteln und Rechtsschutzzwecken. Die systematische Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht erscheint insofern als der unmittelbare Grund für die Entstehung des Phänomens der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne. Materielles Recht und Prozessrecht unter 282 Dietz, Anspruchskonkurrenz

bei Vertragsverletzung und Delikt, S. 69 ff.; Larenz, BGBAT, 7.  Aufl, S.  266 ff.; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl., § 83 VI 1; Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 81 ff.; Schlechtriem, Vertragsordnung und ausservertragliche Haftung, S. 27 ff.; Eichler, AcP 162, S. 401 ff.; Arens, AcP 170, S. 392 ff. 283 Beispielsweise hat der Kläger erst nach dem ersten Verfahren erfahren, dass er mit einer anderen Anspruchsgrundlage einen höheren Schadensersatzbetrag einfordern oder eine andere Rechtsfolge beantragen kann.

Kap. 6: Die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“

105

scheiden sich in ihrer Rechtsnatur, Denkweise und auch teilweise in ihren Zielen.284 Das fundamentale Ziel des materiellen Rechts ist es, die subjektiven Rechte der Individuen festzulegen. Das Prozessrecht dient vor allem dazu, die zivilrechtlichen Regeln in der Weise zu stützen, dass solche subjektiven Rechte bewahrt und durchgesetzt werden können.285 Allerdings beschränkt sich die Zielsetzung des Prozessrechts nicht auf diesen Punkt. Das Prozessrecht bezieht sich auf den Rechtsstreit insgesamt und seine gerechte Erledigung. Das Urteil und seine Vollstreckung greifen tief in das Leben der Individuen ein. Daher muss das Prozessrecht – im Vergleich zum Zivilrecht – weiteren Gesichtspunkten Rechnung tragen, wie etwa dem Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und der Gleichberechtigung beider Parteien, aber auch den Befugnissen der Richter und ihren Grenze, der Prozessökonomie usw.286 Angesichts solcher Unterschiede zwischen beiden Rechtsgebieten ist es durchaus naheliegend, dass bei der Lösung der Problematik der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne zivilrechtliche und prozessrechtliche Gesichtspunkte in Konflikt miteinander geraten können. Die Schwierigkeit besteht demzufolge darin, Lösungen zu entwickeln, die sowohl das materielle Recht des Einzelnen angemessen gewährleisten als auch zur befriedigenden und endgültigen Erledigung des Rechtsstreites dienen können.287 Das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne hat zwar seinen Ursprung im materiellen Recht, zu seiner Lösung darf man aber die Erfordernisse des Prozessrechts nicht außer Acht lassen.288 Obwohl umgekehrt die Problematik des Streitgegenstands zwar zum Bereich des Prozessrechts gehört, sollen ihre Lösungen doch die Ziele des Zivilrechts ausreichend berücksichtigen. Eine vernünftige Lösung verlangt eine Harmonisierung der Zielsetzungen des materiellen Rechts und des Prozessrechts und muss sich an der Zwecksetzung der Gesamtrechts­ 284 Zöllner, AcP 190,

S. 471. die klassische Ansicht zur Funktion des Prozessrechts. Vgl. die Darstellung Kleins: „Der Prozeß ist ein Mittel zur Feststellung des materiellen Rechtes und muss es bleiben“. Klein, Vorlesungen über die Praxis des Civilprocesses, S. 11. Darin besteht – nach heutiger herrschender Meinung – das wichtigste Ziel des Prozessrechts. Vgl. Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 9 f.; MünchKomm/Rauscher, 3. Aufl., Einl., Rn. 8; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, § 1, Rn. 5 ff.; Jauernig, ZPR, S. 2; ders., JuS 1971, S. 329; Schilken, ZPR, Rn. 8, 10; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 1 f.; Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Zivilprozeßrechts, S. 15 f., 21; Stürner, FS Baumgärtel, S. 545 f.; Gaul, AcP 168, S. 47. 286 Vgl. Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 12 ff.; MünchKomm/Rauscher, 3. Aufl., Einl., Rn. 9, 12 ff., 15; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 1, Rn. 8 ff.; Jauernig, ZPR, S. 1 ff.; Schilken, ZPR, Rn. 9, 11 ff.; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrecht, S. 3 ff.; Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Zivilprozeßrechts, S. 32 f.; Lüke, ZPR, S. 4; Gaul, AcP 168, S. 53 ff.; Stürner, FS Baumgärtel, S. 547 ff.; Pawlowski, ZZP 80, S. 345 ff.; Schumann, FS Larenz, S. 271 ff. Daher wird das Zivilprozessrecht ganz überwiegend als öffentlichrechtlich qualifiziert. 287 So Pfeiffer, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, S. 85: „Der Streitgegenstandsbegriff […] dient dem prozeßrechtlichen Ziel einer Effektuierung des Rechtsschutzes unter den Bedingungen materiellrechtlicher Anspruchskonkurrenz.“ 288 Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 73. 285 So

106

2. Teil: Die institutionellen Grundlagen des Streitgegenstandsproblems

ordnung ausrichten. Daher ist der Streitgegenstandslehre die Aufgabe zugewiesen, als Brücke zwischen dem – systematisch und gedanklich getrennten – Zivilrecht und Prozessrecht zu dienen.289 Zur Lösung dieser Aufgabe haben die deutschen Gelehrten in der Neuzeit und Gegenwart verschiedene Lehren entwickelt. Die wichtigsten sollen in den folgenden Abschnitten vorgestellt und eingehend untersucht werden.

289 Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 9, 11 ff.; Hesselberger, Streitgegenstand, S.  25 f.

Dritter Teil

Das Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland 3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland Kapitel 7

Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland A. Einleitung Die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Streitgegenstandstheorien zählt zu den wichtigsten Ereignissen der Entwicklungsgeschichte des deutschen Zivilprozessrechts. Die lange Dauer, die erheblichen Meinungsunterschiede und der starke Einfluss auf die Juristenausbildung und die Rechtspraxis, die damit verbunden sind, finden sich sonst so bei keinem anderen Problem des Zivil­ prozessrechts.290 Es ist schon eine eigentümliche Ironie, dass die Theorien über den Streitgegenstand, die im Rechtsleben Frieden stiften sollen, selbst im Streit befangen bleiben.291 Die Diskussion über die Lehre vom Streitgegenstand begann Anfang des 20. Jahrhunderts292 und hatte ihre Blütezeit von den 50er- bis zu den 70er-Jahren.293 Bis heute ist die Debatte unter Prozessualisten nicht zur Ruhe gekommen, allerdings hat sich aufgrund der Erfordernisse der Praxis nach und nach eine herrschende Meinung herausgebildet. Trotzdem ist eine Darstellung und Würdigung der unterschiedlichen Lehrmeinungen in der Vergangenheit von Bedeutung: Einerseits dient eine Betrachtung der Kontroversen sowie der Entwicklung der Streit­ 290 Schwab,

Streitgegenstand, S. 2 ff.; Nikisch, AcP 154, S. 272. Habscheid, ZVglRWiss 75, S. 210. 292 Z. B. Lent, Die Gesetzeskonkurrenz im bürgerlichen Recht und Zivilprozeß, Bd. I und II; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozessrechts, 1. Aufl., S. 236 ff.; Nikisch, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1935. 293 Z. B. Schwab, Der Streitgengenstand im Zivilprozeß, 1954; Habscheid, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß und im Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, 1956; Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1961; Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, 1967; Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und im Zivilprozessrecht, 1968; Hesselberger, Die Lehre vom Streitgegenstand: Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Stand, 1970; Rimmelspacher, Materiellrecht­ licher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozeß, 1970. 291 Vgl.

108

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

gegenstandslehre einer Vertiefung der Erkenntnis über den Streitgegenstand; andererseits ermöglichen sie es, Annäherungen zwischen unterschiedlichen Theorien, eine herrschende Meinung zu bilden und weiterzuentwickeln. Im Folgenden werden einige grundlegenden Lehrmeinungen über den Streit­ gegenstand in der Reihenfolge ihrer historischen Entwicklung dargestellt.

B. Die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie I. Überblick Nach der Verbreitung der Windscheid’schen Theorie über den Anspruch war am Ende des 19. Jahrhunderts der materiellrechtliche Anspruch als einer der zentralen Begriffe der Privatrechtswissenschaft anerkannt. Aufgrund des damaligen Verhältnisses zwischen Zivilrecht und Prozessrecht wurde die Prozessrechtswissenschaft selbstverständlich von diesem Gedanke beeinflusst.294 Viele Prozessualisten gingen davon aus, dass der Gegenstand eines Rechtsstreits der Anspruch im materiellrechtlichen Sinne sei. Zwar lässt sich nur schwer behaupten, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers der CPO der Streitgegenstand und der materiellrechtliche Anspruch völlig identisch seien.295 Den Streitgegenstand als materiellrechtlichen Anspruch zu verstehen, bot jedoch eine praktische Handhabe, den jeweils in Frage stehenden Fall zu analysieren. Entsprechend wurde diese Ansicht zunächst von den damaligen Juristen ohne Zögern akzeptiert, nach kurzer Zeit jedoch bezweifelt296 und endlich aufgegeben. II. Bewertung Der Grund für die Akzeptanz der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie war, dass die Einheit der Privatrechtsordnung und der als Privatrechtsschutzordnung angesehenen Prozessrechtsordnung in jener Zeit als wichtiger Grundsatz galt.297 Einige unlösbare Schwierigkeiten führten jedoch kurz nach Inkrafttreten der CPO zum Niedergang dieser Theorie, was mit dem Aufkommen einer prozessrechtlichen Betrachtungsweise der Problematik des Streitgegenstandes einherging. Die Schwäche der Theorie zeigt sich in drei Punkten:

294 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

ZPR, § 92, Rn. 8. z. B. die Formulierungen in §§ 62, 64, 148 ZPO. 296 Vgl. Wach, FG Windscheid, S. 15 ff. 297 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 7; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 135. Die Verselbständigung des prozessrechtlichen Denkens und die Loslösung des prozessualen von dem materiellrechtlichen Anspruchsbegriff waren allenfalls ein Ziel, das erst später zu erreichen war. 295 Vgl.

Kap. 7: Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland 

109

–– Erstens geht es in einem Zivilprozess stets nur um vom Kläger behauptete, nicht aber um bestehende Rechte. Ob tatsächlich ein Anspruch des Klägers besteht, kann letztlich nur durch ein Urteil bestimmt werden, jedoch kann der Prozess keinesfalls ohne Streitgegenstand stattfinden. Daher wurde die Identifizierung des Streitgegenstandes mit dem materiellrechtlichen Anspruch als unhaltbar angesehen.298 –– Zweitens ist es nur bei der Leistungsklage möglich, den materiellrechtlichen Anspruch als Streitgegenstand anzusehen. Bei der Feststellungsklage hingegen geht es um die Feststellung eines absoluten Rechts oder eines Rechtsverhältnisses, nicht um die Durchsetzung eines materiellrechtlichen Anspruchs. Zudem tritt an die Stelle des materiellrechtlichen Anspruchs bei der Gestaltungsklage das Gestaltungsrecht. Mit einem Wort, die ursprüngliche Theorie ist nicht in der Lage, den verschiedenen Rechtsschutzformen gerecht zu werden.299 –– Das dritte Argument gegen diese Theorie ergibt sich aus der Schwierigkeit, dass sie keine zutreffende Lösung für das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne anbieten kann. Nimmt man den Schulfall „Straßenbahnunfall“ als Beispiel: Da drei unterschiedliche materiellrechtliche Ansprüche aus dem Sachverhalt abgeleitet werden können, muss man – nach dieser Theorie – insgesamt drei Streitgegenstände in einem Verfahren annehmen, was offensichtlich nicht vertretbar ist. Den meisten Gelehrten zufolge ist daher diese Theorie anzu­lehnen.300

C. Die klassische zweigliedrige prozessuale Theorie I. Überblick Die Schwierigkeiten der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie haben zur Entwicklung eines rein prozessualen Streitgegenstandsbegriffs geführt.301 Zunächst entstand der von Rosenberg und Nikisch vertretene zweigliedrige Streitgegenstandsbegriff. Nach dieser Theorie wird der Streitgegenstand als eigenständiger prozessualer Anspruch verstanden und inhaltlich durch Antrag und Sachverhalt als gleichrangige Elemente bestimmt. Ein einzelner prozessualer Anspruch liegt vor, wenn der Kläger aufgrund eines Sachverhaltes nur einen Antrag gestellt hat. „Dagegen liegen mehrere prozessuale Ansprüche vor, wenn der Klä-

298 Schwab,

JuS 1965, S. 82. JuS 1965, S. 81 f. 300 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 9; Horn, Jus 1992, S. 681. 301 Nach der Untersuchung von Hesselberger wurde der Streitgegenstand gegenüber dem materiell­rechtlichen Anspruch durch die Bemühungen von Degenkolb, Plósz, Wach, Hellwig und Lent Schritt für Schritt verselbständigt, bis Rosenberg und Nikisch einen rein prozessualen Streitgegenstandsbegriff aufstellten. Vgl. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 96 ff., 167 ff. 299 Schwab,

110

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

ger entweder mehrere Anträge stellt oder aber ein Antrag des Klägers auf mehrere Lebenssach­verhalte gestützt wird.“302 Trotz vieler theoretischer Unterschiede im Einzelnen sind für die verschiedenen Vertreter dieser Theorie zwei grundlegende Punkte unstrittig: Erstens, der prozessuale Anspruchsbegriff ist weder mit dem materiellrechtlichen Anspruchsbegriff identisch, noch wird er nach materiellrechtlichen Kriterien abgegrenzt; zweitens, der Sachverhaltsbegriff ist nicht identisch mit einem Sachverhaltsbegriff, der in enger Beziehung zu den Tatbestandsmerkmalen des materiellrechtlichen Anspruchs steht.303 II. Bewertung Nach allgemeiner Auffassung besteht der Vorzug dieser Theorie vor allem darin, dass sie eine praktische Lösung für das Problem der materiellrechtlichen Anspruchskonkurrenz anbieten kann.304 Zudem passt der zweigliedrige Streit­ gegenstandsbegriff für sämtliche Rechtsschutzformen. Interessant ist die Übereinstimmung zwischen dieser Theorie und dem Inhalt des § 253 II Nr. 2 ZPO, einer Vorschrift, nach der für die Klageerhebung ein bestimmter Antrag und die genaue Angabe des Grundes für diesen Antrag notwendig sind. Wegen ihrer Vorzüge wird diese Theorie in der heutigen prozessrechtlichen Literatur häufig vertreten. Sie hat nach und nach die Stelle der herrschenden Lehre einnehmen können.305 Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich in zahlreichen Entscheidungen dieser Theorie angeschlossen.306 Schwächen der Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff zeigen sich allerdings bei der Abgrenzung des Sachverhaltes in der Praxis: Es sind keine eindeutigen Kriterien gegeben, um zu bestimmen, ob jeweils derselbe oder ein anderer Sachverhalt vorliegt.307 Der Versuch, den Sachverhalt mit Hilfe der Theorie des materiellrechtlichen Anspruchs abzugrenzen, wird als erfolglos angesehen und abgelehnt. Darüber hinaus wird kein Weg aufgezeigt, wie die Problematik des Streitgegenstandes zu lösen ist, wenn ausgehend von mehreren Sachverhalten dasselbe Ziel angestrebt wird.308 Der Theorie zufolge werden in diesem Fall mehrere

302 Stein/Jonas/Roth,

22. Aufl., vor § 253, Rn. 18. Streitgegenstand, S. 168 ff.; insbesondere die Darstellung Habscheids über „Lebenssachverhalt“. Vgl. Habscheid, Streitgegenstand, S. 206 ff. 304 Beispielsweise Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 24; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 10. 305 Z. B. die Lehrbücher: Schilken, ZPR, Rn. 229; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 311; Grunsky, ZPR, Rn. 116. 306 Zahlreiche Nachweise in: Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 11, Fn. 31. 307 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 24. 308 Beispielsweise die Schulfälle: Begehren des Klägers (1) aus dem Kausalgeschäft und dem abstrakten Schuldanerkenntnis; (2) aus dem Kausalgeschäft und dem wechsel. Vgl. Schwab, JuS 1965, S. 83; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 308. 303 Hesselberger,

Kap. 7: Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland 

111

Streitgegenstände anerkannt, was jedoch zu unhaltbaren Ergebnissen – zum Beispiel für die Frage der Rechtshängigkeit – führt.309 Abgesehen von den genannten und viel kritisierten Schwächen wirft die klassische Theorie vom zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff eine weitere Schwierigkeit auf. Unter ihren Vertretern, aber auch unter anderen Prozessualisten herrscht Uneinigkeit darüber, ob dieser Theorie zufolge der Antrag und der Sachverhalt zwei Elemente für die Abgrenzung des Streitgegenstandes oder zwei Bestandteile des Streitgegenstandes sind.310 Zwar ähneln sich die von verschiedenen Vertretern dieser Theorie gegebenen Definitionen des Streitgegenstandes mehr oder weniger,311 doch fehlt in den einzelnen Darstellungen für gewöhnlich eine Unter 309 Um diese Schwierigkeit zu beseitigen befürwortet Habscheid die alternative Anspruchshäufung. Vgl. Habscheid, Streitgegenstand, S. 255 f. Ablehnend hingegen Hesselberger, Streitgegenstand, S. 215 ff.; Schwab, ZZP 71, S. 160; ders., Der Stand, JuS 1965, S. 83. 310 So stimmen z. B. die Darstellungen Schwabs zur zweigliedrigen Theorie nicht überein: „Durch den Sachverhalt und den Antrag […] wird also bei Rosenberg der Streitgegenstand bestimmt. Sachverhalt und Antrag sind aber nicht der Streitgegenstand“(Schwab, Streitgegenstand, S. 28); „Sachverhalt und Antrag sollten gleichwertige und gleich wichtige Elemente des Streitgegenstands sein“ (Schwab, JuS 1965, S. 83). Weitere Hinweise von Schwab finden sich in seiner Darstellung zur Auffassung Nikischs: ders, Streitgegenstand, S. 44 f. Nach der Ansicht von Rosenberg ist die Funktion dieser zwei Elemente in der Bestimmung des Streitgegenstandes folgende: „[der Streitgegenstand ist] das […] Begehren, das durch den gestellten Antrag und den zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalt gekennzeichnet wird“. Rosenberg, ZPR, 1. Aufl., S. 240 f. Antrag und Sachverhalt nimmt Nikisch grundsätzlich als Elemente zur Inhaltsbestimmung des Streitgegenstandes an. Allerdings formuliert er in seiner Darstellung hinsichtlich der Funktion der Begründung der Rechtsbehauptung (nämlich des Sachverhalts) in manchen Fällen: „[…] die Begründung, die der Kläger seiner Rechtsbehauptung beigibt, [hat] eine doppelte Funktion: sie soll nicht nur die Rechtsbehauptung rechtfertigen, sie soll sie gleichzeitig individualisieren, d. h. von anderen Rechts­be­haup­tungen gleichen Inhalts unterscheidbar machen“. Nikisch, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 33. Daher ist nach seiner Auffassung der Streitgegenstandsbegriff in einigen Fällen die Rechtsbehauptung, die von einem bestimmten Sachverhalt begründet wird. Der Sachverhalt wird aus diesem Grund in gewissem Sinne im Begriff des Streitgegenstandes eingeschlossen. Hesselberger hat in seiner Bemerkung zur zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie folgende Formulierung gegeben: „Die […] Lehre von der Zweigliedrigkeit des Streitgegenstands faßt den Antrag und den Sachverhalt als gleichberechtigte, bestimmende Bestandteile des Streitgegenstands auf. Der Sachverhalt wird in allen Fällen als Element des prozessualen Anspruchs verstanden“. Hesselberger, Streitgegenstand, S. 168, mit Hinweis auf zahlreiche Literatur in Fn. 1. Nach seiner Auffassung werden Antrag und Sachverhalt in der zweigliedrigen Streit­ gegenstandstheorie als zwei Bestandteile angesehen. Allerdings lohnt es sich, über die interessante Formulierung „bestimmende Bestandteile“ nachzudenken. Die relativ junge Darstellung von Beys lautet wie folgt: „Nach der zweigliedrigen Theorie besteht der Streitgegenstand aus dem Klagantrag und dem Sachverhalt als gleichwertige Elemente […].“ Beys, ZZP 105, S. 153. 311 Dies trifft zumindest für die Definitionen einiger führender Vertreter dieser Theorie zu, so etwa für die von Rosenberg gegebene Definition des Streitgegenstandes als „das auf rechtskraftfähige Feststellung einer Rechtsfolge gerichtete Begehren“ (Rosenberg, ZPR, 1. Aufl., S. 240), diejenige von Nikisch als „die Rechtsbehauptung, über die der Kläger eine der Rechtskraft fähige Entscheidung begehrt“ (Nikisch, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 33), oder

112

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

suchung zur Natur und zum Inhalt des prozessualen Anspruchs. Die typische Darstellung der zweigliedrigen Theorie fängt mit der Behauptung an, dass der Streitgegenstand im rein prozessualen Sinne gesehen werden soll, und endet mit der Darlegung zur Funktion und Bedeutung des Antrags und des Sachverhaltes für die Bestimmung des Streitgegenstandes. Mit anderen Worten: Auf eine Analyse des Inhalts des Streitgegenstandes oder des prozessualen Anspruchs wird – absichtlich oder unabsichtlich – verzichtet.312 Das Fehlen einer detaillierten Untersuchung zum Inhalt des Streitgegenstandes steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem oben dargestellten Misserfolg der Versuche einer zutreffenden Abgrenzung des Sachverhaltes. Darüber hinaus scheint aber auch die Behauptung zweifelhaft, die klassische zweigliedrige Theorie habe den Vorteil, „in allen Fällen, in denen aus einem Sachverhalt oder Lebensvorgang mehrere materiellrechtliche Ansprüche mit demselben Ziel entsprangen, eine Anspruchskonkurrenz mit deren unlösbaren Folgerungen zu vermeiden und zur Anspruchseinheit zu gelangen.“313 In diesem Zusammenhang sollte nicht so sehr von einer Lösung als vielmehr von einer Vertuschung des Problems der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne gesprochen werden, da das Problem allenfalls theoretisch, aber keinesfalls tatsächlich gelöst wird.314 Die Judikative kann insofern bei der Behandlung der Konkurrenzfrage von der Theorie des zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffs wenig praktische Hilfe erwarten.

diejenige von Habscheid als „die Rechtsbehauptung des Klägers, ihm sei in dem eingeschlagenen Verfahren die begehrte Rechtsfolge auf Grund eines bestimmten Lebenssachverhaltes zuzusprechen“ (Habscheid, Streitgegenstand, S. 221 f.). In einem Aufsatz von 1990 meint Habscheid, es sei eine Frage des Sprachempfindens, ob man nun von Begehren oder Rechts­ behauptung spricht. Vgl. Habscheid, FS Schwab, S. 183. 312 Daher mögen manche Juristen den irrigen Eindruck gewinnen, dass der Antrag und Sachverhalt in der Theorie des zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffs die Bestandteile (Inhalte) des Streitgegenstandes bzw. des prozessualen Anspruchs sind. 313 Schwab, JuS 1965, S. 83; vgl. auch Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn 24. 314 In dem Schulfall „Straßenbahnunfall“ liegen dieser Theorie zufolge trotz dreier materiellrechtlicher Ansprüche nur ein Klageantrag und ein Lebenssachverhalt vor. Daher wird in diesem Fall – theoretisch und formell – nur ein Streitgegenstand anerkannt. Aber eine Fülle von Fragen bleibt nicht beantwortet, z. B.: wie behandelt man die Unterschiede von Rechtsfolgen und Tatbestandmerkmalen solcher materiellrechtlichen Ansprüche; wie ist das Verhältnis zwischen solchen materiellrechtlichen Ansprüchen im Prozess?

Kap. 7: Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland 

113

D. Die eingliedrige prozessuale Theorie I. Überblick Mit Blick auf die Schwäche des zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriffs in den Fällen, in denen ein Antrag aus mehreren Sachverhalten begründet werden kann, wurde die Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstand entwickelt.315 Nach ihr wird der Inhalt des Streitgegenstandes lediglich durch den Klageantrag bestimmen. Der Sachverhalt ist demgegenüber kein Kriterium für die Abgrenzung des Streitgegenstandes. Ausgangspunkt dieser Theorie ist die Annahme, dass es jedem Kläger in einem Prozess nur darum geht, dass das Gericht seinem Antrag entspricht. So ist der Antrag, wie Schwab feststellt, „der wahre Gegenstand des Rechtsstreits“.316 Daher verlegt diese Theorie das Schwergewicht auf das angestrebte Ziel einer Klage.317 Der Sachverhalt wird nur herangezogen, soweit er für die Auslegung des Antrags und die Interpretation des Klageziels erforderlich ist. II. Bewertung Nach der allgemeinen Ansicht hat diese Theorie mindestens zwei Vorzüge. Zum einen liefert sie ein einheitliches Konzept für die Bestimmung des Streitgegenstandes bei allen Arten von Klagen.318 Zum anderen ist sie, wie oben erwähnt, in den Fällen von Vorteil, in denen ein Antrag mit mehreren Sachverhalten begründet wird. Wenn der Antrag unter Würdigung mehrerer Sachverhalte dahingehend ausgelegt wird, dass der Kläger nur ein Klageziel verfolgt, wird dann trotz der Mehrzahl der Sachverhalte nur ein Streitgegenstand anerkannt. Das ist insbesondere in einem laufenden Prozess von Bedeutung, da es dann nicht zu Problemen von Anspruchshäufung, Klageänderung und Rechtshängigkeit kommt.319 Trotz ihres Unterschiedes zur zweigliedrigen Theorie gehört auch diese Theorie zum Kanon der prozessualen Theorien, weil der Begriff des Streitgegenstandes 315 Schwab,

JuS 1965, S. 83 f.; Horn, JuS 1992, S. 682. Nach der zweigliedrigen Theorie sind in diesen Fällen mehrere Streitgegenstände anzunehmen, was zu nicht praktikablen Ergebnissen führt. Wenn der Streitgegenstand nur von einem Element (nämlich dem Antrag) abgegrenzt werden kann, wird ein Streitgegenstand mit breiterem Umfang geschaffen. Dieser Streitgegenstandsbegriff mit relativ breiterem Umfang ist nach Ansicht einiger Prozessualisten besser geeignet als der Begriff der zweigliedrigen Lehre, um für das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne eine brauchbare anzubieten. 316 Schwab, JuS 1965, S. 83. 317 Schwab, JuS 1965, S. 83. Deswegen kann man den Inhalt dieser Lehre folgendermaßen umschreiben: Ein Klageziel führt zu einem Streitgegenstand, mehrere Klageziele führen zu mehreren Streitgegenständen, und dies unabhängig davon, ob ein oder mehrere Sachverhalte vorliegen. 318 Schwab, Streitgegenstand, S. 87 ff., 109 ff., 124 ff. 319 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn 28.

114

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

rein prozessual aufgefasst wird.320 Im Kern besteht sie darin, den Klageantrag als Schlüssel zur Bestimmung des Streitgegenstandes festzulegen. Mit ihr wird versucht, durch die Ermittlung und Betonung des Klageziels eine angemessene Lösung für das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne zu finden. Allerdings zeigt sie im Vergleich mit der zweigliedrigen Theorie hinsichtlich der Überwindung der Problematik der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne nur wenige Vorzüge.321 Obwohl der Antrag und das Klageziel im Mittelpunkt stehen, spielt der Sachverhalt in der eingliedrigen Theorie doch noch eine wichtige Rolle. Für die Fälle der Leistungsklage, in denen man aus dem Antrag nicht entscheiden kann, ob eine oder mehrere Leistungen begehrt werden, wird natürlich der Sachverhalt herangezogen, um den Antrag und das Klageziel zu präzisieren.322 Daher unterscheiden sich die beiden prozessualen Theorien aus praktischer Sicht in vielen Fällen oft nur im Detail. Die Vertreter der Theorie vom eingliedrigen Streitgegenstandsbegriff behandeln das Problem der Abgrenzung des Sachverhaltes nicht, da ihrer Meinung nach derselbe kein bestimmendes Element für den Streitgegenstandsbegriff ist. Doch entspricht dies nicht der Realität. Das Problem der Abgrenzung des Sachverhaltes bleibt offen und gleicht demjenigen in der zweigliedrigen Theorie. Vielleicht ist dieses Problem im Rahmen der prozessualen Streitgegenstandstheorien wohl unlösbar, da alle ihre relevanten Elemente, wie der Antrag, das Begehren, die Rechtsbehauptung und das Klageziel, nicht als hinreichendes Kriterium für die präzise Abgrenzung des Sachverhaltes dienen können.323

E. Die neuen materiellrechtlichen Theorien I. Überblick Die durch den rein prozessualen Anspruchsbegriff charakterisierten zwei- und ein­glied­ri­gen Theorien wurden schon kurz nach ihrem Entstehen in Frage gestellt. Dabei wurde häufig versucht, erneut die Wichtigkeit des materiellen Rechts für 320 Die Definition Schwabs lautet: „Streitgegenstand ist das Begehren der im Klageantrag bezeichneten gerichtlichen Entscheidung“; Schwab, Streitgegenstand, S. 199 f. 321 Nach dieser Theorie besteht im Fall der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne nur ein Streitgegenstand, was begrüßenswert ist; aber zum Kernproblem dieses Konkurrenzfalles, nämlich wie das Spannungsverhältnis zwischen dem einzigen Klageziel im Prozess und den mehreren Klagegründen nach materiellem Recht ausgeglichen wird, hat sie leider nichts beigetragen. 322 Horn, JuS 1992, S. 683. 323 Jauernig ist der Ansicht, dass die Theorien Rosenbergs und Schwabs beim Problem der Abgrenzung des Sachverhalts eigentlich auf die materiellrechtliche Konkurrenzlehre und die darin beschlossene Methode der Sachverhaltsabgrenzung zurückgreifen. Jauernig, ZPR, S.  122 f.

Kap. 7: Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland 

115

das Rechtsinstitut des Streitgegenstandes zu betonen. Die Tendenz geht dahin, die Schwächen der prozessualen Theorien zu beseitigen, ohne zu der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie zurückzukehren. Dabei unterscheiden sich die Herangehensweisen dieser Bemühungen. Nikisch ist einer der ersten, der eine Rückbesinnung auf das materielle Recht vorschlägt. Er und nach ihm auch Larenz und Esser bemühen sich um die Anspruchseinheit in den Fällen, in denen mehrere materiellrechtliche Ansprüche sich auf dasselbe Ziel richten.324 Georgiades hat in seinem Beitrag diesen Ansatz weiter entwickelt. Er geht – gemäß der Intention von Nikisch – bei der Bildung seines Begriffs des materiellrechtlichen Anspruchs davon aus, dass er sich dem Prozessrecht annähern muss.325 Seiner Ansicht nach liegt nur dann ein einheitlicher Anspruch vor, wenn die Rechtssubjekte und der Anspruchsinhalt in den Fällen identisch bleiben, in denen mehrere Anspruchsnormen betroffen sind.326 Die Konkurrenz in solchen Fällen ist daher nicht Anspruchskonkurrenz, sondern die so­ genannte „Anspruchsnormenkonkurrenz“.327 Die prozessuale Auswirkung der Theorie Georgiades’ liegt darin, dass wegen der „Anspruchsnormenkonkurrenz“ in dem Schulfall „Straßenbahnunfall“ nur ein Streitgegenstand anerkannt wird. Das ist eine selbstverständliche Übertragung seiner im materiellen Recht gewonnenen Ergebnisse in das Prozessrecht.328 Zu Recht kommentiert Habscheid, dass Georgiades einen erheblichen Teil der bisherigen Konkurrenzprobleme vom Prozessrecht in das materielle Recht verlagern und damit den Streitgegenstandsbegriff entlasten möchte.329 Jedoch ist seine Theorie nach Auffassung der meisten Gelehrten nicht akzeptabel. Dies hat zwei Gründe: Einerseits haben die einzelnen materiellrechtlichen Ansprüche unterschiedliche Ausgangspunkte in der Zivilrechtsdogmatik;330 andererseits sind die Eigenschaften

324 Sie begründen dies mit der Einheitlichkeit des Sachverhaltes für mehrere Ansprüche oder mit der Einheitlichkeit der Zweckrichtung der jeweiligen Anspruchsnormen. Vgl. Nikisch, AcP 154, S. 273 ff.; Larenz, BGBAT, 7. Aufl., S. 263 ff.; Esser, Schuldrecht II, S. 458 ff.; Stein/ Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn 31. 325 Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 127 ff.; Nikisch, AcP 154, S. 269 ff. 326 Anspruchsmehrheit liegt nur vor, wenn mehrere Leistungen vom Kläger begehrt werden. Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 165, 236 ff. Die Bedeutung des Sachverhalts wird nicht im gleichen Maße wie diejenige des Antrags betont. Man greift nur dann auf den Sachverhalt zurück, wenn dem Kläger mehrere inhaltlich gleiche Ansprüche gegen denselben Beklagten zustehen. Vgl. Habscheid, ZVglRWiss 75, S. 216. 327 Es handelt sich hier nämlich um einen einheitlichen, mehrfach begründeten Anspruch. Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 164. 328 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 36. 329 Habscheid, ZVglRWiss 75, S. 216. 330 Wie oben dargelegt, beruhen die materiell­ rechtlichen Ansprüche normalerweise auf unterschiedlichen Anspruchsnormen von verschiedenartigen Zivilrechtsinstituten und sind daher voneinander unabhängig. Der Vertrags- und Deliktsanspruch sind ein gutes Beispiel dafür.

116

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

der materiellrechtlichen Ansprüche unterschiedlich, was z. B. hinsichtlich der Ver­ jährung, Aufrechnung und Beweislast offensichtlich ist.331 Im Rahmen der neuen materiellrechtlichen Theorien hat Henckel einen „im Ergebnis ähnlichen, aber in der Begründung etwas anders gearteten Weg“ beschritten.332 Zudem wird die Theorie von Blomeyer von vielen Prozessualisten den neuen materiellrechtlichen Theorien zugeschlagen.333 Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, die unterschiedlichen Varianten der neuen materiell­rechtlichen Theorie im Detail auszubreiten; schon die obige Darstellung reicht, das Grundlegende solcher Ansichten zu charakterisieren.334 II. Bewertung Trotz der Divergenzen zwischen den unterschiedlichen Vertretern der neuen materiellrechtlichen Theorie kann man erkennen, dass diese Theorie an den Bedürfnissen des Zivilprozessrechts ausgerichtet ist.335 Mittels der Analyse des Anspruchsbegriffs des materiellen Rechts336 oder mit Hilfe von Vorschlägen zur Vereinheitlichung der Anspruchsnormen337 werden Lösungen zum Problem des Streitgegenstandes erarbeitet, ohne das Prozessrecht zu berühren. Mit anderen Worten, das Zusammentreffen konkurrierender Ansprüche beruht auf Gegebenheiten des materiellen Rechts, daher lässt sich nach Auffassung der Vertreter materiellrechtlicher Theorien die Lösung auch nur im materiellen Recht finden. Man kann wohl sagen, dass diese Theorien eine Wiederannäherung von Prozessrecht und materiellem Recht zustande zu bringen suchen.338 Aber die Brauchbarkeit der

331 Eine

Rekonstruktion des Systems der Anspruchsnormen ist aus mehreren Gründen kaum möglich: die Schutzziele und Rechtsfolgen der materiellrechtlichen Ansprüche können unterschiedlich sein; die Vereinheitlichung der Vorschriften über Verjährungsfristen ist – wegen des unterschiedlichen Normzwecks – auch nicht durchsetzbar. 332 Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, 1961; Schwab, JuS 1965, S. 85. 333 Blomeyer, FS Lent, S. 43 ff.; ders., ZPR, S. 231 ff.; Schwab, JuS 1965, S. 85; Horn, JuS 1992, 683. Zu den weiteren Vertretern dieser Lehre – beispielsweise Rimmelspacher, ­Jauernig, Baumgärtel – gehen die Meinungen in der Literatur auseinander. Vgl. z. B. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 37 ff.; Horn, Die JuS 1992, 683 f.; Habscheid, ­­ZVglRWiss  75, S. 212. 334 Überblick über solche Lehrmeinungen siehe: Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor §  253, Rn.  30 ff. 335 Dagegen meint Larenz, dass seine Lehre nur die Anspruchskonkurrenz im Bereich des materiellrechtlichen Rechts, nicht aber das Problem des Streitgegenstands im Prozessrecht behandelt. Vgl. Larenz, BGBAT, 7. Aufl., S. 263 ff. 336 So Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 254, 262 ff. 337 So Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 164 u. passim. 338 Das Problem des Streitgegenstandes beruht – nach dieser Lehre – auf dem Problem der Anspruchskonkurrenz im materiellen Recht. Obwohl diese Behauptung richtig ist, ist es eigentlich eine andere Frage, in welchem Rechtsgebiet dieses Problem zu lösen ist. Einerseits kann man zwar die Möglichkeit bezweifeln, einen rein prozessualen Anspruchsbegriff zu bilden, an-

Kap. 7: Die klassischen Streitgegenstandslehren in Deutschland 

117

entsprechenden Vorschläge ist zweifelhaft. Aus diesem Grund werden diese Theorien heute grundsätzlich abgelehnt. Trotz ihrer Schwächen ist die neue materiellrechtliche Theorie in all ihren Formen von Bedeutung. Sie macht die Unzufriedenheit einiger Gelehrter mit den schwer zu behebenden Schwächen der prozessualen Theorien deutlich. Die Hervorhebung der Rolle des materiellen Rechts für die Problematik des Streitgegenstandes dient auch als Forschungsansatz für weitere theoretische Entwicklungen, z. B. bei der „Tendenz zu einer Orientierung an materiellrechtlichen Normen bei der Abgrenzung des Lebenssachverhaltes innerhalb eines im übrigen prozessual verstandenen zweigliedrigen Streitgegenstandes“.339

F. Die prozessualen Streitgegenstandstheorien und der Weg zur Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ Die häufige Annahme, dass die prozessualen Streitgegenstandstheorien eine sachdienliche Lösung für das Problem der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ bieten können, ist fragwürdig. Im Falle der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ sind zwar die wirtschaftlichen und juristischen Ziele der unterschiedlichen Ansprüche dieselben oder zumindest einander sehr ähnlich, aber die mit den einzelnen Anspruchsnormen gegebenen Rechtsfolgen können völlig unterschiedlich sein.340 Um die jeweiligen Rechtsfolgen zu rechtfertigen, fordern die Tat­bestandmerkmale solcher Normen auch unterschiedliche Tatsachenvorträge.341 Allgemein gilt daher, dass aufgrund der Unterschiede der konkurrierenden Ansprüche die Sachverhalte und die Rechtsfolgen wesentlich variieren können. Im Fall einer „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ kann der Kläger unterschiedliche Anträge stellen; zur Rechtfertigung der Ansprüche kann es erforderlich sein, unterschiedliche Sachverhalte vorzutragen bzw. zu ermitteln. Gemäß der klassischen zweigliedrigen Theorie handelt es sich dabei um zwei oder mehrere Streitgegenstände, wenn zwei oder mehrere unterschiedliche Anträge gestellt und zwei oder mehrere Sachverhalte vorgetragen werden. Und die eingliedrige Theorie nimmt zwar einen einheitlichen Sachverhalt an, aber auch in ihren Augen bestimmen die dererseits ist aber zu beachten, dass eine gänzlich aus dem materiellen Recht kommende Lösung die Besonderheiten des Prozessrechts nicht ausreichend zu berücksichtigen vermag und daher nicht zu befürworten ist. 339 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 30, 38 f. Diese von Musielak und Jauernig befürwortete Tendenz wird von Roth als ein Zweig der neuen materiellrechtlichen Theorie angesehen. Vgl. unten Kapitel 10 C. 340 Unter gewissen Voraussetzungen steht der Kläger vor der Wahl zwischen unterschied­ lichen Ansprüchen wie Schadensersatz, Leistung, Rückgabe der Sache usw. Vgl. Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 190 ff. 341 Nimmt man den „Straßenbahnunfall“ als Beispiel, so sind die Tatbestandmerkmale in den Vorschriften §§ 249 ff. BGB, § 823 Abs. 1 BGB und § 7 Abs. 1 StVG offensichtlich unterschiedlich.

118

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

unterschiedlichen Anträge unterschiedliche Streitgegenstände. Ganz im Gegensatz zu der oben entwickelten theoretischen Analyse gehen jedoch sowohl die eingliedrige als auch die zweigliedrige Theorie davon aus, dass es im Falle der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ nur einen Streitgegenstand im Verfahren geben soll. Grund dieser Annahme sind offensichtlich der Schutz des Rechtsfriedens und die Verfahrenskonzentration: Nur wenn im Falle der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ ein einziger Streitgegenstand angenommen wird, kann der Streit zwischen beiden Parteien möglichst in einem Verfahren befriedigend gelöst werden und können parallele Prozesse vermieden werden. Um dieses Ergebnis zu erreichen, muss der Richter – dem teleologischen Denken zufolge – die möglichen Anträge des Klägers als einen einheitlichen Antrag ansehen,342 und zugleich muss er den Sachverhalt als einen weit verstandenen, einheitlichen Lebenssachverhalt betrachten343, 344 Zwar sind dieser „Antrag im weiteren Sinne“ und dieser „Sachverhalt im weiteren Sinne“ wünschenswert, aber keineswegs selbstverständlich. Ob ein weit verstandener Antrag und Sachverhalt erfolgreich konstruiert werden können, hängt von vielen prozessualen Gegebenheiten ab, von denen insbesondere der Grundsatz iura novit curia und das Institut der richter­lichen Hinweispflicht eine entscheidende Rolle spielen. Für die Streitgegenstands­problematik ist es daher von besonderer Relevanz, den Einfluss dieses Grundsatzes und der richterlichen Hinweispflicht aufzuzeigen, was weiter unten versucht werden soll.345

G. Die neue Entwicklungstendenz der Streitgegenstandslehre Die oben dargestellten vier zentralen Theorien weisen – trotz ihrer Unterschiede – auch Gemeinsamkeiten auf. So gehen sie alle von der Annahme aus, dass ein einheitlicher Streitgegenstandsbegriff möglich und notwendig sei. Diese Vorstellung wird heute jedoch immer mehr bezweifelt, und im Gegensatz dazu werden Theorien 342 Daher wird das Gewicht auf das Ziel der Klageerhebung des Klägers gelegt, aber nicht auf die unterschiedlichen konkreten Rechtsfolgen, die die konkurrierenden Anspruchsnormen zuteilen. Natürlich hat diese Vorgehensweise ihre Grenzen. Das deutsche Prozessrecht erkennt die Parteidisposition über die zu beantragende Rechtsfolge als Verfahrensgrundsatz an. Wenn der Kläger eine bestimmte Prozessfolge beantragt, kann der Richter diesen Antrag abweisen, er kann aber nicht dem Kläger eine andere Rechtsfolge zuteilen. Dies ist nur ausnahmsweise möglich, wenn er – aufgrund der richterlichen Hinweispflicht – ihm die Änderung des Antrags vorschlägt und der Kläger diesen Vorschlag annimmt. 343 Damit bleibt der Sachverhalt das Ganze des Lebensvorgangs, das den klägerischen Anspruch rechtfertigen soll, und besteht eben nicht in den einzelnen Abschnitten des Lebens­ vorgangs, die für die Rechtfertigung unterschiedlicher Anspruchsnormen geeignet sind. 344 „Allerdings wird der Streitgegenstand nicht strikt durch den gestellten Antrag und den vorgetragenen Lebenssachverhalt, sondern durch das sachgerecht ausgelegte Rechtsschutz­ begehren (vgl. § 139 I 2 ZPO) und den gesamten davon erfassten Lebenssachverhalt begrenzt.“ Vgl. Rosenberg/Schwab/Gott­wald, ZPR, § 92, Rn. 24, 26. Zur Befürwortung des weit verstandenen Antrags siehe: Schwab, Streitgegenstand, S. 183 ff. Zum weit verstandenen Sachverhalt siehe: Habscheid, Streitgegenstand, S. 216 f. 345 Vgl. unten Kapitel 10 B. und Kapitel 13 C. III.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

119

eines relativen Streitgegenstandsbegriffs entwickelt. Außerdem sind in neuerer Zeit Lehrmeinungen zu finden, die dem Zusammenhang zwischen materiellem Recht und Prozessrecht oder der Verfahrenskonzentration im Rahmen der Streitgegenstandslehre besondere Aufmerksamkeit schenken. Solche theoretischen Strömungen zutreffend zu bewerten ist erst möglich, wenn die Wirkungsweise der Streitgegenstandslehre in unterschiedlichen Klagearten und im Hinblick auf Rechtsprobleme wie Anspruchshäufung, Klageänderung, Rechtshängigkeitssperre und Rechtskraft untersucht worden ist. Dieser Aufgabe widmet sich das folgende Kapitel.

Kapitel 8

Die Streitgegenstandslehre und ihre Anwendung auf prozessrechtliche Institute Die Lehrmeinungen zur Abgrenzung des Streitgegenstandes sind äußerst verschieden. Eine oberflächliche Auseinandersetzung trägt wenig zum Verständnis dieser Problematik bei. Es ist daher sinnvoll, die Schwächen und die Vorzüge der einzelnen Theorien in einem weiteren Schritt anwendungsbezogen aufzuzeigen. Die Streitgegenstandslehre zeigt ihre anwendungsbezogene Bedeutung hauptsächlich bei vier prozessualen Instituten, nämlich der Klagenhäufung, Klageänderung, Rechtshängigkeit und materiellen Rechtskraft.346 Dieses Kapitel handelt deshalb von der Anwendung der Theorien – vor allem der beiden Varianten der prozessualen Theorie – und wählt dabei diese Institute als Prüfsteine. Ziel soll es sein, eine Aussage darüber zu treffen, welche Lehre für ein bestimmtes Institut in besonderer Weise geeignet ist.

A. Streitgegenstandslehre und objektive Klagenhäufung I. Zweck des Instituts der objektiven Klagenhäufung Eine objektive Klagenhäufung, oder besser gesagt eine Häufung von prozessualen Ansprüchen (Streitgegenständen), liegt vor, wenn in einem Klageverfahren mehrere prozessuale Ansprüche desselben Klägers gegen denselben Beklagten geltend gemacht werden. Das Ziel dieses Prozessrechtsinstituts liegt hauptsächlich in der Prozessökonomie, weil es eine „möglichst umfassende Bereinigung eines Streits in einem Prozeß“ bezweckt.347 Dadurch wird auch die Gefahr von einander widersprechenden Entscheidungen vermieden.348 346 Statt

vieler: Baumgärtel, JuS 1974, S. 69 f.; Rüßmann, ZZP 111, S. 399. 22. Aufl., vor § 253, Rn. 59; Haas, FS Ishikawa, 2001, S. 176. 348 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 260, Rn. 1. Das wird insbesondere durch die Eventual­ häufung realisiert. 347 Stein/Jonas/Roth,

120

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

II. Die Rolle des Sachverhaltes beim Institut der objektiven Klagenhäufung Beim Institut der objektiven Klagenhäufung zeigt sich die Bedeutung des prozessualen Anspruchs. Die h. M. verlangt bei Eventualhäufung einen rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang der geltend gemachten Ansprüche;349 bei der kumulativen Häufung wird ein Zusammenhang gleich welcher Art zwar nicht vorausgesetzt,350 in der Praxis ist jedoch ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Ansprüchen häufig gegeben.351 Der Zusammenhang solcher Ansprüche beruht darauf, dass die als Grund dieser Ansprüche vorgetragenen Sachverhalte entweder identisch sind oder miteinander in einem tatsächlichen Zusammenhang stehen.352 Zusammen mit der materiellrechtlichen Anspruchsnorm bestimmt der Sachverhalt, ob der vom Kläger geltend gemachte Anspruch im Einzelfall zu bejahen ist; der vorgetragene und festgestellte Sachverhalt legt auch fest, welche Anspruchsnormen jeweils anwendbar sind. Der Sachverhalt als tatsächlicher Grund für die verschiedenen Formen erstrebter rechtlicher Hilfe spielt also eine wichtige Rolle beim Institut der Klagenhäufung. III. Das Institut der objektiven Klagenhäufung und die Streitgegenstandstheorien Das Institut der Anspruchshäufung setzt mehrere Streitgegenstände im Rahmen eines Klageverfahrens voraus. Daher haben die unterschiedlichen Lehrmeinungen zum Streitgegenstand einen wesentlichen Einfluss auf das Verständnis dieses Rechtsinstituts. 1. Die ein- und die zweigliedrigen Streitgegenstandstheorien Nach der eingliedrigen Streitgegenstandslehre wird der Streitgegenstand lediglich durch den Klageantrag bestimmt. Dementsprechend liegt eine Anspruchs­ häufung vor, wenn der Kläger in einem Verfahren aufgrund eines weit verstandenen Lebenssachverhaltes mehrere selbständige Rechtsfolgen beansprucht. Der 349 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 97, Rn. 19 f.; Jauernig, ZPR, S. 283; Paulus, ZPR, Rn. 135; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 374. Die Eventualhäufung setzt die Identität oder einen Zusammenhang der vorgetragenen Sachverhalte voraus; sonst kann dieses Prozessrechtsinstitut nicht zur Prozessökonomie und zur Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen beitragen. 350 Gemäß § 260 ZPO: „[…] auch wenn sie auf verschiedenen Gründen beruhen.“ 351 Die kumulative Häufung, bei der die vorgetragenen Ansprüche sachlich voneinander völlig unabhängig sind, ist ganz selten, da in diesem Fall das Institut der Klagenhäufung wenig Sinn macht. 352 Haas, FS Ishikawa, S. 176 f.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

121

Sachverhalt ist zwar für die Bestimmung des Umfangs des Streitgegenstandes nicht relevant, aber um eine Identität der prozessualen Ansprüche (Streitgegenstände) in den jeweiligen Fällen annehmen zu können, muss der Sachverhalt weit gefasst werden. „Deshalb gehören im Sinne der eingliedrigen Theorie alle Tatsachen zum Streitgegenstand, die geeignet sind, den Antrag des Klägers zu rechtfertigen.“353 Die eingliedrige Theorie geht davon aus, dass die einzelnen Ansprüche sich normalerweise auf einen einheitlichen Lebenssachverhalt gründen, auch wenn dieser einheitliche Lebenssachverhalt vom Kläger nicht oder nicht in seinen Einzelheiten vorgetragen wird.354 Die Rolle des Sachverhaltes bleibt insofern unberücksichtigt.355 Nach dieser Lehre liegt normalerweise keine Anspruchshäufung vor, wenn ein und dasselbe Begehren auf verschiedene Lebenssachverhalte begründet wird.356 Dagegen liegt nach der zweigliedrigen Streitgegenstandslehre eine Anspruchshäufung stets dann vor, wenn in einen Prozess eine Mehrzahl von gestellten Klageanträgen, von vorgebrachten Sachverhalten oder von beidem zu verzeichnen ist.357 2. Unterschied und Gemeinsamkeit beider Streitgegenstandstheorien Der Unterschied zwischen beiden Theorien zeigt sich lediglich in der Behandlung der Fälle, in denen nur ein auf verschiedene Lebenssachverhalte gestütztes Begehren vom Kläger gestellt wird. Die Uneinigkeit über die Anzahl der Streit­ gegenstände (infolge unterschiedlicher theoretischer Annahmen) hat in diesen Fällen für das Institut der Anspruchshäufung allerdings nur wenig Bedeutung. Wird nur ein Streitgegenstand angenommen, gibt es keine Möglichkeit einer Häufung von Ansprüchen; werden mehrere Streitgegenstände angenommen, kann nach Zulässigkeitsprüfung eine Klagenhäufung erfolgen. Man kann mit Recht den Eindruck gewinnen, dass sich Vorzüge und Schwächen beider Streitgegenstandstheorien anhand des Instituts der Klagenhäufung nicht gut aufzeigen lassen.358 353 Stein/Jonas/Roth,

22. Aufl., vor § 253, Rn. 59. 22. Aufl., vor § 253, Rn. 24. 355 Anders ausgedrückt ist diese Theorie frei von der Frage, ob in einem Fall ein oder mehrere Sachverhalte vorliegen. Das einzig relevante Element ist der Antrag des Klägers. 356 Mit Ausnahmen, vgl. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 260, Rn. 6 f. 357 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 260, Rn. 5. Das Lehrbuch von Rosenberg/ Schwab/Gottwald vertritt grundsätzlich die Lehre vom zweigliedrigen Streitgegenstand, zum Problem der Klagenhäufung folgt es jedoch der eingliedrigen Vorstellung; vgl. Rosenberg/ Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 27, § 97, Rn. 1 ff. 358 Ein anderes Problem des Streitgegenstandes hat einen gewissen Einfluss auf das ­Institut der Klagenhäufung, nämlich die Frage, ob die Rechtsschutzform ein inneres Element des Streitgegenstandsbegriffs ist. Erkennt man die Rechtsschutzform als Element des Streit­ gegenstandsbegriffs an, muss man der Möglichkeit einer Eventualhäufung von unterschied­ lichen Klagearten (z. B. Leistungsklage und Feststellungsklage) zustimmen; wird hingegen die Rechtsschutzform aus dem Begriff des Streitgegenstandes ausgeklammert, stellt man bei einer 354 Stein/Jonas/Roth,

122

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Außerdem besitzen beide Theorien eine wichtige Gemeinsamkeit. Nicht nur die eingliedrige, auch die zweigliedrige Lehre lehnt die Möglichkeit der Klagen­ häufung ab, wenn es „bei einem Antrag“ „eine Mehrheit von [materiellrechtlichen] Klagegründen“ gibt.359 Es handelt sich hier im Grunde um die prozessuale Behandlung der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“. In diesen Fällen wird – wie oben dargestellt – eine Mehrheit der Streitgegenstände von allen prozessrechtlichen Theorien abgelehnt.360

B. Streitgegenstandslehre und Klageänderung I. Zweck des Instituts der Klageänderung „Die […] Grundstruktur des Erkenntnisverfahrens basiert auf der Vorstellung, dass ein zwischen den Parteien entstandener Streit um eine Rechtsposition durch das Gericht verbeschieden und damit ein für allemal erledigt werden soll.“361 Deswegen soll dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt werden, entgegen dem grundsätzlichen Verbot der Klageänderung362 unter bestimmten Voraussetzungen an die Stelle des alten Anspruchs oder neben ihn einen neuen Anspruch zu stellen. Diese Änderungsmöglichkeit ist insbesondere durch das Ziel der Prozessökonomie gerechtfertigt. II. Die zulässige und die unzulässige Klageänderung Klageänderungen sind wegen ihrer Vorzüge in Gesetz und Praxis großzügig zugelassen. Vier Fälle sind zu unterscheiden. Erstens, die Erweiterung und Beschränkung des Klageantrags, wenn der Klagegrund – nämlich der Sachverhalt – dadurch nicht verändert wird (§ 264 Nr. 2 ZPO). Daher ist der Übergang von der Leistungsklage zur Feststellungsklage und umgekehrt zulässig. Ebenso zulässig ist die Erweiterung und Beschränkung des Umfangs des Begehrens und u. U. auch die

Leistungsklage und einer entsprechenden Feststellungsklage einen (teil-)identischen Streitgegenstand fest und lehnt dann eine Häufung von unter­schiedlichen Klagearten ab. Diese Meinungsdifferenz steht jedoch in keinem deutlichen Zusam­men­hang mit dem Unterschied zwischen dem ein- und dem zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff. 359 Andere Formulierungen lauten „verschiedene Anspruchsgrundlagen“, „verschiedene rechtliche Gesichtspunkte“, „mehrfache Begründung desselben Anspruchs“ usw. Vgl. Stein/Jonas/ Roth, 22. Aufl., § 260, Rn. 6; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 97, Rn. 3, 42; MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 260, Rn. 6; Jauernig, ZPR, S. 282; Lüke, ZPR, S. 423. 360 Beispielsweise Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 58. 361 Paulus, ZPR, Rn. 532. 362 Durch die Klageerhebung wird der Streitgegenstand verbindlich festgestellt. Der Kläger kann ihn nicht beliebig verändern, da der Beklagte sich auf einen bestimmten Streitgegenstand einstellen können soll.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

123

Änderung der erstrebten Rechtsfolge.363 Zweitens ist eine Klageänderung wegen nachträglich eingetretener Änderungen möglich, wenn der ursprünglich vorgetragene Sachverhalt noch Grundlage des Verfahrens ist (§ 264 Nr. 3 ZPO). Drittens kann eine Klageänderung mit Einwilligung des Beklagten erfolgen (§ 263 ZPO). Viertens kann das Gericht eine Klageänderung zulassen, wenn es sie für sachdienlich erachtet (§ 263 ZPO). Die Sachdienlichkeit ist danach zu beurteilen, „ob bei Zulassung der Klageänderung der Streit im Rahmen des vorliegenden Prozesses erledigt und dadurch ein zweiter Rechtsstreit vermieden werden kann“.364 Diese Möglichkeit befreit Richter oft von der schwierigen Prüfung, ob eine Klageänderung überhaupt vorliegt. Gerade wenn eine Änderung der Klage zweifelhaft ist, werden die Richter sie oft einfach als sachdienlich zulassen.365 Mit Hilfe dieser Regelung können Richter dogmatische Fragen der Klageänderung ausklammern, ohne Probleme in der Praxis zu verursachen. Im Ergebnis wird in Theorie und Praxis die Klageänderung nach Möglichkeit zugelassen. In der Realität ist die Klageänderung nur in einem Fall nicht zulässig, nämlich dann, wenn der Kläger durch das nachträgliche Vorbringen den bislang vorgebrachten Klagegrund (d. h. Sachverhalt) völlig verändert. In solchen Fällen wird der ursprünglich vorgetragene Klagegrund ganz zurückgenommen. Das Institut der Klageänderung ist hier nicht einschlägig, da es sich im Grunde um die Zurücknahme der alten Klage und die Erhebung einer neuen Klage handelt. III. Die Rolle des Sachverhaltes beim Institut der Klageänderung Der oben geschilderte Fall verdeutlicht, welche Rolle die Identität des Sachverhalts der ursprünglichen und der späteren Klage für das Institut der Klage­änderung spielt. Auf der Basis eines bestimmten und im Wesentlichen gleich bleibenden Sachverhalts oder Lebensvorgangs kann der Kläger grundsätzlich die Erlaubnis für eine Änderung seines Anspruchs verlangen. Die bisher angefallenen Prozessergebnisse sind noch von Bedeutung, die Weiterführung des Prozesses ist daher möglich und notwendig. Geht aber die Identität des Sachverhalts verloren oder fehlt es an einem Zusammenhang zwischen dem ursprünglich und dem nachträglich vorgetragenen Sachverhalt, ist eine Klageänderung sowohl unmöglich als auch sinnlos.366 Das Institut der Klageänderung kann eine Änderung des Streitgegenstandes in einem Prozess unter bestimmten Voraussetzungen zulassen, eine fundamentale 363 So z. B. Schadensersatz statt Herausgabe, Geldleistung statt Sachleistung usw. Vgl. Stein/ Jonas/Roth, 22. Aufl., § 263, Rn. 6. 364 Jauernig, ZPR, S. 136. Diese Befugnis des Richters verwirklicht in besonderer Weise das Ziel des Instituts der Klageänderung. Vgl. auch Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 263, Rn. 24. 365 Vgl. Jauernig, ZPR, S. 137: „[…] das Gericht kann das neue Vorbringen zulassen, ohne zu ent­schei­den, ob es ‚eigentlich‘ gar keine Klageänderung darstellt und deshalb ohne weiteres zulässig ist, oder ob es zwar eine Klageänderung enthält, diese aber zugelassen wird“. 366 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 263, Rn. 33.

124

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Änderung des Sachverhaltes ist jedoch in jedem Fall unzulässig.367 Dass die Richter in der Praxis auf eine Zulässigkeitsprüfung bei Anspruchsänderungen weitgehend verzichtet haben, zeigt, wie sehr dieses Rechtsinstitut sein Gewicht auf die Identität des Lebenssachverhaltes und weniger auf die Änderung des Antrags legt.368 IV. Das Institut der Klageänderung und die Streitgegenstandstheorien Die Klageänderung ist eine Änderung des Streitgegenstandes.369 Daher wird die Feststellung der Klageänderung in einem Prozess stark von der jeweils vertretenen Streitgegenstandstheorie beeinflusst. Nach Auffassung der eingliedrigen Streit­ gegenstandslehre liegt eine Klageänderung grundsätzlich vor, wenn der Kläger anstelle des gestellten Antrags oder neben ihm einen anderen Antrag stellt.370 Selbst eine erhebliche Änderung des als Klagegrund vorgebrachten Sachverhaltes stellt normalerweise keine Klageänderung dar. Dagegen ist eine Klageänderung nach dem zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff dann anzunehmen, wenn bei ein und demselben Sachverhalt eine Änderung des Antrags oder bei ein und demselben Antrag eine Änderung des Sachverhaltes gegeben ist.371 Der Unterschied zwischen beiden Theorien zeigt sich hauptsächlich in den Fällen, in denen bei gleich bleibendem Antrag vom Kläger ein wesentlich geänderter Sachverhalt vorgebracht wird. Wie oben dargelegt kann das Institut der Klageänderung immer dann angewandt werden, wenn der neu vorgetragene Sachverhalt einen inneren Zusammenhang mit dem ursprünglich vorgetragenen Sachverhalt hat oder wenn die beiden Sachverhalte zu einem weit verstandenen Lebensvorgang gehören. Deswegen wird der Begriff des Sachverhaltes in der praktischen Anwendung dieses Rechtsinstituts auch nach dem zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff möglichst weit gefasst.372

367 Jauernig, ZPR, S. 137. Ferner ist eine Klageänderung unmöglich, wenn „der neue nachträglich ge­häufte Anspruch mit dem bisherigen Streitgegenstand keinen Zusammenhang aufweist“; vgl. Stein/Jo­nas/Roth, 22. Aufl., § 263, Rn. 11. 368 Bei diesem Rechtsinstitut wird vor allem der Sachverhalt als „Kernpunkt“ gesehen. Insoweit zeigt die deutsche Theorie der Klageänderung eine gewisse Übereinstimmung mit der vom EuGH entwickelten „Kernpunkttheorie“. 369 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 99, Rn. 1. 370 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 263, Rn. 4. 371 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 99, Rn. 9 ff. 372 Um eine „weitestgehende Bereinigung des Rechtsstreits“ zu ermöglichen, wird ein weit verstandener Sachverhaltsbegriff auch von der zweigliedrigen Theorie befürwortet. Daher nähert sich im Ergebnis die zweigliedrige Theorie der eingliedrigen Theorie an. Vgl. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 263, Rn. 4. „Zum Lebenssachverhalt zählen alle Tatsachen, ‚die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtungsweise zu dem durch den Vortrag des Klägers zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, die der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet‘.“ Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 263, Rn. 8. Der als Klagegrund breit gefasste Sachverhalt beinhaltet sogar Tat­ sachen, die vom Kläger nicht oder nicht in allen Einzelheiten vorgetragen sind.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

125

Auf diese Weise existiert nur ein geringer Unterschied zwischen den beiden Theorien. Der theoretische Streit ist zumindest in diesem Problembereich kaum fruchtbar und daher irrelevant. Eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden Theorien liegt darin, dass eine Klageänderung nicht gegeben ist, wenn der Kläger im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ ohne grundlegende Änderung des vorgetragenen Lebensvorgangs seinen Antrag auf eine weitere oder eine andere materiellrechtliche Anspruchsgrundlage stützt. Nach den prozessualen Theorien liegt in diesem Fall keine Änderung des Streitgegenstandes vor, es besteht daher keine Notwendigkeit zur Klageänderung.373

C. Streitgegenstandslehre und Rechtshängigkeit I. Zweck des Instituts der Rechtshängigkeit Der Regelungszweck des Rechtsinstituts der Rechtshängigkeit liegt darin zu verhindern, dass mehrere Prozesse wegen desselben Streitgegenstandes nebeneinander geführt werden.374 Ein zweiter gleichgerichteter und gleichzeitiger Prozess über denselben Anspruch zwischen denselben Parteien ist unzulässig.375 Mit der Rechtshängigkeitssperre möchte die Rechtsordnung vor allem die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen vermeiden.376 II. Das Institut der Rechtshängigkeit und die Streitgegenstandstheorien Grundsätzlich setzt der Einwand der Rechtshängigkeit die Identität der Streitgegenstände beider Prozesse voraus. „Die objektive Reichweite der Rechts­ hängigkeitssperre hängt vom allgemeinen Streitgegenstandsbegriff ab.“377 Nach der eingliedrigen Theorie greift die Rechtshängigkeitssperre ein, wenn die gestellten Anträge ihrer Natur nach identisch sind.378 Die Rechtshängigkeitssperre 373 Stein/Jonas/Roth,

22. Aufl., § 263, Rn. 13. 22. Aufl., § 261, Rn. 1; Haas, FS Ishikawa, S. 165. 375 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 98, Rn. 18 ff. 376 Daher hat die Rechtshängigkeitssperre in diesem Punkt weitgehend die gleiche Funktion wie die materielle Rechtskraft; vgl. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 261, Rn. 1; MünchKomm/ Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 6. 377 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 56. 378 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 261, Rn. 27. Werden verschiedene Rechtsbegehren auf verschiedene Lebenssachverhalte gegründet, besteht die Möglichkeit einer objektiven Klagen­ häufung. In diesem Fall sind die Streitgegenstände beider Prozesse ganz verschieden, daher können beide Rechtsbegehren anhängig gemacht werden. Das Lehrbuch von Rosenberg/ Schwab/Gottwald befürwortet in diesem Fall die eingliedrige Theorie; vgl. Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, § 98, Rn. 18 ff. 374 Stein/Jonas/Roth,

126

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

greift nicht, wenn unterschiedliche Rechtsbegehren entweder auf verschiedenen Lebenssachverhalten oder auf denselben Lebenssachverhalt gegründet werden. Da­gegen greift die Rechtshängigkeitssperre nach der zweigliedrigen Theorie nur dann, wenn Anträge und Sachverhalte in beiden Prozessen gleich sind. Eine Rechtshängigkeitssperre ist folglich ausgeschlossen, wenn es unterschiedliche Anträge bei identischem Sachverhalt, identische Anträge bei unterschied­ lichen Sachverhalten oder unterschiedliche Anträge bei unterschiedlichen Sachverhalten gibt.379 Der Unterschied zwischen beiden Theorien zeigt sich bei der Behandlung der Fälle, in denen sich in parallelen Prozessen dasselbe Rechtsbegehren auf verschiedene Lebenssachverhalte stützt. Die zweigliedrige Theorie lehnt in diesen Fällen eine Rechtshängigkeitssperre ab. Ihr zufolge kann der Kläger die Klagen mit demselben Antrag aufgrund unterschiedlicher Klagegründe in zwei Prozessen erheben. Sie sieht keine Gefahr widersprechender Entscheidungen, weil unterschiedliche Klagegründe gegeben sind. Trotzdem können diese parallelen Prozesse pro­blematisch sein: Das Begehren des Klägers mag in beiden Prozessen bejaht werden, es kann aber nur einmal erfüllt werden. Dieses Problem bleibt bei der zweigliedrigen Theorie offen. Demgegenüber geht die eingliedrige Theorie bei Behandlung dieser Fälle von der „Verhinderung der Vervielfachung von Streit­ sachen“ aus.380 Die Rechts­hängigkeitssperre greift ein, wenn der Kläger ein und dasselbe Begehren aufgrund verschiedener Klagegründe in mehreren Prozessen verfolgt. Dadurch wird der Kläger gezwungen, seine unterschiedlichen Klagegründe in einem Prozess vorzutragen. Dies führt zu einer Verfahrenskonzentration im Forum des zuerst angerufenen Gerichts.381 Eine Gemeinsamkeit beider Theorien liegt wiederum in der Behandlung von Fällen der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“: Wenn ein Anspruch in einem Verfahren geltend gemacht wird, kann der Kläger auf jedem Fall den anderen mit ihm konkurrierende Anspruch im anderen Verfahren nicht stellen. Der Grund liegt darin, dass nach beiden Lehren im Falle der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ nur ein Streitgegenstand anerkannt wird.

379 MünchKomm/Becker-Eberhard,

3. Aufl., § 261, Rn. 57. 22. Aufl., vor § 253, Rn. 60. 381 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 60. Ob das Ziel der Verfahrenskonzentration in der Praxis problemlos realisiert werden kann, ist aber eine andere Frage. 380 Stein/Jonas/Roth,

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

127

III. Die Rechtshängigkeitssperre bei unterschiedlichen Rechtsschutzformen und die Streitgegenstandstheorien Das Problem der Rechtshängigkeit bei konkurrierenden unterschiedlichen Rechtsschutzformen ist seit Langem umstritten. Insbesondere wird die Sperrwirkung der Leistungsklage sowie der positiven und negativen Feststellungsklage häufig für die Fälle diskutiert, in denen diese Klagen aufgrund desselben Lebenssachverhaltes erhoben werden und daher in einem Zusammenhang stehen. Um das Rechtshängigkeitsproblem bei diesen Klagearten zu verstehen, ist eine kurze Darstellung der Grundzüge dieser Klagearten notwendig. Dabei soll vom Schuldverhältnis als Grundlage der unterschiedlichen Klagen ausgegangen sein. Die Leistungsklage erfordert, zuerst das Recht des Klägers gegen den Beklagten festzustellen, um dann dem Beklagten zu befehlen, an den Kläger zu leisten. Daher ist der inhaltliche Umfang der Leistungsklage größer als der Umfang einer positiven oder negativen Feststellungsklage.382 Die negative Feststellungsklage ist auf das Nichtbestehen des Schuldverhältnisses gerichtet und steht insoweit der Leistungsklage und der positiven Feststellungsklage entgegen. Nach herrschender Meinung haben die positive und die negative Feststellungsklage denselben Streitgegenstand. Aber über die Identität der Streitgegenstände der Leistungsklage und der beiden Feststellungsklagen gehen die Meinungen auseinander. Nach der eingliedrigen Theorie ist der Streitgegenstand „das auf eine Rechtsfolgenbehauptung gestützte Begehren der durch den Klageantrag bestimmten Entscheidung“.383 Die Rechtsschutzform wird durch diese Definition des Streitgegenstandes nicht erfasst.384 Auf diese Weise werden die prozessualen Ansprüche als ein einheitliches Rechtsbegehren gesehen.385 Das Ziel dieser Ansicht liegt darin, den Streit zwischen beiden Parteien umfassend in einem Prozess bereinigen zu können. So hat z. B. eine vor einem anderen Gericht nachträglich er­hobene Leistungsklage den gleichen Streitgegenstand wie die zuvor erhobene negative Feststellungsklage. Diese Leistungsklage des Beklagten des ersten Prozesses ist deshalb unzulässig. Er ist auf eine Widerklage vor dem Gericht des ersten Prozesses angewiesen. Dadurch wird das Ziel der Konzentration des Verfahrens erreicht.386 382 Der Streitgegenstand der Leistungsklage schließt den Streitgegenstand der positiven und der negativen Feststellungsklage mit ein; das Ziel der Leistungsklage umfasst auch das Ziel der positiven und der negativen Feststellungsklage ein. Vgl. MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 63. 383 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 49. 384 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 50. Die eingliedrige Theorie kommt nicht zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass der Streitgegenstand die Rechtsschutzform nicht umfasst. Aber sie legt besonderes Gewicht auf die Verfahrenskonzentration, und deswegen wird die Rechtsschutzform von den meisten Vertretern dieser Theorie nicht im Begriff des Streitgegenstandes berücksichtigt. Vgl. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 54. 385 Anders gesagt handelt es hier um identische Streitgegenstände. 386 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 50.

128

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Nach der zweigliedrigen Theorie sind die in unterschiedlichen Rechtsschutz­ formen gestellten Ansprüche zwar nicht völlig identisch, sie können aber als teil­ identisch betrachtet werden.387 Und wenn Teilidentität der Streitgegenstände ge­ geben ist, greift nach vielfacher Auffassung die Rechtshängigkeit ein.388 Nach dieser theoretischen Darstellung sollen die unterschiedlichen Fallgruppen in konkreterer Form analysiert werden. Erstens steht der Einwand der Rechtshängigkeit unstreitig der zweiten Klage entgegen, wenn zuerst eine positive Feststellungsklage von einer Partei und dann eine negative Feststellungsklage von der anderen Partei erhoben wird oder umgekehrt.389 Zweitens scheitert, wenn der Kläger bereits eine Leistungsklage erhoben hat, eine von ihm parallel erhobene positive Feststellungsklage an der Rechtshängigkeit der ersten Klage. Die beiden Streitgegenstandstheorien kommen in diesem Fall zu dem gleichen Schluss.390 Drittens ist, wenn der Kläger zunächst eine Feststellungsklage erhoben hat, die zweite Klage auf Leistung – nach der ein- wie nach der zweigliedrigen Theorie – wegen der Rechtshängigkeitssperre unzulässig.391 Der Kläger muss seinen Wunsch nach einer Änderung der Rechtsschutzform durch Klageänderung realisieren. Wenn, viertens, der Gläubiger auf Leistung klagt und der Beklagte des ersten Prozesses danach eine negative Feststellungsklage erhebt, so scheitert die zweite Klage an der Rechtshängigkeit. Die eingliedrige Theorie gründet in diesem Fall die Sperrwirkung auf die Identität der Streitgegenstände beider Klagen und die zwei­gliedrige Theorie auf ihre Teilidentität.392 Wird, fünftens, zuerst eine negative Feststellungsklage vom Schuldner und anschließend eine Leistungsklage vom Gläubiger erhoben, sind die Lösungswege, nicht aber die Ergebnisse, unterschiedlich. Nach der 387 Nach der zweigliedrigen Theorie fällt unter die objektive Klagenhäufung auch der Fall der Mehrheit von Rechtsschutzformen, da die unterschiedlichen Rechtsschutzformen zu unterschiedlichen Streitgegenständen führen. Beim Institut der objektiven Klagenhäufung wird die Unterschiedlichkeit der Streitgegenstände betont; beim Institut der Rechtshängigkeit aber die Teilidentität der Streitgegenstände. 388 Vgl. MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 63. Die Rechtshängigkeitssperre greift nach der zweigliedrigen Theorie grundsätzlich nur ein, wenn es sich in beiden Prozessen um die gleichen Streitgegenstände handelt. Daher ist das Eingreifen der Rechtshängigkeitssperre bei teilidentischen Streitgegenständen bei dieser Theorie ein Sonderfall, obgleich aufgrund desselben Lebenssachverhalts in unterschiedlichen Rechtsschutzformen gestellte Begehren in der Praxis ein keineswegs seltener Son­derfall sind. 389 Dagegen können nach der h. M. beide Parteien gleichzeitig eine positive Feststellungsklage aufgrund desselben Rechtsverhältnisses erheben, denn die Abweisung der einen Klage bedeutet nicht notwendig die Stattgabe der Klage des Gegners. Es besteht die Gefahr, dass in zwei verschiedenen Prozessen den Begehren beider Parteien zugestimmt wird. Daher scheint eine Konzentrationspflicht hilfreich. 390 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 63; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 261, Rn. 29. 391 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 64; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 261, Rn. 29. Dagegen geht die h. M. davon aus, dass die Feststellungsklage ihr Feststellungsinteresse verliert, wenn die Leistungsklage nicht mehr einseitig zurückgenommen werden kann. 392 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 65; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 261, Rn. 31.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

129

eingliedrigen Theorie liegt hier derselbe Streitgegenstand vor, und die Rechtshängigkeitssperre für die zweite Leistungsklage ist die selbstverständliche Folge. Der Gläubiger ist gezwungen, seine Leistungsklage im ersten Verfahren als Widerklage zu erheben, um die Verfahrenskonzentration tunlichst zu verwirklichen.393 Nach der zweigliedrigen Theorie sind die Streitgegenstände dagegen in beiden Klagen nur teilidentisch, eine Rechtshängigkeitssperre für die zweite Klage ist daher anzunehmen. Dem Gläubiger steht – ähnlich wie nach der eingliedrigen Theorie – die Möglichkeit einer Leistungswiderklage zur Verfügung.394 Entgegen diesen Ansichten nimmt die h. M. jedoch keine Sperrwirkung der negativen Feststellungsklage hinsichtlich der späteren Leistungsklage an, vielmehr entfällt nach h. M. grundsätzlich das Feststellungsinteresse mit der nachträglichen Leistungsklage.395, 396 Dieser Ansicht ist grundsätzlich zuzustimmen.397 Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass die beiden Streitgegenstandstheorien sich zwar hinsichtlich der Beurteilung der Identität der Streitgegenstände unterscheiden, aber nur wenige Unterschiede bei Annahme einer Rechtshängigkeitssperrwirkung für unterschiedliche Klagearten zeigen. IV. Das Rechtshängigkeitsproblem bei einer Klage aus dem Wechsel Im Besonderen ist das Verhältnis zwischen einer Klage aus Wechsel (Scheck) und aus dem Grundgeschäft in Bezug auf die Rechtshängigkeit darzustellen. Nach der zweigliedrigen Theorie greift die Rechtshängigkeitssperre nicht ein, wenn der Kläger in getrennten Verfahren aus dem Wechsel und dem Grundgeschäft klagt. Diese Theorie nimmt zwar Gleichheit der Ansprüche und einen einheitlichen Lebenssachverhalt in beiden Prozessen an, erkennt aber aufgrund der Besonderheiten der entsprechenden ma­teriellrechtlichen Regelungen trotzdem zwei unterschied­ liche Klagegründe an. Eine Sperrwirkung ist nicht gegeben, wenn beide Klagen 393 Stein/Jonas/Roth,

22. Aufl., vor § 253, Rn. 50, § 261, Rn. 32. 3. Aufl., § 261, Rn. 66. 395 Gruber, ZZP 117, S. 134 ff.; Paulus, ZPR, Rn. 157. 396 Allerdings kann eine Weiterführung der negativen Feststellungsklage aus prozessökonomischen Gründen gerechtfertigt werden. So z. B., „weil ihr Ziel weiter reicht, weil sie bereits entscheidungsreif ist […] oder die in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage auf Leistung nach § 533 unzulässig ist“; vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 90, Rn. 27. 397 Ein Teil der Literatur vertritt eine modifizierte Ansicht: Zwar liegt in diesem Fall eine Teil­ identität der Streitgegenstände vor, eine Rechtshängigkeitssperre ist jedoch nicht unbedingt nötig. Parallele Prozesse schaden dem Rechtsfrieden nicht, weil es zu keinen einander widersprechenden Entscheidungen kommen kann, wenn der zweite Prozess nach § 148 ZPO aus­ gesetzt wird. Nach Rechtskraft der ersten Entscheidung kann das Gericht des zweiten Verfahrens aufgrund der Ergebnisse der ersten Entscheidung zu einer Leistung verurteilen oder die Leistungsklage abweisen. Eine Konzentration des Verfahrens wird so zwar nicht erreicht, aber es wird die nach der ein- und der zweigliedrigen Theorie gegebene Einschränkung einer Klageerhebung vermieden. Vgl. Gruber, ZZP 117, S. 138 (mit weiterer Literaturhinweise in Fn. 20). 394 MünchKomm/Becker-Eberhard,

130

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

jeweils aus dem Wechsel im Wechselprozess und aus dem Grundgeschäft im ordentlichen Verfahren oder wenn beide Klagen gleichzeitig im ordentlichen Verfahren erhoben werden.398 Die eingliedrige Theorie bejaht jedoch eine Rechtshängigkeitssperre, wenn der Kläger gleichzeitig in zwei normalen Verfahren aus Wechsel und aus dem Grundgeschäft klagt.399 Die eingliedrige Theorie nimmt in diesem Fall das gleiche Begehren und den gleichen weit verstandenen Lebenssachverhalt an. Deswegen werden die Streitgegenstände in beiden Prozessen als identisch gesehen. Der Kläger ist gezwungen, in einem ordentlichen Verfahren sein auf den Wechsel und das Grundgeschäft gestütztes Begehren zu verfolgen, um so „unerwünschte Parallelprozesse“ zu vermeiden.400 Trotzdem erkennt die eingliedrige Theorie einen wichtigen Sonderfall an: Klagt der Kläger zuerst im Wechselprozess und erhebt er danach eine zweite Klage aus dem Grundgeschäft, so hat die erste Klage keine Sperrwirkung für die zweite. Der Grund dafür liegt wiederum in der Besonderheit der entsprechenden materiellrechtlichen Regelung. In diesem Fall „gestaltet das materielle Recht die zusammentreffenden Ansprüche erkennbar unterschiedlich aus“.401 Diese Ansprüche muss der Kläger deshalb „unabhängig von mög­ lichen gleichgerichteten Ansprüchen“ allein zum Streitgegenstand machen können.402 Auf diese Weise nähern sich in diesem Fall die Lösungen der eingliedrigen und der zweigliedrigen Theorie einander an. Ein Unterschied zwischen beiden Theorien zeigt sich in zwei Fallgruppen: Erstens bejaht die eingliedrige Theorie bei gleichzeitig in zwei ordentlichen Verfahren jeweils aus dem Wechsel und dem Grundgeschäft erhobenen Klagen eine Rechtshängigkeitssperre, während die zweigliedrige Theorie diese Wirkung verneint. Der Unterschied beruht in diesem Fall darauf, dass die zweigliedrige Theorie dem Sachverhalt zwei unterschiedliche Klagegründe und die eingliedrige Theorie nur einen Klagegrund entnimmt.403 Meines Erachtens handelt es sich in diesem Fall jedoch nicht um ein Problem der Identität der Klagegründe. Die Besonderheit 398 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 70. Das gilt nicht, wenn der Kläger zuerst im Wechselprozess klagt und danach in einem ordentlichen Verfahren eine Leistungsklage aus der Urkunde erhebt. In diesem Fall greift die Rechtshängigkeitssperre ein, weil der Klagegrund und der (weit verstandene) Lebenssachverhalt in beiden Prozessen dieselben sind. Vgl. MünchKomm/Becker­-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 69. Wird vom Wechselprozess in das ordentliche Verfahren übergegangen und dann zusätzlich die Klage auf das Grundgeschäft gestützt, liegt nach der zweigliedrigen Theorie eine nachträgliche Anspruchshäufung vor. 399 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 261, Rn. 26; vor § 253, Rn. 28, 65. 400 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 65. 401 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 65. 402 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 65. 403 Beide Theorien sind sich zwar darin einig, dass in diesem Fall nur ein Anspruch gestellt wird. Die zweigliedrige Theorie verneint jedoch die Identität der Streitgegenstände, weil trotz desselben Anspruchs zwei Klagegründe (aufgrund des materiellen Rechts) gegeben sind; die eingliedrige Theorie hingegen bejaht die Identität der Streitgegenstände, weil nicht nur die Ansprüche, sondern auch die Lebenssachverhalte die gleichen sind.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

131

dieses Falles liegt vielmehr darin, dass die Sachverhalte (und daher die Ansprüche) beider Prozesse in einem Zusammenhang stehen. Dementsprechend werden die Entscheidungen beider vom Kläger betriebenen Parallelprozesse in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. In den meisten Fällen dürften die Ergebnisse beider Prozesse nicht widersprüchlich sein. Aber wenn das Begehren des Klägers in beiden Prozessen bejaht wird, tritt ein Konflikt zwischen beiden Entscheidungen dahingehend auf, dass der eine Anspruch nicht zweimal erfüllt werden kann. Um diesen Konflikt sachgerecht lösen zu können, ist der Zweck des Instituts der Rechtshängigkeit heranzuziehen. Der Zweck dieses Instituts liegt darin, „den doppelten Aufwand an Zeit, Mühe und Kosten und doppelte, u. U. widerstreitende Entscheidungen zu verhindern“. Der Prüfstein dafür ist, „ob die Entscheidung des ersten Prozesses die des zweiten überflüssig macht oder nicht“.404 Die Schwierigkeit der hier erwähnten ersten Fallgruppen liegt darin, dass die erste Entscheidung die zweite überflüssig machen mag, aber ein positiver Konflikt zwischen beiden Entscheidungen nicht immer gegeben sein muss. Daher scheint die Lösung beider Theorien zu wenig flexibel.405 Eine mögliche Lösung liegt darin, das zweite Verfahren auszusetzen, wenn ordentliche Verfahren parallel begonnen werden. Das Schicksal des zweiten Verfahrens hängt vom Ergebnis des ersten Verfahrens ab.406 Ein Unterschied zwischen beiden Theorien tritt zweitens auch bei der folgenden Fallgestaltung zutage: Wenn der Kläger zuerst in einem ordentlichen Verfahren eine Klage aus dem Grundgeschäft und danach eine neue Klage im Wechsel­ prozess erhebt, bejaht die eingliedrige Theorie eine Rechtshängigkeitssperre, während die zweigliedrige Theorie diese Wirkung hingegen verneint. Richtet man sich nach der zweigliedrigen Theorie, so ist das Ergebnis unhaltbar, wenn das Begehren des Klägers in beiden Prozessen bejaht wird. Richtet man sich nach der eingliedrigen Theorie, so wird dem Kläger die vom materiellen Recht eingeräumte Möglichkeit verwehrt, eine gesonderte Klage neben der Klage aus dem Grundgeschäft zu erheben.407 Daher können die Lösungen beider Theorien nicht völlig zu-

404 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

ZPR, § 98, Rn. 18. zweigliedrige Theorie verneint in diesem Fall die Sperrwirkung; die eingliedrige Theorie hingegen bejaht sie und nimmt eine Konzentrationslast des Klägers an, weshalb der Kläger seine Begehren aufgrund des Wechsels und des Grundgeschäfts nur vor einem Gericht im ordentlichen Verfahren geltend machen kann. 406 Vgl. die folgenden Fallgruppen: Wird die erste Klage aus dem Wechsel vom Gericht bejaht, soll die zweite Klage aus dem Grundgeschäft abgewiesen werden, da ihr das Rechtsschutzbedürfnis fehlt; wird die erste Klage aus dem Wechsel vom Gericht abgewiesen, soll das zweite Verfahren aus dem Grundgeschäft weitergeführt werden; wird die erste Klage aus dem Grundgeschäft vom Gericht bejaht, ist die zweite Klage aus dem Wechsel unmöglich, da der Gläubiger die Leistung aus dem Grundgeschäft nur gegen Rückgabe des Wechsels fordern kann; wird die erste Klage aus dem Grundgeschäft vom Gericht abgewiesen, soll die zweite Klage aus dem Wechsel weitergeführt werden. 407 Dadurch wird die Dispositionsfreiheit des Klägers erheblich eingeschränkt; vgl. Baumgärtel, JuS 1974, S. 73. 405 Die

132

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

friedenstellen. Meines Erachtens muss wie bei der ersten Fallgruppe eine flexible Lösung gefunden werden, d. h., die Klage im Wechselprozess sollte zunächst ausgesetzt und später auf der Basis der Entscheidung des ersten Verfahrens entschieden werden.408 Demgegenüber befürwortet Baumgärtel bei diesem „Wechselbeispiel“ die von Hen­ckel entwickelte Lehre. Das Institut der Rechtshängigkeit wolle vor allem widersprüchliche Entscheidungen vermeiden. „Ein solcher Urteilswiderspruch betrifft nicht nur die prozessuale Stellung des Klägers, sondern auch seine materiell­ rechtliche Position […].“ Wenn zwei gegenläufige Entscheidungen „einen einheitlichen vermögensrechtlichen Verfügungsgegenstand“ betreffen, stehen sie im materiellrechtlichen Bereich im Widerspruch.409 Baumgärtel möchte also einerseits auf die Besonderheit des materiellen Rechts im Wechselbeispiel und andererseits auf die Wirkung der Entscheidungen für die materiellrechtliche Position der Parteien Rücksicht nehmen. Die wichtige Rolle der entsprechenden materiellrechtlichen Regelung im „Wechselbeispiel“ wird damit deutlich. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das „Wechselbeispiel“ ein Sonderfall in Bezug auf das Rechtshängigkeits- und Streitgegenstandsproblem ist.410 Es ist daher nicht als idealer Prüfstein der unterschiedlichen Streitgegenstandstheorien geeignet. Vielmehr gilt für das Wechselbeispiel der Grundsatz: Spezialfälle sollen auch besonderen Regeln folgen. V. Das Rechtshängigkeitsproblem bei der Teilklage Schließlich ist das Rechtshängigkeitsproblem bei der Teilklage kurz zu erörtern. Eine Teilklage führt grundsätzlich zur Rechtshängigkeit des Teilbetrags. Wird in einem Prozess nur ein quantitativ oder sonst individuell bestimmter Teil einer Forderung eingeklagt, so steht die Rechtshängigkeit einer zweiten Klage auf den Rest oder einen anderen Teil nicht entgegen.411 Aber die Rechtshängigkeitssperre greift ein, wenn in beiden Prozessen nicht individualisierbare Teile desselben Anspruchs

408 Wird die erste Klage aus dem Grundgeschäft vom Gericht bejaht, erweist sich die zweite Klage im Wechselprozess als unbegründet, da der Gläubiger die Leistung aus dem Grund­ geschäft nur gegen Rückgabe des Wechsels fordern kann. Wird die erste Klage aus dem Grundgeschäft vom Gericht abgewiesen, soll die zweite Klage im Wechselprozess weitergeführt werden. Auch wenn der Anspruch aus dem Wechsel als solcher besteht, ist die Klage auch hier abzuweisen, weil aus dem ersten Verfahren das Fehlen einer rechtfertigenden Leistungspflicht rechtskräftig feststeht. 409 Baumgärtel, JuS 1974, S. 73. Eine konkrete Lösung geben aber seine Ausführungen nicht vor. 410 Der Wechselprozess beurteilt nur das Recht aus dem Wechsel. Mit anderen Worten wird in dieser Verfahrensart ein besonderes materiellrechtliches Recht behandelt. Daher hat dieser Prozess aktionenrechtlichen Charakter. 411 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., § 261, Rn. 61.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

133

geltend gemacht werden.412 Wird im ersten Prozess nur auf Teilleistung geklagt und im zweiten Prozess auf Feststellung des Restanspruchs, steht dem die Rechtshängigkeit ebenso wenig entgegen.413 Damit wird deutlich, dass zur Identität der Streitgegenstände auch der Umfang der Streitgegenstände gehört und beim Institut der Rechtshängigkeit eine Rolle spielt.

D. Streitgegenstandslehre und materielle Rechtskraft I. Zweck des Instituts der materiellen Rechtskraft Materielle Rechtskraft bedeutet, dass eine gerichtliche Entscheidung inhaltlich in einem neuen Prozess nicht mehr angezweifelt werden kann.414 Ihre Aufgabe liegt darin, den Streit beider Parteien endgültig und verbindlich zu lösen und die Gefahr widersprechender Entscheidungen zu vermeiden.415 II. Die Bedeutung der Streitgegenstandslehre für das Institut der materiellen Rechtskraft Die materielle Rechtskraft einer Entscheidung führt zu ihrer Maßgeblichkeit zwischen den Parteien. Diese Maßgeblichkeit zeigt sich vor allem in vier verschiedenen Fallkonstellationen.416 Im ersten Fall wird nach rechtskräftiger Abweisung einer Klage dieselbe Klage noch einmal erhoben.417 Im zweiten Fall begehrt der Unterlegene in einem neuen Prozess das exakte Gegenteil der rechtskräftigen Feststellung des ersten Prozesses (sog. kontradiktorisches Gegenteil).418 Im dritten Fall könnte die Entscheidung über die neue Klage die materielle Rechtskraft­wirkung der Entscheidung des Vorprozesses beeinträchtigen, weil sie im Widerspruch zur Rechtsordnung (oder zu der bestimmten materiellrechtlichen Lage) steht, wie sie 412 Stein/Jonas/Roth,

22. Aufl., § 261, Rn. 27. 22. Aufl., § 261, Rn. 29. 414 Schwab, ZPR, Rn. 352. 415 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 151, Rn. 1; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322, Rn.  28 f. 416 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 154, Rn. 1. 417 „Die materielle Rechtskraft soll zunächst die erneute Klage des abgewiesenen Klägers oder die Klage des unterlegenen Beklagten verhindern, der Feststellung des Nichtbestehens seiner Schuld verlangt. Sie greift dann ein, wenn der Streitgegenstand von Erst- und Zweit­ prozess völlig identisch ist.“ Vgl. Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 558. Solche Fälle treten selten auf, ihre Bedeutung liegt hauptsächlich in der theoretischen Darstellung; vgl. Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, § 154, Rn. 1; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 558. 418 So erhebt z. B. der Unterlegene des Vorprozesses eine negative Feststellungsklage, um das Nichtbestehen seiner Pflicht feststellen zu lassen. Nach Gottwald ist „das Gegenteil nicht vom Wortlaut, sondern vom Sinn her zu beurteilen“; MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., § 322, Rn. 42. 413 Stein/Jonas/Roth,

134

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

die Entscheidung des Vorprozesses zugrunde gelegt hat.419 Im vierten Fall kann die Entscheidung über die neue Klage die materielle Rechtskraftwirkung der Entscheidung des Vorprozesses beschädigen, wenn beide Klagen zwar aufgrund desselben Lebenssachverhaltes, aber in unterschiedlichen Rechtsschutzformen angestellt werden.420, 421 Die Bestimmung der Rechtskraftwirkung des Vorprozesses auf den zweiten Prozess hängt von der Frage ab, ob Identität oder Teilidentität der Streitgegenstände beider Prozesse vorliegt. Die Wahl zwischen unterschiedlichen Streitgegenstandslehren spielt dabei eine entscheidende Rolle. III. Die zweigliedrige Theorie als herrschende Lehre beim Institut der materiellen Rechtskraft und ihre Mängel Zwar gehen die Meinungen zum Streitgegenstand bei den Instituten der objektiven Klagenhäufung, der Klageänderung und der Rechtshängigkeit auseinander. Die Prozessualisten sind sich aber in ihrer großen Mehrheit darin einig, dass beim Institut der materiellen Rechtskraft die zweigliedrige Theorie gelten soll.422 Viele Gelehrte, die bei anderen Instituten die eingliedrige Theorie befürworten, verzichten hier auf sie. Der Grund liegt darin, dass bei Bemessung des Gegenstandes der Rechtskraft die Einbeziehung aller denkbaren einen Antrag begründenden Tatsachen zu sehr harten Konsequenzen führen würde.423 Der mit der Rechtskraft verbundene Ausschluss aller alten Tatsachen könnte dazu führen, einen sehr weit verstandenen Lebenssachverhalt zu präkludieren, auch wenn die Parteien wichtige Teile des weit verstandenen Lebenssachverhalts nicht kennen. Um den Parteien die Möglichkeit einzuräumen, aufgrund anderer, enger verstandener Sachverhalte

419 So z. B., wenn der verurteilte Beklagte eine neue Klage anstellt, um das aus einem rechtskräftigen Urteil Beigetriebene als ungerechtfertigte Bereicherung zurückzufordern; oder wenn der zur Herausgabe Verurteilte in einer neuen Klage seinerseits Herausgabe vom Gegner begehrt. Auch ist folgende Konstellation denkbar: K stellt eine Klage auf Feststellung des Eigen­ tums an einem Grundstück an, wenn in einem Vorprozess der Grundbuchberichtigungsanspruch des B gegen K vom Gericht bejaht worden. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 154, Rn. 7. 420 So erhebt z. B. der Kläger, der im Vorprozess eine Feststellungsklage anstellt und verliert, aufgrund desselben Sachverhalts eine neue Klage auf Leistung. 421 Dabei wird deutlich, dass die Beachtung des Inhalts und der Wirkung des materiell­ rechtlichen Rechts unverzichtbar für den Aufbau einer sachdienlichen Streitgegenstandslehre ist. 422 MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., § 322, Rn 113. Die Gelehrten, die bei anderen Instituten die eingliedrige Theorie vertreten, sind bei diesem Problem mit der zweigliedrigen Theorie weithin einverstanden. Dabei erfasst das Verständnis des Streitgegenstandes auch die konkrete Rechtsschutzform neben dem Lebenssachverhalt; vgl. Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322, Rn. 94; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 61. 423 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322, Rn. 93.

Kap. 8: Streitgegenstandslehre und Anwendung auf prozessrechtliche Institute

135

ihren Anspruch zu rechtfertigen, soll der Umfang der Rechtskraftwirkung eng begrenzt werden.424 Bei Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ kann die Anwendung der klassischen zweigliedrigen Theorie zu harten Ergebnissen führen. Wenn eine erste Klage abgewiesen wird, ist es grundsätzlich gerechtfertigt, dass der Kläger aufgrund eines wesentlich anderen Sachverhalts seinen Antrag in einem zweiten Verfahren stellt. Bei der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ ist dies aber gerade nicht der Fall. Die aufgrund konkurrierender materiellrechtlicher Normen gestellten Anträge richten sich auf das gleiche wirtschaftliche Ziel. Die konkurrierenden Ansprüche stehen in einem engen Zusammenhang. Der Sachverhalt, der den Streit zwischen beiden Parteien darstellt, ist als das Ganze eines Lebenssachverhalts anzusehen. Das Gericht kann den Kläger nicht dazu auffordern, einen Anspruch aus den möglichen Ansprüchen zu wählen und nur diesen im Verfahren geltend zu machen. Dies würde dem Interesse des Klägers, welches die Rechtsordnung durch mehrere Mittel (hier: mehrere Anspruchs­ normen) schützt, in ungerechter Weise schaden. Das Gericht kann auch andererseits dem Kläger nicht erlauben, mehrmals zu versuchen, sein Interesse zu wahren, denn dies würde dem Rechtsfrieden und der Autorität der Justiz Schaden zufügen. Eine sachgerechte Lösung liegt daher vielmehr darin, die unterschiedlichen konkurrierenden Ansprüche möglichst in einem Verfahren zu berücksichtigen: Am Ende des Verfahrens werden entweder alle Ansprüche abgelehnt oder einer von ihnen wird bejaht. Die aufgrund eines nicht berücksichtigten Anspruchs angestellte neue Klage ist daher zu Recht abzuweisen.425 Wie oben schon erwähnt ist dieser Lösungsvorschlag jedoch nur sinnvoll, wenn der Richter bei Behandlung von Fällen der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ berechtigt ist, alle materiellrechtlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen und den Parteien Hinweise zum Rechtsbegehren und zum Tatsachenvortrag zu geben.

424 Der

Unterschied beider Theorien zeigt sich hauptsächlich bei der Festlegung der Anzahl von Streitgegenständen bei gleichem Anspruch und unterschiedlichen Einzelsachverhalten (Klagegründen). Weil die „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ von den beiden Theorien nicht als der Fall angesehen wird, bei dem ein einziger Anspruch von mehreren Sachverhalten begründet wird, gibt es tatsächlich ganz wenige Fälle dieser Art. So kann man bezweifeln, ob die Befürwortung der zweigliedrigen Theorie und der Verzicht auf die eingliedrige Theorie beim Institut der materiellen Rechtskraft noch von großer praktischer Bedeutung sind. 425 Daher erscheint ein relativ weiter Umfang der Rechtskraftwirkung in Fällen der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ wünschenswert.

136

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Kapitel 9

Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen A. Die Parteidisposition über die Rechtsschutzform und der Inhalt des Streitgegenstandes Nach der deutschen Prozessordnung besitzen die Parteien eine umfangreiche Dispositionsfreiheit.426 So kann der Kläger selbst bestimmen, in welche Rechtsschutzform er die Klage einkleidet. Dies wird insbesondere bei seiner Wahl zwischen Leistungs- und Feststellungsklage deutlich: Wenn der Kläger eine Leistung des Beklagten beansprucht, darf der Richter nicht lediglich das Bestehen dieser Leistungspflicht ausurteilen; wenn der Kläger die Feststellung einer Leistungspflicht des Beklagten verlangt und gerade ein rechtliches Interesse an dieser Feststellung hat, darf der Richter ihm nicht direkt einen Vollstreckungstitel verschaffen.427 An diesen Beispielen lässt sich gut veranschaulichen, wie die vom Kläger gewählte Rechtsschutzform in seinem Rechtsbegehren zum Ausdruck kommt. Die klägerische Wahl der Rechtsschutzform ist Teil des von ihm bestimmten Streitgegenstandes.428 Dieser Punkt ist jedoch unter den Lehrmeinungen umstritten. So befürworten einige Prozessualisten die Ausklammerung der Rechtschutzform vom Begriff des Streitgegenstandes, da dadurch Parallelprozesse von Leistungsklage und negativer Feststellungsklage vermieden werden können.429 Dagegen befürwortet die h. L. die Einbeziehung der Rechtschutzform in den Streitgegenstandsbegriff und versucht, für die Problematik des Verhältnisses von Leistungs- und Feststellungsklage andere Lösungen zu finden.430 Wie die obige Darstellung verdeutlicht hat, ist meines Erachtens der h. L. zuzustimmen.

B. Leistungsklage und Streitgegenstandsproblem I. Ziel und Rechtsnatur Das Ziel der Leistungsklage und der Zweck des Leistungsurteils liegt darin, einen in der Klage als bestehend behaupteten und im Urteil festgestellten Anspruch des Klägers auf ein Tun oder Unterlassen durchzusetzen.431 „Der Klagean 426 MünchKomm/Rauscher, 3. Aufl., Einl., Rn. 274; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., vor § 128, Rn.  138 f.; Stürner, FS Heldrich, S. 1061 ff. 427 ne eat iudex ultra petita partium. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 76, Rn. 3. 428 Kadel, Geschichte und Dogmengeschichte der Feststellungsklage, S. 91. 429 Beispielsweise Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 50, 53. 430 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 23; Schwab, Streitgegenstand, S. 184, 186 ff.; Habscheid, Streitgegenstand, S. 133 ff., insb. 138 ff.; Böhm, FS Kralik, S. 110 ff. 431 Schreiber, Jura 2004, S. 386.

Kap. 9: Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen

137

trag und das stattgebende Urteil sind ihrem Wortlaut nach nur auf die Verurteilung des Beklagten zu der geschuldeten Leistung gerichtet. Das Urteil enthält aber stets die (rechtskraftfähige) Feststellung des Anspruchs […].“432 Mit anderen Worten beinhaltet das Leistungsurteil normalerweise zwei wesentliche Elemente: die Festlegung der Leistungspflicht und den Vollstreckungstitel.433 II. Theoretische Kontroversen über die Festlegung des Umfangs des Streitgegenstandes der Leistungsklage Die Leistungsklage ist die wichtigste Klageart im Prozessrechtssystem. Die ganze Streitgegenstandslehre Deutschlands dreht sich vor allem um das Streit­ gegenstandsproblem der Leistungsklage erster Instanz: Die Leistungsklage wird von den Prozessualisten als Grundmodell für den Aufbau und die Prüfung verschiedener Lehr­meinungen betrachtet.434 Die Uneinigkeit über die Lösung der Streitgegenstandsproblematik im Rahmen der Leistungsklage liegt hauptsächlich darin begründet, dass einige Gelehrte alle vier relevanten Probleme – die Klagenhäufung, die Klageänderung, die Rechts­ hängigkeit und die materielle Rechtskraft – einheitlich nach der zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie lösen wollen.435 Dagegen befürworten einige andere die einheitliche Anwendung der eingliedrigen Theorie.436 Es wird auch – entgegen dem Einheitsdogma – die Ansicht vertreten, dass die Problematik jeweils entsprechend dem Zweck der maßgeblichen Prozessrechtsnormen in Anlehnung an die ein- oder zweigliedrige Theorie zu lösen seien.437 Solche theoretischen Kontroversen sind meines Erachtens letztlich nicht sehr bedeutsam. Trotz des breiten Spektrums von Theorien, die zum Inhalt und Umfang des Streitgegenstandes unterschiedliche Antworten geben, sind im praktischen Ergebnis die Unterschiede solcher Theorien nicht wirklich erheblich. Sowohl zwischen der ein- und zweigliedrigen Theorie als auch zwischen dem einheitlichen und dem relativen Streitgegenstandsbegriff besteht kein richtig gravierender Unterschied. Zusammenfassend ist vielmehr festzustellen, dass die Differenz zwischen den verschiedenen 432 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

ZPR, § 89, Rn. 2; Lüke, JuS 1969, S. 301; Kadel, Geschichte und Dogmengeschichte der Feststellungsklage, S. 65. Erwähnenswert ist aber, dass nach der herrschenden Lehre in Deutschland die Feststellung des Schuldverhältnisses nicht mit Rechtskraft erwächst, wenn der Leistungskläger nicht zusätzlich eine Zwischenfeststellungsklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) erhebt. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 96, Rn. 35; Schreiber, Jura 2004, S. 388. 433 Schreiber, Jura 2004, S. 386. 434 Vgl. die obige ausführliche Darstellung zur Streitgegenstandslehre in Kapitel 7 und 8. 435 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 7; MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 32, 36. 436 Schwab, Streitgegenstand, S. 74 ff., insb. S. 199. 437 Baumgärtel, JuS 1974, S. 72 ff.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 46 ff.; Bork, Der Vergleich, 1988, S. 434 ff. (m. w. Literaturhinweisen).

138

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Theorien zur Streitgegenstandsproblematik am Falle der Leistungsklage von eher geringer Relevanz ist und die theoretischen Kontroversen und ihre Ergebnisse wenig zur Praxis der Gerichte beitragen. Wichtig ist nur, den Streitgegenstand der Leistungsklage prozessual zu bestimmen und nach prozessualen Gesichtspunkten abzugrenzen. III. Das Problem der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ bei der Leistungsklage und seine Lösung Wie bereits dargelegt, beruhen die Schwierigkeiten der Streitgegenstandslehre hauptsächlich auf dem Phänomen der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“. Deswegen zeigt sich vor allem bei der Leistungsklage die schwer zu lösende Streitgegenstandsproblematik, nämlich die Festlegung der Zahl der Streitgegenstände, wenn aus einem einzigen Sachverhalt mehrere auf dasselbe Ziel gerichtete Ansprüche geltend gemacht werden können. Die beiden prozessualen Streitgegenstandstheorien nehmen an, dass der klägerische Antrag Kernstück des Streitgegenstandes ist und die Anzahl der selbständigen Anträge die Anzahl der Streitgegenstände bestimmt. Sie unterscheiden sich hauptsächlich im Hinblick auf diejenigen Fälle, in denen mehrere Sach­verhalte einen Antrag rechtfertigen können. Solche Fälle sind aber in der Rechtspraxis recht selten.438 Der Grund, dass die Anhänger beider Theorien sich große Mühe geben, diese Fälle zu lösen, und sich seit Langem damit auseinandergesetzt haben, mag darin liegen, dass sie der Ansicht sind, diese Fälle hätten wesentlich die Streitgegenstandsproblematik verursacht. Mit anderen Worten betrachten solche Prozessualisten beide Fallarten als gleich problematisch, nämlich die, bei der eine Rechtsbehauptung von mehreren selbständigen sachlichen Klagegründen gestützt wird, und die, die in dieser Arbeit als „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ bezeichnet wird. Doch wird der Charakter der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ meines Erachtens von vielen Prozessualisten nicht adäquat erfasst. Aufgrund eines Tatsachenkomplexes stehen dem Kläger mehrere auf dasselbe Ziel gerichtete materiellrechtliche Ansprüche zur Verfügung. Solche konkurrierenden Ansprüche gewähren dem Kläger Rechtsfolgen, die – formell gesehen – unter Umständen nicht völlig identisch sind. Auch können die konkreten Sachverhalte, die der Kläger vorträgt und die das Gericht prüft, um die Anwendung dieser materiellrechtlichen Ansprüche zu ermöglichen und die von ihnen vorgesehenen 438 Eine denkbare Fallkonstellation etwa wäre die Forderung sowohl aufgrund einer Grundschuld als auch aufgrund eines Wechsels: Die eingliedrige Theorie nimmt hier nur einen Streitgegenstand an, da der Kläger nur ein einheitliches Begehren stellt. Demgegenüber werden in diesem Fall von der zweigliedrigen Theorie zwei Streitgegenstände anerkannt, weil nach ihr zwei unterschiedliche Sachverhalte das klägerische Begehren begründen. Vgl. Musielak, Grundkurs ZPO, Rn. 148.

Kap. 9: Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen

139

Rechtsfolgen herbeizuführen, unterschiedlich sein.439 Trotzdem können diese konkurrierenden Ansprüche nicht parallel angewandt werden, weil sie im Wesentlichen dasselbe wirtschaftliche oder juristische Ziel verfolgen. Zwar weichen die Tatbestandsmerkmale solcher materiellrechtlichen Anspruchsnormen normalerweise voneinander ab, sie gehören aber zu einem einheitlichen Lebenssachverhalt, der einem einzigen Streit zwischen beiden Parteien zugrunde liegt. Die Auseinandersetzungen zwischen der ein- und der zweigliedrigen Theorie drehen sich um Kriterien, anhand derer die Anzahl der Streitgegenstände fest­ gelegt wird; dabei haben sie den Besonderheiten der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass die beiden klassischen Theorien bei der Lösung dieser Problematik auf Schwierig­kei­ten stoßen. Um diese Problematik sachgerecht zu lösen, haben die deutschen Prozes­sua­listen die prozessuale Streitgegenstandslehre – insbesondere die zweigliedrige Theorie – in gewisser Weise revidiert: Es werden der „weit verstandene Antrag“ und ein „weit verstandener Sachverhalt“ herangezogen, um zu ermöglichen, dass alle konkurrierenden Ansprüche in einem Verfahren berücksichtigt werden.440

C. Feststellungsklage und Streitgegenstandsproblem I. Ziel und Rechtsnatur Ziel der Feststellungsklage ist es, das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses bzw. die Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde gerichtlich festzustellen (§ 256 ZPO). Sie dient vor allem dazu, ein Rechtsverhältnis zwischen zwei Parteien zu klären und festzustellen, um so im Rechtsleben Ungewissheit und Unsicherheit zu beseitigen. Im Gegensatz zu dem einer Klage stattgebenden Leistungsurteil ist das Urteil einer Feststellungsklage nicht vollstreckbar.441 Andererseits ist der Gegenstand der Feststellungsklage umfassender: Sie betrifft nicht nur die Leistungsrechte, sondern auch die Herrschafts- und Gestaltungsrechte und auch sonstige Rechtsverhältnisse jeder Art.442

439 Wie Habscheid mit Recht beschreibt, nimmt der materiellrechtliche Anspruch nur das „Tatsachensegment“ in seinen Tatbestand auf. Vgl. Habscheid, Streitgegenstand, S. 221. 440 Vgl. die obige Darstellung zur Natur und Lösung der Problematik der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ in Kapitel 5 C., Kapitel 6, Kapitel 7 F. und Kapitel 8. Diese Problematik wird weiter in Kapitel 10 B. ausführlich behandelt. 441 Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 278; Schilken, ZPR, Rn. 184; Schreiber, Jura 2004, S. 387. 442 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 90, Rn. 5.

140

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

II. Die Arten der Feststellungsklage Mit der negativen Feststellungsklage beantragt der Kläger die gerichtliche Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtverhältnisses.443 Hier soll der Begriff „Rechtsverhältnis“ in einem weiten Sinne verstanden werden. Je nach dem Klageziel und dem festzustellenden Rechtsverhältnis ist zwischen verschiedenen Arten der negativen Feststellungsklage zu differenzieren. Zum einen kann der Kläger der negativen Feststellungsklage beanspruchen, dass es dem vom Gegner behaupteten Leistungsanspruch an der rechtlichen Begründung fehlt. Dieses Begehren der negativen Feststellungsklage ist umfassend gefasst, um der Leistungsklage des Gegners (also des angeblichen Gläubigers) in vollem Umfang zu begegnen.444 Zum anderen kann der Kläger der negativen Feststellungsklage begehren, dass ein konkretes materielles Rechtsverhältnis nicht besteht, auf das sein Gegner den Leistungsanspruch gründen kann.445 In diesem Fall gründet sich das Begehren der negativen Feststellungsklage auf eine mate­ riellrechtliche Norm. Zwar kann der Kläger hier gegen den Leistungsanspruch des Gegners nur teilweise opponieren, es ist aber das Rechtsschutzinteresse für diese Art der negativen Feststellungsklage allgemein anerkannt.446 Schließlich kann eine negative Feststellungsklage dahin erhoben werden, dass ein Rechtsverhältnis zwischen beiden Parteien als Voraussetzung für mehrere Rechtsfolgen, von denen der angebliche Gläubiger durch eine Leistungsklage nur eine oder jeweils eine geltend machen kann, nicht besteht. Mit diesem Begehren möchte der Kläger der nega­ tiven Feststellungsklage alle auf dieses Rechtsverhältnis beruhenden Ansprüche des angeblichen Gläubigers bekämpfen und im Ergebnis verneint sehen.447 Diese Fallgruppenbildung macht deutlich, dass die negative Feststellungsklage wie auch die positive Feststellungsklage in einem Zusammenhang mit der Leistungsklage stehen können. Dieser Zusammenhang zwischen der Leistungs 443 Die Bedeutsamkeit und Notwendigkeit der negativen Feststellungsklage werden im deutschen Recht überwiegend anerkannt, so dass die maßgebliche Literatur grundsätzlich auf eine Begründung verzichtet. Vgl. beispielsweise Schwab, ZPR, Rn. 80; Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 86. Für eine ausführliche Darstellung vgl. Baltzer, Die negative Fest­ stellungsklage aus § 256 I ZPO. Im Hinblick auf die internationale Ebene vgl. die Darstellung des Generalanwalts Tesauro zum Falle „Tatry/Maciej Rataj“: „[…] die negativen Feststellungsklagen, die übrigens nach den verschiedenen nationalen Verfahrensordnungen zugelassen und in jeder Hinsicht völlig legitim sind, [können] tatsächlichen Bedürfnissen des Klägers entsprechen […]. Dieser kann z. B. ein Interesse haben, im Fall der Verschleppung durch die Gegenpartei, im Fall vom Zweifeln oder Einwänden eine schnelle gerichtliche Feststellung der Rechte, der Pflichten oder der Verantwortlichkeiten zu erlangen, die sich aus einem bestimmten Vertragsverhältnis ergeben.“ Amtl. Slg. 1994, S. 5455 sub 23. 444 Das streitige Rechtsverhältnis in diesem Fall ist das Bestehen oder Nichtbestehen des Leistungsanspruchs. Vgl. Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 68. 445 Bernhardt, ZPR, S. 183, 186 f. 446 Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 68 f.; vgl. auch § 256 Abs. 2 ZPO. 447 Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 69.

Kap. 9: Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen

141

klage und beiden Arten der Feststellungsklage bereitet der Streitgegenstandslehre Schwierigkeiten. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es um das Verhältnis zwischen der Leistungsklage und der negativen Feststellungsklage geht. III. Das Verhältnis zwischen Leistungsklage und Feststellungsklage 1. Leistungsklage und positive Feststellungsklage Nach den vorausgegangenen Überlegungen zum Ziel der Feststellungsklage und Inhalt des Feststellungsurteils ist davon auszugehen, dass eine Leistungsklage und eine positive Feststellungsklage miteinander in engem Zusammenhang stehen können, wenn sich die positive Feststellungsklage auf die Feststellung der Leistungspflicht des Beklagten richtet. In diesem Fall umfasst die Leistungsklage inhaltlich das Begehren auf Feststellung der Leistungspflicht des Beklagten. Daher sind die Gegenstände dieser Leistungsklage und dieser positiven Feststellungsklage teilidentisch.448 Daraus ist zu folgern, dass aufgrund der Rechtshängigkeitssperrwirkung die parallele Durchführung dieser Leistungsklage und dieser positiven Feststellungsklage ausgeschlossen ist. Für die materielle Rechtskraft ergibt sich folgendes Ergebnis: Das stattgebende Urteil über die Leistungsklage macht die Erhebung einer positiven Feststellungsklage sinnlos, während eine erfolgreiche positive Feststellungsklage die nachherige Leistungsklage nicht hindert. 2. Leistungsklage und negative Feststellungsklage Wie bereits dargelegt, werden mit der negativen Feststellungsklage unterschiedliche Ziele verfolgt. Wenn es bei ihr darum geht, das Nichtbestehen einer Leistungspflicht festzustellen, steht sie im Gegensatz zu einer Leistungsklage, die sich auf das Leistungsbegehren richtet. In diesem Falle gibt es weitgehende Gemein 448 Mit

anderen Worten ist der klägerische Anspruch der positiven Feststellungsklage Teil des klägerischen Anspruchs der Leistungsklage. Deshalb ist der Streitgegenstand dieser positiven Feststellungsklage Teil des Streitgegenstandes der Leistungsklage. Daran kann man erkennen, dass die Problematik des Streitgegenstandes sich nicht nur auf das Wesen des Verfahrensgegenstandes, sondern auch auf die quantitative Seite des Verfahrensgegenstandes bezieht. Die quantitative Seite des Verfahrensgegenstandes zeigt sich in den folgenden zwei Fällen: erstens, wenn die beanspruchte Leistung teilbar und der Kläger berechtigt ist, vorerst nur einen Teil der Leistung zu beanspruchen; zweitens, wenn unter bestimmten Voraussetzungen das Prozessrecht dem Kläger erlaubt, zuerst die Festlegung seines Leistungsanspruchs gegenüber dem Beklagten durch eine positive Feststellungsklage vornehmen zu lassen und erst danach seinen Leistungsanspruch in einer Leistungsklage geltend zu machen. Die Aufteilung des Streitgegenstandes im zweiten Falle ist nur berechtigt, wenn für die erhobene positive Feststellungsklage ein Rechtsschutzinteresse besteht. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 90, Rn. 24 ff.

142

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

samkeiten zwischen den Gegenständen beider Klagen. Der Umfang des Gegenstandes der negativen Feststellungsklage ist jedoch nicht so weit wie derjenige der Leistungsklage: Bei der negativen Feststellungsklage wird über das Bestehen oder Nichtbestehen des Schuldverhältnisses entschieden; es geht bei ihr nicht um einen vollstreckbaren Titel. Insofern sind die Gegenstände beider Klagen nur teilweise identisch. Die prozessuale Behandlung konkurrierender Klagen wird durch dieses Verhältnis bestimmt. Mit Blick auf die Rechtshängigkeit gilt Folgendes: Die Erhebung einer Leistungsklage hindert die Einreichung einer negativen Feststellungsklage, die sich auf dasselbe Rechtsverhältnis bezieht; ob die Erhebung der negativen Feststellungsklage die Erhebung der Leistungsklage ausschließt, ist hingegen umstritten.449 Für die Wirkungen der materiellen Rechtskraft gestalten sich die Dinge etwas anders. Die erfolgreiche negative Feststellungsklage führt dazu, dass eine Leistungsklage nicht mehr erhoben werden darf. Wenn die negative Feststellungsklage abgewiesen wird, kann der Beklagte der negativen Feststellungsklage keine Zwangsvollstreckung betreiben, sodass eine Leistungsklage möglich bleibt. Wenn die Leistungsklage abgewiesen wird, ist die Erhebung einer negativen Feststellungsklage nicht unbedingt sinnlos, da der Verlust der Leistungsklage des Gegners nicht bedeutet, dass das Nicht­bestehen der Schuld festgestellt wurde.450 Die erfolgreiche Leistungsklage macht es jedoch sinnlos, dass der Beklagte der Leistungsklage durch eine negative Feststellungsklage ein Urteil zu seinen Gunsten zu erlangen sucht. Wenn die negative Feststellungsklage sich auf die Feststellung des Nichtbestehens der materiellrechtlichen Grundlage einer Leistungspflicht bezieht, ist ihre Beziehung zu der Leistungsklage eine andere. Das Ziel der Klage besteht streng genommen nicht darin, den Erfolg einer Leistungsklage des Gegners unmittelbar zu verhindern. Daher sind die Streitgegenstände beider Klagen auch nicht identisch. So soll eine anhängige Leistungsklage des Gläubigers die nachherige negative Feststellungsklage, in der der Schuldner die Unwirksamkeit des Vertrags zwischen ihm und dem Gläubiger behauptet, nicht hindern. Dies gilt auch, wenn 449 Beispielsweise befürwortet Roth die Lösung, dass der Beklagte der negativen Feststellungsklage gezwungen wird, im gleichen Verfahren eine Leistungswiderklage zu erheben; vgl. Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 54. Im Gegensatz dazu wird die Ansicht vertreten, dass der Beklagte der negativen Feststellungsklage sich auf die Abwehr der anhängigen Klage beschränken muss; vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 90, Rn. 24; Keller, WRP 2000, S. 908 ff. Der zweiten Lehrmeinung ist zuzustimmen, da ein Zwang zur Erhebung der Widerklage nicht unbedingt notwendig ist. 450 Der Grund eines Verlusts der Leistungsklage kann sein, dass trotz des Bestehens des Schuldverhältnisses der Anspruch auf eine Leistung aus verschiedenen Gründen nicht zu bejahen ist, z. B. weil Verjährung eingetreten ist. In diesem Fall wird zwar das Bestehen des Leistungsanspruchs vom Gericht der Leistungsklage dem Urteil zugrunde gelegt, diese Feststellung hat aber keine bindende Wirkung auf nachfolgende Prozesse. Deswegen hat der Beklagte der Leistungsklage ein rechtliches Interesse, durch die Erhebung einer negativen Feststellungsklage das Bestehen oder Nichtbestehen dieses Schuldverhältnisses verbindlich feststellen zu lassen. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 153, Rn. 14; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 573; Schilken, ZPR, Rn. 1024; Grunsky, ZPR, Rn. 240.

Kap. 9: Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen

143

die negative Feststellungsklage vor der Leistungsklage erhoben wird.451 Die materiellen Inhalte beider Urteile stehen auch nicht unbedingt im Gegensatz zu­ einander.452 Schließlich soll das Verhältnis zwischen der Leistungsklage und einer negativen Feststellungsklage, in der es generell um das Nichtbestehen eines eine Leistung rechtfertigenden Rechtsverhältnisses geht, verdeutlicht werden. Die Streitgegenstände in beiden Klagen sind teilidentisch. Wird der negativen Feststellungsklage stattgegeben, so werden alle Ansprüche des angeblichen Gläubigers ausgeschlossen. Eine Leistungsklage des angeblichen Gläubigers ist daher normalerweise sinnlos. Wird die negative Feststellungsklage abgewiesen, wird damit aber nicht automatisch die Berechtigung des Gegners festgestellt; eine Leistungsklage hat sich daher keineswegs erübrigt. Allerdings kann das Bestehen eines Rechtverhältnisses, das die Grundlage der Ansprüche des angeblichen Gläubigers ist, nicht ein zweites Mal gerichtlich geprüft werden.453 Da die negative Feststellungsklage dieser Art auf die Verneinung jedweden eine Leistung rechtfertigenden Rechtsverhältnisses zwischen beiden Parteien zielt, ist es vorstellbar, dass sowohl das stattgebende als auch das abweisende Urteil der Leistungsklage die Erhebung einer nachherigen negativen Feststellungsklage dieser Art im Prinzip verhindert. 3. Positive und negative Feststellungsklage Nach Klärung der Zielsetzung und Funktion der positiven und negativen Feststellungsklage lässt sich ihr Verhältnis zueinander in den möglichen unterschiedlichen Konstellationen konkret aufzeigen. Wenn die positive oder die negative Feststellungsklage darauf zielen, das Bestehen oder Nichtbestehen eines Leistungsbegehrens oder die Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit eines Schuldverhältnisses festzustellen, sind Inhalt und Umfang der Streitgegenstände beider Klagen in der Tat identisch. Wenn eine Form der Feststellungsklage anhängig gemacht oder ein Urteil über sie gefällt ist, darf die andere Form nicht mehr anhängig ge 451 Beispielsweise

kann der Verkäufer nach der negativen Feststellungsklage des Käufers eine Leistungsklage erheben, wenn in der negativen Feststellungsklage die Unwirksamkeit des Kaufvertrags festgestellt wurde, der Käufer die gekaufte Sache jedoch verbraucht hat. Vgl. statt vieler: Rüßmann, ZZP 111, S. 414 f.; Walker ZZP 111, S. 432 ff. 452 Aus dem stattgebenden Urteil der negativen Feststellungsklage lässt sich zwar nicht darauf schließen, dass der Leistungsanspruch des angeblichen Gläubigers nicht besteht. Der Richter der nachherigen Leistungsklage darf aber dem Antrag des angeblichen Gläubigers nicht auf der materiellrechtlichen Grundlage stattgeben, deren Nichtbestehen durch die vorherige negative Feststellungsklage verbindlich festgestellt worden ist. Vgl. Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 69. 453 Wie Wernecke zutreffend bemerkt: „Die früher erhobene Feststellungsklage entfaltete hier bezogen auf den mit der späteren Leistungsklage verfolgten Anspruch dieselben Wirkung wie eine Zwischenfeststellungswiderklage (§ 256 Abs. 2 ZPO).“ Vgl. Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 69, Fn. 250.

144

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

macht werden.454 Hingegen schließen die positive Feststellungsklage, mit der das Bestehen der Leistungspflicht des Gegners beansprucht wird, und die negative Feststellungsklage, mit der die Feststellung der Unwirksamkeit des Schuldverhältnisses begehrt wird, einander im Prinzip nicht aus, stehen doch die rechtskräftigen Aussagen der hypothetischen Urteile beider Klagen normalerweise nicht in einem am Maßstab des sachlichen Rechts unvereinbaren Gegensatz zueinander.455 IV. Die Abgrenzung des Streitgegenstandes der Feststellungsklage Nachdem Umfang und Inhalt des Streitgegenstandes der positiven und negativen Feststellungsklage analysiert worden sind, lässt sich der Umfang des Streitgegenstandes der Feststellungsklage im Prozess allgemein eingrenzen. Meines Erachtens weist die Feststellungsklage insoweit – im Vergleich mit der Leistungsklage – kaum wesentliche Besonderheiten auf. Der klägerische Antrag bestimmt den Umfang der Klageerhebung und damit des Verfahrens; die wesentlichen Punkte des Sachverhalts werden herangezogen, um den Inhalt des Antrags auszulegen. Ähnlich wie bei der Leistungsklage spielt die Kontroverse zwischen der ein- und der zweigliedrigen Theorie keine wichtige Rolle bei der Abgrenzung des Streitgegenstandes der Feststellungsklage. Daher ist auch der Unterschied zwischen den Ergebnissen der einheitlichen und relativen Theorie eher gering. Wichtig ist wiederum, dass der Gegenstand der Feststellungsklage sich nicht an einer oder mehreren materiellrechtlichen Normen orientiert, sondern immer am prozessualen Antrag.

D. Gestaltungsklage und Streitgegenstandsproblem I. Ziel und Rechtsnatur Die Gestaltungsklage dient dazu, ein Rechtverhältnis zwischen beiden Parteien durch richterliche Entscheidung zu begründen, umzugestalten oder aufzuheben.456 Nicht alle Gestaltungsrechte müssen und können mittels einer Gestaltungsklage durchgesetzt werden. Vielmehr ist eine Gestaltungsklage nur notwendig, wenn Gestaltungsrechte nach der materiellrechtlichen Ordnung nicht durch eine Wil 454 Das

Urteil, das die eine begehrt, ist das genaue Gegenteil des Urteils, das die andere begehrt. Daher stellt diese Fallkonstellation im Hinblick auf das Rechtshängigkeitsproblem und das Problem der materiellen Rechtskraft im Grunde keine Schwierigkeit dar. 455 Die positive Feststellungsklage, mit der die Feststellung der Wirksamkeit des Schuldverhältnisses begehrt wird, und die negative Feststellungsklage, mit der das Nichtbestehen der eigenen Leistungspflicht beansprucht wird, besitzen jedoch teilidentische Gegenstände. Daher sollte ihre parallele Durchführung ausgeschlossen werden. 456 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 91, Rn. 1; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 288 ff.; Paulus, ZPR, Rn. 126.

Kap. 9: Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsschutzformen

145

lenserklärung bzw. ein einseitiges Rechtsgeschäft ausgeübt werden können und ihre Realisierung ein der Gestaltungsklage stattgebendes Urteil voraussetzt.457 Mit anderen Worten ist die Gestaltungsklage der Oberbegriff für einzelne Klagen, die zur Durchsetzung verschiedener materiellrechtlicher Gestaltungsrechte vorgesehen sind.458 II. Die Abgrenzung des Streitgegenstandes der Gestaltungsklage „Bei den Gestaltungsklagen wird der Streitgegenstand dem Sachverhalt nach durch das einzelne materielle Gestaltungsrecht, auf welches sich der Kläger stützt, begrenzt.“459 Die materiellrechtlichen Gestaltungsrechte spielen eine entscheidende Rolle bei der Abgrenzung des Streitgegenstandes der jeweiligen Gestaltungsklagen. Was der Kläger beansprucht, soll der in der Norm geregelten Rechtsfolge entsprechen. Das Gestaltungsurteil gibt dieser Rechtsfolge statt, wenn die nach materiellem Recht aufgestellten Voraussetzungen gegeben sind. Immerhin ist es allerdings vorstellbar, dass ein klägerisches Verlangen auf Änderung eines Rechtsverhältnisses auf mehrere Gestaltungsrechte gestützt werden kann, was wir „Konkurrenz der Gestaltungsrechte“ nennen können. Es führt zu unterschiedlichen Ergebnissen, als man bei der Abgrenzung des Streitgegenstandes der Gestaltungsklage der materiellrechtlichen oder der prozessualen Lehre folgt. Da solche Gestaltungsrechte sich auf dasselbe Ziel richten, ist das Ergebnis der materiellrechtlichen Lehre – nämlich die Annahme mehrerer Streitgegenstände – offensichtlich unhaltbar. Daher ist festzuhalten, dass die Bestimmung des Streitgegenstandes bei der Gestaltungsklage – wie auch bei der Leistungs- und der Feststellungsklage – im Prinzip nach dem Rechtsbegehren und dem Lebenssachverhalt zu erfolgen hat.460

457 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

ZPR, § 91, Rn. 4; Grunsky, ZPR, Rn. 106; Paulus, ZPR, Rn. 125; Schilken, ZPR, Rn. 191 f., 194. 458 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 91, Rn. 4 ff.; Schilken, ZPR, Rn. 193; Schreiber, Jura 2004, S. 388. 459 Baumgärtel, JuS 1974, S. 75. 460 Vgl. beispielsweise Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 314. Bemerkenswert bleibt aber, dass in den meisten Fällen der Gestaltungsklage nur eine materiellrechtliche Norm geltend gemacht werden kann und es daher keinen wesentlichen Unterschied macht, ob man von einem materiellen oder prozessualen Streitgegenstandsbegriff ausgeht. Deswegen wird auch die Auffassung vertreten, dass in den meisten Fällen der Gestaltungsklage die ursprüngliche materielle Theorie zu gelten habe, da sie die Identifizierung des Streitgegenstandes erleichtern könne; von Arx, Streitgegenstand, S. 68.

146

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

E. Zusammenfassende Bemerkung Fasst man das Ergebnis der bisherigen Erörterungen zusammen, so bleibt festzustellen, dass die Streitgegenstände der drei Rechtsschutzformen sich zwar im inhaltlichen Umfang unterscheiden, aber in gleicher Weise durch die Rechtsfolgenbehauptung des Klägers geprägt sind.461 Auch die Kriterien einer Abgrenzung des Streitgegenstandes sind bei den verschiedenen Klagearten mehr oder weniger wesensgleich. Der Streitgegenstand der Leistungsklage ist prozessual nach dem klägerischen Rechtsbegehren und dem Lebenssachverhalt festzulegen. Die Abgrenzung des Streitgegenstandes der Feststellungs- und der Gestaltungsklage weist im Vergleich zur Leistungsklage wenig Besonderheiten auf.

Kapitel 10

Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart A. Die Lehre vom relativen Streitgegenstandsbegriff I. Der einheitliche Streitgegenstandsbegriff als allgemeine Vorstellung Ein charakteristischer Zug der deutschen Rechtswissenschaft der jüngeren Geschichte besteht darin, dass sie stets bestrebt ist, eine allgemeine und einheitliche Dogmatik sowohl für die Wissenschaft als auch für die Rechtsanwendung zu entwickeln. Die Verselbständigung des Zivilprozessrechts entstammt dieser Zeit; entsprechend wurde sie stark von den damaligen Geistesströmungen beeinflusst.462 Die Entwicklungstendenz des Zivilprozessrechts jener Zeit – die systematische Zuordnung aller Rechtssätze und die Bildung einheitlicher Begriffe und Theorien – entsprach solchen Anforderungen. Die Systematisierung des Zivilprozessrechts sollte dem Zusammenhang zwischen den verschiedenen Rechtsinstituten gerecht werden und vor allem eine effektive Rechtsanwendung sichern. Hierfür haben die deutschen Prozessualisten eine Reihe von prozessrechtlichen Theorien entwickelt. Die Streitgegenstandslehre ist eine der wichtigsten unter ihnen. Die Prozessualisten kamen in ihren Forschungen zu dem Ergebnis, dass vier Rechtsinstitute einen besonderen inneren Zusammenhang mit dem „Gegenstand des Prozesses“ aufweisen: die Klagen­häu­fung, die Klageänderung, die Rechtshängigkeit und die materielle Rechtskraft. Man bezeichnet sie als „Prüfsteine“, weil 461 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

ZPR, § 92, Rn. 30. allem ist hier der methodische Einfluss der Begriffsjurisprudenz und der Pandektistik des Zivilrechts zu nennen. Vgl. Stürner, FS Lüke, S. 830 f. 462 Vor

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  147

sie der Prüfung dienen, ob eine Streit­gegen­standstheorie für alle aufgezählten Problembereiche sinnvoll angewandt werden kann.463 Die Rechtfertigung einer Theorie verlangt, dass sie eine sachgemäße Lösung der Probleme anbieten kann, die sich aus diesen Instituten ergeben. Um diese zentrale Frage drehten sich die Auseinandersetzungen unter den Prozessualisten. Die Untersuchungen zum Streitgegenstand in Deutschland gingen deshalb von Anfang an von einem Einheitsdogma aus.464 Alle klassischen Theorien stellen übereinstimmend die Hypothese auf, dass eine vernünftige Streitgegenstandslehre für alle Rechtsschutzformen und alle relevanten prozessrechtlichen Probleme einheitliche Lösungen bereithalten muss.465 II. Die Entstehung der Theorien vom relativen Streitgegenstandsbegriff 1. Überblick In der gegenwärtigen Diskussion der Streitgegenstandsproblematik zeichnet sich eine gewisse Tendenz ab, den Streitgegenstandsbegriff nicht mehr in begrifflich-konstruktivem Denken einheitlich zu fixieren, sondern angepasst an Klage­ arten und Prozessrechtsinstitute differenziert zu bestimmen.466 Die Vertreter dieser Ansicht betonen, dass die Abkehr vom Einheitsdogma den Sinn und Zweck der jeweiligen prozessualen Regelungen in der konkreten Verfahrenssituation besser zu berücksichtigen vermag. Dabei werden unterschiedliche Differenzierungen zur Bestimmung des Streitgegenstandes vorgeschlagen. 2. Meinungsstand a) Unterscheidung von Prozessgegenstand und Urteilsgegenstand Seit Langem wird die Ansicht vertreten, es sei notwendig, zwischen „Verfahrensgegenstand“ (Gegenstand des laufenden Verfahrens) und „Urteilsgegenstand“ 463 Die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen dem Streitgegenstand und diesen Instituten sowie ihre Funktion als Prüfstein der Streitgegenstandstheorien sind die wichtigsten Ergebnisse der frühen Entwicklung der Streitgegenstandslehre. 464 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 41; Baumgärtel, JuS 1974, S. 72. 465 Dies zeigt sich insbesondere bei Schwab, Streitgegenstand, S. 1, 73, 199. 466 So z. B. Blomeyer, FS Lent, S. 43 ff.; ders., ZPR, S. 234, 481; ders., ZZP 65, S. 58; Baumgärtel, Jus 1974, S. 72 ff.; Brox, Jus 1962, S. 124; Stein/Jonas/Pohle, 19. Aufl., Einl., E III; Stein/Jonas/Schumann, 20. Aufl., Einl., Rn. 283, 285, 291, 294; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322 Rn.  92 ff., 103 ff.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 46 ff.; Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch, S. 175 f., 177, 337 f.; Wolf, Gerichtliches Verfahrensrecht, S. 105 f.; Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Einl., Rn. 68 f.; ders., in: Prütting/Gehrlein, Einl., Rn. 18 f.; ders., GS Lüderitz, S. 624, 633; Vollkommer, in: Zöller, Einl., Rn. 82; Bork, Der Vergleich, S.  434 ff.; Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisi­tions­maxime und Streitgegenstand, S. 6 ff.

148

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

(Gegenstand der Entscheidung) zu differenzieren.467 Für die materielle Rechtskraft des Urteils ist danach allein der Urteilsgegenstand entscheidend. Nach dieser Lehrmeinung soll der Umfang des Urteilsgegenstandes höchstens gleich wie der des Verfahrensgegenstandes oder enger als der des Verfahrensgegenstandes sein. Dem liegt folgende Argumentation zugrunde: Der Urteilsgegenstand soll nicht weiter als der Verfahrensgegenstand sein, „weil die Parteien sonst mit Rechtskraftwirkungen konfrontiert werden würden, über die sie vorher nicht gestritten haben […]“;468 der Urteilsgegenstand kann aber enger sein, da die Rechtskraft des Urteils sich nach dem durch Klage oder Widerklage erhobenen Anspruch bestimmt.469 Den meisten Vertretern dieser Theorie zufolge ist bei den Instituten der objektiven Klagenhäufung, der Klageänderung und der Rechtshängigkeit die eingliedrige Theorie anzuwenden, um möglichst eine Verfahrenskonzentration zu erreichen und die Prozessökonomie zu sichern. Hingegen soll beim Institut der materiellen Rechtskraft die zweigliedrige Theorie zur Anwendung kommen, um eine ungerechte Schädigung der Interessen der Parteien zu vermeiden.470 b) Bestimmung des Streitgegenstandes nach Klagearten und Rechtsinstituten Nach dieser Theorie wird die Relativität des Streitgegenstandsbegriffs besonders stark betont. Sie geht davon aus, dass Streitfragen mit einer einheitlichen Vorstellung vom Streit­gegenstand, die in allen Normen dieselbe ist, die ihn verwenden, nicht zufriedenstellend beantwortet werden können. Deswegen soll die Bestimmung des Streitgegenstandes bei den drei Klagearten und den vier „Prüfsteinen“ jeweils problemangepasst erfolgen.471 Ausgangspunkt für die Wahl der jeweiligen Streitgegenstandstheorie ist der Sinn und Zweck der jeweiligen Normen. 467 Beispielsweise

Lent, ZZP 72, S. 63; Blomeyer, FS Lent, S. 43 ff.; ders., ZPR, S. 234, 481; Brox, Jus 1962, S. 124; Stein/Jonas/Pohle, 19. Aufl., Einl., E III; Stein/Jonas/Schumann, 20. Aufl., Einl., Rn. 283, 285, 291, 294; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322, Rn. 93 ff.; Bork, Der Vergleich, S. 434 ff. 468 Köhler, Der Gegenstand bei Gestaltungsklagen, S. 19. Konkreter gesagt: Setze man die beiden Gegenstände gleich, bestehe die Gefahr, dass die Parteien mit Tatsachen präkludiert seien, die ihnen zwar nicht bekannt gewesen seien, aber zum Tatsachenkomplex gehörten. 469 Diese Ansicht kann anhand des Beispiels zum Verhältnis zwischen Rechtshängigkeitssperre und Rechtskraftwirkung erklärt werden: Nicht alles, was in Rechtskraft erwächst, führt zur Rechtshängigkeitssperre; die Rechtshängigkeitssperrwirkung ist aber ohne eine entsprechende Rechtskraftwirkung denk­bar. Vgl. die Darstellung in: Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 47. 470 Nach Abschluss des Verfahrens solle der Umfang des Urteilsgegenstandes (oder: der Umfang der materiellen Rechtskraft des Urteils) entsprechend dem vorgetragenen Sachverhalt enger gezogen werden, um die mögliche Präklusion nicht vorgebrachter Tatsachen in Grenzen zu halten. 471 Baumgärtel, Jus 1974, S. 72 ff.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 46 ff.; Vollkommer, in: Zöller, Einl., Rn. 82.; Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Einl., Rn. 68 f.; ders., in: Prütting/Gehrlein, Einl., Rn. 18 f.

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  149

Es ist jeweils zunächst der Zweck der Einzelvorschrift festzustellen und erst im Anschluss daran festzulegen, wie der Streitgegenstand bestimmt werden soll. Das Hauptproblem dieser Theorie liegt darin, dass die Ansichten ihrer Vertreter zum Zweck der jeweiligen Norm und damit zur Bestimmung des Streitgegenstandes häufig voneinander abweichen. Unter diesen unterschiedlichen Lehrmeinungen ist ein Lösungsansatz besonders bemerkenswert und wird von den meisten Vertretern dieser Strömung bevorzugt: Anwendung der eingliedrigen Theorie für Probleme der Klageänderung, Klagen­häu­fung und Rechtshängigkeit und der zweigliedrigen Theorie für Probleme der materiellen Rechtkraft.472 Die Relativität des Streitgegenstandsbegriffs manifestiert sich kaum bei der Behandlung der Probleme der Klageänderung, Klagenhäufung und Rechtshängigkeit, sondern sie zeigt sich vor allem darin, dass für diese drei Institute und das Institut der materiellen Rechtskraft unterschiedliche Streit­gegen­standstheorien gelten sollen.473 Manche Vertreter der relativen Theorie führen daher den Begriff „Urteilsgegenstand“474 ein, und viele versuchen den Umfang der Rechtskraftwirkung eng einzugrenzen.475 Mit Recht lässt sich behaupten, dass die Theorie des Urteilsgegenstandes eine Variante der Theorie des relativen Streitgegenstandsbegriffs ist. c) Bestimmung des Streitgegenstandes nach Prozessmaximen Es wird auch vorgeschlagen, den Streitgegenstandsbegriff in Abhängigkeit von der Geltung entweder des Verhandlungs- oder des Untersuchungsgrundsatzes zu definieren.476 Nach dieser Lehrmeinung wird der Streitgegenstand in Verfahren des Untersuchungsgrundsatzes im Prinzip allein durch den Antrag des Klägers bestimmt, weil der Sachverhalt vom Gericht zu ermitteln ist. Demgegenüber wird der Streitgegenstand in Prozessen unter Geltung des Verhandlungsgrundsatzes durch den vom Kläger gestellten Antrag und den von ihm vorgetragenen Sachverhalt festgelegt. Der Grund dafür ist, dass der Kläger in solchen Prozessen die Macht habe, den Sachverhalt relativ eng zu fassen. Bei der Entscheidung darf das Gericht nur die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen berücksichtigen. Daher wird dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt, später aufgrund eines anderen Sachverhalts eine neue Klage zu erheben, wenn seine erste Klage abgewiesen worden ist.477 472 Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Einl., Rn. 68  f.; ders., in: Prütting/Gehrlein, Einl., Rn.  18 f.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 59 ff. 473 Vgl. Rüßmann, ZZP 111, S. 399, Fn. 1. 474 Beispielsweise Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 47, 61. 475 Beispielsweise Prütting, in: Prütting/Gehrlein, Einl., Rn. 19. 476 Vgl. Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisi­ tions­maxime und Streitgegenstand, S. 6 ff. Zudem behauptet er, dass der Streitgegenstand jeweils nach unterschiedlichen Klagearten bestimmt werden soll. Eine Aufspaltung in Streitgegenstand und Urteilsgegenstand lehnt er aber ab. Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisi­tions­maxime und Streitgegenstand, S. 7; ders., ZPR, S. 125. 477 Vgl. die Bewertung dieser Theorie in: Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 15 f.; Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 71.

150

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

III. Kritik an den relativen Streitgegenstandstheorien Die verschiedenen Theorien vom relativen Streitgegenstand stoßen auf heftige Kritik von Prozessualisten, die der Ansicht sind, dass der Streitgegenstand überall, wo er relevant wird, übereinstimmend definiert werden muss. 1. Unterscheidung zwischen Verfahrens- und Urteilsgegenstand Einige Prozessualisten wenden sich gegen die Theorie, der zufolge zwischen Verfahrens- und Urteilsgegenstand zu unterscheiden und dieser enger als jener zu fassen sei.478 Demgegenüber ist die Differenzierung zwischen Verfahrens- und Urteilsgegenstand den Anhängern dieser Theorie zufolge notwendig, weil sie es ermöglicht, den Umfang der Rechtskraft vergleichsweise eng einzugrenzen. Die Gegner sind der Ansicht, dass der Umfang des Streitgegenstandes vom Anfang des Prozesses bis zur Fällung der Entscheidung unverändert bleiben solle. Es gebe keinen überzeugenden Grund dafür, die Rechtskraft auf die dem Gericht bekannten Tatsachen und die aus ihnen fließenden Ansprüche zu beschränken.479 Die Intention der Entwicklung eines eigenständigen Urteilsgegenstandsbegriffs liegt darin, die Rechtskraft der Entscheidung auf den vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt zu beschränken, damit die Präklusion nicht vorgebrachter Tat­ sachen vermieden und die Möglichkeit einer neuen Klage nach Abschluss des ersten Verfahrens offengehalten wird. Diese Vorgehensweise ist in den Augen ihrer Gegner jedoch nicht empfehlenswert. „Den Parteien bliebe es sonst unbenommen, den Rechtsstreit mit der Behauptung zu erneuern, ein rechtlicher Gesichtspunkt sei im früheren Prozess übersehen oder zwar erörtert, aber nicht ausdiskutiert worden […]. Die Rechtssicherheit verlangt den Ausschluss eines derartigen Wiederaufrollens.“480 2. Einfluss der Klagearten auf die Bestimmung des Streitgegenstandes Auch der Vorschlag, den Streitgegenstand jeweils nach Klageart abzugrenzen, wird von einigen Prozessualisten abgelehnt. Sie gehen davon aus, dass die Besonderheiten der drei Klagearten zwar einen gewissen Einfluss auf die Streit­

478 So beispielsweise Jauernig, ZPR, S. 125; Schilken, ZPR, Rn. 225; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 569; Schwab, Streitgegenstand, S. 139 ff.; ders., FS Bötticher, S. 330; Künzl, Erlanger FS für Schwab, S. 131 f.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 237 f.; Habscheid, Streitgegenstand, S.  284 ff. 479 Dies führe zu dem unerwünschten „punktuellen Streitgegenstandsbegriff“; vgl. Jauernig, ZPR, S. 125. 480 Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 569.

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  151

gegenstandsbestimmung haben, es jedoch keinen überzeugenden Grund gebe, auf die seit Langem geltende, in der Praxis bewährte einheitliche Konzeption zu ver­ zichten.481 3. Einfluss der Verfahrensmaximen auf die Bestimmung des Streitgegenstandes Die von Jauernig vertretene Theorie, die Verfahrensmaximen spielten eine entscheidende Rolle für die Bestimmung des Streitgegenstandes, wird weitgehend abgelehnt.482 Der Hauptgrund liegt darin, dass diese Lehrmeinung die klare Abgrenzung zwischen Dispositionsmaxime einerseits und Verhandlungs- bzw. Inquisitionsmaxime andererseits verwischt.483 In Verfahren der Verhandlungsmaxime soll der Kläger gehalten sein, alle relevanten Tatsachen vorzutragen, um eine mögliche Präklusion zu verhindern. Die Forderung, der Kläger solle durch seinen Sachverhalts­vor­trag den sachlichen Stoff im Prozess beschränken können, weil der Sachverhalt ein abgrenzendes Element des Streitgegenstandes sei, ist deshalb nicht überzeugend.484 In Verfahren der Inquisitionsmaxime darf man nicht bedenkenlos annehmen, dass der ganze den Antrag begründende Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln ist. Die Inquisi­tions­maxime steht der Dispositionsmaxime nicht entgegen.485 Folgerichtig darf man die Bedeutung des Sachverhalts für die Ein­ grenzung des Streitgegenstandes nicht leugnen. Zusammenfassend kann somit behauptet werden, dass es bei der Bestimmung des Streitgegenstandes nicht darauf ankommt, welcher Verfahrensgrundsatz in einem Prozess gilt. IV. Bedeutung der Lehre vom relativen Streitgegenstandsbegriff und heutiger Meinungsstand Zwar werden die verschiedenen Varianten der Lehre vom relativen Streitgegenstandsbegriff in vieler Hinsicht kritisiert, jedoch kann ihre positive Bedeutung für die Prozesslehre und die Praxis nicht völlig geleugnet werden. In der Rechts­praxis hat man seit Langem bemerkt, dass unterschiedliche Streitgegenstands­theorien gewisse Vorteile haben und gut für unterschiedliche Prozesssituationen geeignet

481 Vgl.

oben Kapitel 9. So z. B. Habscheid, FamRZ 1971, S. 297; ders., FS Schwab, S. 189 ff.; Yoshimura, ZZP 83, S. 245 ff.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 239 ff., 246 ff.; Baumgärtel, JuS 1974, S.  72 f. 483 Vgl. insbesondere die Kritik vom Yoshimura, ZZP 83, S. 247. 484 Meines Erachtens ist der Sachverhalt zwar ein unverzichtbares Element zur Eingrenzung des Streitgegenstandes. Allerdings ist der Kläger nicht befugt, etwa durch unvollständigen Sachverhalts­vortrag den Entscheidungsgrund in nicht gerechtfertigter Weise zu verkürzen. 485 Yoshimura, ZZP 83, S. 247 ff.; Lüke, JuS 1967, S. 3. 482

152

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

sein können.486 Eine absolut einheitliche Vorstellung vom Streitgegenstand gibt es in der Tat nicht; sie ist auch weder für die prozessrechtliche Dogmatik noch für die Lösung der praktischen Probleme notwendig. Die Entwicklungstendenz zu einer Relativierung spiegelt die Versuche einiger Prozessualisten, den Streitgegenstandsbegriff „dynamisch am Normzweck der jeweiligen mit dem Streitgegenstand verknüpften Prozessvorschrift“ auszurichten.487 Die Bedeutung der relativen Theorie zeigt sich hauptsächlich in zwei Punkten: Erstens kann sie teilweise das Bedürfnis der Rechtspraxis befriedigen; zweitens macht sie deutlich, dass einige Gelehrte es ablehnen, „reine“ und starre Theorien zu bilden. Die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der einheitlichen und der relativen Streitgegenstandstheorie ist bis heute nicht abgeschlossen. Wie schon erwähnt, gibt es zahlreiche Anhänger des relativen Streitgegenstandsbegriffs; die größere Zahl der Pro­zessualisten bevorzugt jedoch die allgemeine einheitliche Vorstellung.488 Insbesondere wird die zweigliedrige prozessuale Theorie als herrschende Lehre anerkannt.489 Grund­sätzlich hat die Rechtsprechung sich dieser Lehre angeschlossen.490 V. Stellungnahme Die Wahl zwischen dem einheitlichen Streitgegenstandsbegriff und dem relativen Streitgegenstandsbegriff hängt von der Antwort vor allem auf zwei Fragen ab: Erstens, ob eine einheitliche Anwendung der ein- oder zweigliedrigen Theorie bei 486 Dies wird insbesondere in einigen besonderen Prozessarten deutlich. Vgl. MünchKomm/ Be­cker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 35 f.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 11 ff., 46. 487 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 48. 488 Den relativen Streitgegenstandsbegriff ablehnende Ansichten z.  B. bei MünchKomm/ Be­cker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 36; MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., § 322, Rn. 149; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 7, 30; Mühl, GS Bruns, S. 163; Bruns, ZPR, § 26, Rn. 140c; Schwab, Streitgegenstand, S. 140 f., 199; ders., FS Bötticher, S. 326; Henckel, JZ 1992, S. 647 f.; Lüke, FS Schwab, S. 317; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 45. 489 Es wird in der folgenden Literatur angenommen, dass die zweigliedrige prozessuale Theorie prinzipiell Anwendung bei allen drei Klagearten und allen vier „Prüfsteinen“ finden soll: MünchKomm/Be­cker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 33 ff.; Grunsky, ZPR, Rn. 116; ders., Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 26, 40; Schilken, ZPR, Rn. 225, 229 ff.; Lüke, ZPR, Rn. 162; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 307, 311 ff.; Musielak, Grundkurs ZPO, Rn. 148; Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 74; MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., Vor § 253, Rn. 33 ff.; Lüke, JZ 1960, S.  203 f.; Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 183; Schwab, Streitgegenstand, S. 73; ders., JuS 1965, S. 83 f.; Habscheid, FS Schwab, S. 189 ff.; Habscheid, Z ­ VglRWiss 75, S. 211; Arens, JuS 1964, S. 396 f.; Baumann, ZZP 69, S. 358; Bötticher, FamRZ 57, S. 411 f.; Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 14, 292; Nikisch, AcP 154, S. 286, 298; Horn, JuS 1992, S. 685; Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 92, Rn. 23, 30. 490 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 11; Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 74; MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 32 f. (jeweils m. w. N.).

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  153

den vier oben genannten Instituten möglich ist, und zweitens, ob eine einheitliche Anwendung der ein- oder zweigliedrigen Theorie auf die drei Klagearten möglich ist.491 Nach überwiegender Auffassung haben die Unterschiede zwischen den drei Klagearten nur wenig Einfluss auf die Wahl zwischen unterschiedlichen Streit­ gegenstandslehren.492 Das Problem liegt demnach hauptsächlich bei den vier Prozessrechtsinstituten, bei denen die Lehre vom Streitgegenstand von Relevanz ist. Nach heutigem Stand greifen die Prozessualisten, die die Anwendung der eingliedrigen Theorie bei den Instituten der Anspruchshäufung, der Klageänderung und der Rechtshängigkeit befürworten, beim Problem der materiellen Rechtskraft auf die zweigliedrige Theorie zurück.493 Eine einheitliche eingliedrige Streit­ gegenstandstheorie erscheint daher nicht möglich.494 Die Prozessualisten, die die Anwendung der zweigliedrigen Theorie für alle Institute befürworten, begegnen häufig Fällen, die sie als Ausnahmen ansehen müssen.495 Die Unterschiede zwischen beiden prozessualen Theorien bei den Instituten der objektiven Klagen­ häufung und der Klage­änderung sind geringfügig. Auch ist der Kern beider Theorien – wie sich herausgestellt hat – nicht so unterschiedlich.496 Insbesondere wird ihr Unterschied infolge der modernen Entwicklung der zweigliedrigen Streit­ gegenstandstheorie, die sich durch die Verwendung von Begriffen wie „Rechts­ begehren“ und „Lebenssach­ver­halt“ auszeichnet, verringert.497 491 Stein/Jonas/Roth,

22. Aufl., vor § 253, Rn. 41. 22. Aufl., vor § 253, Rn. 63 f.; Horn, JuS 1992, S. 684 f.; Baumgärtel, JuS 1974, S. 75; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 313 f.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 30; Habscheid, FS Schwab, S. 189 f. 493 Diese Vorgehensweise gründet sich auf folgende Überlegungen: Es wird die eingliedrige Theorie bei den Instituten der Anspruchshäufung, der Klageänderung und der Rechtshängigkeit verwendet, weil diese drei Institute vor allem die Prozessökonomie sichern sollen. Der Begriff des Lebenssachverhalts sei möglichst weit zu fassen, weshalb sich hier die eingliedrige Theorie eigne. Demgegenüber diene das Institut der materiellen Rechtskraft vor allem dem Rechtsfrieden. Damit der von der Partei nicht vorgetragene Sachverhalt nicht präkludiert werde, sei der Begriff des Sachverhalts eng zu fassen. Hierfür eigne sich die zweigliedrige Theorie. Meines Erachtens ist diese Ansicht nicht zutreffend. Einerseits ist der Vorschlag, beim Institut der materiellen Rechtskraft den eng gefassten Sachverhaltsbegriff anzuwenden, problematisch; andererseits lässt sich schwerlich behaupten, dass die Anwendung der eingliedrigen Theorie bei den drei anderen Instituten tatsächlich Verfahrenskonzentration zu bewirken vermag, wenn man gleichzeitig die Freiheit des Klägers nicht einschränken möchte. Mit anderen Worten: Es ist fraglich, ob die wegen der Verfahrenskonzentration herbeigeführte Einschränkung der Freiheit des Klägers gerechtfertigt werden kann. Dies ist insbesondere im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ problematisch. Mit dieser Frage werde ich mich unten in Kapitel 10 B. I. und III. sowie Kapitel 13 C. III. auseinandersetzen. 494 Die Vorstellung einer einheitlichen eingliedrigen Streitgegenstandslehre wird weitgehend abgelehnt. 495 Die sog. Grenzfälle treten – nach der obigen Darstellung – an vielen Stellen auf. 496 Nämlich die Annahme prozessualer Elemente als Kriterien für die Bestimmung des Streitgegenstandes, die Hervorhebung der zentralen Bedeutung des klägerischen Anspruchs und die bestimmende Rolle des Sachverhalts für die Abgrenzung des Streitgegenstandes. 497 Zum Lebenssachverhalt beispielsweise Prütting, in: Prütting/Gehrlein, Einl., Rn. 19 sowie unten B. I. Zum Rechtsbegehren vgl. unten B. II. 492 Stein/Jonas/Roth,

154

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Dadurch hat die Diskussion der Frage, welche Streitgegenstandstheorie mehr Vorzüge und weniger Schwächen aufweist und ob ein einheitlicher Streitgegenstandsbegriff anzunehmen ist, ihre Bedeutung weitgehend verloren. Die Annahme der einen oder der anderen Theorie und der Streit zwischen dem einheitlichen und dem relativen Streitgegenstandsbegriff können nichts zur Vermeidung von Streitund Grenzfällen bei den unterschiedlichen Prozessrechtsinstituten beitragen. In der Praxis haben sich die unterschiedlichen Lehrmeinungen bei der Lösung verschiedener konkreter Probleme weitgehend angenähert. Eine praktische Relevanz des Theorienstreites wird zunehmend bezweifelt,498 und die Wahl unter den unterschiedlichen Theorien wird von einigen gar als „Geschmacksache“ angesehen.499 Eine absolut einheitliche Vorstellung vom Streitgegenstandsbegriff ist wohl nicht möglich. Trotzdem sollte die Bedeutung der langjährigen Bemühungen, eine einheitliche Lehre vom Streitgegenstand zu bilden, nicht unterschätzt werden. Ein für die meisten Fälle geeigneter und einheitlich gefasster Streitgegenstandsbegriff hat viel dazu beigetragen, Kontroversen in der Praxis zu vermeiden500 und die Beherrschung der Streitgegenstandsproblematik durch Studierende zu fördern.501 Deswegen wird die zweigliedrige Theorie fast durchweg als herrschende Meinung betrachtet, und sie spielt seit Langem in der Praxis und im rechtswissenschaftlichen Studium eine sehr wichtige Rolle. Jedoch sind die aus der zweigliedrigen Theorie hergeleiteten Lösungen nicht für alle Fälle überzeugend. Einerseits ist die prozessrechtliche Behandlung der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ nach der klassischen zweigliedrigen Theorie m. E. nicht völlig befriedigend; andererseits gibt es besondere Prozessarten, in denen die Anwendung der eingliedrigen Theorie oder sogar der materiellrechtlichen Theorie bessere Ergebnisse erzielen kann.502 Insbesondere ist dem Vorschlag einer Unterscheidung zwischen Verfahrensund Urteilsgegenstand nicht zu folgen. Der Streitgegenstandsbegriff soll für alle vier „Prüfsteine“, nämlich Klagenhäufung, Klageänderung, Rechtshängigkeit und 498 So

die Auffassung des BGH schon im Jahre 1970. Vgl. WarnRspr. 1970, 48. JuS 1992, S. 685. 500 Wie Lüke aufgezeigt hat, liegt der große Vorteil eines einheitlichen Streitgegenstands­ begriffs in der Rechtsklarheit und Berechenbarkeit zivilrechtlicher Entscheidungen in wesentlichen prozessualen Fragen. MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., Vor § 253, Rn. 33. Vgl. auch ­Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 74; Otto, Die Präklusion, S. 107; Blomeyer, JuS 1970, S.  126 f.; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 45; Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 183. 501 Überwiegend wird aus didaktischen Gründen an der einheitlichen Streitgegenstandstheorie festgehalten. Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 85. 502 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§  253 ff., Rn. 35 f.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 11 ff., 46; Böhm, FS Kralik, S. 91. Vgl. auch die Auffassung Jauernigs. Er unterscheidet zwischen dem „fremdabgegrenzten“ und „selbstabgegrenzten“ Antrag. Bei dem ersten ist der Sachverhalt zur Bestimmung des Streitgegenstandes heranzuziehen, bei dem zweiten aber nicht. Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisi­tions­maxime und Streitgegenstand, S. 23 ff. 499 Horn,

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  155

Rechtskraft, zugrunde gelegt werden. Die Argumente, dass die Ziele des Instituts der Rechtshängigkeit und der materiellen Rechtskraft nicht völlig identisch seien und der Umfang der Rechtshängigkeitssperre weiter als der Umfang der Rechtskraftwirkung sein könne,503 vermögen die Befürwortung eines gespaltenen Streitgegenstandsbegriffs nicht zu rechtfertigen. Einerseits ist der Inhalt des Streitgegenstandes vom Anfang bis zum Ende des Prozesses immer ein Rechtsbegehren des Klägers. Andererseits soll der Umfang des Streitgegenstandes stets prozessual nach dem klägerischen Antrag und dem ihn unterstützenden Lebenssachverhalt abgegrenzt werden. Der festgestellte Streitgegenstand legt den Umfang der Rechtshängigkeitssperrwir­kung und Rechtskraftwirkung des Prozesses fest. Auch wenn der Umfang der Rechts­hängigkeit und der Rechtskraft in einigen Fällen nicht identisch ist, hat dies keinen Einfluss auf die Festlegung des Umfangs des Streitgegenstandes. Zweifellos ist die Ermittlung und Abgrenzung des Streitgegenstandes von grundlegender Bedeutung für die Festlegung des Umfangs der Rechtshängigkeit und Rechtskraft. Dies muss aber nicht dazu führen, dass der Umfang des Streitgegenstandes unmittelbar den Umfang der Rechtshängigkeit sowie den der Rechtskraft bestimmt.504

503 Das Institut der Rechtshängigkeit zielt darauf ab, widersprüchliche Urteile von vornherein zu verhindern, während das Institut der materiellen Rechtskraft den nachfolgenden Erlass eines widersprüchlichen Urteils vermeiden soll. Wenn der vorherige Prozess noch anhängig ist, ist der Umfang des möglichen Urteilsinhaltes relativ weit: Der klägerische Anspruch kann bejaht, verneint oder teilweise bejaht werden. Wenn eine Zwischenfeststellungsklage erhoben wird, mag die Antwort auf die präjudizielle Frage, beispielsweise nach der Wirksamkeit eines Vertrags, positiv oder negativ sein. Aber wenn der vorherige Prozess schon abgeschlossen ist, ist der Umfang des Urteilsinhalts festgelegt und daher relativ eng. Daher ist es vorstellbar, dass entsprechend dem Zweck der Rechtsinstitute der Umfang der Sperrwirkung der Rechtshängigkeit in einigen Fällen weiter als der der Rechtskraftwirkung sein sollte. 504 Die Entscheidung richtet sich auf den klägerischen Anspruch. So erwächst die Entscheidung über den klägerischen Anspruch in Rechtskraft. Sowohl die eingliedrige als auch die zweigliedrige Theorie nehmen an, dass das Wesen des Streitgegenstandes das Klagebegehren ist und über dieses Begehren entschieden wird. Der Unterschied beider Theorien liegt hauptsächlich darin, dass nach der zweigliedrigen Theorie das Begehren durch den Klageantrag und den zur Begründung des Antrags vorgetragenen Sachverhalt gekennzeichnet wird. Auch wenn die zweigliedrige Theorie vertreten wird, dient der Sachverhalt nur zur Ermittlung und Individualisierung des Klagebegehrens, aber nicht zur Be­schrän­kung des Inhalts und Umfangs des Streitgegenstandes. Dies wird noch deutlicher, wenn in der modernen zweigliedrigen Theorie – anstatt des Begriffs „Sachverhalt“ – der Begriff „Lebenssachverhalt“ als Kriterium für die Abgrenzung des Streitgegenstandes überwiegend benutzt wird. Die Befürworter des Begriffs des Lebenssachverhalts bestimmen den Umfang des Sachverhalts in gewissem Sinne objektiv. Der Umfang des rechtskräftig entschiedenen Lebenssachverhalts unterliegt weder der Bestimmung durch den Kläger noch durch den Richter. Fasst man diese Ergebnisse zusammen, kann fest­ gestellt werden: Einerseits hat der Sachverhaltsvortrag keinen wesentlichen Einfluss auf den Inhalt und Umfang des Streitgegenstandes; andererseits darf man den Umfang des Lebenssachverhalts nicht nach Belieben begrenzen. Wie oben dargestellt, richtet sich die Entscheidung auf das Klagebegehren. Daher werden zu Recht der Gegenstand des Urteils und der Streitgegenstand grundsätzlich gleichgesetzt.

156

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Aufgrund dieser Überlegungen lässt sich behaupten, dass Versuche, den Umfang der Rechtshängigkeit nach der eingliedrigen Theorie und den Umfang der Rechtskraft nach der zweigliedrigen Theorie abzugrenzen – was darauf zielt, den Umfang der Rechtshängigkeit und den der Rechtkraft voneinander zu unterscheiden –, wohl wenig Sinn haben. Die richtige Vorgehensweise ist vielmehr die folgende: Zuerst müssen Inhalt und Umfang des Streitgegenstandes festgelegt werden; erst danach kann das Verhältnis zwischen einem anhängigen Prozess und einem anderen anhängigen Prozess (Rechts­hängigkeitsproblem) sowie das Verhältnis zwischen einem anhängigen Prozess und einem schon mit Urteil beendeten Prozess (Rechtskraftproblem) beurteilt werden.505 Zusammenfassend lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Zwischen der ein- und der zweigliedrigen Theorie, der einheitlichen und der relativen Theorie gibt es im Regelfall keine wirklich wesentlichen Unterschiede. Solche Unterschiede postuliert vor allem das Denken der Prozessualisten, als völlig falsch oder richtig kann aber keine Theorie bewertet werden. Höchstes Gebot sind Leistungs­ fä­hig­keit und Zweckmäßigkeit. Aus diesem Grund ist im Prinzip die einheitliche Anwendung der überwiegend anerkannten zweigliedrigen prozessualen Theorie für die meisten Fälle zu befürworten. Wenn in einigen wenigen Fällen die Anwendung von anderen Theorien zu sachgemäßeren Lösungen führen kann, sind diese jedoch nicht abzulehnen. Grundsätzlich ist aber dem Einheitsdogma zu folgen. Trotz ihrer Nachteile kann die einheitliche Theorie zur Rechtsklarheit und Berechenbarkeit zivilrechtlicher Entscheidungen in wesentlichen prozessualen Fragen beitragen,506 was für Wissenschaft und Rechtspraxis von großer Relevanz ist, insbesondere weil Streitgegenstandsfragen kompliziert und vielseitig sind. Relative Theorien passen nicht zur Tradition des deutschen Rechtskreises mit seinem systematischen Denken. Sie lehnen konsequenten juristischen Konstruktivismus letztlich ab,507 was eine relativ einfache und schnelle Lösung von Streitgegenstands­ problemen in der Praxis stark erschwert.

505 Dadurch wird das Verhältnis zwischen dem Streitgegenstand und den vier „Prüfsteinen“ deutlicher. Die Klagenhäufung bedeutet die Häufung mehrerer Streitgegenstände; die Klageänderung ist die Änderung des Streitgegenstandes; das Institut der Rechtshängigkeit behandelt das Verhältnis zwischen dem Streitgegenstand eines anhängigen Prozesses und dem eines anderen anhängigen Prozesses; das Institut der Rechtskraft regelt das Verhältnis zwischen dem Streitgegenstand eines Prozesses und dem des anderen, bereits abgeschlossenen Prozesses. Die Streitgegenstandslehre zielt darauf ab, den Inhalt des klägerischen Anspruchs zu ermitteln und abzugrenzen. Der Streitgegenstandsbegriff ist für alle vier „Prüfsteine“ maßgebend. Die Streitgegenstandslehre dient aber nicht unmittelbar dazu, die Prozessökonomie und den Rechts­ frieden zu fördern, was vielmehr die Aufgabe dieser vier „Prüfsteine“ und anderer Prozess­ institute ist. 506 MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., vor § 253, Rn. 33. 507 Stürner, FS Lüke, 1997, S. 830 ff.; Habscheid, ­ZVglRWiss 75, S. 211.

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  157

B. Der weit verstandene Sachverhalt und der weit gefasste Anspruch als Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes I. Die Einführung des Begriffs „Lebenssachverhalt“ 1. Der Begriff „Lebenssachverhalt“ In der modernen Prozessrechtswissenschaft ist der Theorienstreit zwischen der ein- und der zweigliedrigen Streitgegenstandsauffassung teilweise recht intensiv. Die Kritik an der zweigliedrigen Theorie hebt hauptsächlich auf zwei Punkte ab: Erstens sei der „Sachverhalt“ als Abgrenzungskriterium des Streitgegenstandes selbst kaum klar zu bestimmen.508 Insbesondere sei die Frage schwer zu beantworten, wann derselbe und wann ein anderer Sachverhalt vorliegt. Zweitens würden nach der traditionellen zweigliedrigen Theorie mehrere Streitgegenstände anerkannt, wenn dasselbe Klageziel sich auf mehrere Sachverhalte gründen kann.509 Dies führe aber häufig zu einem unerwünschten Ergebnis. Um solche Schwierigkeiten zu vermeiden, haben Vertreter der zweigliedrigen Theo­rie das Wesen des Sachverhalts weiter untersucht und schließlich den Begriff „Lebens­sachverhalt“ entwickelt.510 Unter „Lebenssachverhalt“ versteht man den tatsächlichen Vorgang oder das Geschehen, aus dem sich der Rechtsstreit zwischen beiden Parteien herleitet und auf das der Kläger seine Klage und sein Begehren stützt.511 Im Vergleich mit dem zuvor weitgehend verwendeten, klassischen Begriff „Sach­verhalt“ liegt die Besonderheit dieses Begriffs darin, dass er – wegen seiner Rolle als Kriterium für die Abgrenzung des Streitgegenstandes – inhaltlich breiter als der Begriff „Sachverhalt“ ist.

508 Schwab, JuS 1965, S. 83; ders., FS Lüke, S. 794 ff.; Donau, JR 1960, S. 205; Stein/Jonas/ Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 24; Mühl, NJW 1954, S. 1666 f.; Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 132. 509 Schwab, JuS 1965, S. 83; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 25. 510 Bahnbrechend hier Habscheid, Streitgegenstand, S. 206; ferner Bötticher, FS Rosenberg, S.  91 f.; Lüke, JZ 1960, S. 204. 511 MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., §  253, Rn. 74; Stein/Jonas/Schumann, 21. Aufl., § 253, Rn.  123 ff.; Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl., Rn. 24; Zimmermann, Zivilprozessordnung, Einl., Rn. 15; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 70. Weitere ähnliche Termini sind etwa historisches Ereignis, einheitlicher Lebensvorgang, Tatsachenkomplex, zusammenhängender Tatsachenkomplex usw.

158

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

2. Meinungsstreit über Angaben zum Grund des Rechtsbegehrens Nach heutiger allgemeiner Ansicht dient der Sachverhaltsvortrag im Prozess als tatsächlicher Klagegrund.512 Aber hinsichtlich Frage, was der Kläger bei der Erhebung der Klage genau vorbringen soll, sind die Antworten in der geschicht­ lichen Entwicklung des Prozessrechts uneinheitlich. Hier findet sich die berühmte Auseinandersetzung zwischen der sog. Individualisierungs- und der Substantiierungstheorie. Die originäre Individualisierungstheorie verlangte die Angabe der Merkmale, die das Rechtsverhältnis, aus dem geklagt wird, von anderen Rechtsverhältnissen unterscheidet. Die Angabe von einzelnen Tatsachen war zwar möglich, aber nicht zwingend erforderlich.513 Demgegenüber ging die Substan­ tiierungstheorie ursprünglich davon aus, dass die Angabe der Tatsachen notwendig sei, die rechtlich geeignet oder erforderlich sind, die Begründetheit des Klageantrags zu rechtfertigen.514 Da die ursprüngliche Individualisierungstheorie die rechtliche Eingrenzung des Rechtsstreites forderte, kann mit Recht behauptet werden, dass sie stark vom materiellrechtlichen Denken geprägt war.515 Sie harmonierte wenig mit der Idee eines modernen, selbständigen Prozessrechts, weshalb auf sie verzichtet wurde. Heute wird weitgehend eine verbesserte Substantiierungstheorie vertreten,516 nach der tatsächlichen Angaben ausreichen, „wenn sie den Sachverhalt so konkret beschreiben, dass er von anderen unterscheidbar ist, und die Angaben geeignet sind, den prozessualen Anspruch des Klägers möglicherweise zu begründen.“517 Diese Entwicklung zur verbesserten Substantiierungstheorie macht deutlich, dass bei der Angabe des Klagegrundes das materiellrechtliche Denken allmählich eine immer geringere Rolle spielt. Der moderne Begriff „Lebenssachverhalt“ entspricht dieser Entwicklung: Wird der Begriff „Sachverhalt“ verwendet, besteht die Gefahr des Missverständnisses, 512 Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl., Rn. 24; MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., § 253, Rn. 74; Stein/Jonas/Schumann, 21. Aufl., § 253, Rn. 123; Habscheid, Streitgegenstand, S. 184; ders., FS Schwab, S. 187. 513 Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 95, Rn. 20; MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., § 253, Rn. 76. 514 RGZ, 143, 57/65; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 95, Rn. 21; MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., § 253, Rn. 77. Bemerkenswert ist, dass die traditionelle Substantiierungstheorie den Sachverhaltsvortrag zu einem Bestandteil des Streitgegenstandes machte. Vgl. Habscheid, Streitgegenstand, S. 185 ff.; MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., § 253, Rn. 77. Dieser Ansicht ist nicht zu folgen. Das Wesen des Streitgegenstandes ist der klägerische Anspruch; der Sachverhaltsvortrag ist kein Bestandteil des Streitgegenstandes, er dient lediglich als Mittel zur Abgrenzung des Streitgegenstandes. 515 Der Ansicht Habscheids ist zuzustimmen: Die Individualisierungstheorie sei an den herkömmlichen materiellrechtlichen Begriffen ausgerichtet. Die Rechtsfolgebehauptung des Klägers müsse daher einer bestimmten Rechtsfolge der materiellrechtlichen Norm entsprechen. Um den klägerischen Anspruch individualisieren zu können, habe der Klagegrund den Tat­ bestandmerkmalen der materiell­recht­lichen Norm zu entsprechen. Habscheid, Streitgegenstand, S. 187. 516 MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., § 253, Rn. 78; Stein/Jonas/Schumann, 21. Aufl., § 253, Rn. 125. 517 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 95, Rn. 21.

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  159

dass die materiellrechtliche Norm eine Rolle bei der Abgrenzung des tatsächlichen Klagegrundes spiele. Demgegenüber wird mit dem Begriff „Lebenssachverhalt“ klargestellt, dass der tatsächliche Klagegrund anhand prozessrechtlicher Gesichtspunkte und nicht aufgrund der Tatbestandmerkmale einer materiellrechtlichen Norm einzugrenzen ist.518, 519 3. Die Methode zur Abgrenzung des Lebenssachverhalts Da der Umfang des Lebenssachverhalts breiter ist als der des Sachverhalts, wird häu­fig von Gegnern und auch von Vertretern der zweigliedrigen Theorie die Frage gestellt, wie der Umfang des Lebenssachverhalts eigentlich vernünftigerweise einzugrenzen ist.520 Allerdings ist heute anerkannt, dass diese praktische Schwierigkeit von der Rechtsprechung schon weitgehend bewältigt worden ist. „Dem BGH zufolge wird der Lebenssachverhalt aus allen Tatsachen gebildet, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtungsweise zu dem durch den Vortrag des Klägers zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören.“521 Eine juristisch prägnante und scharfe Definition und Abgrenzung des „Lebenssachverhalts“ ist m. E. weder möglich noch notwendig. Vielmehr genügt eine natürliche, lebensnahe Betrachtungsweise. Der Grund liegt darin, dass ein relativ weiter Umfang und ein nicht exakt abgegrenzter Inhalt dem Ziel und der Aufgabe des „Lebenssachverhalts“ besser dienen können.522 Trotzdem kann nicht geleugnet werden, dass es von Bedeutung ist, einige Kriterien für seine Abgrenzung aufzustellen. Erstens: Alle Einzelvorgänge bilden einen Lebenssachverhalt, wenn solche tatsächlichen Umstände einen unmittelbaren Bezug zum Klageziel auf­weisen.523 Zweitens: Es handelt sich um einen einzigen Lebenssachverhalt, wenn solche Tat-

518 Reichold,

in: Thomas/Putzo, Einl., Rn. 28. Begriff „Lebenssachverhalt“ kam erst nach Begründung der verbesserten Substan­ tiierungstheorie auf. Es gibt aber keinen hinreichenden Nachweis dafür, dass die verbesserte Substantiierungstheorie die Bildung des Begriffs „Lebenssachverhalt“ unmittelbar gefördert habe. Allerdings ist einerseits anzuerkennen, dass diese Theorie den Grundstein zu dem Begriff gelegt hat; und andererseits hat die weitgehende Anerkennung dieses Begriffs diese Theorie gefestigt. Zusammenfassend kann behauptet werden, dass sie sich gegenseitig stützen. 520 So z. B. Pohle, JR 1954, S. 437; Lent, ZZP 63, S. 17; ders., ZZP 65, S. 352; Schwab, JuS 1965, S. 83; ders., FS Lüke, S. 794; ders., ZZP 71, S. 157; Jauernig, ZPR, S. 124; Stein/ Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 24; Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 75; Reischl, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S. 218; Arens, AcP 170, S. 414; Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 152 ff.; Fasching, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 1157; Bruns, FS Bötticher, S. 99; Blomeyer, FS Lent, S. 68 ff.; Böhm, FS Kralik, S. 106. 521 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor § 253 ff., Rn. 33; Musielak, NJW 2000, S.  3594 f. 522 Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 309; Holzhammer, Österreichisches Zivilprozeßrecht, S. 175. 523 Böhm, FS Kralik, S. 92 f., 114. 519 Der

160

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

sachen einem einheitlichen Lebensvorgang zugeordnet werden können.524 Das erste Kriterium bezieht sich auf den Sinnzusammenhang der Einzelvorgänge und das zweite Kriterium auf die sachliche Verbindung solcher Vorgänge. Zusätzlich sind folgende zwei Punkte besonders zu beachten: Erstens handelt es sich im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ um einen Lebenssachverhalt, da – trotz der unterschiedlichen Tatbestandmerkmale der materiellrechtlichen Normen – alle einzelnen Tatsachen zur Unterstützung des einzigen klägerischen Zieles dienen.525 Zweitens spielt in bestimmten Fällen die materiell­recht­liche Norm eine gewisse Rolle bei der Beurteilung, ob derselbe oder ein anderer Lebenssachverhalt vorliegt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn auf der Grundlage des mate­riellen Rechts zu erkennen ist, ob die zentralen entscheidungserheblichen Momente der zu beurteilenden Sachverhalte sich wesentlich unterscheiden oder nicht.526 4. Spannungsverhältnis zwischen dem weit verstandenen Lebenssachverhalt und der Verhandlungsmaxime Die korrekte Anwendung des Begriffs „Lebenssachverhalt“ setzt voraus, dass die Tatsachen des Rechtsstreits zwischen beiden Parteien möglichst detailliert und vollständig vorgetragen werden. Es gilt aber im zivilrechtlichen Verfahren im Prinzip die Verhandlungsmaxime, nach der die Beibringung der Tatsachen den Parteien obliegt und das Gericht an den Sachvortrag der Parteien gebunden ist. Es ist vorstellbar, dass insbesondere der Kläger beim Tatsachenvortrag etwas außen vor lässt, um beispielsweise im Fall der Klageabweisung eine neue Klage aufgrund des im ersten Verfahren noch nicht verhandelten Sachverhalts erheben zu können, da dann die Rechtskraft der ersten Entscheidung der zweiten Klage nicht entgegensteht. Kann dieses Problem nicht in vernünftiger Weise gelöst werden, wird es schwierig, das Ziel zu erreichen, das mit dem Begriff des Lebenssachverhalts verbunden ist: die effiziente und umfassende Erledigung des Rechtsstreites. Dadurch würden Bildung und Verwendung des Begriffs „Lebenssachverhalt“ weiterhin sinnlos. Dementsprechend verweist die Literatur auf unterschiedliche Lösungen. Auf der einen Seite findet sich der Hinweis auf das Institut der Präklusion.527 Auf der anderen Seite wird die Verhandlungsmaxime durch die richterliche Frage 524 Detterbeck,

Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 81. die herrschende Lehre; vgl. Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl., Rn. 16; Vollkommer, in: Zöller, Einl., Rn. 70; Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Einl., Rn. 63. 526 Musielak, NJW 2000, S. 3595 f.; Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 76 (m.w. Literatur­ hinweisen); Fasching, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 1157; Beys, ZZP 105, S. 153; Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, 1961, S. 262 ff.; Jauernig, ZPR, S. 126; vgl. auch unten Kapitel 10 C. 527 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 155, Rn. 7; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322, Rn.  217 ff.; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S.  133 ff. 525 So

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  161

und Aufklärungspflicht (§ 139 Abs. 1 ZPO)528 sowie die Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht der Parteien (§ 138 Abs. 1 ZPO) modifiziert.529 Danach haben die Parteien ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig abzugeben; das Gericht muss durch die Erörterung der Streitsache mit den Parteien für die Ergänzung etwa unvollständigen Tatsachenvortrags sorgen. Es ist dem Kläger verboten, den tatsächlichen und den rechtlichen Prüfungsmaßstab des Gerichts einzuengen. Aus der Verhandlungsmaxime und der Dispositionsmaxime kann der Kläger insoweit keine Dispositionsbefugnis über die Grenzen des Lebenssachverhalts ableiten.530 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Lebenssachverhalt zwar von den Parteien beizubringen ist, in seinem Umfang jedoch nicht der Herrschaft der Parteien unterliegt.531 Der Umfang des Lebenssachverhalts ist objektiv zu erfassen, wobei der Richter bei seiner Festlegung eine gewisse Rolle spielen kann.532 5. Funktion des Begriffs „Lebenssachverhalt“ und heutiger Meinungsstand Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Funktion eines weit verstandenen Sach­ ver­halts­begriffs vielseitig ist: Als tatsächlicher Klagegrund dient er vor allem dazu, den klägerischen Anspruch zu unterstützen; zudem wird mit ihm der klägerische Antrag individualisiert, damit das Begehren eines Prozesses nicht mit anderen Begehren zu verwechseln ist; schließlich kann er auch zur Auslegung und Ermittlung des Klagezieles beitragen. Heute wird der Begriff „Lebenssachverhalt“ weitgehend von den Anhängern der zweigliedrigen Theorie befürwortet und verwendet.533 Dies zeigt deutlich, dass ein 528 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

ZPR, § 77, Rn. 15 ff.; Lüke, ZPR, Rn. 22; Schilken, ZPR, Rn. 354 f.; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 181; Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 64; Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 295 ff.; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 28 ff.; MünchKomm/Wagner, 3. Aufl., § 139, Rn. 22 f.; Stadler, in: Musielak, § 139, Rn. 8. 529 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 65, Rn. 55 ff.; Lüke, ZPR, Rn. 23; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 202; Schilken, ZPR, Rn. 154 f. 530 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 82. 531 Habscheid, Streitgegenstand, S. 222; Jauernig, ZPR, S. 125; in diesem Sinne auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 11. Vgl. auch Böhm, FS Kralik, S. 92 f., 112. 532 Daher kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass der Umfang des Lebenssachverhalts weiter als der Sachverhaltsvortrag des Klägers sein kann, beispielsweise wenn er bewusst oder unbewusst einzelne Tatsachen nicht vorgetragen hat; der Umfang des Lebenssachverhalts kann aber auch enger als der Sachverhaltsvortrag des Klägers sein, beispielsweise wenn er in seinem Sachverhaltsvortrag mehrere selbständige Lebenssachverhalte vorgetragen hat. 533 MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., Vor §  253, Rn. 32; MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., § 253, Rn. 74; MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 32 f.; Reichold, in: Thomas/Putzo, Einl., Rn. 24 ff.; Zimmermann, Zivilprozessordnung, Einl., Rn. 15; Vollkommer, in: Zöller, Einl., Rn. 63; Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Einl. Rn. 62; Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 69; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 23; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 311; Lüke, JZ 1960, S. 204; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffent­ lichen Recht, S. 70; Götz, GRUR 2008, S. 401.

162

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

weit verstandener Begriff des Sachverhalts dem folgerichtigen Bedürfnis der zweigliedrigen prozessualen Streitgegenstandstheorie entspricht.534 Interessant ist, dass auch Vertreter der neuen materiellrechtlichen Theorie und der eingliedrigen Theorie diesem Begriff etwas abgewinnen, obwohl sie den Lebenssachverhalt als Kriterium zur Abgrenzung des Streitgegenstandes ablehnen.535 Die deutsche Rechtsprechung hat sich dieser Entwicklung weitgehend angeschlossen. Im Übrigen geht der EuGH in seinen Entscheidungen zur europäischen Rechtshängigkeit von einem weit verstandenen Sachverhalts­be­griff aus.536 Damit kann festgehalten werden, dass der weit verstandene Sachver­halts­begriff eine dominierende Entwicklungstendenz der modernen Streitgegenstandslehre ist. II. Der weit verstandene Klageanspruch 1. Theorienstreit zum Wesen des Streitgegenstandes Die Entwicklung der prozessualen Streitgegenstandslehre in der neueren Geschichte erlaubt die Feststellung, dass der Gegenstand des Rechtsstreites nicht mit dem materiellrechtlichen Anspruch gleichsetzt werden soll. Auch wenn man dieser Ansicht zustimmt, lassen sich folgende zwei Fragen doch nur schwer beantworten: Was ist der Inhalt des Streitgegenstandes und wie ist er abzugrenzen? Auch die Gleichsetzung der Begriffe „Streitgegenstand“ und „prozessualer Anspruch“ kann zur Beantwortung dieser Fragen wenig beitragen, da der Begriff „prozessualer Anspruch“ selbst „ausfüllungs- und erklärungsbedürftig“ ist.537 Daher ist es kein Wunder, dass der Theoriestreit über das „Wesen“ des Streitgegenstandes eine lange Geschichte hat.538 Es gibt nicht nur die berühmte Auseinandersetzung zwischen den Prozessualisten darüber, ob der kläge­ri­sche Anspruch sich gegen das 534 Rechberger/Simotta,

österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 387. Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 72 (m.w. Literaturhinweisen). Die Befürworter der neuen materiellrechtlichen Theorie gehen davon aus, dass alle einzelnen Anspruchsnormen, die das Interesse des Klägers befriedigen können, ein einzige, einheitliche Anspruchsgrundlage im Sinne des materiellen Rechts bilden. Daher ist es verständlich, dass – dieser Theorie zufolge – der Sachverhalt des Rechtsstreites, der dieser umfassenden einheitlichen Anspruchsgrundlage entspricht, sehr weit sein soll. Dies gilt auch für die eingliedrige Theorie, nach der die Bestimmung des Streitgegenstandes sich an einem einzigen, einheitlichen Klageziel orientiert. Wenn der Sachverhalt herangezogen wird, um das Klageziel zu individualisieren, greift die eingliedrige Theorie auf die Figur des „Lebenssachverhalts“ zurück. Offensichtlich kann ein im Umfang sehr begrenzter Sach­ verhaltsbegriff seine Aufgabe in beiden Theorien nicht bewältigen. 536 Die sog. Kernpunkttheorie; ausführlich dazu unten Kapitel 11. 537 Vgl. Schwab, Streitgegenstand, S. 185; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, S. 39. 538 Im Vergleich zu den langjährigen, vielseitigen Bemühungen der Prozessualisten um die Abgrenzung des Umfangs des Streitgegenstandes gibt es nur wenige Analysen und Überlegungen zum Wesen und Inhalt des Streitgegenstandes. Vgl. etwa Habscheid, Streitgegenstand, S. 109 ff., insb. 132 ff., 151 ff.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 49. 535 Detterbeck,

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  163

Gericht oder den Beklagten richtet.539 Vielmehr bleibt letztlich auch unklar, was unter „Streitgegenstand“ zu verstehen ist. Hier stehen sich zwei Ansichten gegenüber: Nach der einen ist Streitgegenstand das Rechtsbegehren des Klägers; nach der anderen die vom Kläger aufgestellte konkrete Rechtsfolgenbehauptung. Beide Definitionen unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht: Einmal ist die vom Kläger gewählte Rechtsschutzform zwar Teil seines Rechtsbegehrens, sie ist aber nicht in der Rechtsfolgenbehauptung inbegriffen; zum anderen ist im Vergleich mit dem Begriff „Rechtsfolgenbehauptung“ der Begriff „Rechtsbegehren“ umfassender und abstrakter, so dass der Umfang des „Rechtsbegehrens“ weiter ist als der einer „Rechtsfolgenbehauptung“.540 2. Ansätze zu einem weit verstandenen klägerischen Anspruch In der gegenwärtigen Entwicklung der Streitgegenstandslehre zeichnet sich allmählich eine klare Tendenz ab: Der klägerische Anspruch wird möglichst weit verstanden und abgegrenzt. Diese Tendenz basiert auf dem Ergebnis einer histo­ rischen Entwicklung, nach der sich der klägerische Anspruch nicht an den Rechtsfolgen einer oder mehrerer materiellrechtlicher Normen, sondern am erwünschten Prozessergebnis eines bestimmten Inhalts ausrichtet. Teleologisches Denken bestimmt damit den klägerischen Anspruch. Offensichtlich ist dieser Ansatz vereinzelte Auffassung; er findet sich vielmehr in den Darstellungen der Vertreter verschiedener Streitgegenstandstheorien. So wird diese These vor allem ausdrücklich von den Anhängern der eingliedrigen Theorie vertreten. Bötticher hat darauf hingewiesen, dass unter „Recht“ und „Rechtsfolge“ nicht das subjektive Recht, sondern nur dessen Wirkung, nämlich das vom Kläger angestrebte Prozessergebnis, zu verstehen ist. Er will den Streitgegenstand nicht nur an der Rechtsbehauptung des Klägers, sondern auch am Inhalt seines Klagebegehrens ausgerichtet sehen.541 Daher stellt er klar, dass er bei der Ermittlung des Inhalts des Klagebegehrens von der teleologischen Auslegung aus 539 Eine Ansicht

geht davon aus, dass der Kläger mit der Klage ein Rechtsschutzbegehren gegenüber dem Gericht erhebt. Vgl. z. B. Rosenberg, ZPR, 9. Aufl., S. 417; Schwab, Streitgegenstand, S. 199. Nach anderer Meinung verfolgt der Kläger den prozessualen Anspruch vor allem gegenüber dem Beklagten. Vgl. z. B. Nikisch, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, S. 14 ff.; Schönke, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 47 I. Auf diesen Theoriestreit kann in der vorliegenden Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Eine allgemeine Darstellung findet sich in: Habscheid, Streitgegenstand, S. 132 f. 540 Trotz ihrer Unterschiede gleichen sich die beiden Auffassungen zum Inhalt des Streit­ gegenstandes darin, dass prinzipiell der klägerische Anspruch prozessual zu verstehen und abzugrenzen ist; die materiellrechtlichen Normen sind nur rechtliche Gesichtspunkte, die nicht mit dem Gegenstand des Verfahrens gleichgesetzt werden dürfen. Denkbare Ausnahmen sind sehr begrenzt, beispielsweise die Klage auf Feststellung eines absoluten Rechts oder eines Rechtsverhältnisses. 541 Bötticher, FS Rosenberg, S. 85 ff.

164

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

geht. Dieser Ansatz tritt noch deutlicher in der Theorie Schwabs hervor. Nach seiner Auffassung geht es jedem Kläger nur darum, dass das Gericht seinem Antrag entspricht.542 Der klägerische Antrag wird als Klageziel verstanden.543 Daher bestimmt die Summe der Klageziele die Summe der Streitgegenstände. Es wird stets darauf abgestellt, ob es dem Kläger um dasselbe Klageziel geht, bei der Leistungsklage also darauf, ob er nur eine oder mehrere Leistungen des Beklagten beansprucht, wobei die Summe der anzuwendenden materiell­recht­lichen Normen und der Sachverhalte irrelevant sind.544 Festzuhalten ist, dass die eingliedrige Theorie stark zu einer teleologischen Auslegung des klägerischen Anspruchs tendiert und bei der Lösung aller Streitgegenstandsprobleme nur auf das Klageziel abstellt.545 Zahlreiche zustimmende Bemerkungen zum weit verstandenen Anspruch findet man auch in den Ausführungen der Vertreter der neuen materiellrechtlichen Theorie.546 Diese Theorie unterscheidet sich von der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie dadurch, dass sie Schwierigkeiten vermeiden will, welche die Häufung materiellrechtlicher, auf dasselbe Ziel gerichteter Ansprüche bereitet.547 Zwar gibt es verschiedene Varianten dieser Theorie. Sie gleichen sich aber darin, dass im Falle der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ mehrere verschie-

542 Schwab,

JuS 1965, S. 83. JuS 1992, S. 682 f. Das Klageziel unterscheidet sich vom Anspruch auf Anwendung einer konkreten materiellrechtlichen Norm. Daher unterscheidet es sich in gewissem Sinne auch von der von einer materiellrechtlichen Norm zugeteilten konkreten Rechtsfolge. 544 Nach Schwab führt die eingliedrige Theorie in allen Fällen zu brauchbaren Lösungen, in denen das gleiche Ziel nicht nur aufgrund mehrerer materiellrechtlicher Ansprüche, sondern auch mehrerer Sachverhalte (im Sinne der zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie) angestrebt wird. Schwab, JuS 1965, S. 84. Vgl. die Bemerkung von Beys zur eingliedrigen Theorie, ZZP 105, S. 155 f. 545 Beim Problem der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ führt die klassische zweigliedrige Theorie in der Tat nicht zu einer sachgemäßen Lösung. Sie zögert, ob ein einziger Streitgegenstand angenommen werden soll, wenn (nach den als Anspruchsgrundlage dienenden unterschiedlichen materiellrechtlichen Normen) sowohl die relevanten Sachverhalte als auch die gegebenen Rechtsfolgen sich in Einzelheiten voneinander unterscheiden. Da die eingliedrige Theorie sich bei der Festlegung des Streitgegenstandes nur nach dem Klageziel richtet, nimmt sie im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ ausdrücklich und bedenkenlos nur einen Streitgegenstand an, was eine brauchbare Lösung darstellt. Im Ergebnis kann festgestellt werden, dass es nach der eingliedrigen Theorie einen einzigen klägerischen Anspruch und einen einheitlichen Sachverhalt im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ gibt. In diesem Sinne prägt sie die herrschende Lehre sowohl bei Annahme des weit verstandenen Anspruchsbegriffs als auch beim weit verstandenen Sachverhaltsbegriff. Der eingliedrigen Theorie kommt das Verdienst zu, darauf hingewiesen zu haben, dass die vernünftige Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ von der teleologischen Auslegung des Begriffs „Klageanspruch“ abhängt. Konkreter gesagt: Ein von der Rechtsfolge der materiellrechtlichen Norm völlig losgelöster, sich am Klageziel orientierender, weit verstandener Anspruchsbegriff ist zur Überwindung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ unbedingt notwendig. 546 Überblick dazu etwa Beys, ZZP 105, S. 156. 547 Schwab, JuS 1965, S. 84. 543 Horn,

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  165

dene Ansprüche aus einzelnen materiellrechtlichen Normen zu einem einheit­ lichen materiellrechtli­chen Anspruch zusammengefasst werden sollen. Dieser bildet dann den alleinigen Streitgegenstand des Prozesses. Zur Frage, wann mehrere materielle Ansprüche eine Einheit und damit einen einzigen Streitgegenstand bilden, sind die Antworten aber unterschiedlich. Beispielsweise wird vorgeschlagen, die Einheitlichkeit des materiellrechtlichen Anspruchs solle dann angenommen werden, wenn die konkurrierenden Ansprüche zu einem Lebenssachverhalt gehören.548 Nach einer anderen Ansicht werden mehrere materielle Ansprüche zu einer Anspruchseinheit zusammengefasst, wenn sie dasselbe wirtschaftliche Ziel oder dieselbe Leistung erstreben.549 Andere betrachten materiellrechtliche Ansprüche als identisch, sofern sie einem einheitlichen Verfügungsgegenstand gelten.550 Es gibt auch den Vorschlag, einen einzigen Anspruch anzunehmen, wenn die Rechtsposition der Parteien im Vor- und Nachprozess bei einer Anspruchskonkurrenz dieselbe bleibt.551 Zwar unterscheiden sich die geschilderten Strömungen innerhalb der neuen materiellrechtlichen Theorie in der Argumentation, ihr Ausgangspunkt und Ziel sind aber grundsätzlich gleich. Dass bei gleichem Klageziel trotz konkurrierender materiellrechtlicher Ansprüche nur ein einheitlicher Anspruch anzuerkennen sei, begründen sie mit prozessualen Gesichtspunkten, ohne dies zu erläutern.552 Nach ihrem dahinterstehenden Denken soll indessen der Antrag des Klägers teleologisch ausgelegt werden. Wenn das juristische oder wirtschaftliche Ziel des Klägers dasselbe oder im Wesentlichen dasselbe ist, darf man im Prozess nur einen Streitgegenstand und folglich nur einen klägerischen Anspruch anerkennen. Mehrere Streitgegenstände bestehen nur dann, wenn die vom Kläger beanspruchten Ziele sich wesentlich voneinander unterscheiden. Nach dem Grundansatz dieser Theorie ist mit dem klägerischen Anspruch vor allem das Rechtsbegehren und nicht die konkrete Rechtsfolgebehauptung gemeint. Schließlich verweisen auch Vertreter der zweigliedrigen Theorie und anderer Streitgegenstandstheorien in ihren Ausführungen teilweise auf den weit verstandenen Anspruch. So findet sich die Formulierung, der Streitgegenstand solle am bes 548 Nikisch,

AcP 154, S. 273 ff.; ihm folgend Larenz/Wolf, ­­BGBAT, 8. Aufl., § 18, Rn. 35; Larenz/Canaris, Schuldrecht II, 13. Aufl., § 83 VI 1; Esser, Schuldrecht II, S. 458 ff. 549 Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 163  ff., 239 ff., 242 ff. Vgl. auch Larenz/Wolf, ­BGBAT, 8. Aufl., § 18, Rn. 28. Larenz/Canaris, Schuldrecht II, 13. Aufl., § 83 VI 1; Esser, Schuldrecht II, S. 458 ff.; Zeuner, FS Bötticher, S. 412. 550 Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 255 ff., 272 ff.; ders., JZ 1992, S. 648. 551 Rimmerspacher, Materiellrechtlicher Anspruch, S. 48 ff., 77, 104, 245 und öfter. Unter Rechtsposition versteht er „das endgültige Behaltendürfen der Leistung“ oder die „Verfügungsbefugnis“. Vgl. Beys, ZZP 105, S. 156; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 37. 552 Alle Bemühungen der Vertreter der neuen materiellrechtlichen Theorie zielen darauf ab, eine Veränderung des Verständnisses der materiellen Anspruchsnorm das Streitgegenstands­ problem zu lösen. Das Streitgegenstandsproblem liegt für sie eigentlich im Bereich des Prozess­rechts, trotzdem suchen sie den Ausweg für dieses Problem im Bereich des Zivilrechts zu finden.

166

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

ten als Begehren des Klägers verstanden werden, da – im Gegensatz zum Begriff der Rechtsfolgenbehauptung – das Begehren „den äußersten Punkt des klägerischen Verlangens, nämlich das Rechtsschutzziel“, erfasse“.553 Die Rechtsfolgenbehauptung wiederum sei in das Begehren des Klägers eingebettet. „Die Entscheidung des Gerichts ergeht unmittelbar über das Begehren und damit zugleich über die Rechtsfolgenbehauptung.“554 „Der Streitgegenstand solle nicht strikt durch den gestellten Antrag und den vorgetragenen Lebenssachverhalt, sondern durch das sachgerecht ausgelegte Rechtsschutzbegehren (§ 139 I 2 ZPO) und den gesamten davon erfassten Lebenssachverhalt begrenzt“ werden.555 Dabei darf man dieses „Rechtsschutzbegehren“ nicht einfach mit der konkreten Rechtsfolgenbehauptung gleichsetzen; sein Umfang ist weiter. Teilweise wird der Gesichtspunkt hervorgehoben, dass die Identität bzw. Verschiedenheit der Streitgegenstände durch die Identität bzw. Verschiedenheit des zu befriedigenden Interesses zu beurteilen sei. Nach dieser Auffassung steht nicht die konkrete Rechtsfolgenbehauptung, sondern das mit der Klage angestrebte Ziel – anders gesagt: das Interesse des Klägers – im Mittelpunkt des Streitgegenstandsbegriffs.556 Dabei wird auch empfohlen, der Richter solle dem Kläger einen Vorschlag zur Änderung von Anträgen machen, wenn dies zur Realisierung des Klageziels sachdienlich erscheine.557 Dies lässt deutlich werden, dass im Interesses des Klägers ein weit verstandener Klageanspruch den eigentlichen Zweck des Klageantrages besser umsetzen kann als eine konkrete Rechtsfolgenbehauptung. Nach verbreiteter Ansicht, geht „es bei der Konkurrenzlehre im Grunde gar nicht um rechtslogische Zuordnungen, sondern […] um Urteile über die sachliche Gleichwertigkeit“.558 Die „Gleichwertigkeit“ der konkurrierenden Anspruchsnormen sei teleologisch zu beurteilen; im Ergebnis sei die Mehrheit konkurrierender privatrechtlicher Ansprüche als prozessuale Einheit aufzufassen, wenn in wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht nur ein Rechtsschutzziel (oder: nur ein Sacherfolg) vom Kläger angestrebt werde.559 Schließlich ist zu betonen, dass der weit verstandene Anspruchsbegriff teilweise auch in Gesetzgebung und Rechtsprechung seinen Niederschlag findet. Nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO kann der Richter Änderungen von Rechtsfolgenbehauptungen des Klägers oder eine bestimmte Rechtsfolgenbehauptung anregen oder empfehlen, „soweit dies im Rahmen des sichtbaren Prozessziels einer Partei sachdienlich

553 Lüke,

JuS 1960, S. 204. JuS 1960, S. 204. 555 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 24. 556 Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 13, 56 f. Ähnliche Formulierung etwa „der Wille des Klägers“ vom Musielak. Er schlägt vor, bei entsprechender Interpretation des klägerischen Willens den Klageantrag gegebenenfalls weit zu verstehen. Vgl. Musielak, FS Schwab, S.  354 f. 557 Stürner, FS Heldrich, S. 1070; ders., Die richterliche Aufklärung im Zivilprozess, Rn. 55. 558 Böhm, FS Kralik, S. 107. 559 Böhm, FS Kralik, S. 108, 114 ff. 554 Lüke,

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  167

erscheint“.560 Dies macht deutlich, dass das Klageziel, nicht die konkrete Rechtsfolgenbehauptung zentrales Element des Klageantrags ist: Um das Klageziel möglichst realisieren zu können, soll der Klageanspruch weiter gefasst werden als die konkrete Rechtsfolgenbehauptung. Ferner schreibt § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG n. F. vor, dass das Gericht des jeweils zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet.561 Damit wird auf die vorher herrschende Auffassung – die Aufspaltung und Beschränkung des Streitgegenstandes infolge besonderer Gerichtsstände – verzichtet. Es wird vielmehr weitgehend anerkannt, dass aus Zweckmäßigkeitsgründen bei einem einheitlichen Klageziel und im Zusammenhang stehenden verschiedenen Ansprüchen immer nur ein Gericht entscheiden soll.562 Insofern berücksichtigt die Vorschrift sowohl den Zusammenhang der Sachverhalte als auch die Einheitlichkeit (oder: Gleichwertigkeit) der beanspruchten einzelnen Rechtsfolgenbehauptungen.563 Sie kann daher als Nachweis betrachtet werden, dass das heutige Zivilprozessrecht deutlich dazu tendiert, den Anspruch des Klägers teleologisch auszulegen und dabei gegebenenfalls möglichst weit zu verstehen. Ein weiteres Argument für ein teleologisches Verständnis des Klageantrags liefert die Lehrmeinung, dass es keine Klageänderung darstellt, wenn in demselben Prozess der Kläger zu einer anderen, auf dasselbe Ziel gerichteten speziellen Rechtsfolgenbehauptung übergeht.564 Dementsprechend steht einer zweiten Klage die Rechtshängigkeit entgegen, wenn in ihr – trotz der Erhebung einer neuen konkreten Rechtsfolgenbehauptung – das Klageziel unverändert bleibt. So kann der Kläger, dessen auf eine spezielle Rechtsfolge ausgerichtete Klage rechtskräftig abgewiesen worden ist, keine neue Klage erheben, wenn sich in dieser nur die Rechtsfolgenbehauptung ändert.565 Diese Lehrmeinung stützt sich auf die Annahme, dass in den genannten Fällen jeweils nur ein Streitgegenstand und folglich auch nur ein Klagebegehren gegeben ist. Wenn der Richter nach Prüfung aller

560 Stürner, FS Heldrich, S. 1070. Zur richterlichen Frage- und Hinweispflicht vgl. ders., Die richterliche Aufklärung im Zivilprozess, Rn. 55; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 47 ff.; MünchKomm/Wagner, 3. Aufl., § 139, Rn. 26 ff.; Stadler, in: Musielak, § 139, Rn.  10 ff.; Liu, Die richterliche Hinweispflicht, 2009, S. 274 ff. 561 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 40 (m.w. Literaturhinweisen); MünchKomm/Zimmermann, 3. Aufl., § 17 GVG, Rn. 2, 10, 12 f.; Stein/Jonas/Jakobs, 22. Aufl., § 17 GVG, Rn. 15. 562 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 36, Rn. 59. 563 Die Vorschrift gründet sich auf den Gedanken, wenn nur ein Lebenssachverhalt und ein Rechtsbegehren (oder: ein Klageziel) den Prozess bestimme, sei ein einziger Streitgegenstand gegeben. 564 Zu diesem Punkt findet sich in den gebräuchlichen prozessrechtlichen Lehrbüchern kaum etwas. Allerdings wird diese Ansicht m. E. zu Recht vertreten, und sie ist vor dem gegebenen Hintergrund begrüßenswert. Ihr zufolge wird beim Institut der Klageänderung – einer der Bewährungspunkte des Streitgegenstandsproblems – die prozessuale Streitgegenstandstheorie zugrunde gelegt. 565 MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., Vor §§ 253 ff., Rn. 39.

168

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

möglichen rechtlichen Gesichtspunkte die Klage abweist, bedeutet dies nicht einfach die Ablehnung der vom Kläger aufgestellten konkreten Rechtsfolgenbehauptung. Vielmehr wird durch ein solches Urteil festgestellt, dass das Klageziel des Klägers insgesamt scheitert.566 3. Inhalt und Ziel des weit verstandenen Klageanspruchsbegriffs Obwohl die beschriebenen Darstellungen der Prozessualisten sich in vieler Hinsicht voneinander unterscheiden, haben sie – entweder ausdrücklich oder stillschweigend – gemeinsam darauf fokussiert, dass ein relativ weit verstandener Anspruchsbegriff für Prozesslehre und Rechtspraxis empfehlenswert ist. Das klägerische Begehren ist nach diesen Überlegungen aus dem Klageantrag und Lebenssachverhalt teleologisch zu ermitteln. Es unterscheidet sich im Prinzip von den einzelnen Rechtsfolgenbehauptungen des Klägers und beschränkt sich – wenn möglich und erforderlich – nicht auf die konkrete Rechtsfolgenbehauptung. Der Klageanspruch des Klägers kann sich auf ein Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsbegehren erstrecken. Mit anderen Worten: Er schließt die jeweilige Rechtsschutzform mit ein. Das Leistungsbegehren ist durch die rechtliche Behauptung des Klägers definiert. Es darf nicht mit materiellrechtlichen Ansprüchen i. S. d. § 194 BGB gleichgesetzt werden. Das Gericht prüft im Prozess sämt­liche rechtlichen Gesichtspunkte, die den Antrag unterstützen können. In gewissem Sinne unterscheidet sich das Leistungsbegehren auch von der speziellen Rechtsfolge, die dem Kläger eine materiellrechtliche Norm zuteilt oder die vom Kläger nach Belieben geltend gemacht wird. Vielmehr sollen Auslegung und Festlegung des Klagebegehrens sich am Klageziel orientieren. Die Entdeckung des Klageziels obliegt dem Richter. Es wird aufgrund der teleologischen Auslegung des Klage­ antrags und der umfassenden Würdigung des Lebenssachverhalts ermittelt.567 Daher kann festgestellt werden, dass in gewissem Maße eine Tendenz zu einem weit verstandenen Klagebegehren und zur Lösung des Rechtsbegehrens von der konkreten Rechtsfolgenbehauptung des Klägers besteht. Das Ziel dieser Sichtweise liegt hauptsächlich darin, durch teleologische Auslegung des Klageanspruchs eine möglichst umfassende und endgültige Bereinigung des Rechtsstreites zwischen beiden Parteien zu erreichen. Der weit verstandene Anspruchsbegriff intendiert einerseits die effektive Wahrung des gerechtfertigten Interesses des Klägers, andererseits die zügige Wiederherstellung des gestörten 566 Die Rationalität dieses Ergebnisses gründet sich auf folgende zwei Punkte: Nach dem Grundsatz iura novit curia hat der Richter die Anwendungsmöglichkeit aller denkbaren materiellrechtlichen Normen geprüft und letztendlich festgestellt, dass keine Norm angewandt werden kann. Nach der Ausübung der Frage- und Hinweispflicht kommt der Richter zu dem Ergebnis, dass nicht nur die vom Kläger gestellte Rechtsfolge, sondern auch die anderen zu dem Klageziel passenden Rechtsfolgen unerreichbar sind. 567 In diesem Sinne zutreffend Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 24.

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  169

Rechtsfriedens und der beeinträchtigten Rechtssicherheit.568 Zugleich fördert er die wünschenswerte Verfahrenskonzentration sowie die Prozessökonomie. 4. Spannungsverhältnis zwischen dem weit verstandenen Klageanspruch und der Dispositionsmaxime Im deutschen Zivilprozess herrscht im Prinzip die Dispositionsmaxime. „Wer sich entschließt, Klage zu erheben, bestimmt damit zugleich den Gegenstand des Prozesses.“569 Es wird vom Kläger mehr als eine bloß umrisshafte Angabe des Gegenstandes verlangt; vielmehr muss er einen Antrag mit konkretem, genauem Inhalt stellen. Grundsätzlich ist das Gericht an diesen Antrag und damit an die konkrete Rechtsfolgenbehauptung des Klägers gebunden.570 Dabei ist offenkundig, dass die Sichtweise, die einen weit verstandenen Klageanspruchsbegriff vertritt, in einem Span­nungs­verhältnis zur Dispositonsbefugnis des Klägers steht. Der Grundsatz der Parteidisposition wird allerdings nicht infrage gestellt. Denn es ist nicht zu übersehen, dass die vom Kläger gestellte konkrete Rechtsfolgenbehauptung seinem Klageziel nicht immer entsprechen muss. Eine unzutreffende Rechtsfolgenbehauptung führt dann dazu, dass das Klageziel entweder nicht umfassend oder gar nicht realisiert werden kann. Ist dies der Fall, befindet sich die Rechtsordnung in einem Dilemma. Gestattet sie es dem Kläger nicht, nach dem ersten Prozess eine neue Klage zu erheben, scheint das Interesse des Klägers in ungerechter Weise beschädigt; lässt sie hingegen eine solche neue Klage zu, wird sie bald mit der schwierigen Frage konfrontiert, wie das Ergebnis und die Wirkung des ersten Prozesses zu bewerten sind. Um diese Schwierigkeit zu bewäl­tigen, wird das Institut der richterlichen Hinweispflicht bemührt. Zwar bestimmt der Kläger das Klageziel und die zu erstrebende Rechtsfolge. Seine Rechtsfolgenbehauptung kann aber ungeeignet sein, das Klageziel zu erreichen.571 Wenn der Rich 568 So gelten der effektive Schutz der subjektiven Rechte der Bürger und die Bewahrung des Rechtsfriedens sowie der Rechtssicherheit als die zentralen Zwecke des Zivilprozessrechts. Vgl. Böhm, FS Kralik, S. 85. 569 Jauernig, ZPR, S. 68. Zur Dispositionsfreiheit, insbesondere zur Parteidisposition über den Streitgegenstand als gemeineuropäische Rechtstradition, vgl. Stürner, FS Heldrich, S. 1061 ff. 570 Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 150 ff. 571 Das Wesen des Klageziels ist das zu befriedigende juristische oder wirtschaftliche Interesse des Klägers; vgl. hierzu etwa Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 220. Es ist durch den vom Kläger vorgetragenen Antrag und Lebenssachverhalt zu ermitteln. Es unterscheidet sich in dreierlei Hinsicht von der konkreten Rechtsfolgenbehauptung: Erstens ist das Klageziel der eigentliche Kern des Streitgegenstandes, während die Rechtsfolgenbehauptung den Streitgegenstand nur äußerlich darstellt; zweitens ist es in gewissem Sinne objektiver als die vom Kläger gewählte Rechtsfolgenbehauptung; drittens ist es – im Vergleich mit der konkreten Rechtsfolgenbehauptung – inhaltlich umfassender. Die konkrete Rechtsfolgenbehauptung soll der Realisierung des Klageziels dienen, nicht umgekehrt. Dabei ist zu bemerken, dass dem Kläger zur Durchsetzung eines Klageziels häufig mehrere mögliche Rechtsfolgenbehauptungen zur Verfügung stehen.

170

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

ter nach der Ermittlung des Klageziels die Untauglichkeit der Rechtsfolgenbehauptung bemerkt, muss er dem Kläger vorschlagen, eine andere, prozessual und materiellrechtlich adäquate Rechtsfolgenbehauptung zu formulieren.572, 573 Selbstverständlich darf der Richter nur entsprechende Hinweise geben und nicht unmittelbar dem Kläger eine andere Rechtsfolge zusprechen. Alles in allem lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: Zweifellos gilt die Parteidisposition als wichtige, strenge Grenze einer weiten Auslegung des Klagebegehrens. Allerdings kann der Richter mit Hilfe des Instituts der richterlichen Hinweispflicht und teleologischer Auslegung dem Kläger einen Hinweis zur passenden Rechtsfolgenbehauptung geben. Auf diese Weise lässt sich ein weit verstandener Klageanspruch mit gewissen Einschränkungen realsieren. 5. Der weit verstandene Klageanspruch und die vernünftige Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ Die Bedeutung dieses weit verstandenen Klageanspruchs liegt hauptsächlich darin, den vom Kläger gestellten Antrag zweckmäßig auszulegen, damit ein sich eng am Klageziel orientierender Prozess praktiziert werden kann. Diese Vorgehensweise ist von besonderer Relevanz für die Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“. Man kann sogar behaupten, dass der weit verstandene Klageanspruch vor allem um dieses Problems willen entwickelt worden ist. Wie schon mehrfach dargestellt, liegt die Besonderheit der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ darin, dass aufgrund eines Lebenssachverhalts mehrere materiell­recht­liche Ansprüche das Klagebegehren stützen können. Das Ziel dieser Ansprüche bleibt aber – zumindest weitgehend – dasselbe.574 Ihre Anwendung 572 Stürner, FS Heldrich, S. 1070; ders., Die richterliche Aufklärung im Zivilprozess, Rn. 55; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 47 ff.; MünchKomm/Wagner, 3. Aufl., § 139, Rn.  26 ff.; Stadler, in: Musielak, § 139, Rn. 10 ff. 573 Die richterliche Hinweispflicht erstreckt sich nicht nur auf eine mögliche Änderung der Rechtsfolgenbehauptung, sondern auch auf den Vorschlag einer passenden Rechtsschutzform, da die Rechtsschutzform ein wichtiger Bestandteil des Rechtbegehrens ist. Wenn der Richter der Ansicht ist, dass die vom Kläger gewählte Rechtsschutzform nicht angebracht ist und eine andere Rechtsschutzform seinem Interesse besser dienen kann, kann der Richter dem Kläger einen entsprechenden Ratschlag geben. Fehlt es beispielsweise am Rechtsschutzinteresse für eine Feststellungsklage, kann der Richter den Kläger darauf hinweisen, dass ihm eine Leistungsklage zur Verfügung steht. 574 Ein praktisches Kriterium zur Prüfung der Selbständigkeit von Anträgen bietet folgende Vorgehensweise: Wenn die Anträge in einem Prozess parallel bejaht werden können, bilden sie zwei oder mehrere selbständige Streitgegenstände, weil mit solchen Anträgen unterschiedliche Ziele angestrebt werden. Wenn sie nicht parallel verwirklicht werden können, handelt es sich um identische oder teilidentische Streitgegenstände, da die Ziele der Anträge völlig oder teil-

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  171

setzt aber unterschiedliche Tatbestandmerkmale voraus, und auch ihre Rechtsfolgen müssen nicht vollkommen identisch sein. Vor Anwendung behalten sie ihre Selbständigkeit, aber wenn eine von ihnen angewandt wird, sind die anderen ausgeschlossen. Hier tritt das bereits oben angeführte Dilemma ein: Die vom Kläger gewählte Rechtsfolgenbehauptung kann zur Klageabweisung führen. Lässt das Gericht die neue Klage nicht zu, nimmt die materielle Gerechtigkeit Schaden, obwohl der Kläger eigentlich ein entsprechendes subjektives Recht besitzt. Lässt das Gericht die neue Klage zu, wird das im ersten Prozess gewonnene Ergebnis falsifiziert, was den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit schwer schädigt. Aus diesem Grund sollte in solchen Fälle die beschriebene richterliche Hinweispflicht zur Anwendung kommen. Der Richter ist verpflichtet und befugt, dem Kläger Hinweise zur Änderung seiner Rechtsfolgenbehauptung zu geben, wenn er glaubt, dass die im Antrag gestellte Rechtsfolgenbehauptung nicht greift oder zu dem Klageziel nicht gut passt. Diese Vorgehensweise verlangt letztlich einen sich nicht auf die konkrete Rechtsfolgenbehauptung beschränkenden Klageanspruchsbegriff.575 Daher kann festgehalten werden, dass ein in gewissem Sinne von der konkreten Rechtsfolgenbehauptung losgelöster, weit verstandener Begriff des Klageanspruchs für eine vernünftige Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ förderlich ist.576 III. Bewertung und Stellungnahme Wie bereits dargelegt werden der weit verstandene Sachverhaltsbegriff (Lebenssachverhalt) und der weit verstandene Klageanspruchsbegriff (Rechtsbegehren) nicht nur in den Darstellungen von Prozessualisten vertreten, sondern sie sind auch in die verschiedenen Streitgegenstandstheorien weitgehend integriert. Daher darf ihr Einfluss auf die Rechtstheorie und Rechtspraxis nicht unterschätzt werden. Im Folgenden geht es noch darum, zusammenfassend zu erläutern, inwieweit beide Rechtsfiguren fähig sind, alle sich stellende Probleme zu lösen.

weise identisch sind. Im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ bilden nach diesen prozessualen Prüfungskriterien die gemäß der jeweiligen materiellrechtlichen Anspruchs­ normen gestellten Anträge nur einen einheitlichen Streitgegenstand. 575 So geht die herrschende Lehre davon aus, dass es im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ nur einen klägerischen Anspruch und einen Lebenssachverhalt und damit einen einzigen Streitgegenstand im Prozess gibt. 576 In vielen Fällen kann dasselbe Klageziel durch unterschiedliche Rechtsfolgen verwirklicht werden. Von grundlegender Bedeutung ist nicht nur die Dispositionsfreiheit des Klägers über die konkrete Rechtsfolgenbehauptung, sondern auch der effiziente Schutz seines recht­ lichen Interesses.

172

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

1. Zum „Lebenssachverhalt“ Heute wird der Begriff „Lebenssachverhalts“ – anstatt des früheren Begriffs „Sachverhalt“ – von den verschiedenen Theorien, welche die Bedeutung des Tatsachenvortrags völlig oder teilweise erkennen, als Kriterium für die Abgrenzung des Streitgegenstandes weitgehend akzeptiert. Eine erkennbare und starke Gegenposition findet sich bislang nicht. Insofern ist die Behauptung gewiss nicht falsch, dass der weit verstandene Sachverhaltsbegriff von tiefgreifender Bedeutung für die moderne Streitgegenstandslehre ist. Mit ihm wird die Eingrenzung des maßgeblichen Sachverhalts vom materiell­recht­lichen Denken gänzlich befreit. Daher ist er als ein dem Prozess und dem Prozessrecht angemessenes Kriterium für die Abgrenzung des Streitgegenstandes zu betrachten. 2. Zum „Klagebegehren“ Der weit verstandene Klageanspruch zielt auf die sich am Klageziel orientierende Auslegung des klägerischen Antrags. Mit diesem Begriff wird es dem Richter ermöglicht, den Prozess so zu gestalten, dass sich einerseits das gerechtfertigte Interesse des Klägers möglichst verwirklicht und andererseits Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und Prozessökonomie gefördert werden können. Zwar ist der Richter bei der Auslegung des Klageantrags nicht völlig frei. Der Umfang seiner Befugnis wird von dem grundlegenden Prozessgrundsatz der Parteiherrschaft begrenzt. Jedoch ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn der Antrag des Klägers im Rahmen der Parteidisposition zweckgemäß ausgelegt wird. Wenn die konkrete Rechtsfolgenbehauptung nicht realisiert werden kann oder nicht gut zum Klageziel passt, sind Aufklärung und Hin­weise seitens des Richters von allein positiver Bedeutung. Sie beeinträchtigen die Willens- und Handlungsfreiheit des Klägers im Zivilprozess nicht. Vielmehr werden durch sie die materielle Freiheit und das Interesse des Klägers besser gewährleistet. Es scheint daher im Vergleich zum Begriff der Rechtsfolgenbehauptung der abstraktere und inhaltlich umfangreichere Begriff des Rechts- oder Klagebegehrens treffender, um den im Antrag enthaltenen Streitgegenstand des Prozesses zu beschreiben. 3. Der innere Zusammenhang zwischen dem weit verstandenen Sachverhalt und dem weit verstandenen Klageanspruch Zwar stellen der weit verstandene Sachverhalt und der weit verstandene Klageanspruch unterschiedliche Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes dar. Bei näherem Zusehen zeigt sich aber, dass die Entwicklung beider Kriterien in einem inneren Zusammenhang steht. Einerseits dient der Begriff des Lebenssachverhalts der Begründung eines weit verstandenen Anspruchsbegriffs. Erst wenn man

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  173

den Sachverhalt eines Rechtsstreites weit versteht, kann dieser Sachverhalt geeignet sein, das Rechtsbegehren des Klägers, das sich manchmal von der konkreten Rechtsfolgenbehauptung unterscheidet und daher von der Rechtsfolge der materiellrechtlichen Norm unabhängig ist, gut zu begründen, zu individualisieren und zu ermitteln. Andererseits macht der Begriff des Rechtsbegehrens den weit verstandenen Sachverhaltsbegriff sinnvoll und unentbehrlich. Nur wenn man den Antrag des Klägers weit versteht, ist es förderlich, auch den Sachverhalt, der das Rechtsbegehren stützt und in einem gewissen Grad das Klageziel prädestiniert, entsprechend weit zu verstehen.577 Dabei wird deutlich, dass im Zusammenwirken beider Entwicklungstendenzen der Begriff des Lebenssachverhalts eine dienende Funktion hat und der Begriff des Rechtsbegehrens im Mittelpunkt dieser Entwicklung steht. 4. Vorzugswürdigkeit beider Entwicklungstendenzen Um die Schwäche der materiellrechtlichen Streitgegenstandstheorie zu überwinden, wurde die prozessuale Theorie entwickelt, welche die Abgrenzung des Streitgegenstandes aus prozessrechtlicher Sicht und mit prozessualen Kriterien bewerkstelligt. Soll sich die Leistungsfähigkeit der prozessualen Theorie in vollem Umfang entfalten, setzt dies voraus, dass die Kriterien – Anspruch und Sachverhalt – völlig vom materiellrechtlichen Denken befreit werden. Mit Hilfe des weit verstandenen Sachverhalts und des weit verstandenen Anspruchs wird ein vernünftig abgegrenzter Streitgegenstand geschaffen, dessen Umfang sich prozessual bestimmt und dessen Charakter den Erfordernissen des Zivilprozessrechts entspricht. Konkreter gesagt: Durch diese Entwicklungen löst sich das Verständnis des Streitgegenstands endgültig von der Anwendung einer oder mehrerer materiellrechtlicher Normen. Es besteht damit die Möglichkeit, den Rechtsstreit zwischen beiden Parteien in einem Prozess umfassend und abschließend zu lösen, worin zweifellos eine rationale Lösung des Streitgegenstandsproblems liegt.578 Der weit verstandene Anspruch und der weit verstandene Sachverhalt setzen ein Zeichen dafür, dass die prozessuale Streitgegenstandstheorie die materiellrechtliche Theorie und das materiellrechtliche Denken im Bereich der Streitgegenstandsprobleme endgültig verdrängt hat. Damit hat sich auch der Unterschied zwischen der ein- und der zweigliedrigen Theorie erheblich verringert.579 577 Das weit verstandene Rechtsbegehren und den weit verstandenen Sachverhalt befürwortend etwa Böhm, FS Kralik, S. 105; Lüke, JuS 1960, S. 204. 578 Die Vorzugswürdigkeit beider Tendenzen wird insbesondere bei der Lösung des Problems der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ deutlich: Wenn der Antrag und Sachverhalt weit verstanden werden, sind im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ nur ein einziges Rechtsbegehren und ein einheitlicher Lebenssachverhalt anzunehmen. Nach der Prüfung aller möglichen rechtlichen Gesichtspunkte fällt der Richter dann ein Urteil über diesen einheit­ lichen Streitgegenstand. 579 Beispielsweise vertritt Prütting die Ansicht, dass wegen des Begriffs des Lebenssach­ verhalts beide prozessualen Theorien meist zu demselben Ergebnis gelangen werden. Prütting, in: Prütting/Gehrlein, Einl., Rn. 19; ders., in: Wieczorek/Schütze, Einl., Rn. 63, 68.

174

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Zusammenfassend gilt Folgendes: Prozesszwecke wie Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und Prozessökonomie lassen sich mit einem breiten Verständnis von Rechtsbegehren und Sachverhalt gut realisieren und die Abgrenzungskriterien des Streitgegenstandes rein prozessual definieren. Deshalb sind beide geschilderten Tendenzen im Prinzip begrüßenswert. Die Entwicklung zeigt deutlich, dass die Abgrenzung des Anspruchs und Sachverhalts ihrer Natur nach eine rechtspolitische Frage ist.580 Die Antwort auf die Frage richtiger Eingrezung hängt davon ab, in welchem Grad die Rechtsordnung die umfassende Erledigung eines Rechtsstreites anstreben kann und will.581

C. Die Funktion der materiellrechtlichen Norm bei der Identifizierung oder Differenzierung des Lebenssachverhalts – Die Anknüpfung der prozessualen Streitgegenstandslehre an das materielle Recht I. Einführung Der zweigliedrigen Theorie zufolge gilt der Sachverhalt als ein unentbehrliches Kriterium für die Abgrenzung des Streitgegenstandes.582 Auch die Vertreter der einglied­ri­gen Theorie leugnen nicht, dass der Sachverhalt in vielen Fällen zur Individualisierung des Streitgegenstandes dienen kann. Angesichts der wichtigen Rolle des Sachverhalts ist die Frage für die Befürworter der prozessualen ­Theorie von besonderer Relevanz, wie der Sachverhalt sachgerecht abgegrenzt werden kann? Wie oben aufgezeigt, wurde der Begriff „Lebenssachverhalt“ entwickelt, um dieses Problem einer angemessenen Lösung zuzuführen. Nach der Theorie des „Lebenssachverhalts“ ist der Sachverhalt aufgrund der „natürlichen Betrachtungsweise“ oder „Verkehrsanschauung“ abzugrenzen, um eine breite Grundlage von Tatsachen für den Prozess und das Urteil zu schaffen. Der Begriff „Lebenssachverhalt“ und der dahinter­stehende Gedanke sind grundsätzlich zu begrüßen, weil sie die umfassende Bereinigung des Rechtsstreites und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens erheblich fördern können. Problematisch ist allerdings, dass der Begriff „Lebenssachverhalt“ vor allem darauf zielt, den Umfang des Sachverhalts 580 Jauernig,

ZPR, S. 125; Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 133 ff. sind einerseits der effektive und rechtzeitige Rechtsschutz für den Einzelnen und andererseits die Bewahrung des Rechtsfriedens sowie der Rechtssicherheit in der Rechtspflege. Böhm, FS Kralik, S. 85. 582 Die Bemerkung von Beys zu den beiden Varianten der prozessualen Theorie ist lehrreich: Die fast völlige Trennung des eingliedrig gedachten prozessualen Anspruchs vom materiellrechtlichen Anspruch vermag dogmatisch nicht zu befriedigen, während die zweigliedrige Theorie versucht, die Annäherung an die materiellrechtlichen Normen aufrechtzuerhalten, indem sie den Sachverhalt in den Streitgegenstand einbezieht; Beys, ZZP 105, S. 171. 581 Abzuwägen

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  175

möglichst auszudehnen. Zur Klärung des Inhalts eines Sachverhalts und zur Unterscheidung eines Sachverhalts von einem anderen kann er leider nicht viel beitragen. Diese Schwäche der prozessualen Theorie wird vor allem von den Befürwortern der ursprünglichen und der neuen materiellrechtlichen Theorien hervorgehoben und kritisiert. So meint Lent, dass man von der Rechtsbehauptung des Klägers ausgeht und untersucht, „ob sich aus dem von ihm gebrachten Sachverhalt ein konkreter Tatbestand herausfinden läßt, der einem gesetzlichen Tatbestand entspricht und die Ableitung der behaupteten Rechtsfolge aus dem vorgebrachten Sachverhalt gestattet“.583 Diesem Gedanken folgt Henckel; ihm zufolge wird der Sachverhalt „abgegrenzt durch die gesetzlichen Tatbestandmerkmale der Anspruchsnormen, die eine Rechtsfolge der vom Kläger begehrten Art aussprechen“.584 ­Rimmelspacher führt diesen Ansatz weiter.585 Zwar wird die Grundidee der verschiedenen materiellrechtlichen Theorien zum Streitgegenstand heute überwiegend abgelehnt. Es lässt sich aber nicht abstreiten, dass solche Theorien die Wechselwirkung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht berücksichtigt und einen wertvollen Ansatz zur Abgrenzung des Lebenssachverhalts eingebracht haben. II. Meinungsstand Wegen der unbefriedigenden Lösung des Problems einer überzeugenden Abgrenzung des Lebenssachverhalts haben Vertreter der prozessualen Streitgegenstandstheorie mehrere Versuche gemacht, verbesserte Konzeptionen zu entwickeln. Einer der wichtigsten Ansätze besteht darin, den Lebenssachverhalt mit Hilfe der materiellrechtlichen Norm einzugrenzen und dabei aber das grund­ legende prozessrechtliche Versäumnis des Streitgegenstands unberührt zu lassen.586 Vor allem wird die Auffassung vertreten, dass der Lebenssachverhalt zwar möglichst weit zu verstehen sei, er aber nicht einfach die Menge aller einzel 583 Lent,

ZZP 63, S. 14 ff.; ders., ZZP 65, S. 335, 352 ff. Reischl weist mit Recht darauf hin, dass es das Verdienst Lents ist, „den rechtsrelevanten Sachverhalt als Abgrenzungskriterium in die Streitgegenstandsdiskussion eingeführt zu haben“; Reischl, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S. 225. 584 Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 262 ff., 270 ff., 277, 292 ff. 585 Er führt aus, dass sich aus dem materiellen Recht ergibt, ob Einzeltatsachen zu einer Einheit zusammengefasst werden können und wie sich ein Tatsachenkomplex von einem anderen unterscheiden lässt. Rimmelspacher, JuS 2004, S. 562; ders., ZZP 116, S. 383 f. 586 Vgl. Musielak, NJW 2000, S. 3595 f.; ders., in: Musielak, Einl., Rn. 75 f.; ders., Grundkurs ZPO, Rn. 144; ders., FS Nakamura, S. 434; Fasching, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 1157; Jauernig, ZPR, S. 126; ders., Verhandlungsmaxime, Inquisi­tions­maxime und Streitgegenstand, S. 25 ff., 46 ff.; Böhm, FS Kralik, S. 103 ff.; Büttner, FS Doepner, S. 110 f.; Teplitzky, WRP 2007, S. 3; Schilken, ZPR, Rn. 230 ff.; Schönke/Kuchinke, ZPR, 9. Aufl., § 39, III; Reischl, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S. 217 ff.; Bruns, ZPR, S. 188 f.

176

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

nen Tatsachen bedeute, die sich zwischen beiden Parteien ergeben haben. Vielmehr erfolge die Zusammenfassung von Einzeltatsachen zu einem Lebenssachverhalt unter einer bestimmten Wertung. Da das Prozessrecht hierzu selbst kein nachvollziehbares Kriterium angeben könne, müsse auf den Tatbestand der in Betracht kommenden Anspruchsnorm des materiellen Rechts Bezug genommen werden.587 So sind nach dieser Meinung zu dem Lebenssachverhalt „alle Tatsachen zu rechnen, auf deren Existenz oder auch Nichtexistenz es für die Anwendung des den Klageantrag rechtfertigenden Rechtssatzes ankommt“.588 „Tatsachen, auf die es für das Klagebegehren nicht ankommt, gehören nicht zu dem Lebenssachverhalt […].“589 Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die Tatsachen, die ein anderes Klagebegehren unterstützen, einen anderen Lebenssachverhalt bilden. Die teleologische Prägung dieses Ansatzes zeigt sich hier ganz deutlich: Die Tatsachen, aus denen sich gemäß materiellem Recht die vom Kläger begehrte Rechtsfolge herleiten lässt, bilden einen selbständigen Lebenssachverhalt. Andere Tatsachen sind entweder irrelevant590 oder für die Begründung eines anderen Rechtsbegehrens von Bedeutung591. Offen bleibt dabei jedoch die Frage, ob der Lebenssachverhalt im Fall der „Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne“ sich auf einzelne Teilsachverhalte reduzieren lässt, die den Tatbestandsmerkmalen einer Anspruchsnorm entsprechen, oder ob er stets den Gesamtsachverhalt umfasst, der die Tatbestandmerkmale mehrerer anwendbarer materiellrechtlicher Normen auszufüllen vermag und so den Klageanspruch materiellrechtlich mehrfach begründet. Bei dieser Frage gehen die Befürworter dieses Ansatzes grundsätzlich davon aus, dass nicht die einzelne Norm, sondern alle Normen, deren Anwendung zu der vom Kläger gestellten Rechtsfolge führt, für die Abgrenzung des Umfangs des Lebenssachverhalts maßgeblich sind. Mit anderen Worten gehören demzufolge alle einzelnen Tatsachen, die den Tatbestandsmerkmalen aller in Betracht zu ziehenden Anspruchsnormen entsprechen, zum Lebenssachverhalt eines Falles.592 587 Musielak,

Grundkurs ZPO, Rn. 144; Böhm, FS Kralik, S. 107; Jauernig, ZPR, S. 126. NJW 2000, S. 3595; ders., in: Musielak, Einl., Rn. 76. 589 Musielak, NJW 2000, S. 3596, 3599. 590 Beispielsweise betont Reischl, dass die Tatsachen, die zur Rechtsfolgenerzeugung nicht benötigt werden, ausgesondert werden sollen. Reischl, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S.  229 f. 591 Ein Tatsachenkomplex kann in zwei oder mehrere selbständige und voneinander abgrenzbare Lebenssachverhalte aufgeteilt werden, wenn – gemäß der materiellrechtlichen Ordnung – zwei oder mehrere Rechtsbegehren sich durch diesen Tatsachenkomplex begründen lassen. Der Kläger darf dann seine selbständigen Ansprüche aufgrund unterschiedlicher Lebenssachverhalte in einem Prozess parallel oder in unterschiedlichen Prozessen geltend machen. 592 Musielak, Grundkurs ZPO, Rn. 144; Böhm, FS Kralik, S. 106 f., 122, Fn. 109; Jauernig, ZPR, S. 126. Wenn der Lebenssachverhalt sich nur an der Ausfüllung der Tatbestandmerkmale einer Anspruchsnorm orientieren soll, bedeutet dies die Wiedererstehung der ursprünglichen materiellrechtlichen Streitgegenstandstheorie (oder: „des punktuellen Streitgegenstandsbegriffs“). Dadurch verliert er seine Bedeutung als Kriterium der prozessualen Theorie für die Abgrenzung des Streit­ge­gen­standes. 588 Musielak,

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  177

Der BGH vertritt im Prinzip die zweigliedrige Theorie, nach der das Rechts­ begehren und der Lebenssachverhalt als Kriterien für die Abgrenzung des Streitgegenstandes heranzuziehen sind. Unter Lebenssachverhalt versteht der BGH alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden Betrachtungsweise oder nach der Verkehrsauffassung zu dem durch den Vortrag des Klägers zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören.593 Dieser Versuch einer Erfassung des Lebenssachverhalts ruft teilweise deutliche Kritik hervor, weil er die Notwendigkeit eines Zusammenhangs der den Lebenssachverhalt bildenden Einzeltatsachen außer Acht lässt und daher keine brauchbaren Kriterien für die Würdigung des Tatsachenvortrags des Klägers vorgibt. Der eigentliche Grund, dass der BGH anhand seiner (teilweise problematischen) Lebenssachverhaltsdefinition häufig zu sachgerechten Lösungen kommen konnte, liege darin, dass er sich – trotz der scheinbaren Ablehnung des materiellen Rechts als Grundlage einer Abgrenzung des Lebenssachverhalts – eigentlich doch an den materiell­recht­li­chen Tatbestandmerkmalen orientiere.594 Die Versuche, den Lebenssachverhalt durch Anspruchsnormen und ihren inneren Zusammenhang abzugrenzen, erfahren in der Literatur verschiedentliche Kritik. Die Gründe für diese Kritik sind zu vielseitig, als dass an dieser Stelle detailliert auf sie eingegangen werden könnte.595 III. Bewertung des Ansatzes 1. Positive Bedeutung Die Bedeutung dieses materiellrechtlich geprägten Kriteriums zur Abgrenzung des Lebenssachverhalts zeigt sich in unterschiedlicher Hinsicht. Vor allem gibt es eine Antwort auf die Frage, welche einzelnen Tatsachen zur Einheit eines Sachverhalts gehören. Alle Tatsachen, die die Tatbestandmerkmale der das Rechtsbegehren unterstützenden Anspruchsnormen ausfüllen können, werden zusammengefasst, um einen Lebenssachverhalt zu bilden.596 Demzufolge ist die Abgrenzung 593 Beispielsweise

BGH NJW 1981, 2306; NJW 1990, 1795, 1796; NJW 1995, 967, 968; NJW 1999, 3126, 3127; NJW-RR 1991, 1279; NJW-RR 1996, 826, 827; BGHZ 117, 1, 6 f.; BGHZ 123, 137, 141. 594 Reischl, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S. 218 ff. Er betont, dieser Effekt bei der Vorgehensweise des BGH sei unvermeidlich, da einerseits nur das materielle Recht Kriterien für die Beurteilung der Relevanz einzelner Tatsachen zur Verfügung stelle und andererseits die Gesetzestatbestände der materiellrechtlichen Normen die natürlichen Sachver­halts­komplexe erfassten, sodass die tatsächliche und die rechtliche Abgrenzungsmethode in zahlreichen Fällen zur Deckung kämen. Vgl. Reischl, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S. 223. 595 Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 39 f.; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322, Rn. 227; Habscheid, FS Schwab, S. 194 f. 596 Diese Tatsachen sollen in einem Prozess möglichst detailliert und vollständig vorgetragen werden, da es im Prinzip ausgeschlossen ist, dasselbe Rechtsbegehren in einem anderen Prozess erneut zu verfolgen.

178

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

des Lebenssachverhalts durch materiellrechtliche Normen von zentraler Bedeutung dafür, eine tragfähige Grundlage für den Prozess zu legen. Die Parteien und ihre Vertreter müssen dafür sorgen, die rechtlich relevanten Tatsachen, welche die Tatbestandmerkmale der in Betracht zu ziehenden materiellrechtlichen Normen ausfüllen könnten, zu sammeln und vorzutragen. Und auch der Richter muss sich bei der Ausübung seiner Aufklärungspflicht am materiellen Recht orientieren, um den Parteien aufzuzeigen, welcher Tatsachenvortrag unbedingt zu ergänzen oder zu berichtigen ist. Dabei werden auch irrelevante Tatsachen ausgesondert, was für Gericht und Parteien eine Entlastung bedeutet.597 Der Ansatz, materiellrechtliche Normen zur Abgrenzung des Lebenssachverhaltes heranzuziehen, ist wie schon erwähnt stark vom teleologischen Denken geprägt. Nach heutiger prozessualer Theorie bestimmt der klägerische Antrag das Rechtsschutzziel. Die Verwirklichung dieses Rechtsschutzziels bedingt im Prinzip die Anwendung einer oder mehrerer materiell­recht­li­cher Normen. Die Anwendung einer materiellrechtlichen Norm setzt voraus, dass das tatsächliche Geschehen die Tatbestandmerkmale der Norm auszufüllen vermag. Daher liegt die Bedeutung des Lebenssachverhalts darin, die Anwendung der mate­riell­rechtlichen Norm zu ermöglichen und dadurch das Klagebegehren zu stützen. Dieser Sinnzusammenhang zwischen Lebenssachverhalt und materiellem Recht steht nicht im Konflikt mit der prozessualen Theorie, genauer: mit einem prozessualen Verständnis des Streitgegenstands und einer Abgrenzung des Streitgegenstandes anhand prozessualer Kriterien. 2. Abgrenzung von der ursprünglichen und neuen materiellrechtlichen Theorie Der hier behandelte Ansatz findet sich vielfach auch ähnlich in den Darstellungen der Vertreter materiellrechtlicher Theorien.598 Es wird dabei nicht verkannt, dass eine Orientierung an materiellrechtlichen Normen bei der Abgrenzung des 597 Wenn sich aufgrund eines Tatsachenkomplexes feststellen lässt, dass zwei oder mehrere materiellrechtliche Normen mit wesentlich unterschiedlichen Rechtsfolgen angewandt werden können, darf dieser Tatsachenkomplex in zwei oder mehreren Lebenssachverhalte aufgeteilt werden. Wenn der Kläger unterschiedliche Rechtsbegehren in einem oder mehreren Verfahren vorbringt, dienen solche Lebenssachverhalte jeweils zur Unterstützung unterschiedlicher Begehren. Dies führt auf keinen Fall zur Beschränkung der materiellen Rechtskraft durch die Begrenzung des Sachverhalts (durch die Berücksichtigung von materiellrechtlichen Normen). 598 Interessant ist hier die Theorie Henckels. Zwar vertritt er grundsätzlich insofern eine Form der neuen materiellrechtlichen Theorie, als er den materiellrechtlichen Anspruch für die Bestimmung des Streitgegenstandes nutzbar machen will. Allerdings sollen nach seiner Ansicht dann, wenn die einzelnen Ansprüche zur Verwirklichung desselben wirtschaftlichen Wertes dienen, ihre Tatumstände ein einziges unteilbares „Sachverhaltsstück“ bilden. Daraus lässt sich schließen, dass ihm zufolge alle Tatsachen, die die Tatbestandmerkmale solcher Anspruchsnormen ausfüllen können, zu einem einzelnen Lebenssachverhalt gehören. Entsprechend neigt

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  179

Lebenssachverhalts die prozessuale Streitgegenstandslehre den materiellrecht­ lichen Theorien – in gewissem Sinne – annähert.599 Allerdings bleibt ein wesentlicher Unterschied zwischen diesem Ansatz und den materiellrechtlichen ­Theorien. Nach der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie ist Streitgegenstand ein materiellrechtlicher Anspruch. Folgerichtig ist Gegenstand der materiellen Rechtskraft dieser materiellrechtliche Anspruch und nicht der prozessuale Anspruch des Klägers. Demgegenüber werden bei dem hier erörterten Ansatz sowohl der Streitgegenstand als auch die Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes, und zwar das Rechtsbegehren und der Lebenssachverhalt, prozessual definiert. Die einzelnen Varianten der neuen materiellrechtlichen Theorie basieren darauf, alle materiellrechtlichen Ansprüche, die demselben Ziel des Klägers dienen, als einen einheitlichen Anspruch zusammenzufassen. Der Umfang des Sachverhalts erstreckt sich dann auf alle Tatsachen, die die Tatbestandmerkmale dieses einheitlichen Anspruchs ausfüllen. Indessen ist nicht zu leugnen, dass die neue materiellrechtliche Theorie sich auf den Grundgedanken gründet, das Streitgegenstandsproblem aus materiellrechtlicher Perspektive lösen zu können. Diesen Versuchen war in Wissenschaft und Praxis kein Erfolg beschieden. Dem­ge­genüber geht der hier dargelegte Ansatz vom prozessrechtlichen Denken aus. Er will die tatsächliche Verbindung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht angemessen berücksichtigen und aus der Erkenntnis ihrer Verknüpfung den Inhalt des Lebenssachverhalts mit Hilfe des materiellen Rechts ermitteln. Daher unterscheidet er sich wesentlich von der neuen materiellrechtlichen Theorie mit all ihren Spielarten.600 Diese Theorie zielt darauf ab, den Umfang des Lebenssachverhalts teleo­logisch abzugrenzen. Sie legt den Klageanspruch weit aus und nimmt an, dass alle Tatsachen, die zur Anwendung materiellrechtlicher Normen führen, die den Klageanspruch decken können, eine Einheit bilden und zum Sachverhalt des Falles gehören.601 Ihr zufolge erfasst die materielle Rechtskraft eines Urteils das Rechtsbegehren des Klägers, nicht die Rechtsfolge der angewandten materiellrechtlichen Norm. Dieser Ansatz ist deshalb trotz der aufgezeigten teilweise materiellrechtlichen Anknüpfungspunkte keineswegs dazu verurteilt, sich „in den Schlingen der materiellrechtlichen Theorie oder gar des aktionenrechtlichen Denkens zu verfangen“.602

er zu der hier dargelegten gegenwärtigen Tendenz. Vgl. Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 277; ders., JZ 1962, S. 336; zutreffende Bemerkungen zur Theorie Henckels bei Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch, S. 77 f. 599 Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 76. 600 Köhler, Der Streitgegenstand bei Gestaltungsklagen, S. 15 f. 601 Der Unterschied zwischen dem Begriff „Sachverhalt“ und „Lebenssachverhalt“ bleibt damit wesentlich. Der Sachverhalt (in engerem Sinne) begründet den materiellen Anspruch; der Lebenssachverhalt begründet den Klageantrag und das hinter ihm stehende Klagebegehren. 602 Reischl, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S. 224.

180

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

3. Beschränkung des Umfangs des Lebenssachverhalts durch materiellrechtliche Normen? Der hier vertretene Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von dem Versuch, den Umfang der materiellen Rechtskraft auf die Anwendbarkeit eines materiellrechtlichen subjektiven Rechts – insbesondere einer Anspruchsnorm – zu beschränken. Im Gegensatz zur Geltung der eingliedrigen Theorie bei Instituten wie Klageänderung, Klagenhäufung und Rechtshängigkeit soll bei der Festlegung des Umfangs der Rechtskraft die zweigliedrige Theorie eingesetzt werden, um die mögliche Präklusion nicht vorgebrachter Tatsachen sinnvoll zu beschränken. Der Prozess dreht sich um das Rechtsschutzbegehren des Klägers, nicht um die Anwendung einer oder mehrerer bestimmter materiellrechtlicher Normen. Der Richter prüft alle möglichen materiellrechtlichen Gesichtspunkte, um eine Entscheidung zu treffen. Auch wenn eine oder mehrere Normen angewandt werden, richtet sich die Entscheidung auf das Rechtsbegehren und nicht auf den Inhalt dieser Normen. Im Prozess sollen die rechtlich relevanten Tatsachen möglichst vollständig vorgetragen werden. Grundsätzlich ist es ausgeschlossen, durch Beschränkung der im Prozess eingeführten Tatsachen die Möglichkeit einer neuen Klage mit demselben Klageziel zu erreichen. Demnach ist mit aller Deutlichkeit der Versuch abzulehnen, den Umfang des Lebenssachverhalts nach einer ma­te­riell­ rechtlichen Norm abzugrenzen, um es dem Kläger zu ermöglichen, im Fall der Abweisung der ersten Klage eine neue Klage zu erheben, die zwar eine andere ma­ teriellrechtliche Norm als Begründung präsentiert, aber dasselbe Ziel wie die erste Klage hat. Dieser Versuch führt zur artifiziellen Aufteilung des ursprünglich einheitlichen Le­benssachverhalts in separate Teile, was offensichtlich dem Zweck des Begriffs „Lebenssachverhalt“ zuwiderläuft. Zudem wird der Umfang der materiellen Rechts­kraft in unzutreffender Weise zu eng abgegrenzt. Die hier vorgestellte Theorie dient nur zur Beantwortung der Frage, welche einzelnen Tatsachen das Klagebegehren rechtfertigen und daher den Lebenssach­ verhalt eines Falles bilden können.603 Grundsätzlich ist sie nicht geeignet, den Umfang des Lebenssachverhalts zu beschränken, bestünde doch sonst die Gefahr, dass sie das Wesen der prozessualen Streitgegenstandstheorie missachten und eine neue Variante der materiellrechtlichen Theorie bilden würde.604 Dementsprechend wird 603 Daher ist der Ansicht Musielaks grundsätzlich zuzustimmen. Er geht davon aus, dass das materielle Recht von entscheidender Bedeutung für die Festlegung des Umfangs des Lebenssachverhalts ist. Die Tatsachen, die für einen Prozess irrelevant sind, sind nach seiner Meinung nicht durch die Rechtskraft des Urteils dieses Prozesses präkludiert und können daher in einem zweiten Rechtsstreit mit anderen Rechtsschutzbegehern vorgetragen werden. Er tendiert nicht dazu, für dasselbe Rechtsbegehren zwei oder mehrere Lebenssachverhalte festzulegen, um die Anerkennung zweier oder mehrerer Streitgegenstände zu ermöglichen. Musielak, NJW 2000, S. 3599. 604 Aus diesem Grund kann der Auffassung Faschings nicht gefolgt werden. Nach ihm bilden die Tatsachen einen Sachverhalt, die die Anwendung einer materiellrechtlichen Norm ermöglichen oder er­for­dern. Daher führt die Abgrenzung des Sachverhalts durch einen Rückgriff

Kap. 10: Neue Entwicklungstendenzen der Streitgegenstandslehre der Gegenwart  181

nur ausnahmsweise anerkannt, dass der Umfang des Sachverhalts durch eine materiellrechtliche Norm beschränkt werden kann. Denn eine solche Beschränkung der im Prozess eingeführten Tatsachen zielt darauf ab, den Streitgegenstand und dadurch den Umfang der materiellen Rechtskraft des klageabweisenden Urteils zu begrenzen, sodass der Kläger sein Begehren in einem weiteren Prozess unter Berufung auf eine andere materiellrechtliche Norm und die sie rechtfertigenden Tatsachen einklagen kann. Die Zahl berechtigter Ausnahmen ist sehr begrenzt, da sie den gewöhnlichen Umfang der materiellen Rechtskraft und die grundsätzliche Bedeutung der allgemeinen prozessualen Streitgegenstandstheorie erheblich be­ einträchtigen.605 Bemerkenswert ist auch, dass die überwiegende Auffassung, im Kauf-WechselFall sollten zwei unterschiedliche Streitgegenstände angenommen werden, sich nicht mit der Abgrenzung des Lebenssachverhalts aufgrund einer materiell­recht­ lichen Norm begründen lässt. Das Prozessrecht gewährt dem Wechselanspruch eine vereinfachte Geltendmachung. Der Kausalanspruch und der Wechselanspruch können in jeweils unterschiedlichen Prozessen eingeklagt werden. Die Rechtsordnung gestaltet diese Ansprüche prozessual erkennbar unterschiedlich aus. Es ist daher nicht notwendig, den Tatsachenkomplex jeweils für die Begründung des Grundgeschäfts und des Wechsels in zwei Lebenssachverhalte aufzuteilen, um zu zwei Streitgegenständen (mit derselben Leistung) zu kommen. IV. Stellungnahme Meines Erachtens ist der hier vorgestellte Ansatz, dem zufolge der Lebens­ sachverhalt anhand materiellrechtlicher Normen zu bestimmen ist, grundsätzlich annehmbar. Der Lebenssachverhalt soll möglichst weit verstanden werden, um das Ziel der zweigliedrigen Theorie – die umfassende Lösung des Rechtsstreites – zu fördern. Allerdings darf man nicht leugnen: „Sowohl natürliches Geschehen als auch menschliche Handlungen sind ohne wertenden Sinnbezug amorph.“606 Die auf den Tatbestand der materiellrechtlichen Norm dazu, dass zwei oder mehrere verschiedene Streitgegenstände angenommen werden müssen, wenn ein Begehren auf verschiedene Tat­ sachengrundlagen gestützt werden kann. Zwar will Fasching den Streitgegenstand prozessual verstehen, grenzt aber den Umfang des Sachverhalts nach der einzelnen materiellrechtlichen Norm ab. Dies führt dazu, dass das prozessrechtliche Verständnis des Streitgegenstands und die Abgrenzung des Umfangs der materiellen Rechtskraft aus prozessualer Sicht in der Tat aus­ geschlossen sind. Vgl. Fasching, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 1157 f.; kritische dazu Böhm, FS Kralik, S. 101 f. 605 Solche Ausnahmen werden nur anerkannt, wenn es im materiellen und prozessualen Recht besondere Regelungen gibt. Vgl. Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 166 ff. Das prozessuale Verständnis des Streitgegenstands steht manchmal mit dem Anspruch des Klägers auf effektiven Rechtsschutz im Konflikt. Die Rechtsordnung geht davon aus, dass in bestimmten Fällen das Interesse des Klägers Vorrang haben soll. Vgl. Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 165; Rimmelspacher, ZZP 116, S. 383 f. 606 Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 162.

182

3. Teil: Streitgegenstandsproblem in der Theorie und Praxis in Deutschland

Zusammenfassung von Tatsachen zu einer Einheit, die Aufteilung von Tatsachen in mehrere Einheiten und die Abgrenzung der einen Einheit von den anderen setzen eine rechtliche Wertung voraus.607 Wenn man danach fragt, welche einzelnen Tatsachen eine Einheit bilden, kann die Antwort nur sein, dass die Tatsachen, die zur Rechtfertigung des Rechtsbegehrens dienen können, Bestandteile des einheitlichen Lebenssachverhalts sind. Stellt man weiterhin die Frage, wie zu beurteilen ist, ob ein Geschehen das Rechtsbegehren unterstützt, so ist diese Frage nur unter Berufung auf das materielle Recht zu beantworten.608 Die materiellrechtliche Norm – insbesondere die Anspruchsgrundlage – verbindet gedanklich zwei Teile, die Tatbestandmerkmale und die Rechtsfolge. In der Norm werden der Tatsachenkomplex und seine rechtliche Wertung verknüpft. Die Vermittlungsfunktion der materiellrechtlichen Norm zwischen dem Rechtsbegehren und dem Lebenssachverhalt ist so besehen offensichtlich: Das Rechtsbegehren wird in Form einer konkreten Rechtsfolgenbehauptung gestellt; dieser Rechtsfolgenbehauptung wird vom Gericht stattgegeben, wenn eine oder mehrere materiell­ recht­li­che Normen angewandt werden können; die Anwendung der Norm setzt voraus, dass ihre Tatbestandmerkmale erfüllt sind.609 So kann mit guten Gründen gesagt werden, dass das materielle Recht den Antrag und den Sachverhaltsvortrag logisch verbindet und damit den Inhalt des Sachverhaltsvortrags vorgibt.610 Die hier befürwortete theoretische Grundlegung hat den inneren Zusammenhang zwischen dem materiellen Recht und dem Lebenssachverhalt wieder neu entdeckt. Sie unterscheidet sich jedoch wesentlich von den ma­teriell­recht­lichen Streitgegenstandstheorien und sollte nicht als Rückschritt angesehen werden. Nach ihr wird der Streitgegenstand prozessual verstanden und prozessual abgegrenzt. Ihre Besonderheit als prozessuale Streitgegenstandstheorie besteht lediglich darin, dass der Wert des materiellen Rechts für die Bestimmung des Lebenssachverhalts betont wird. Eine prozessuale Streitgegenstandstheorie, die völlig vom materiellen Recht als materieller Wertungsbasis absieht, ist letztlich gar nicht möglich.

607 Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 162 (m.w. Literaturhinweisen); Rimmelspacher, ZZP 116, S. 383. 608 Im Prinzip ist der Lebenssachverhalt weit zu verstehen; dies steht aber nicht im Konflikt damit, dass er – vom teleologischen Gesichtspunkt aus – mit Hilfe der materiellrechtlichen Norm sachgemäß zu bestimmen ist. Der Grund liegt darin, dass der Sachverhaltsvortrag im Grunde zur Rechtfertigung des Rechtsbegehrens dienen soll (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). 609 Holzhammer, Österreichisches Zivilprozeßrecht, S. 170. 610 Wie Böhm mit Recht betont hat, ist „die Brücke zwischen den rechtserzeugenden Tat­ sachen und dem Begehren allerdings nur über die materiellrechtliche Verknüpfung zu schlagen“; vgl. Böhm, FS Kralik, S. 109.

Vierter Teil

Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht 4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht Die Streitgegenstandslehre hat nicht nur einen nationalen, sondern auch einen internationalen Aspekt. Die Schwierigkeit im internationalen Zivilprozessrecht besteht vor allem darin festzulegen, inwiefern es bei zwei Prozessen in unterschied­ lichen Staaten um ein und denselben Rechtsstreit geht oder inwieweit beide Verfahren teilweise identisch sind, sodass eine parallele Durchführung solcher Prozesse wegen doppelter Rechtshängigkeit zu verhindern sei. Um dieses schwierige Problem zu lösen, müssen geeignete Kriterien aufgestellt werden, die Identität oder Teilidentität beider Rechtsstreite zu überprüfen. Hier hat das europäische Prozessrecht bedeutende Fortschritte gemacht und dabei zugleich einen Beitrag zum allgemeinen internationalen Prozessrecht geleistet. Daher ist es unverzichtbar, die vom EuGH entwickelte Theorie zum Streitgegenstand zu analysieren und zu bewerten. Zugleich muss seitens der deutschen Prozesswissenschaft Stellung zur Theorie des EuGH genommen werden, kann doch sowohl ein deutsches Gericht als auch ein Gericht anderer europäischer Länder für einen Rechtsstreit zuständig sein, der einen internationalen Bezug aufweist. Mit anderen Worten: Ein Vergleich zwischen der deutschen nationalen Streitgegenstandslehre und der sog. „Kernpunkttheorie“ des EuGH ist vor diesem Hintergrund unbedingt erforderlich. Die Bedeutung eines solchen Vergleichs beschränkt sich nicht auf Rechtsstreitigkeiten mit internationalem Bezug. Er bietet vielmehr auch den deutschen Prozessualisten die Chance, ihr Verständnis der Problematik des Streitgegenstandes weiter zu ver­tiefen, nationale Positionen zu überdenken und das nationale Prozessrechtssystem zu verbessern.

184

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

Kapitel 11

Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH A. Art. 27 Abs. 1 EuGVVO (Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ) und seine Zielsetzung Art. 27 Abs. 1 EuGVVO (Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ) lautet: „Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts fest­steht.“ Ziel dieser Vorschrift ist vor allem die Vermeidung gegensätzlicher Entscheidungen in den jeweiligen Mitgliedstaaten, da Widersprüchlichkeit der Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung abträglich sein könnte. Die Vorschrift trägt insofern zur Sicherung einer geordneten Rechtspflege in der Gemeinschaft und zur Wahrung des Ansehens der Justiz bei.611 Zudem dient sie den Parteiinteressen dadurch, dass sie den Parteien einen zusätzlichen Zeit- und Kostenaufwand in parallelen Prozessen erspart.612 Schließlich hilft sie – so weit wie möglich –, positive Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten unterschiedlicher Länder und die Verschwendung der knappen judikatorischen Ressourcen infolge einer Verfahrensverdoppelung zu vermeiden.613

B. Die Entstehung der „Kernpunkttheorie“ in den EuGH-Entscheidungen I. Die autonome Auslegung Zur Beurteilung, was unter „demselben Anspruch“ zu verstehen sei, hat Art. 27 EuGVVO keine eindeutigen und festen Kriterien formuliert. Mit anderen Worten: Der Begriff ist auslegungsbedürftig. Zwei Möglichkeiten gibt es für eine Auslegung durch den EuGH und den Gerichten der Mitgliedstaaten. Nach einer Ansicht waren zur Prüfung der Anspruchsidentität die betroffenen nationalen Prozessrechte heranzuziehen.614 Offensichtlich ist der EuGH aber dieser Ansicht nicht ge 611 Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 1; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 152; Geimer, in: Geimer/Schütze, EuGVVO Art. 27, Rn. 1; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, EuGVO Vor Art. 27, Rn. 1; MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., EuGVO Art. 27, Rn. 1. 612 Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 1. 613 Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 5; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 154. 614 Nur wenn die Identität der Streitgegenstände von beiden Rechten anerkannt wird, greift bei dieser Auffassung Art. 27 EuGVVO (Art. 21 EuGVÜ) ein. Vgl. Schütze, RIW 1975, S. 79; Schumann, FS Kralik, S. 312.

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

185

folgt, sondern hat in einer Reihe von Entscheidungen den Begriff „derselbe Anspruch“ einheitlich und autonom ausgelegt. Dies wurde zunächst zwar vielseitig kritisiert,615 heute jedoch ist diese Auslegung weitgehend anerkannt.616 Das lässt sich darauf zurückführen, dass die erstgenannte Ansicht nicht praktikabel ist. Die Auslegung und Anwendung des Begriffs „derselbe Anspruch“ darf sich weder an das Recht des zuerst angerufenen Gerichts617 noch an die Rechte der anderen betroffenen Staaten anlehnen. Da das Verständnis der Rechtshängigkeit und des Umfangs der Rechtshängigkeitssperre in den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten unterschiedlich ist, scheint eine Auslegung unter Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen kaum durchführbar. Selbst wenn sie möglich wäre, würde diese Methode zu einer Verengung des Begriffs der Rechtshängigkeit auf den in den berührten nationalen Prozessrechten gemeinsamen Begriffskern führen. Eine solche uneinheitliche Auslegung müsste Meinungsverschiedenheiten zur Folge haben, die einheitliche Anwendung der EuGVÜ bzw. EuGVVO beeinträchtigen und folglich dem Rechtsfrieden innerhalb Europas schaden. Daher ist eine einheitliche und autonome Auslegung erforderlich. Diese Argumentation kann jedoch nur eine formelle Begründung für die autonome Auslegung des EuGH liefern.618 „Richtige“ Methode bedeutet keinesfalls „richtiges“ Ergebnis. Ob die autonome Auslegung materiell begründet ist, hängt davon ab, ob sie zweckmäßig ist und ihre Aufgabe gut erfüllen kann.619 Es gilt daher, im Folgenden die vom EuGH entwickelte Theorie durch die Darstellung und Analyse einiger relevanter Entscheidungen zu verdeutlichen und zu würdigen.

615 Beispielsweise Wolf, FS Schwab, S. 563 f.; Leipold, GS Arens, S. 233; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 258 f.; Linke, RIW 1988, S. 823. 616 Im Wesentlichen zustimmend: Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, EuGVO Art. 27, Rn. 3; Geimer, in: Geimer/Schütze, EuGVVO Art. 27, Rn. 29; McGuire, Verfahrenskoordination und Verjährungsunterbrechung, S. 85 ff.; Tsikrikas, FS Leipold, S. 354; Stafyla, Die Rechtshängigkeit des EuGVÜ, S. 57 f.; Schack, IPRax 1989, 139 ff.; ders., ZZP 107, S.  295 f.; ders., IPRax 1996, S. 80 ff.; Rüßmann, IPRax 1995, S. 80; Huber, JZ 1995, S. 603 ff.; Gottwald, Ritsumeikan Law Review 2005, S. 40; Nicolaysen, Europarecht, Bd. I, S. 101 ff.; MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., EuGVO, Art. 27, Rn. 6. 617 Leipold, GS Arens, S. 248. 618 Die Zustimmung zur autonomen Auslegung des EuGH gründet sich meistens darauf, dass sie zur einheitlichen Anwendung der EuGVVO beitrage. Beispielsweise haben Geimer/ Schütze darauf hingewiesen, dass die autonome Auslegung eine für die Rechtspraxis sehr wichtige Rechtsvereinheitlichung bringe; weiterhin werde dadurch ein eigener, von den Streitgegenstandsbegriffen der nationalen Prozessordnungen losgelöster, für alle Mitgliedstaaten einheitlich zu bestimmender Verfahrensgegenstandsbegriff geschaffen. Geimer, in: Geimer/Schütze, EuGVVO Art. 27, Rn. 4 f. 619 Zur Beurteilung der Begründetheit der autonomen Auslegung vgl. Pfeiffer, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, S. 71 ff.

186

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

II. „Gubisch/Palumbo“ Der Entscheidung des EuGH vom 8. Dezember 1987 lag folgender Sach­ verhalt zugrunde:620 Die Gubisch Maschinenfabrik KG hatte vor dem Landes­ gericht Flensburg Klage gegen Giulio Palumbo auf Zahlung des Kaufpreises für eine Federhobelmaschine erhoben. Demgegenüber reichte Giolio Palumbo später eine Klage beim Tribunal in Rom auf Feststellung ein, dass sein Auftragsangebot vom 28. September 1974 unwirksam sei; er führte aus, dass er dieses Angebot zurückgenommen habe, bevor es der Gubisch KG zugegangen sei. Hilfsweise berief er sich auf die Nichtigkeit des Kaufvertrags, weil er sich geirrt habe und von der Gubisch KG arglistig getäuscht worden sei. Zudem behauptete er, dass die Gubisch KG die Lieferfrist nicht eingehalten habe, und verlangte, den Vertrag aufzulösen. Dagegen wandte die Gubisch KG – aufgrund der zuvor in Deutschland erhobenen Zahlungsklage – die Unzuständigkeit des italienischen Gerichts ein. Dieser Einwand wurde vom Tribunal zurückgewiesen. Die Gubisch KG legte daraufhin ein Rechtsmittel bei der Corte suprema di cassazione ein, die dem EuGH die Frage vorlegte, wie der Begriff „desselben Anspruchs“ in Art. 21 EuGVÜ auszulegen sei. Der EuGH entschied in autonomer Auslegung, dass die Klage auf Erfüllung des Kaufvertrags und die Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit bzw. Auf­lösung des Vertrags denselben Gegenstand aufwiesen.621 Diese Folgerung entnahm der EuGH der französischen Textfassung des Art. 21 EuGVÜ, in der nicht die Formulierung „derselbe Anspruch“, sondern „derselbe Gegenstand und dieselbe Grundlage des Anspruchs“ (französisch: le même objet et la même cause) verwendet wird. Unter „Grundlage des Anspruchs“ verstand der EuGH den Sachverhalt und die Vorschriften, die die Klage unterstützen können; unter „Gegenstand des Anspruchs“ den Zweck der Klage.622 Im Fall „Gubisch/Palumbo“ waren die Grundlagen beider Klagen identisch, nämlich „dasselbe Vertragsverhältnis“; der Gegenstand beider Klagen war auch derselbe, nämlich die „Wirksamkeit dieses Verhältnisses“. Formell gesehen waren die beiden Klagen unterschiedlich, da die eine die Leistung verlangte und die andere die Feststellung beanspruchte; aber die beiden Prozesse – so der EuGH – hatten denselben „Kernpunkt“.623 Entsprechend

620 EuGH

Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Slg. 1987, Rn. 2–4. Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Slg. 1987, Rn. 10 f., 17. 622 EuGH Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Slg. 1987, Rn. 14 f. 623 Denkbare Fälle, in denen zwei oder mehrere Prozesse denselben Kernpunkt haben, sind etwa: die Restkaufpreisklage und die Klage auf Rückzahlung einer Anzahlung; Fälle, in denen der Kläger seine Forderung splittet und jeweils Teilbeträge in mehreren Mitgliedstaaten einklagt; nur quantitativ verschiedene Klagen; wenn vor dem Gericht eines Mitgliedstaats die Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertrages und vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats die Rückgewähr einer aufgrund dieses Vertrages erbrachten Leistung begehrt wird; wenn der Unternehmer in einem Verfahren auf Feststellung der Wirksamkeit der Kündigung eines Handelsvertretervertrages klagt, während der Handelsvertreter in einem anderen Verfahren 621 EuGH

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

187

kam der EuGH zu dem Schluss, dass das Tribunale in Rom nicht über die später erhobene Feststellungsklage befinden durfte. Bei der Interpretation des Begriffs „derselbe Anspruch“ rückte der EuGH sowohl das Interesse der Parteien als auch das gemeineuropäische Interesse an der Durchsetzung der Verordnung in den Mittelpunkt: Wenn es zur Frage der Wirksamkeit des Kaufvertrags in beiden Prozessen zu gegensätzlichen Ant­worten gekommen wäre, hätten die Parteien damit rechnen müssen, dass die Entscheidung des Gerichts des einen Mitgliedstaates nicht unbedingt von dem anderen Mitgliedstaat anerkannt worden wäre.624 „Im Interesse einer geordneten Rechtspflege in der Gemeinschaft […] [sind] Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Vertragsstaaten und daraus möglicherweise resultierende gegensätzliche Entscheidungen zu verhindern. Diese Regelung soll mithin, soweit wie möglich, von vornherein eine Situation ausschließen, wie sie in Art. 27 Nr. 3 [EuGVÜ] geregelt ist, nämlich die Nichtanerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist.“625 Um die gesetzten Ziele zu erreichen, muss der EuGH den Begriff „desselben Anspruchs“ teleologisch auslegen.626 Von zentraler Bedeutung ist nicht die Wirksamkeit des Vertrags, sondern die Frage, ob die Entscheidungen beider Prozesse miteinander unvereinbar sind.627 Der EuGH vertrat die Ansicht, alle Entscheidungen, die miteinander unvereinbar sind oder sein können, dürften nicht parallel gefällt werden. Entsprechend postulierte er einen weiten Umfang der Rechtshängigkeit: Zur Bestimmung „desselben Anspruchs“ sind die Zwecke der Klagen – oder besser gesagt: die beanspruchten Rechtsfolgen

Schadensersatz- oder Ausgleichsansprüche aus diesem Vertrag geltend macht; wenn im Bereich des unlauteren Wettbewerbs die Parteien jeweils entgegengerichtete Unterlassungsklagen in verschiedenen Mitgliedstaaten erheben. Vgl. Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, Art. 27 ­EuGVO, Rn. 4 ff.; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, E ­ uGVO Art. 27, Rn. 8; ­Geimer, in: Geimer/Schütze, E ­ uGVO Art. 27, Rn. 37, 41; Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 10; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 157; MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., ­­EuGVO, Art. 27, Rn. 7. 624 EuGH Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Rn. 18. 625 EuGH Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Rn. 8. Dazu bemerkt Hess zutreffend: „Das Europäische Zivilverfahrensrecht konzipiert die Rechtshängigkeit als Vorstufe zur Urteilsanerkennung […].“ Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 154. 626 Rüßmann, ZZP 111, S. 406; Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 18. 627 Der EuGH ging von folgender Annahme aus: Wenn die Wirksamkeit des Vertrags in der Leistungsklage angenommen und in der negativen Feststellungsklage abgelehnt wird, besteht die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen, da die Entscheidung der Leistungsklage die Zahlungspflicht des angeblichen Schuldners anerkennen und die Entscheidung der negativen Feststellungsklage demgegenüber diese Pflicht verneinen könnte. Das ist aber nach deutschem Recht nicht zwingend der Fall. Die Festlegung der Unwirksamkeit des Vertrags führt nicht unbedingt dazu, dass das Gericht die Zahlungspflicht des Schuldners ablehnt. Vgl. Rüßmann, ZZP 111, S. 414 f.; Walker, ZZP 111, S. 432 f. Allerdings geht der EuGH nicht von der Vorstellung des deutschen Rechts, sondern von allgemeiner Rechtsanschauung aus.

188

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

der Klagen – heranzuziehen;628 der Wortlaut der Klageanträge und der Unterschied der Klageart sind dabei unerheblich. III. „Tatry/Maciej Rataj“ Bei der Entscheidung des EuGH vom 6. Dezember 1994 ging es um folgenden Sachverhalt:629 Im September 1988 wurde eine Bulkladung Sojaöl, die verschiedenen Eigentümern gehörte, mit dem Schiff „Tatry“, das im Dienste eines polnischen Schifffahrtsunternehmens stand, von Brasilien nach Rotterdam und nach Hamburg befördert. Der Transport wurde auf Rechnung mehrerer Absender durchgeführt, die Eigentümer der Ware waren, und erfolgte mit getrennten, inhaltsgleichen Konnossementen. Bei der Löschung der Ladung beanstandeten diese Eigentümer, dass das Sojaöl beim Transport verunreinigt worden sei. Das Schifffahrtsunternehmen erhob am 18. No­vem­ber 1988 gegen einige Eigentümer der Ladung bei der Arrondissements­recht­bank Rotterdam Klage auf Feststellung, dass es für eine angebliche Verunreinigung der Ladung nicht oder zumindest nicht voll haftbar sei. Am 18. September 1989 und am 26. Oktober 1989 brachte es in den Niederlanden Feststellungsklagen mit denselben Anträgen gegen andere Eigentümer der Ladung ein. Am 15. September 1989 klagten einige Eigentümer vor dem High Court of Justice, Queen’s Bench Division, Admiralty Court, auf Leistung von Schadensersatz („actio in rem“) gegen die „Tatry“ und das Schiff „Maciej R ­ ataj“, das demselben Schifffahrtsunternehmen gehörte. Darüber hinaus reichten die Eigen­tümer der Ladung für den Fall, dass die englischen Gerichte dafür unzuständig seien, am 29. September 1989 und am 3. Oktober 1989 Klagen gegen das Schifffahrtsunternehmen in den Niederlanden ein. Die Beklagte beantragte ihrerseits beim Admiralty Court Klagabweisung, weil dieser wegen den vorher erhobenen negativen Feststellungsklagen in den Niederlanden für den Streit nicht zuständig sei. Dieser Versuch scheiterte, worauf das Schifffahrtsunternehmen beim englischen Court of Appeal Rechtsmittel einlegte. Der Court stellte dem EuGH angesichts dieser Konstellation die Frage, ob es bei diesen negativen Feststellungsklagen und den Klagen auf Schadensersatz um „denselben Anspruch“ im Sinne des Art. 21 EuGVÜ gehe. Der EuGH entschied, dass die Klage, die auf Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz gerichtet war, denselben Anspruch betraf wie die negative Feststellungsklage, die von diesem Beklagten früher erhoben worden war 628 Der EuGH legt besonderen Wert auf die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung des Gerichts eines Staates in einem anderen Staat. EuGH Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Rn. 8. Dies zu realisieren, setzt voraus, dass zwei Entscheidungen, die sich auf denselben Rechtsstreit zwischen denselben Parteien aufgrund desselben Lebenssachverhaltes richten, inhaltlich nicht widersprüchlich sind. Dabei ist die Funktion der Rechtshängigkeits­sperre für die Wahrung der materiellen Rechtskraft der Entscheidung offensichtlich. 629 EuGH Urteil vom 6.12.1994, RS. C-406/92, Rn. 3–20.

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

189

und darauf zielte festzustellen, dass er für diesen Schaden nicht haftbar war.630 Der EuGH gründete seine Auffassung darauf, dass „Grundlage“ und „Gegenstand“ bei diesen Klagen identisch seien. Zweifellos lag den Leistungsklagen und den negativen Feststellungsklagen derselbe Lebenssachverhalt zugrunde. Auf die Frage, ob und inwieweit die Rechtsvorschrift, auf die sich die Klagen stützten, in den Prozessen dieselbe war, gab der EuGH keine deutliche Antwort. Von entscheidender Bedeutung war sein Argument, dass der Zweck der Klagen derselbe sei. Rüßmann bemerkt dazu: „Damit meint er [der EuGH] weder das Rechtsschutzziel (Feststellung, Leistung, Gestaltung) noch den Antrag […].“631 Vielmehr hatte sich der EuGH wieder teleologischer Argumentation bedient, um das gemeinsame Ziel der Klagen festzulegen, und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es in den unterschiedlichen Klagen um denselben Kernpunkt ging, nämlich um die streitige Frage, ob eine Schadensersatzhaftung des Schifffahrtsunternehmens bestand oder nicht. Damit hatte der EuGH seine vorherige Auffassung wiederholt, der zufolge der Unterschied in den Klagearten und im konkreten Inhalt der Anträge bei der Feststellung der Identität des Kernpunktes irrelevant sei. Wie im Falle „Gubisch/Palumbo“ zielten die Auslegung und die Ausführungen des EuGH darauf ab, die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung innerhalb der Mitgliedstaaten der EuGVÜ zu sichern. Unterschiedliche Klagen können denselben Kernpunkt betreffen. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Kläger durch die Prozesse eigentlich konträre Rechtsfolgen verfolgen oder die beanspruchten Rechtsfolgen (nämlich die möglichen Inhalte der Entscheidungen) miteinander unvereinbar sind. IV. „Drouot assurances/CMI industrial sites“ Die Entscheidung des EuGH vom 19. Mai 1998 befasste sich mit f­olgendem Sachverhalt:632 Das Schiff „Sequana“ erlitt im August 1989 in niederlän­dischen Binnengewässern Schiffbruch. Der Versicherer des Schiffes, die „Drouot ­Assurances S. A.“, machte das Schiff auf eigene Kosten wieder flott und ermöglichte dadurch die Bergung der Ladung. Der Eigentümer der Ladung, die „CMI industrial sites“, und der Versicherer der Ladung, das Unternehmen „Protea Assurance“, erhoben im August 1989 vor der Arrondissementsrechtbank Rotterdam eine Klage gegen den Schiffseigentümer Velghe und verlangten die Feststellung des Gerichts, keinen Beitrag zur großen Havarie leisten zu müssen. Im Dezember 1989 brachte der Schiffsversicherer seinerseits eine Klage gegen den Eigentümer und den Ver­sicherer der Ladung beim Tribunal de commerce Paris ein mit dem Antrag, dass die Beklagten einen bestimmten Beitrag zur großen Havarie zu leisten hätten. Gegen diese zweite Klage verwiesen die Beklagten auf die Sperrwir 630 EuGH

Urteil vom 6.12.1994, RS. C-406/92, Rn. 45. ZZP 111, S. 405. 632 EuGH Urteil vom 19.5.1998, RS. C-351/96, Rn. 4–13. 631 Rüßmann,

190

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

kung der Rechtshängigkeit der ersten Klage, und die Cour d’appel Paris erklärte daraufhin in zweiter Instanz die zweite Klage für unzulässig. Auf Beschwerde des Schiffsversicherers legte die französische Cour de Cassation die Auslegungsfrage zu Art. 21 EuGVÜ dem EuGH vor. Es handelt sich in diesem Fall um die Frage, „ob ein später angestrengtes Verfahren über dieselbe Rechtsfolge auch dann nach Art. 21 EuGVÜ ­­ unzulässig ist, wenn es an der formalen Identität der Parteien mangelt.“633 Der EuGH ging in seiner Entscheidung davon aus, dass die Frage, ob der Versicherer und der Versicherungsnehmer als ein und dieselbe Partei im Sinne des Art. 21 E ­ uGVÜ (nunmehr: Art. 27 E ­ uGVO) angesehen werden könnten, in der Tat davon abhänge, ob ihre Interessen hinsichtlich des Gegenstandes beider Rechtsstreitigkeiten so weit übereinstimmten, dass ein Urteil, das gegen den einen ergehe, Rechtskraft gegenüber dem anderen entfalte.634 Wichen ihre Interessen voneinander ab, dürfe ihnen nicht die Möglichkeit genommen werden, ihre jeweiligen Interessen gegenüber den anderen betroffenen Parteien gerichtlich geltend zu machen.635 Im Ergebnis befürwortete der EuGH die Anwendung des Art. 21 ­EuGVÜ(nunmehr: Art. 27 E ­ uGVO), stellte in diesem Fall also nicht auf die formale Personenidentität ab.636 Die Entscheidung erweckt den Eindruck, dass der EuGH bei der Festlegung des Umfangs der Rechtshängigkeit das Gewicht vor allem auf den Einfluss der Rechtskraft der Entscheidung auf die Interessen der Parteien legt. Aus diesem Grund wirkt die Rechtshängigkeitssperrwirkung der ersten Klage gegen die zweite Klage, obwohl es sich in beiden Prozessen um unterschiedliche Parteien handelt. Diese Entscheidung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen.637 Die kritischen Einwände treffen aber nicht zu. Erstens geht es bei dieser Entscheidung eigentlich um eine Ausnahme – der EuGH hatte nicht den Vorsatz, mit dieser Entscheidung eine allgemeine Regel aufzustellen. Grundsätzlich wird der Begriff der Parteiidentität im Sinne von Art. 21 E ­ uGVÜ (nun­mehr: Art. 27 ­EuGVO) vom EuGH eng interpretiert, um die Verkürzung des Justizgewährungsanspruchs zu vermeiden. Zweitens ist es positiv zu sehen, dass auf das Kriterium der formellen Parteiidentität verzichtet wird, wenn eine Rechtskrafterstreckung anzunehmen ist, also dann, wenn nach 633 Wernecke,

Begriff vom Streitgegenstand, S. 41. Urteil vom 19.5.1998, RS. C-351/96, Rn. 19. Vgl. Geimer, in: Geimer/Schütze, ­EuGVO Art. 27, Rn. 13; Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 89; Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 6a. 635 EuGH Urteil vom 19.5.1998, RS. C-351/96, Rn. 20. 636 Es besteht – nach der ständigen Auffassung des EuGH – kein Zweifel daran, dass es in solchen Prozessen um denselben Anspruch im Sinne des Art. 21 ­EuGVÜ geht. Die Lebenssachverhalte in solchen Prozessen sind gleich; die von den Klägern beanspruchten Rechtsfolgen sind gegensätzlich. Die Kernpunkte sind dieselben, nämlich die streitige Frage, ob der Eigen­ tümer und der Versicherer der Ladung zur Leistung eines Beitrags zur großen Havarie verpflichtet sind. 637 Vgl. etwa Geimer, in: Zöller, Art. 27 E ­ uGVO, Rn. 8a, 9; Jayme/Kohler, IPRax 1998, S.  421 f.; Geimer, in: Geimer/Schütze, ­EuGVO Art. 27, Rn. 13. 634 EuGH

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

191

Ersatz des Schadens der Versicherer den Ersatzanspruch des Geschädigten auf sich überleitet oder der Insolvenzverwalter Forderungen des Gemeinschuldners geltend macht. Diese Rechtskrafterstreckung macht eine einheitliche Entscheidung notwendig.638 Dass der EuGH auf die Interessenidentität der Parteien und nicht auf die formelle Identität der Parteien abstellte, hat seine vorherige Vorgehensweise noch einmal bestätigt, nämlich die teleologische und systematische Auslegung des ­EuGVÜ/­EuGVO, um die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gericht­ licher Entscheidungen zu erleichtern und den Rechtsschutz der innerhalb der Gemeinschaft ansässigen Personen zu stärken. V. „Erich Gasser GmbH/MISAT Srl.“ Der Entscheidung des EuGH vom 9. Dezember 2003 lag folgender Sachverhalt zugrunde:639 Die Erich Gasser GmbH hat ihren Sitz in Österreich. Sie verkaufte im Rahmen einer langjährigen Geschäftsbeziehung Kinderbekleidung an die Gesellschaft MISAT Srl. mit Sitz in Italien. Im April 2000 erhob die Gesellschaft ­MISAT Srl. gegen die Erich Gasser GmbH vor dem Tribunale civile e penale Rom Klage auf Feststellung, dass der zwischen ihnen bestehende Vertrag von Rechts wegen aufgelöst sei, hilfsweise, dass der Vertrag wegen Unstimmigkeiten zwischen den beiden Unternehmen aufgelöst worden sei. Sie beantragte ferner beim Tribunale die Feststellung, dass dementspre­chend keine Nichterfüllung von ihrer Seite vorliege, und die Verurteilung der Erich Gasser GmbH wegen Verletzung der Treuepflicht, der Sorgfaltspflicht und des guten Glaubens zum Ersatz des gesamten ihr entstandenen Schadens und zur Erstattung bestimmter Kosten. Im Dezember 2000 erhob die Erich Gasser GmbH beim Landesgericht Feldkirch in Österreich gegen die Gesellschaft M ­ ISAT Srl. Klage auf Begleichung unbezahlter Rechnungen. Die Gesellschaft M ­ ISAT Srl. wandte die Unzuständigkeit des Landesgerichts Feldkirch ein und führte aus, sie habe vor der Klageerhebung durch die Erich Gasser GmbH beim Landesgericht Feldkirch eine auf derselben geschäftlichen Verbindung beruhende Klage beim Tribunale civile e penale Rom erhoben. Am 21. Dezember 2001 setzte das Landesgericht Feldkirch gemäß Art. 21 E ­ uGVÜ das Verfahren von Amts wegen aus. Die Erich Gasser GmbH legte gegen diese Entscheidung Rekurs zum Oberlandesgericht Innsbruck mit dem Antrag ein, die Zuständigkeit des Landesgerichts Feldkirch auszusprechen und das Verfahren nicht auszusetzen. Das Oberlandesgericht Innsbruck führte aus, in diesem Fall liege eine Rechtshängigkeitssperre vor, da die Parteien identisch und Gegenstand und Grundlage des Anspruchs der vor dem österreichischen und dem italienischen Gericht erhobenen Klagen im Sinne von Art. 21 ­EuGVÜ in seiner Auslegung durch den europäischen Gerichtshof gleich seien.

638 Vgl.

Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 158. Urteil vom 9.12.2003, RS. C-116/02, Rn. 12–20.

639 EuGH

192

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

Der EuGH stimmte der Ansicht des Oberlandesgerichts Innsbruck zu, dass es sich in den beiden Prozessen um denselben Anspruch im Sinne des Art. 21. ­EuGVÜ handele. Er wiederholte seine Auffassung zur Feststellung der Identität des Kernpunktes in den vorherigen Entscheidungen und betonte nochmals, dass Art. 21. ­EuGVÜ (nunmehr: Art. 27 ­EuGVO) weit auszulegen sei, um Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Vertragsstaaten und daraus möglicherweise resultierende gegensätzliche Entscheidungen zu verhindern und um die Nicht­ anerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer anderen Entscheidung möglichst zu vermeiden.640 VI. „Mærsk Olie & Gas/Firma M. De Haan en W. De Boer“ Der Entscheidung des EuGH vom 14. Oktober 2004 befasste sich mit folgendem Sachverhalt:641 Im Mai 1985 verlegte Mærsk Olie & Gas eine Öl- und eine Gasleitung in der Nordsee. Im Juni 1985 fischte ein Trawler der Schiffseigen­tümer Firma M. De Haan en W. De Boer in dem Gebiet, in dem die Leitungen verlegt worden waren. Mærsk stellte fest, dass diese beschädigt worden waren, und teilte den Schiffseigentümern mit Schreiben mit, diese seien für die betreffenden Schäden haftbar. Im April 1987 stellten die Schiffseigentümer bei der Arrondissementsrechtbank Groningen (Niederlande) einen Antrag auf Beschränkung ihrer Haftung. Das Gericht erließ im Mai 1987 einen Beschluss, der einen bestimmen Höchstbetrag der Haftung festsetzte und die Schiffseigentümern dazu bestimmte, diese Summe zu hinterlegen. Im Juni 1987 erhob Mærsk beim Vestre Landsret (Dänemark) eine Schadensersatzklage gegen die Schiffs­eigen­tümer. Mit Entscheidung vom 27. April 1988 stellte das Vestre Landsret fest, dass in den Verfahren in den Niederlanden und in Dänemark Identität der Parteien, des Gegenstands und der Grundlage gegeben sei; die Voraussetzungen für die Feststellung der Rechtshängigkeit nach Art. 21 ­EuGVÜ seien damit erfüllt. Entsprechend erklärte sich das Vestre Landsret für unzuständig. Mærsk legte daraufhin Rechtsmittel beim Højesteret ein, welches dem europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegte, ob ein Antrag auf Errichtung eines Haftungsbeschränkungsfonds, den ein Schiffseigentümer beim Gericht eines Vertragsstaats stellt und in dem er den möglichen Geschädigten benennt, und eine von diesem Geschädigten bei einem Gericht eines anderen Vertragsstaats erhobene Schadensersatzklage gegen den Schiffseigentümer Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien im Sinne von Art. 21 ­EuGVÜ darstellten. Der EuGH beantwortete die Frage negativ. Zur Begründung seines Ergebnisses führte er aus, dass drei Voraussetzungen erfüllt sein müssten, damit ein Fall der Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 21 E ­ uGVÜ (nunmehr: Art. 27 E ­ uGVO) vor 640 EuGH 641 EuGH

Urteil vom 9.12.2003, RS. C-116/02, Rn. 49 f. Urteil vom 14.10.2004, RS. C-39/02, Rn. 18–28.

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

193

liege: die Identität des Gegenstandes, der Grundlage und der Parteien beider Prozesse. Zum einen stellte er fest, dass die betreffenden Verfahren offensichtlich nicht denselben Gegenstand hätten. Während die Schadensersatzklage darauf abziele, den Beklagten in Anspruch zu nehmen, solle mit dem Antrag auf Haftungsbeschränkung erreicht werden, dass die Haftung, wenn sie denn ausgelöst sein sollte, auf einen gemäß dem Übereinkommen von 1957 berechneten Betrag beschränkt werde, wobei darauf hinzuweisen sei, dass nach Art. 1 Abs. 7 des Übereinkommens von 1957 die „Geltendmachung der beschränkten Haftung […] keine Anerkennung der Haftung“ bedeute. Zum anderen hätten die betreffenden Verfahren auch nicht dieselbe Grundlage. Selbst unter der Annahme, dass den beiden Verfahren derselbe Sachverhalt zugrunde liege, seien die rechtlichen Regelungen, auf die sich die beiden Klagen stützten, unterschiedlich. Denn die Schadensersatzklage beruhe auf dem Recht der außervertraglichen Haftung, wohingegen der Antrag auf Errichtung eines Haftungsbeschränkungsfonds das Übereinkommen von 1957 und die niederländischen Rechtsvorschriften, mit denen es umgesetzt wird, zur Grundlage habe.642 Aufgrund des Ergebnisses seiner Prüfung kam der EuGH zum Schluss, dass es bei den beiden Verfahren nicht um denselben Anspruch im Sinne des Art. 21 E ­ uGVÜ (nunmehr: Art. 27 E ­ uGVO) gehe.643

C. Inhalt der Kernpunkttheorie I. Voraussetzungen für die Berücksichtigung der ausländischen Rechtshängigkeit nach Art. 27 ­EuGVO In den Fällen, die sich auf die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO beziehen, hat der EuGH seine Entscheidungen unter pragmatischen und empirischen Gesichtspunkten gefällt.644 Er wollte dabei keine vollständige und gut begründete Lehre ent­ wickeln.645 Dennoch hat er in all diesen Entscheidungen an seiner ursprünglichen Auffassung grund­sätz­lich festgehalten und in gewissem Sinne einige ständige Kriterien entwickelt. Auf der Grundlage der obigen Darstellung und der Analyse der entsprechenden Urteile des EuGH soll im Folgenden untersucht werden, welche

642 EuGH

Urteil vom 14.10.2004, RS. C-39/02, Rn. 35–39. stimmt die Literatur dieser Entscheidung des EuGH zu. Vgl. Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 10; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, ­EuGVO Art. 27, Rn. 6; Reinmüller, Internationale Rechtsverfolgung, Rn. 356; Tsikrikas, FS Leipold, S. 353. Bemerkenswert ist aber: Dieses Ergebnis steht der Anwendung des Art. 22 ­EuGVÜ grundsätzlich nicht entgegen. Denn diese Klagen sind so eng miteinander verbunden, dass sie als im Zusammenhang stehend im Sinne von Art. 22 Abs. 3 E ­ uGVÜ anzusehen sind, so dass das später angerufene Gericht die Entscheidung aussetzen könnte. Vgl. EuGH Urteil vom 14.10.2004, RS. C-39/02, Rn. 40. 644 Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 91; von Arx, Streitgegenstand, S. 196. 645 Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 201 ff. 643 Grundsätzlich

194

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

Kriterien als Voraussetzungen für eine Anwendung des Art. 27 E ­ uGVO aufgestellt werden können. 1. Identität des Lebenssachverhaltes Ob eine später erhobene Klage wegen einer vorher anhängig gemachten Klage ausgesetzt werden soll, hängt von vielen Kriterien ab. Grundlegend ist, ob die beiden oder mehrere Klagen sich auf denselben – weit verstandenen – Lebenssachverhalt beziehen.646 Dabei ging der EuGH nicht von materiellrechtlichen Normen eines Mitgliedstaates aus,647 sondern davon, dass zum Lebenssachverhalt grundsätzlich alle Tatsachen gerechnet werden müssen, die bei einer natürlichen Betrachtungsweise zu dem Tatsachenkomplex gehören, durch den der Grund und der Inhalt des Rechtsstreites zwischen beiden Parteien ermittelt werden können. Die Identität des Lebenssachverhaltes ist die sachliche Grundlage für die Identität des Rechtsstreites.648 Diese weite Definition des Sachverhaltes zielt darauf, es möglichst zu vermeiden, dass ein und derselbe Rechtsstreit zwischen beiden Parteien in unterschiedlichen Prozessen behandelt wird. Entsprechend dient diese Vorgehensweise dem Ziel des Art. 27. E ­ uGVO, nämlich der Vermeidung unverein­barer Entscheidungen zu demselben Rechtsstreit und der Verfahrenskonzentration.649 2. Identität der Parteien Nach Art. 27 E ­ uGVO müssen die Klagen zwischen „denselben Parteien“ anhängig sein.650 Auf die Parteistellung als Kläger oder Beklagter kommt es dabei nicht an.651 Von der Parteiidentität ist im Prinzip auszugehen, wenn an beiden Verfahren dieselben Personen beteiligt sind.652 Es wird auch vorgeschlagen, für die Parteiidentität darauf abzustellen, ob es – unabhängig von den Streitparteien – um die

646 Vgl. die Entscheidung zum Fall „Gubisch/Palumbo“, in der der EuGH unter der „Grundlage des Anspruchs“ den Sachverhalt und die Vorschriften, die die Klage stützen, versteht. EuGH Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Slg. 1987, Rn. 14 f. 647 Daran zeigt sich der Ansatz des EuGH, den Gegenstand von Klagen prozessual zu verstehen und abzugrenzen. Dies wird noch deutlicher, wenn es um seine Auffassung zu „demselben Anspruch“ geht. 648 Der Sachverhalt ist der sachliche Klagegrund; er begründet den sachlichen Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Klagen. 649 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 19, 21. 650 Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit, S. 161; Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 146; Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 6; MünchKomm/ Gottwald, 3. Aufl., ­EuGVO Art. 27, Rn. 13; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, ­EuGVO Art. 27, Rn. 4; Geimer, in: Geimer/Schütze, E ­ uGVO Art. 27, Rn. 12. 651 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 158. 652 Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 6 (m. w. Literaturhinweisen).

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

195

Befriedigung desselben Interesses geht.653 Der EuGH lehnt diesen Vorschlag aber grundsätzlich ab. Mit anderen Worten wird die Identität der Parteien formal bestimmt.654 Irreführend ist die Entscheidung des EuGH im Fall „Drouot assurances/ CMI industrial sites“, in der Versicherer und Versicherungsnehmer als ein und dieselbe Partei im Sinne des Art. 27 ­EuGVO angesehen werden, weil ihre Interessen weitgehend übereinstimmen. Diese Entscheidung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen, da „sie den Anwendungsbereich des Art. 27 über Gebühr ausdehnt und außerdem ohne Not den zwar formalen, aber rechtssicheren Parteibegriff zu Gunsten deutlich weniger trennscharfen Kriterien aufgibt“.655 Die Kritik geht hier jedoch zu weit. In dieser konkreten Fallkonstellation ging der EuGH von Folgendem aus: „Wären sowohl die Klage des Versicherers, als auch die Klage (des Ladungseigentümers und seines Versicherers) gegen dessen Versicherungsnehmer von Erfolg gekrönt, so folgt daraus, dass die beiden befassten mitgliedstaatlichen Gerichte die materiellrechtliche Frage nach dem durch den Versicherungsnehmer ausgelösten Haftungsbeitrag konträr beantwortet haben müssen.“656 Um die unvereinbaren Entscheidungen zu verhindern und die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidungen zu sichern, sah sich der EuGH in diesem Fall gezwungen, die Parteiidentität autonom und weit auszulegen. Er wollte damit aber nicht grundsätzlich von seiner vorherigen ständigen Auffassung zur Parteiidentität abrücken. Im Prinzip setzt die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO voraus, dass es in beiden oder mehreren Klagen um dieselbe Personen geht.657 3. „Derselbe Anspruch“ Das wesentliche Kriterium für die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO ist die sog. Identität des Anspruchs beider Klagen. Die Frage, was nach dem EuGH eigentlich unter „demselben Anspruch“ zu verstehen sei, ist nach Ansicht der Prozessualisten unterschiedlich zu beantworten. Zur Festlegung von „demselben Anspruch“ wer 653 Vgl.

Otto, Die subjektiven Grenzen, S. 203 ff., 272 ff., 308 ff. 3. Aufl., ­EuGVO Art. 27, Rn. 13; Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 146. 655 Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 6a (m.w. Literaturhinweisen). 656 Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 280. Vgl. auch Rechberger/Simotta, österreichisches Zivilprozessrecht, S. 200, Fn. 19. 657 So führte beispielsweise die (persönlich) gegen einen deutschen Künstler in Italien erhobene Klage nicht zur Aussetzung des von seiner GmbH geführten Rechtsstreites in Deutschland (OLG Karlsruhe v. 12.12.2007 – 6 U 63/07); sind an dem einen Rechtsstreit nur einige Streitgenossen des anderen Rechtsstreites beteiligt, so greift Art. 27 ­EuGVO nur hinsichtlich der an beiden Prozessen beteiligten Streitgenossen ein (EuGH, RS. C-406/92); es fehlt auch an der Parteiidentität, wenn vor deutschen Gerichten auf Kindesunterhalt durch das Kind selbst aus eigenem Anspruch geklagt wird und im Verfahren vor italienischen Gerichten die Mutter als Gläubigerin und Klägerin auftritt. Vgl. Reinmüller, Internationale Rechtsverfolgung, Rn. 357; Geimer, in: Geimer/Schütze, ­EuGVO Art. 27, Rn. 12; Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 6. 654 MünchKomm/Gottwald,

196

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

den folgende denkbaren Kriterien aufgestellt: (1) derselbe klägerische Anspruch; (2) derselbe Lebenssachverhalt; (3) dieselben materiellrechtlichen Vorschriften; (4) dasselbe Rechtsverhältnis zwischen beiden Parteien; (5) dasselbe Klageziel. Das erste Kriterium orientiert sich an der deutschen nationalen Streitgegenstandslehre, in der der klägerische Anspruch für die Beurteilung der Streit­ gegenstandsidentität maßgebend ist. Der EuGH hat offensichtlich diesen Vorschlag abgelehnt. Er ist der Ansicht, dass der konkrete Unterschied zwischen den Rechtsbegehren der Klagen und der Unterschied zwischen den Rechtsschutz­ formen für die Festlegung „desselben Anspruchs“ irrelevant sind. Daran lässt sich erkennen, dass der EuGH dem subjektiv bestimmbaren Kriterium des nationalen Prozessrechts nicht folgen will und eher nach einem objektiven Kriterium sucht. Auch das zweite Kriterium akzeptiert der EuGH nicht. Der Lebenssachverhalt begründet nur die sachliche Grundlage für die Identität des Streites, zur Ermittlung seines Inhalts kann er aber nicht beitragen. Es ist möglich, dass die beiden Parteien aufgrund desselben weit verstandenen Lebenssachverhaltes jeweils eine Klage erheben, in diesen Klagen aber voneinander völlig unterschiedliche Rechtsfolgen­ behauptungen aufgestellt werden. Dieses Kriterium bleibt insofern unscharf und ist daher nicht sachgemäß. Das dritte Kriterium kann ebenfalls nicht überzeugen. Orientiert man sich bei der Festlegung der Identität des Rechtsstreites an materiellrechtlichen Vorschriften, stellt sich vor allem die Frage, welche Normen heranzuziehen sind. Die materiellrechtlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Würde nur dann wegen internationaler Rechtshängigkeit eine Klage eine andere, spätere Klage verhindern, wenn es in beiden Prozessen um die Anwendung der gleichen materiellrechtlichen Normen geht, würde dies den Umfang der Sperrwirkung der internationalen Rechtshängigkeit erheblich und in ungerechtfertigter Weise beschränken. Dem EuGH zufolge ist für die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO allein entscheidend, ob die Anwendung der materiellrechtlichen Normen zu unvereinbaren Ergebnissen führen kann,658 und nicht, ob die in den Prozessen angewandten Normen dieselben sind.659 Dem vierten Kriterium ist meines Erachtens zuzustimmen. Die Ermittlung und Würdigung des Verhältnisses zwischen beiden Parteien sind eines der wichtigsten 658 Nämlich:

ob es in beiden Klagen um dieselbe materielle Fragestellung geht. Stafyla, Die Rechtshängigkeit des ­EuGVÜ, S. 23, 72; Rechberger/Simotta, öster­ reichisches Zivilprozessrecht, Rn. 398; Lenenbach, EWS 1995, S. 364; Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 48 f. Dagegen sind Wernecke und von Arx der Ansicht, dass der EuGH bei der Auslegung von „demselben Anspruch“ die materiellrechtlichen Normen herangezogen hat. Vgl. Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 63; von Arx, S. 192. Für die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO nimmt Hess an, dass die Identität der „anzuwendenden Anspruchsgrundlagen“ („streitgegenständlichen Rechts­fragen“) von Relevanz ist. Dabei hat er sich aber darüber, ob die Identität der materiellrechtlichen Vorschriften vorausgesetzt ist, nicht deutlich geäußert. Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 156.

659 Vgl.

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

197

Anliegen des Prozesses und die Grundlage für die Zuweisung eines Rechts sowie einer Pflicht im Urteil. Obwohl die genaue rechtliche Qualifikation dieses Verhältnisses in den Mitgliedstaaten unterschiedlich sein kann, muss festgestellt werden, ob zwischen beiden Parteien ein bestimmtes Rechtsverhältnis besteht, und wenn ja muss ermittelt werden, was der konkrete Inhalt dieses Rechtsverhältnisses ist. In der Tat gehen die Klagen der einen und der anderen Partei häufig um den Streit darüber, welches Rechtsverhältnis zwischen ihnen besteht; dieser Streit stellt den inneren Zusammenhang der von denselben Parteien erhobenen Klagen dar. Wenn man das zweite und vierte Kriterium, nämlich die Identität des Lebenssachverhaltes und des Rechtsverhältnisses, im Zusammenhang sieht, schafft man die sach­ liche und rechtliche Grundlage für eine weit verstandene internationale Rechtshängigkeit. Die Verbindung der beiden Kriterien gilt daher als objektiver Prüfstein für die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO. Das fünfte Kriterium wird vom EuGH gebraucht und spielt in seinen Entscheidungen eine wichtige Rolle. Es besagt nicht, dass die wechselseitigen Ansprüche in zwei oder mehreren Klagen dasselbe Ziel verfolgen, sondern es geht darum, ob die Rechtsfolgenbehauptungen der Klagen unvereinbar oder sogar konträr sind.660 Wenn die Ziele der Klagen nicht parallel realisiert werden können, kann es zu unvereinbaren Entscheidungen kommen. Um die Rechtskraftskollision möglichst zu vermeiden, befürwortet der EuGH – aus teleologischer Perspektive – die An­ wendung des Art. 27 E ­ uGVO, wenn die Ziele der Klagen teilweise oder völlig widersprüchlich sind. Daher ist diesem Kriterium grundsätzlich zuzustimmen. Seine Auslegung und Anwendung sollen dazu führen, die Anerkennung und Voll­ streckung der Entscheidungen innerhalb der Mitgliedstaaten zu gewährleisten und dadurch die Effizienz und das Ansehen der europäischen Justiz zu wahren. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Wenn aufgrund desselben Lebens­ sachverhaltes die verschiedenen Klagen im Kern um denselben Streit über Rechtsfolgen gehen, handelt es um „denselben Anspruch“ im Sinne des Art. 27 ­EuGVO.661 II. Wesen des „Kernpunktes“ In seinen Entscheidungen über die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO hat der EuGH Begriffe wie „Anspruch“, „Gegenstand“ und „Kernpunkt“ nicht definiert; auch befasst er sich nirgendwo mit ihrer Unterscheidung oder Gleich­setzung von ihnen. Aus dem Kontext der Entscheidungen lässt sich aber ersehen, dass der EuGH diese Begriffe grundsätzlich mehr oder weniger mit gleicher Bedeutung verwendete. Meines Erachtens ist der Begriff „Kernpunkt“ den anderen vor 660 Stafyla, Die Rechtshängigkeit des E ­ uGVÜ, S. 21 f. Mit anderen Worten hängt die Anwendung des Art. 27 ­EuGVO davon ab, ob die von den Entscheidungen zugewiesenen materiellen Rechtslage (oder: die Prozessergebnisse) widersprüchlich sind. 661 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 19.

198

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

zuziehen.662 Nachdem die Kriterien zu „demselben Anspruch“ dargelegt worden sind, geht es im Folgenden darum, das Wesen des „Kernpunktes“ („desselben Anspruchs“) zu analysieren. Es gibt mindestens zwei Arten von Fällen, in denen die Entscheidungen zweier Klagen denselben Kernpunkt haben. In der ersten Fallgruppe widersprechen die von den Klägern beanspruchten Rechtsfolgen einander direkt. In diesem Fall sind die Gegenstände beider Klagen als identisch anzusehen. Die Identität des Kernpunktes in dieser Fallkonstellation ist relativ leicht zu erkennen. Demgegenüber lässt sich in der zweiten Fallgruppe ein unmittelbarer Widerspruch zwischen den beanspruchten Rechtsfol­gen nicht erkennen. Dies wird durch das folgende Beispiel veranschaulicht: Der Leistungsanspruch des angeblichen Gläubigers kommt in der von ihm erhobenen Leistungsklage zum Ausdruck, während die Unwirksamkeit des Schuldverhältnisses in der vom angeblichen Schuldner erhobenen negativen Feststellungsklage behauptet wird. Diese negative Feststellungsklage zielt häufig darauf, den Leistungsanspruch des Gegners zu hindern, da – nach den materiellen Rechten einiger Staaten – die Wirksamkeit des Schuldverhältnisses die Voraussetzung der Leistungspflicht ist. In diesem Fall widersprechen sich die Prozessergebnisse der Leistungsklage und der negativen Feststellungsklage zwar nicht unmittelbar, aber ein potenzieller Konflikt der Entscheidungen besteht insofern, als die Zuweisungen von Recht und Pflicht derselben Parteien in den beiden Entscheidungen in der Tat nicht parallel durchgeführt werden können. Nach der Zielsetzung des Art. 34 Nr. 3 ­EuGVO ist jedoch diese Situation zu vermeiden. Daher kann festgelegt werden: Wenn in zwei oder mehreren Klagen Streit über das grundlegende Rechtsverhältnis zwischen beiden Parteien besteht, soll der Art. 27 E ­ uGVO angewandt werden, um widersprüchliche Entscheidungen zu diesem Verhältnis zu vermeiden. In seinen Entscheidungen nahm der EuGH an, dass Fragen wie „die Wirksamkeit des Kaufvertrags“ oder „die Schadensersatzpflicht einer Partei“ gemeinsamer Kernpunkt der Klagen sind.663 Nach deutschem Recht ist der Kernpunkt in diesem Fall zwar Gegenstand der negativen Feststellungsklage, aber nur präjudizielles Element der Leistungsklage.664 Wenn eine Zwischenfeststellungsklage vom Leistungskläger oder eine Zwischenfeststellungswiderklage vom Leistungs­beklagten 662 Der Begriff „Anspruch“ ist mehrdeutig; mit ihm kann man die materiellrechtliche Grundlage, den prozessualen Anspruch oder einen Teil des klägerischen Anspruchs bezeichnen. Die Verwendung des Begriffs „Gegenstand“ ist irreführend, da eine Rechtshängigkeitssperrwirkung begründet werden kann, obwohl die Gegenstände beider Verfahren nicht identisch sind. Mit dem Begriff „Kernpunkt“ wird die Besonderheit der internationalen Rechtshängigkeit deutlich gemacht: Die Identität der Kernpunkte in beiden Verfahren führt dazu, die später er­ hobene Klage auszusetzen. 663 EuGH Urteil vom 8.12.1987, RS. 144/86, Slg. 1987, Rn. 16; EuGH Urteil vom 6.12.1994, RS. C-406/92, Rn. 44 f. 664 Rüßmann, ZZP 111, S. 415; Stafyla, Die Rechtshängigkeit des ­EuGVÜ, S. 19, 21; Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 143.

Kap. 11: Die „Kernpunkttheorie“ des EuGH

199

nicht erhoben wird, erwächst die gerichtliche Feststellung im Rahmen einer Entscheidung über die Leistungsklage zu Fragen wie „die Wirksamkeit des Vertrags“ oder „die Schadensersatzhaftung des angeblichen Schuldners“ nach deutscher Prozessrechtsdogmatik nicht in Rechtskraft. Daher können die deutschen Gerichte im Einzelfall unterschiedliche Antworten zu solchen Fragen geben. Die widerspruchsfreie Entscheidung in Deutschland setzt die gleiche Beantwortung solcher Fragen streng genommen also nicht voraus; daher gelten sie auch nicht als Kernpunkt zweier oder mehrerer nationaler Verfahren. Demgegenüber nimmt der EuGH im Prinzip an, die unterschiedlichen Antworten zu solchen Fragen könnten dazu führen, dass die Ergebnisse der Gerichte zur Frage der Leistungspflicht des angeblichen Schuldners potenziell widersprüchlich sind, was dann Anlass zu einer Verweigerung der Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung innerhalb der Mitgliedstaaten geben kann. Um das grundlegende Ziel der ­EuGVO zu erreichen, eine geordnete Rechtspflege in Europa zu sichern, hat der EuGH mit Recht hervorgehoben, dass abweichende Urteile der Gerichte zu präjudiziellen Fragen nicht möglich sein sollen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der gemeinsame Kernpunkt zweier oder mehrerer Klagen sowohl in den konträren Rechtsfolgenbehauptungen beider Parteien als auch in der Kontroverse zum grundlegenden Rechts­verhältnis zwischen ihnen bestehen kann. Dadurch werden sowohl eine offensichtliche als auch eine potenzielle Unvereinbarkeit der Entscheidungen vermieden. Bei der Auslegung und Anwendung des Art. 27 E ­ uGVO legt der EuGH das Gewicht auf die Identität des Kernpunktes der Klagen. Wie die Darstellung zur zweiten Fallgruppe gezeigt hat, setzt die Identität des Kernpunktes aber identische klägerische Anträge nicht voraus. Unterschiede der Rechtsschutzform oder des konkreten Inhalts des Antrags sind daher bei der Anwendung der Kernpunkttheorie irrelevant.665 Anzumerken ist, dass der EuGH in seinen Entscheidungen nicht den Begriff „Streitgegenstand“ gebrauchte und keine Lehre vom Streitgegenstand entwickeln wollte.666 Wenn die Kernpunkte der Verfahren identisch sind, ist es nach Art. 27 ­EuGVO verboten, solche Verfahren parallel durchzuführen. Dabei nimmt der EuGH weder an, dass diese Verfahren denselben Streitgegenstand haben, noch ist er der Ansicht, dass diese Verfahren im Wesentlichen identisch sind. Vielmehr betrifft die Identität des Kernpunktes zwei Arten von Fällen, nämlich die Identität und die Teilidentität des Streitgegenstandes.667

665 MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., ­EuGVO Art. 27, Rn. 7; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, ­EuGVO Art. 27, Rn. 8; Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 8. 666 Heiderhoff, Diskussionsbericht zu Streitgegenstandslehre und EuGH, ZZP 111, S. 455, 457. 667 Sowohl die Identität als auch die Teilidentität des Streitgegenstandes der Klagen mögen zu unvereinbaren Entscheidungen führen können. Daher soll die parallele Durchführung von Prozessen, deren Gegenstände völlig oder teilweise identisch sind, vermieden werden.

200

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

D. Zielsetzung und Begründung der Kernpunkttheorie Der EuGH hat zur Begründung seiner Auffassung angeführt, dass die Aus­legung und Anwendung des Art. 21 dem Zweck des ­EuGVÜ gerecht werden sollen. Es ist vornehmliches Ziel des ­EuGVÜ, die Situation des Art. 27 Nr. 3 ­EuGVÜ weitestgehend zu vermeiden. Die Gefahr von widersprüchlichen Entscheidungen besteht nicht nur in den Fällen, in denen die Gegenstände von Prozessen völlig identisch sind; vielmehr ist ein potenzieller Entscheidungskonflikt bereits gegeben, wenn die Gegenstände von Prozessen teilidentisch sind. Daher ist vor diesem Hintergrund der Begriff der „Anspruchsidentität“ teleologisch und weit auszu­legen: Beruhen die Klagen derselben Parteien auf demselben weit verstandenen Lebenssachverhalt und verfolgen sie den gleichen Zweck, dann ist von Anspruchs­identität auszugehen.

Kapitel 12

Vergleich zwischen der Kernpunkttheorie und der deutschen Streitgegenstandslehre Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

A. Notwendigkeit des Vergleichs Nach Inkrafttreten des ­EuGVÜ haben die deutschen Gerichte bei unterschiedlichen Konstellationen in der Tat zwei voneinander unterschiedliche „Streit­ gegenstandstheorien“ angewandt. Dies lässt sich insbesondere beim Problem der Rechtshängigkeit veranschaulichen. Wenn zwei Klagen, deren Streitgegenstände identisch sind, bei zwei inländischen Gerichten rechtshängig gemacht werden, ist die deutsche nationale Streitgegenstandstheorie heranzuziehen; die anzuwendende prozessrechtliche Norm ist § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Sind zwei Klagen mit dem­ selben Streitgegenstand bei einem deutschen Gericht und einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates des ­EuGVÜ (nunmehr: der ­EuGVO) rechtshängig, soll die zur Anwendung des Art. 21 E ­ uGVÜ (nunmehr: Art. 27 E ­ uGVO) entwickelte Kernpunkttheorie des EuGH angewandt werden. Die deutsche nationale Streitgegenstandslehre wird von den Prozessualisten seit Langem sorgfältig entwickelt und verfeinert. Sie gilt als eine Besonderheit des Prozessrechts des deutschen Rechtskreises. Offensichtlich hat der EuGH sich bei der Lösung des Problems der internationalen Rechtshängigkeit der deutschen Streit­ gegenstandslehre nicht angeschlossen. Wie die Ausführungen im voran­gehenden Paragraphen gezeigt haben, weicht die Kernpunkttheorie vielmehr in vielen Punkten von der deutschen Lehre ab. Entsprechend dürfte sich die wissenschaftliche Diskussion um die Fragen drehen, ob die beiden Theorien sich wesentlich unterscheiden, wo diese Unterschiede liegen, ob sie bzw. ihre Folgen abgemildert oder sogar beseitigt werden können und ob sich die deutsche Streitgegenstandslehre an die Kernpunkttheorie anlehnen oder ob die deutsche Prozessualistik an ihrer eige-

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

201

nen Lehre festhalten soll.668 Angesichts der Bedeutung dieser Fragen für die prozessrechtliche Theorie und Praxis wird im Folgenden versucht, auf der Basis eines Vergleichs beider Theorien Antworten zu finden.

B. Inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Lehren I. Unterschiedliche Tragweite Obwohl es in Deutschland zahlreiche Theorien zum Streitgegenstand gibt, wird allgemein anerkannt, dass die Struktur einer Streitgegenstandstheorie sich vor allem an der Lösung vier prozessualer Probleme orientieren sollte: der Klageänderung, der Klagenhäufung, der Rechtshängigkeitssperre und der materiellen Rechtskraft.669 Die deutschen Prozessualisten sind der Ansicht, eine vernünftige Streitgegenstandslehre müsse zum einen den Inhalt eines Verfahrens festlegen670 und zum anderen das Verhältnis eines Verfahrens zu anderen Verfahren erklären können671. Dies zeigt deutlich, dass durch die Gestaltung der Streitgegenstandslehren versucht wird, eine systematisch und dogmatisch saubere Lösung für einige grundlegende Probleme des nationalen Prozessrechts zu erarbeiten. Demgegenüber versucht der EuGH bei der Entwicklung seiner Kernpunkt­ theorie mit Hilfe der Auslegung des Art. 21 ­EuGVÜ (nunmehr: Art. 27 E ­ uGVO) die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen innerhalb der Mitgliedstaaten möglichst umfassend zu gewährleisten. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er den Begriff „desselben Anspruchs“ weit ausgelegt, damit parallele Prozesse mit demselben Kernpunkt vermieden werden können. Die Kernpunkttheorie zielt daher offensichtlich darauf ab, eine geeignete Lösung für das Problem der internationalen Rechtshängigkeit zu finden.672 Der EuGH hat nicht versucht, eine 668 Insbesondere im Gefolge der Häufung von Entscheidungen des EuGH in Bezug auf die Anwendung des Art. 27 E ­ uGVO ist es für die deutschen Prozessualisten unumgängliche Aufgabe, die Kernpunkttheorie zu würdigen und sie mit der nationalen Streitgegenstandstheorie zu vergleichen. 669 Hierin besteht zwischen einheitlichen und variablen Streitgegenstandstheorien kein Unterschied: Sie gehen beide davon aus, dass die Streitgegenstandslehre von grundlegender Bedeutung für diese vier Fragenbereiche zu sein habe. 670 Damit wird auch die Grenze der richterlichen Entscheidungsbefugnis festgelegt. Böhm, FS Kralik, S. 83 ff. bezeichnet dies als „verfahrensinterne bzw. innerprozessuale“ Abgrenzungsfunktion. 671 Von entscheidender Bedeutung ist die Frage, ob in zwei Prozessen derselbe Rechtsstreit behandelt wird und insofern die später erhobene Klage unzulässig ist. Das nennt Böhm, FS Kralik, S. 83 ff. die „verfahrensexterne bzw. außerprozessuale“ Abgrenzungsfunktion. 672 Allerdings hat der EuGH bei der Lösung des Problems der Rechtshängigkeit das Problem der materiellen Rechtskraft berücksichtigt. Sein Ausgangspunkt ist die Vermeidung unvereinbarer Entscheidungen. Zur Festlegung des Umfangs der materiellen Rechtskraft geht er deshalb von den prozessrechtlichen Vorschriften der jeweiligen Mitgliedstaaten aus; weder die E ­ uGVO noch der EuGH strebt danach, eine einheitliche Regelung zum Umfang der materiellen Rechtskraft für alle Mitgliedstaaten zu schaffen; Walker, ZZP 111, S. 450.

202

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

umfassende Lehre über den Gegenstand internationaler Rechts­streitigkeiten zu begründen. Seine Vorgehensweise bei der Entwicklung der Kernpunkttheorie, die von den nationalen Gerichten gestellten Fragen kasuistisch-empirisch zu beantworten, macht deutlich, dass eine systematische Streitgegenstandslehre von ihm nicht zu erwarten ist. Im Vergleich zu der dogmatischen Vorgehensweise der deutschen Prozessualistik hat der EuGH seine Theorie zur internationalen Rechts­ hängigkeit auf sehr pragmatischer Basis entwickelt. II. Wesentlicher Unterschied: Klägerischer Antrag und „Kernpunkt“ Nach der in Deutschland überwiegend vertretenen Ansicht wird der Streitgegenstand eines Verfahrens durch den klägerischen Antrag und den Lebenssachverhalt bestimmt, der zur Abgrenzung und Begründung des klägerischen Antrags dient. Der klägerische Antrag ist das Kernstück des Prozesses: Der Inhalt dieses Antrags legt den Inhalt des Prozesses fest, und die Anzahl der Anträge bestimmt die Anzahl der Streitgegenstände. Wenn derselbe Kläger gegenüber demselben Beklagten mit identischem oder teilidentischem Antrag zwei Klagen erhebt, wird die später erhobene Klage als unzulässig abgewiesen.673 Im Gegensatz dazu erkannt der EuGH die internationale Rechtshängigkeitssperre an, wenn die „Kernpunkte“ von zwei oder mehreren Prozesse identisch sind.674 Wie gezeigt, unterscheiden sich „Kernpunkt“ und klägerischer Antrag wesentlich im Hinblick auf ihren Inhalt und ihre Natur. Dieser grundlegende Unterschied beider Theorien bedingt die folgenden konkreten Unterschiede. 1. Die Bedeutung des konkreten Inhaltes des klägerischen Antrags Nach deutschem Recht bestimmt der klägerische Antrag den Inhalt des Streitgegenstandes. Die Identität oder Teilidentität des Streitgegenstandes begründet den Rechtshängigkeitseinwand des Beklagten gegen die später erhobene Klage. Insofern ist nach nationalem Recht der konkrete Inhalt des klägerischen Begehrens maßgebend für das Problem der Rechtshängigkeit: Ändert sich der Inhalt des Antrags, ändert sich der Umfang der Rechtshängigkeitssperrwirkung. Anders verhält es sich nach der Kernpunkttheorie des EuGH in „europäischen“ Fällen. Der konkrete Unterschied des Inhalts der klägerischen Anträge ist nicht von entscheidender Bedeutung; vielmehr hängt die Sperrwirkung der Rechtshängigkeit davon ab, ob die Kernpunkte beider Klagen identisch sind. Es ist nicht selten, dass zwei im Hinblick auf die klägerischen Anträge unterschiedliche Klagen denselben Kernpunkt haben. 673 Rosenberg/Schwab/Gottwald, 674 Nieroba,

ZPR, § 98, Rn. 18 ff. Die Rechtshängigkeit nach der E ­ uGVO, S. 142 f.

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

203

2. Die Bedeutung der Rechtsschutzform Der Unterschied zwischen der nationalen und europäischen Theorie zeigt sich besonders deutlich in der Frage, ob die Rechtschutzform für das Problem der Rechtshängigkeit von Bedeutung ist. Nach der herrschenden Lehre in Deutschland gilt die klägerische Wahl der Rechtsschutzform als unentbehrlicher Teil des vom Kläger bestimmten Streitgegenstandes. Demgemäß spielt die Klageart eine Rolle beim Problem der Rechtshängigkeit. So schließt eine negative Feststellungsklage eine nachfolgende Leistungsklage nicht aus; eine Leistungsklage hat aber Sperrwirkung gegenüber der nachfolgenden negativen Feststellungsklage, weil der Streitgegenstand der Leistungsklage den Streitgegenstand der negativen Feststellungsklage in gewisser Weise umfasst. Bei der Festlegung „desselben Anspruchs“ nach der Kernpunkttheorie spielt die Rechtsschutzform hingegen keine Rolle. Die Rechtsschutzform ist kein Element des Kernpunktes; sie wird ausgeklammert, um so einen weiten Umfang der internationalen Rechtshängigkeit begründen zu können. So haben beispielsweise eine Kaufpreisklage und eine Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit des Kaufvertrags, eine Klage auf Schadensersatz und eine Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der Schadensersatzhaftung usw. denselben Kern­punkt. Entsprechend sperrt die früher erhobene negative Feststellungsklage die spätere Leistungsklage.675 3. Die Bedeutung der Parteirolle Im deutschen Recht wird zwar grundsätzlich die Ansicht vertreten, dass die Parteirolle bei der Festlegung der Rechtshängigkeitssperrwirkung unerheblich sei.676 In Wirklichkeit kommen aber häufig Fälle vor, in denen bei vertauschter Parteirolle die klägerischen Anträge in den verschiedenen Prozessen nicht dieselben sind. In diesen Fällen wird angesichts dieser unterschiedlichen Anträge kein Rechts­ hängigkeitssperrwirkung begründet.677 Dementsprechend hat die Parteirolle eine bestimmte Bedeutung beim Problem der Rechtshängigkeit im nationalen Recht. Im Gegensatz dazu legt der EuGH das Gewicht allein auf die Identität des Kernpunktes. Wie die Entscheidungen des EuGH gezeigt haben, ist es in den internationalen Rechtsstreiten durchaus möglich, dass zwei Prozesse, in denen die Parteirollen vertauscht sind, zwar unterschiedliche klägerische Anträge, aber denselben Kernpunkt haben. Folgerichtig ist die konkrete Parteirolle, die die Parteien in beiden Prozessen innehaben, nach Auffassung des EuGH unerheblich.678 675 EuGH

Urteil vom 6.12.1994, RS. C-406/92, Rn. 45. ZPR, § 98, Rn. 20. 677 Nach nationalem Recht wird der Rechtshängigkeitseinwand im Fall der vertauschten Partei­rollen anerkannt, wenn in zwei Klagen konträre oder unvereinbare Rechtsfolgen be­ ansprucht werden. 678 Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 7a; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, ­EuGVO Art. 27, Rn. 4; MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., ­EuGVO Art. 27, Rn. 13; 676 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

204

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

C. Begründungen der Unterschiede beider Lehren I. Unterschiedliche Konstellationen des nationalen und internationalen Rechts Der Unterschied zwischen der deutschen Streitgegenstandstheorie und der Kernpunkttheorie gründet sich vor allem darauf, dass ihre Rahmenbedingungen ganz unterschiedlich sind. Konkreter gesagt: Im Vergleich mit den europäischen Fällen haben die nationalen Rechtsstreitigkeiten den Vorteil, dass ihre Entscheidung im Rahmen eines systematischen und vollständigen Zivil- und Prozessrechts erfolgen kann. Zunächst besteht ein Unterschied in prozessrechtlicher Hinsicht. Im deutschen Prozessrecht gibt es eine ausführliche und systematische Regelung der Zuständigkeit des nationalen Gerichts. Unter örtlichen, sachlichen und funktionellen Gesichtspunkten werden die nationalen Fälle daraufhin geprüft, welches Gericht für sie zuständig ist. Auch wenn mehrere Gerichte für einen Rechtsstreit zuständig sind, kommt es nur selten zu einem Kompetenzkonflikt zwischen ihnen.679 Im Gegensatz dazu können – trotz der Bemühungen um eine Vereinheitlichung der internationalen Zuständigkeit680 – bei grenzüberschreitenden Fälle häufig zwei oder mehrere Gerichte unterschiedlicher Staaten zuständig sein. Die Vermeidung von Kompetenzkonflikten zwischen den Gerichten ist daher für internationale Rechtsstreitigkeiten von großer praktischer Bedeutung. Die Anerkennung und Vollstreckung der inländischen Entscheidung in Deutschland ist selbstverständlich und kaum problematisch. Demgegenüber muss der EuGH bei der Begründung einer europäischen Theorie der Rechtshängigkeit dem Gesichtspunkt der Entscheidungsanerkennung besondere Rechnung tragen.681 Wenn ein und derselbe Rechtsstreit in zwei oder mehreren Prozessen unterschiedlicher nationaler Gerichte anhängig gemacht wird, besteht keine geringe Wahrscheinlichkeit inhaltlich unvereinbarer Entscheidungen. Erst wenn diese verhindert werden, kann das hauptsächliche Ziel des EuGH verwirklicht werden, das darin besteht, eine Verweigerung der Entscheidungsan­erkennung und -vollstreckung zu vermeiden.682 Währende es im deutschen Recht für inländische Urteile kein Wirksamkeitshindernis jenseits eines Widerspruchs zum rechtskräftigen Urteilsinhalt gibt, geht es bei der ­EuGVO nicht nur um die Vermeidung von inhaltlich unvereinbaren EntDohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 146; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 158. 679 Die Zuständigkeit ist grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen; der Beklagte kann die Unzuständigkeit rügen. 680 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 31. 681 Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der E ­ uGVO, S. 143. 682 Rüßmann, ZZP 111, S. 406. Erst wenn eine Entscheidung eines Staates in einem anderen Staat anerkannt und vollstreckt werden kann, sind die Gewähr und Verwirklichung der Rechte der Bürger in Europa gegeben.

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

205

scheidungen, sondern auch um die Anerkennung einer Entscheidung in anderen Mitgliedstaaten.683 Ebenso besteht ein Unterschied in materiellrechtlicher Hinsicht. In Deutschland gibt es einheitliche und systematische Zivilrechtsordnungen. Obwohl die zweigliedrige prozessuale Theorie die gegenwärtig herrschende Lehre zum Streit­ gegenstand ist, können materiellrechtliche Normen bei der Festlegung der Streitgegenstandsidentität eine bestimmte Rolle spielen. Wenn dieselben Parteien in zwei Prozessen darüber streiten, ob dieselben materiellrechtlichen Normen in ihrem Rechtsstreit Anwendung finden sollen, sind die Gegenstände beider Prozesse in den meisten Fällen identisch.684 Die Lage ändert sich in grenzüberschreitenden Fällen. Wenn die Parteien bei zwei Gerichten unterschiedlicher Staaten Klagen über denselben Rechtsstreit erheben, können die anzuwendenden materiellrechtlichen Normen unterschiedlich sein. Es ist daher nachvollziehbar, dass „dieselbe Vorschrift“ kein geeignetes Kriterium für die Prüfung der Streitgegenstands­ identität in den internationalen Fällen ist. Dies führt dazu, dass sich der EuGH bei der Festlegung der Kernpunktsidentität nicht an nationale rechtliche Elemente, sondern an eher objektive und abstrakte Elemente, etwa „denselben weit verstandenen Lebenssachverhalt“ und „denselben Rechtsstreit“, anlehnt.685 II. Unterschiedliche Aufgabe und Zielsetzung beider Lehren Die beiden Theorien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Aufgaben. Das Grundmodell für den Aufbau der deutschen Streitgegenstandslehre ist die einzelne Leistungsklage der ersten Instanz. Es handelt sich dabei nicht nur darum, wie das Verhältnis zwischen einer Klage und einer anderen Klage ist, sondern auch darum, worüber in dem entsprechenden Prozess verhandelt und entschieden wird. Man kann sogar behaupten, dass die Aufgabe der deutschen Streitgegenstandslehre vor allem darin liegt, den Inhalt des Rechtsstreites zwischen den Parteien zu ermitteln und die Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis festzulegen. Erfüllt sie diese Aufgabe gut, macht es keine großen Schwierigkeiten mehr, die richtige Entscheidung der Frage zu treffen, ob das betreffende Verfahren denselben Gegen-

683 Hierzu hat Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der E ­ uGVO, S. 143 mit Recht darauf hingewiesen, dass „dem Rechtshängigkeitseinwand im grenzüberschreitenden europäischen Zivilprozess eine weitergehende Funktion als im rein nationalen Kontext zukommt […]“. Vgl. Rüßmann, ZZP 111, S. 408. 684 So die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie in Deutschland und die Streitgegenstandslehren in einigen Ländern, etwa Italien, Frankreich und Griechenland. Vgl. IsenburgEpple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 171, 177; Beys, ZZP 105, S. 150. 685 Zwar führt der EuGH aus, dass die materiellrechtliche Vorschrift die „Grundlage des Anspruchs“ ist, er nimmt jedoch in der Tat „dieselbe Vorschrift“ nicht als Kriterium für die Fest­ legung der Identität des Kernpunktes an. Siehe oben Kapitel 11 C. I. 3.

206

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

stand mit einem anderen Verfahren gemein hat. Demgegenüber hat die Kernpunkttheorie von Anfang an die einzige Aufgabe zu entscheiden, ob zwei oder mehrere Klagen parallel durchgeführt werden dürfen oder nicht. Mit anderen Worten kommen bei der Strukturierung einer europäischen Lehre vom Streitgegenstand immer zwei oder mehrere Prozesse in Betracht. Folgerichtig ist der EuGH gezwungen, bei der Ausgestaltung der Kernpunkttheorie das Gewicht nicht auf die eine oder die andere Klage zu legen; entscheidend ist vielmehr das Verhältnis zwischen beiden Klagen. Die beiden Theorien unterscheiden sich zudem in ihrer Zielsetzung. Das grundlegende Ziel des deutschen Prozessrechts liegt im effizienten Schutz der Rechte der Bürger. Bei der Gestaltung der Streitgegenstandslehre haben die deutschen Prozessualisten diesem Gesichtspunkt stets Priorität eingeräumt. So wird der Streitgegenstand nach allen Theorien durch den klägerischen Antrag bestimmt. Das zentrale Ziel der Streitgegenstandslehre ist die vernünftige Identifikation und Abgrenzung des klägerischen Antrags. Von diesem Gedanken geprägt tendiert die deutsche Streitgegenstandslehre deutlich zu einer Orientierung an den subjektiven Elementen einer Klage. Demgegenüber liegt das Hauptziel der Kernpunkttheorie in der Vermeidung von unvereinbaren Entscheidungen. Von entscheidender Bedeutung ist hier nicht der konkrete Inhalt der einen oder der anderen Klage, sondern das Verhältnis zwischen beiden Klagen, oder besser gesagt: das gerichtlich zu entscheidende Verhältnis zwischen beiden Parteien.686 Aus diesem Grund tendiert die Kernpunkttheorie – im Vergleich mit der deutschen Streitgegenstandslehre – offensichtlich zu einer Orientierung an objektiven Elementen.

D. Meinungsstand der deutschen Prozessualisten zur Kernpunkttheorie I. Bewertung der Kernpunkttheorie durch die deutsche Prozessualistik Die Ansichten der deutschen Prozessualisten zur Kernpunkttheorie unterscheiden sich deutlich. Einige begrüßen grundsätzlich die vom EuGH vorgenommene Methode zur Auslegung und Anwendung des Art. 21 ­EuGVÜ. Bei anderen stößt sie hingegen auf heftige Kritik.

686 In grenzüberschreitenden Fällen ist es häufig der Fall, dass die Parteirolle bei zwei Klagen vertauscht ist, etwa die oben bereits mehrfach diskutierte Leistungsklage und die ent­ sprechende negative Feststellungsklage. In diesem Fall ist der Kläger der einen Klage zugleich der Beklagte der anderen Klage. Daher kann der EuGH sich bei der Gestaltung der Kernpunkttheorie auch nicht am Interesse oder Antrag einer Partei orientieren.

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

207

1. Kritische Stimmen Die Kernpunkttheorie wird in vielerlei Hinsicht kritisiert. Im Folgenden werden die Einwände gegen die weit gefasste europäische Rechtshängigkeit und den vom EuGH angenommenen Inhalt des Kernpunktes kurz dargelegt: (1) Die Kernpunkttheorie sieht von der Verschiedenheit des klägerischen Begehrens und der Rechtsschutzform ab. Dies wird insbesondere verdeutlicht durch die Annahme des EuGH, dass die Leistungsklage und die negative Feststellungsklage – ungeachtet ihrer zeitlichen Reihenfolge – denselben Kernpunkt haben. Diese Betrachtungs- und Vorgehensweise kann dazu führen, dass der Justizgewährungsanspruch des Zweit­klä­gers in einigen Fällen erheblich eingeschränkt wird.687 Zum einen hindert die vom Schuldner erhobene negative Feststellungsklage die nachfolgende Leistungsklage des Gläubigers. Dies kann das Interesse des Gläubigers an einem zügigen Rechtsschutz schädigen, da er während des schwebenden Verfahrens über die negative Feststellungsklage nicht durch Leistungsklage einen Vollstreckungstitel beantragen kann, falls die Erhebung einer Leistungswiderklage nach dem nationalen Prozessrecht nicht möglich ist.688 Zum anderen schließt die Erhebung der Leistungsklage die negative Feststellungsklage dann in ungerechtfertigter Weise aus, wenn in der negativen Feststellungsklage die umfassende Klärung des streitigen Rechtsverhältnisses begehrt wird, während der angebliche Gläubiger mit der Leistungsklage nur einen Teil des aus dem fraglichen Rechtsverhältnis resultierenden Anspruchs einfordert. Die Abweisung des Zweitprozesses übersieht hier das Interesse des Zweitklägers und erzeugt eine R ­ echtsschutzlücke.689 (2) Der EuGH nimmt in zwei Fällen die Identität des Kernpunktes an: Wenn die Rechtsfolgen beider Prozesse einander unmittelbar widersprechen können oder wenn die Vorfragen beider Prozesse identisch sind. Im ersten Falle geht auch die deutsche nationale Lehre davon aus, dass die beiden Prozesse nicht parallel durchgeführt werden dürfen. Im zweiten Falle unterscheidet sich jedoch die deutsche Lehre von der Kernpunkttheorie. Nach der deutschen Prozessrechtsdogmatik dürfen die Gerichte dieselbe Vorfrage abweichend beantworten.690 Das Urteil des ersten Gerichts zur Vorfrage bindet die Gerichte nachfolgender Prozesse nicht; insofern soll und darf der früher erhobene Prozess die späteren Prozesse nicht hindern. Demgegenüber nimmt der EuGH auch hier die Sperrwirkung der früher erhobenen Klage an, da sonst die Gefahr besteht, dass im Falle einer abweichenden Beurteilung derselben Vor 687 Geimer, in: Geimer/Schütze, E ­ uGVO Art. 27, Rn. 31; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2694b; Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 182 ff. 688 Vgl. die Darstellung Nierobas über die Schädigung des Justizgewährungsanspruchs durch die Prozessverschlep­pung und die überlange Verfahrensdauer. Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 116 ff., 202 ff. 689 Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der E ­ uGVO, S. 184 f. 690 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 153, Rn. 14; Rüßmann, ZZP 111, S. 415.

208

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

frage die Entscheidung eines Gerichts von den anderen Gerichten nicht anerkannt und vollstreckt wird. Die Annahme der Identität des Kernpunktes im Fall der Identität der Vorfrage wird von Kritikern jedoch als unangemessen erachtet, da abweichende Beurteilungen derselben Vorfrage nicht unbedingt zu widersprüchlichen Prozessergebnissen führen. (3) Die angestrebte Absicherung der Titelfreizügigkeit durch Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen kann in einigen Fällen nicht realisiert werden, da der Umfang der materiellen Rechtskraft der Entscheidung jeweils nach nationalem Prozessrecht zu bestimmen ist. Dies wird an folgender Fallkonstellation deutlich: Nach der Kernpunkttheorie kann eine nach dem nationalen Recht nicht bestehende Streitgegenstandsidentität konstruiert werden mit der Folge, dass die später erhobene Klage gemäß Art. 21 ­EuGVÜ abgewiesen werden muss; nach rechtskräftigem Abschluss der ersten Klage kann aber die zweite Klage erneut erhoben werden, wenn nach nationalem Prozessrecht die Gegenstände beider Klagen unterschiedlich sind.691 In diesem Fall ist es möglich, dass die erste Entscheidung vom zweiten Gericht und die zweite Entscheidung vom ersten Gericht nicht anerkannt werden. Hier kann das Ziel des EuGH, die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung im europäischen Raum zu sichern, wegen unterschiedlicher nationaler Regelungen zum Umfang der materiellen Rechtskraft verfehlt werden. Der vom EuGH eingeschlagene Weg des weit verstandenen Streitgegenstandsbegriffs mag insofern prinzipiell zur Lösung des Problems der internationalen Rechtshängigkeit geeignet sein, er vermag diese wichtige Aufgabe des ­EuGVÜ (nunmehr: ­EuGVO) jedoch nicht in jedem Fall zu erfüllen. (4) Eine weitere Kritik bemängelt, dass die Auffassung des EuGH das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne nicht sachgemäß lösen kann. In seiner Entscheidung zum Fall „Kalfelis/Schröder“ hat der EuGH die Auffassung geäußert, dass (im Fall der Anspruchskonkurrenz) für die auf die vertragliche Grundlage gestützte Klage ein Gericht und für die auf die deliktrechtliche Grundlage gestützte Klage ein anderes Gericht zuständig ist.692 Da es sich bei beiden Klagen aber um denselben Anspruch handelt, soll die erste Klage gemäß Art. 21 ­EuGVÜ die Erhebung der zweiten Klage hindern. Hier ist die Auffassung des EuGH widersprüchlich: „Sie eröffnet zuerst dem Gläubiger die Möglichkeit der Klageerhebung vor zwei unterschiedlichen Gerichten, und dann nimmt sie ihm diese Möglichkeit wieder, da der zweite Prozess aufgrund der Rechtshängigkeitssperre nicht fortgesetzt werden kann.“693 Daran lässt sich erkennen, dass – auch nach Ansicht des EuGH – die materiellrechtliche Norm und die rechtliche Qualifikation des Rechtsverhältnisses eine Rolle 691 In diesem Fall steht der Erhebung der zweiten Klage die Einrede der materiellen Rechtskraft nicht entgegen. Vgl. Dohm, Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit, S. 89. 692 EuGH Urteil vom 27.9.1988, RS. C-189/87, Slg. 1988, Rn. 19. 693 Tsikrikas, FS Leipold, S. 355.

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

209

bei der Bestimmung des Streitgegenstandes spielen. Hier ging der EuGH offensichtlich von einem materiellrechtlichen Streitgegenstandsbegriff aus und hielt seinen weit verstandenen Streitgegenstandsbegriff nicht voll aufrecht.694 2. Befürwortende Stimmen (1) Der weit verstandene Streitgegenstandsbegriff des EuGH wird vor allem begrüßt, weil er die Aufgaben des Art. 21 ­EuGVÜ – die Verringerung des Risikos widersprechender Entscheidungen und die Gewährleistung der Freizügigkeit von Urteilen – weitgehend zu erfüllen imstande ist. Aus diesem Grund dient die Kernpunkttheorie mittelbar auch dazu, die subjektiven Rechte der Bürger der Mitgliedstaaten zu realisieren und das Ansehen der europäischen Justiz zu wahren.695 (2) Zudem zielt die Kernpunkttheorie darauf ab, mehrere Verfahren über denselben Lebenssachverhalt bei ein und demselben Gericht zu konzentrieren.696 Die Konzentration bei einem Gerichtsstand trägt nicht nur zur schnellen Erledigung der Streitigkeit697 und zur Verhinderung des Erlasses unvereinbarer Entscheidungen698 bei, sondern schiebt auch den „Tendenzen zur mißbräuchlichen Ausnutzung der unterschiedlichen prozessualen Gegebenheiten in den einzelnen Vertragsstaaten mit dem Ziel, ein günstigeres anerkennungsfähiges Urteil zu erhalten“, einen Riegel vor.699 (3) Der EuGH hat bei der Auslegung des Art. 21 E ­ uGVÜ und der Erarbeitung der Kernpunkttheorie Inhalt und Ziel des Art. 27 E ­ uGVÜ sorgfältig berücksichtigt. So ist der weit verstandene Streitgegenstandsbegriff darauf ausgerichtet, eine mögliche Rechtskraftskollision im Sinne vom Art. 27 Nr. 3 E ­ uGVÜ zu verhindern. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass der EuGH einen kla 694 Zur Kritik siehe Tsikrikas, FS Leipold, S. 354 f.; Pfeiffer, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, S. 84 f.; Stafyla, Die Rechtshängigkeit des ­EuGVÜ, S. 42 ff. Die grundlegende Ursache dieses Dilemmas liegt darin, dass der Grundsatz iura novit curia dem EuGH fremd ist. Vgl. Pfeiffer, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, S. 84; Stafyla, Die Rechtshängigkeit des E ­ uGVÜ, S. 43 f.; Roth, FS Schumann, S. 362. Die Annahme des Grundsatzes iura ­novit curia durch den EuGH ist wegen der Kompliziertheit der internationalen Rechtsstreite und der Verschiedenheit der nationalen Prozessrechtsordnungen kaum zu erwarten. 695 Schack, IPRax 1989, 140; McGuire, Verfahrenskoordination, S. 103 f.; Huber, JZ 1995, S. 608; Koch, Unvereinbare Entscheidungen, S. 88; Stafyla, Die Rechtshängigkeit des E ­ uGVÜ, S. 61; Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 172. 696 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 21; Schack, ZZP 107, S. 296; Haas, FS Ishikawa, S. 169 f. 697 Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 92. 698 Die Konzentrationslast der Parteien unterbindet die Eröffnung wechselseitiger Prozesse in verschiedenen Mitgliedstaaten, in denen der Kernpunkt derselbe ist. Gottwald, in: Dogma­ tische Grundfragen, S. 93. 699 Stafyla, Die Rechtshängigkeit des ­EuGVÜ, S. 52, 61.

210

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

ren Zusammenhang zwischen dem Institut der Rechtshängigkeit und dem der materiellen Rechtskraft sieht und beide bei der Anwendung des ­EuGVÜ möglichst in Einklang zu bringen sucht.700 (4) Schließlich wird durch die Theorie des EuGH, der zufolge der Kernpunkt unabhängig von der Klageart bestimmt wird, die Chancengleichheit der Parteien bei der Wahl des Forums gewährleistet.701 Dies ist insbesondere für den Kläger der negativen Feststellungsklage von Bedeutung. Er ist so nicht mehr der Gefahr ausgesetzt, dass eine später erhobene, aber nicht blockierte Leistungsklage, die zu einem gegenteiligen Ergebnis führt, die Feststellungsklage um ihren Erfolg bringt. II. Übertragbarkeit der Kernpunkttheorie auf die nationale Prozessrechtsdogmatik Wie oben dargestellt, hat der EuGH bei der Bestimmung des Streitgegenstandes einen eigenen Weg eingeschlagen, der mit den Vorstellungen der jeweiligen Mitgliedstaaten zum Streitgegenstand schwer zu vereinbaren ist.702 Angesicht der Vorteile dieses Vorgehens des EuGH wird teilweise vorgeschlagen, die deutsche Lehre der Kernpunkttheorie anzupassen oder sogar die Kernpunkttheorie in vollem Umfang in die nationale Prozessrechtsdogmatik zu übernehmen.703 Dieser Vorschlag stößt aber auf deutliche Kritik. Im Vergleich mit den Auseinandersetzungen zur Würdigung der Kernpunkttheorie sind die Meinungsverschiedenheiten zur Übertragbarkeit dieser Lehre weitaus schärfer. 1. Zustimmende Ansicht Die breite Rechtshängigkeitssperre, wie sie Folge der Kernpunkttheorie ist, bewirkt nach Auffassung einiger Prozessualisten eine wünschenswerte Konzen­ tration aller Streitigkeiten beim Erstgericht. Wenn eine Partei während des Erstprozesses eine weitere Klage erheben will, steht ihr das Institut der nachträg­ lichen Klagehäufung oder der Widerklage zur Verfügung.704 Mit anderen Worten 700 Es wird sogar argumentiert, dass der weit verstandene Streitgegenstandsbegriff des EuGH dabei hilft, die Wirkungen des Instituts der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft zu vereinheitlichen. Stafyla, Die Rechtshängigkeit des ­EuGVÜ, S. 52, 60. 701 Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, E ­ uGVO Art. 27, Rn. 10; Schack, IPRax 1989, S. 140; ders., IPRax 1991, S. 272; Stafyla, Die Rechtshängigkeit des E ­ uGVÜ, S. 61; Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 172. 702 Vgl. die rechtsvergleichende Untersuchung von Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 157 ff. zu den verschiedenen nationalen Streitgegenstandslehren. 703 Vgl. den Literaturhinweis in: Walker, ZZP 111, S. 434, Fn. 39. 704 Leipold, Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, S. 19.

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

211

schränkt die Verfahrenskonzentration bestimmte Formen willkürlicher Rechtsverfolgung ein, hindert aber auf keinen Fall die Rechtsverfolgung selbst.705 Im Vergleich mit diesem geringen Nachteil ist in den Augen der Befürworter der Vorteil der Kernpunkttheorie beträchtlich: Durch die Konzentration sämtlicher Rechtsstreitigkeiten zwischen beiden Parteien bei einem Gericht können wichtige Ziele des Prozessrechts – Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen und Schonung knapper Rechtspflegeressourcen – relativ leicht realisiert werden.706 2. Ablehnende Ansicht Andere Prozessualisten sind der Ansicht, dass die einheitliche Handhabung des Rechtshängigkeitsproblems in Fällen mit und ohne Auslandsberührung keinen ausreichenden Grund für die Übertragung der Kernpunkttheorie auf das nationale Recht bildet.707 Von zentraler Bedeutung für die Übernahme oder Ablehnung der Lösung des EuGH sei vielmehr die Antwort auf die Frage, ob die Kernpunkttheorie – im Vergleich zur deutschen nationalen Streitgegenstandslehre – zur besseren Erfüllung der Aufgaben des Prozessrechts beitragen könne. Es wird deshalb vorgeschlagen, die Nützlichkeit der Kernpunkttheorie für das deutsche nationale Prozessrecht unter drei Gesichtspunkten zu prüfen, nämlich der Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen, des effektiven Rechtsschutzes für die Parteien und der Prozessökonomie.708 Kriterium 1: Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen Das zentrale Ziel der Kernpunkttheorie – die Vermeidung unvereinbarer Urteile – stimmt mit der Zielsetzung des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO überein. Aber die Vorgehensweise der Kernpunkttheorie bei der Lösung des Problems anderweitiger Rechtshängigkeit, nämlich die Abweisung der zweiten Klage über denselben Anspruch, ist nicht die einzige mögliche Lösung. Im Vergleich zu ihr ist die deutsche nationale Lösung flexibler und sachgemäßer. Nach dem engen deutschen Streitgegenstandsbegriff führt das Zusammentreffen von Leistungsklage und nega­tiver

705 Gottwald,

in: Dogmatische Grundfragen, S. 93. zur Konzentration von Zivilprozessen, S. 18 ff.; Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 92 ff.; Oberhammer, JBl. 2000, S. 218 f. 707 Zeuner, FS Lüke, S. 1015; Schütze, ZZP 104, S. 144; Walker, ZZP 111, S. 436. Abgelehnt wird eine Übernahme zudem etwa von Roth, FS Schumann, S. 363 f.; ders., FS Jayme, 2004, S. 752; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 44; Walker, ZZP 111, S. 454; Adolph­ sen, ZZP Int. 1998, S. 262; Hau, IPrax 1996, S. 178; Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 107; Musielak, in: Musielak, Einl., Rn. 72a; Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 166 f. 708 Walker, ZZP 111, S. 437 ff. 706 Leipold, Wege

212

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

Feststellungsklage nicht zu sich widersprechenden Entscheidungen. Mit Hilfe eines mannigfaltigen Instrumentariums wie Aussetzung des Verfahrens, Prüfung des Rechtsschutzinteresses und relativ enger Bestimmung des Umfangs der materiellen Rechtskraft kann das deutsche nationale Prozessrecht drohende Rechtskraftkollisionen gut verhindern.709 Eine Ausweitung des nationalen Streitgegenstandsbegriffs nach dem Vorbild der Kernpunkttheorie ist daher nicht nötig. Kriterium 2: Effektiver Rechtsschutz für die Parteien Die zentrale Aufgabe des Zivilprozessrechts liegt darin, den Rechtssubjekten zu helfen, ihre Rechte effektiv zu realisieren. Sie gilt auch als Prüfstein für die Streitgegenstandslehre. Wie oben dargestellt, kann die Vorgehensweise nach der Kernpunkttheorie zu einer Schädigung des Justizgewährungsanspruchs führen. Die Sperrwirkung der zeitlich früheren negativen Feststellungsklage hindert die Erhebung der Leistungsklage, sodass der Versuch des angeblichen Gläubigers scheitern kann, durch die Leistungsklage rechtzeitig einen Vollstreckungstitel zu erwerben. Die Sperrwirkung der zeitlich früheren Leistungsklage hindert die Erhebung der negativen Feststellungsklage, was den Versuch des angeblichen Schuldners zunichtemacht, mit seiner Klage das streitige Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem angeblichen Gläubiger zu klären. Demgegenüber werden solche schwierigen Situationen nach deutschem Recht mit Hilfe des Instituts der Widerklage problemlos vermieden. Kriterium 3: Prozessökonomie Durch die ihr immanente Konzentrationspflicht der Parteien schafft es die Kernpunkttheorie, eine parallele Durchführung von Prozessen über denselben Anspruch von Anfang an zu vermeiden. Diese Lösung findet Befürworter, da sie Zeit, Aufwand und Geld der Parteien zu sparen vermag und zur Entlastung der Gerichte beiträgt. Allerdings ist festzuhalten, dass die Leistungsklage und die negative Feststellungsklage unterschiedliche Zielsetzung haben. Das Prioritätsprinzip verhindert eine zweite Klage, was dazu führen kann, dass der gerechtfertigte Anspruch des Zweitklägers leidet. Hier hat die Lösung des deutschen nationalen Rechts ihren Vorteil: Die Zwischenfeststellungsklage und die Leistungswiderklage stehen demjenigen zur Verfügung, der der Beklagte der ersten Klage ist und eine andere 709 Wird zuerst Leistungsklage erhoben, ist eine nachherige negative Feststellungsklage entweder mangels Rechtsschutzinteresse unzulässig oder es ist über sie erst nach der Leistungsklage zu entscheiden. Wird zuerst negative Feststellungsklage erhoben, geben die Lehrmeinungen unterschiedliche Lösungen vor, etwa die Aussetzung der nachherigen Leistungsklage, die Ablehnung des Rechtsschutzinteresses für die negative Feststellungsklage oder die Erhebung der Leistungswiderklage neben der negativen Feststellungsklage. Dadurch wird ein Widerspruch der Entscheidungen über beide Klagen vermieden. Vgl. Walker, ZZP 111, S. 440 f.

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

213

Klage erheben möchte. Aus diesem Grund hat Walker mit Recht argumentiert: „Auch unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung eines nutzlosen gerichtlichen Aufwandes besteht mithin kein Anlaß, die Kernpunkttheorie des EuGH in das nationale Recht zu übertragen.“710 3. Vermittelnde Ansicht Teilweise wird auch die Ansicht vertreten, dass die Kernpunkttheorie zumindest teilweise für das nationale Prozessrecht annehmbar ist. Allerdings unterscheiden sich insoweit die Begründungen und konkreten Vorschläge für eine solche par­ tielle Übernahme.711

E. Stellungnahme I. Würdigung der Kernpunkttheorie Art. 27 ­EuGVO trifft eine Regelung für den Fall, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs erhoben werden. Deshalb hat sich der EuGH bei der Entwicklung der Kernpunkttheorie das Ziel gesetzt, zur Sicherstellung einer geordneten Rechtspflege einander widersprechende Entscheidungen möglichst zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist der vom EuGH eingeschlagene Weg – der weite Umfang der internationalen Rechtshängigkeitssperrwirkung – nahezu die einzige Möglichkeit. Und in der Praxis hat die Kernpunkttheorie bereits ihre Leistungsfähigkeit erwiesen. Insofern lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Kernpunkttheorie – trotz ihrer Schwäche – grundsätzlich ihre Aufgabe gut zu erfüllen imstande ist. Andererseits ist, wie eben dargestellt, ein Teil der Kritik an ihr berechtigt. Manche Einwände wiederum sind unzutreffend. So wird beispielsweise kritisiert, der weit gefasste Streitgegenstandsbegriff des EuGH könne zu einer Prozessverschleppung führen, wenn der Schuldner missbräuchlich eine negative Feststellungsklage bei einem Gericht eines Mitgliedstaates erhebt, in dem Prozesse erfahrungsgemäß lange dauern, um den Erfolg des Gläubiger möglichst zu verhindern.712 Dieses Problem beruht jedoch nicht auf dem weiten Streitgegenstandsbegriff und dem Prioritätsgrundsatz, sondern darauf, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten in der Tat nicht gleichwertig 710 Walker,

ZZP 111, S. 445. etwa Zeuner, FS Lüke, S. 1017 f.; Roth, ZZP 109, S. 282; Rüßmann, ZZP 111, S. 414; Haas, FS Ishikawa, S. 170 ff.; grundsätzlich mit einem Einfluss der Kernpunkttheorie sympathisierend: Stürner, FS Lüke, S. 836. 712 Dies betrifft insbesondere die sog. Torpedoklagen in Belgien und Italien. Vgl. Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 10b, 18; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 165; Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 202; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, ­EuGVO Art. 27, Rn. 21. 711 Vgl.

214

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

sind. Insgesamt hängt eine zufriedenstellende Lösung des europäischen Rechtsschutzes ohnehin von der weiteren Entwicklung der Qualität der Justizgewährung durch die Gerichte der Mitgliedstaaten ab. Diskutiert wird auch, die Regelung des Art. 27 E ­ uGVO neu zu fassen, um eine unbefriedigende Prozessverschleppung zu hindern.713 Einen konkreten Verbesserungsvorschlag hat die GROTIUS-Projektgruppe ausgearbeitet.714 All diese Versuche zielen darauf ab, die Sperrwirkung des Art. 27 ­EuGVO unter bestimmten Umständen einzuschränken.715 Dieser Modifizierungsvorschlag wird jedoch nicht akzeptiert, da er zu einer unerwünschten Relativierung der Rechtshängigkeitssperrwirkung führen würde. Seiner Ablehnung ist meines Erachtens grundsätzlich zuzustimmen, da der Reformvorschlag das gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege der Mitgliedstaaten schädigen könnte und er auf die von der E ­ uGVO angestrebte Rechtssicherheit verzichten und neue Kompetenzkonflikte verursachen würde.716 Der Grund der Verfahrensverschleppung liegt im Prinzip nicht in Art. 27 ­EuGVO, weshalb seine Modifikation wenig zur Beseitigung einer solchen Verschleppung beitragen würde. II. Notwendigkeit einer Übernahme der Kernpunkttheorie Das höchste Gebot einer der Praxis dienlichen Rechtstheorie ist ihre Vernünftigkeit und Angemessenheit, nicht ihre theoretische Richtigkeit. Meines Erachtens ist die Kernpunkttheorie für das Problem der europäischen Rechtshängigkeit und die deutsche Streitgegenstandslehre für die Probleme des nationalen Prozessrechts geeignet. Die Kernpunkttheorie ist jedoch – ihrer Natur nach – nicht dafür geschaffen, die Probleme des Gegenstands des Rechtstreites im nationalen Prozessrecht zu lösen. Dazu sind Aufgabe und Zielsetzung der europäischen und der nationalen Streitgegenstandslehre zu unterschiedlich. Im Vergleich zur Kernpunkttheorie, deren zentrale Aufgabe die Verhinderung paralleler Prozesse auf der Grundlage desselben Anspruchs ist, hat die nationale Streitgegenstandslehre darüber hinaus die Aufgabe, den Gegenstand des Rechtsstreites präzise abzugrenzen und geeignete Lösungen für eine Reihe von Prozessrechtsproblemen zu bieten. Zudem ist zu beachten, dass die Streitgegenstandslehre geeignet sein soll, das grundlegende Ziel des Prozessrechts zu realisieren, nämlich den fairen und effektiven Rechtsschutz für die Rechtssubjekte. Wie die vorangehende Darstellung deutlich gemacht hat, 713 Vgl.

Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 167. Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 228 ff. 715 Solche Vorschläge gelten vor allem der Konkurrenzproblematik zwischen negativer Feststellungsklage und Leistungsklage. 716 Nähme man diesen Reformvorschlag an, würde sich die durch Art. 27 ­EuGVO angestrebte Absicherung der Titelfreizügigkeit durch Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen in ihr Gegenteil verkehren. Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, E ­ uGVO Art. 27, Rn. 21; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 168; Leible, in: Rauscher, Art. 27 Brüssel I-VO, Rn. 18; Nieroba, Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO, S. 232. 714 Vgl.

Kap. 12: Kernpunkttheorie und deutsche Streitgegenstandslehre

215

weist die Kernpunkttheorie in einigen Punkten, etwa im Hinblick auf den effektiven Rechtsschutz, die Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen und die Prozessökonomie, Schwächen auf oder bietet zumindest – im Vergleich zur deutschen nationalen Lehre – keine wesentlichen Vorteile. Eine volle Übernahme der Kernpunkttheorie ist daher weder erforderlich noch empfehlenswert.717 III. Gemeinsamkeiten der deutschen und der europäischen Lehre und der Einfluss der Kernpunkttheorie auf das deutsche nationale Recht Trotz ihrer wesentlichen Unterschiede haben beide Lehren auch gewisse Gemeinsamkeiten. Beide suchen widersprüchliche Entscheidungen zu verhindern. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, haben die deutschen Gerichte in einigen Bereichen denselben Weg wie der EuGH eingeschlagen.718 Im Unterhaltsprozess wird z. B. die Ansicht vertreten, dass der Erstprozess und die Abänderungsklage denselben Streitgegenstand haben.719 Aus diesem Grund haben gegenläufige Abänderungsklagen auf Erhöhung bzw. Verminderung des Unterhalts denselben Streitgegenstand mit der Folge, dass der späteren Klage das Prozesshindernis der Rechtshängigkeit entgegensteht.720 Ebenso sind die Streitgegenstände der auf einen Teil der Leistung gerichteten Teilklage und der auf den anderen Teil der Leistung gerichteten Klage nach nationalem Recht teilidentisch, da der „Kernpunkt“ beider Klagen derselbe ist, nämlich die Begründetheit der Leistungspflicht des angeblichen Schuldners. Erwähnenswert ist zudem, dass – trotz der überwiegenden Ablehnung der Übernahme – der gedankliche Einfluss der Kernpunkttheorie auf das nationale Prozessrecht fruchtbar ist. Ein wesentliches Charakteristikum der Kernpunkttheorie liegt darin, dass sie bei der Bestimmung des Streitgegenstandes vom Rechtsbegehren und von der Rechtsschutzform absieht und Kriterien wie Identität des Lebenssachverhaltes oder Identität des Klagezieles vorzieht. Diese Betrachtungs- und Vorgehensweise kann in vielerlei Hinsicht für die deutsche Prozessrechtsdogmatik eine gewisse Vorbildfunktion entfalten: Erstens ist zu überlegen, ob mit dem vom EuGH geschaffenen, relativ objektiven Streitgegenstandsbegriff einige Probleme des nationalen Rechts gelöst werden können. Zweitens erscheint es sinnvoll, sich bei der Abgrenzung des Lebenssachverhaltes im Rahmen der zweigliedrigen Theorie zu einem gewissen Grade an die Kernpunkttheorie anzulehnen. Drittens ist die Kernpunkttheorie für das nationale Recht insoweit lehrreich, als es 717 Trotz einiger Vorschläge und heftiger Diskussion sind die Übernahmeversuche in Deutschland bislang unbeachtet geblieben. 718 Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 91 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 18. 719 OLG Düsseldorf, FamRZ 1994, 1535. 720 BGH FamRZ 1997, 488 (Nr. 338).

216

4. Teil: Die Streitgegenstandsproblematik im europäischen Zivilprozessrecht

eine sich an den Prozesszielen orientierende Streitgegenstandslehre zu ent­wickeln sucht. Viertens kommt die Kernpunkttheorie anders als die nationale Lehre ausdrücklich zu dem Ergebnis, dass schon eine Teilidentität des Streitgegenstandes die Rechtshängigkeitseinrede begründen kann. Ein weiterer wichtiger Einfluss der Kernpunkttheorie könnte sich darauf gründen, dass sie die Verfahrenskonzentration effektiv zu fördern vermag.721 Ihre Bedeutung darf nicht unterschätzt werden, weil sie sowohl der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen als auch der Prozessökonomie dienen kann. IV. Nebeneinander der europäischen und der nationalen Streitgegenstandslehre Obwohl die Kernpunkttheorie in Deutschland auf heftige Kritik seitens der Rechtswissenschaft gestoßen ist, haben die deutschen Gerichte sich ihr weitgehend angeschlossen.722 Sie gehen davon aus, dass die Kernpunkttheorie bei der Behandlung europäischer Fälle zu beachten und das weite Streitgegenstandsverständnis des EuGH wegen der besonderen Konstellation internationaler Rechtsstreitigkeiten begründet ist.723 Da die europäische und die deutsche Streitgegenstandslehre sich in Ziel und Anwendungsgebiet unterscheiden, bleibt festzuhalten, dass die deutschen Gerichte bei der Lösung des Streitgegenstandsproblems zwei unterschiedlichen Lehren folgen: für die Fälle mit internationalem Bezug der Kernpunkttheorie und für die nationalen Fälle der eigenen Streitgegenstandslehre. Da beide Lehren sich in ihrem Anwendungsbereich unterscheiden, führt die von § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO abweichende Doktrin des EuGH zu keiner Unvereinbarkeit mit dem deutschen Zivilprozessrecht.724 Der internationale Rechtsstreit hat seinen besonderen Charakter und das internationale Prozessrecht unterscheidet sich vom nationalen Prozessrecht. Daher ist es vorstellbar, dass das Nebeneinander der europäischen und der deutschen Streitgegenstandslehre in absehbarer Zukunft fortdauern wird.

721 Rosenberg/Schwab/Gottwald,

ZPR, § 92 Rn. 21 f. Die Rechtshängigkeit des E ­ uGVÜ, S. 70; BGH 8.2.1995 = IPRax 1996, S. 192 ff.; OLG Hamm 3.12.1993 = IPRax 1995, S. 104 ff. 723 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 21. 724 Walker, ZZP 111, S. 436. 722 Stafyla,

Fünfter Teil

Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess 5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess Kapitel 13

Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre und ihres Verhältnisses zu Prozessrechtsgrundsätzen und Prozessrechtsinstituten A. Streitgegenstandsbegriff, Rechtstradition und Prozesskultur I. Die unterschiedlichen Prozesskulturen und die allgemeine Bedeutung des Streitgegenstandsproblems Die Rechtskultur der heutigen Welt ist pluralistisch. Dies trifft auch auf das Zivilprozessrecht zu. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Prozessrechte, die weltweit eine dominante Rolle spielen und die anderen Prozessrechte kontinuierlich beeinflussen, ihren Ursprung in Europa haben. Das europäische Prozessrecht lässt sich entsprechend der Theorie der Rechtskreise in den anglo-amerikanischen, romanischen und germanischen Prozess einteilen.725 Dabei zeigen diese Prozessrechtssysteme einerseits zahlreiche Gemeinsamkeiten, andererseits erweisen sie sich aber unter vielen Aspekten auch als unterschiedlich. Die Ähnlichkeit der prozessualen Rechtskreise beruht darauf, dass sie ihre gemeinsame Wurzel im römischen und germanischen Prozess haben und dass ihnen beide Prozessformen als unverzichtbarer rechtskultureller Ausgangspunkt zugrunde liegen.726 Ihre Unterschiede wiederum gründen sich darauf, dass sie in langjähriger Entwicklung unterschiedliche Lösung für praktische Probleme erarbeitet und allmählich eigene rechtskulturelle Charaktere ausgebildet haben.727 Ohne Zweifel sind 725 Statt

vieler Stürner, in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 31. Stürner, in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 31 ff.; ders., FS Schumann, S.  491 ff.; van Caenegem, History of European Civil Procedure; Stadler, in: Die Rechtskon­ trolle von Organen der Staatengemeinschaft, S. 180 ff. 727 Eine Makrovergleichung des Prozessrechts der unterschiedlichen Rechtskreise findet sich bei Stürner/Kern, GS Halûk Konuralp, S. 1001 ff. (m.w. Literaturhinweisen); Na­ka­mura, H., Recht in Ost und West 1988, S. 299 f.; ders., in: Zivilverfahrensrechtliche Probleme des 21. Jahrhunderts, S. 72 ff.; Stadler, in: Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft, S. 186 ff. 726 Ausführlich

218

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Vergangenheit und Gegenwart jedes Prozessrechts tiefgreifend von der jeweiligen Rechtskultur und Rechtstradition geprägt und seine prozessualen Institutionen sind das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung.728 In Bezug auf die Streitgegenstandslehre und das Streitgegenstandsproblem kann gesagt werden, dass jeder Prozess zu allen Zeiten einen Streitgegenstand hat und folglich das Streitgegenstandsproblem jedem Prozessrechtssystem innewohnt, auch wenn nicht alle Prozessrechte über eine entwickelte Streitgegenstandslehre verfügen oder verfügen wollen. Erstens zeigt ein Blick auf das Prozessrecht in der Geschichte, dass schon in der römischen Zeit das Streitgegenstandsproblem sich in vollem Umfang stellte. Es werden im römischen Recht und danach im gemeinen Recht unterschiedliche prozessrechtliche Institute zu seiner Lösung entwickelt.729 Zweitens sehen sich die heutigen Prozessrechte ausnahmslos mit dem Streitgegenstandsproblem konfrontiert. Nach übereinstimmender Meinung betrifft das Streitgegenstandsproblem vor allem zwei Gesichtspunkte: Einmal muss klargestellt werden, worüber im Prozess verhandelt und entschieden wird, damit der sachliche Umfang des Rechtsstreites und dementsprechend die Grenze der richterlichen Entscheidungsbefugnis feststehen. Bei der Bestimmung des Inhalts des Verfahrens lässt sich sagen, dass der Grundsatz der Parteidisposition in den westlichen Prozessordnungen weitgehend anerkannt ist,730 auch wenn seine konkrete Regelung in den nationalen Rechten in vielerlei Hinsicht unterschiedlich sein mag.731 Zum anderen muss eine Streitgegenstandslehre zur Feststellung geeignet sein, ob zwei oder mehrere Prozesse dieselbe Streitsache behandeln.732 Bei der Lösung dieses Identitätsproblems weisen die Rechtsordnungen der einzelnen Rechtskreise deutliche Unterschiede auf.733 Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass auch in solchen Pro 728 Nakamura,

H., Recht in Ost und West 1988, S. 300, 322. tiefgreifender Bedeutung für die damalige Rechtspraxis und für die nachherigen Prozessrechte sind beispielsweise die exceptio rei iudicatae und die exceptio litis pendentis. Vgl. die Darstellung in Kapitel 2 und 3. 730 Für einen Überblick vgl. Stürner, FS Heldrich, S. 1061 ff.; ders., R ­ abelsZ 69, S. 221 f.; ders., in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 32 f. (m.w. Literaturhinweisen) 731 Vgl. Stürner, FS Heldrich, S. 1067 f.; ders., FS Weber, S. 594; Nakamura, H., in: Zivil­ verfahrensrechtliche Probleme des 21. Jahrhunderts, S. 77 f. 732 Böhm, FS Kralik, S. 84 f. 733 Für einen Überblick über das Rechtshängigkeitsproblem im anglo-amerikanischen Rechtskreis vgl. Stadler, in: Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft, S. 200; Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 96 f.; Bunge, Das englische Zivilprozeßrecht, S. 89; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 189 ff.; Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 123 ff.; Habscheid, FS Zweigert, S. 116 ff.; für einen Überblick über das Rechtskraftproblem im anglo-amerikanischen Rechtskreis Bower/Turner, The doctrine of res judicata; Andrews, English civil procedure, S. 941 ff.; Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 653 ff., 695 ff.; Hazard/Taruffo, American Civil Procedure, S. 172 f., 191 ff.; Stürner, FS Schütze, S. 920 ff.; Zeuner, FS Zweigert, S. 603 ff.; Spellenberg, FS Henckel, S. 844 ff.; Ritter, ZZP 87, S. 166 ff.; Schack, Einführung in das US-amerikanischen Zivilprozesßrecht, S. 42, 73 ff.; Böhm, Amerikanisches Zivilprozessrecht, Rn. 755; Koshiyama, Rechtskraftwirkung und Urteilsanerkennung nach amerikanischem, deutschem und japanischem Recht; Bunge, Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung in England, § 51; Germelmann, 729 Von

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

219

zessrechten, die keine eigene Streitgegenstandslehre entwickelt und eine solche auch nicht rezipiert haben, das Identitätsproblem sich dennoch stellt. Der Grund liegt darin, dass es die allgemeine Aufgabe des Prozessrechts ist, die doppelte Behandlung und Entscheidung derselben Streitsache zu verhindern, um einen effektiven Rechtsschutz und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens zu ermöglichen. Drittens tritt das Streitgegenstandsproblem nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene auf. Wie die vorangehende Darstellung der Kernpunkttheorie gezeigt hat, muss der EuGH im Fall des grenzüberschreitenden Rechtsstreites die Frage beantworten, ob zwei oder mehrere Prozesse in unterschied­ lichen Mitgliedstaaten „denselben Kernpunkt“ haben.734 Auch in den von Unidroit und dem ALI entwickelten „Principles of Transnational Civil Procedure“ werden der „Lis pendens“ und der „Res judicata“ Bedeutung beigemessen.735 Deshalb ist der Bemerkung Schwabs zuzustimmen, dass das Streitgegenstandsproblem im Wesen des Zivilprozesses begründet und im Prozessrecht jedes Staates vorhanden ist.736 Auch wenn das Streitgegenstandsproblem in unterschiedlichen Rechten sich nicht in gleicher Weise darstellt, kann festgehalten werden, dass jedes Prozessrecht in gewissem Sinne eine „Streitgegenstandstheorie“ hat, um dieses jedem Prozess immanente Problem zu lösen. Damit bestätigt sich auch hier die Erkenntnis, dass es in der Rechtsvergleichung von entscheidender Bedeutung ist, ob Rechtstheorien, Rechtsinstitute und praktische Vorgehensweisen trotz ihrer formellen Unterschiede die gleiche Funktion im Rechtssystem haben.737

Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, S. 216 ff.; Lenenbach, Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozessrecht, S. 166 f.; Kössinger, Rechtskraftprobleme im deutschfranzösischen Rechtsverkehr, S. 64 ff.; Engelmann-Pilger, Die Grenzen der Rechtskraft des Zivilurteils im Recht der Vereinigten Staaten, S. 25 ff.; für einen Überblick über das Rechtshängigkeitsproblem im romanischen Rechtskreis Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 97; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 169 ff.; Wernecke, Begriff vom Streitgegenstand, S. 116 ff.; für einen Überblick über das Rechtskraftproblem im romanischen Rechtskreis Stürner, FS Schütze, S. 926 ff.; Leipold, FS Zeuner, S. 432 f.; Ritter, ZZP 87, S. 144 ff.; Zeuner, FS Zweigert, S. 608 ff.; Spellenberg, FS Henckel, S. 843 ff.; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, S. 107 ff.; Lenenbach, Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozessrecht, S. 164 f. Dieses umfangreiche Problem kann in dieser Arbeit nicht behandelt werden. 734 Vgl. oben Kapitel 11. 735 Principles of Transnational Civil Procedure, Principle 28. Bemerkungen dazu bei Stürner, ­RabelsZ 69, S. 249 ff.; ders., ZZP Int. 2006, S. 399 f. 736 Schwab, Streitgegenstand, S. 2, 5. Ihm zustimmend Yoshimura, ZZP 83, S. 245; Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 129 ff.; Böhm, FS Kralik, S. 83; Löwisch, historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 4. Vgl. auch die rechtsvergleichende Darstellung von Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 157 ff. 737 So das „Funktionalitätsprinzip“ in der Lehre der Rechtsvergleichung. Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung: auf dem Gebiete des Privatrechts, S. 33; Gottwald, FS Schlosser, S. 231.

220

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Allerdings darf man nicht übersehen, dass es zwischen den Prozessrechten deutliche Unterschiede bei der Lösung des Streitgegenstandsproblems gibt. In den meisten Ländern des germanischen Rechtskreises wird die Bedeutung des Streitgegenstandsbegriffs für die Prozessualistik und Rechtspraxis besonders betont.738 Demgegenüber gibt es in Großbritannien und den USA so recht eigentlich keinen terminus technicus für den Streitgegenstand.739 Dennoch haben die Juristen des anglo-amerikanischen Rechtskreises prozessuale Institute entwickelt, um etwa das Problem der Rechtshängigkeit und der materiellen Rechtskraft zu lösen.740 Viele Prozessrechte des romanischen Rechtskreises haben sich vor allem bei der Rechtskraft für ein vermittelndes Modell entschieden. Dabei wird zwar die Bedeutung des Streitgegenstands grundsätzlich erkannt. Er ist aber keinesfalls einer der Eckpfeiler des Prozessrechts und seine Bedeutung wird in der Rechtspraxis nicht immer ausreichend berücksichtigt.741 Dies alles macht deutlich, dass die unterschiedlichen Prozessrechtssysteme unterschiedliche Lösungen für die Streitgegenstandsproblematik entwickelt haben, auch wenn die Verfahrenszwecke der verschiedenen Rechtsordnungen weitgehend übereinstimmen. Die unterschiedlichen Modelle haben jeweils Vor- und Nachteile, und es gibt keine „richti­ge“ oder „bessere“ Lösung. Oberstes Gebot jeder Lösung des Streitgegenstandsproblems ist ihre Angemessenheit. Sie muss zum jeweiligen Rechtsdenken und Rechtssystem passen, um so ihre notwendige Rolle sowohl in der Prozessrechtslehre als auch in der Gerichtspraxis spielen zu können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Streitgegenstandsproblem zwar ein „ewiges“ Thema jeden Prozessrechts ist. Die genauen Erscheinungsformen dieses Problems und seine Lösungen sind in unterschiedlichen Rechtssystemen zu unterschiedlichen Zeiten aber verschiedenartig. Dies beruht darauf, dass kulturelle 738 Für

Deutschland: Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 1 ff. Für Österreich: Fasching, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 1140 ff.; Rechberger/Simotta, österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 383 ff.; Holzhammer, österreichisches Zivilprozeßrecht, S. 170 ff. Für die Schweiz: von Arx, Der Streitgegenstand im schweizerischen Zivilprozess; Habscheid, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, Rn. 374 ff. Für Griechenland: Beys, ZZP 105, S. 145 ff. 739 Die entsprechende englische Übersetzung von „Streitgegenstand“ ist „subject matter of the controversy“ oder „object of the controversy“; vgl. Murray/Stürner, German Civil Justice, S. 130–131, 357. Dies wird aber nur als Übersetzung des deutschen Begriffs gebraucht und in der englischen Literatur nicht originär verwendet. Für einen Überblick über das Verständnis des Streitgegenstands im anglo-amerikanischen Zivilprozess vgl. Stürner, ­RabelsZ 69, S. 221, 249; ders., ZZP Int. 2006, S. 399; Nakamura, H., Recht in Ost und West 1988, S. 307 ff.; ders., in: Zivilverfahrensrechtliche Probleme des 21. Jahrhunderts, S. 77 f. 740 Beispielsweise: claim preclusion, res judicata, issue preclusion and collateral estoppel. Vgl. Bower/Turner, The doctrine of res judicata; Andrews, English civil procedure, S. 941 ff.; Friedenthal/Kane/Miller, Civil procedure, S. 653 ff., 695 ff.; Hazard/Taruffo, American civil procedure, S. 172 f., 191 ff. 741 Zum Beispiel für Frankreich: Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 131 ff.; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 177 ff.; für Italien: Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 133; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 169 ff.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

221

Rechtstraditionen und die überkommene Prozessstruktur eines Rechtssystems eine wesentliche Rolle spielen.742 Einerseits werden also Erscheinungsform und Inhalt der Lehre vom Streitgegenstand tiefgreifend von der Rechtskultur und Rechtstradition beeinflusst; andererseits kann die Lösung der Streitgegenstandsproblematik wohl als „ewige“ gemeinsame Aufgabe aller Prozessrechte angesehen werden. II. Methodische Besonderheiten der deutschen Prozessualistik bei der Lösung des Streitgegenstandsund Anspruchskonkurrenzproblems Ein grundlegendes Merkmal der deutschen Jurisprudenz ist der systematische Konstruktivismus.743 Dieses Phänomen gründet tief in der deutschen Philosophie.744 Im 19. Jahrhundert war es das wesentliche Anliegen der Pandektenwissenschaft, den römischen Rechtsstoff dogmatisch-systematisch zu bearbeiten, um ein modernes System des Privatrechts aufzubauen.745 Die Verselbständigung des Prozessrechts gegenüber dem Zivilrecht erfolgte in Deutschland im späteren gemeinen Recht. In der juristischen Literatur der Neuzeit gingen die Gelehrten bei der Lösung des Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblems gelegentlich von einer eher kasuistisch-empirischen Jurisprudenz aus.746 In der folgenden Entwicklung zeigte sich aber allmählich wieder eine gegensätzliche Strömung, die immer versuchte, das Prozessrecht einheitlich und systematisch aufzubauen. Dies lässt erkennen, wie sehr das deutsche Prozessrecht der Neuzeit seit seiner Geburt tiefgreifend von der damals herrschenden Pandektistik und der Begriffsjurisprudenz beeinflusst wurde.747 Der systematische Konstruktivismus der deutschen Prozessualistik manifestiert sich hauptsächlich in zweierlei Hinsicht: Zum einen gilt die Systematisierung des Stoffs des Prozessrechts als die zentrale Aufgabe der Prozessualistik. Die einzelnen Regelungen werden nach ihrer Funktion und ihrem Zusammenhang zusammengestellt und einander zugeordnet.748 Zum anderen werden 742 Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 129; Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 4 f.; Beys, ZZP 105, S. 147, 163; Nakamura, H., The Japan Annual of Law and Politics 1957, S. 93. 743 Statt vieler Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 137 ff.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl., 1983; Mitsopoulos, ZZP 91, S. 115. 744 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 19; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 11. 745 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 139; Larenz, Methodenlehre der Rechts­wissenschaft, S. 19. 746 Vgl. die Darstellung von Hesselberger, Streitgegenstand, S. 82, 142, 146. 747 Hegler, FG Heck, Rümelin und Schmidt, S. 216 ff.; Stürner, FS Lüke, S. 830 f.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 83, 95 f. 748 So beispielsweise die Darstellung Heglers: „Unter einem […] rechtswissenschaftlichen System verstehen wir die Darstellung eines Wissensgebiets in einem Sinngefüge, das sich als einheitliche, zusammenhängende Ordnung desselben darstellt.“ Hegler, FG Heck, Rümelin und Schmidt, S. 216. Bemerkenswert ist, dass der Aufbau des Systems nicht nur der Verwirk­

222

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

abstrakte Begriffe und dementsprechende Theorien entwickelt, die für den systematischen und dogmatischen Aufbau des Prozessrechts unerlässlich sind.749 In­ sofern ist das Prozessrecht eine dogmatisch geordnete Einheit mit eigenen Grund­ sätzen, Rechtsbegriffen und Rechtsinstituten. Im Zuge langjähriger Bemühungen deutscher Prozessualisten hat sich ein einheitliches, systematisches Prozessrecht herausgebildet, das die einzelnen Rechtsinstitute in einen Sinnzusammenhang stellt. auch hat sich allmählich eine Reihe von Prozessrechtstheorien entwickelt, die immanente Zusammenhänge einzelner Rechtsinstitute entdecken und das Prozessrecht als eine Einheit transparent und verständlich machen wollen. Der systematische Konstruktivismus der deutschen Prozessualistik zeigt sich besonders deutlich bei der Behandlung des Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblems.750 Einerseits bemerkten die Prozessualisten in der neueren Geschichte, dass zwischen der Streitgegenstandsproblematik und dem Auf­bau des Zivilrechts ein innerer Zusammenhang besteht. Die Schwierigkeit des Streitgegenstandsproblems im Prozessrecht beruhte vor allem auf Fragen der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne im materiellen Recht, auch wenn der Prozessgegenstand nicht mit der actio oder dem Anspruch im materiellrechtlichen Sinne identisch war.751 Andererseits hatten die Prozessualisten bei der Systematisierung des Prozessrechts entdeckt, dass einige relevante prozessuale Institute mit der Eingrenzung des Streitgegenstands im Zusammenhang stehen. Diese Institute, insbesondere die Klageänderung, die Klagenhäufung, die Rechtshängigkeit und die materielle Rechtskraft, wurden als „Bewährungspunkte“ oder „Prüfsteine“ der Lehrmeinungen zum Streitgegenstand angesehen. In der frühen und späten Nachkriegszeit wurde die Tendenz immer offensichtlicher, in wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Streitgegenstand die Wirkungsweise solcher prozessualen Institute und ihre Interdependenz ausführlich und systematisch darzustellen.752 Seit dem Inkrafttreten der CPO zeigt sich das Bestreben, von ver­ schiedenen Standpunkten aus eine abstrakte, systematische und allgemeine Lehre lichung der inneren Einheit der Rechtsordnung, sondern vor allem der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und Rechtssicherheit dient. Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 16 ff. 749 In der Entwicklung der Prozessrechtstheorie beispielsweise „Prozessrechtsverhältnis“, „Rechtsschutzanspruch“, „Klagerecht“ und natürlich auch „Streitgegenstand“; vgl. Stürner, FS Lüke, S. 830 f.; Bruns, in: Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, S. 231 ff. Zur Bedeutung der prozessrechtlichen Theorien vgl. Habscheid, FS Schwab, S. 181; Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 7; Mitsopoulos, ZZP 91, S. 115 f. 750 Nach Lent gehört der Streitgegenstand „zu den großen Klammern, die das Verfahren zusammenhalten und es aus der Vielheit vereinzelter Handlungen zu einer inneren Einheit werden lassen.“ Lent, JbAkDR 1939/40, S. 207, hier zitiert nach: Hesselberger, Streitgegenstand, S. 138. 751 Vgl. oben Kapitel 6 B. 752 So z. B. Lent, ZZP 65, S. 315 ff.; ders., ZZP 72, S. 63 ff.; Schwab, Streitgegenstand, S.  74 ff.; Habscheid, Streitgegenstand, S. 235 ff.; Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, S. 288 ff. Erwähnenswert bleibt aber, dass die systematische Darstellung der Streitgegenstandsproblematik nicht unbedingt zu einer einheitlichen Streitgegenstandslehre führt.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

223

vom Streitgegenstand zu begründen, und die wissenschaftliche Auseinandersetzung um diese Vorhaben dauert bis heute an. Der Streitgegenstandsbegriff und die Streitgegenstandslehre zeigen deutlich, dass die deutsche Prozessualistik dazu tendiert, die prozessrechtlichen Probleme systematisch zu untersuchen und dogmatisch saubere Lösungen zu erarbeiten. Diese systematisch-deduktive Jurisprudenz unterscheidet sich methodisch deutlich von der kasuistisch-empirischen Denkweise der römischen und mittelalterlichen Juristen sowie des anglo-amerikanischen Rechtskreises, die sich stärker an der praktischen Lösung der Einzelfälle ausrichtet.753 Die deutsche Streitgegenstandslehre hat das Prozessrecht und die Prozessrechtswissenschaft vieler anderer Länder mehr oder weniger beeinflusst.754 Insbesondere gelten dogmatische Untersuchungen zur Streitgegenstandslehre als charakteristisches Merkmal derjenigen Prozessrechtsordnungen, die das deutsche Recht rezipiert haben und dadurch in gewisser Weise zum germanischen Rechtskreis gehören.755 Das Er­geb­nis der langjährigen wissenschaftlichen und praktischen Bemühungen ist die Schaffung dogmatisch solider und praktisch befriedigender Streitgegenstandslehren, die als Eckpfeiler germanisch beeinflusster Prozessrechte gelten können. III. Streitgegenstand als „Lieblingskind“ der Begriffsjurisprudenz? Auch wenn die Blütezeit der Diskussion um den Streitgegenstand in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts liegt, so ist doch nicht zu leugnen, dass die Denkweise beim Aufbau der Streitgegenstandslehre stark von der damals an sich bereits verabschiedeten Begriffsjurisprudenz geprägt war.756 So erschien der Streitgegenstand als zentraler Begriff der Prozessualistik und als Grundstein des Prozessrechtssystems. Man pflegte ein strenges Systemdenken. Ausgangspunkt der Behandlung praktischer Probleme waren grundlegende Rechtsbegriffe und -theorien; Lösungen sollten innerhalb eines geschlossenen Systems konsequent sein. Man wollte einen abstrakten und allgemeingültigen 753 Vgl.

Georgiades, Anspruchskonkurrenz, S. 5 ff.; Nakamura, H., Recht in Ost und West 1988, S. 299 ff.; ders., in: Zivilverfahrensrechtliche Probleme des 21. Jahrhunderts, S. 72 ff.; Habscheid, ­ZVglRWiss 75, S. 211. 754 Für einen Überblick vgl. Stürner, in: Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, S. 10 f.; für den germanischen Rechtskreis Rechberger/ Simotta, Österreichisches Zivilprozessrecht, Rn. 383 ff.; Habscheid, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, Rn. 374 ff.; Beys, in: Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, S. 317 f.; für den romanischen Rechtskreis Lenze, Von der actio zum Streitgegenstand, S. 131 ff.; Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit, S. 169 ff.; für die anderen Länder Nakamura, H., in: Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, S. 434 f.; Ho, in: Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, S. 461 ff. 755 Beys, ZZP 105, S. 146. 756 Hesselberger, Streitgegenstand, S. 83, 94 ff.

224

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Streitgegenstandsbegriff begründen. Diese Art der Bemühung um eine Streit­ gegenstandslehre stieß auf Kritik.757 Ekelöf nannte den Streitgegenstandsbegriff ablehnend „Lieblingskind der Begriffsjurisprudenz“.758 Allerdings kann man diese Kritik nicht als voll zutreffend ansehen. Die Begriffsjurisprudenz bildet – so der Vorwurf – teilweise ein Rechtssystem von abstrakten Begriffen, die „mit praktischer Vernunft, mit sozialen Wertungen, mit ethischen, religiösen, rechtspolitischen und volkswirtschaftlichen Erwägungen“ nichts zu tun haben.759 Offensichtlich ist dies aber bei der Lehre vom Streitgegenstand nicht der Fall. Das Hauptanliegen der Streitgegenstandslehre besteht – wie dargelegt – darin, den Inhalt und Umfang des Gegenstandes eines Prozesses zu ermitteln und für prozessrechtliche Probleme im Zusammenhang mit dem Streitgegenstand konsequente Lösungen zu entwickeln. Sie strebt vor allem die Systematisierung des Prozessrechts an. Auf die Bildung und Analyse eines bloßen Begriffs wird wenig Gewicht gelegt. Insbesondere in der modernen Entwicklung der Streitgegenstandslehre wird teleologischem Denken große Bedeutung beigemessen. Daher tendiert die moderne Streitgegenstandslehre stark zur Wertungsjurisprudenz: Bei der Erarbeitung der Theorie wird den Prozesszwecken und Prozessrechtsgrundsätzen wie Parteidisposition, effektiver Rechtsschutz, Rechtsfrieden, richterliche Prozessleitung, Prozessökonomie usw. besondere Aufmerksamkeit geschenkt.760 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die deutsche Prozessualistik in ihrer langjährigen Bemühung um eine Präzisierung der prozessualen Rechtsbegriffe und um eine Systematisierung des Rechtsstoffs die charakteristische Lehre vom Streitgegenstand entwickelt hat. Die Diskussion um den Streitgegenstand ist keinesfalls „eine Art Restbestandteil der Begriffsjurisprudenz“.761

757 Schlosser,

ZPR, Rn. 420, 425. ZZP 85, S. 145 ff. 759 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 139. Vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 460 f. 760 Daran lässt sich erkennen, dass der Streitgegenstand kein wertungsneutraler Begriff ist; vielmehr dient er der Realisierung bestimmter Wertungen. Im Fall von Wertungskonflikten ist eine Interessen- und Wertungsabwägung auch für die Streitgegenstandslehre unvermeidlich. 761 Prütting, in: Diskussionsbericht zur Streitgegenstandslehre und EuGH, ZZP 111, S. 456; ders., GS Lüderitz, S. 632. Pfeiffer, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, S. 85; Walker, ZZP 111, S. 429. 758 Ekelöf,

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

225

B. Die dogmatischen Bestrebungen zur Schaffung einer allgemeinen Streitgegenstandslehre in Deutschland I. Überblick über die Entwicklung der deutschen Streitgegenstandslehre Zwar ist es Aufgabe jeder Prozessordnung, eine Lösung für die Probleme zu finden, die mit dem Streitgegenstand zusammenhängen, aber der Streitgegenstand ist nicht unbedingt einer der Gegenstände der Prozessrechtswissenschaft. Im kontinentalen Europa stellte sich zuerst im römischen Recht die Aufgabe, das Streitgegenstandsproblem zu lösen. Allerdings war diese Problematik – wegen des aktionenrechtlichen Denkens und des Aktionenrechtssystems – im damaligen Prozessrecht nicht von zentraler Bedeutung. Am Ende der Neuzeit wurde das Phänomen der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne als Folge der gedanklichen und institutionellen Trennung des Zivil- und Prozessrechts – in der Rechtspraxis immer häufiger. Es rückte deshalb allmählich in den Mittelpunkt der damaligen wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die Bemühung um eine vernünftige Lösung förderte unmittelbar die Entstehung und weitere Entwicklung der Streitgegenstandslehre in Deutschland. Die früheste und damals herrschende Auffassung zum Streitgegenstand nach dem Inkrafttreten der CPO war die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie. Diese Theorie folgte dem veralteten aktionenrechtlichen Denken und führte zur Konzeption des „punktuellen Streitgegenstands“.762 Ihr zufolge geht es in einem Prozess um die Anwendbarkeit einer in bestimmter Weise festgelegten materiellrechtlichen Norm. Dementsprechend wird fälschlicherweise die selbständige Bedeutung der materiellrechtlichen Ansprüche betont, die sich auf dasselbe Prozessergebnis richten. Diese Theorie konnte der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft keine befriedigenden Lösungen bieten. Erstens wurde sie den Schwierigkeiten des Anspruchskonkurrenzproblems im Bereich des Prozessrechts nicht gerecht und hat „das lebendige Wechselspiel und das funktionelle Zusammenwirken mehrerer Anspruchsgrundlagen“ im Bereich des Zivilrechts nicht ausreichend berücksichtigt.763 Zweitens schenkte sie den selbständigen Zielen des Verfahrensrechts, wie Rechtsfrieden, Rechtssicherheit, Prozessökonomie usw., sowie dem Zusammenwirken von Zivil- und Prozessrecht kaum Aufmerksamkeit.764 Daher unternahmen die Prozessualisten später erneut Versuche, das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne im Rahmen der Streit­gegenstandslehre zu lösen. Drei Ansätze lassen sich unterscheiden: 762 Jauernig,

ZPR, S. 122, 125. FS Kralik, S. 106. 764 Diese Theorie erkannte nicht, dass das Zivil- und das Prozessrecht als Teile der gesamten Rechtsordnung eine funktionelle Einheit bilden. 763 Böhm,

226

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

(1) Zunächst wurde die Lehre vom Rechtsschutzanspruch begründet.765 Es war das Verdienst dieser Lehre, einen prozessualen Anspruchsbegriff zu entwickeln. Sie hatte zudem die öffentlich-rechtliche Natur des Zivilprozessrechts entdeckt und damit zur Verselbständigung des Zivilprozessrechts beigetragen. Sie stellte auch klar, dass – im Gegensatz zum materiellrechtlichen Anspruch (§ 194 BGB), der sich ausschließlich gegen eine Partei richtet – dieser Anspruch des Klägers vor allem gegen das Gericht gerichtet ist. Allerdings war die Lehre vom Rechtsschutzanspruch vor allem Ausdruck des dogmatischen Bestrebens, das Wesen des Prozessrechts und des Prozessrechtsverhältnisses zu erklären. Sie hatte nicht die Lösung praktischer Probleme zum Ziel. So trug sie weder zur Klärung des Wesens und Inhalts des Streitgegenstands noch zur Beantwortung der Frage bei, wie der Streitgegenstand abzugrenzen bzw. wie ein Streitgegenstand von anderen Streitgegenständen zu unterschieden sei.766 (2) Es gab auch stets Bemühungen, das Streitgegenstandsproblem und das Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne auf der Basis materiellrechtlicher Überlegungen zu lösen. Aus diesem Grund wurden zahlreiche Varianten der neuen materiellrechtlichen Theorie entwickelt. Auch wenn dieser Ansatz in vieler Hinsicht zur Entwicklung der Streitgegenstandslehre bei­ getragen hat767 und bis heute noch teilweise vertreten wird, ist allgemein anerkannt, dass die von ihm formulierten Vorschläge zu einem gewandelten Verständnis des Zivilrechtssystems nicht realistisch sind. Insofern scheint er keine praktikable Lösung der mit dem Streitgegenstand verbundenen Probleme anbieten zu können. (3) Vor allem die klassische zweigliedrige Theorie hatte vorgeschlagen, Lösungen aus rein prozessrechtlicher Sicht zu entwickeln. Diesem Ansatz zufolge ist der Streitgegenstand prozessual zu verstehen, nämlich als ein auf die rechtskräftige Feststellung einer Rechtsfolge gerichtetes Begehren. Es wird prozessual durch den vom Kläger gestellten Antrag und den zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalt eingegrenzt. Allerdings hat diese Theorie bei der Lösung des Streitgegenstandsproblems das prozessrechtliche Denken nicht konsequent verwirklicht und ist deshalb auf Schwierigkeiten gestoßen. Erstens hat sie die zentrale Bedeutung des Klageziels für die Lösung des Streitgegenstandsproblems nicht erkannt. Der Antrag des Klägers als das Klageziel kann nicht mit einer konkreten Rechtsfolgenbehauptung gleichgesetzt wer 765 Wach,

Handbuch des Deutschen Civilprozeßrechts, S. 19 ff.; ders., FG Windscheid, S.  15 ff.; ders., Der Rechtsschutzanspruch, ZZP 32, S. 1 ff. Vgl. zudem Stein/Jonas/Schu­mann, 20. Aufl., Einl., Rn. 269.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 101 ff.; Detterbeck, AcP 192, S.  333 ff.; Herbst, Die Bedeutung des Rechtsschutzanspruchs für die moderne Zivilprozessrechtslehre; Kengyel, Rechtsschutzanspruch und Rechtsschutzbedürfnis; Mes, Rechtsschutzanspruch. 766 Hesselberger, Streitgegenstand, S. 124 f. 767 Beispielsweise hat sie dazu beigetragen, die zentrale Bedeutung des Klageziels zu betonen und die Konzeption des Lebenssachverhalts zu begründen.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

227

den. Deshalb wurde der prozessuale Anspruch nach dieser Lehre zu eng definiert. Bei der Lösung des Problems der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne zeigte sie deshalb Schwächen.768 Zweitens befürwortet sie zwar die prozessuale Abgrenzung des Sachverhalts, sie hat aber keinen brauchbaren Maßstab dafür entwickelt.769 Aus diesen Gründen wurde in der Folgezeit die eingliedrige Theorie entwickelt. Im Vergleich zur zweigliedrigen Theorie trieb sie bei der Lösung des Streitgegenstandsproblems das prozessrechtliche Denken weiter voran und begründete als Ergebnis eine reine prozessuale Streitgegenstandstheorie. Mit Blick auf den ersten der genannten Schwachpunkte der zweigliedrigen Theorie ging sie davon aus, dass der prozessuale Anspruch unter Berücksichtigung des durch den Antrag umrissenen Klageziels ausgelegt werden sollte. Diese Ansicht ist grundsätzlich zu befürworten. Hinsichtlich des zweiten Schwachpunktes schlug sie vor, auf den Sachverhalt als Kriterium zur Abgrenzung des Streitgegenstandes zu verzichten. Dieser Vorschlag ist offensichtlich problematisch, und die Vertreter dieser Theorie erkennen durchaus an, dass der Verzicht auf den Sachverhalt als Kriterium in vielen Fällen nicht haltbar erscheint. Die „jugendliche“ Zeit der Streitgegenstandslehre war bereits Ende der 1960er Jahre vorbei. Viele Jahre strebten die deutschen Prozessualisten danach, aufgrund der zweigliedrigen Theorie eine herrschende Lehre für Praxis und Rechtswissenschaft zu bilden. Heute wird überwiegend anerkannt, dass die klassische zweigliedrige Theorie grundsätzlich zur richtigen Erkenntnis vom Wesen des Streitgegenstandes und zur richtigen Abgrenzung des Streitgegenstandes führt. Allerdings erfährt sie – unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklungen der Streitgegenstandslehre – zu einem gewissen Grade eine Verbesserung: Zunächst einmal wird der prozessuale Anspruch teleologisch ausgelegt und dadurch ein weit verstandener Anspruchsbegriff befördert; sodann wird ein weit verstandener Sachverhaltsbegriff, nämlich der Lebenssachverhalt, begründet, um dem weit verstandenen Anspruchsbegriff die adäquate tatsächliche Basis zu schaffen und die umfassende Bereinigung des Rechtsstreites zu ermöglichen; schließlich lässt man die materiellrechtlichen Normen bei der Abgrenzung des Lebenssachverhalts eine gewisse

768 Dies zeigt sich insbesondere bei ihrer Definition des Streitgegenstands als Rechtsfolgenbehauptung und nicht als Klagebegehren. Wenn der Streitgegenstand in einem Prozess als eine konkrete Rechtsfolgenbehauptung angesehen wird, kann der Richter dem Kläger nur schwer – mit Hilfe des Grundsatzes iura novit curia und des Instituts der richterlichen Hinweispflicht – Hinweise zur Verbesserung oder Veränderung seines Antrags geben. Demgegenüber kann der Streitgegenstand teleologisch ausgelegt werden, wenn er als Klagebegehren angesehen wird. Der weit verstandene Streitgegenstandsbegriff passt sich dem Lebenssachverhalt besser an und kann zur vernünftigen und umfassenden Erledigung des Streites zwischen beiden Parteien beitragen. 769 Zudem ist die Definition des Sachverhalts durch diese Theorie zu eng. Auch lehnt sie die Bedeutung der materiellrechtlichen Normen für die Abgrenzung des Sachverhalts ab, da sie befürchtet, sich in den Schlingen des materiellrechtlichen Denkens zu verfangen.

228

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Rolle spielen, was aber die grundsätzlich prozessuale Konzeption des Streitgegenstands unberührt lässt.770 II. Die Balance zwischen theoretischer Kontroverse und herrschender Meinung 1. Die Bedeutung der theoretischen Auseinandersetzung Die Streitgegenstandslehre in Deutschland hat einen langjährigen Theorienstreit erlebt, der als berühmtes Phänomen der Geschichte der Prozessualistik gilt. So meint Habscheid, es sei eine eigentümliche Ironie, dass die Streitgegenstandslehre, die den Rechtsfrieden stiften soll, selbst stets im Streit befangen bleibe.771 Allerdings waren diese Auseinandersetzungen Ausdruck der ständigen Bemühungen deutscher Prozessualisten, eine dogmatisch saubere und der Praxis dienende Lösung für das Streitgegenstandsproblem zu finden. Sie führten zur Fortentwicklung der Streitgegenstandslehre, zum Vergleich unterschiedlicher Theorien und endlich zur Ausformung einer herrschenden Meinung. Aus diesem Grund können sie auf keinen Fall als vergeblich bewertet werden. 2. Die Übereinstimmungen der deutschen Prozessualisten In einer seiner Schriften aus dem Jahr 1955 führte Nikisch aus, dass es einerseits unter den damaligen Autoren nicht zwei gebe, deren Ansichten zum Streitgegenstand völlig übereinstimmten, andererseits aber die Tendenz zu erkennen sei, dass die unterschiedlichen Meinungen allmählich eine gewisse Annäherung vollzogen hätten.772 Diese Tendenz zeigt sich in der heutigen Prozessualistik noch deutlicher. Grundsätzlich stimmen die Prozessualisten durchaus in einigen Punkten überein. Erstens besteht Einigkeit darin, dass es der Kläger ist, der – durch den Klage­ antrag – den Streitgegenstand bestimmt. Diese Ansicht stützt sich letztlich auf die Dispositionsmaxime und dem Grundsatz der Privatautonomie. Die Parteidisposition über den Gegenstand des Prozesses spiegelt die Grundüberzeugungen der liberaldemokratischen Gesellschaft und zählt zur unverzichtbaren Grundlage aller Streitgegenstandstheorien. Die Parteidisposition verfügt in Europa über eine lange Geschichte; ihre Wurzeln kann man auf römisches und germanisches Recht zurückführen; schon mit ihrer Geburt war die Streitgegenstandslehre dieser Tradition gefolgt.773 770 Vgl.

oben Kapitel 10 B. und C. Habscheid, ­ZVglRWiss 75, S. 210. 772 Nikisch, AcP 154, S. 272. 773 Baur, in: Deutsche zivil- und kollisionsrechtliche Beiträge, S. 188 f.; Stürner, in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 32 f.; ders., FS Heldrich, S. 1061 ff.; ders., R ­ abelsZ 69, S. 221 f. 771 Vgl.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

229

Zweitens wird das prozessuale Verständnis des Streitgegenstands weitgehend anerkannt. Die traditionelle materiellrechtliche Theorie wird mit Recht ab­gelehnt; auch wird die neue materiellrechtliche Theorie heute selten vertreten. Die Prozessualisten sind vielmehr der Ansicht, dass der Streitgegenstand der „prozessuale Anspruch“ des Klägers ist und nicht mit dem materiellrechtlichen Anspruch gleichgesetzt werden darf. Wesen und Inhalt des Streitgegenstands werden also prozessual verstanden. Die Kriterien zur Abgrenzung des Streitgegenstandes werden entsprechend aus prozessualer Perspektive gewonnen. All dies bedeutet, dass im Bereich der Streitgegenstandslehren das prozessrechtliche Denken das materiell­rechtliche Denken überwunden hat. Drittens erscheint unstreitig, dass die Identität des Streitgegenstandes unter drei Voraussetzungen anerkannt wird, nämlich wenn in zwei oder mehreren Fällen die Parteien,774 die Sachverhalte775 und die Anträge776 völlig identisch sind. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich um unterschiedliche Streitgegenstände oder um eine sog. Teilidentität. Die meisten Theorien sind sich darin einig, dass der Sachverhalt als tatsächlicher Anspruchsgrund eine gewisse Rolle bei der Abgrenzung des Streitgegenstandes spielt.777 Diese Erkenntnis in der modernen Entwicklung des Streitgegenstan­des, insbesondere aber auch die Annahme eines weit verstandenen Anspruchsbegriffs und eines weit verstandenen Sachverhalts, haben dazu beigetragen, die Differenzen zwischen beiden Varianten der prozessualen Streitgegenstandstheorie zu verringern und die Ent­wicklung einer herrschenden Lehre zu ermöglichen. 3. Die Begründung einer herrschenden Meinung und ihre Bedeutung Auch wenn die Diskussion um die Streitgegenstandslehre bis heute nicht voll umfänglich abgeschlossen ist, halten die Prozessualisten seit Langem die Entwicklung einer herrschenden Lehre sowohl für die Rechtswissenschaft als auch für die Rechtspraxis für unverzichtbar. Daher haben sie auf der Grundlage der beschriebenen Übereinstimmung im Laufe der Zeit die in gewissem Sinne verbesserte zweigliedrige prozessuale Theorie als herrschende Lehre akzeptiert. Nach ihr wird der 774 Ändern sich die Parteien, ändern sich auch die Streitgegenstände. Beys, ZZP 105, S. 164; Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, S. 41. 775 Besser gesagt: die Lebenssachverhalte oder die historischen Ereignisse. 776 Die völlige Identität des Streitgegenstandes setzt voraus, dass die Klageanträge sowohl qualitativ als auch quantitativ dieselben sind. Unter qualitativer Identität der Anträge versteht man, dass das Klageziel oder das beanspruchte Prozessergebnis in den Prozessen dasselbe ist. Daher ist die Identität der Rechtsschutzform in der qualitativen Identität der Anträge in­ begriffen. 777 Es wird sogar die Ansicht vertreten, dass es im Wesentlichen nur eine Formulierungsfrage sei, ob man den Sachverhalt neben dem Antrag als gleichwertiges Element des Streitgegenstandes ansieht oder nur zu seiner Auslegung heranzieht. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 92, Rn. 13.

230

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Streitgegenstand als das vom Kläger im Antrag gestellte, an das Gericht gerichtete Rechtsbegehren verstanden; er wird durch den in Form des Antrags dargestellten Klageanspruch und den Lebenssachverhalt abgegrenzt. Im Prinzip findet diese Theorie ihre Anwendung in allen Bereichen, wo die Frage des Streitgegenstands relevant ist, nämlich bei den Instituten der Klagenhäufung, der Klageänderung, der Rechtshängigkeit und der materiellen Rechts­kraft. Diese herrschende Lehre kann dazu dienen, die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Theorien hervorzuheben und die Bedeutung ihrer Widersprüche für die gerichtliche Praxis zu verringern. Deshalb ist ihre Entwicklung vor allem aus didaktischen und praktischen Gründen zu begrüßen. Zudem begreift sie den Streitgegenstand aus prozessualer Perspektive. Dies erlaubt eine dem Prozessrecht angemessene Lösung vor allem des Anspruchskonkurrenzproblems. Schließlich ist der einheitliche Streitgegenstandsbegriff grundsätzlich begrüßenswert, weil er die Zusammenhänge der vier Prozessrechtsinstitute ausreichend berücksichtigt und zu einer befriedigenden Lösung des Streitgegenstandsproblems für diese Instituten führt. Die Anwendung der herrschenden Lehre vom Streitgegenstand in den letzten Jahren hat bestätigt, dass sie die Rechtsklarheit und Rechtssicherheit bei der Bewältigung der Streitgegenstandsproblematik erheblich zu fördern vermag. Bemerkenswert ist, dass die herrschende Lehre jedoch nicht überall, wo die Streitgegenstandstheorie relevant ist, uneingeschränkt Anwendung finden soll. Wie mehrfach aufgezeigt, werden in einigen Fällen Elemente der eingliedrigen und die materiellrechtlichen Theorie herangezogen, wenn sie eine bessere Lösung bieten. 4. Die Streitgegenstandslehre und die gerichtliche Praxis In der Rechtsprechung des Reichsgerichts setzte sich anfangs die damals herrschende ursprüngliche materiellrechtliche Vorstellung vom Streitgegenstand durch.778 Später gab es dann in manchen Entscheidungen Ansätze, den Streitgegenstand prozessual einzuordnen.779 Seit Langem schon vertritt der BGH nun die prozessuale Theorie. Angesichts der Frage, ob der Sachverhalt auch ein Kriterium für die Abgrenzung des Streit­gegenstandes ist und ob er – neben dem Antrag – als selbständiger und gleichwertiger Bestandteil des Streitgegenstandes ange­ sehen werden muss, war der BGH zwar in manchen Fällen ins Schwanken geraten.780 Später äußerte er jedoch in einer berühmten Entscheidung vom Jahre 1970 die Auffassung, dass der Theorienstreit zum Streitgegenstand „weitgehend unfruchtbar“ sei, und sprach sich für eine Bestimmung des Streitgegenstandes jeweils vom „vernünftigen Ergebnis“ her aus.781 Allerdings ist er in seiner ständi-

778 Beispielsweise

RGZ, 27, 385 ff. RGZ, 63, 268; 118, 210; 153, 210 ff. 780 Beispielsweise BGHZ, 9, 27 ff.; 37, 371 ff. 781 BGH WarnRspr. 1970, 48(N. 110). 779 Beispielsweise

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

231

gen Rechtsprechung grundsätzlich der zweigliedrigen Theorie gefolgt.782 Danach wird der Streitgegenstand durch Klageantrag und Lebenssachverhalt festgelegt. Zudem ist der BGH der Ansicht, dass die zweigliedrige Theorie im Prinzip für alle vier Bewährungspunkte des Streitgegenstandsproblems gelten soll. Dies zeigt deutlich, dass er eher eine einheitliche Konzeption des Streitgegenstands befürwortet.783 Angesichts der vorausgehenden Darstellung gewinnt man den Eindruck, dass der BGH – anstatt sich aktiv an der theoretischen Auseinandersetzung zu beteiligen – sein Gewicht auf die weitere Ausbildung und Erhaltung der herrschenden Lehre legt. Er hat durch seine ständige Rechtsprechung viel zur Entstehung der herrschenden Meinung beigetragen; zugleich folgt er ihr in den meisten Fällen, um Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in der gerichtlichen Praxis zu wahren und zu fördern.784 III. Die Vor- und Nachteile der Lehre vom Streitgegenstand Wie Pfeiffer hervorgehoben hat, sind der Streitgegenstandsbegriff und die Streitgegenstandslehre keinesfalls eine „Spitzfindigkeit“ des deutschen Prozessrechts.785 Viel­mehr sind sie von tiefgreifender Bedeutung sowohl für die Prozessualistik als auch für die Rechtspraxis.786 Zum einem legen sie den Umfang des Rechtsstreites und die Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis fest, was als verfahrensinterne bzw. innerprozessuale Abgrenzungsfunktion bezeichnet werden kann. Zum anderen bestimmen sie die Identität des Rechtsstreits im Verhältnis zu anderen Verfahren, was sich als verfahrensexterne bzw. außerprozessuale Abgrenzungsfunktion beschreiben lässt.787 Für die Praxis ist insbesondere die zweite Funktion von herausragender Bedeutung.788 In dogmatischer Hinsicht trägt die 782 Stein/Jonas/Roth,

22. Aufl., vor § 253, Rn. 11, Fn. 31. 22. Aufl., vor § 253, Rn. 11. Anderer Ansicht Stein/Jonas/Schumann, 20. Aufl., Einl., Rn. 284. 784 Dem BGH ist bewusst, dass eine absolut einheitliche Streitgegenstandstheorie wohl unmöglich ist. So hat er zur Lösung einiger Fälle die materiellrechtliche oder die eingliedrige Theorie herangezogen. Vgl. MünchKomm/Becker-Eberhard, 3. Aufl., vor §§ 253 ff., Rn. 35 f.; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 12 f. 785 Pfeiffer, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, S. 85. 786 So die Ausführungen von Mitsopoulos: „Theorie […] ohne Praxis ist leer und Praxis ohne Theorie ist blind.“ Mitsopoulos, ZZP 91, S. 116. 787 Böhm, FS Kralik, S. 84 f. 788 Erwähnenswert ist, dass die Streitgegenstandslehre in ihrer Entwicklung einen Funktionswandel erlebt hat. Am Anfang konzentrierte sie sich auf die Suche und Begründung einer vernünftigen Lösung für die Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne. Nachdem diese Problematik mit Hilfe der prozessualen Theorie weitgehend als gelöst erachtet werden konnte, verlagerte sich der Schwerpunkt der Streitgegenstandslehre auf die Lösung der Probleme der Rechts­ hängigkeit und materiellen Rechtskraft. Mit anderen Worten sind die folgenden Fragen von zentraler Bedeutung für die Streitgegenstandslehre: Wann steht eine anhängige Klage der Erhebung einer nachherigen Klage entgegen und wann hindert ein abgeschlossener Prozess die Durchführung eines späteren Prozesses? 783 Stein/Jonas/Roth,

232

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Streitgegenstandslehre zur Systematisierung des Prozessrechts bei; durch sie werden Zusammenhänge zwischen den vier relevanten Rechtsinstituten analysiert und in der Praxis entsprechend berücksichtigt. Insbesondere nach Begründung einer herrschenden Lehre wird der Wert der Streitgegenstandslehre noch deutlicher. Sie bietet hilfreiche Regeln für die gerichtliche Praxis und dient zur Verringerung von Widersprüchen bei der Behandlung von Streitgegenstandsproblemen.789 Allerdings sollte man die Vorteile der Streitgegenstandslehre auch nicht überbewerten. Auch wenn sie zu einer klaren und systematischen Lösung von Streitgegenstandsproblemen viel beitragen kann, ist sie ohne Zweifel kompliziert und sowohl für deutsche Juristen als auch für Juristen anderer Länder schwer zu verstehen und anzuwenden. Es gilt, sich stets bewusst zu machen, dass alle prozessrechtlichen Theorien der Rechtspraxis dienen sollen. So hat der systematischkonstruktivisti­sche Charakter der Streitgegenstandslehren in Deutschland – im Vergleich zu anderen Rechtskulturen, die einer kasuistisch-empirischen Denkweise zuneigen – auch Nachteile, weil ihre praktische Leistungsfähigkeit durch ihre Kompliziertheit und den bis heute nicht völlig beendeten Theorienstreit in einem gewissem Maße beeinträchtigt wird. Beispielsweise ist die Antwort auf die Frage, welchen genauen Umfang der Streitgegenstand hat oder ob zwei Anträge einen einzigen Streitgegenstand darstellen, in der Praxis manchmal irrelevant. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es um Klageänderungen geht. Das Gericht gestattet eine „Klageänderung“ in der Praxis, wenn es der Ansicht ist, dass der Rechtsstreit dadurch umfassend er­ledigt und ein zweiter Rechtsstreit vermieden werden kann. Wie Jauernig mit Recht betont, liegt hierin „eine praktisch begrüßenswerte Auflockerung des Verfahrens, eine Befreiung des Gerichts von dogmatisch zugespitzten Entscheidungen“.790 Die Streitgegenstandslehre ist eine typische Frucht der deutschen Prozessualistik. Sie steht in engem Zusammenhang mit Rechtstraditionen, Rechtsgrundsätzen, dem Aufbau des Prozesses und mit verschiedenen Rechtsinstituten des germanischen bzw. kontinental-europäischen Rechtskreises. In Prozessrechten, in denen es eine Streitgegenstandslehre bereits gibt, sollte nicht auf sie verzichtet werden. Allerdings gibt es keine für Prozessrechte allgemeingültige Streitgegenstandslehre. Unterscheiden sich System und Ziel der Prozessrechte, weichen auch die Erscheinungsformen und die Lösungen der Streitgegenstandsproblematik voneinander ab. Die systematische und abstrakte Konzeption der Streitgegenstandslehre ist kein „Muss“ für alle Prozessrechte und Prozessrechtswissenschaften. Vielmehr kann sie nur unter bestimmen Voraussetzungen zur Lösung der Streitgegenstandsproblematik beitragen. Die Entwicklung und der Inhalt der Streitgegenstandslehre ist in den Ländern des germanischen Rechtskreises tiefgreifend von der dortigen 789 Dadurch wird einem grundlegenden Gerechtigkeitspostulat Rechnung getragen: Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln. Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 16. 790 Jauernig, ZPR, S. 136 f. Ähnliches gilt auch im Fall der objektiven Klagenhäufung.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

233

Rechtstradition und Rechtskultur geprägt. Die volle Entfaltung der Funktion der Streitgegenstandslehre in einem Land setzt voraus, dass sein Prozessrecht über eine Reihe adäquater prozessrechtlicher Grundsätze und Institute verfügt. Der Zusammenhang zwischen der Streitgegenstandslehre und einigen relevanten prozessrechtlichen Instituten soll im Folgenden etwas dargestellt werden.

C. Ideologische Fragen des Zivilprozessrechts, Verfahrensstruktur und Streitgegenstandslehre I. Parteifreiheit und Parteiverantwortung als Grundstein des europäischen Zivilprozessrechts und ihr Einfluss auf die Streitgegenstandslehre Ein grundlegender Charakterzug des Zivilprozessrechts der europäischen Länder zeigt sich darin, die Herrschaft über den Prozess den Parteien überlassen. Dieser Grundgedanke entspricht dem zentralen Zweck des Prozessrechts, nämlich dem Schutz und der Durchsetzung der Rechte der Individuen. Er manifestiert sich in einer Reihe von Verfahrensgrundsätzen, von denen die Dispositions- und die Verhandlungsmaxime die wichtigsten sind. Mit der Dispositionsmaxime „ist die Befugnis der Parteien gemeint, darüber zu entscheiden, ob und über welche Streitfragen überhaupt ein Prozess stattfindet, aber auch ihre Berechtigung, Fortgang oder Beendigung des Verfahrens unmittelbar durch Prozeßhandlungen zu beeinflussen“.791 Nach der Verhandlungsmaxime obliegt die Beibringung der Tatsachen und Beweismittel den Parteien.792 Mit diesen Prinzipien werden einerseits die Dispositionsfreiheit und die Privatautonomie der Parteien, anderseits aber auch die Verantwortlichkeit der Parteien für ihr Streitverfahren betont. Die Grundidee der Parteifreiheit und Parteiverantwortung ist Bestandteil einer langen und ungebrochenen historischen Tradition in Europa.793 Sie hat die europäischen Prozessordnungen tiefgreifend geprägt und gilt als Grundlage des Prozessrechts der liberaldemokratischen Gesellschaft.794 Allerdings erfuhr das Prinzip der Parteiherrschaft in den einzelnen Rechtskulturen unterschiedliche Ausformung. So unterscheiden die Prozessrechte der europäischen Länder – teilweise offen, teilweise aber auch verdeckt – bei der Disposition 791 Leipold, JZ 1982, S. 442. Zur Dispositionsmaxime vgl. auch Cappelletti/Garth, Introduction – Policies, Trends and Ideas in Civil Procedure, S. 14 f.; Schreiber, Jura 1988, S. 190 ff.; Musielak, FS Schwab, S. 349 ff. 792 Zur Verhandlungsmaxime vgl. Schreiber, Jura 1989, S. 86 ff.; Weyers, FS Esser, S. 193 ff. 793 Überblick über die Geschichte und Gegenwart der Dispositionsmaxime: Stürner, FS Hel­ drich, S. 1062 ff. Überblick über die Geschichte der Verhandlungsmaxime: Schönfeld, Zur Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß und in den übrigen Verfahrensarten, S. 42 ff.; Tiegelkamp, Geschichte und Stellung der Verhandlungsmaxime im deutschen Zivilprozess seit dem jüngsten Reichsabschied. 794 Stürner, in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 32 f.

234

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

über den Gegenstand und den Umfang des Prozesses zwischen der Disposition über Tatsachen und Beweismittel und der Disposition über das anwendbare Recht.795 Auch wenn heute eine gewisse Konvergenz zwischen den Prozesssystemen festzustellen ist, hat diese Unterscheidung die verschiedenen europäischen Prozessrechte tiefgreifend geprägt. Dies zeigt sich besondere deutlich bei der Lösung der Streitgegenstandsproblematik. Beispielsweise wird die deutsche Streitgegenstandslehre stark von der deutschen Vorstellung der Parteiherrschaft beeinflusst. Nach deutschem Recht gilt folgende Aufgabenverteilung zwischen Richter und Parteien: Der Richter ist an die Anträge der Parteien gebunden; es ist grundsätzlich Sache der Parteien, für den Tatsachenstoff zu sorgen; der Richter muss aber das maßgebliche Recht in den Prozess einbringen (iura novit curia und da mihi facta dabo tibi ius). Dadurch beantwortet sich eine Reihe von relevanten Fragen der Streitgegenstandslehre. Die Bestimmung des Inhalts des Prozesses obliegt den Parteien (genauer: dem Kläger) und nicht dem Richter; demzufolge ist das Wesen des Streitgegenstands das Begehren des Klägers. Die Parteien legen den Umfang des Prozesses fest, so dass der Streitgegenstand im Prinzip durch den Klageantrag und Sachverhaltsvortrag abgegrenzt wird. Es gibt jedoch keine Parteidisposition über das anwendbare Recht, weshalb die Parteien keinen unmittelbaren Einfluss auf die gerichtliche Prüfung der rechtlichen Gesichtspunkte haben. II. Zweckmäßigkeit der Streitgegenstandslehre Die Streitgegenstandslehre ist keine Spitzfindigkeit der Prozessrechte des germanischen Rechtskreises.796 Sie dient vielmehr dazu, „ein geordnetes Verfahren zu ermöglichen, um dem einzelnen zur Durchsetzung seines Rechts zu verhelfen“.797 Daher spielen die Zweckvorgaben des materiellen Rechts und Prozessrechts bei der Konzeption der Streitgegenstandslehre eine entscheidende Rolle. 1. Zweckvorgaben des Zivil- und Prozessrechts und ihre Verkörperung in der Streitgegenstandslehre Die Streitgegenstandslehre hat an der dienenden Funktion des Zivilprozessrechts gegenüber dem materiellen Recht teil. Mit anderen Worten soll sie dem Einzelnen dazu verhelfen, seine subjektiven Privatrechte zu schützen und durchzusetzen.798 Neben dem Schutz subjektiver Rechte hat das Prozessrecht weitere 795 Stürner, FS Heldrich, S. 1061 ff.; ders., FS Weber, S. 589 ff.; ders., FS Kollhosser, S. 727 ff. 796 Pfeiffer,

in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, S. 85. ZZP 111, S. 429 f. 798 So das grundlegende Ziel des materiellen Rechts und Prozessrechts. Vgl. Larenz/Wolf, ­BGBAT, 9. Aufl., § 14; Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 5, 9 f., 295; MünchKomm/ Rauscher, 3. Aufl., Einl., Rn. 8; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 1, Rn. 5 ff.; Paulus, ZPR, Rn. 9; Nakamura, H., ZZP 99, S. 11; Baur, FS Tübinge Juristenfakultät, S. 161. 797 Walker,

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

235

Aufgaben zu erfüllen. Nach der klassischen Lehre sind die Erhaltung des Rechtsfriedens, der Verfahrensgerechtigkeit und der Prozessökonomie von eigenständiger Bedeutung. Zum einen ist die Sicherung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit für einen effektiven Rechts­schutz unverzichtbar.799 Der Prozess soll dazu dienen, private Konflikte zu lösen, den gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen und den Parteien ihre Rechte und Pflichten aufzuzeigen. Daher sollte der Streit zwischen zwei Parteien in einem Verfahren abschließend bereinigt werden und nicht erneut Gegenstand eines anderen Verfahrens sein. Insbesondere werden der Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit durch parallele Prozesse oder widersprüchliche Urteile bedroht. Aus diesem Grund ist es zu vermeiden, dass beispielsweise zwei Klagen denselben Gegenstand haben oder dass in einer Klage derselbe Gegenstand eines vorher abgeschlossenen Prozesses behandelt wird. Die Sicherung des Rechtsfriedens ist insofern zweifellos ein gewichtiger Orientierungspunkt bei der Lösung des Streitgegenstandsproblems. Zum anderen gilt es, die Verfahrensgerechtigkeit zu wahren. Einerseits fordert sie, die gerechtfertigten Interessen der Parteien hinreichend zu schützen, anderseits verlangt sie, dass beide Parteien gleich behandelt werden.800 So liegt der Grund für das Verbot paralleler Prozesse und widersprüchlicher Urteile nicht zuletzt darin, dass der Beklagte nicht mehrmals wegen ein und derselben Sache in gerichtliche Verfahren hineingezogen werden soll. Schließlich ist auch die Prozessökonomie zu berücksichtigen.801 Sie zählt zwar nicht zu den eigenständigen Prozesszwecken, ist aber für einen effizienten Rechtsschutz unentbehrlich. In der Streitgegenstandsdiskussion spielt der Gedanke der Prozess­ökonomie vor allem im Rahmen der vielfach angesprochenen Verfahrenskonzen­tration eine maßgebliche Rolle.802 2. Spannungsverhältnis zwischen den Zielen des materiellen Rechts und Prozessrechts und seine Auswirkungen in der Streitgegenstandslehre Wie schon erwähnt, ist das grundlegende Ziel des materiellen und des prozessualen Rechts dasselbe, nämlich der Schutz des subjektiven Rechts des Individuums. Allerdings ist darauf zu achten, dass das Prozessrecht als relativ selbständiges 799 Stein/Jonas/Brehm,

22. Aufl., vor § 1, Rn. 14; MünchKomm/Rauscher, 3. Aufl., Einl., Rn. 9; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 1, Rn. 10; Stürner, FS Baumgärtel, S. 545; Schilken, ZPR, Rn. 12 ff., 15; Lüke, ZPR, Rn. 4; Nakamura, H., ZZP 99, S. 12; Baur, FS Tübinger Juristenfakultät, S. 161. 800 So der „prozessuale Gleichheitssatz“, der „Gleichbehandlungsgrundsatz“ und die „Waffengleichheit“. Vgl. Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 105, 293, 296; Blomeyer, ZPR, S.  98 f.; Lüke, ZPR, Rn. 37c. 801 Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 110; Schumann, FS Larenz, S. 271 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 81, Rn. 1; Schilken, ZPR, Rn. 382. 802 Beispielsweise Gottwald, in: Dogmatische Grundfragen, S. 92 ff.; Leipold, Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, S. 1 ff., insb. S. 16 ff.

236

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Rechtsgebiet Besonderheiten und zusätzlich eigene Aufgaben hat, die dem materiellen Recht fremd sind. Bei der Lösung des Streitgegenstandsproblems können Ziele des materiellen und des prozessualen Rechts in Konflikt geraten.803 Zudem können die verschiedenen prozessrechtlichen Werte in einem Spannungsverhältnis stehen, wenn es um die Lösung der Streitgegenstandsproblematik geht. Im Folgenden werden solche Wertekonflikte dargestellt: –– Erstens besteht ein Spannungsverhältnis zwischen effektivem Rechtsschutz und Parteiherrschaft. Effektiver Rechtsschutz bedeutet, dass die gerechtfertigten Interessen einer Partei hinreichend geschützt sein müssen. Er erfordert, das relevante Tatsachen vollständig vorgetragen, ein angemessenes Rechtsschutzbegehren gestellt und die einschlägigen materiellrechtlichen Normen angewandt werden. Allerdings obliegen bei Geltung der Dispositions- und Verhandlungsmaxime die Antragsstellung und die Beibringung der Tatsachen und Beweismittel zunächst einmal vor allem dem Kläger. Wenn der Kläger einen ungeeigneten Antrag stellt oder den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht korrekt vorträgt, ist es wahrscheinlich, dass er im Prozess unterliegt, obwohl dies mit der materiellen Gerechtigkeit in Widerspruch stehen kann.804 Will das Prozessrecht trotz dieser denkbaren Defizite die materiellen Gerechtigkeit fördern, etwa mit Hilfe der Hinweispflicht des Richters, ist eine gewisse Beschränkung der Parteiherrschaft unvermeidlich. –– Zweitens können effektiver Rechtsschutz und Rechtsfriedensfunktion in Konflikt geraten.805 Effektiver Rechtsschutz fordert den qualitativ und quantitativ aus­reichenden Schutz der gerechtfertigten Interessen der Parteien. Dementsprechend müsste der Kläger eigentlich das Recht haben, nach einem Prozess­verlust eine neue Klage zu erheben, wenn etwa demselben Interesse des Klägers mehrere materiellrechtliche An­spruchsgrundlagen dienstbar sein können. Solche Versuche des Klägers, sein Rechtsbegehren in mehreren Prozessen zu erheben, schaden aber dem Gedanken des Rechtsfriedens erheblich, weil dieser nicht zuletzt darauf abzielt, die im Urteil festgestellte Rechtsfolge für die Parteien endgültig verbindlich zu machen.806 –– Drittens steht der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nicht selten in einem Span­nungsverhältnis zur Prozessökonomie. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn der Kläger durch mehrere Klagen die Befriedigung desselben Interes 803 Schilken,

ZPR, Rn. 13. wenn der Kläger den Sachverhalt vollständig vortragen, einen angemessenen Antrag stellen und seine Klage auf eine geeignete Anspruchsgrundlage stützen will, stößt er nicht selten auf Schwierigkeiten, da er in der Regel ein Laie ist. Zwar ist die Situation bei einer anwaltlichen Vertretung deutlich besser, aber auch hier ist es möglich, dass der Anwalt für den betreffenden Fall nicht ausreichend qualifiziert ist und daher dem Interesse seines Mandanten nicht zufriedenstellend zu dienen vermag. 805 Schilken, ZPR, Rn. 14. 806 Durch das Institut der materiellen Rechtskraft wird gerade jede neue Verhandlung und Entscheidung über die rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge ausgeschlossen. 804 Auch

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

237

ses anstrebt. Solche mehrfachen Klagen benachteiligen den Beklagten, da er durch sie in ungerechtfertigter Weise mehrfach in gerichtliche Verfahren gezogen wird. Zudem ist eine mehrfache Klage auch für einen Kläger ungünstig, der eine rasche Durchsetzung seiner Rechte sucht und den zeitlichen und finanziellen Aufwand gering halten möchte.807 Überdies ist seine mehrfache Klage auch für die Justiz eine beträchtliche Belastung. –– Schließlich kann die Parteidisposition über den Streitgegenstand zum Gedanken der Verfahrenskonzentration in Widerspruch stehen. Der beste Weg zur Verwirklichung der Verfahrenskonzentration besteht darin, den Streitgegenstand durch einen weit verstandenen Lebenssachverhalt einzugrenzen, so dass alle Streitigkeiten zwischen den Parteien in einem Verfahren umfassend erledigt werden können. Allerdings lehnt die deutsche Prozessualistik diese Lösung offensichtlich ab; sie geht vom Prinzip der Parteidisposition über den Streitgegenstand aus und fokussiert auf das Klagebegehren bei der Ermittlung und Eingrenzung des Streitgegenstandes. Dadurch wird die Verfahrenskonzentration erschwert. 3. Lösung von Wertekonflikten im Rahmen der Streitgegenstandslehren Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, beeinflussen materiellrechtliche und prozessrechtliche Wertungen sowie ihre Konflikte die Streitgegenstandsdiskussion in hohem Maße. In gewissem Sinne darf man sogar behaupten, dass das Wesen einer befriedigenden Streitgegenstandslehre darin liegt, konfligierende Werte vernünftig auszubalancieren und damit eine Lösung zu finden, die alle unterschied­ lichen Interessen zu berücksichtigen vermag. Konflikte zwischen solchen Werten ergeben sich insbesondere im Falle der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne: Die materiellrechtliche Ordnung weist dem Kläger mehrere Anspruchsgrundlagen zu, während der Rechtsstreit nach den grundlegenden Wertungen des Prozessrechts am besten in einem Verfahren zu erledigen ist. Die Problematik liegt in der Ungleichheit der Anzahl von Lebenssachverhalten und Anspruchsnormen sowie der Ungleichheit der Anzahl von materiellrechtlichen Rechtsschutznormen und Rechtsschutzzwecken. Einige Streitgegenstandstheorien tendieren zu einem absoluten Schutz subjektiver Rechte und zu einer strikten Wahrung des objektiven Rechts; demgegenüber bevorzugen andere Theorien vor allem die Durchsetzung der prozessrechtlichen Wertungen. Offensichtlich können beide Tendenzen nicht ganz zufriedenstellen. Eine Harmonisierung konfligierender Werte und damit eine vernünftige Lösung des Streit­ gegenstands- sowie des Anspruchskonkurrenzproblems hat die deutsche Prozessualistik nach langjähriger Auseinandersetzung in einem „Dritten Weg“ erreicht.

807 Ohne Effizienz ist der Rechtsschutz kaum sinnvoll. Vgl. Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 110.

238

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Sie betont die Bedeutung richterlicher Aktivität bei der Bewältigung der mit dem Streitgegenstand zusammenhängenden Problemlagen. III. Verfahrensgrundsatz, Verfahrensstruktur, Rolle des Richters im Prozess und die vernünftige Lösung wichtiger Streitfragen der Streitgegenstandslehre 1. Der Grundsatz iura novit curia und seine Bedeutung für die Aufgabenverteilung zwischen Parteien und Richter a) Die Begründung des Grundsatzes iura novit curia Bei der Erhebung einer Klage muss der Kläger den Grund seiner Klage nennen. Der Klagegrund umfasst zwei Elemente: den rechtlichen Grund (Norm) und den tatsächlichen Grund (Sachverhalt). Im Prinzip gilt im Zivilprozessrecht Europas der Beibringungsgrundsatz, nach dem die Parteien die Tatsachen selbst in den Prozess einbringen müssen.808 Die Frage, ob der Kläger auch den rechtlichen Grund beizubringen hat, wurde ganz unterschiedlich beantwortet. Im klassischen römischen Recht bat der Kläger, wenn er eine Klage erhob, den Prätor um die Erteilung einer actio. Insofern war die Einführung des rechtlichen Grundes Sache des Klägers. Dies änderte sich in der nachklassischen Zeit: Der Kläger war nicht mehr verpflichtet, eine actio in der Klageschrift anzuführen; vielmehr sollte der Richter die geeignete actio finden und anwenden. In der Rechtsentwicklung des Mittelalters hat sich der Gedanke iura novit curia allmählich durchgesetzt. So war es die Befugnis des Richters, den Streit rechtlich zu würdigen und die passende Norm anzuwenden.809 Es ist aber davon auszugehen, dass sich der Grundsatz iura novit curia – wegen des Einflusses des damals teilweise noch herrschenden aktionenrechtlichen Denkens – nicht reibungslos etablieren konnte. Einige Juristen bezweifelten, dass die Auswahl des einschlägigen Rechts unbedingt Aufgabe des Richters sein musste. Gewiss waren auch viele Richter nicht qualifiziert, diese Aufgabe zufriedenstellend zu erfüllen, und manche unter ihnen sahen es wohl als eine Belastung an und wiesen sie von sich. Dementsprechend war die Rechtsprechung in dieser Frage schwankend geblieben. In der neueren Geschichte entwickelte sich eine Polemik zwischen den Anhängern der Substantiierungs- und der Individualisierungstheorie.810 Beide Theorien handelten vom Inhalt des anzugebenden Klagegrundes. Die ursprüngliche In 808 Stürner,

FS Kollhosser, S. 727. oben Kapitel 3 D. 810 Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, 2. Aufl., 1896, S. 19 ff.; Hellwig, System des Deutschen Zivilprozeßrechts, Bd. 1, 1912, S. 309 f.; Hahn/Mugdan (Hrsg.), Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen (Neudr. der Ausg. Berlin 1881), Bd. 2, Abt. 1, S.  254 f. 809 Vgl.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

239

dividualisierungstheorie verlangte vom Kläger die Bezeichnung des konkreten Rechtsverhältnisses in juristischer Formulierung, damit der im Prozess eingeführte Streit unverwechselbar werde. Demgegenüber war die ursprüngliche Substantiierungstheorie der Ansicht, dass der Kläger nur alle Tatsachen vollständig vortragen müsse, die zur Schlüssigkeit der Klage erforderlich waren. Die Einzelheiten beider Theorien sind bis heute umstritten. Ihr Unterschied liegt aber hauptsächlich darin, dass die erste Theorie den Kläger zwang, den Streit rechtlich zu würdigen und die angemessenen Normen einzuführen, während die zweite Theorie davon ausging, „daß vom Kläger keine Rechtskenntnisse verlangt werden könnten“.811 Beide Theorien sind in gewissem Sinne problematisch. Die rechtliche Würdigung des Streites durch den Kläger nach der Individualisierungstheorie stellt eine zu hohe Anforderung, da er selbst normalerweise über keine juristischen Kenntnisse verfügt. Die deutliche und vollständige Angabe aller Tatsachen schon in der Klage nach der Substantiierungstheorie wiederum ist weder notwendig noch sinnvoll. Heute wird überwiegend eine diese Extreme meidende, vermittelnde Theorie vertreten, nach der die Individualisierung des klägerischen Anspruchs durch die Anführung von Tatsachen erfolgt; der Kläger muss bei der Klageerhebung aber nicht rechtliche Gesichtspunkte des Streites vorbringen.812 Vielmehr ist es Aufgabe des Richters, den Streit zwischen beiden Parteien rechtlich zu qualifizieren. In diesem Sinne hat sich der Grundsatz iura novit curia schließlich im deutschen Recht fest etabliert.813 Gewiss hat die deutlich verbesserte Juristenausbildung in der neueren Geschichte und in der Gegenwart viel zur Akzeptanz dieses Grundsatzes beigetragen, weil erst der gut ausgebildete Richter die Idee des iura novit curia umzusetzen imstande ist. Im modernen deutschen Recht ist iura novit curia zu einem selbstverständlichen Grundsatz des Zivilprozessrechts geworden, so dass die maßgeblichen Lehrbücher und Kommentare grundsätzlich darauf verzichten, ihn ausführlich darzustellen und zu begründen. b) iura novit curia und Parteidisposition Es stellt sich die Frage, ob der Grundsatz iura novit curia als eine Beschränkung der Privatautonomie und Dispositionsmaxime anzusehen ist. Diejenigen, die 811 Blomeyer,

ZPR, S. 254. Gelehrten bezeichnen dies als „verbesserte Individualisierungstheorie“. Vgl. Blomeyer, ZPR, S. 254; Zeiss/Schreiber, ZPR, Rn. 315, 329; Schilken, ZPR, Rn. 208; Jauernig, ZPR, S. 120 f.; Sepperer, Der Rechtskrafteinwand in den Mitgliedstaaten der ­EuGVO, S. 34, Fn. 155. Manche gehen aber davon aus, dass diese eine „verbesserte Substantiierungstheorie“ ist. Vgl. MünchKomm/Lüke, 2. Aufl., § 253, Rn. 76 ff., insb. Rn. 78; Stein/Jonas/Schumann, 21. Aufl., § 253, Rn. 125. Allerdings besteht zwischen beiden Auffassungen eigentlich keine grundlegender Unterschied. Vgl. Stein/Jo­nas/Roth, 22. Aufl., § 253, Rn. 52 f.; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, ZPR, § 95, Rn. 17 ff.; Hesselberger, Streitgegenstand, S. 140, Fn. 35. 813 Rosenberg, ZZP 49, S. 38 ff.; ders., FS Schmidt, S. 260 ff.; ders., ZZP 57, S. 80 ff. (jeweils mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen). Vgl. zudem Schaun, Die prozessuale Behandlung der Klage mit mehrdeutigem Sachverhalt. 812 Manche

240

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

einer absoluten Parteifreiheit und Parteiverantwortung zuneigen, gehen von folgender Vorstellung aus: Die Parteien haben das Recht und die Pflicht, das maßgebliche Recht in den Prozess einzubringen;814 der Richter ist an ihre rechtlichen Vorgaben gebunden; dementsprechend müssen die Parteien die Verantwortung für die sich daraus ergebenden Konsequenzen tragen. Diese Ansicht gründet sich auf einen eher konservativen Liberalismus. Sie entspricht aber weder der prozessualen Realität noch hat sie Bedeutung für die gerichtliche Praxis. Eine gegenläufige Ansicht befürwortet eine etwas relativierte Form der Parteifreiheit und Parteiverantwortung: Zwar dürfen die Parteien rechtliche Ausführungen machen; ihre Rechts­auffassung ist für den Richter aber durchaus nicht bindend. Der vom Kläger angeführte rechtliche Klagegrund ist vielmehr nur ein Mittel zur Unterstützung seines prozessualen Anspruchs und sozusagen ein Vorschlag an den Richter; im eigenen Interesse möchte der Kläger jedoch normalerweise nicht ausschließen, dass der Richter den Streit auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten prüft und würdigt.815 Grundsätzlich ist es dem Kläger gleichgültig, mit welcher materiellrechtlichen Norm sein Ziel erreicht wird, und es ist nicht in seinem Sinne, wegen falscher rechtlicher Äußerungen den Prozess zu verlieren. Offensichtlich hat das deutsche Prozessrecht sich für die zweite Auffassung entschieden. Zum einen sind die Parteien nicht verpflichtet, den zutreffenden rechtlichen Klagegrund anzuführen. Das Gericht kann nicht davon ausgehen, dass die Parteien den Streit sachgemäß rechtlich zu würdigen imstande sind. Auch im Anwaltsprozess ist es nicht gesichert, dass der wirklich geeignete rechtliche Gesichtspunkt seitens der Parteien geäußert wird. Sollte eine Partei einen Prozess verlieren, weil sie oder ihr Rechtsanwalt die passenden Rechtssätze nicht vorzubringen vermochten, und nicht wegen der Unbegründetheit ihres Anspruchs, müsste dies den Eindruck erwecken, dass das Prozessrecht ungeeignet sei, materiellrechtliche Ansprüche durchzusetzen.816 Zum anderen dürfen die Parteien nicht bindend entscheiden, welche Norm angewendet wird. Einerseits haben sie oft nicht die vollen nötigen Kenntnisse; andererseits gibt es im Prinzip keinen Grund dafür, die gerichtliche Würdigung auf einen bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt zu beschränken. Die Befugnis zur Rechtsanwendung durch den Richter entspricht den Interessen der Parteien und dient der sachgemäßen, effektiven Lösung des Rechtsstreites.817 Daher bleibt im deutschen Recht die Disposition über das anwendbare Recht von der allgemeinen Parteidisposition ausgeschlossen. Die Parteien

814 Beispielsweise

muss der Kläger der Leistungsklage selbst seinen Leistungsanspruch ausdrücklich auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage stützen. 815 Ausnahmen vgl. Schwander, FS Schönenberger, S. 207. 816 Mit anderen Worten soll das Prozessergebnis nicht von der wirtschaftlichen Stärke oder der fachlichen Kenntnis der Partei abhängen. So entspricht der Grundsatz iura novit curia in gewissem Sinne der Idee einer sozialen Prozessauffassung. 817 Nach dem Grundsatz iura novit curia wird der Richter verpflichtet, alle möglichen rechtlichen Gesichtspunkte zu prüfen, um die geeignete Norm zu finden, deren Anwendung die Realisierung des Klageziels bestens fördern kann.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

241

haben weder das Recht noch die Pflicht, den Streit zwischen ihnen rechtlich bindend zu bewerten. c) iura novit curia und die Aufgabenaufteilung zwischen Parteien und Richter im Prozess Die Bedeutung des Grundsatzes iura novit curia für die Prozessualistik und Judikatur ist vielseitig. Er begründet die Pflicht des Richters, zum klägerischen Begehren und den vorgetragenen Tatsachen das geeignete Recht zu finden und anzuwenden. Die Parteien sind von der Pflicht befreit, rechtliche Gesichtspunkte vorzubringen. Dementsprechend überlassen sie die rechtliche Würdigung ihres Rechtsstreites oft weithin dem Richter, und grundsätzlich können sie die richterliche Ausübung dieser Befugnis nicht beeinträchtigen. Da das Gericht den Sachverhalt unter alle möglichen rechtlichen Gesichtspunkte prüfen kann und muss, ermächtigt der Grundsatz iura novit curia den Richter, den Streit umfassend zu würdigen und möglichst ein für alle Mal zu lösen. Dadurch wird die Verteilung der Aufgaben sowie der Verantwortlichkeit zwischen Gericht und Parteien im Zivilprozess festgelegt: Es ist Aufgabe des Richters, den Fall rechtlich zu qualifizieren und die richtigen Normen anzuwenden; es obliegt hingegen den Parteien, alle notwendigen schlüssigen Tatsachen zur Be­ gründung des Anspruchs herbeizuschaffen. Wie das Gebot seit der Entstehung des gelehrten Richtertums besagt: da mihi facta, dabo tibi ius!818 2. Die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht als Mittel zur Harmonisierung unterschiedlicher Zielorientierung bei der Lösung von Streitgegenstandsproblemen a) Entwicklung und Inhalt der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht Die richterliche Aufklärungs- und Hinweisbefugnis hat im kontinental-europäischen Prozessrecht eine lange Geschichte. Schon im römischen und germanischen Prozess finden sich Ansätze, die dem Richter ein Frage- oder Aufklärungsrecht zugestehen.819 Mit der CPO 1877 ist das deutsche Prozessrecht dieser Tradition gefolgt.820 Auch wenn die gesetzliche Gestaltung dieser richterlichen Befugnis im 818 Rosenberg,

ZZP 49, S. 38 f.; ders., FS Schmidt, S. 259 f. Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 3 ff. 820 So § 130 CPO 1877: „Der Vorsitzende hat durch Fragen darauf hinzuwirken, daß unklare Anträge erläutert, ungenügende Angaben der geltend gemachten Thatsach ergänzt und die Beweismittel bezeichnet, überhaupt all für die Feststellung des Sachverhältnisses erheblichen Erklärungen abgegeben werden.“ 819 Stürner,

242

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Laufe der Zeit viele Veränderungen erfahren hat, lässt sich doch sagen, dass sie eine immer wichtigere Position eingenommen hat.821 Heute ist die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht zweifellos ein charakteristisches Kernstück des deutschen Prozessrechts.822 Der Begründung und Stärkung dieser Befugnis entspricht eine aktive Rolle des Richters im Prozess.823 Die Aufgabe des Gerichts besteht nicht lediglich darin, den Tatsachenvortrag der Parteien entgegenzunehmen und eine Entscheidung über den Antrag zu fällen. Vielmehr muss es dazu beitragen, dass der Prozessstoff in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig und sorgfältig erarbeitet wird.824 Nach § 139 Abs. 1 ZPO sind die Pflichten des Richters vielseitig. Mit Bezug auf das Streitgegenstandsproblem sind die folgenden zwei Punkte von besonderer Bedeutung: Der Richter kann und muss – gemäß dem von den Parteien vorgegebenen Klageziel – die Parteien bei der Formulierung sachdienlicher Anträge unterstützen.825 Er hat auch darauf hinzuwirken, dass die Parteien dem Gericht einen klaren, vollständigen und schlüssigen Tatsachenvortrag liefern.826 Die richterlichen Anregungen und Hinweise zum Antrag und zum tatsächlichen Vorbringen dienen zur Klarstellung des von den Parteien verfolgten Prozessziels und zur Vervollständigung des Streitstoffes, damit Inhalt und Umfang des Streitgegenstandes zu­treffend erfasst werden können. b) Die Bedeutung der richterlichen Aufklärungsund Hinweispflicht für die Rechtsordnung Die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht kann vor allem einen Beitrag zum effektiven Schutz des subjektiven Rechts der Parteien leisten: Gebotene Hinweise und Fragen können mögliche Fehler der Parteien in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht verhindern, damit sich die Wahrscheinlichkeit erheblich erhöht, dass ihre Rechte durch den Prozess geschützt und durchgesetzt werden. Zudem 821 Zur gesetzgeberischen Entwicklung vgl. Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 7 ff.; zur Entwicklung in der Rechtsprechung vgl. Peters, Richterliche Hinweispflichten und Beweis­ initiativen im Zivilprozeß, S. 23 ff., 43 ff., 56 ff., 75 ff.; zur Entwicklung im Schrifttum vgl. Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 25 ff. 822 Beispielsweise wird sie als „Magna Charta des Zivilprozesses“ bezeichnet. Vgl. Baumbach/Lau­ter­bach/Albers/Hartmann, § 139, Rn. 1. 823 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 16, § 78, Rn. 24; Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 2; Stürner/Stadler, in: Anwaltsberuf und Richterberuf in der heutigen Gesellschaft, S. 174 ff. 824 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 16. 825 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 47 ff.; Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S.  274 ff.; Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 55 ff.; Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, S. 130 f. 826 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 28 ff.; Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S.  295 ff.; Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 61 ff.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

243

kann diese richterliche Pflicht zur umfassenden und zügigen Lösung des Konflikts beitragen. Die erschöpfende Bereinigung des Rechtsstreites setzt voraus, dass die Parteien sachdienliche Anträge stellen und alle relevanten Tatsachen vortragen und dass das ganze Streitverhältnis vollständig rechtlich gewürdigt wird. Ohne die Mitverantwortung des Richters dürfte dies kaum möglich sein.827 Außerdem trägt die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht zur Ver­ vollständigung der vom Grundsatz iura novit curia und von der Verhandlungs­ maxime begründeten Arbeitsteilung zwischen Parteien und Gericht bei. Der Richter ist nicht nur für die rechtliche Qualifikation und die Rechtsanwendung verantwortlich; vielmehr muss er feststellen, ob der vorgebrachte Sachverhalt die Anwendung der materiellrechtlichen Normen erlaubt, nach denen der gestellte Antrag bejaht werden kann. Insbesondere wenn die Antwort zunächst einmal negativ ist, muss er den Grund hierfür ermitteln. Beispielsweise würde ein Klageantrag abgelehnt, wenn der Antrag nicht adäquat, der Tatsachenvortrag unklar bzw. unvollständig oder der Antrag schlicht unbegründet ist. Aufgrund einer solchen Analyse kann der Richter den Parteien zutreffende Anregungen und Hinweise geben, damit aufgrund ihrer erneuten Aktivität eine materiell sachgerechte Erledigung des Streites zwischen den Parteien ermöglicht wird. Die Ausübung dieser richterlichen Befugnis steht nicht der Parteidisposition über den Streitgegenstand oder der Verhandlungsmaxime entgegen.828 Vielmehr kann sie den Parteien helfen, ihre Aufgabe im Prozess, d. h. die richtige Formulierung des Antrags und den vollstän­digen Vortrag der Tatsachen, besser zu erfüllen. Schließlich dient die richtige Ausübung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht der Gleichbehandlung der Parteien und der Waffengleichheit. Auch wenn die Ansicht abzulehnen ist, dass die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht auf die Hilfe für die „sozial schwächeren Partei“ zielt,829 lässt sich nicht bezweifeln, dass mit ihrer Hilfe diejenigen, die sich keinen Rechtsbeistand leisten können, ihre Interessen im Prozess besser schützen können.830 Daher darf man nicht leugnen, dass dieses Rechtsinstitut – objektiv gesehen – die Ungleichheit der Parteien hinsichtlich ihrer prozessualen Fähigkeiten zu mildern vermag.831

827 Wie Yoshimura betont hat, setzt „die Formulierung eines globalen Streitgegenstands­ begriffs notwendig eine Ausdehnung der richterlichen Aufklärungstätigkeit“ voraus. Vgl. Yoshimura, ZZP 83, S. 245. Erst eine inhaltlich umfassende richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht ermöglicht den globalen Streitgegenstandsbegriff. 828 Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 228. 829 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 3. 830 Baur, in: Deutsche zivil- und kollisionsrechtliche Beiträge, S. 191. 831 Vgl. Bettermann, ZZP 91, S. 390; Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn.  13 ff.; Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 81. Natürlich darf der Richter bei der Ausübung seiner Pflicht die Grenze nicht überschreiten. Vgl. Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 4, 21; Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 23 ff.

244

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

3. Die dialogische Struktur des Erkenntnisverfahrens und ihr Vorzug a) Normative Grundlage und Inhalt der Dialogik des Verfahrens Nach § 128 ff. ZPO verhandeln die Parteien über den Rechtsstreit vor dem Gericht. So kann das Gerichtsverfahren als ein Dialog zwischen den gleichberechtigten Parteien angesehen werden.832 Allerdings nehmen nicht nur beide Parteien an diesem Dialog teil; vielmehr muss auch der Richter im Gerichtsverfahren aktiv an ihm mitwirken.833 Dies wird besonders durch die in der ZPO geregelte materielle Prozessleitung des Richters verdeutlicht: Gemäß § 136 Abs. 3 ZPO hat der Vorsitzende Sorge zu tragen, dass die Sache erschöpfend erörtert wird; gemäß § 139 Abs. 1 ZPO muss das Gericht das Sach- und Streitverhältnis mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite erörtern und Fragen stellen; gemäß § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO hat das Gericht auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, hinzuweisen und den Parteien die Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern; gemäß § 139 Abs. 2 Satz 2 ZPO hat das Gericht den Parteien Hinweise zu geben, wenn es einen tatsäch­lichen oder rechtlichen Streitstoff unter einem anderen Gesichtspunkt anders beurteilt als die Parteien.834 Die dialogische Struktur gilt dabei nicht nur in der Verhandlung, sondern auch im Beweisverfahren.835 Dementsprechend lässt sich sagen, dass die Dialogik des Erkenntnisverfahrens ein grundlegendes Charakteristikum des deutschen Zivilprozesses ist.836 Diese dialogische Struktur des Erkenntnisverfahrens gründet sich darauf, dass die Rechtsausführungen, Tatsachenvorträge sowie Beweiserhebungen der Parteien und die Hinweise, Aufklärungsmaßnahmen und rechtlichen Darlegungen des Richters einander beeinflussen und wechselseitig bedingen.837 Die Anträge, Sachverhaltsvorträge und Beweiserhebungen der Parteien sind Basis der richterlichen Kenntnis des Rechtsstreits und prägen damit den möglichen Inhalt der richter­ lichen Hinweise und Aufklärungsmaßnahmen. Die Ausübung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht ermöglicht es wiederum den Parteien, ihre Anträge zu berichtigen und Tatsachenverträge zu ergänzen oder klarzustellen, soweit dies nötig ist. Wenn die Parteien nach den richterlichen Hinweisen Verbesse­rungen der Anträge und Tatsachenvorträge eingebracht haben,838 hat der Richter weiter zu 832 Ähnliche Ausdrücke sind etwa „Gespräch“ oder „Diskurs“. Vgl. Gottwald, ZZP 98, S. 122; Inoue, ZZP 98, S. 393. 833 Gottwald, ZZP 98, S. 123 ff.; Inoue, ZZP 98, S. 393; Gröscher, Dialogik und Jurisprudenz, S.  237 f. 834 Die Hinweispflicht besteht auch für den Fall, dass das Gericht seine den Parteien bisher bekannte Rechtsansicht geändert hat, um beispielsweise eine Anpassung der Behauptungen und Beweisangebote zu ermöglichen. Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 25. 835 Gröscher, Dialogik und Jurisprudenz, S. 238 ff.; Gottwald, ZZP 98, S. 124. 836 Murray/Stürner, German Civil Justice, S. 166–175. 837 Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 238 f. 838 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 26 f.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

245

prüfen, ob diese Verbesserungen richtig sind und ausreichen.839 Erst wenn nach Ansicht des Gerichts der Rechtsstreit vollständig durchgearbeitet ist und sachdienliche Anträge gestellt sind, schließt es den Dialog und fällt seine Entscheidung. Vor dieser Entscheidung findet zwischen den Parteien und dem Richter ein dauernder, wechselseitiger und umfassender Diskurs statt. Ohne diese dialogische Struktur des Verfahrens sind eine vollständige Analyse des Streites in tatsächlicher sowie rechtlicher Hinsicht und die sachdienliche Ausübung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht wohl kaum möglich. b) Die Bedeutung der dialogischen Struktur des Verfahrens für die Konzeption der Streitgegenstandslehre Die dialogische Struktur des Verfahrens kann dazu beitragen, die Diskussion über den Streit zwischen den Parteien und dem Gericht aufrechtzuerhalten und Schritt für Schritt zu vertiefen, um eine materiell gerechte Erledigung des Streites zu befördern. Sie hilft dem Institut der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht, seine Funktion in vollem Umfang zu entfalten. Daher ist sie in gewissem Sinne eine unabdingbare Bedingung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht. Ihre Bedeutung zeigt sich insbesondere bei der vernünftigen Lösung vieler Streitgegenstandsprobleme. Insbesondere dient sie im Fall der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne einerseits dem effektiven Schutz der subjektiven Rechte der Parteien, andererseits aber auch der umfassenden Bereinigung des Streites. Die Besonderheit der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne liegt wie mehrfach ausgeführt darin, dass aufgrund eines Lebenssachverhaltes dem Kläger mehrere materiellrechtliche Ansprüche zur Verfügung stehen, um sein Interesse durchzusetzen. Da dieses Interesse nur einmalige Verwirklichung verdient, kann nur eine Norm angewandt werden. Damit stellen sich zwei Fragen: Welche Anspruchsgrundlage ist anzuwenden und warum soll sie und keine andere angewandt werden? Aufgrund des Grundsatzes iura novit curia lassen sich die beiden Fragen nicht schon zu Beginn des Prozesses vom Kläger, sondern erst im Prozess vom Richter beantworten. Für eine vernünftige Beantwortung ist die dialogische Struktur des Prozesses unverzichtbar. Hat er mit den Parteien über die tatsächliche und rechtliche Seite des Streites gesprochen, muss der Richter die Frage beantworten, welche Normen aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts anwendbar sind, ob die Anwendung dieser Normen das Klagebegehren befriedigen kann, welche Normen erst nach einer bestimmten Verbesserung des Antrags und welche erst nach einer bestimmen Ergänzung oder Klarstellung des Sachverhalts anwendbar sind. Der Richter hat seine 839 Die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht lässt sich häufig nicht durch einen einmaligen Hinweis ausreichend erfüllen; aufgrund der einander beeinflussenden Aktivitäten der Parteien und des Gerichts ist die mehrmalige Ausübung der Aufklärungs- und Hinweispflicht in vielen Fällen notwendig.

246

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Überlegungen und Ergebnisse mit den Parteien zu erörtern und Hinweise zu geben. Die Parteien müssen zu solchen Hinweisen Stellung zu nehmen, wenn sie die Vorteile des dialogischen Verfahrens umsetzen wollen. Nach dieser Diskussion wird die Anwendung einer Anspruchsnorm ins Auge gefasst, soweit es eine Anspruchsgrundlage gibt, die aufgrund des Sachverhalts anwendbar ist und das Interesse des Klägers am besten befriedigen kann. Die Entscheidung des Gerichts gründet sich auf die vom Richter gewählte und zugleich durch den Dialog erarbeitete Rechtsnorm. Durch die dialogische Struktur wird nicht nur die Frage, welche Norm warum anzuwenden ist, sondern auch die Frage, warum die anderen konkurrierenden Normen nicht mehr angewandt werden können oder müssen, befriedigend beantwortet. Die dialogische Prozessstruktur kann nicht nur zur umfassenden Erledigung des Streites, sondern auch zur Legitimation dieser umfassenden Erledigung beitragen. Da die Parteien durch den Dialog über die Begründetheit des Antrags, die Schlüssigkeit des Sachverhaltsvortrags und die mögliche Rechtsanwendung ausreichend informiert sind, ist die Anwendung einer bestimmten Norm als Prozessergebnis für die Parteien nachvollziehbar und akzeptabel. Dies legitimiert die Sperrwirkung der materiellen Rechtskraft gegenüber Versuchen, eine andere Anspruchsgrundlage anzuwenden. Auch wenn am Ende des Prozesses nur eine Anspruchsgrundlage ihre Anwendung findet, wurden doch alle möglichen Anspruchsgrundlagen im Prozess geprüft und ihre Anwendung zumindest in Betracht gezogen. Daher ist der Umfang der materiellen Rechtskraft im Fall der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne mit Recht sehr weit. Ihre Sperrwirkung stützt sich auf alle mög­lichen Anspruchsgrundlagen, nicht nur auf die letztendlich angewandte Anspruchsgrundlage. Der Streit wird ein für alle Mal in einer für beide Parteien akzeptablen Weise erledigt.840 4. Der Gedanke des sozialen Prozesses und sein Einfluss Anerkanntermaßen geht die CPO 1877 von einer bürgerlich-liberalen Prozess­ auffassung aus.841 Die Prozessführung – insbesondere die Zustellung von Schriftsätzen und die Aufklärung des Sachverhalts – ist Recht und Aufgabe der Parteien; dementsprechend wird dem Richter eine relativ passive Rolle zugewiesen. Allerdings hat die Entwicklung des Prozessrechts vor allem im Rahmen der gesamt­ 840 Daher

dient die dialogische Struktur dazu, das materielle und das prozessuale Recht in funktioneller Weise zu verbinden. Durch den Dialog zwischen den Parteien und dem Gericht wird der am Anfang des Prozesses aus prozessrechtlicher Perspektive verstandene Streitgegenstand am Ende des Prozesses – in legitimierter Weise – in eine nach einer bestimmten materiellrechtlichen Norm angeordnete Rechtsfolge transformiert. Beim Urteil handelt es sich in der Tat um die Rechtsfolge einer Norm; die materielle Rechtskraft dieses Urteils erstreckt sich aber auf den ganzen Streitgegenstand, weshalb die Anwendung aller konkurrierenden Normen in nachfolgenden Prozessen mit Recht ausgeschlossen bleibt. 841 Leipold, JZ 1982, S. 442 f.; Bettermann, ZZP 91, S. 365 ff.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

247

gesellschaftlichen Entwicklung der Gegenwart eine gewisse Veränderung gebracht. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wurden die deutsche Prozessualistik und das deutsche Prozessrecht von dem aus Österreich stammenden Gedanken des „sozialen Zivilprozesses“ beeinflusst.842 Nach 1945 trat der Gedanke des liberalen Prozesses zunächst wieder in den Vordergrund, später wurde jedoch eine soziale Prozessauffassung erneut intensiv propagiert und teilweise vom Gesetzgeber übernommen.843 Grundsätzlich geht man davon aus, dass das heutige deutsche Prozessrecht eher von einem ausgleichenden Kompromiss geprägt ist,844 während die rein konservativ-liberale Prozessauffassung weitgehend abgelehnt wird. Mittelpunkt der sozialen Prozessauffassung ist die aktive Rolle des Richters im Prozess: Er erhält eine Reihe von Kompetenzen, die dazu dienen, den Prozess zweckmäßig zu gestalten und den Parteien Hinweise zu geben; zugleich ist er für den effektiven Rechtsschutz und die zügige Erledigung des Rechtsstreites mitverantwortlich.845 Bemerkenswert ist aber, dass die gegenwärtige soziale Prozessauffassung nicht mehr besonderes Gewicht auf den Schutz der sog. „sozial schwächeren Partei“ legt.846 Vielmehr verbindet man heute mit ihr vor allem den effektiven Schutz der subjektiven Rechte des Individuums, die Erhaltung des Rechtsfriedens sowie der Rechtssicherheit, die Zufriedenheit des Bürgers mit zügigen, verständlichen sowie akzeptablen Entscheidungen und die Prozessökonomie.847 Deshalb wurde die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht Schritt für Schritt intensiviert und ihr eine immer wichtigere Rolle zugesprochen. In diesem Sinne hat der Gedanke eines sozialen Prozesses die gegenwärtige Lösung von Streitgegenstandsproblemen im deutschen Recht deutlich beeinflusst. 5. Das Zusammenspiel prozessrechtlicher Elemente und seine Bedeutung für die vernünftige Lösung von Streitgegenstandsproblemen Die Parteidisposition über den Streitgegenstand, der Grundsatz iura novit curia und das Institut der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht stehen in einem inneren Zusammenhang. Erstens ist die Parteidisposition das Fundament 842 Für einen Überblick über die Entwicklung des Gedankens des sozialen Zivilprozesses in Österreich und seinen Einfluss auf das deutsche Prozessrecht vgl. Meyer, JR 2004, S. 1 ff. 843 Leipold, JZ 1982, S. 446 f.; Meyer, JR 2004, S. 2 f. 844 Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 2; Meyer, JR 2004, S. 6. Beispielsweise ist die jüngste Reform der ZPO im Jahre 2001 besonders durch die Verstärkung der richterlichen materiellen Prozessleitung charakterisiert; natürlich bleiben die Parteifreiheit und Parteiverantwortung als Fundament des Prozessrechts davon unberührt. Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 2. 845 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 78, Rn. 24 ff. 846 Leipold, JZ 1982, S. 447; Meyer, JR 2004, S. 3 ff.; Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 298. 847 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 139, Rn. 1, 5; Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 23.

248

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

des Prozessrechts und auch unerlässliche Grundlage des Grundsatzes iura novit curia und der richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht. Erst wenn der Kläger in vollem Umfang über den Streitgegenstand disponieren kann, sind beide ein Instrument zum Schutz der Interessen der Parteien und nicht Ausdruck richterlicher Willkür.848 Zweitens helfen der Grundsatz iura novit curia und die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht dem Kläger, die Parteidisposition über den Streitgegenstand in sachgemäßer Weise zu verwirklichen. Der Kläger braucht nämlich z. B. nicht schon bei der Klageerhebung die passende Norm vorzubringen, sondern endgültig erst nach dem Gespräch mit dem Gericht. Fehlt das Institut der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht, ist es durchaus wahrscheinlich, dass eine Partei wegen unsachdienlicher Anträge den Prozess verliert, auch wenn sie im Recht ist. Drittens stützen sich bei der gerechten, zügigen und umfassenden Lösung des Rechtsstreites der Grundsatz iura novit curia und das Institut der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht wechselseitig. Einerseits ist die Idee des iura novit curia Grundlage der effektiven Ausübung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht. Nur wenn der Richter den Sachverhalt in allen mög­ lichen Richtungen rechtlich würdigen kann, kann er den Parteien helfen, sachdienliche Anträge zu stellen und den Sachverhalt klar und vollständig vorzutragen.849 Andererseits verliert der Grundsatz iura novit curia in großem Ausmaß an Bedeutung, wenn das Institut der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht im Prozessrecht fehlt. Ohne die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht würde der Grundsatz iura novit curia allein nicht ohne Weiteres mit einer prozessualen Konzeption der Streitgegenstandslehre harmonieren. All dies lässt erkennen, dass die Parteidisposition über den Streitgegenstand, der Grundsatz iura novit curia und das Institut der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht eine gemeinsame wichtige Rolle bei der Lösung der Streitgegenstandsprobleme spielen. Mehr noch: Für eine vernünftige Lösung ist ihr Zusammenwirken unverzichtbar. So verdankt die moderne zweigliedrige prozessuale Streitgegenstandslehre nicht zuletzt der durch die geschilderten Elemente geprägten Prozessstruktur ihre Praktikabilität und Bewährung.850 848 iura

novit curia und die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht können die richterliche Rechtsanwendung und die richterliche materielle Prozessleitung nicht isoliert recht­ fertigen, da stets die Gefahr besteht, dass die richterliche Aktivität das Interesse der Parteien übersieht oder sogar beeinträchtigt. Erst bei umfassender Achtung der Parteiherrschaft kann die Ausübung der Richtermacht richtig und sinnvoll sein. 849 Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 25. Der Klageantrag, die anzuwendende Norm und der Tatsachenvortrag stehen in einem engen Zusammenhang. Insbesondere die anwendbare Norm entscheidet, ob der Antrag vom Gericht bejaht werden kann und ob der vorgetragene Sachverhalt zum Siege führen kann. Erst nach Prüfung aller möglichen materiellrechtlichen Gesichtspunkte kann der Richter die Parteien sachgemäß auf bestimmte Anträge und Tatsachenvorträge hinweisen. Daraus lässt sich ersehen, dass iura novit curia ein inneres Er­ fordernis des Instituts der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht ist. 850 Zur modernen Entwicklung der zweigliedrigen prozessualen Streitgegenstandslehre vgl. oben Kapitel 10 B.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

249

Der Vorteil der hierauf gegründeten Lösung liegt hauptsächlich darin, dass sie einerseits die subjektiven Rechte des Individuums bestmöglich gewährleisten kann, andererseits der raschen sowie umfassenden Erledigung des Streites und dadurch der Wiederherstellung von Rechtsfrieden sowie Rechtssicherheit dient. Nicht umsonst gilt diese Lösung als „Brücke“ zwischen Zivil- und Prozessrecht: Bei der Lösung der Streitgegenstandsprobleme fördert sie das Zusammenspiel beider Rechtsgebiete und die harmonische Verwirklichung der Ziele beider Rechts­ gebiete. Konkreter gesagt bietet sie sachdienliche Lösungen für die Fälle an, in denen die Anzahl der Lebenssachverhalte und der materiellrechtlichen Anspruchsnormen (oder: die Anzahl der Rechtsschutzzwecke und Rechtsschutzmittel) ungleich ist. Aus materiellrechtlicher Sicht prüft der Richter zuerst die Anwendungsmöglichkeit mehrerer konkurrierender Anspruchsgrundlagen; danach wird nach dem Dialog zwischen Gericht und Parteien und nach Ausübung der richterlichen Hinweispflicht die Anwendung einer Anspruchsgrundlage in Aussicht genommen, die das Interesse des Klägers am besten zu befriedigen vermag, soweit sie aufgrund des Antrags und Sachverhalts sich als anwendbar bestätigt. Dadurch wird das zentrale Ziel des materiellen Rechts – der Schutz der subjektiven Rechte und die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit – möglichst weitgehend verwirklicht. Aus prozessualer Sicht wird durch den Prozess, in dem die Begründetheit des Klagebegehrens umfassend geprüft und das Sach- sowie Streitverhältnis ausreichend aufklärt wird, der Streit zwischen beiden Parteien erschöpfend erledigt. Deshalb bleibt eine neue Verhandlung und Entscheidung über denselben Streitgegenstand mit gutem Grund ausgeschlossen, was der Herstellung des Rechtsfriedens, dem Interesse des Beklagten an einer einmaligen, endgültigen Lösung des Streites, der Autorität der Justiz und dem Schutz ihrer knappen Ressourcen dient. IV. Charakteristische Grundzüge des deutschen Prozessrechts und die Lösung der Streitgegenstandsprobleme Die vorausgehende Darstellung lässt erkennen, dass die Streitgegenstandsproblematik sich nicht auf das Wesen und die Abgrenzung des Streitgegenstandes beschränkt. Daher hängt eine vernünftige Lösung einzelner Probleme nicht lediglich von der Entscheidung zwischen materiellrechtlicher und prozessualer Streitgegenstandslehre, dem eingliedrigen und zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff oder dem einheitlichen und variablen Streitgegenstandsbegriff ab. Vielmehr schließt eine Behandlung dieser Problematik Fragen der Prozesszwecke, der Prozessgrundsätze, des Aufbaus des Prozesses, der Aufgabenverteilung zwischen Gericht und Parteien usw. ein. Insofern ist die Entscheidung darüber, wie ein Streitgegenstandsproblem gelöst werden soll, eigentlich stets auch eine Wertungsfrage. Sie überschreitet sogar die Grenze des Prozessrechts, steht sie doch in engem Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht, mit den Zielen einer Rechtsordnung und der hinter ihr stehenden Ideologie. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Entstehung und Verfestigung des

250

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Grundsatzes iura novit curia und des Instituts der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht nicht nur eine Wertentscheidung des deutschen Gesetzgebers für das Prozessrecht, sondern – ihrem Wesen nach – für die gesamte Rechtsordnung ist.851 Daher lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass eine Streitgegenstandslehre nicht nur mit den konkreten prozessrechtlichen Rechtsinstituten harmonieren muss, sondern auch mit den rechtspolitischen Grundentscheidungen der gesamten Rechtsordnung. Die deutsche Lösung des Streitgegenstandsproblems ist wie folgt zu charakterisieren: Grundsätzlich akzeptieren die deutsche Prozessualistik und Rechtsprechung die moderne zweigliedrige prozessuale Streitgegenstandslehre als herrschende Lehre. Nach dieser Lehre ist der Streitgegenstand das Rechtsbegehren des Klägers; der Umfang des Streitgegenstandes wird durch das vom Kläger gestellte Rechtsbegehren und den Tatsachenvortrag eingegrenzt. Gleichsam „eingerahmt“ ist diese Lehre durch eine Reihe wichtiger rechtspolitischer Entscheidungen, etwa für die Parteidisposition über den Streitgegenstand, den Grundsatz iura novit curia, die aktive Rolle des Richters, die Harmonisierung von Prozesszwecken wie Rechtsschutz und Rechtsfrieden usw. Hervorzuheben ist, dass diese Lehre ohne das Zusammenwirken mit dem Grundsatz iura novit curia und der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht weder zweckmäßig angewandt werden noch viele Streitgegenstandsprobleme sachdienlich lösen könnte. Die deutsche Lösung der Streitgegenstandsprobleme weicht von den Lösungen anderer Rechtskulturen deutlich ab. Erstens unterscheidet sich die deutsche Streitgegenstandslehre von den Prozessrechten der sozialistischen Staaten dadurch, dass sie die Parteidisposition über den Streitgegenstand als unantastbare Grundlage des Prozessrechts ansieht.852 Zweitens besteht Uneinigkeit zwischen der deutschen Lehre und Vorstellungen anderer westlichen Rechtskulturen über die Fest­legung des Umfangs des Streitgegenstandes. Während beispielsweise das englische Recht diesen Umfang relativ weit versteht und den Parteiwillen nur eingeschränkt berücksichtigt, ist der deutsche Richter streng an die Parteianträge gebunden.853 Im romanischen Rechtskreis haben die von den Parteien als Grund 851 Der

Grundsatz iura novit curia, der dem Richter die Befugnis zur Rechtsanwendung zuweist, und die richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht, die dem Richter eine aktive Rolle im Prozess zuteilt, sind für ein Prozessrechtssystem nicht zwingend notwendig. Ihre Einführung in das Prozessrecht und ihre Durchsetzung in der Rechtspraxis dienen vielmehr der Verwirklichung bestimmter Ziele der gesamten Rechtsordnung, in Deutschland vor allem der Förderung des effektiven Rechtsschutzes und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. 852 Dabei werden Parteiherrschaft und Parteifreiheit als Fundament des Prozessrechts betont. Vgl. Stürner, in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 33 f.; ders., FS Heldrich, S. 1064 f.; Leipold, JZ 1982, S. 444 f. 853 Der Grund für diesen Unterschied liegt zum einen im unterschiedlichen Verständnis des Wesens des Streitgegenstandes. Wie Nakamura betont hat, „erfasst der angloamerikanische Zivilprozess den Streitgegenstand von den Tatsachen ausgehend, als Streitgegenstand wird also das tatsächliche Geschehen angesehen.“ Nakamura, H., in: Zivilverfahrensrechtliche Probleme des 21. Jahrhunderts, S. 77 f. Zum anderen ist das englische Recht – aufgrund seines adversarial

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

251

lage ihres Rechtsbegehrens gewählten Normen einen stärkeren Einfluss auf die Festlegung des Streitgegenstandes, während das deutsche Recht den Streitgegenstand möglichst unabhängig von diesen rechtlichen Grundlagen bestimmt.854 Drittens besteht ein gewisser Gegensatz zwischen dem deutschen und anglo-amerikanischen Recht bei der Frage, ob der Richter oder die Parteien das anzuwendende Recht in den Prozess einbringen sollen. In der deutschen Rechtstradition haben die Rechtssprüche iura novit curia und da mihi facta, dabo tibi ius nach wie vor tragende Bedeutung. Demgegenüber ist der englische Richter nicht verpflichtet, das in einem Prozess anzuwendende Recht von sich aus erschöpfend anzuwenden.855 Viertens unterscheidet sich das deutsche Prozessrecht von den anderen Prozessrechten in der Rolle des Richters im Prozess. Nach dem heutigen deutschen Recht trifft den Richter eine erhebliche Mitverantwortung für eine materiell gerechte Erledigung des Streites. Er hat den Parteien Vorschläge zu sachdienlichen Anträgen und Hinweise auf klare und vollständige Tatsachvorträge zu geben und kann damit vorsichtig auf eine sinnvolle Bestimmung des Streitgegenstandes durch die Parteien Einfluss nehmen. Demgegenüber geht der englische Prozess nach wie vor stärker von der Idee des Parteienprozesses aus; die Rolle des englischen Richters ist grundsätzlich immer noch eher passiv und zurückhaltend.856 Zusammenfassend lässt sich damit sagen, die Besonderheit des deutschen Prozessrechts im Vergleich mit den sozialistischen Prozessrechten liegt darin, dass es sich auf eine individualistische und liberaldemokratische Rechtskultur gründet. Im Vergleich mit der anglo-amerikanischen Prozesskultur ist es stärker vom Sozial­ staatsgedanken und sozialer Prozessauffassung geprägt857 und lässt den Parteien gleichzeitig mehr Spielraum bei der Festlegung des Streitgegenstandes durch den Antrag. V. Historische, gesellschaftliche und juristische Grundlagen der deutschen Streitgegenstandslehre Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden. Die Entstehung der deutschen herrschenden Lehre vom Streitgegenstand ist sowohl Ergebnis langjähriger Rechtsentwicklung als auch des Zusammenwirkens mehrerer gesellschaftlicher und system und des jury trial – gehalten, möglichst ein für alle Streitpunkte des historischen Sachverhalts bindendes Urteil zu fällen. Stürner, FS Heldrich, S. 1067 f. 854 Stürner, FS Schütze, S. 917 f., 929 f.; ders., FS Weber, S. 594; ders., FS Heldrich, S. 1067. 855 Stürner, FS Weber, S. 591 f. 856 Spickhoff, Richterliche Aufklärungspflicht und materielles Recht, S. 25 f.; Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 6; ders., in: Prozessrecht und Rechtskulturen, S. 49. Zur jüngsten Entwicklung im englischen Recht vgl. Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 184 ff. Streit besteht darüber, ob die passive Rolle des Richters im englischen Prozess durch die Einführung des case management wesentlich geändert ist. Vgl. Liu, Die richterliche Hinweispflicht, S. 190 ff. 857 Stürner, FS Baumgärtel, S. 545 ff.

252

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

rechtsgedanklicher Strömungen. Zum einen weisen einige Elemente, die die Streitgegenstandslehre eingehend geprägt haben, etwa die Parteidisposition über den Streitgegenstand, der Grundsatz iura novit curia und die richterliche Hinweispflicht, eine Adhäsion zu alten und ungebrochenen historischen Traditionen in Europa auf. Sie gelten in rechtskultureller Hinsicht als selbstverständliche Grundlage des deutschen Prozessrechts. Zum anderen hat sich in der neueren Geschichte und der Gegenwart des deutschen Prozessrechts allmählich der Gedanke durchgesetzt, dass der Zivilprozess keine rein private Angelegenheit der Parteien ist, sondern auch im Gemeinwohl dem effektiven Rechtsschutz sowie der zügigen und umfassenden Konfliktlösung dienen soll.858 Dementsprechend wird den Streitgegenstandstheorien die Aufgabe zugewiesen, die Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit und die Erhaltung des Rechtsfriedens möglichst gemeinsam zu fördern. Zu diesem Zweck setzt die heutige herrschende Streitgegenstandslehre das Institut der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht bewusst voraus. Schließlich wird in der Juristenausbildung in Deutschland besonderes Gewicht auf die Fallbearbeitung gelegt. Im Studium lernen die künftigen Juristen, die Methoden zur Analyse des Sachverhalts, zur Würdigung des Streites und zur Rechtsanwendung zu beherrschen. Von besonderer Bedeutung erscheint dabei, dass im Fall der Anspruchskonkurrenz die Studierenden der Rechtswissenschaft alle in Betracht kommenden Normen prüfen müssen. Durch solche Übungen sind sie nach dem Studium qualifiziert, bei Rechtsfällen alle möglichen rechtlichen Gesichtspunkte zu prüfen, was eine unerlässliche Grundlage für die Anwendung der herrschenden Streitgegenstandslehre in Deutschland ist.

D. Das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht und seine Bedeutung für die Streitgegenstandsproblematik I. Das Verhältnis zwischen materiellem Recht und Prozessrecht in der Geschichte und seine Auswirkungen Kaum ein anderes Problem des Prozessrechts vermag Fragen des Verhältnisses zwischen materiellem Recht und Prozessrecht in solcher Deutlichkeit sichtbar werden zu lassen wie die Streitgegenstandslehre. Mit anderen Worten sind die Erscheinungsformen der Streitgegenstandslehren wesentlich von diesem Verhältnis beeinflusst. Grundsätzlich sind drei Stadien der Dogmengeschichte zu unterscheiden.859 Im klassischen römischen Recht gab es kein voneinander getrenntes Zivilund Prozessrecht; die materiellen und prozessualen Elemente des Rechts waren in 858 Die verfassungsrechtliche Grundlage dieses Verständnisses zeigt sich darin, dass ein faires, rechtsstaatliches und sozialstaatliches Verfahren zu gewährleisten ist. Stürner, Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Rn. 41 ff.; ders., FS Baumgärtel, S. 545 ff. 859 Vgl. Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 8 f.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

253

der actio vereint. Im damaligen allgemeinen Rechtsdenken gab es – von dem seltenen Fall der Aktionenkonkurrenz abgesehen – in einem Prozess meist nur eine actio, die den Rechtsstreit zwischen beiden Parteien konstituierte. So war der Streitgegenstand eines Prozesses eine in bestimmter Weise festgelegte actio. Dies lässt darauf schließen, dass Streitgegenstandsprobleme im klassischen römischen Recht nur selten vorkamen und nicht sehr kritisch waren. Von der nachklassischen Entwicklung des römischen Rechts bis zur Gegenwart hat sich die Situation nach und nach geändert. Das aktionenrechtliche Denken wurde in der Entwicklung Schritt für Schritt beseitigt und das Aktionenrechtssystem löste sich auf. Materielles und prozessuales Recht trennten sich allmählich voneinander. Das Phänomen, dass mehrere materiellrechtliche Anspruchsnormen dem Schutz des klägerischen Interesses zur Verfügung stehen, tauchte in der Praxis häufiger auf. Dies brachte es mit sich, dass die Anzahl der Prozesse und der materiellrechtlichen Anspruchsnormen ungleich sein konnten. Zwei Lösungsmöglichkeiten standen den damaligen Juristen zur Verfügung: Zum einen konnte man weiter dem aktionenrechtlichen Denken folgen, dem zufolge nur ein materielles Recht in einen Prozess eingeführt werden dürfte; zum anderen konnte man dem Kläger erlauben, alle ihm dienenden Rechte in einem Prozess geltend zu machen. Nach langen Auseinandersetzungen wird der erste Lösungsvorschlag heute überwiegend abgelehnt. Um die zweite Lösung durchsetzen zu können, wurden in Zuge der Rechtsentwicklung verschiedene Streitgegenstandstheorien aufgestellt. Der grundlegende Charakter dieses Stadiums bestand darin, dass sich das Prozessrecht gedanklich und inhaltlich gegenüber dem Zivilrecht verselbständigte. Es gab sogar den Versuch, die Selbständigkeit des Prozessrechts auf die Spitze zu treiben, etwa durch eine rein prozessuale Streitgegenstandstheorie, nach welcher der Streitgegenstand ausschließlich prozessual verstanden und ausschließlich durch prozessrechtliche Kriterien eingegrenzt werden sollte.860 Dies führt aber in manchen Fällen zu unerwünschten und unhaltbaren Ergebnissen. Aus diesem Grund wird im gegenwärtigen Prozessrecht die Notwendigkeit einer „Rückbesinnung auf die Zusammenhänge des Zivilprozessrechts mit dem Zivilrecht“ betont, was einen Übergang in ein drittes Stadium darstellt.861 So wird heute die Bedeutung des Zivil­rechts für die Lösung der Streitgegenstandsprobleme und für die auf eine pro 860 Dies

ist besonders deutlich bei der eingliedrigen Theorie: Sie lehnt den Sachverhalt als Kriterium zur Abgrenzung des Streitgegenstandes ab; dadurch wird jede Möglichkeit der Anknüpfung der prozessualen Streitgegenstandstheorie an materiellrechtliche Normen ausgeschlossen. Vgl. die Darstellungen von Beys und Mitsopoulos zur zweigliedrigen Theorie: Beys, ZZP 105, S. 153; Mitsopoulos, ZZP 91, S. 122. Vgl. auch Schwab, Streitgegenstand, S. 199; Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 89. Natürlich gibt es in der gegenwärtigen Prozessrechtswissenschaft immer noch Gegenströmungen, nämlich die verschiedenartigen neuen materiellrechtlichen Theorien. Sie zielen, wie Nikisch meint, darauf ab, „die zivilrechtliche Dogmatik […] wieder mit dem Prozeßrecht in die unerläßliche Übereinstimmung“ zu bringen. Nikisch, AcP 154, S. 283. Vgl. Löwisch, Historische Entwicklung des Streitgegenstandes, S. 89; Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 11. 861 Koussoulis, in: Dogmatische Grundfragen, S. 9.

254

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

zessuale Sicht gründende Streitgegenstandslehre neu entdeckt, analysiert und teilweise auch bejaht. Dies kann dazu beitragen, dem Sinnzusammenhang zwischen Zivil- und Prozessrecht ausreichend Raum zu geben, während die grundlegende Rolle der prozessualen Streitgegenstandstheorie unberührt bleibt. II. Die grundlegende Bedeutung der prozessualen Streitgegenstandstheorie für die Lösung des Anspruchskonkurrenzproblems Der Gesetzgeber der CPO folgte der Zivilrechtsdogmatik und setzte den konkreten materiellrechtlichen Anspruch und den Gegenstand des Rechtsstreites gleich. Er ging davon aus, dass dieser Ansatz dazu dienen könne, die Privatrechtsund Prozessrechtsordnung als Sinneinheit anzusehen. In Zuge der Entwicklung des Prozessrechts wurde diese Ansicht als unhaltbar verworfen. Aufgrund langjähriger Bemühungen hatten die deutschen Prozessualisten den Begriff des prozessualen Anspruchs entwickelt, der – seiner Natur nach – rein prozessual ist.862 Er zeigt in vielerlei Hinsicht Unterschiede gegenüber dem Begriff des materiellrechtlichen Anspruchs. Erstens bezeichnet der Begriff des prozessualen Anspruchs ein vom Kläger behauptetes, aber nicht unbedingt bestehendes Recht; zweitens hängt der prozessuale Anspruch nicht nur vom Bestand des materiellen Rechts, sondern auch von prozessrechtlichen Erfordernissen ab; drittens wendet der prozessuale Anspruch sich nicht, wie der materielle Anspruch, direkt an den Beklagten, sondern vor allem an das Gericht, um ein für ihn günstiges Urteil zu erwirken; viertens mag die Gleichsetzung des materiellen und prozessualen Anspruchs zwar den Prozessgegenstand einer Leistungsklage erklären können, er passt aber nicht auf die Gestaltungs- und Feststellungsklage; fünftens liegt die hauptsächliche Schwäche einer materiellrechtlichen Vorstellung vom Klageanspruch darin, dass sie die Problematik der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne kaum befriedigend lösen kann.863 Aus diesen Gründen ist heute überwiegend anerkannt, dass der Streit­ gegenstand – als Synonym des prozessualen Anspruchs – im Ausgangspunkt aus prozessrechtlicher Sicht zu verstehen und prozessual abzugrenzen ist. Der Vorteil dieser Ansicht liegt nicht zuletzt auch darin, das Anspruchskonkurrenz­problem wie andere Streitgegenstandsprobleme einer vernünftigen Lösung zuführen zu können. Daher sollte man an dieser Ansicht unbedingt festhalten.

862 Insbesondere

die Lehre Schwabs. Vgl. Schwab, Streitgegenstand, S. 199. 22. Aufl., vor § 253, Rn. 8 f.; Holzhammer, Österreichisches Zivilpro-

863 Stein/Jonas/Roth,

zeßrecht, S. 172.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

255

III. Die vielseitige Bedeutung des materiellen Rechts für die Streitgegenstandsproblematik Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass auch dann, wenn man die prozes­ suale Vorstellung vom Streitgegenstand heute weitgehend anerkennt, das materielle Recht und materiellrechtliche Normen doch eine gewisse Rolle bei der Lösung der Streitgegenstandsproblematik spielt. In der modernen Prozessrechtslehre zeigt sich in einigen Punkten die Tendenz, trotz aller grundlegenden Unterschiede den Zusammenhang zwischen materiellrechtlichem und prozessualem Anspruch hervorzuheben und bei der Lösung von Streitgegenstandsproblemen nutzbar zu machen. 1. Die Abgrenzung des Lebenssachverhalts durch die materiellrechtliche Norm Wie gesehen, wird teilweise in der modernen prozessualen Literatur die Ansicht vertreten, dass die materiellrechtliche Norm zur Identifizierung oder Differenzierung des Lebenssachverhaltes dienen kann. Dieser Ansicht liegen durchaus überzeugende Gedanken zugrunde. Das Urteil, das den Klageanspruch bejaht oder verweigert, ist das Ergebnis der Anwendung materiellen Rechts.864 Die An­wendung einer materiellrechtlichen Norm setzt voraus, dass ihre Tatbestandmerkmale aufgrund des Sachverhaltsvortrags erfüllt sind. Daran kann man erkennen, dass eigentlich die Tatbestandmerkmale der anwendbaren Normen bestimmen, welche einzelnen Tatsachen für die Begründung des Klageanspruchs notwendig sind und vorgetragen werden müssen.865 Mit anderen Worten ist ein sich eng am Klageziel orientierender Sachverhaltsvortrag erst unter Berücksichtigung der materiellrechtlichen Norm möglich.866 Da nach dieser Ansicht die materiellrechtliche Norm bei der Eingrenzung des Lebenssachverhalts nur eine dienende Rolle spielt, bedeutet sie nicht die Rückkehr zum materiellrechtlichen Denken in der Streitgegenstandslehre. Vielmehr zeigt sie nur, dass zwischen der materiellrechtlichen Norm und dem Lebenssachverhalt ein bestimmter Sinnzusammenhang besteht.

864 Die Bejahung des Klageanspruchs im Urteil ist normalerweise das Ergebnis der Anwendung einer oder mehrerer materiellrechtlicher Normen, während die Verweigerung des Klageanspruchs bedeutet, dass keine materiellrechtliche Norm gefunden wurde, deren Anwendung den Anspruch des Klägers befriedigen kann. 865 Statt vieler Böhm, FS Kralik, S. 109. 866 Unter Berücksichtigung der anwendbaren Normen kann der Richter – nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO – die Parteien sachgemäß auf die Notwendigkeit vollständigen Vortrags aller entscheidungserheblichen Tatsachen hinweisen.

256

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

2. Materielles Recht und Aufstellung einer sachgemäßen Rechtsfolgenbehauptung im Prozess Aufgrund der Aufklärungs- und Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO hat der Richter dahingehend zu wirken, dass die Parteien sachdienliche Anträge stellen. Konkreter gesagt kann der Richter dem Kläger gegenüber eine Änderung der Rechtsfolgenbehauptung anregen oder eine bestimmte Rechtsfolgenbehauptung empfehlen, soweit solche Hinweise zur Erreichung des vom Kläger intendierten Klageziels notwendig scheinen. Schwer zu beantworten ist aber die Frage, wie der Richter beurteilt, ob der vom Kläger gestellte Antrag sachdienlich ist oder nicht, und wie er ihm genau sachgemäße Hinweise zum Antrag geben kann. Dies kann nur unter Berücksichtigung der möglichen anzuwendenden materiellrechtlichen Normen befriedigend beantwortet werden. Wenn der Richter nach der Prüfung aller materiellrechtlichen Gesichtspunkte der Ansicht ist, dass – aufgrund des Sachverhaltsvortrags – mindestens eine Norm angewandt werden kann, deren Anwendung zum gewünschten Klageziel führt, ist der klägerische Antrag für die Verwirklichung des Klageziels sachdienlich; ist dies nicht der Fall, wird der richterliche Hinweis auf eine mögliche Änderung des Klageantrags notwendig. So kann die materiellrechtliche Norm dazu dienen festzulegen, ob die in der Klageschrift aufgestellte Rechtsfolgenbehauptung zu dem Klageziel passt und welche Rechtsfolgenbehauptung sachdienlich sein kann.867 3. Zusammenhang zwischen materiellem Recht und materieller Rechtskraft Die Bejahung des Klageanspruchs und der begehrten Rechtsfolge setzt normalerweise voraus, dass aufgrund des Lebenssachverhalts eine oder mehrere materiellrechtliche Normen zugunsten des klägerischen Interesses angewandt werden können. Auch wenn (im Fall der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne) mehrere Normen für die Befriedigung des Klageanspruchs zur Verfügung stehen, wird zur positiven Entscheidung des Rechtsstreits meist nur eine davon angewandt. Die Rechtsfolge dieser Rechtsnorm bestimmt den konkreten Inhalt des Urteils. Daraus erhellt, dass die materiellrechtliche Norm in gewissem Sinne mit der materiellen Rechtskraft in Zusammenhang steht. Dies beruht darauf, dass der grundlegende Zweck des Prozessrechts anerkanntermaßen die Verwirklichung des materiellen Rechts ist.868 Mit Recht hat Böhm hervorgehoben, dass „die auf den Streit­ 867 Ob der Sachverhaltsvortrag für die Begründung des Rechtsbegehrens sachdienlich und die gestellte Rechtsfolgenbehauptung realisierbar ist, hängt von den anwendbaren Normen ab. So – wie Böhm betont hat – ist die Brücke zwischen den rechtserzeugenden Tatsachen und der beanspruchten Rechtsfolge nur über die materiellrechtliche Verknüpfung zu schlagen. Böhm, FS Kralik, S. 109. 868 Stein/Jonas/Brehm, 22. Aufl., vor § 1, Rn. 38.

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

257

gegenstand bezogene materielle Rechtskraft den Urteilsinhalt wieder in den außer­ prozessualen Raum entläßt, d. h. in materielle Rechtsfolgen umsetzt“.869 Selbst Schwab als Begründer und Hauptvertreter der rein prozessualen Streitgegenstandstheorie schließt sich dieser Ansicht an.870 Dies zeigt, dass die Anerkennung des Zusammenhangs zwischen materiellem Recht und materieller Rechtskraft nicht mit einer prozessualen Vorstellung vom Streitgegenstand in Widerspruch steht. Die Tatsache, dass materielles Recht und Prozessrecht eine Sinneinheit bilden und das Prozessrecht in gewissem Grad vom materiellen Recht abhängt, bedingt auch, dass das materielle Recht eine unentbehrliche Rolle im Prozess und in der prozessualen Streitgegenstandslehre spielt.871 4. Das Verhältnis zwischen materiellem Recht und prozessualem Anspruch bei den verschiedenen Rechtsschutzformen Nach der Begründung der prozessualen Streitgegenstandslehre verselbständigt sich der prozessuale Anspruch im Prinzip gegenüber dem materiellrechtlichen Anspruch. Bei der Leistungsklage darf man den materiellrechtlichen nicht mit dem prozessualen Anspruch gleichsetzen. So wird das schwierige Problem der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne befriedigend gelöst. Dies gilt als der größte Vorteil der prozessualen Streitgegenstandstheorie. Allerdings darf man diese Vorstellung nicht auf die Spitze treiben. Manchmal führt sie sogar zu unpraktikablen Lösungen. Dazu seien folgende Beispiele genannt: Im Gegensatz zur Leistungsklage, bei der sich die Klage nicht ausschließlich auf eine bestimmte materiellrechtliche Norm stützt und der Richter alle möglichen Anspruchsgrundlagen prüfen soll, darf der Kläger der negativen Feststellungsklage seinen Antrag darauf beschränken, dass die von seinem Gegner verlangte Leistung nicht auf eine bestimmte materiellrechtliche Grundlage zu stützen sei. Der Streitgegenstand dieser Art der negativen Feststellungsklage beschränkt sich also auf ein bestimmtes materielles Recht; der Prozess dreht sich nur darum, ob diese materiellrechtliche Norm anzuwenden ist.

869 Böhm,

FS Kralik, S. 110. In diesem Sinne richtig Bernhardt, Das Zivilprozeßrecht, S. 182. die Ausführungen Schwabs: „Im Prozeß ist der prozessuale Anspruch, das Begehren der im Antrag bezeichneten gerichtlichen Entscheidung, die Form, in der das materielle Recht, der materiellrechtliche Anspruch geltend gemacht werden. Der prozessuale Anspruch ist das Hilfsmittel zur Durchsetzung des materiellen Rechts im Prozeß.“ Schwab, Streitgegenstand, S. 199. 871 Das bedeutet aber nicht, dass Inhalt und Reichweite der materiellen Rechtskraft materiellrechtlich bestimmt werden. Die materielle Rechtskraft richtet sich nach dem prozessualen Anspruch des Klägers; ihr Umfang wird durch den Antrag und den Sachverhalt abgegrenzt. So ist der Gegenstand der materiellen Rechtskraft – trotz seines Charakters als Rechtsfolge einer materiellrechtlichen Norm – immer prozessual zu verstehen. 870 Vgl.

258

5. Teil: Grundfragen des Streitgegenstandsproblems im Zivilprozess

Der Gestaltungsklage liegt meist ein einziges materiellrechtliches Gestaltungsrecht zugrunde. Abgesehen von dem seltenen Fall der Konkurrenz von Gestaltungsrechten geht es bei der Gestaltungsklage um die rechtskonforme Geltendmachung dieses Gestaltungsrechts. So ist Streitgegenstand der Gestaltungsklage normalerweise ein materielles Recht. 5. Einfluss des materiellen Rechts auf die Abgrenzung des Streitgegenstandes und die Beurteilung der Streitgegenstandsidentität In einigen Fällen wird der Umfang des Streitgegenstandes aufgrund einer Wertung des materiellen Rechts eng abgegrenzt. Wie Bub mit Recht hervorgehoben hat, kann „das öffentliche Interesse an einer Konzentration der Streiterledigung auf ein Klageverfahren […] mit dem Anspruch des Klägers auf effektiven Rechtsschutz in Konflikt geraten, wenn ihm durch die Konzentration auf ein Verfahren die Geltendmachung seiner materiellen Rechte erschwert wird“.872 So räumt das materielle Recht in bestimmten, eng begrenzten Fällen nach seiner eigenen Wertung dem Kläger in aller Deutlichkeit die Möglichkeit ein, dieselbe Rechtsfolge in einem weiteren Prozess unter Berufung auf anderes Recht einzuklagen, wenn sein Anspruch in einem vorherigen Prozess abgewiesen worden ist.873 Beispielsweise ist es erwähnenswert, dass die Festlegung der Streitgegenstände im Kauf-WechselFall von materiellrechtlichen Wertungen beeinflusst wird. IV. Das Zusammenwirken des materiellen Rechts und des Prozessrechts bei der Lösung der Streitgegenstandsprobleme Zwar wird die prozessuale Streitgegenstandslehre wegen ihrer Leistungsfähigkeit heute weitgehend akzeptiert. Das bedeutet aber nicht, dass die Funktion des materiellen Rechts bei der Behandlung der Streitgegenstandsprobleme belanglos ist. Dies beruht auf dem inneren Zusammenhang zwischen materiellem Recht und Prozessrecht. Zivil- und Prozessrecht sind jeweils Teile der gesamten Rechtsordnung und erfüllen eine Funktion bei der Durchsetzung des letztendlichen Ziels der Rechtsordnung: dem Schutz des Interesses des Individuums und der Erhaltung des Rechtsfriedens. So ist ein Zusammenwirken beider Rechtsgebiete unverzichtbar. Dies zeigt sich insbesondere in der Streitgegenstandsproblematik. Der Versuch, 872 Bub,

Streitgegenstand und Rechtskraft, S. 165. erfolgt die Einschränkung des Streitgegenstandes – aufgrund der deutlichen Wertung des materiellen Rechts – durch die Einschränkung des im Prozess eingeführten und daher präkludierten Lebenssachverhalts. Vgl. Bub, Streitgegenstand und Rechtskraft, S.  166 ff.; Rimmerspacher, ZZP 116, S. 383 f.; Stein/Jo­nas/Roth, 22. Aufl., vor § 253, Rn. 12. 873 Normalerweise

Kap. 13: Abschließende Würdigung der Streitgegenstandslehre 

259

das materielle und prozessuale Recht wieder miteinander zu verknüpfen und die Bedeutung des materiellen Rechts für die Streitgegenstandsproblematik wieder zu entdecken, ist in der Entwicklung der deutschen Prozessualistik niemals abgebrochen und dauert weiter an. Hierfür ist die Arbeit von Koussoulis zu den Stadien der Beziehung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht besonders lehrreich. Nach seiner Auffassung befindet sich das Verhältnis zwischen Zivil- und Prozessrecht in Deutschland heute in einer dritten Phase, die „durch die Rückbesinnung auf die Zusammenhänge des Zivilprozessrechts mit dem Zivilrecht“ gekennzeichnet ist.874 Eine rein prozessuale Streitgegenstandslehre, die sich überhaupt nicht auf materielles Recht bezieht, ist weder möglich noch sinnvoll. Die Entwicklung einer sachgerechten und sich an den Bedürfnissen der Praxis orientierenden Lösung der Streitgegenstandsfragen setzt voraus, dass die Zusammenhänge zwischen beiden Rechtsgebieten entdeckt, bewertet und ausreichend berücksichtigt werden.

874 Koussoulis,

in: Dogmatische Grundfragen, S. 9.

Sechster Teil

Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China und die Vorbildfunktion der Streitgegenstandslehre in Europa 6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China Kapitel 14

Historische Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts A. Die Entwicklung des Prozessrechts seit der chinesischen Neuzeit (1840 bis heute) I. Das traditionelle chinesische Rechtssystem und sein Untergang Das traditionelle chinesische Recht hat eine lange Geschichte. Es geht etwa auf die Zeit der Xia-Dynastie (ca. 2100 v. Chr.) zurück und hatte seine Blütezeit in der Tang-Dynastie (618–907). Über die Jahrhunderte hinweg hatten die Chinesen eine charakteristische Rechtskultur entwickelt und dabei auch das Recht in einigen anderen asiatischen Ländern, vor allem in Japan, Korea und Vietnam, tiefgreifend geprägt. Die grundlegenden Merkmale des „traditionellen chinesischen Rechtssystems“ lassen sich mit Blick auf das Zivilprozessrecht in wenigen Sätzen wie folgt zusammenfassen. Überwiegend herrschte Einigkeit darin, dass ein Prozess vor Gericht wenig zur Lösung des Rechtsstreites zwischen den Bürgern selbst beitrug, sondern vielmehr den gesellschaftlichen Frieden und die Harmonie schädigte. Daher sollte der gerichtliche Prozess möglichst vermieden werden. Das Gesetzesrecht wurde nicht immer streng angewandt, Riten und „volkstümliche“ Gefühle hingegen spielten als „Normen“ eine wichtige Rolle. Die Anerkennung und der Schutz der privaten Rechte der Bürger war nicht zentrale Aufgabe der Rechtsordnung. Zwar umfasste die Kodifikation strafrechtliche und bürgerlich-rechtliche Regelungen, jedoch waren die ersteren von weit größerem Gewicht. Im Rechtssystem dominierten so materiellrechtliche Regelungen, während das Prozessrecht stets unsystematisch und unterentwickelt blieb.875 875 Zhang, Jinfan, Law und Social Development, 1996, Nr. 3, S. 58 ff.; Bu, Einführung in das Recht Chinas, Rn. 19; Tian, Pingan, ZZP Int. 2001, S. 318; He, Zhihui, in: Die Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts in den vergangenen hundert Jahren, Bd. I zum Ende der QingDynastie, S. 5 ff.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 282 ff.

Kap. 14: Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts 

261

Der grundlegende Wendepunkt trat in der späten Qing-Dynastie ein: Unter dem Druck der westlichen Länder setzte in China seit dem Ersten Opiumkrieg ­(1840–1842) langsam eine Modernisierung ein – die Zeit des „traditionellen chinesischen Rechtssystems“ war für immer vorbei. Allmählich erlangten die damaligen chinesischen Eliten das Bewusstsein, dass eine grundlegende Veränderung des Rechtssystems unverzichtbar war, um den veränderten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden. Vor allem um die Konsulargerichtsbarkeit abzuwenden, wurde propagiert, dass ein neues Recht nach dem Vorbild der damals führenden Industrienationen zu schaffen sei.876 Zahlreiche Gesetze und juristische Publikationen westlich-europäischer Provenienz wurden übersetzt und interessierten Kreisen vorgestellt.877 Delegationen wurden entsendet, um geeignete Muster für die Neubildung des politischen und rechtlichen Systems zu erkunden,878 und mit der Zeit waren den Chinesen einige Begriffe und Gedankengänge des westlichen Rechts nicht mehr fremd. II. Die Entwicklung in der späten Qing-Dynastie (1902–1911) Am Ende der Qing-Dynastie gab es eine Reihe von Reformvorschlägen.879 Im Hinblick auf das Zivilprozessrecht war das wichtigste Gesetzgebungswerk in dieser Periode der Entwurf des Zivilprozessgesetzbuchs der Qing-Dynastie (1911), das als die erste selbständige und umfassende Zivilprozessordnung in China gelten darf. Es umfasst vier Bücher mit 22 Kapiteln und insgesamt 800 Paragraphen. In ihm wurden einige Rechtsideen und Verfahrensmaximen, zahlreiche Rechtsbegriffe und Prozessinstitutionen des westlichen Rechts eingeführt und damit ein Zivilprozessrechtssystem in neuzeitlichem Sinne geschaffen. Grundsätzlich lässt sich behaupten, dass der Gesetzgeber hier das japanische Zivilprozessgesetz aus dem Jahr 1890 zum Vorbild nahm, das seinerseits wesentlich vom deutschen Recht beeinflusst war.880 Auch wenn dieser Gesetzesentwurf wegen des Untergangs der Qing-Dynastie nicht in Kraft treten konnte, galt er als Grundstein der 876 He, Zhihui, in: Die Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts in den vergangenen hundert Jahren, Bd. I zum Ende der Qing-Dynastie, S. 18 ff., 27 ff. 877 Im Bereich des Zivilprozessrechts wurden z. B. die deutsche, die österreichische und die japanische Zivilprozessordnung übersetzt. Wu, Zeyong, Journal of Comparative Law 2003, Nr. 3, S. 79. Einen Überblick über die übersetzten Publikationen bieten Tian, Tao/Li, Zhuhuan, Peking University Law Journal 2000, Nr. 3, S. 355 ff. 878 Beispielsweise die Regierungsdelegation im Jahr 1905 in die USA sowie nach Deutschland und Österreich oder die Regierungsdelegation im Jahr 1906 nach Japan, Großbritannien, Frankreich und Belgien. 879 Im Bereich des Zivilprozessrechts etwa ein Gesetz für den Straf- und Zivilprozess (1906), eine Vorläufige Ordnung zur Errichtung der Gerichte unterschiedlicher Ebenen (1907), ein Gerichtsorganisationsrecht(1910), eine Ordnung für den Straf- und Zivilprozess (1910) sowie ein Entwurf des Zivilprozessgesetzbuchs der Qing-Dynastie (1911). 880 Zhang, Jinfan, Law und Social Development, 1996, Nr. 3, S. 58; Wu, Zeyong, Modern Law Science 2007, Vol. 29, Nr. 4, S. 190.

262

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

Modernisierung des chinesischen Zivilprozessrechts und vermochte eine systematische, konzeptionelle und terminologische Grundlage für die spätere Entwicklung zu schaffen.881 III. Die Entwicklung in der Republik China (1912–1949) Der Beitrag der Republik China für die Rechtsmodernisierung ist vielfältig. Obwohl es in dieser Periode kaum Jahre politischer Stabilität gab, schuf die chinesische Regierung eine Fülle von Gesetzeskodifikationen.882 Das Zivilprozessrecht betrafen dabei – parallel oder im Wechsel – die folgenden relevanten Gesetzgebungsvorhaben: das am 1. Mai 1921 in Kraft getretene Zivilprozessgesetzbuch, die Zivilprozessordnung vom 1. Juli 1922, das Zivilprozessgesetz vom 20. Mai 1932 und das Zivilprozessgesetz vom 1. Juli 1935. Letzteres umfasste neun Bücher mit zwölf Kapiteln und insgesamt 639 Paragraphen. Ähnlich wie der Entwurf des Zivilprozessgesetzbuchs der Qing-Dynastie von 1911 orientierte es sich stark an der deutschen CPO von 1877 und dem japanischen Zivilprozessgesetz von 1890.883 Rezipiert wurden nicht nur die Rechtsbegriffe, Institutionen und der Aufbau der Rechtordnung, sondern auch die grundlegenden Ideen des westlichen Prozessrechts, vor allem der Liberalismus, der Individualismus und die ihnen entsprechenden Prozessmaximen, so etwa der Parteibetrieb, die Verhandlungsmaxime oder die Gleichheit der Parteien.884 Die Wirkung dieses Gesetzes blieb allerdings infolge der Bürgerkriegs-und Kriegswirren sehr begrenzt, und es wurde kurz vor der Gründung der Volksrepublik im kontinentalen China außer Kraft gesetzt. Trotzdem darf seine Leistung und die Bedeutung der vorangehenden Gesetzgebung, die darin bestand, zum ersten Mal in China eine umfassende, moderne Zivilprozessrechtsordnung konzipiert und umgesetzt zu haben, nicht unterschätzt werden. IV. Die Entwicklung in der Volksrepublik China (1949 bis heute) Die Rechtsentwicklung des Zivilprozessrechts in der Volksrepublik von 1949 bis heute kann in drei Perioden aufgeteilt werden. In der ersten Periode (­ 1949–1957) wurden zahlreiche Ansätze zum Aufbau eines neuen, sozialistischen Rechtssys 881 Heuser,

ZchinR 2008, S. 203 f.; Heuser, ZchinR 2009, S. 123. wichtigsten sind die „Sechs KodicesKodices“, die im Zeitraum zwischen 1929 und 1935 verabschiedet wurden: Verfassung, Zivilgesetzbuch, Zivilprozessgesetz, Strafgesetzbuch, Strafprozessgesetz, Handelsgesetz. Vgl. Fan, Jinxue, Science of Law 2003, Nr. 4, S. 38. 883 Xie, Donghui, Untersuchung zur Modernisierung des zivilprozessrechtlichen Erkenntnisverfahrens in der Nanjing-Dekade, S. 51 ff. 884 Yang, Lijie/Chen, Gang, in: Die Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts in den vergangenen hundert Jahren, Bd. I zur Republikperiode, S. 67 ff.; Xie, Donghui, Untersuchung zur Modernisierung des zivilprozessrechtlichen Erkenntnisverfahren in der Nanjing-Dekade, S.  180 ff. 882 Die

Kap. 14: Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts 

263

tems geleistet. Bereits ein Jahr nach der Abschaffung der „Sechs Kodices“ wurde am 31. Dezember 1950 ein Entwurf über die Vorläufigen allgemeinen Grundsätze des Prozessrechts der Volksrepublik China mit 82 Paragraphen vorgelegt, der jedoch nicht in Kraft treten konnte. Von 1950 bis 1953 wurden Volksgerichte verschiedener Stufen errichtet, und der Erste Nationale Volkskongress (NVK) verabschiedete im September 1954 das Gerichtsorganisationsgesetz. Im Oktober 1956 gab das Oberste Volksgericht (OVG) ein Resümee zum Erkenntnisverfahren des Zivilprozessrechts der Volksgerichte aller Stufen mit 84 Paragraphen bekannt, das als „vorläufiges Zivilprozessgesetz“ galt. Grundsätzlich lässt sich erkennen, dass sich die Gesetzgebung, Rechtsprechung und Prozessrechtslehre in dieser Periode am sowjetrussischen Modell orientierten, was – im Vergleich mit dem vorangegangenen Modernisierungswerk der Republik – einen tiefgreifenden ideologischen Wandel bedeutete. In der zweiten Periode (1957–1977) wurde das in der ersten aufgebaute Rechtssystem aus politischen Gründen weitgehend zerstört. Bezeichnenderweise wurde der 1957 vom OVG vorgelegte Entwurf einer Ordnung des zivilprozessualen Erkenntnisverfahrens abgelehnt. Insbesondere in der Zeit der „Kulturrevolution“ (1966–1976) breitete sich ein Gesetzesnihilismus aus, der nachteilige Folgen hatte: Es wurde keine neue Gesetzgebung geschaffen, zugleich wurde das geltende Prozessrecht vollständig außer Kraft gesetzt, und einmal kam die Tätigkeit der Gerichte aller Stufen zum Erliegen. Seit 1978 – nach Einführung der Reform- und Öffnungspolitik – trat die Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts in eine neue Phase, die durch die ständige Gesetzgebung und eine Anlehnung an westliche Rechtskonzeptionen gekennzeichnet war. Am 2. Februar 1979 gab das OVG die Vorläufigen Bestimmungen zum Erkenntnisverfahren des Zivilprozessrechts der Volksgerichte bekannt. Am 8. März 1982 verabschiedete der Fünfte Nationale Volkskongress das vorläufige Zivilprozessgesetz der VRC, das am 1. Oktober in Kraft trat und damit als das erste Zivilprozessgesetzbuch der Volksrepublik galt. Am 9. April 1991 verabschiedete der Siebte Nationale Volkskongress das Zivilprozessgesetz der VRC, das bis heute Geltung hat und durch ein am 28. Oktober 2007 verabschiedetes Reformgesetz, das sich in erster Linie auf das Wiederaufnahme- und Vollstreckungsrecht bezieht, teilweise revidiert worden ist. Um das Zivilprozessgesetz in der Praxis richtig anwenden zu können und die fehlenden Regelungen zu ergänzen, hat das OVG in den vergangenen Jahren zahlreiche Auslegungsrichtlinien mit Blick auf das Erkenntnisverfahren und die Zwangsvollstreckung bekanntgegeben.885

885 Vgl.

Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 281 f.

264

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

B. Überblick über das Zivilprozessrechtsund Justizsystem im gegenwärtigen China I. Rechtsquellen Das volksrepublikanische Zivilprozessrecht besteht derzeit aus verschiedenen Gesetzen. Wie oben gezeigt, ist das geltende Zivilprozessgesetzbuch das am 9. April 1991 verabschiedete Zivilprozessgesetz der Volksrepublik China (ZPG). Es umfasst vier Bücher, 28 Kapiteln und insgesamt 268 Paragraphen und beinhaltet fast alle relevanten Regelungen zum Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren, obwohl es zu einigen Punkten an konkreten Vorschriften fehlt.886 Weitere Quellen des Zivilprozessrechts sind u. a. die Rechtsordnungen zu den besonderen Verfahrensarten und die einzelnen zivilprozessrechtlichen Vorschriften in der Verfassung (1982), dem Gerichtsorganisationsgesetz (2006) (GOG), dem Richtergesetz (2002) (RG), dem Anwaltsgesetz (2007), dem Unternehmensinsolvenzgesetz (2007) usw. Bemerkenswert ist, dass die Auslegungrichtlinien des OVG in besonderem Maße eine praktische Bedeutung für den Zivilprozess haben. Sie sollen vorhandene Gesetze auslegen und so für die richtige Rechtsanwendung sorgen. Zum Teil nehmen sie aber „einen quasi-normsetzenden Charakter“ an.887 Grundsätzlich darf man behaupten, dass die Volksrepublik China heute über ein Zivilprozessrechtssystem mit systematischen und umfassenden Regelungen verfügt.888 II. Rechtsprinzipien, Aufgaben sowie Ziele des Prozessrechts und Verfahrensmaximen Von entscheidender Bedeutung für die Auslegung und Anwendung der zivil­ prozessrechtlichen Regelungen sind die im Gesetz genannten Aufgaben, Ziele und Grundsätze des Prozesses und Prozessrechts. Sie finden sich sowohl in der Verfassung, im GOG und RG wie auch im ZPG: (1) Rechtsstaatsprinzip: Das Rechtsstaatsprinzip ist in Art. 5 der Verfassung verankert. Ihm zufolge praktiziert die Volksrepublik China eine auf Gesetze ge-

886 Deutscher

Text bei Münzel, in: ZchinR 2008, S. 31 ff. umfassen die am 14. Juli 1992 in Kraft getretenen Richtlinien des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Zivilprozessgesetzes 320 Paragraphen, die am 18. Juli 1998 in Kraft getretenen Bestimmungen des OVG zu einigen Fragen der Vollstreckungspraxis der Volksgerichte (vorläufig) 137 Paragraphen und die am 1. April 2002 in Kraft getretenen Bestimmungen des OVG über den Beweis im Zivilprozess 83 Paragraphen. Zu dem Charakter und der Bindungswirkung dieser Auslegung vgl. Ahl, ZchinR 2007, S. 251 ff.(m. w. N.); Pißler, ZchinR 2009, S. 262; Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 20; von Senger, Einführung in das chinesische Recht, S. 180 f. 888 Für einen Überblick über das geltende chinesische Zivilprozessrecht vgl. Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 282 ff. 887 Beispielsweise

Kap. 14: Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts 

265

stützte Regierung und errichtet einen sozialistischen Rechtsstaat. Dieses Prinzip findet sich auch in Art. 3, Art. 7 Abs. 1 und 2 RG niedergelegt. (2) Unabhängigkeit der Justiz: Gemäß Art. 126 der Verfassung, Art. 4 GOG, Art. 1 RG und Art. 6 ZPG üben die Volksgerichte und ihre Richter ihre Gerichtsbarkeit gemäß den gesetzlichen Bestimmungen unabhängig aus und unterliegen keinen Eingriffen. (3) Gleichheit der Parteien: Gemäß Art. 33 Verfassung sind alle Bürger der Volksrepublik vor dem Gesetz gleich; gemäß Art. 5 GOG und Art. 8 ZPG soll das Volksgericht die Parteien bei der Anwendung des Gesetzes durchweg gleich behandeln; gemäß Art. 8 ZPG haben die Parteien im Zivilprozess gleiche prozessuale Rechte; in Art. 1 RG wird die Neutralität und Unparteilichkeit des Richters geregelt. (4) Schutz der prozessrechtlichen Rechte der Parteien: Gemäß Art. 2 sowie 8 ZPG und Art. 7 Abs. 3 RG muss das Volksgericht die Ausübung der Prozessrechte durch die Parteien garantieren und erleichtern. (5) Schutz der privaten Rechte der Bürger und Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit als anzustrebendes Ziel der Justiz: Gemäß Art. 7 Abs. 4 RG, Art. 2 ZPG und Art. 3 GOG ist es die Pflicht des Richters und die Aufgabe des Zivilprozessrechts, die legalen Rechte und Interessen der Parteien zu schützen und durchzusetzen. (6) Konfliktschlichtung und Bewährung der gesellschaftlichen Ordnung als Aufgabe des Zivilprozesses: Gemäß Art. 2 ZPG dient das Prozessrecht dazu, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung zu sichern und zu garantieren; gemäß Art. 3 GOG ist es Aufgabe des Volksgerichts, zivilrechtliche Streitigkeiten zu lösen sowie die sozialistische Rechtsordnung und die gesellschaft­ liche Ordnung zu bewahren. (7) Eingeschränkte Dispositionsmaxime: In Art. 13 ZPG wird eindeutig geregelt, dass die Parteien das Recht haben, im dem vom Gesetz bestimmten Rahmen über ihre Zivilrechte und Prozessrechte zu verfügen; die Dispositionsmaxime findet sich beispielsweise in Art. 52, Art. 85 und Art. 108 Abs. 3 ZPG. Allerdings ist die Dispositionsfreiheit der Parteien im chinesischen Prozessrecht in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Dies machen die folgenden Vorschriften deutlich: Gemäß Art. 92 Abs. 1 ZPG kann das Volksgericht notfalls verfügen, dass Vermögenssicherungsmaßnahmen ergriffen werden, auch wenn keine Partei einen entsprechenden Antrag gestellt hat; laut Art. 131 Abs. 1 ZPG entscheidet das Volksgericht durch Verfügung, ob einem vor der Urteilsverkündigung gestellten Antrag des Klägers auf Rücknahme der Klage stattgegeben wird;889 Art. 156 ZPG zufolge verfügt das Volksgericht zweiter In 889 Vgl. auch Art. 161 der Ansichten des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Zivilprozessgesetzes.

266

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

stanz, ob dem Berufungskläger, der vor der Verkündung des Urteils durch das Volksgericht zweiter Instanz die Rücknahme der Berufung beantragt, dies gestattet wird. (8) Eingeschränkter Beibringungsgrundsatz: Das chinesische Prozessrecht hat sich grundsätzlich für die Verhandlungsmaxime entschieden. So können und sollen die Parteien gemäß Art. 50 und Art. 64 Abs. 1 ZPG Beweise sammeln und in den Prozess einführen; bei der Klageerhebung muss der Kläger gemäß Art. 108 Abs. 3 ZPG konkrete Tatsachen und Gründe der Klage vorbringen. Ähnlich wie die Dispositionsmaxime wird die Verhandlungsmaxime im chinesischen Prozessrecht jedoch nicht streng durchgeführt. Beispielsweise muss das Volksgericht gemäß Art. 64 Abs. 2 ZPG die Beweise, welche es als für die Behandlung des Falles erforderlich ansieht, selbst sam­meln und prüfen. (9) Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Prozesses: Gemäß Art. 12 ZPG haben die Parteien das Recht, bei der Behandlung durch das Gericht streitig zu verhandeln; gemäß Art. 125 Verfassung, Art. 7 GOG und Art. 120 ZPG sind alle Verhandlungen der Volksgerichte im Prinzip öffentlich durchzuführen. (10) Reste der sog. „super ex officio doctrine“ im Zivilprozess: Wegen der Bedeutung der Autokratie in der chinesischen Geschichte und des Einflusses der sowjetischen Prozessrechtsideen wurde das chinesische Zivilprozessrecht stark von der sog. „super ex officio doctrine“ beherrscht, nach der die Freiheit der Parteien erheblich eingeschränkt und die willkürliche Ausübung richterlicher Macht begünstigt wird.890 Obwohl in den vergangenen Jahren weitgehend auf eine Anwendung dieser Doktrin verzichtet wurde, finden sich doch noch Reste im geltenden Prozessrecht. So kann das Volksgericht – ungeachtet des Willens und des Rechts der Parteien – folgende Prozessverhandlungen von Amts wegen vornehmen: Hinzuziehen von Beteiligten (Art. 56 Abs. 2 ZPG), Beweiserhebung (Art. 64 Abs. 2 ZPG), Überprüfung der Fehler des erstinstanzlichen Urteils im Berufungsverfahren (Art. 180 der Richtlinien des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Zivilprozessgesetzes), Einleitung eines Verfahrens zur Überprüfung von Entscheidungen (Art. 177 ZPG) und Erlass von Sicherungsmaßnahmen (Art. 92 Abs. 1 ZPG).891 III. Gericht und Richter in der zivilprozessrechtlichen Praxis Die chinesischen Gerichte werden in vier Stufen gegliedert: das OVG, die oberen Gerichte, die mittleren Gerichte und die unteren Gerichte. Ihre Zuständigkeit und ihr Instanzenzug werden in der Verfassung, dem GOG und den Prozessgesetzen 890 Zu Erscheinungsform und Kritik vgl. Wang, Shaohua, Peking University Law Journal 1991, Nr. 2, S. 17 ff. 891 Vgl. Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 282.

Kap. 14: Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts 

267

geregelt.892 Gemäß Art. 3 GOG, Art. 7 RG und Art. 2 sowie 8 ZPG sind die Aufgaben der Volksgerichte folgende: die prozessualen sowie materiellen Rechte der Parteien zu schützen, die Rechtsstreitigkeiten zwischen den Bürgern gerecht zu lösen und zugleich die gesellschaftliche Ordnung sowie die Rechtsordnung zu bewahren. Mit fortschreitender Reform des Rechtssystems wächst die Bedeutung der Gerichte in der chinesischen Gesellschaft und Wirtschaft.893 Infolge der Reform- und Öffnungspolitik begann seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Aufbau eines Gerichtswesens. Angesichts des enormen Bedarfs an Richtern fehlte es anfangs an ausgebildeten Kräften. Entsprechend erlebte die Juristenausbildung in den folgenden Jahren eine rasche Entwicklung.894 Die Anzahl der Richter in China beträgt heute etwa 200.000.2002 wurde das landesweit einheitliche Staatsexamen eingeführt, das gemäß Art. 51 RG die Zu­ lassungsvoraussetzung für Berufe wie Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare ist. Eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der fachlichen Kompetenz der Richter wurde ergriffen, was den politischen Willen zeigt, „die Rolle der Richter und die des Gerichtswesens insgesamt erheblich zu stärken“.895 Problematisch ist allerdings, dass die Schulung der juristischen Methoden zur Fallbearbeitung in der Juristenausbildung bis heute vernachlässigt wird, und es findet im Staats­examen keine Prüfung darüber statt, ob solche Methoden beherrscht werden. Da aber gerade dieser Aspekt und die entsprechenden Übungen in der Juristenausbildung von grundlegender Bedeutung für eine einheitliche und effektive Rechtsanwendung und daher auch für den Aufbau des Rechtsstaates sowie die Erfüllung der richterlichen Aufgaben sind, ist es unentbehrlich, die künftige Juristenausbildung gerade in diesem Punkt zu stärken.896 Ein anderes schwerwiegendes Problem ist die Unabhängigkeit der Volks­gerichte und der Volksrichter. Trotz einer bemerkenswerten Entwicklung des Rechtssystems und vielseitiger Justizreformen in den vergangenen Jahren konnte dieses Problem bis heute nicht befriedigend gelöst werden. Dies wurde viel kritisiert, und zu einer Lösung dieses Problems wurden und werden zahlreiche Vorschläge gemacht,897 jedoch dürfte es – aus kulturellen und politischen Gründen – bis zu seiner endgültigen Lösung noch ein langer Weg sein. 892 Binding,

­ZVglRWiss 109, S. 153 ff.; Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 15 ff.

893 Beispielsweise verhandelten die chinesischen Gerichte im Jahre 2010 insgesamt 6.112.698

Fälle im Bereich der Zivil- und Handelssachen, deren Streitwert 913.725 Milliarden RMB betrug. Vgl. Jährlicher Arbeitsbericht des Volksgerichts (2010). 894 Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 10 ff. 895 Binding, ­ZVglRWiss 109, S. 196. 896 Binding, ­ZVglRWiss 109, S. 196. 897 Lubman, Bird in a Cage: legal reform in China after Mao, S. 263 ff.; Peerenboom, China’s long march toward rule of law, S. 280 ff, 343 ff.; Peerenboom (Hrsg.), Judicial independence in China: lessons for global rule of law promotion; von Senger, Einführung in das chinesische Recht, S. 203 ff.; Binding, Z ­ VglRWiss 109, S. 154 ff.; Yu, Jingyao, Chinese Journal of Law 2004, Nr. 3, S. 52 ff.; Xia, Jinwen, Tribune of Political Science and Law 2004, Vol. 22, Nr. 1, S.  46 ff.

268

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

C. Zusammenfassende Würdigung I. Einige Bemerkungen zur Entwicklung und zu Besonderheiten des chinesischen Zivilprozessrechts 1. Rechtstraditionelle und rechtskulturelle Unterschiede des chinesischen Prozessrechts im Vergleich zu den europäischen Prozessrechten Im Vergleich mit dem westlichen Konzept von Recht und Rechtsschutz weist die traditionelle chinesische Rechtskultur grundlegende Unterschiede auf. Das subjektive Recht, die Privatautonomie, die Gewährleistung eines fairen Verfahrens und der effektive Rechtsschutz waren keine zentralen Elemente des alten chinesischen Rechts; dessen vornehmste Aufgabe war die Gewährleistung der Autokratie. Dementsprechend waren die Gerichte „Teil der Verwaltung, der mit der Verfolgung, Aburteilung und Bestrafung sozial unerwünschten Verhaltens befasst war“.898 Und obwohl es ein charakteristisches Merkmal des traditionellen chinesischen Rechts war, dem Rechtssystem eine besondere Bedeutung für die Erhaltung der gesellschaftlichen Harmonie beizumessen, lässt sich mit Recht bezweifeln, ob dieses unterentwickelte Rechtssystem die Ansprüche und Interessen der Bürger zu befriedigen und Harmonie in der Gesellschaft zu stiften vermochte. Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts setzte allmählich – infolge der Expansions­ bestrebungen der europäischen Kolonialmächte – ein Wandel ein. Die Annäherung des chinesischen Rechts an westliche Rechtskonzepte fand dann aber Mitte des letzten Jahrhunderts im Zuge des Sieges der Kommunistischen Partei Chinas nach der Begründung der Volksrepublik ein Ende. Anstelle der Modernisierungsbemühungen nach westlichem Vorbild setzte sich ein an der Sowjetunion orientiertes sozialistisches Rechtsmodell durch. Nach der damaligen herrschenden marxistischleninistisch-maoistischen Vorstellung vom Recht hatte die Justiz lange Zeit allein polizeiliche und strafrechtliche Aufgaben.899 Wendepunkt war die Einführung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahr 1978. Zunehmend ist seither in China weitgehend anerkannt, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Landes einer „soliden rechtlichen Infrastruktur“ bedarf.900 Trotz des Überlebens der bereits erwähnten, in vielerlei Hinsicht sozialistischen Elemente im Rechtssystem wird das westliche Rechtskonzept teilweise rezipiert und umgesetzt. So findet seit den 1980er Jahren „eine an Intensität permanent zunehmende Rückbesinnung auf während der ersten Jahrhunderthälfte gewonnene Einsichten und Resultate der Rechtsmodernisierung“ statt.901 Allerdings muss man erkennen, dass das traditio-

898 Ahl,

Die politische Meinung 2/2005, S. 28. Die politische Meinung 2/2005, S. 28. 900 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 288. 901 Heuser, ZchinR 2009, S. 123. 899 Ahl,

Kap. 14: Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts 

269

nelle Rechtsdenken und der sowjetische Einfluss sich nicht ohne weiteres rasch überwinden lassen und die Bemühungen in den vergangenen 30 Jahren nur als erster Schritt auf diesem langen und schwierigen Weg zu sehen sind. 2. Die Rolle des Richters im Verfahren Im alten China spielte der Richter, der häufig zugleich das Regierungsoberhaupt eines Verwaltungsbezirks war, eine aktive Rolle. Wegen der unzureichenden materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Vorschriften konnte und musste er den Streit schlichten und den Prozess leiten – was als Ausdruck eines Paternalismus in der Justiz angesehen werden kann.902 Dementsprechend war die Achtung der Freiheit und der Prozessrechte der Parteien dem traditionellen Recht fremd. Nach der Entstehung der Volksrepublik wurde aufgrund der Rezeption des sowjetischen Prozessrechtssystems und seiner Grundgedanken die sog. „super ex officio doctrine“ im Zivilprozess begründet.903 Dies zeigte sich ganz deutlich in der ZPG 1982.904 In der späteren Entwicklung stimmten die chinesischen Juristen dann aber zunehmend darin überein, dass dieser Verfahrensgrundsatz für das heutige Zivilprozessrechtssystem unangemessen sei, weshalb das ZPG 1991 und die Zivil­ prozessreform 2007 in vielerlei Hinsicht auf ihn verzichten. Trotzdem lässt sich sagen, dass die endgültige Überwindung dieses Grundsatzes und die vollständige Durchsetzung der Parteiherrschaft im Zivilprozess eine Aufgabe ist, die es noch zu erledigen gilt.905

902 Shiga, Journal of Comparative Law 1988, Nr. 3, S. 25. Es kam nicht selten vor, dass der Richter in Abweichung vom Gesetz eine Verurteilung ausspricht. Vgl. Shiga, Journal of Comparative Law 1988, Nr. 3, S. 24. 903 Vgl. Zhang, Weiping, Modern Law Science 1996, Nr. 4, S. 61 ff. 904 So ist beispielsweise der Richter gemäß Art. 56 Abs. 2 verpflichtet, Beweise vollständig und objektiv zu sammeln und zu prüfen; aufgrund des damaligen Verständnisses von Art. 81 konnte die Klagezustellung bei bloßer Unschlüssigkeit verweigert werden; gemäß Art. 149 muss das Gericht der Berufungsinstanz die in der ersten Instanz festgelegten Tatsachen und angewandten Rechtsnormen vollständig überprüfen, auch wenn diese Überprüfung den Umfang des Berufungsverlangens überschreitet. Vgl. Wang, Shaohua, Peking University Law Journal, 1991, Nr. 2, S. 17 ff. 905 So haben gemäß Art. 13 ZPG die Parteien das Recht, über ihre Zivilrechte und Prozessrechte zu verfügen; gemäß Art. 151 ZPG muss das Volksgericht zweiter Instanz die auf das Berufungsverlangen bezogenen Tatsachen und das angewandte Recht überprüfen; gemäß Art. 179 Abs. 1 Variante 12 ZPG muss das Volksgericht das Verfahren wieder aufnehmen, wenn das ursprüngliche Urteil bzw. die ursprüngliche Verfügung über die Klageforderungen hinausgegangen ist.

270

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

3. Die Hinwendung zum kontinental-europäischen Rechtskonzept Vor der Rezeption des westlichen Rechts gegen Ende der Qin-Dynastie standen die damaligen Juristen vor der entscheidenden Frage, welchem Rechts­modell zu folgen sei: dem anglo-amerikanischen oder dem kontinental-europäischen. Obwohl es in der Geschichte zwischen den Theoretikern immer Streit über diese Frage gab, kann man festhalten, dass sich China seit Beginn der Modernisierung seines Rechtssystems grundsätzlich für Konzeption des kontinental-europäischen Rechtskreises entschieden hat.906 Diese grundlegende Entscheidung ist bis heute unverändert geblieben.907 Die Rechtsquellen und die Methoden der Rechtsauslegung und -an­wen­dung in China weisen kaum wesentliche Unterschiede zu den Ländern des kontinental-europäischen Rechtskreises auf. Im Bereich des Zivilprozessrechts wurden seit Anfang des letzten Jahrhunderts das System und die Institutionen des kontinental-europäischen Prozesses rezipiert. Insbesondere wurde das deutsche Recht herangezogen, um das eigene Prozessrechtssystem aufzubauen.908 So bestehen zwischen dem deutschen und dem chinesischen Prozess viele Ähnlichkeiten, und es werden zahlreiche deutsche Rechtsbegriffe, Prozessgrundsätze und Prozesslehren – in Teilen oder vollständig – akzeptiert, um das neu eingeführte Zivilprozessrecht wissenschaftlich und praktisch pflegen zu können. Es lässt sich sogar behaupten, dass fast alle relevanten Prozessrechtstheorien Deutschlands den chinesischen Prozessualisten ge­läufig sind, auch wenn ihre Verständnis von der Qualität der jeweiligen Übersetzung abhängt. II. Errungenschaften des heutigen Zivilprozessrechts Durch die Modernisierungsbemühungen in den vergangenen hundert Jahren, insbesondere nach der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik, verfügt China heute zum ersten Mal über eine umfassende und moderne Zivilprozessrechtsordnung. Die Gesetzgebung, die Rechtsprechung in zivilrechtlichen Angelegenheiten, die Prozessualistik und die Juristenausbildung haben eine rasante und erstaunliche Entwicklung durchlaufen,909 deren Ergebnisse nicht unterschätzt werden dürfen. Grundsätzlich ist das heutige Zivilprozessrechtssystem ein geeignetes Instrument, die Rechte und Interesse der Parteien zu schützen, in den Volksgerichten die Zivilsachen in gerechter Weise zu behandeln und zugleich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung zu sichern. 906 Die Gründe dafür sind vielseitig. Vgl. Heuser, ZchinR 2008, S. 204; Nörr, FS Kitagawa, S.  231 ff.; Sun, Xianzhong, China Legal Science 2006, Nr. 3, S. 166 ff.; Feng, Lixia, Jin Ling Law Review 2003, Nr. 1, S. 145 ff. 907 Mi, Jian, ZchinR 2007, S. 132 ff. 908 Heuser, ZchinR 2008, S. 204 f. 909 Jiang, Wei/Fu, Yulin, China Legal Science 1999, Nr. 6, S. 20 ff.

Kap. 14: Entwicklung und heutiger Stand des chinesischen Zivilprozessrechts 

271

III. Mängel des heutigen Zivilprozessrechts Trotz dieser Errungenschaften ist nicht zu übersehen, dass China nur auf eine relativ kurze Geschichte rechtlicher Modernisierung zurückblicken kann und die rezipierten Ideen, Begriffe und Institutionen ihm, von seiner Tradition her gesehen, völlig fremd sind. Insofern ist es wohl unvermeidlich, dass die heutige chinesische Zivilprozessrechtsordnung in vielerlei Hinsicht Mängel aufweist. Erstens tendieren Prozessgesetze und Justiz bis heute immer wieder dazu, die staatliche Intervention im Prozess zu betonen und über die Parteiherrschaft und -freiheit hinwegzugehen. Dies zeigt sich deutlich daran, dass das Volksgericht über zu viele unnötige Befugnisse verfügt und die Freiheit sowie die prozessrechtlichen Rechte der Parteien noch nicht in ausreichendem Maße gewährleistet sind.910 Zweitens sind die Kenntnisse der chinesischen Prozessualisten über manche Prozessrechtstheorien und -institute sehr begrenzt. Ziele und Inhalte einiger Theorien und Institute fremder Herkunft werden sogar falsch verstanden;911 und die inneren Zusammenhänge zwischen Rechtsinstituten übersehen. Drittens hat das chinesische Zivilprozessrecht in wichtigen Bereichen eine zu geringe Regelungsdichte, während andererseits viele Paragraphen wenig praktische Bedeutung haben. So hat das OVG zahlreiche Richtlinien zur Anwendung des Zivilprozessrechts bekanntgegeben, die zwar für die Praxis hilfreich sind, aber Verwirrung in der Rechtsquellenhierarchie stiften und dadurch der Rechtssicherheit schaden. Viertens fehlt es an tiefgreifenden Untersuchungen und Auseinandersetzungen mit grundlegenden Prozessrechtstheorien. Dies führt dazu, dass die Rezeption oder Ablehnung fremder Lehren und Rechtsinstitute häufig nicht gut begründet ist. Fünftens entfremdet sich die Lehre von der Praxis. Die meisten Prozessrechtslehren in China kommen aus westlichen Ländern; ihre kulturellen und gesellschaftlichen Grundlagen werden bei der Rezeption jedoch häufig übersehen.912 Daher ist es vorstellbar, dass viele akzeptierte fremde Theorien wenig zur Lösung praktischer Probleme in China beitragen können. Viele von ihnen werden von den Praktikern als ungeeignet angesehen und abgelehnt. Sechstens wird dem Verhältnis zwischen den Aufgaben des Prozessrechts sowie den Prozessmaximen einerseits und den Rechts­vorschriften und der Rechtspraxis andererseits nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Einige konkrete prozessrechtliche Vorschriften widersprechen den vorgeschriebenen Zielen und Prozessmaximen in der Verfassung und im Zivilprozessrecht; bei der Rechtsauslegung und -anwendung haben die Richter die Ziele und 910 Jiang,

Wei (Hrsg.), Untersuchungen zum Zivilprozessrecht, 2005, S. 95, 102 f., 110 ff. das falsche Verständnis der Verhandlungsmaxime in China, vgl. Zhang, Weiping, Grundbegriffe im Zivilprozessrecht, S. 3 ff.; oder das falsche Verständnis der Aufgabe des Verfahrens für geringfügige Forderungen, vgl. Fu, Yulin, Chinese Journal of Law 2003, Nr. 1, S. 62 f. 912 Jüngst haben die chinesischen Gelehrten diesem Problem Aufmerksamkeit geschenkt. So wird vorgeschlagen, bei der Vorstellung einer Theorie ihre Geschichte, ihre rechtliche, gesellschaftliche sowie kulturelle Grundlage und ihre Anwendungsvoraussetzungen umfassend zu analysieren. Vgl. Jiang, Wei (Hrsg.), Untersuchungen zum Zivilprozessrecht, 2005, S. 54 f. 911 Beispielsweise

272

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

Aufgaben des Prozessrechts nur wenig berücksichtigt. Seit Langem sind sich die chinesischen Prozessualisten all dieser Probleme bewusst, und es gibt zahlreiche Bemühungen, um sie Schritt für Schritt zu lösen.

Kapitel 15

Die Lage der Nation und ihr Anspruch auf ein chinesisches Zivilprozessrecht sowie die Prozessrechtsrezeption A. Einleitung: Die Bedeutung der Lage der Nation für das nationale Rechtssystem – eine Vorfrage der Rechtsvergleichung und -rezeption Obwohl der unmittelbare Gegenstand der Rechtsvergleichung und -rezeption häufig Rechtsbegriffe, -institute und -theorien sind, muss man erkennen, dass rechtsvergleichende Forschung und Bemühungen um eine Rechtsrezeption sich nicht auf den rechtlichen Bereich beschränken dürfen. Rechtsrezeption ist auf keinen Fall die bloße Übernahme der Rechte anderer Länder; vielmehr ist sie die grundlegende Entscheidung einer Nation, aus einer bestimmten Motivation durch Heranziehung bestimmter fremder Rechte ihr eigenes Rechtssystem zu reformieren und verbessern.913 Über das Motiv, den Bedarf und das Vefahren einer Rechtsrezeption entscheidet unmittelbar der Gesetzgeber. Im Grunde werden solche Fragen einer Rezeption aber wesentlich auch von der Lage der Nation beeinflusst oder sogar bestimmt. Die Lage einer Nation ist die historische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlage ihres Rechtssystems. Sie bedingt sowohl den heutigen Stand als auch den Reformbedarf des Rechtssystems; sie bestimmt die Rahmenbedingungen und den möglichen Weg einer Rezeption. Ohne eine grundlegende Untersuchung der Lage einer Nation lässt sich weder beantworten, was als Gegenstand einer Rezeption wünschenswert ist, noch feststellen, wie eine angemessene Rezeption durchzuführen ist. In diesem Fall ist das Scheitern einer Rechtsrezeption sehr wahrscheinlich.

B. Die Wandlung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger und ihre Spiegelung im Zivilprozessrecht China verfügt über eine mehr als 2000-jährige monarchisch-absolutistische Geschichte. Die Rechtskultur im alten China diente vor allem der Festigung der Autokratie und des patriarchalischen Sippensystems. Sie ist eine Kultur der Pflich 913 Rehm,

­RabelsZ 2008, S. 40.

Kap. 15: Lage der Nation und Anspruch auf ein chinesisches Zivilprozessrecht

273

ten.914 Erst ab dem Ende der Qing-Dynastie wurden die Chinesen infolge der ständigen Kontakte mit den westlichen Ländern allmählich von den der Aufklärung zugrunde liegenden Gedanken beeinflusst. Nach den Vorstellungen der Revolutionäre am Ende der Qing-Dynastie und in der Republikperiode, die ihrem Heimatland die Staatsform der konstitutionellen Monarchie oder der demokratischen Republik empfahlen, sollte das Recht ein Instrument zum Schutz der Freiheit, der Gleichheit sowie der Rechte der Bürger sein und der Sicherung und Bewahrung der veränderten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung dienen. Zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte kam die Vorstellung zum Ausdruck, dass der Staat und seine Rechtsordnung den Bürgern dienen müssten, nicht umgekehrt. Diese modernen Ideen wurden dann allerdings zunächst nach der Begründung der Volksrepublik durch die an der Sowjetunion orientierte sozialistische Rechtskonzeption verdrängt. Der zweite Wendepunkt in der Modernisierung Chinas ist der Beginn der Reform- und Öffnungspolitik. Auch wenn China bis heute zu den sozialistischen Staaten zählt, haben die grundlegenden politischen Vorstellungen in China eine offensichtliche und erhebliche Veränderung erfahren. Insbesondere die sog. Idee vom „sozialistischen Rechtsstaat chinesischer Prägung“ bringt ein neuartiges Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Bürger mit sich. Einerseits wird der Individualrechtsschutz als zentraler Zweck der Rechtsordnung in verfassungsrechtlichen Vorschriften betont. In der Präambel der Verfassung wird geregelt, dass das Rechtssystem ständig zu verbessern und zu vervollständigen sei. Gemäß Art. 126 der Verfassung sollen die Volksgerichte ihre Gerichtsbarkeit gemäß den gesetzlichen Bestimmungen unabhängig ausüben. Gemäß Art. 13, 33, 37 und 38 der Verfassung dient das Rechtssystem dazu, die Freiheit, das Eigentum, die Rechte und die Menschenwürde der chinesischen Bürger zu gewährleisten. Andererseits wird die Bewahrung einer gerechten und harmonischen sozialen Lebensordnung in der Verfassung betont. Gemäß Art. 5 und 53 soll die Würde des Rechtssystems verteidigt werden; alle Organisationen und alle Individuen müssen die Verfassung und die Gesetze einhalten. Nach Art. 51 dürfen die Bürger der Volksrepublik China bei der Ausübung ihrer Freiheiten und Rechte die Interessen des Staates, der Gesellschaft und des Kollektivs oder die rechtmäßigen Freiheiten und Rechte anderer Bürger nicht verletzen. Daher lässt sich festhalten: Trotz der Unterschiede zwischen dem chinesischen und dem westlichen Recht hat die chine­sische Rechtsordnung bereits zahlreiche Elemente verinnerlicht, die sich dem westlichen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit zuordnen lassen. Die in der Verfassung festgeschriebenen Aufgaben der Rechtsordnung werden durch die Vorschriften im GOG, RG und ZPG konkretisiert.915 So herrscht heute in China grundsätzlich die Vorstellung, dass die Aufgabe des Zivilprozesses – gemäß 914 Fan,

Jinxue, Science of Law 2003, Nr. 4, S. 40. eine allgemeine Darstellung zum Verhältnis zwischen Verfassung und Zivilprozess vgl. Schwab/Gottwald, Verfassung und Zivilprozess, S. 1 ff. 915 Für

274

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

Art. 7 Abs. 4 RG, Art. 2 ZPG und Art. 3 GOG – vor allem im Schutz der Rechte der Individuen besteht.916 Der Staat und seine Gerichte sollen dafür sorgen, dass die gerechtfertigten Interessen der Bürger durch das Zivilverfahren effektiv gewährleistet und verwirklicht werden. Eine andere Aufgabe des Zivilprozesses liegt darin, den Rechtsstreit schnell und gerecht zu lösen und dadurch die gesellschaftliche Ordnung zu wahren.917 Gemäß Art. 2 ZPG und Art. 3 GOG sind der Staat und seine Gerichte verpflichtet, durch die Lösung der rechtlichen Konflikte die gesellschaftliche Ordnung zu sichern, was seinerseits wiederum dem Interesse der Bürger und dem Gemeinwohl dient. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Verständnis von den Zielen und Aufgaben des Zivilprozesses im heutigen China sich dem der westlichen Länder annähert, obwohl es ihm im chinesischen Recht noch etwas an deutlicher Artikulation fehlt und die Durchsetzung der genannten Ziele und Aufgaben in der Praxis noch zu stärken ist.

C. Die Begründung der Marktwirtschaft und ihr Einfluss auf das Zivilprozessrecht I. Die Rolle der Marktwirtschaft für den Aufbau eines modernen Zivilprozessrechtssystems in China Vor der Invasion der ausländischen Mächte im Opiumkrieg war das grund­ legende Element der Wirtschaftsordnung die Einzelbauernwirtschaft. Erst am Ende der Qing-Dynas­tie und in der Republikperiode hatte die Warenwirtschaft eine gewisse Entwicklung erlebt, während nach dem Sieg der sozialistischen Revolution die Planwirtschaft allmählich zur dominanten Wirtschaftsordnung wurde. Im Jahr 1993 schließlich entschieden die kommunistische Partei und die Regierung, anstatt der Planwirtschaft eine marktwirtschaftliche Ordnung zu etablieren.918 Zahlreiche Reformen wurden initiiert, zahlreiche Öffnungsschritte getan, um den Wechsel der Wirtschaftsordnung zu realisieren.919 Die Begründung und Entwicklung des Marktwirtschaftssystems hat in vielerlei Hinsicht die chinesische Gesellschaft tiefgreifend verändert. Dies zeigt sich besonders deutlich darin, dass erst seit dieser fundamentalen Veränderung die Chinesen allmählich ein klares Bewusstsein von Werten wie Freiheit, Gleichheit und Effizienz haben und sich ihr Bewusstsein um die rechtliche Verbürgung dieser Werte immer weiter vermehrt.

916 Statt vieler Zhang, Weiping (Hrsg.), Compilation of Materials on Civil Procedure Law, S.  19 ff. 917 Vgl. Zhang, Weiping (Hrsg.), Compilation of Materials on Civil Procedure Law, S. 19 ff. 918 Die Begründung einer sozialistischen Marktwirtschaft wird als Aufgabe des Staates in der Präambel und in Art. 15 der Verfassung geregelt. 919 Jüngst wurde die weitere Entwicklung des chinesischen Rechts durch den Beitritt zur WTO und die zunehmende Wirtschaftsglobalisierung gefördert. Vgl. Heuser, ZchinR 2008, S. 193; Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 5 f.

Kap. 15: Lage der Nation und Anspruch auf ein chinesisches Zivilprozessrecht

275

Die Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts in den vergangenen Jahren wurde stark von der Marktwirtschaftsordnung beeinflusst. Erstens verlangt die Entwicklung der Marktwirtschaft, dass der Staat umfassende und gerechte prozessrechtliche Regelungen, einen effizienten Zivilprozess und unabhängige Richter zur Verfügung stellt. Zweitens erfordert die Marktwirtschaft bestimmte Verfahrensgrundsätze, deren Ziele darin liegen, die Verhandlungs- und Dispositionsfreiheit der Parteien, die Gleichheit der Parteien und ein faires Verfahren zu gewährleisten. Es lässt sich sogar behaupten, dass die in China durchgeführten Reformen und Verbesserungen im Bereich des Zivilprozessrechts hauptsächlich darauf abzielten, die Anforderungen der Marktwirtschaft zu erfüllen.920 II. Die Grenze der Marktidee und -ideologie im Zivilprozessrecht Obwohl die Begründung und Entwicklung der Marktwirtschaft in vielerlei Hinsicht zur Modernisierung des chinesischen Zivilprozessrechts beigetragen haben, soll doch nicht vergessen werden, dass die Marktidee und -ideologie nicht absolut im Zivilprozessrecht und Zivilprozess durchgesetzt werden dürfen. Aus der Sicht der liberalen Prozesstheorie ist der Prozess ein Kampfspiel, in dem die Parteien darauf aus sind, Gewinne zu erzielen und Verluste zu vermeiden. Heutzutage wird diese Ansicht als unzweckmäßig angesehen und weitgehend abgelehnt. Die Bestrebung nach Freiheit, formeller Gleichheit und Effizienz im Prozess soll vielmehr auch andere relevante Werte verwirklichen und ihre Berücksichtigung nicht behindern, etwa die materielle Gleichheit und die materielle Gerechtigkeit. Auch wenn es immer Theorienstreit über Wahl des Prozessmodells geben wird, finden sich in der heutigen prozessrechtlichen Literatur in China doch zahlreiche Vorschläge, die den Aufbau eines Prozessrechtssystems intendieren, das die materielle Gleichheit der Parteien und die materielle Gerechtigkeit des Urteils durchzusetzen imstande ist. Der Parteienprozess, der sich auf eine konservativ-liberalistische Auffassung des Prozesses gründet, vermag nach vielfacher Ansicht diesen Anforderungen des chinesischen Prozessrechts nicht zu genügen und sollte daher nicht als Vorbild genommen werden.921 Zentrales Argument hierbei ist, dass im Parteienprozess der Unterschied, der zwischen den Fähigkeiten der Parteien besteht, übersehen wird, was mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem ungerechten Prozess­ergebnis führt.922 Um dieses Problem befriedigend zu lösen, werden in der 920 Die

chinesischen Prozessualisten stimmen darin überein, dass die Marktwirtschaft zu starken und tiefgreifenden Veränderungen des chinesischen Zivilprozessrechts geführt hat. Vgl. ­Jiang, Wei, Modern Law Science 1996, Nr. 3, S. 4 ff.; Tang, Weijian, Tribune of Political ­Science and Law 1997, Nr. 1, S. 79 ff.; ders., Tribune of Political Science and Law 1997, Nr. 2, S.  84 ff.; Zhang, Weiping, Journal of Tsinghua University (Philosophy and Social Sciences) 2001, Nr. 6, S. 7. 921 Zhang, Weiping, Law Review 1996, Nr. 4, S. 59. 922 Li, Hao, Law Review 2005, Nr. 5, S. 111, 113 f.; ders., Studies in Law and Business 2007, Nr. 3, S. 88 f., 90.

276

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

jüngsten Literatur der Inhalt und die Bedeutung der richterlichen Hinweispflicht heftig diskutiert. Nach Auffassung einiger Prozessualisten ist die Einführung einer umfassenden richterlichen Hinweispflicht für die künftige Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts unbedingt erforderlich.923

D. Harmoniestreben in Geschichte und Gegenwart und sein Einfluss auf das chinesische Zivilprozessrecht Einer der grundlegenden Charakterzüge der chinesischen traditionellen Kultur und Philosophie besteht darin, die Harmonie zwischen Natur und Mensch sowie zwischen den Menschen selbst als höchste Aufgabe der Gesellschaft anzustreben. Verhaltensweise und Weltanschauung der Chinesen werden tiefgehend von diesem Gedanken geprägt. Dementsprechend hat er auch die Gesetzgebung und Justiz im alten China erheblich beeinflusst.924 Grundsätzlich ist anzuerkennen, dass die Harmonie der Gesellschaft ein anzustrebendes Ziel der Rechtsordnung ist. Allerdings ist die Vorstellung von Harmonie im traditionellen chinesischen Rechtssystem in vielerlei Hinsicht problematisch. Dies zeigt sich besonders deutlich im Zivilprozessrecht: Erstens waren die tonangebenden Kräfte in der Geschichte der Ansicht, dass der Zivilprozess die Harmonie der Gesellschaft schädigt, nicht fördert.925 Zivilrechtliche Streitigkeiten waren ihrer Ansicht nach möglichst auf anderen Wegen, beispielsweise durch eine außergerichtliche Schlichtung, nicht aber im Rahmen eines Zivilprozesses beizulegen. Insofern überrascht es nicht, dass das traditionelle chinesische Recht dem Zivilprozess und einer befriedigenden, gerechten Lösung des Streites durch einen solchen Prozess wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Zweitens findet sich im traditionellen Rechtsdenken Chinas kaum die Spur eines Rechtskraftgedankens. Derselbe Rechtsstreit konnte mehrfach vor Gericht gebracht werden, wenn eine oder beide Parteien mit dem vorherigen Prozessergebnis unzufrieden waren.926 Die Chinesen hatten vor der Modernisierung des Rechtssystems gegen Ende der Qing-Dynastie kein Bewusstsein dafür, dass die Einmaligkeit des zu gewährenden Gerichtsschutzes und die Autorität sowie 923 Vgl. Wang, Song, Journal of Law Application 2007, Nr. 10, S. 43 ff.; Zuo, Mu, People’s Judicature 2006, Nr. 11, S. 56 ff.; Zhang, Weiping, Peking University Law Journal 2006, Nr. 2, S.  129 ff.; Du, Dan, Contemporary Law Review 2006, Vol. 20, Nr. 6, S. 111 ff.; Xiong, Yuemin, China Legal Science 2010, Nr. 5, S. 133 ff.; Tang, Lei/Zhu, Chuansheng, Social Science Research 2006, Nr. 5, S. 90 ff.; Han, Hongjun, Science of Law 2006, Nr. 5, S. 77 ff. 924 Liang, Zhiping, A Study of the Legal Tradition of China from a Cultural Perspective; Ren, Zhian, Political Science and Law 2001, Nr. 1, S. 19 f.; Wu, Shuchen, Science of Law 1994, Nr. 2, S. 59 ff.; Wang, Hanqing, Law Review 1994, Nr. 1, S. 81 f. 925 Liang, Zhiping, A Study of the Legal Tradition of China from a Cultural Perspective, S. 174 ff.; Wu, Shuchen, Jurists Review 2007, Nr. 5, S. 5; Ren, Zhian, Political Science and Law 2001, Nr. 1, S. 19 ff.; Wang, Hanqing, Law Review 1994, Nr. 1, S. 82. 926 Shiga, Journal of Comparative Law 1988, Nr. 3, S. 25; Bu, FS Leipold, S. 548.

Kap. 15: Lage der Nation und Anspruch auf ein chinesisches Zivilprozessrecht

277

die Endgültigkeit der Entscheidung für die Harmonie einer Gesellschaft unbedingt notwendig sind. Obwohl bis heute der gesellschaftlichen Harmonie besondere Bedeutung beigemessen wird, haben die Vorstellungen von einer solchen Harmonie und ihrer Durchsetzung in der Rechtsordnung doch eine gewisse Veränderung erlebt. Einerseits wird nunmehr überwiegend die Ansicht vertreten, dass die Konfliktlösung durch den Zivilprozess dem Harmoniestreben nicht entgegensteht. Die Rechtsordnung dient nicht mehr dazu, den Anspruch der Individuen auf Wahrung und Durchsetzung ihrer privatrechtlichen Interessen zu unterdrücken, sondern vielmehr ihrem effektiven Rechtsschutz und der vernünftigen Lösung des Rechtsstreites. Erst wenn die Interessenkonflikte zwischen den Bürgern gerecht gelöst sind, kann Harmonie in der Gesellschaft verwirklicht werden. Anderseits haben manche chinesischen Juristen bemerkt, dass ein friedliches und harmonisches Zusammenleben nicht erreicht werden kann, wenn die Rechtskraft einer Entscheidung nicht konsequent gewährleistet wird.927 Gerade weil die Rechtskraft eine wiederholte Inanspruchnahme der Gerichte zur Entscheidung desselben Streits verhindert, dient sie der Harmonie in der Gesellschaft und dadurch auch den Interessen der Parteien.928 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass in der heutigen chinesischen Gesellschaft die Vorstellung, Harmonie in der Gesellschaft und Schutz der Interessen der Individuen seien eng miteinander verbunden, stark an Boden gewonnen hat: Echte Harmonie in der Gesellschaft verlangt effektiven Rechtsschutz; wirklicher Rechtsschutz benötigt also auch die Harmonie in der Gesellschaft.

E. Zusammenfassende Bemerkungen I. Sozialer Wandel und Änderung der Rezeptionsmotivation Obwohl die chinesischen Eliten in den vergangenen hundert Jahren immer wieder unsicher waren, ob eine grundlegende Rezeption westlicher Rechtsgedanken und Rechtssysteme unbedingt notwendig sei, muss heute klar gesehen werden, dass das Verfahren der Rechtsmodernisierung seit Ende der Qing-Dynastie im Grunde genommen eine Annäherung und Übernahme westlicher Rechtsvorstellungen bedeutet. Bemerkenswert ist allerdings, dass das Motiv für die Rechtsrezeption in diesem Zeitraum eine erhebliche Änderung erlebt hat.929 Die Rechtsreform 927 Chen,

Guiming/Li, Shichun, Tribune of Political Science and Law 1999, Nr. 5, S. 80 f., 86 f.; Ye, Ziqiang, Chinese Journal of Law 1995, Nr. 5, S. 27 ff.; Ke, Yangyou, Journal of Law Application 2006, Nr. 7, S. 11 ff.; Qi, Shujie, Jurists Review 2007, Nr. 6, S. 22 ff. 928 Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 322, Rn. 27 ff.; MünchKomm/Gottwald, 3. Aufl., § 322, Rn.  2 ff. 929 Zu den Motiven der Rechtsrezeption vgl. Rebinder, in: Zur Rezeption des deutschen Rechts in Korea, S. 6 ff.; Stürner, in: Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, S. 12 ff.

278

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

gegen Ende der Qing-Dynastie war vor allem auf die Erfahrung der Demütigung durch die ausländischen Mächte zurückzuführen, die sich in der Exterritorialität, der Konsulargerichtsbarkeit und in übervorteilenden Verträgen äußerte. Die ausländischen Mächte und die chinesische Regierung stimmten darin überein, dass diese Demütigung durch die Überwindung der Rückständigkeit des traditionellen Rechts beseitigt werden könnte.930 Dementsprechend wurde eine Rechtsreform durch die Rezeption westlicher Rechte eingeleitet. Die in der Republikperiode – insbesondere in der Nanjing-Dekade – fortgesetzte Rechtsrezeption versuchte zwei Aufgaben parallel zu erfüllen: Einerseits stand sie weiterhin vornehmlich im Zeichen der Abschaffung der Exterritorialität und der Bemühung um internationale Anerkennung;931 andererseits sollte und vermochte sie eine umfassende und feste rechtliche Grundlage für eine zumindest teilweise gewandelte Gesellschaft zu schaffen.932 Erst nach der Begründung der Volksrepublik wurde die Problematik der Demütigung befriedigend gelöst, indem alle übervorteilenden Verträge als abgeschafft erklärt wurden. Gleichzeitig legte die kommunistische Führung aber für die weitere Entwicklung ein ganz anderes Ideal des Staates zu Grunde und drängte so die vorherigen Neuerungen zurück. Erst seit der Begründung der Reform- und Öffnungspolitik sind sich die Juristen darin einig, dass die Rechtsrezeption für den Aufbau eines modernen chinesischen Rechtssystems unverzichtbar ist. So hat es in den vergangenen 30 Jahren auf allen Rechtsgebieten Reformen gegeben, die im Wesentlichen das westliche Recht herangezogen haben. Allerdings hat sich der Hintergrund der Rechtsrezeption erheblich verändert. Die Rezeption dient vor allem – wie in der Präambel der Verfassung der VRC festgehalten – dazu, China zu einem starken und wohlhabenden Land mit einer hochentwickelten Zivilisation und einer hochentwickelten Demokratie zu machen. Daher ist die Rezeption heute nicht mehr ein Verfahren, das unter dem Druck der ausländischen Mächte und ohne ausreichende Vorbereitungen durchgeführt wird. Vielmehr haben die Chinesen in ihrer Geschichte erstmals die Möglichkeit, mit Hilfe der Rechtsvergleichung und unter Berücksichtigung der Lage der Nation ein geeignetes Rechtssystem aufzubauen und Recht aus anderen Rechtskreisen ruhig und kontrolliert zu rezipieren.933

930 Li,

Guilian, Peking University Law Journal 1990, Nr. 4, S. 46 ff.; Wu, Zeyong, Journal of Comparative Law 2003, Nr. 3, S. 77 f. 931 Heuser, ZchinR 2009, S. 123. 932 Heuser, ZchinR 2009, S. 129 ff. 933 Grundsätzlich kann angenommen werden, dass sich die Motivation der Rechtsrezeption in China in den vergangenen hundert Jahren vom äußeren Druck zum inneren Bedürfnis, von diplomatischer und politischer zu gesellschaftlicher und rechtlicher Grundlegung gewandelt hat. Vgl. Jiang, Lishang, Legal Science Monthly 2003, Nr. 2, S. 15 ff.; ders., Peking University Law Journal 1998, Nr. 3, S. 16 ff.

Kap. 15: Lage der Nation und Anspruch auf ein chinesisches Zivilprozessrecht

279

II. Gegenwärtige Geistesströmungen in China und ihre Ansprüche an das Zivilprozessrecht „Politisch bezeichnet sich China offiziell immer noch als ein sozialistisches Land, obgleich die Grundgedanken des Sozialismus in der Gesellschaft kaum noch verankert sind.“934 Insbesondere nach der Festlegung der Aufgaben des Staates in der Verfassung, die sozialistische Marktwirtschaft und die sozialistische Demokratie zu entwickeln und den sozialistischen Rechtsstaat aufzubauen, hat China eine kurze, aber tiefgreifende politische, wirtschaftliche und soziale Veränderung erlebt. In gewissem Sinne sieht sich das Land einem umfassenden sozialen Wandel ausgesetzt. Dies zeigt sich besonders deutlich in den veränderten Zeit- und Geistesströmungen im heutigen China. Einerseits breitet sich der Gedanke eines Anspruchs auf rechtliche Anerkennung und effektiven Schutz der Würde, Freiheit, Gleichheit und anderer Bürgerrechte immer weiter aus; andererseits stimmen die Chinesen heute zunehmend darin überein, dass die Bewahrung der Stabilität und Harmonie der Gesellschaft von grundlegender Bedeutung für das Wohlergehen der Bürger ist. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich diese Vorstellungen nicht wesentlich von Wünschen der Bürger der westlichen Länder in der Neuzeit unterscheiden. Im Prozess der Modernisierung nähert sich die chinesische Gesellschaft in vielen Aspekten der westlichen Gesellschaft an. Auch im Zivilprozessrecht nehmen die Ähnlichkeiten zwischen dem chinesischen und dem westlichen Recht allmählich zu. Ein mit den entwickelten Ländern vergleichbares Prozessrechtssystem wurde geschaffen. Neben der Rezeption der fremden Normen wird auch weiteres ausländisches Gedankengut allmählich in die chinesische Prozessrechtsordnung eingeführt und von den Juristen übernommen.935 Heutzutage ist in China weitgehend anerkannt, dass das Ziel des Zivilprozesses der Schutz der legalen Rechte der Parteien und die Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung ist. Offensichtlich nähert sich diese Konzeption den Vorstellungen von der allgemein anerkannten Aufgabe des Zivilprozesses in Deutschland an, die vor allem im Individualrechtsschutz und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens gesehen wird. Diese Zielsetzung des chinesischen Zivilprozessrechts bedingt die Entwicklungstendenz des chinesischen Prozessrechtssystems und der chinesischen Prozessualistik; sie bedingt auch, dass die rechtsvergleichende Forschung und die Rechtsrezeption im Bereich des Zivilprozessrechts weiterhin eine bestimmende Rolle für den Aufbau des chinesischen Prozessrechtssystems spielen werden.936

934 Bu,

Einführung in das Recht Chinas, S. 6. eine allgemeine Darstellung der Integration des fremden Rechtsgedankenguts vgl. Heuser, ZChinR 2009, S. 261; Bu, Einführung in das Recht Chinas, S. 6. Zur Rezeption der prozessrechtlichen Ideen des westlichen Rechts vgl. Zhang, Weiping, Grundbegriffe im Zivilprozessrecht, S. 3 ff., 39 ff. 936 Jiang, Wei/Fu, Yulin, China Legal Science 1999, Nr. 6, S. 22 f. 935 Für

280

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

Kapitel 16

Möglichkeit und Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre A. Möglichkeit und Notwendigkeit als Vorfragen der Rechtsrezeption Grundsätzlich kann man Rechtsrezeption in zwei Arten aufteilen, nämlich die erzwungene und die initiative Rezeption. Wie oben dargelegt, hat die Motivation für die Rechtsrezeption in China in den vergangenen hundert Jahren einen Wandel durchlaufen.937 Die Rezeption wird nicht mehr unter dem Druck der ausländischen Großmächte erzwungen. Vielmehr gelten rechtsvergleichende Untersuchungen und Rezeption fremden Rechts heutzutage als Instrumente der chinesischen Juristen, nach den Wünschen der Chinesen und dem Bedarf der Nation das eigene Rechtssystem anhaltend zu verbessern und zu vervollständigen. Dabei gilt es, eine blinde Rezeption zu vermeiden.938 Vielmehr soll vor der Einführung eines Rechtsinstituts oder einer Lehre immer nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Rezeption gefragt werden. Unter der Möglichkeit einer Rezeption diskutiert man die Frage, ob eine Rezeption zügig und erfolgreich durchgeführt werden kann. Die Rechtsrezeption ähnelt in vieler Hinsicht dem Umsetzen einer Pflanze: Fehlt es an „geeignetem Erdreich“, scheitert zwangsläufig der Versuch der Rezeption. Zum „geeigneten Erdreich“ zählt vor allem die Ähnlichkeit zwischen dem vorhandenen und dem einzuführenden Recht – je ähnlicher sie sind, desto bessere Erfolgschancen hat die Rezeption. Zudem hängen die Rezeption und ihr Erfolg von der einer Rezeption zugrunde liegenden staatlichen und gesellschaftlichen Willensbildung ab. Ein starker Wunsch nach einer Verbesserung des eigenen Rechts führt normalerweise zu entsprechenden Maßnahmen, die die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der Rezeption erheblich erhöhen können. Unter der Notwendigkeit der Rezeption ist die Frage zu erörtern, ob das geltende Recht in bestimmten Punkten Schwächen aufweist und ob diese Schwächen mit Hilfe der Rezeption bestimmter fremder Lehren oder Institutionen behoben werden können. Die Notwendigkeit der Rezeption bedarf der Auseinandersetzung mit den folgenden drei Punkten: das Reformbedürfnis des geltenden Rechts, der Bedarf der Gesellschaft an einer Reform und das Motiv der Reform sowie die Chance zur Befriedigung des Reformbedarfs durch die Einführung einer frem 937 Vgl.

oben Kapitel 15 E. I. den vergangenen Jahren wurden Lehren und Rechtsinstitute des westlichen Rechts bisweilen blind angebetet und ins chinesische Recht eingeführt, was selbstverständlich problematisch war. Im Zuge der Entwicklung der chinesischen Rechtswissenschaft wird dieses Phänomen heftig kritisiert. Vgl. beispielsweise Fang, Liufang, Journal of Comparative Law, 2006, Nr. 2, S. 38; Jiang, Wei/Cui, Yuntao, Chao Yang Law Review 2009, Nr. 2. 938 In

Kap. 16: Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre 

281

den Lehre oder fremder Institutionen. Hervorzuheben ist, dass die Rezeption der westlichen Rechtslehre oder -institutionen ins Recht der Länder der sogenannten Dritten Welt nicht zwingend notwendig ist. Vielmehr ist der Gesetzgeber dieser Staaten im Prinzip frei: Er kann an eigene Traditionen anknüpfen und auf ihnen aufbauend eigene Theorien und Institutionen entwickeln; ebenso kann er aber auch beim Aufbau des eigenes Rechtssystems Theorien und Institutionen anderer Länder heranziehen. Zudem ist die Rezeption von Theorien und Institutionen eines bestimmten Landes nichts Zwangsläufiges. Vielmehr sollte sich die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten am Reformbedarf des eigenen Rechts orientieren. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es in der Tat nur relative, keine absoluten Notwendigkeiten für Rezeptionen gibt. Die Erfahrungen und Ergebnisse des ausländischen Rechts dienen lediglich als Vorbild, um die Reform des eigenen Rechtssystems zügig und erfolgreich voranzutreiben und ein eigenes Modell zu entwickeln; sie sind auf keinen Fall einfach zu kopieren. Im vorangehenden Paragraphen wurden die Lage der Nation und ihre Erwartungen an ein chinesisches Zivilprozessrecht detailliert dargelegt. Im Folgenden geht es hauptsächlich um die Frage, ob die Rezeption einer Streitgegenstandslehre im chinesischen Zivilprozessrecht möglich und notwendig ist.

B. Möglichkeit der Rezeption einer Streitgegenstandslehre China hat eine lange Geschichte des geschriebenen Rechts. Seit Anfang der Rechtsmodernisierung am Ende der Qing-Dynastie orientierte sich das chine­ sische Recht vornehmlich am kontinental-europäischen Recht. Mit anderen Worten ist das chinesische Recht in der Gegenwart seiner Tradition der Kodifikation gefolgt. Heute entsteht in China ein mit den kontinental-europäischen Ländern vergleichbares kodifiziertes Rechtssystem: Das Zivilrecht wird von den in bestimmter Weise geordneten materiellrechtlichen Normen gebildet; das Prozessrecht gewährt gesetzlich geordnete Verfahren und dient dem effektiven Rechtsschutz der Bürger. Im Prozess der Modernisierung des chinesischen Zivilprozessrechts wird besonders das deutsche Recht herangezogen. Zahlreiche Prozessrechtsideen, -normen und -institutionen aus Deutschland wurden in den vergangenen hundert Jahren unmittelbar oder über Japan den chinesischen Juristen nahegebracht, ins chinesische Zivilprozessrecht eingeführt und verinnerlicht. Wie oben dargelegt, hat sich auch das Verständnis von Ziel und Aufgabe des Zivilprozessrechts in China in den vergangenen Jahren immer mehr den Prozesszwecklehren des kontinental-europäischen Rechtskreises angenähert. Die Ähnlichkeit des Aufbaus, der Rechtskonzeption, der Rechtsbegriffe, der Rechtsinstitute, der Rechtsidee und der Theorie des Zivilprozessrechts zwischen China und den europäischen Ländern, hier insbesondere Deutschland, macht deutlich, dass die Einführung der deutschen Streitgegenstandslehre ins chinesische Zivilprozessrecht in hohem Maße praktikabel erscheint.

282

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

Hervorzuheben ist allerdings auch, dass trotz der raschen und bemerkenswerten Entwicklung in den vergangenen Jahren das chinesische Zivilprozessrecht die Ansprüche der Gesellschaft bis heute noch nicht ausreichend zu befriedigen vermag.939 So ist der Bedarf an einer Reform des Prozessrechtssystems und an einer entwickelten Prozessualistik heute dringlicher denn je. Der rechtsvergleichenden Forschung und der Übernahme fremder Rechtsideen und -figuren wird deshalb heute viel Gewicht beigemessen. Die chinesischen Prozessualisten sind immer bereit, Lehren und Institutionen aus dem Ausland selektiv aufzunehmen und zu integrieren.940 Daher ist es plausibel, dass die Einführung einer Streitgegenstandslehre eine wichtige Rolle bei der Reform und dem weiteren Aufbau des chinesischen Zivilprozessrechts spielen wird, wenn diese Lehre im Vergleich mit den anderen möglichen Lösungen deutliche Vorteile bietet.

C. Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre Streitgegenstandsbegriff und Streitgegenstandslehre sind den chinesischen Juristen seit Langem nicht mehr fremd.941 In gewissem Sinne darf man behaupten, dass das chinesische Prozessrecht die Streitgegenstandsvorstellung des germanischen Rechtskreises teilweise schon übernommen hat. Problematisch ist aber, dass einerseits die ausländische Streitgegenstandslehre bis heute niemals detailliert und umfassend den chinesischen Juristen vorgestellt wurde und anderseits die chinesischen Prozessualisten und Rechtspraktiker das Streitgegenstandsproblem in der chinesischen Rechtspraxis selten eingehend und systematisch untersucht haben. Dies hat dazu geführt, dass das Verständnis des Streitgegenstands in China oberflächlich und die eigentlich übernommene Streitgegenstandslehre für die Prozessrechtslehre und Rechtspraxis stets irrelevant geblieben ist. Im Folgenden werden zuerst das Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblem im geltenden chinesischen Recht und danach die Schwäche der chinesischen Lösung und ihr Grund dargestellt.

939 Zhou,

Cui, ZZP Int. 2007, S. 325 ff.; Tian, Pingan, ZZP Int. 2001, S. 317 ff. Wei, China Legal Science 1997, Nr. 5, S. 16 f.; Jiang, Wei/Fu, Yulin, China Legal Science 1999, Nr. 6, S. 22 f.; Han, Xiangqian/Qiao, Xin, Tribune of Political Science and Law 1999, Nr. 6, S. 99 f. 941 Duan, Housheng, Untersuchung zum materiellrechtlichen Anspruch, S. 74 ff. 940 Jiang,

Kap. 16: Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre 

283

I. Das Anspruchskonkurrenzproblem und seine Lösung nach geltendem Recht 1. Gesetzliche Regelungen Wie oben dargelegt, hat das heutige chinesische Recht grundsätzlich die Rechtskonzeption des kontinental-europäischen Rechtskreises übernommen. Dementsprechend ist das chinesische Zivilrechtssystem ein System der materiellrecht­ lichen Ansprüche. Insofern ist es vorstellbar, dass die Konkurrenz von Ansprüchen ein keineswegs seltenes Phänomen in der Rechtspraxis ist.942 Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass Fälle der Anspruchskonkurrenz sich im Zuge der weiteren Entwicklung des chinesischen Zivilrechts vermehren werden. Eine allgemeine Regelung zur Behandlung des Problems der Anspruchskonkurrenz findet sich im Gesetz nicht. Es wird aber in Art. 122 Vertragsgesetz die Lösung zur in der Praxis häufig auftretenden Anspruchskonkurrenz zwischen Vertragsverletzung und Delikt vorgegeben: Wenn eine Vertragsverletzung einer der Parteien in die Rechte der anderen Seite auf Unversehrtheit von Leib und Leben oder in deren Vermögensrechte eingreift, ist der Geschädigte berechtigt, zu wählen, ob er nach diesem Gesetz Haftung wegen Vertragsverletzung verlangt oder nach anderen Gesetzen Haftung wegen Verletzung von Rechten.943 Nach dieser Vorschrift kann der Geschädigte selbst entscheiden, welche Anspruchsgrundlage er im Prozess geltend machen will; grundsätzlich ist das Volksgericht an diese Entscheidung gebunden. Das Recht zur Wahl der Anspruchsgrundlage bedeutet nach Ansicht des Gesetzgebers allerdings auch, dass der Geschädigte weder beide Anspruchsgrundlagen gleichzeitig in einem Prozess noch jeweils in zwei Prozessen geltend machen kann. 2. Die Anspruchskonkurrenz in der Literatur Darstellungen und Untersuchungen zum Problem der Anspruchskonkurrenz in der chinesischen Rechtsliteratur werden hauptsächlich von den Zivilrechtslehrern unternommen. Sie sind sich darin einig, der Lösung des Gesetzgebers zu folgen, und das heißt, die „alternative Konkurrenz der Anspruchsgrundlage“ zu befürwor-

942 Beispielsweise stehen im Fall der Körperverletzung die folgenden Anspruchsgrundlagen dem Bürger für Schadensersatzbegehren zur Verfügung: Art. 16 und 20 Deliktgesetz; Art. 119 Allgemeine Grundsätze des Zivilrechts; Art. 41, 42, 43, 44 Produktqualitätsgesetz; Art. 11, 35, 41, 42 Verbraucherschutzgesetz; Art. 41, 43 Umweltschutzgesetz. 943 Vgl. auch Art. 30 Satz 1 der Erläuterungen des OVG zum Vertragsgesetz I: Wenn der Gläubiger Klage vor dem Volksgericht erhoben und nach § 122 eine Wahl getroffen hat, aber vor Behandlung des Falls vor der Kammer der ersten Instanz seine Klageforderung wieder ändert, muss dies vom Volksgericht gestattet werden.

284

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

ten.944 Bisweilen wird diese überwiegend angenommene Theorie der alternativen Konkurrenz von einigen Gelehrten, besonders den Prozessualisten, kritisch bewertet.945 Obwohl dies zu Recht die Schwäche der herrschenden Ansicht zur Anspruchskonkurrenz aufgezeigt hat, haben die Kritiker keine dogmatisch saubere Lösung entwickelt, weshalb ihre Ansicht bis heute in der Minderheit blieb. 3. Die Lösung des Anspruchskonkurrenzproblems in der Rechtsprechung Vor dem Inkrafttreten des Vertragsgesetzes wurde es in der Rechtsprechung vermieden, eine Antwort auf das Anspruchskonkurrenzproblem zu geben. Der Richter wählte nach Belieben eine Anspruchsgrundlage für die Partei aus oder gestattete es dieser, nur eine Anspruchsgrundlage oder auch mehrere Anspruchsgrundlagen parallel geltend zu machen.946 Nach dem Inkrafttreten des Vertragsgesetzes im Jahr 1999 hat die Rechtsprechung sich grundsätzlich – dem Verständnis des Gesetz­ gebers entsprechend – der Theorie der alternativen Konkurrenz angeschlossen. Zur Ermittlung der Streitgegenstandsauffassung des OVG sind die von ihm 2011 bekanntgemachten Erläuterungen der Bestimmungen über Klagegründe in Zivilsachen erwähnenswert. In dieser Auslegung durch die Justiz wird ein vierstufiges System der Klagegründe aufgebaut, in dem insgesamt 424 Klagegründe für den Zivilrechtsstreit vorgegeben werden. Nach Art. 2 Abs. 1 der Bekanntmachung ist der Klagegrund grund­sätzlich nach dem von den Parteien behaupteten Rechtsverhältnis in zivilrechtlichem Sinne festzulegen; nach Art. 3 Abs. 3 der Bekanntmachung sind mehrere Klagegründe parallel festzulegen, wenn es im Rechtsstreit mehrere Rechtsverhältnisse im zivilrechtlichen Sinne gibt; nach Art. 3 Abs. 4 der Bekanntmachung soll das Volksgericht im Fall der Anspruchskonkurrenz nach dem vom Kläger gewählten und geltend gemachten materiellrechtlichen Anspruch den Klagegrund des Verfahrens festlegen. Die oben dargelegten Vorschriften zeigen deutlich, dass das OVG die originäre materiellrechtliche Streitgegenstands­ auffassung vertritt. Bemerkenswert ist, dass es in der Rechtsprechung jüngst zahlreiche Ansätze gibt, die die strenge Einhaltung der herrschenden Theorie verweigern. Beispielsweise gestattet es der Richter einer Partei, ihren einzigen Anspruch auf mehrere mögliche Anspruchsgrundlagen zu gründen, oder man nimmt eine richterliche

944 Wang, Liming, Untersuchung zum Deliktrecht, Bd. I, S. 650 f., 663; Zou, Hailin, Studies in Law and Business 2000, Nr. 1, S. 62 f.; Wang, Shihu, Modern Law Science 2000, Vol. 24, Nr. 4, S. 115. 945 Yan, Renqun, Science of Law 2010, Nr. 3, S. 31 f.; Zhou, Qinglin, Modern Law Science 2003, Vol. 25, Nr. 1, S. 46 f.; Jiang, Wei/Duan, Housheng, Jurists Review 2003, Nr. 4, S. 81; Duan, Wenbo, Modern Law Science 2010, Vol. 32, Nr. 5, S. 162 f. 946 Wang, Liming, Untersuchung zum Deliktrecht, Bd. I, S. 662; Duan, Housheng, Unter­ suchung zum materiellrechtlichen Anspruch, S. 275.

Kap. 16: Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre 

285

Pflicht an, eine angemessene Anspruchsgrundlage zu suchen. Dies bedeutet, dass die Partei vom Zwang befreit wird, vor der Klageerhebung die Anspruchsgrundlage zu wählen.947 II. Die Streitgegenstandsproblematik und ihre Lösung nach geltendem Recht 1. Gesetzliche Regelungen Der Begriff des Streitgegenstands wird in Art. 53, 55 und 56 ZPG verwendet. Allerdings lässt sich durch solche Vorschriften das Verständnis des Gesetzgebers zum Streitgegenstand nicht ermitteln. Vielmehr offenbart er seine Ansicht – in mittelbarer Weise – in Art. 108 Abs. 3 ZPG. Gemäß dieser Vorschrift sind bei der Klageerhebung ein konkretes Klageverlangen sowie konkrete Tatsachen und Gründe vom Kläger vorzubringen. Da die „Tatsachen“ und „Gründe“ parallel als Bedingungen der Klageerhebung vorgeschrieben sind, geht man zwingend davon aus, dass die „Gründe“ hier die rechtlichen Gründe, und zwar die materiellrechtlichen Normen, bedeuten.948 Dies ist typischer Ausdruck der ursprünglichen materiellrechtlichen Streitgegenstandsauffassung. Die vier Rechtsinstitute, in denen die Streitgegenstandslehre eine wichtige Rolle spielt, sind im chinesischen ZPG nur undeutlich und unsystematisch ge­regelt.949 Obwohl kontinental-europäische prozessrechtliche Konzeptionen rezipiert werden, fehlt es im geltenden chinesischen Prozessrecht an Begriffen wie Klageänderung, Klagenhäufung, Rechtshängigkeit und Rechtskraft. Dement­sprechend werden die Inhalte und Wirkungen dieser Rechtsinstitute unvollständig geregelt oder gar nicht berücksichtigt. Angesichts der knappen Vorschriften lässt sich kaum beurteilen, welcher Streitgegenstandstheorie der Gesetzgeber folgt. Vielmehr kann behauptet werden, dass der chinesische Gesetzgeber weder ein klares Konzept des Streitgegenstandes hat noch den inneren Zusammenhang zwischen dem Streit­ gegenstand und seinen vier Bewährungspunkten deutlich erkennt.

947 Yan, Renqun, Science of Law 2010, Nr. 3, S. 36 f.; Duan, Housheng, Untersuchung zum materiellrechtlichen Anspruch, S. 280 ff.; Jiang, Wei/Duan, Housheng, Jurists Review 2003, Nr. 4, S. 80. 948 Duan, Housheng, Untersuchung zum materiellrechtlichen Anspruch, S. 78. 949 Zur Klageänderung vgl. Art. 52 ZPG, Art. 34 Abs. 3 und Art. 35 Abs. 1 der Bestimmungen des OVG über den Beweis im Zivilprozess; zur objektiven Klagenhäufung vgl. Art. 126 ZPG und Art. 156 der Ansichten des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Zivilprozessgesetzes; zur Rechtshängigkeit vgl. Art. 33 der Ansichten des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Zivilprozessgesetzes; zur materiellen Rechtskraft vgl. Art. 141, 158 ZPG und Art. 75 Abs. 4 der Ansichten des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Zivilprozessgesetzes.

286

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

2. Ansichten zum Streitgegenstand in der Literatur Seit Langem werden Streitgegenstandsbegriffe und Streitgegenstandstheorien von den chinesischen Prozessualisten vorgestellt und offensiv vertreten.950 Es wird in der Literatur stets betont, dass die Streitgegenstandslehre eine grundlegende Theorie des Prozessrechts und sowohl für die Prozessualistik als auch für die Rechtspraxis unverzichtbar ist. Allerdings weist die heutige chinesische Literatur im Hinblick auf die Streitgegenstandstheorie Schwächen auf. Erstens konzentrieren sich die Prozessualisten darauf, die ausländischen Theorien vorzustellen, während sie der Streitgegenstandsproblematik der chinesischen Rechtspraxis nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Die Behauptung, die Streitgegenstandslehre sei relevant, gründet sich auf das Ergebnis der Untersuchung der ausländischen Prozessrechte, nicht auf die Notwendigkeit einer leistungsfähigen Streitgegenstandslehre für das eigene Prozessrecht. Zweitens ist die Vorstellung von ausländischen Theorien, die für eine Theorienrezeption grundlegend ist, unvollständig, manchmal sogar falsch. Drittens besteht unter den Prozessualisten hinsichtlich der Frage, welcher Lehre zu folgen sei, große Uneinigkeit. Beispielsweise finden heute fast alle Varianten einer Streitgegenstandslehre ihre Vertreter in China.951 Dies führt dazu, dass die Prozessrechtslehre, die Rechtsfrieden, Rechtsklarheit und Rechtssicherheit stiften soll, tatsächlich eher das Durcheinander in der Rechtspraxis erhöht. Grundsätzlich lässt sich zwar sagen, dass die zweigliedrige prozessuale Streitgegenstandslehre mehr Befürworter hat; sie kann aber auf keinen Fall als herrschende Lehre angesehen werden.952 Angesichts der lückenhaften Regelungen zu den vier Bewährungspunkten einer Streitgegenstandslehre im Gesetz werden in der Literatur zahlreiche Vorschläge zur Reform des Prozessrechts und zur Rechtsanwendung gemacht.953 Allerdings 950 Beispielsweise

Chang, Yi (Hrsg.), Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 1982, S. 125; Chai, Fabang (Hrsg.), Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 1983, S. 184. 951 Die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie befürwortend Li, Long, Legal Science Monthly 1999, Nr. 7, S. 29 f.; die neue materiellrechtliche Theorie befürwortend Li, Long, Legal Science Monthly 1999, Nr. 7, S. 31; die prozessuale Theorie befürwortend Jiang, Wei/Xu, Jijun, Journal of Law Application 2003, Nr. 5, S. 6 ff.; die zweigliedrige Theorie befürwortend Bi, Yuqian, Chinese Journal of Law 2006, Nr. 2, S. 24; Zhang, Xiaohong, Journal of Zhejiang University(Humanities and Social Sciences) 2004, Vol. 34, Nr. 6, S. 99; Jiang, Wei/Duan, Housheng, Jurists Review 2003, Nr. 4, S. 82; Jiang, Wei (Hrsg.), Untersuchungen zum chinesischen Zivilprozessrecht, 1998, S. 84 ff.; Duan, Housheng, Untersuchung zum Streitgegenstand im Zivilprozess, S. 125 f.; die variable Theorie befürwortend Zhang, Weiping, Chinese Journal of Law 1997, Vol. 19, Nr. 4, S. 65. 952 Den Voraussetzungen für eine effektive Anwendung der prozessualen Streitgegenstandstheorie wird wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zur dialogischen Struktur des Verfahrens vgl. etwa Jiang, Wei/Xu, Jijun, Journal of Law Application 2003, Nr. 5, S. 7 f.; zum Rechtsgrundsatz iura novit curia vgl. etwa Duan, Wenbo, Modern Law Science 2010, Vol. 32, Nr. 5, S. 163. 953 Zur Klageänderung vgl. Bi, Yuqian, Chinese Journal of Law 2006, Nr. 2 S. 17 ff.; Yang, Shuxiang, Heibei Law Science 2003, Vol. 21, Nr. 4, S. 134 ff. Zur Klagenhäufung vgl. Li, Long, Modern Law Science 2005, Vol. 27, Nr. 2, S. 78 ff.; Zhang, Jinhong, Law Review 2007, Nr. 4,

Kap. 16: Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre 

287

werden die meisten Vorschläge vom Gesetzgeber und von den Richtern abgelehnt. Dies lässt sich hauptsächlich auf zwei Gründe zurückführen. Erstens fehlt es in China an einer herrschenden Lehre zum Streitgegenstand. Die Gelehrten begründen ihre Vorschläge mit ihren jeweiligen Streitgegenstandsauffassungen. Daher ist es vorstellbar, dass es zwischen solchen Vorschlägen erhebliche Unstimmigkeiten gibt, was ihre Akzeptanz beeinträchtigt. Zweitens wird der Zusammenhang zwischen den vier Bewährungspunkten und einer stimmigen Streitgegenstandstheorie bis heute in der Literatur nicht ausreichend beachtet. Die Vorschläge beziehen sich jeweils auf ein einzelnes Prozessrechtsinstitut; eine systematische Lösung für die Probleme aller vier zusammenhängenden Institute können sie nicht anbieten. 3. Lösung der Streitgegenstandsproblematik in der Rechtsprechung Wegen der lückenhaften gesetzlichen Regelungen und der unterentwickelten Prozessrechtslehre unterscheidet sich das Verständnis des Streitgegenstandes, das die einzelnen Volksrichter haben, stark voneinander: Manche sehen die Streit­ gegenstandslehre als unnötig an und können nicht erkennen, dass es überhaupt ein Streitgegenstandsproblem gibt; manche befürworten die materiellrechtliche Theorie, andere die prozessuale Theorie,954 während manche wiederum ihre Ansicht von Fall zu Fall ändern.955 Das grundlegende Gerechtigkeitspostulat, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln, wird in der chinesischen Rechtsprechung bei der Lösung des Streit­ gegenstandsproblems nicht in ausreichendem Maße umgesetzt. Grundsätzlich kann jedoch davon ausgegangen werden, dass in der Rechtsprechung weitgehend die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie vertreten wird. Ihr zufolge ist Gegenstand des Verfahrens das Rechtsverhältnis zwischen den Parteien im materiellrechtlichen Sinne. Diese Ansicht führt zu dem oben mehrfach angeführten Dilemma: Lehnt der Richter nach der Abweisung der ersten Klage die Erhebung der zweiten Klage ab, wird die materielle Gerechtigkeit verletzt, wenn S.  94 ff.; Li, Shichun, Studies in Law and Business 2005, Nr. 1, S. 83 ff. Zur Rechtshängigkeit vgl. Liu, Xuezai, Law Review 2002, Nr. 6, S. 91 ff.; Bi, Yuqian, Journal of the East China University of Politics and Law 2006, Nr. 4, S. 67 ff. Zur materiellen Rechtskraft vgl. Chen, ­Guiming/Li, Shichun, Tribune of Political Science and Law 1999, Nr. 5, S. 86 f.; Weng, Xiaobin/Song, Xiaohai, Nanjing University Law Review 2002, Nr. 3, S. 158 ff.; Jiang, Wei/Xiao, Jianguo, Chinese Journal of Law 1996, Vol. 18, Nr. 4, S. 37 ff.; Qi, Shujie, Jurists Review 2007, Nr. 6, S. 22 ff. 954 Bemerkenswert ist, dass viele Richter, die die prozessuale Theorie befürworten, die Voraussetzungen für ihre Anwendung nicht kennen. Sie lehnen die zweite Klage in den Fällen ab, in denen der prozessuale Anspruch des Klägers in der zweiten Klage unverändert bleibt, ohne der Pflicht zur Prüfung aller möglichen rechtlichen Gesichtspunkte und der richterlichen Hinweispflicht in der ersten Klage nachzukommen. Dadurch wird ein effektiver Rechtsschutz für den Kläger nicht gewährleistet, selbst wenn er in der Tat Recht hat. 955 Zhang, Weiping, Grundbegriffe im Zivilprozessrecht, S. 197.

288

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

der Kläger tatsächlich ein subjektives Recht besitzt; lässt das Gericht die zweite Klage zu, wird das Ergebnis des ersten Prozesses konterkariert, was dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit Schaden zufügt. Die Frage, ob die zweite Klage zulässig ist, wird in der Praxis uneinheitlich beantwortet. Da es an klaren rechtlichen Regelungen und dogmatisch sauberen Vorschlägen zur Anwendung der Rechtskraftlehre auf die vier Prozessrechtsinstitute fehlt, ist nachvollziehbar, wenn es in der Praxis in vielerlei Hinsicht Meinungsunterschiede zu Voraussetzungen und zur Wirkung solcher Institute gibt. Die Klageänderung und Klagehäufung wird oft nach Belieben zugelassen oder verweigert; die Rechtshängigkeitssperrwirkung wird nicht hinreichend berücksichtigt; die Rechtskraft des Urteils wird insbesondere durch die Inanspruchnahme des Wiederaufnahmeverfahrens beeinträchtigt.956 III. Unzulänglichkeit der chinesischen Lösung 1. Schwäche bei der Lösung des Anspruchskonkurrenzund Streitgegenstandsproblems Angesichts der vorhergehenden Darstellung lässt sich kaum sagen, welche Streitgegenstandstheorie in China überwiegend vertreten wird; vielmehr gibt es zwischen dem Gesetzgeber, den Gelehrten und den Richtern große Unterschiede, was das Verständnis von Inhalt und Abgrenzung des Streitgegenstandes betrifft. Die Uneinigkeit innerhalb der Praxis, innerhalb der Prozessualistik und zwischen der Rechtspraxis und der Prozessrechtslehre haben die Rechtssicherheit, die Rechtsklarheit und die Berechenbarkeit der Entscheidungen erheblich beeinträchtigt. Die Schwäche der chinesischen Lösung beschränkt sich jedoch nicht auf diesen Punkt. Ein anderes Problem liegt darin, dass die Befugnisse des Volksrichters im Hinblick auf die Streitgegenstandsproblematik nicht ausreichend eingegrenzt sind: Einerseits führt die willkürliche Ausübung der richterlichen Macht häufig dazu, dass die Parteidisposition über den Streitgegenstand zurückgedrängt wird; andererseits kommt der Richter häufig seiner Verantwortung im Prozess nicht nach, etwa der Hinweispflicht gegenüber den Parteien und der materiellen Prozessleitung. Diese Probleme bewirken, dass sich die Ziele des chinesischen Zivilprozessrechts, vor allem die materiell sachgerechte Erledigung des Rechtsstreites, in vielen Fällen nicht verwirklichen lassen.

956 Zum Spannungsverhältnis zwischen der Rechtskraftwirkung und dem Wiederaufnahmeverfahren vgl. Bu, FS Leipold, S. 537 ff.; Qi, Shujie, Jurists Review 2007, Nr. 6, S. 18 ff.; Tan, Zhenbo, Hebei Law Science 2003, Vol. 21, Nr. 1, S. 156.

Kap. 16: Notwendigkeit einer Rezeption der Streitgegenstandslehre 

289

2. Ursache der Schwäche Die Ursachen dieser Probleme sind vielseitig. Erstens sind die gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die Lösung der Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblematik im chinesischen Prozessrecht unsystematisch und lücken­haft.957 Es fehlen im chinesischen ZPG einerseits deutliche Regelungen zur Parteifreiheit, richterlichen Mitverantwortung und Aufgabenaufteilung zwischen Parteien und Richter, andererseits Vorschriften zu den vier prozessrechtlichen Instituten, in denen die Streitgegenstandslehre von Relevanz ist. Die vorhandenen Vorschriften können eine befriedigende Lösung der Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblematik offensichtlich nicht bewirken, und sie erfüllen die Aufgaben des chinesischen Prozessrechts, den effektiven Rechtsschutz und das Wahrung des Rechtsfriedens, nur unzureichend. Zweitens ist die Justiz der Aufgabe, die Streitgegenstandsproblematik sachgemäß zu lösen, nicht gewachsen. Eine große Anzahl von Richtern hat nicht einmal eine klare Vorstellung von ihrer Pflicht und der Grenze ihrer Befugnisse. So ist die richterliche Willkür ein auffallendes Phänomen der heutigen chinesischen Justiz: Manchmal verhalten die Richter sich in unrichtiger Weise zu aktiv, manchmal zu passiv.958 Auf sie kann bei einer vernünftigen Lösung der Streitgegenstandsproblematik daher kaum gesetzt werden. Drittens hat die Prozessrechtswissenschaft ihre Aufgabe nicht zufriedenstellend gelöst. Die chinesische Prozessualistik soll durch die rechtsvergleichende Untersuchung der Lösungen der Streitgegenstandsproblematik in anderen Ländern und den kontinuierlichen Aufbau einer eigenen Lehre der Rechtspraxis helfen. Jedoch wurde bis heute keine Theorie entwickelt, die das Problem in vernünftiger Weise lösen könnte und für die Praktiker akzeptabel wäre. Zudem gibt es zu wenige solide Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen der Streitgegenstandslehre und ihren vier Bewährungspunkten. An der derzeit unbefriedigenden Rechtspraxis im Hinblick auf die Lösung der Streitgegenstandsproblematik ist daher insbesondere auch die chinesische Prozessualistik schuld. Viertens ist die Juristenausbildung im heutigen China relativ schwach. Es fehlt in China eine mit der deutschen Juristenausbildung vergleichbare Methode der Fallbearbeitung. Die künftigen Richter und Anwälte haben daher selten eine ausreichende Befähigung, den Rechtsstreit recht 957 Zhang,

Weiping, Grundbegriffe im Zivilprozessrecht, S. 198. ist, dass im Recht des alten China die umfangreiche Befugnis und die aktive Rolle des Richters betont wurden. Von der Begründung der Volksrepublik bis zur Ein­ führung der Reform- und Öffnungspolitik dauerte diese Tradition wegen der Rezeption des sowjetischen Rechts fort. Auch das heutige chinesische Prozessrecht wird von dieser Tradition tiefgreifend beeinflusst. Dabei ist sie nicht mit der Mitverantwortung des Richters für die gerechte Lösung des Rechtsstreites nach deutschem Prozessrecht vergleichbar. Erstens ist die aktive Rolle des Richters im chinesischen Zivilprozess eher ein Ausdruck der „super ex officio doctrine“ als eine Institution zur Unterstützung der Parteien zur Durchsetzung ihrer materiellrechtlichen und prozessualen Rechte. Zweitens wird die umfangreiche Befugnis des Richters im Gesetz nicht deutlich und ausführlich genug geregelt. So ist es vorstellbar, dass Richter ein uneinheitliches Verständnis von Inhalt und Grenzen ihrer Befugnis haben, was zu einer höchst uneinheitlichen Praxis führt. 958 Bemerkenswert

290

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

lich umfassend zu würdigen. Dies führt dazu, dass die materiellrechtliche, aber nicht die prozessuale Streitgegenstandstheorie von den meisten Richtern und Anwälten befürwortet wird.959

D. Zusammenfassende Bemerkungen Wie dargestellt, hat China seit seiner Modernisierung das kontinental-euro­ päische Recht rezipiert. Das Phänomen der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne ist in der Praxis unvermeidlich, und es ist abzusehen, dass es im Zuge der Weiterentwicklung des chinesischen Zivilrechtssystems in Zukunft noch häufiger auftreten wird. Obwohl die Theoretiker und Praktiker viele Bemühungen unternommen haben, wurde bis heute keine Lösung der Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblematik entwickelt, die der effektiven Verwirklichung der Ziele des Zivil- und Prozessrechts dienen könnte. Grundsätzlich muss man sagen, dass die Rezeption der ausländischen Streitgegenstandstheorie in der Vergangenheit in vielerlei Hinsicht lückenhaft war. Zum einen sind die Untersuchungen zu den verschiedenen ausländischen Lehren und der Vergleich zwischen ihnen in der Literatur häufig oberflächlich; zum anderen wird die grundlegende Bedeutung einiger prozessrechtlicher Grundsätze für die Streitgegenstandslehre bis heute nur unzureichend erkannt; und schließlich haben die chinesischen Juristen keine klare Kenntnis von dem Zusammenhang zwischen der Streitgegenstandslehre und ihren vier Bewährungspunkten. Diese Schwächen führen dazu, dass die Funktion der Streitgegenstandslehre im heutigen chinesischen Prozessrecht nicht wirklich zur Entfaltung kommt. Es bleibt den chinesischen Prozessualisten die Aufgabe, angesichts der Lage der Nation und ihres eigenen Bedarfs eine geeignete Lösung zu entwickeln. Zwar ist die Möglichkeit, eine eigene Streitgegenstandslehre selbständig zu entwickeln, nicht ausgeschlossen. Jedoch gibt es günstigere und praktischere Lösun­ gen, die darin bestehen, mit Hilfe rechtsvergleichender Untersuchungen sich die entwickelten Theorien des ausländischen Rechts beim Aufbau des eigenen Rechts zunutze zu machen. Angesichts der Entwicklung und des Inhalts der deutschen Streitgegenstandslehre dürfte ihre Vorbildfunktion für das chinesische Zivilprozessrecht kaum in Zweifel zu ziehen sein. Eine angemessene Rezeption der Streitgegenstandslehre kann in folgenden Punkten zur weiteren Entwicklung des chinesischen Prozessrechts beitragen: Erstens dient sie der Systematisierung des Prozessrechts und kann sie zu der Einsicht führen, dass das Prozessrecht eine Sinneinheit darstellt; zweitens hilft sie bei der vernünftigen Lösung der Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblematik in der prozessrechtlichen Praxis; drittens fördert sie die Entwicklung der Prozessrechtsdogmatik. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Notwendigkeit einer weiteren Rezeption der Streitgegenstandslehre gut begründen. 959 Li,

Long, Legal Science Monthly 1999, Nr. 7, S. 28 f.

Kap. 17: Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre 

291

Kapitel 17

Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre für das chinesische Prozessrecht Nachdem die Möglichkeit und Notwendigkeit, die Rezeption der Streitgegenstandslehre fortzusetzen und zu vertiefen, für das chinesische Prozessrecht auf­ gezeigt worden ist, werden im Folgenden einige konkrete Vorschläge zu einer Theorienrezeption und einer Rechtsreform gemacht. Ausgangspunkt ist dabei stets die Ausgangslage in China und der Bedarf für die weitere Entwicklung des chine­ sischen Prozessrechts.

A. Vorschläge zur Definition und Abgrenzung des Streitgegenstandes Bei der Streitgegenstandsproblematik gibt es in der Tat zwei Fragen: Was ist der Gegenstand des Prozesses und wie ist er abzugrenzen? Die erst Frage bezieht sich auf Inhalt sowie Wesen des Streitgegenstandes, die zweite auf die Methode seiner Individualisierung. Die beiden Fragen dürfen nicht vermengt werden. Entsprechend ist zwischen einem streitgegenstandsbildenden und einem streitgegenstandsabgrenzenden Element zu unterscheiden.

I. Zum Wesen des Streitgegenstandes 1. Vorzugswürdigkeit der prozessualen Streitgegenstandsauffassung Zum Wesen des Streitgegenstandes gibt es in der Geschichte und Gegenwart hauptsächlich drei voneinander unterschiedliche Ansichten. Nach der ersten ist der Streitgegenstand eines Prozesses ein Anspruch im materiellrechtlichen Sinne. Der Prozess dreht sich um das Bestehen oder Nichtbestehen eines materiellrechtlichen Anspruchs. Die zweite Ansicht geht davon aus, dass der Streitgegenstand der prozessuale Anspruch des Klägers ist. Es handelt sich im Prozess also darum, ob der prozessuale Anspruch des Klägers aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts und der materiellrechtlichen Normen begründet ist. Nach der dritten Ansicht ist der Streitgegenstand der „Kernpunkt“, also der Streit über die Rechtsfolge aus einem Lebenssachverhalt. Die erste Ansicht wird wegen ihrer Schwäche seit Langem als unhaltbar an­ gesehen. Das Problem der dritten Ansicht liegt darin, dass sie vor allem darauf zielt, unvereinbare Entscheidungen im grenzüberschreitenden Rechtsstreit zu verhindern, jedoch nicht darauf, die Parteidisposition über den Streitgegenstand zu

292

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

betonen und den effektiven Schutz subjektiver Rechte zu gewähren. Daher ist sie nicht geeignet, das Wesen des Streitgegenstands im nationalen Rechtsstreit zu erfassen. Die zweite Ansicht hat die prozessuale Natur des Streitgegenstandes erkannt und entspricht den Bedürfnissen des Zivilprozessrechts. Deshalb sollte die chinesische Prozessualistik dieser Ansicht folgen. 2. Definition des Streitgegenstandes Wie oben dargestellt, sind folgende Punkte einer Streitgegenstandsdefinition weitgehend anerkannt: Der Streitgegenstand wird allein vom Kläger durch seine Klage bestimmt; im Prinzip hat der Beklagte keinen Einfluss auf den Streitgegenstand. Der Sachverhalt dient als tatsächlicher Klagegrund, er ist aber kein Bestandteil des Streitgegenstandes. Dieser stellt sich immer in Form einer Rechtsfolgen­ behauptung dar, trotzdem beschränkt er sich in vielen Fällen nicht auf diese konkrete Behauptung. Vielmehr ist er seiner Natur nach ein Rechtsbegehren des Klägers, das durch teleologische Auslegung seines Klageantrags zu ermitteln ist. In diesem Rechtsbegehren ist nicht nur die Behauptung einer bestimmten Rechtsfolge, sondern auch die vom Kläger gewählte Rechtschutzform inbegriffen. Daher wird folgende Definition des Streitgegenstandes vorgeschlagen: Streitgegenstand ist das vom Kläger im Klageantrag – in Form einer konkreten Rechtsfolgenbehauptung – gestellte Rechtsbegehren. Dieses Begehren richtet sich vor allem an das Gericht und ersucht um eine Entscheidung, in der das Recht des Klägers an­ erkannt und geschützt wird. Der Vorzug dieser Definition des Streitgegenstands liegt vor allem darin, dass sie eine befriedigende Lösung der Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblematik bietet. Erstens können infolge des Verständnisses, dass der Streitgegenstand der prozessuale, nicht der materiellrechtliche Anspruch ist, alle anwendbaren Normen, deren Anwendung das gerechte Interesse des Klägers zu befriedigen imstande ist, im Prozess berücksichtigt werden. Dadurch wird der Schutz des subjektiven Rechts des Individuums effektiv gestärkt. Zweitens dient der prozessuale Streitgegenstandsbegriff dem Verständnis, dass es im Prozess nicht um materiellrechtliche Verhältnisse, sondern um einen einzigen Rechtsstreit zwischen beiden Parteien geht. Deshalb ist die umfassende Lösung des Rechtsstreites in einem Prozess möglichst zu fördern. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass durch dieses prozessuale Verständnis des Streitgegenstands der effektive Rechtsschutz und die umfassende Erledigung des Rechtsstreites gemeinsam – in harmonischer Weise – verwirklicht werden: Die Betonung des Wertes des Rechtsschutzes führt nicht zu parallelen Prozessen oder unvereinbaren Urteilen; die Betonung des Wertes der umfassenden Streiterledigung schadet der materiellen Gerechtigkeit nicht. Wie oben dargestellt, wird dem Rechtsschutz und dem Rechtsfrieden im chinesischen Zivilprozessrecht eine immer größere Bedeutung beigemessen. Daher ist der prozessuale Streitgegenstandsbegriff der für das chinesische Recht geeignete Ansatz.

Kap. 17: Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre 

293

II. Zur Abgrenzung des Streitgegenstandes 1. Vorzugswürdigkeit der zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie Der Klageantrag dient dazu, das Ziel und den Inhalt des Prozesses festzulegen. Er stellt den Gegenstand des Prozesses dar und ist daher unverzichtbares Kriterium zur Abgrenzung des Streitgegenstandes. Der Sachverhalt bietet den tatsächlichen Grund der Klage; der Tatsachenvortrag des Klägers kann auch bei der Ermittlung des Klageziels helfen. Deshalb gilt er – neben dem Klageantrag – als ein weiteres Kriterium zur Streitgegenstandsabgrenzung. Zur Individualisierung des Streit­ gegenstandes sind die beiden Elemente notwendig. Daher sollte der zweigliedrigen Theorie gefolgt werden. Um die Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblematik sachgemäß zu lösen, sind die Begriffe Antrag und Sachverhalt weit zu verstehen. Danach ist der Streitgegenstand eines Prozesses nach dem klägerischen Rechtsbegehren und dem Lebenssachverhalt abzugrenzen. Ein Rechtsbegehren kann nicht mit einer Rechtsfolgenbehauptung gleichgesetzt werden; es stellt das Klageziel dar und ist inhaltlich umfassender als die Rechtsfolgenbehauptung. Ein Lebenssach­verhalt erschöpft sich nicht in den Tatbestandsmerkmalen einer materiellrechtlichen Norm; vielmehr bezeichnet er den tatsächlichen Vorgang oder das Geschehen, von dem sich der Rechtsstreit zwischen beiden Parteien herleitet, weshalb er inhaltlich breiter als der klassische Sachverhaltsbegriff ist. Da das Rechtsbegehren und der Lebenssachverhalt die Kriterien für die Abgrenzung des Streitgegenstandes im prozessrechtlichen Sinne sind, ermöglicht ihre Akzeptanz in der Prozessualistik die wirk­ liche Durchsetzung des prozessualen Streitgegenstandsverständnisses. Im Vergleich mit der ursprünglichen zweigliedrigen Theorie kann die hier vertretene Theorie als verbesserte zweigliedrige prozessuale Streitgegenstandstheorie bezeichnet werden. Somit ist der Streitgegenstand das Rechtsbegehren des Klägers, das durch sein Begehren selbst und den Lebenssachverhalt umschrieben und individualisiert wird. 2. Vorzugswürdigkeit einer einheitlichen Streitgegenstandstheorie Im Prinzip ist an der einheitlichen Streitgegenstandsauffassung festzuhalten. Alle vier Bewährungspunkte der Streitgegenstandsproblematik sollten grundsätzlich anhand der zweigliedrigen Theorie einer Lösung zugeführt werden. Es gibt keinen hinreichenden Grund, zwischen Verfahrensgegenstand und Urteilsgegenstand zu unterscheiden und sie nach unterschiedlichen Kriterien abzugrenzen. Die Tatsache, dass der Umfang der Rechtshängigkeitssperrwirkung in einigen Fällen weiter als der Umfang der Rechtskraftwirkung ist, hat keinen Einfluss auf die Abgrenzung des Streitgegenstandes. Der Umfang des Streitgegenstandes dient der Festlegung des Umfangs der Rechtshängigkeitssperrwirkung und Rechtskraft­ wirkung, nicht umgekehrt. Der Streitgegenstand stellt fest, worüber im Prozess

294

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

verhandelt und worüber im Urteil entschieden wird; sein Inhalt und Umfang bleibt vom Anfang bis zum Ende des Prozesses unverändert. Er ist für alle Klagearten identisch. Auch weist die Abgrenzung des Streitgegenstandes in verschiedenen Rechtsschutzformen kaum wesentliche Unterschiede auf. Der Vorteil des Einheitsdogmas liegt einerseits darin, bei der Lösung des Streitgegenstandsproblems Rechtsklarheit und Rechtssicherheit für die Rechtspraxis zu schaffen. Andererseits verringert es die Schwierigkeiten, die bei der Beherrschung der Streitgegenstandslehre in der Juristenausbildung auftreten, und bietet den Juristen eine relativ einfache Vorstellung vom Streitgegenstand in der gerichtlichen Praxis. Aus diesen Gründen ist im Prinzip die einheitliche Anwendung der zweigliedrigen prozessualen Theorie zu befürworten. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass die eingliedrige oder die materiellrechtliche Theorie in einigen Fällen für die Praxis von Vorteil sind. Insofern ist es sinnvoll, die in der Praxis gesammelten Erfahrungen rechtzeitig zu sichten, sie wissenschaftlich zu würdigen und die Anwendbarkeit anderer Streitgegenstandstheorien in bestimmten Fällen zu bejahen. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, bei der Lösung der Streitgegenstandsproblematik Dogmatik und Pragmatik gleichermaßen mit zu berücksichtigen.

B. Voraussetzungen und Durchsetzung der vorgeschlagenen Theorierezeption I. Rezeption der Streitgegenstandslehre als reine Wissenschaftsrezeption? In dieser Arbeit wird die Rezeption der zweigliedrigen prozessualen Streit­ gegenstandstheorie für das chinesische Prozessrecht vorgeschlagen, um die Mängel bei der Lösung der Anspruchskonkurrenz- und Streitgegenstandsproblematik in der chinesischen Rechtspraxis zu beseitigen. Allerdings scheint eine einfache Theorierezeption ungenügend für die Erreichung dieses Zieles. Vielmehr ist eine Reihe von Reformen bei den Prozessrechtsgrundsätzen und Prozessrechtsinstituten notwendig. Ferner gilt es, die entsprechenden gesetzlichen Änderungen im Unterricht und in der Rechtspraxis umzusetzen.960 Um eine erfolgreiche Theorierezeption zu gewährleisten, ist insbesondere den folgenden beiden Punkten Aufmerksamkeit zu schenken: Erstens wird, wie die chinesischen Prozessualisten schon bemerkt haben, die Rechtsrezeption scheitern, wenn die Voraussetzungen einer solchen Rezeption nicht ausreichend berücksichtigt werden.961 Zweitens kann die Theorierezeption nicht ohne eine entsprechende Normrezeption verwirklicht werden. Dies ergibt sich hinreichend deutlich aus der Rolle der Streitgegenstandslehre als Eckpfeiler der Prozessualistik des germani 960 Rehm, 961 Jiang,

­RabelsZ 2008, S. 40. Wei (Hrsg.), Untersuchungen zum Zivilprozessrecht, 2005, S. 55.

Kap. 17: Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre 

295

schen Rechtskreises und aus der Schwierigkeit ihrer Rezeption.962 Angesichts des Zusammenhangs zwischen Rechtsgedanken, Rechtstheorie und Rechtsinstitut wird in der vorliegenden Arbeit eine dreistufige Rezeption vorgeschlagen. Konkret heißt dies, dass neben der oben vorgeschlagenen Rezeption der Theorie die entsprechenden Rechtsgedanken und Rechtsinstitutionen rezipiert werden müssen. II. Gedankliche Grundlagen einer Übertragung der modernen zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie Um die zweigliedrige prozessuale Streitgegenstandstheorie erfolgreich ins chinesische Prozessrecht zu übertragen, muss versucht werden, einige der für diese Theorierezeption grundlegenden Gedanken und Institutionen der chinesischen Prozessrechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtspraxis näher zu bringen. 1. Aufgabe des Zivilprozessrechts Wie dargestellt, tendiert das heutige chinesische Prozessrecht mehr und mehr dazu, den effektiven Schutz der subjektiven Rechte der Bürger, die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens, die Verfahrenskonzentration und die Prozessökonomie zu stärken. Genau aus diesen Verfahrenszielen folgt auch, dass die Rezeption der prozessualen Streitgegenstandslehre notwendig ist. Leider findet man im geltenden ZPG keine deutlichen Bestimmungen zu den erwähnten Zielen. Deshalb ist es empfehlenswert, in einer künftigen Rechtsreform diese Aufgaben des Verfahrens – neben den anderen Aufgaben – in Art. 13 ZPG vorzusehen, um eine Grundlage für die vorgeschlagene Theorierezeption zu schaffen. 2. Parteidisposition über den Streitgegenstand und Bindung des Gerichts an den Parteiantrag Grundsätzlich erkennen das chinesische Recht und die chinesischen Juristen an, dass der Kläger den Gegenstand des Prozesses bestimmt. Allerdings wird dieses Prinzip in der Praxis nicht streng eingehalten. Manchmal ignoriert der Richter den 962 Ohne

die einer Theorierezeption entsprechende Übertragung wesentlicher Rechtsgedanken und Rechtsinstitute ist es sehr wahrscheinlich, dass die Theorierezeption die Rechtspraxis nur wenig beeinflussen und „reine Wissenschaftsrezeption“ bleiben wird. Beispielsweise unterscheiden sich Prozessualisten und Rechtspraktiker in Japan und Korea in ihren Ansichten zum Streitgegenstand: die Prozessualisten befürworten die prozessuale Theorie und führen sie in der Prozessrechtslehre ein; demgegenüber wird in der Rechtspraxis überwiegend die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie vertreten. Nakamura, H., in: Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, S. 434; Ho, in: Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, S. 461 f.

296

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

Willen und das Ziel des Klägers und ändert nach seinem Belieben den Streitgegenstand. Dies bringt die Grundlage des Prozessrechts ins Wanken und macht eine Lehre zum Inhalt und zur Abgrenzung des Streitgegenstandes kraftlos. Deswegen sollte im chinesischen Zivilprozessrecht in Zukunft der Gedanke besonders betont werden, dass das Gericht streng an den Antrag des Klägers gebunden ist und es dem Kläger weder etwas anderes noch mehr als beantragt zusprechen kann (ne eat iudex ultra petita partium). 3. Richterliche Pflicht und richterliche Befugnis zur umfassenden Würdigung des Rechtsstreites Um die prozessuale Streitgegenstandslehre in der gerichtlichen Praxis durchsetzen zu können, muss dem Richter die Pflicht und die Befugnis zugewiesen werden, den Rechtsstreit rechtlich umfassend zu würdigen. Obwohl China sich seit seiner Rechtsmodernisierung dem kontinental-europäischen Rechtskreis angeschlossen hat, ist offensichtlich, dass dem Grundsatz iura novit curia in der Literatur nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt und er auch in der Rechtspraxis nicht durchgesetzt wird. Daher gilt es als eine der wichtigsten Aufgaben für die chinesischen Prozessualisten, künftig die Bedeutung und den Inhalt dieses Grundsatzes herauszustellen und seine Geltung einzufordern. Um dies durchzusetzen, muss Art. 108 Abs. 3 ZPG revidiert werden, damit nicht der Kläger selbst bei der Klageerhebung das anzuwendende Recht einführen muss. Es wird daher vorgeschlagen, Art. 108 Abs. 3 ZPG folgendermaßen zu formulieren: Die Klageerhebung hat folgenden Bedingungen zu entsprechen: […] 3. es gibt ein konkretes Klageverlangen und konkrete Tatsachen. Soweit der chinesische Gesetzgeber den Gedanken iura novit curia akzeptieren und ihn im ZPG deutlich zum Ausdruck bringen will, ist folgende Formulierung zu empfehlen: Der Richter ist verpflichtet, von Amts wegen und ohne Bindung an die Rechtsauffassung der Parteien alle rechtlichen Grundlagen einer Streitsache zu berücksichtigen, soweit die recht­ liche Beurteilung der Parteianträge und der vorgetragenen Tatsachen dies erfordern.

Anzumerken ist, dass es nicht genügt, den Grundsatz iura novit curia einfach mit Gesetzeskraft zu versehen. Er sollte vielmehr auch im Unterricht und in der Rechtspraxis umgesetzt werden. Deshalb ist die Methode der Fallbearbeitung, bei der alle anwendbaren Normen zu einem Fall gesucht werden, der Juristenaus­ bildung und dem juristischen Staatsexamen zugrunde zu legen.

Kap. 17: Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre 

297

4. Richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht Die wirkliche Durchsetzung der prozessualen Streitgegenstandslehre verlangt ferner die Einführung einer umfassenden richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht. Es fehlt im geltenden ZPG eine entsprechende Regelung;963 allerdings wird jüngst in der Literatur die Einführung dieser Rechtsinstitution diskutiert und vehement eingefordert.964 Obwohl dem Zusammenhang zwischen der Lösung der Streitgegenstandsproblematik und der richterlichen Hinweispflicht nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, sind die Vorschläge zur Begründung einer richterlichen Hinweispflicht grundsätzlich zu befürworten. Meines Erachtens kann die richterliche Hinweispflicht – angesichts des geltenden ZPG und der heutigen Rechtspraxis in China – mindestens in zweierlei Hinsicht von Bedeutung sein, wenn sie nämlich die Parteien zum einen zu sachdienlichen Anträgen und zum anderen zu einem klaren und vollständigen Tatsachenvortrag motiviert. Unter Berücksichtigung der deutschen ZPO dürfte folgende Fassung der Institution der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht zu empfehlen sein: (1) Das Gericht hat dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben der geltend gemachten Tatsachen ergänzen und die Beweismittel bezeichnen. (2) Das Gericht hat die Parteien bei der Formulierung sachdienlicher Anträge zu unterstützen. (3) Das Gericht hat zu oben genannten Zwecken das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. Zu beachten ist dabei, dass die korrekte Ausübung der richterlichen Aufklärungs- und Hinweispflicht qualifizierte, unabhängige und neutrale Richter voraussetzt. Genau in diesem Bereich aber gibt es für China in Zukunft noch viel zu tun.

963 Teilweise

wird die richterliche Hinweispflicht in der Justizauslegung des OVG geregelt, vgl. etwa Art. 3 Abs. 1, Art. 8 Abs. 2, Art. 33 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 1 der Bestimmungen des OVG über den Beweis im Zivilprozess. 964 Vgl. Art. 190 [Richterliche Aufklärungsbefugnis] im Entwurf zur Modifizierung des chine­sischen ZPG, in: Jiang, Wei/Sun, Bangqing (Hrsg.), Entwurf und Begründung zur Modifizierung des chinesischen ZPG seitens der Gelehrten; Cai, Hong, Law Review 2005, Nr. 1, S. 107 ff.; Xiong, Yueming, China Legal Science 2010, Nr. 5, S. 133 ff.; Zhang, Weiping, ­Peking University Law Journal 2006, Vol. 18, Nr. 2, 129 ff.; Tao, Jianguo/He, Bingqun, Hebei Law ­Science 2007, Vol. 25, Nr. 8, S. 147 ff.

298

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

III. Vorschläge zur Verbesserung des chinesischen Prozessrechts Im geltenden chinesischen Prozessrecht sind die Vorschriften, die sich auf die Streitgegenstandslehre beziehen, in vielerlei Hinsicht lückenhaft; zu einigen relevanten Rechtsinstituten fehlen sogar Regelungen im Prozessrecht. Um solche Mängel zu beseitigen und die zweigliedrige Streitgegenstandstheorie durchzusetzen, wird im Folgenden eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung des geltenden Rechts gemacht. 1. Zur Konkurrenz der Zuständigkeiten mehrerer Gerichte Nach Art. 35 Satz 2 ZPG ist im Fall der Konkurrenz das Volksgericht zuständig, das das Verfahren zuerst eröffnet hat. Dabei bleibt aber unklar, ob ihm durch diese Vorschrift eine rechtswegüberschreitende Sachkompetenz eingeräumt wird. Um eine Aufspaltung und Beschränkung des einheitlichen Streitgegenstandes infolge besonderer Gerichtsstände zu verhindern, sollte eine Bestimmung in Art. 35 ZPG hinzugefügt werden, die folgendermaßen lauten könnte: Das Volksgericht des zulässigen Rechtswegs entscheidet den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten, sofern der zu ihm beschrittene Rechtsweg für einen Klagegrund zulässig ist. 2. Zur objektiven Klagenhäufung Nach Art. 126 ZPG und Art. 156 der Richtlinien des OVG zu einigen Fragen der Anwendung des Zivilprozessgesetzes können alle Klagebegehren mitein­ander verbunden behandelt werden, wenn der Kläger seinem Klageantrag ein neues Klagebegehren hinzufügt. Diese Vorschrift kann aber nicht als sinnvolle Regelung der objektiven Klagenhäufung angesehen werden, da sie deren Wesen nicht deutlich darstellt. Nach der zweigliedrigen prozessualen Streitgegenstandslehre bedeutet die objektive Klagenhäufung die Häufung mehrerer selbständiger Streitgegenstände. Sie unterscheidet sich von der alternativen Klagenhäufung und der Eventualhäufung; im Fall der Anspruchskonkurrenz in engerem Sinne ist die Möglichkeit der objektiven Klagenhäufung ausgeschlossen.965 Angesichts dieser Gesichtspunkte sollte folgende Fassung erwogen werden: Stellt der Kläger gegen den Beklagten mehrere selbständige Ansprüche, so können solche Ansprüche in einer Klage verbunden werden, wenn sie in derselben Prozessart geltend gemacht werden und das Gericht für sie zuständig ist.966 965 Schwab,

Streitgegenstand, S. 183. Art. 193 im Entwurf zur Modifizierung des chinesischen ZPG, in: Jiang, Wei/Sun, Bangqing (Hrsg.), Entwurf und Begründung zur Modifizierung des chinesischen ZPG seitens der Gelehrten. 966 Vgl.

Kap. 17: Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre 

299

3. Zur Klageänderung Zur Klageänderung befindet sich im ZPG keine Regelung. Nach Art. 35 der Bestimmungen des OVG über den Beweis im Zivilprozess hat der Richter eine sog. Mitteilungspflicht für die Änderung von Klagebegehren. Wenn während des Prozessverlaufs der von den Parteien behauptete Charakter der Rechtsbeziehungen oder die unterstellte Wirksamkeit von Zivilrechtshandlungen nicht mit den Feststellungen übereinstimmen, die das Volksgericht aufgrund der Tatsachen des jeweiligen Falles getroffen hat, muss das Volksgericht einer Partei mitteilen, dass sie das Klagebegehren ändern kann. Offensichtlich geht diese Bestimmung von der ursprünglichen materiellrechtlichen Streitgegenstandsauffassung aus, nach der die Klageänderung die Änderung der materiellrechtlichen Anspruchsgrundlage ist. Diese Bestimmung sollte abgeschafft werden. Nach der zweigliedrigen prozessualen Streitgegenstandslehre bedeutet die Klageänderung die Änderung des Streitgegenstandes, entweder als neuer Antrag auf Verurteilung zu einer anderen Rechtsfolge oder als Änderung der erbetenen Rechtsschutzform. Daher gilt der Übergang von einem materiellrechtlichen Anspruch zu einem anderen, mit ihm konkurrierenden materiellrechtlichen Anspruch nicht als Klageänderung. Anzumerken ist, dass nach deutschem Prozessrecht der Richter von der schwierigen Prüfung befreit ist, ob ein neues Vorbringen keine Klageänderung darstellt oder ob es zwar eine Klageänderung enthält, diese aber zugelassen wird.967 Allerdings sollte das künftige chinesische Prozessrecht eine relativ klare Definition der Klageänderung enthalten, um den Theorienstreit zu beenden und für die Rechtspraxis Klarheit zu schaffen. Daneben sollte im ZPG geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen eine Klageänderung zulässig ist und welche Änderungen nicht als Klage­änderung angesehen werden. Vor diesem Hintergrund könnten die Regelungen zur Klagänderung wie folgt formuliert werden: (1) Begehrt der Kläger nach dem Eintritt der Rechtshängigkeit statt der bereits begehrten Entscheidung eine andere Entscheidung, so liegt eine Klageänderung vor. (2) Nach dem Eintritt der Rechtshängigkeit ist eine Klageänderung zulässig, wenn der Beklagte einwilligt oder das Gericht sie für sachdienlich erachtet. (3) Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Lebenssachverhalts (a) die tatsächlichen oder rechtlichen Anführungen ergänzt oder berichtigt werden;

967 Jauernig,

ZPR, S. 137.

300

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

(b) der Klageantrag erweitert oder beschränkt wird; (c) statt der ursprünglich begehrten Entscheidung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Entscheidung begehrt wird.968 4. Zur Rechtshängigkeit Eine deutliche Bestimmung zur Rechtshängigkeit und ihrer Wirkung fehlt im chinesischen ZPG. In gewissem Sinne regelt Art. 35 ZPG diese Frage, er erfüllt diese Aufgabe infolge seines verschwommenen Inhalts jedoch nur unzureichend. Daher benötigt das chinesische Prozessrecht eine verbesserte Vorschrift zur Rechtshängigkeit. Nach der prozessualen Streitgegenstandstheorie handelt es sich bei der Rechtshängigkeit darum, dass der Streitgegenstand eines rechtshängigen Prozesses nicht zum Gegenstand eines gleichzeitigen zweiten Prozesses zwischen denselben Parteien gemacht werden darf. Die Möglichkeit, neben einer Klage eine neue Klage zu erheben, in der – im Vergleich mit der ersten Klage – eine nur unwesentliche Änderung des Klagegrundes oder Begehrens vorgenommen wird, ist wegen der Rechtshängigkeitssperrwirkung ausgeschlossen. Deshalb ist das Nichtbestehen der Rechtshängigkeit eine negative Prozessvoraussetzung. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte dürfte folgende Formulierung des Gesetzestextes zum Eintritt und der prozessrechtlichen Wirkung der Rechtshängigkeit zu empfehlen sein: (1) Durch die Erhebung der Klage wird die Rechtshängigkeit des prozessualen Anspruchs begründet. (2) Während der Dauer der Rechtshängigkeit kann der prozessuale Anspruch einer Klage von keiner Partei anderweitig anhängig gemacht werden. (3) Die Rechtshängigkeit ist nicht nur auf Einrede des Beklagten, sondern als Einwand von Amts wegen zu beachten.969 5. Zur materiellen Rechtskraft In Art. 141 und 158 ZPG wird geregelt, welche Urteile in Rechtskraft erwachsen. Es fehlen aber Bestimmungen dazu, was im Urteil in Rechtskraft erwächst und welche Wirkung die materielle Rechtskraft hat. Hier besteht im chinesischen Prozessrecht eine offensichtliche Rechtslücke, die dringend auszufüllen ist. Nach 968 Vgl. Art. 194 im Entwurf zur Modifizierung des chinesischen ZPG, in: Jiang, Wei/Sun, Bangqing (Hrsg.), Entwurf und Begründung zur Modifizierung des chinesischen ZPG seitens der Gelehrten. 969 Vgl. Art. 188 im Entwurf zur Modifizierung des chinesischen ZPG, in: Jiang, Wei/Sun, Bangqing (Hrsg.), Entwurf und Begründung zur Modifizierung des chinesischen ZPG seitens der Gelehrten.

Kap. 17: Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre 

301

der prozessualen Streitgegenstandstheorie erstreckt sich die materielle Rechtskraft auf den prozessualen Anspruch des Klägers. Die Rechtskraftwirkung zeigt sich vor allem dann, wenn der prozessuale Anspruch eines Prozesses mit einem schon rechtskräftig beurteilten identisch ist. Zudem sind das Gericht und die Parteien an das im vorherigen Prozess bereits rechtskräftig Entschiedene gebunden. Auf diese Weise kommen die negative und die positive Wirkung der materiellen Rechtskraft zur Geltung. Bei Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte dürfte folgende Formulierung zu empfehlen sein: (1) Rechtskräftig wird nur die Entscheidung über den prozessualen Anspruch. (2) Die materielle Rechtskraft eines Urteils steht einer neuen Sachverhandlung und Sachentscheidung über den in diesem Urteil entschiedenen prozessualen Anspruch in einem anderen Prozess entgegen. (3) Das Gericht und die Parteien sind an die vom vorher gefällten Urteil rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge gebunden.970

C. Besondere Streitgegenstandslehre für den grenzüberschreitenden Rechtsstreit Obwohl hier die zweigliedrige prozessuale Streitgegenstandstheorie für das chinesische Prozessrecht empfohlen wird, ist darauf zu achten, dass die Definition des Streitgegenstandes als prozessualer Anspruch und seine Abgrenzung durch Rechtsbegehren und Lebenssachverhalt für den grenzüberschreitenden Rechtsstreit nicht geeignet sind. Der Grund liegt darin, dass ein relativ enger Streit­ gegenstandsbegriff nicht der Aufgabe gewachsen ist, unvereinbare Entscheidungen chinesischer und ausländischer Gerichte zu vermeiden und die gewünschte Urteilsanerkennung zwischen verschiedenen Staaten zu erleichtern.971 Daher sollte für das chinesische internationale Prozessrecht eine besondere Streitgegenstandsdoktrin gesetzlich verankert werden. Hierzu ist die Vorbildfunktion der Kernpunkttheorie des EuGH von offensichtlicher Attraktivität. Im Hinblick auf die internationale Rechtshängigkeit wird nach dieser Theorie der Streitgegenstand durch einen weit gefassten Lebenssachverhalt – genauer durch die pragmatisch ver­standene Einheit des Streites der Parteien über die Rechtsfolgen eines Lebens-

970 Vgl. Art. 239 im Entwurf zur Modifizierung des chinesischen ZPG, in: Jiang, Wei/Sun, Bangqing (Hrsg.), Entwurf und Begründung zur Modifizierung des chinesischen ZPG seitens der Gelehrten. 971 Neben das Problem der Urteilsanerkennung zwischen VR China und anderen Ländern besteht in China heute noch das Problem der Urteilsanerkennung zwischen Kontinentalem China, Taiwan, der Hong Kong Special Administrative Region und der Macau Special Administrative Region, da das materielle und prozessuale Recht in diesen Regionen sich vom Recht des kontinentalen China unterscheidet.

302

6. Teil: Das Streitgegenstandsproblem im Zivilprozessrecht der VR China

sachverhalts – bestimmt.972 Nach dieser Lösung wird der Umfang der internationalen Rechtshängigkeit relativ weit eingegrenzt, was dazu führt, dass konkurrierende Verfahren möglichst verhindert werden und einem positiven Kompetenzkonflikt chinesischer und ausländischer Gerichte vorgebeugt wird. Es fehlt im geltenden ZPG eine Bestimmung zur internationalen Rechtshängigkeit. Unter Berücksichtigung des Vorbildes der E ­ uGVO dürfte folgende Formulierung zu empfehlen sein: (1) Werden zuerst bei einem ausländischen Gericht und danach bei einem chinesischen Gericht Klagen wegen derselben Streitsache zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das chinesische Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts feststeht, soweit es nicht der Fall ist, dass dieses ausländische Gericht kein gerechtes Verfahren anbieten kann oder das Urteil dieses ausländischen Gerichts in China nicht anerkannt und vollstreckt wird. (2) Sobald die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts feststeht, erklärt sich das chinesische Gericht für unzuständig.973

D. Zusammenfassende Bemerkung Einerseits fehlen in der traditionellen chinesischen Rechtskultur die oben dargestellten gedanklichen und institutionellen Grundlagen für den Aufbau einer prozessualen Streitgegenstandslehre. Daher scheint es ein schwieriger und langsamer Prozess zu sein, solche Grundlagen in der künftigen Entwicklung des chinesischen Prozessrechts Schritt für Schritt zu schaffen. Andererseits ist es vorstellbar, dass die pragmatische und schrittweise Vorgehensweise der Gesetzgebung in den kommenden Jahren in China fortdauern wird. Mit einer umfassenden und tief­ greifenden Modifizierung des chinesischen Zivilprozessrechts innerhalb kurzer Zeit ist kaum zu rechnen. Es scheint daher unverzichtbar, dass die chinesischen Juristen sich ohne Zögern der dringlichen Aufgabe zuwenden, auf eine Übernahme der zweigliedrigen Streitgegenstandstheorie in der chinesischen Prozessualistik und ihre Durchsetzung in der Rechtspraxis hinzuarbeiten. Denn diese Theorie weist – im Vergleich mit der heute herrschenden materiellrechtlichen Theorie – in vielerlei Hinsicht Vorteile auf und vermag im Hinblick auf eine vernünftige Lösung des Streitgegenstandsproblematik den Bedarf der chinesischen Rechtspraxis besser zu decken. Ferner kann sie dazu dienen, die Entwicklung der Prozessrechtsdogmatik und die Systematisierung des Prozessrechts zu fördern. Erfreulicherweise zeigen sich im chinesischen Recht und in der chinesischen Rechtsliteratur – 972 Gottwald,

in: Dogmatische Grundfragen, S. 91. Art. 372 im Entwurf zur Modifizierung des chinesischen ZPG, in: Jiang, Wei/Sun, Bangqing (Hrsg.), Entwurf und Begründung zur Modifizierung des chinesischen ZPG seitens der Gelehrten. 973 Vgl.

Kap. 17: Gedanken zum Aufbau einer geeigneten Streitgegenstandslehre 

303

seit der Modernisierung des Rechts und insbesondere in der Gegenwart – immer mehr Tendenzen und Ansätze zur Übernahme solcher gedanklichen und institutionellen Grundlagen. Daher ist zu erwarten, dass die entsprechenden Rechtsgedanken und Rechtsinstitutionen eines Tages zum Gesetz werden und in der Praxis ihre Funktion entfalten können.974

974 Postitiv muss stimmen, dass die Rezeption des westlichen Zivilrechts im heutigen China grundsätzlich gelingt. Es wird nicht nur ein System der materiellrechtlichen Normen geschaffen, sondern es werden auch Gedanken wie Privatautonomie, Gleichheit der Bürger, Schutz des privaten Eigentums usw. mittels des Gesetzes durchgesetzt und in der Gesellschaft weitgehend anerkannt.

Literaturverzeichnis Adolphsen, Jens: Zur Frage der Anwendbarkeit des Art. 21 E ­ uGVÜ trotz fehlender Partei­ identität, ZZP Int. 3, 1998, S. 246–263. Ahl, Björn: China auf dem Weg zum Rechtsstaat?, in: Die politische Meinung 2/2005, S. ­25–30. − Die Justizauslegung durch das Oberste Volksgericht der VR China, ZchinR 2007, S. 251–258. Althammer, Christoph: Streitgegenstand und Interesse: eine zivilprozessuale Studie zum deutschen und europäischen Streitgegenstandsbegriff, Tübingen 2012. Andrews, Neil: English Civil Procedure, Oxford 2003. Arens, Peter: Verjährungsunterbrechung und bestimmter Klageantrag, JuS 1964, S. 395–397. − Zur Anspruchskonkurrenz bei mehreren Haftungsgründen, AcP 170, 1970, S. 392–425. von Arx, Gregor: Der Streitgegenstand im schweizerischen Zivilprozess, Basel 2007. Baltzer, Johannes: Die negative Feststellungsklage aus § 256 I ZPO, Köln u. a. 1980. Baumann, Jürgen: Änderung des Prozeßgegenstandes im Zivil- und Strafprozeß, ZZP 69, 1956, S. 356–373. − Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Zivilprozeßrechts, 2. Aufl., Stuttgart 1979. Baumbach, Adolf (Begr.)/Lau­ter­bach, Wolfgang (Forts.)/Albers, Jan (Forts.)/Hartmann, Peter: Zivilprozessordnung, 69. Aufl., München 2011. Bäumer, Annette: Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das interna­ tionale Zivilverfahrensrecht, Köln u. a., 1999. Baumgärtel, Gottfried: Zur Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1974, S. 69–75. Baur, Fritz: Die Aktivität des Richters im Prozeß, in: Deutsche zivil- und kollisionsrecht­ liche Beiträge zum IX. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Teheran, 1974, S. 187–206. – Funktionswandel des Zivilprozesses?, in: Tradition und Fortschritt im Recht: Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500jährigen Bestehen 1977 von ihren gegenwärtigen Mitgliedern, Tübingen 1977, S. 159–175. von Bayer, Hieronymus: Vorträge über den deutschen gemeinen Civilprozeß, 9. Aufl., München 1865. Bernhardt, Wolfgang: Das Zivilprozeßrecht, 3. Aufl., Berlin 1968. von Bethmann-Hollweg, Moritz August: Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschicht­ licher Entwicklung, Bd. I–VI, Bonn 1864–1874.

Literaturverzeichnis

305

Bettermann, August: Hundert Jahre Zivilprozeßordnung – Das Schicksal einer liberalen Kodifikation, ZZP 91, 1978, S. 365–397. Beys, Kostas E.: Die Ausstrahlung des deutschen zivilprozessualen Denkens auf das griechische Recht der Privatrechtsstreitigkeiten, in: Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Bielefeld 1991, S. 300–332. – Zum Problem des Streitgegenstandes im Zivilprozeß und den (gegebenenfalls national) zu ziehenden Folgerungen, insbesondere für die Rechtskraft, ZZP 105, 1992, S. 145–181. Binding, Jörg: Das Gerichtssystem der VR China, Ein Beitrag zur Bestimmung des Rechtswahlstatuts, ­ZVglRWiss 109, 2010, S. 153–215. Blomeyer, Arwed: Arrest und einstweilige Verfügung, ZZP 65, 1952, S. 52–66. – Zum Urteilsgegenstand im Leistungsprozess, in: Festschrift für Friedrich Lent zum 75. Geburtstag, München/Berlin, 1957, S. 43–88. – Die Klageänderung und ihre prozessuale Behandlung, JuS 1970, S. 123–128. – Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Berlin 1985. Böhler, Stefan: Der materiellrechtliche Anspruch im deutschen und schweizerischen Privatrecht, Zürich 2006. Böhm, Peter: Die Ausrichtung des Streitgegenstandes am Rechtsschutzziel, Festschrift für Winfried Kralik zum 65. Geburtstag: Verfahrensrecht – Privatrecht, Wien 1986, S. 83–123. Böhm, Ulrike: Amerikanisches Zivilprozessrecht, Köln 2005. Bork, Reinhard: Der Vergleich, Berlin 1988. – Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2. Aufl., Tübingen 2006. Bötticher, Eduard: Zur Lehre vom Streitgegenstand im Eheprozess, Beiträge zum Zivilprozessrecht, Festgabe zum 70. Geburtstag von Leo Rosenberg, München/Berlin 1949, S. 73–99. – Streitgegenstand und Rechtskraft unter besonderer Berücksichtigung der Wiederholung der Ehescheidungsklage, FamRZ 1957, S. 409–414. Bower, George Spencer/Turner, Alexander Kingcome: The doctrine of res judicata, 2. ed., London 1969. Broggini, Gerardo: Die Maxime „iura novit curia“ und das ausländische Recht, Ein Beitrag zur Präzisierung des § 293 ZPO, AcP 155, 1956, S. 469–485. Brox, Hans: Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft im Zivilprozeß, JuS 1962, S. 121–128. Bruns, Alexander: Materielles Recht und Verfahrensrecht in der Dogmatik des deutschen Zivilprozesses, in: Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, Tübingen 2010, S. 227–242. Bruns, Rudolf: Streifzüge durch die schwedische Rechtskraftlehre. Ein Vergleich mit Eduard Böttichers Beitrag zur aktuellen deutschen Rechtskaftauffassung, in: Festschrift für Eduard Bötticher zum 70. Geburtstag am 29. Dezember 1969, Berlin 1969, S.77–92. – Zivilprozessrecht, 2. Aufl., München 1979.

306

Literaturverzeichnis

Bu, Yuanshi: Einführung in das Recht Chinas, München 2009. – Rechtskraft, Petitionskultur und das Wiederaufnahmeverfahren im chinesischen Zivilprozessrecht, Festschrift für Dieter Leipold zum 70. Geburtstag, Tübingen 2009, S. 537–554. Bub, Peter: Streitgegenstand und Rechtskraft bei Zahlungsklagen des Käufers wegen Sach­ mängeln: gleichzeitig ein Beitrag zur prozessualen Behandlung elektiv konkurrierender Ansprüche, Bielefeld 2001. Bülow, Oskar: Die Lehre von den Processeinreden und die Processvoraussetzungen, Giessen 1868. Bunge, Jürgen: Das englische Zivilprozeßrecht, Berlin 1974. – Zivilprozeß und Zwangsvollstreckung in England, Berlin 1995. – Zivilprozess und Zwangsvollstreckung in Frankreich und Italien, Berlin 2008. Büttner, Hermann: Streit um den Streitgegenstand der Unterlassungsklage, in: Festschrift für Ulf Doepner zum 65. Geburtstag, München 2008, S. 107–118. van Caenegem, Raoul Charles: History of European Civil Procedure, in: International Ency­ clopedia of Comparative Law, Vol. XVI (Civil Procedure), Chapter II, Tübingen u. a. 1973. Canaris, Claus-Wilhelm: Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl., Berlin 1983. Cappelletti, Mauro/Garth, Bryant G.: Introduction – Policies, Trends and Ideas in Civil Procedure, in: International Encyclopedia of Comparative Law, Vol. XVI, Chapter 1, Tübingen u. a. 1987. Coing, Helmut: Europäisches Privatrecht, Bd. II, München 1989. Conrad, Hermann: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl., Karlsruhe 1962. Degenkolb, Heinrich: Einlassungszwang und Urteilsnorm: Beiträge zur materiellen Theorie der Klagen, insbesondere der Anerkennungsklagen, Leipzig 1877. Dernburg, Heinrich: Pandekten, Bd. I–III, 1. Aufl., Berlin 1884–1887. – Pandekten, Bd. I, 7. Aufl., Berlin 1902. Detterbeck, Steffen: Streitgegenstand, Justizgewährungsanspruch und Rechtsschutzanspruch, AcP 192, 1992, S. 325–340. – Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht: Grundlagen des Verfahrens vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten und vor dem Bundesverfassungsgericht, Tübingen 1995. Diederichsen, Uwe: Der Allgemeine Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs für Anfänger, 5. Aufl., Heidelberg 1984. Dietz, Rolf: Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, Bonn u. a. 1934. Dohm, Christian: Die Einrede ausländischer Rechtshängigkeit im deutschen internationalen Zivilprozeßrecht, Berlin 1996. Donau, Helmut: Zur Diskussion über den Streitgegenstand im Zivilprozeß, JR 1960, S. 204–208.

Literaturverzeichnis

307

Eichler, Hermann: Die Konkurrenz der vertraglichen und deliktischen Haftung im deutschen Recht, AcP 162, 1963, S. 401–420. Eisele, Fridolin: Zur Lehre von der Klagenkonkurrenz, AcP 79, 1892, S. 327–405. Ekelöf, Per Olof: Der Streitgegenstand – ein Lieblingskind der Begriffsjurisprudenz, ZZP 85, 1972, S. 145–159. Engelmann-Pilger, Albrecht: Die Grenzen der Rechtskraft des Zivilurteils im Recht der Vereinigten Staaten, Berlin 1974. Engisch, Karl/Würtenberger, Thomas: Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl., Stuttgart 2005. Enneccerus, Ludwig/Nipperdey, Hans Carl: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., Tübingen 1960. Esser, Josef: Schuldrecht II, 4. Aufl., Heidelberg 1993. Fasching, Hans Walther: Lehrbuch des österreichischen Zivilprozessrechts, 2. Aufl., Wien 1990. Fenge, Hilmar: Prozessrecht und materielles Recht als Teilsysteme einer Rechtsordnung, in: Vernunft und Erfahrung im Rechtsdenken der Gegenwart, Berlin 1986, S. 251–259. Fikentscher, Wolfgang: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III (Mittel­ europäischer Rechtskreis), Tübingen 1976. – Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV (Dogmatischer Teil), Tübingen 1977. Flume, Werner: Rechtsakt und Rechtsverhältnis: Römische Jurisprudenz und modernrecht­ liches Denken, Paderborn u. a. 1990. Friedenthal, Jack H./Kane, Mary Kay/Miller, Arthur R.: Civil Procedure, 4. ed., St. Paul, Minn. 2005. Gaul, Hans Friedhelm: Zur Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses, AcP 168, 1968, S. ­27–62. Geimer, Reinhold: Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl., Köln 2009. Geimer, Reinhold/Schütze, Rolf A.: Europäisches Zivilverfahrensrecht: Kommentar, 3. Aufl., München 2010 (zitiert: Bearbeiter, in: Geimer/Schütze). Georgiades, Apostolos: Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, München 1968. Germelmann, Claas Friedrich: Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Euro­ päischen Union: eine Untersuchung vor dem Hintergrund der deutschen, französischen und englischen Rechtskraftlehren, Tübingen 2009. Gönner, Nikolaus Thaddäus: Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses, Bd. I–IV, 2. Aufl., Erlangen 1804. Gottwald, Peter: Richterliche Entscheidung und rationale Argumentation, ZZP 98, 1985, S. 113–130.

308

Literaturverzeichnis

– Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, in: Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, Akademisches Symposium zu Ehren von Karl Heinz Schwab aus Anlass seines 80. Geburtstages, Bielefeld 2000, S. 85–100. – Zum Stand der Zivilprozessrechtsvergleichung, in: Grenzüberschreitungen: Beiträge zum internationalen Verfahrensrecht und zur Schiedsgerichtsbarkeit; Festschrift für Peter Schlosser zum 70. Geburtstag, Tübingen 2005, S. 227–245. – The European Law of Civil Procedure, Ritsumeikan Law Review 2005, S. 37–67. Götz, Wolfgang: Die Neuvermessung des Lebenssachverhalts: Der Streitgegenstand im Unterlassungsprozess, GRUR 2008, S. 401–408. Greifelds, Carl: Greifelds Rechtswörterbuch, 19. Aufl., München 2007. Gröscher, Rolf: Dialogik und Jurisprudenz, Tübingen 1982. Gruber, Urs Peter: Das Verhältnis der negativen Feststellungsklage zu den anderen Klagearten im deutschen Zivilprozeß – Plädoyer für eine Neubewertung, ZZP 117, 2004, S. 133–162. Grunsky, Wolfgang: Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl., Bielefeld 1974. – Zivilprozessrecht, 13. Aufl., Köln/München 2008. Haas, Ulrich: Rechtshängigkeitssperre und Sachzusammenhang, in: Festschrift für Akira Ishikawa zum 70. Geburtstag am 27. November 2001, Berlin u. a. 2001, S. 165–188. Habscheid, Walther J.: Der Streitgegenstand im Zivilprozess und im Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Bielefeld 1956. – Bestimmt Verhandlungs- und Inquisitionsmaxime den Streitgegenstand? – Eine Auseinandersetzung mit Othmar Jauernigs Schrift „Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand“, FamRZ 1971, S. 297–299. – Die Lehre vom Streitgegenstand – Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Stand, ­ZVglRWiss 75, 1976, S. 210–228. – Bemerkungen zur Rechtshängigkeitsproblematik im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz einerseits und den USA andererseits, in: Festschrift für Konrad Zweigert zum 70. Geburtstag, Tübingen 1981, S. 109–125. – Die neuere Entwicklung der Lehre vom Streitgegenstand im Zivilprozess, in: Festschrift für Karl Heinz Schwab zum 70. Geburtstag, München 1990, S. 181–195. – Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Aufl., Basel u. a. 1990. Hahn, Carl/Mugdan, Benno (Hrsg.): Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen (Neudr. der Ausg. Berlin 1881), Bd. 2, Abt. 1, Aalen 1983. Hau, Wolfgang: Zum Verhältnis von Art. 21 zu Art. 22 ­EuGVÜ, IPrax 1996, S. 177–179. Hazard, Geoffrey C./Taruffo, Michele: American Civil Procedure: an introduction, New ­Haven 1993. Hegler, August: Zum Aufbau der Systematik des Zivilprozeßrechts, in: Festgabe für Philipp Heck, Max Rümelin, Arthur Benno Schmidt, Tübingen 1931, S. 216–244.

Literaturverzeichnis

309

Heiderhoff, Bettina: Diskussionsbericht zu Streitgegenstandslehre und EuGH, ZZP 111, 1998, S. 455–462. Hellwig, Konrad: System des Deutschen Zivilprozeßrechts, Bd. 1, Leipzig 1912. Henckel, Wolfram: Parteilehre und Streitgegenstand im Zivilprozess, Heidelberg 1961. – Die Grenzen der Verjährungsunterbrechung, JZ 1962, S. 335–339. – Prozessrecht und materielles Recht, Göttingen 1970. – Stein-Jonas – ein Großkommentar zur Zivilprozeßordnung, JZ 1992, S. 645–656. Herbst, Walter: Die Bedeutung des Rechtsschutzanspruchs für die moderne Zivilprozessrechtslehre, Bonn 1973. Herzog, Peter/Weser, Martha: Civil Procedure in France, The Hague 1967. Hess, Burkhard: Europäisches Zivilprozessrecht, Heidelberg 2010. Heumann, Hermann Gottlieb/Seckel, Emil: Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 9. Aufl., Jena 1914. Heuser, Robert: Beginn eines Jahrhundertprojekts: Die Rechtsreform unter der Späten QingDynastie (1903–1911), ZchinR 2008, S. 193–205. – Der Ertrag der Republikperiode (1912–1949) für die Modernisierung des chinesischen Rechts, ZchinR 2009, S. 123–139. Ho, Moon-Hyuck: Korea und das deutsche Zivilprozeßrecht, in: Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Bielefeld 1991, S. 448–466. Holzhammer, Richard: Österreichisches Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., Wien u. a. 1976. Horn, Lutz: Die Lehre vom Streitgegenstand, JuS 1992, S. 680–685. Huber, Peter: Fragen zur Rechtshängigkeit im Rahmen des ­EuGVÜ – Deutliche Worte des EuGH, JZ 1995, S. 603–611. Igeta, Ryoji: Reform of Law in the Meiji Restoration, in: Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte, Berlin 2006, S. 28–52. Inoue, Harunori: Der Zivilprozeß – als gleichberechtiges Dialogverfahren: Zur neueren Prozeßdiskussion im japanischen Zivilprozeß, ZZP 98, 1985, S. 378–402. Isenburg-Epple, Sabine: Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit nach dem Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen vom 27.9.1968, Frankfurt am Main u. a. 1992. Jauernig, Othmar: Das fehlerhafte Zivilurteil, Frankfurt am Main 1958. – Verhandlungsmaxime, Inquisi­tions­maxime und Streitgegenstand, Tübingen 1967. – Materielles Recht und Prozeßrecht, JuS 1971, S. 329–334. – Zivilprozessrecht, 29. Aufl., München 2007. Jayme, Erik/Kohler, Christian: Europäisches Kollisionsrecht 1998: kulturelle Unterschiede und Parallelaktionen, IPRax 1998, S. 417–429.

310

Literaturverzeichnis

von Jhering, Rudolf: Der Zweck im Recht, Bd. I, 5. Aufl., Leipzig 1916. Kadel, Horst: Zur Geschichte und Dogmengeschichte der Feststellungsklage nach § 256 der Zivilprozeßordnung, Köln/Berlin 1967. Kaser, Max: Das Römische Privatrecht, Bd. 2, 2. Aufl, München 1975. Kaser, Max/Hackl, Karl: Das Römische Zivilprozessrecht, 2. Aufl., München 1996. Kaser, Max/Knütel, Rolf: Römisches Privatrecht, 19. Aufl., München 2008. Kaufmann, Horst: Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, JZ 1964, S. 482–489. Keller, Erhard: Negative Feststellungsklage, gegenläufige Leistungsklage und Verzicht auf deren Rücknahme, WRP 2000, S. 908–912. Kengyel, Miklós: Rechtsschutzanspruch und Rechtsschutzbedürfnis: Beiträge zur Theorie des Klagerechts, Pécs 1987. Klein, Franz: Vorlesungen über die Praxis des Civilprocesses, Wien 1900. Koch, Matthias: Unvereinbare Entscheidungen i. S. d. Art. 27 Nr. 3 und 5 E ­ uGVÜ und ihre Vermeidung, Frankfurt 1993. Köhler, Helmut: Der Gegenstand bei Gestaltungsklagen, Frankfurt am Main 1995. – BGB, Allgemeiner Teil, 32. Aufl., München 2008. Kollmann, Andreas: Begriffs- und Problemgeschichte des Verhältnisses von formellem und materiellem Recht, Berlin 1996. Koshiyama, Kazuhiro: Rechtskraftwirkung und Urteilsanerkennung nach amerikanischem, deutschem und japanischem Recht, Tübingen 1996. Kössinger, Brigitte: Rechtskraftprobleme im deutsch-französischen Rechtsverkehr, München 1993. Koussoulis, Stelios: Der dogmatische Gehalt von Prozessrechtstheorien, in: Dogmatische Grundfragen des Zivilprozesses im geeinten Europa, Akademisches Symposium zu Ehren von Karl Heinz Schwab aus Anlass seines 80. Geburtstages, Bielefeld 2000, S. 7–16. Kropholler, Jan: Europäisches Zivilprozessrecht: Kommentar zu E ­ uGVO, Lugano-Überein­ kommen und Europäischem Vollstreckungstitel, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2005. Künzl, Reinhard: Abschied vom punktuellen Streitgegenstandsbegriff? – Zum Streitgegenstand im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzverfahren, in: Erlanger Festschrift für Karl Heinz Schwab: zum 70. Geburtstag am 22. Februar 1990, Pressath 1990, S. 123–144. Landau, Peter: Die Anfänger der Prozesrechtswissenschaft in der Kanonistik des 12. Jahr­ hunderts, in: Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. I, Köln u. a. 2009, S. 7–24. Larenz, Karl: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., Berlin u. a. 1983. – Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., München 1989. Larenz Karl/Canaris, Claus-Wilhelm: Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl., München 1994.

Literaturverzeichnis

311

Larenz, Karl/Wolf, Manfred: Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl., München 1997. – Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl., München 2004. Lee, Hyong-Kyu: Die Rezeption des europäischen Zivilrechts in Ostasien, Z ­ VglRWiss 86, 1987, S. 158–170. Leipold, Dieter: Zivilprozeßrecht und Ideologie, JZ 1982, S. 441–448. – Internationale Rechtshängigkeit, Streitgegenstand und Rechtsschutzinteresse – Europäisches und Deutsches Zivilprozessrecht im Vergleich, in: Gedächtnisschrift für Peter Arens, München 1993, S. 227–249. – Teilklagen und Rechtskraft, in: Festschrift für Albrecht Zeuner zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1994, S. 431–449. – Wege zur Konzentration von Zivilprozessen, Berlin 1999. Lenenbach, Markus: Gerichtsstand des Sachzusammenhangs nach Art. 21 E ­ uGVÜ?, EWS 1995, S. 361–367. – Die Behandlung von Unvereinbarkeiten zwischen rechtskräftigen Zivilurteilen nach deutschem und europäischem Zivilprozessrecht, Berlin 1997. Lent, Friedrich: Die Gesetzeskonkurrenz im bürgerlichen Recht und Zivilprozeß, Bd. I, Leipzig 1912. – Die Gesetzeskonkurrenz im bürgerlichen Recht und Zivilprozeß, Bd. II Leipzig 1916. – Zur Lehre vom Streitgegenstand im Zivilprozeß, JbAkDR 1939/40, S. 206–216. – Die Verteilung der Verantwortlichkeit unter Gericht und Parteien im Zivilprozess, ZZP 63, 1943, S. 3–55. – Zur Lehre vom Streitgegenstand, ZZP 65, 1952, S. 315–360. – Zur Lehre vom Entscheidungsgegenstand, ZZP 72, 1959, S. 63–98. Lenze, Konrand: Von der actio im Privatrechtssystem Savignys zum Streitgegenstand im Zivilprozeßrecht, 1971. Levy, Ernst: Konkurrenz der Aktionen und Personen im klassischen römischen Recht, Bd. 1, Berlin 1918. Liang, Huixing: Die Rezeption ausländischen Zivilrechts in China, Newsletter der DeutschChinesischen Juristenvereinigung 2003, S. 68–76. Lickleder, Helmut: Der Streitgegenstand im kanonischen Zivilprozessrecht, 1960. von Linde, Justin Thimotheus Frhr.: Lehrbuch des deutschen gemeinen Civilprozesses, 6. Aufl., Bonn 1843. Linke, Hartmut: Ungelöste Probleme des europäischen Zivilverfahrensrechts: Anderweitige Rechtshängigkeit – zusammenhängende Verfahren – unvereinbare Entscheidungen, RIW 1988, S. 818–826. Liu, Ming-Sheng: Die richterliche Hinweispflicht, Frankfurt am Main u. a. 2009.

312

Literaturverzeichnis

Löwisch, Christine: Die historische Entwicklung des Streitgegenstandes, Auf der Grundlage des römischen und seit der Geltung des gemeinen Rechts, 1967. Lubman, Stanley B.: Bird in a Cage: legal reform in China after Mao, Stanford, Calif. 1999. Lüke, Gerhard: Zum Streitgegenstand im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzprozeß, JZ 1960, S. 203–209. – Der Streitgegenstand im Verwaltungsprozeß, JuS 1967, S. 3–8. – Zum zivilprozessualen Klagensystem, JuS 1969, S. 301–307. – Zur Streitgegenstandslehre Schwabs – eine Zivilprozessuale Retrospektive, in: Festschrift für Karl Heinz Schwab zum 70. Geburtstag, München 1990, S. 309–320. Lüke, Wolfgang: Zivilprozessrecht, 9. Aufl., München 2006. Manthe, Ulrich: Bürgerliches Recht und bürgerliches Gesetzbuch in der Volksrepublik China, Jahrbuch für Ostrecht 28, 1987, S. 11–30. Martin, Christoph: Lehrbuch des Teutschen gemeinen bürgerlichen Processes, 2. Aufl., Göttingen 1805. Marutschke, Hans-Peter: Einführung in das japanische Recht, 2. Aufl., München 2010. McGuire, Mary-Rose: Verfahrenskoordination und Verjährungsunterbrechung im europäischen Prozessrecht, Tübingen 2004. Medicus, Dieter: Anspruch und Einrede als Rückgrat einer zivilistischen Lehrmethode, AcP 174, 1974, S. 313–331. – Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl., Heidelberg u. a. 2010. Medicus, Dieter/Lorenz, Stephan: Schuldrecht I: Allgemeiner Teil, 18. Aufl., München 2008. Medicus, Dieter/Petersen, Jens: Bürgerliches Recht: eine nach Anspruchsgrundlagen geordnete Darstellung zur Examensvorbereitung, 22. Aufl., Köln 2009. Mes, Peter: Der Rechtsschutzanspruch, Köln u. a. 1970. Meyer, Peter: Wandel des Prozessrechtsverhältnisses – vom „liberalen“ zum „sozialen“ Zivilprozess?, JR 2004, S. 1–6. Mi, Jian: Deutsches Recht in China seit der Politik der Reform und Öffnung, ZchinR 2007, S. 132–139. Mitsopoulos, Georg: Gedanken zu einigen wichtigen Problemen der Zivilprozeßrechtslehre, ZZP 91, 1978, S. 113–127. Mitteis, Heinrich/Lieberich, Heinz: Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl., München 1992. Mühl, Otto: Die Bedeutung des Sachverhalts für den Begriff des Streitgegenstandes bei Leistungsklagen in der Rechtsprechung, NJW 1954, S. 1665–1669. – Zur Struktur des Verfassungs- und Verwaltungsprozesses im Verhältnis zum Zivilprozeß, in: Gedächtnisschrift für Rudolf Bruns, München 1980, S. 145–166. Müller, Otto: jura novit curia, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins, Bd. 91, 1955, S. 41–58.

Literaturverzeichnis

313

Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, – 2. Aufl., München 2000–2002; – 3. Aufl., München 2007–2010 (zitiert: MünchKomm/Bearbeiter, Aufl., Paragraph, Rn.). Münzel, Frank: Zivilprozeßgesetz der Volksrepublik China, ZchinR 2008, S. 31–83. Murray, Peter L./Stürner, Rolf: German Civil Justice, Durham, NC 2004. Musielak, Hans-Joachim: Die Bindung des Gerichts an die Parteianträge, in: Festschrift für Karl Heinz Schwab zum 70. Geburtstag, München 1990, S. 349–365. – Einige Gedanken zur materiellen Rechtskraft, in: Festschrift für Hideo Nakamura zum 70. Geburtstag am 2. März 1996, Tokyo 1996, S. 423–443. – Der rechtskräftig entschiedene Lebenssachverhalt, NJW 2000, S. 3593–3599. – (Hrsg.): Kommentar zur Zivilprozessordnung: mit Gerichtsverfassungsgesetz, 7. Aufl., München 2009 (zitiert: Bearbeiter, in: Musielak). – Grundkurs ZPO, 10. Aufl., München 2010. Muther, Theodor: Zur Lehre von der Römischen Actio, dem heutigen Klagerecht, der Litis­ contestation und der Singularsuccession in Obligationen, Erlangen 1857. Na­ka­mura, Hideo: Der Streitgegenstand, im besonderen der Werdegang dieses prozessualen Begriffs, in: The Japan Annual of Law and Politics 1957, S. 92–94. – Die Institution und Dogmatik des Zivilprozesses: eine Betrachtung vom Standpunkt des Rechtskreises aus, ZZP 99, 1986, S. 1–33. – Die zwei Typen des Zivilprozesses: Der Zivilprozeß im kontinentalen und im anglo-ame­ri­ ka­ni­schen Rechtskreis, in: Recht in Ost und West 1988, S. 299–322. – Japan und das deutsche Zivilprozeßrecht, in: Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Bielefeld 1991, S. 415–447. – Der Zivilprozess im kontinentaleuropäischen und im angloamerikanischen Rechtskreis, in: Zivilverfahrensrechtliche Probleme des 21. Jahrhunderts, Remscheid 2006, S. 72–86. Nakamura, Muneo: Der „Prozeßgegenstand“ – Sein makroskopisches Studium, in: Baumgärtel (Hrsg.), Grundprobleme des Zivilprozeßrechts, Bd. 2, Köln 1985, S. 107–157. Neussel, Julius: Anspruch und Rechtsverhältnis, 1952. Nicolaysen, Gert: Europarecht, Bd. I, 2. Aufl., Baden-Baden 2002. Nieroba, Alice: Die Rechtshängigkeit nach der ­EuGVO (Verordnung (EG)Nr. 44/2001) an der Schnittstelle zum nationalen Zivilprozessrecht, Frankfurt am Main u. a. 2006. Nikisch, Arthur: Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, Tübingen 1935. – Zur Lehre vom Streitgegenstand im Zivilprozeß, AcP 154, 1955, S. 271–299. Nörr, Knut Wolfgang: Naturrecht und Zivilprozeß, Tübingen 1976. – The Problem of Legal Transplant and the Reception of Continental Law in China before 1930, in: Wege zum japanischen Recht: Festschrift für Zentaro Kitagawa zum 60. Geburtstag am 5. April 1992, Berlin 1992, S. 231–243.

314

Literaturverzeichnis

Oberhammer, Paul: Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft: Bindung und Präklusion, JBl. 2000, S. 205–223. Osterloh, Ernst Robert: Lehrbuch des gemeinen, deutschen ordentlichen Civilprozesses, Bd. I, Leipzig 1856. Otte, Karsten: Verfahrenskoordination im E ­ uGVÜ: Zur angemessenen Gewichtung von Feststellungs- und Leistungsklage, in: Wege zur Globalisierung des Rechts: Festschrift für Rolf A. Schütze zum 65. Geburtstag, München 1999, S. 619–641. Otto, Hansjörg: Die Präklusion: ein Beitrag zum Prozeßrecht, Berlin 1970. Otto, Sebastian: Die subjektiven Grenzen der Rechtshängigkeitssperre im deutschen und europäischen Zivilprozessrecht, Berlin 2007. Paulus, Christoph G: Zivilprozessrecht, 4. Aufl., Berlin/Heidelberg 2010. Pawlowski, Hans-Martin: Aufgabe des Zivilprozesses, ZZP 80, 1967, S. 345–391. Peerenboom, Randall: China’s long march toward rule of law, Cambridge 2002. – (Hrsg.): Judicial independence in China: lessons for global rule of law promotion, Cambridge 2002. Peters, Egbert: Richterliche Hinweispflichten und Beweisinitiativen im Zivilprozeß, Tübingen 1983. Pfeiffer, Thomas: Grundlagen und Grenzen der autonomen Auslegung des ­EuGVÜ, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1992, S. 71–87. Pißler, Knut Benjamin: Das Oberste Volksgericht interpretiert das chinesische Vertragsgesetz im Zeichen der Finanzkrise: Ein Zwischenbericht, ZchinR 2009, S. 262–275. Planitz, Hans/Eckhardt, Karl August: Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Aufl., Graz 1971. Pohle, Rudolf: Buchbesprechung zum Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts von Rosenberg (6. Aufl., 1954), JR 1954, S. 436–437. Prütting, Hanns: Die Rechtshängigkeit im internationalen Zivilprozeßrecht und der Begriff des Streitgegenstandes nach Art. 21 ­EuGVÜ, in: Gedächtnisschrift für Alexander Lüderitz, München 2000, S. 623–633. Prütting, Hanns/Gehrlein, Markus (Hrsg.): ZPO: Kommentar, Köln 2010 (zitiert: Bearbeiter, in: Prütting/Gehrlein). Puchta, Georg Friedrich: Lehrbuch der Pandekten, 8. Aufl., Leipzig 1856. Rauscher, Thomas(Hrsg.): Europäisches Zivilprozeßrecht: Kommentar, 2. Aufl., München 2006 (zitiert: Bearbeiter, in: Rauscher). Rechberger, Walter H./Simotta, Daphne-Ariane: Grundriss des österreichischen Zivilprozessrechts, 7. Aufl., Wien 2009. Rehbinder, Manfred: Die Rezeption fremden Rechts in soziologischer Sicht, in: Zur Rezeption des deutschen Rechts in Korea, Baden-Baden 1990, S. 5–16. Rehm, Gebhard M.: Rechtstransplantate als instrument der Rechtsreform und -transformation, ­RabelsZ 2008, S. 1–42.

Literaturverzeichnis

315

Reinmüller, Bernd: Internationale Rechtsverfolgung in Zivil- und Handelssachen in der Europäischen Union, Bonn 2009. Reischl, Klaus: Die objektiven Grenzen der Rechtskraft im Zivilprozeß, Tübingen 2002. Rimmelspacher, Bruno: Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme im Zivilprozess, Göttingen 1970. – Rezension des Buchs von Bub „Streitgegenstand und Rechtskraft bei Zahlungsklagen des Käufers wegen Sachmängeln“, ZZP 116, 2003, S. 381–384. – Materielle Rechtskraft und Gestaltungsrechte, in: JuS 2004, S. 560–565. Ritter, Ulf: Die Bestimmung der objektiven Rechtskraftgrenzen in rechtsvergleichender Sicht, ZZP 87, 1974, S. 138–199. Rosenberg, Leo: Die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts im Zivilprozess, ZZP 49, 1925, S. 38–73. – Lehrbuch des Deutschen Zivilprozessrechts, 1. Aufl., Berlin 1927. – Zur Lehre vom Streitgegenstand, in: Festgabe für Richard Schmidt zu seinem siebzigsten Geburtstag 19. Januar 1932, Bd. II, Leipzig 1932, S. 256–271. – Erwiderung der Arbeit von Lent (in: ZZP 1933, S. 1 ff.), ZZP 57, 1933, S. 76–90. – Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 9. Aufl., München 1961. Rosenberg, Leo/Schwab, Karl Heinz/Gottwald, Peter: Zivilprozessrecht, 17. Aufl., München 2010. Roth, Herbert: Die Vorschläge der Kommision für ein europäisches Zivilprozeßgesetzbuch – das Erkenntnisverfahren, ZZP 109, 1996, S. 271–313. – Gespaltener Gerichtsstand, in: Festschrift für Ekkehard Schumann zum 70. Geburtstag, Tübingen 2001, S. 355–371. – Schranken der Aussetzung nach § 148 ZPO und Art. 28 ­EuGVO, in: Festschrift für Erik Jayme, Bd. 1, München 2004, S. 747–756. Roxin, Claus: Strafrecht, Bd. II, München 2003. Rüßmann, Helmut: Negative Feststellungsklage und Leistungsklage sowie der Zeitpunkt der endgültigen Rechtshängigkeit im Rahmen des ­EuGVÜ – Entscheidungs- und Klärungsbedarf durch den EuGH, IPRax 1995, S. 76–80. – Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH – nationales Recht unter gemeineuropäischem Einfluß?, ZZP 111, 1998, S. 399–427. Rüthers, Bernd: Rechtstheorie: Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 4. Aufl., München 2008. von Savigny, Friedrich Carl: System des heutigen römischen Rechts, Bd. V, Berlin 1841. Schack, Haimo: Widersprechende Urteile: Vorbeugen ist besser als Heilen, IPRax 1989, S. 139–142. – Rechtshängigkeit in England und Art. 21 ­EuGVÜ, IPRax 1991, S. 270–274.

316

Literaturverzeichnis

– Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Zivilprozeßrecht, ZZP 107, 1994, S. 279–300. – Gerechtigkeit durch weniger Verfahren, IPRax 1996, S. 80–83. – Einführung in das US-amerikanischen Zivilprozeßrecht, 3. Aufl., München 2003. Schapp, Jan: Einführung in das Bürgerliche Recht, 3. Aufl., München 2003. Schaun, Karl: Die prozessuale Behandlung der Klage mit mehrdeutigem Sachverhalt: ein Beitrag zur Lehre vom Streitgegenstand, 1937. Schellhammer, Kurt: Zivilprozess: Gesetz – Praxis – Fälle, 13. Aufl., Heidelberg 2010. Schilken, Eberhard: Zivilprozessrecht, 6. Aufl., München 2010. Schlechtriem, Peter: Vertragsordnung und ausservertragliche Haftung: eine rechts­vergleichende Untersuchung zur Konkurrenz von Ansprüchen aus Vertrag und Delikt im französischen, amerikanischen und deutschen Recht, Frankfurt am Main 1972. Schlinker, Steffen: Litis Contestatio, Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses in der Zeit vom 12. bis 19. Jahrhundert, Frankfurt 2008. Schlosser, Peter: Zivilprozeßrecht, Bd. I, 2. Aufl., München 1991. – EU-Zivilprozessrecht: Kommentar, 3. Aufl., München 2009. Schmidt, Richard: Die Klageänderung, Leipzig 1888. Schönfeld, Klaus Eckhard: Zur Verhandlungsmaxime im Zivilprozeß und in den übrigen Verfahrensarten, Frankfurt am Main u. a. 1981. Schönke, Adolf: Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 7. Aufl., Karlsruhe 1951. Schönke, Adolf/Kuchinke, Kurt: Zivilprozessrecht, 9. Aufl., Karlsruhe 1969. Schreiber, Klaus: Der Dispositionsgrundsatz im Zivilpozesß, Jura 1988, S. 190–197. – Der Verhandlungsgrundsatz im Zivilprozeß, Jura 1989, S. 86–91. – Klage und Urteil im Zivilprozess, Jura 2004, S. 385–389. Schulze, Reiner: Der Einfluss des BGB in China, in: Rechtstransfer durch Zivilgesetzbücher, Beiträge Liechtenstein-Institut Nr. 29/2005, S. 45–54. Schumann, Ekkehard: Die Prozessökonomie als rechtsethisches Prinzip, in: Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, München 1973, S. 271–287. – Internationale Rechtshängigkeit(Streitanhängigkeit), in: Festschrift für Winfried Kralik zum 65. Geburtstag: Verfahrensrecht – Privatrecht , Wien 1986, S. 301–316. Schütze, Rolf A.: Die Berücksichtigung der Rechtshängigkeit eines ausländischen Verfahrens nach dem EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen, RIW 1975, S. 78–80. – Die Wirkungen ausländischer Rechtshängigkeit in inländischen Verfahren, ZZP 104, 1991, S. 136–149. Schwab, Karl Heinz: Der Streitgegenstand im Zivilprozess, München 1954.

Literaturverzeichnis

317

– Besprechung des Buchs von Habscheid „Der Streitgegenstand im Zivilprozeß und im Streitverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit“, ZZP 71, 1958, S. 155–160. – Der Stand der Lehre vom Streitgegenstand im Zivilprozeß, JuS 1965, S. 81–86. – Die Bedeutung der Entscheidungsgründe, in: Festschrift für Eduard Bötticher zum 70. Geburtstag am 29. Dezember 1969, Berlin 1969, S. 321–340. – Noch einmal: Bemerkungen zum Streitgegenstand, in: Verfahrensrecht am Ausgang des 20. Jahrhunderts, in: Festschrift für Gerhard Lüke zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 793–807. Schwab, Karl Heinz/Gottwald, Peter: Verfassung und Zivilprozess, Bielefeld 1984. Schwab, Martin: Zivilprozessrecht, 3. Aufl., Heidelberg 2010. Schwander, Vital: „iura novit curia“ und das Verhältnis dieses Grundsatzes zum Rechtsgrund des Anspruchs, Festgabe für Wilhelm Schönenberger zum 70. Geburtstag am 21. September 1968, Freiburg (Schweiz) 1968, S. 199–219. von Schwerin, Claudius/Thieme, Hans: Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Aufl., Berlin/München1950. von Senger, Harro: Einführung in das chinesische Recht, München 1994. Sepperer, Sophia: Der Rechtskrafteinwand in den Mitgliedstaaten der ­EuGVO, Tübingen 2010. von Seuffert, Lothar: Kommentar zur Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich, 7. Aufl., München 1895. Shao, Jiandong: Die Rezeption des deutschen Zivilrechts im alten China, JZ 1999, S. 80. Siegert, Karl: Allgemein anerkannte und regionale Grundsätze im Zivilprozeßrecht, AcP 155, 1956, S. 28–49. Sohm, Rudolf/Mitteis, Ludwig: Institutionen: Geschichte und System des Römischen Privatrechts, 17. Aufl., Berlin 1949. Spellenberg, Ulrich: Prozeßführung oder Urteil – Rechtsvergleichendes zu Grundlagen der Rechtskraft, in: Festschrift für Wolfram Henckel zum 70. Geburtstag am 21. April 1995, Berlin u. a. 1995, S. 841–862. Spickhoff, Andreas: Richterliche Aufklärungspflicht und materielles Recht: ein Beitrag zum Verhältnis von Zivilprozeßrecht, Sachrecht und internationalem Privatrecht, Stuttgart u. a. 1999. Stadler, Astrid: Vielfalt der Gerichte – Einheit des Prozessrechts?, in: Die Rechtskontrolle von Organen der Staatengemeinschaft, Heidelberg 2007, S. 177–209. Stafyla, Athena: Die Rechtshängigkeit des E ­ uGVÜ nach der Rechtsprechung des EuGH und der englischen, französischen und deutschen Gerichte, Sinzheim 1998. Stein, Friedrich: Grundriß des Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, 3. Aufl., Tübingen 1928. Stein, Friedrich/Jonas, Martin(Begr.): Kommentar zur Zivilprozessordnung, – 19. Aufl., Tübingen 1972–1975; – 20. Aufl., Tübingen 1977–1991;

318

Literaturverzeichnis

– 21. Aufl., Tübingen 1993–2002; – 22. Aufl., Tübingen 2003–2011 (zitiert: Stein/Jonas/Bearbeiter, Aufl., Paragraph, Rn.). Stölzel, Adolf: Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung, Bd. 2, Berlin 1910. Stürner, Rolf: Die richterliche Aufklärung im Zivilprozeß, Tübingen 1982. – Prozeßzweck und Verfassung, in: Festschrift für Gottfried Baumgärtel zum 70. Geburtstag, Köln u. a. 1990, S. 545–552. – Das deutsche Zivilprozeßrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen – von Deutschland aus gesehen, in: Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, Bielefeld 1991, S. 3–40. – Der deutsche Prozessrechtslehrer am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Verfahrensrecht am Ausgang des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Gerhard Lüke zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 829–844. – Rechtskraft in Europa, in: Wege zur Globalisierung des Rechts, Festschrift für Rolf A. Schütze zum 65. Geburtstag, München 1999, S. 913–934. – Zur Struktur des europäischen Zivilprozesses, in: Festschrift für Ekkehard Schumann zum 70. Geburtstag, Tübingen 2001, S. 491–505. – Prozessrecht und Rechtskulturen, in: Prozessrecht und Rechtskulturen, Baden-Baden 2004, S. 31–52. – Parteidisposition über Tatsachen und Beweismittel im Prozess ausgewählter europäischer Staaten, in: Recht und Risiko, Festschrift für Helmut Kollhosser zum 70. Geburtstag, Bd. II, Karlsruhe 2004, S. 727–740. – Parteidisposition über das anwendbare Recht im europäischen Zivilprozess?, in: Festschrift für Ulrich Weber zum 70. Geburtstag, Bielefeld 2004, S. 589–599. – Parteidisposition über Anfang, Gegenstand und Umfang des Verfahrens in wichtigen europäischen Prozessordnungen, in: Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 1061–1070. – The Principles of Transnational Civil Procedure: An Introduction to Their Basic Con­ ceptions, RabelZ 69, 2005, S. 201–254. – Die „Principles of Transnational Civil Procedure“: Eine Einführung in ihre wichtigsten Grundlagen, ZZP Int 11, 2006, S. 381–414. Stürner, Rolf/Kern, Christoph: Comarative Civil Procedure – Fundamentals and Recent Trends, in: Gedächtnisschrift für Halûk Konuralp, Bd. 1, Ankara 2009, S. 997–1029. Stürner, Rolf/Stadler, Astrid: Aktive Rolle des Richters, in: Anwaltsberuf und Richterberuf in der heutigen Gesellschaft, Baden-Baden 1991, S. 173–208. Sun, Xianzhong: Die Rezeption der westlichen Zivilrechtswissenschaft und ihre Auswirkung im modernen China, R ­ abelsZ 71, 2007, S. 644–662. Teplitzky, Otto: Der Streitgegenstand in der neuesten Rechtsprechung des I. Zivilsenats des BGH, WRP 2007, S. 1–5.

Literaturverzeichnis

319

Thomas, Heinz/Putzo, Hans(Begr.): Zivilprozessordnung, 31. Aufl., München 2010 (zitiert: Bearbeiter, in: Thomas/Putzo). Tian Ping’an: Die gegenwärtige Lage und die Zukunft der Zivilprozessreform der Volksrepublik China, in: ZZP Int. 6, 2001, S. 317–323. Tiegelkamp, Kurt: Geschichte und Stellung der Verhandlungsmaxime im deutschen Zivil­ prozess seit dem jüngsten Reichsabschied, 1940. Tilch, Horst (Hrsg.): Deutsches Rechtslexikon, 3. Aufl., München 2001. Tsikrikas, Dimitrios: Einige Gedanken über die „autonome“ Bestimmung des Streit- und Urteilsgegenstandes im europäischen Zivilprozessrech, in: Festschrift für Dieter Leipold zum 70. Geburtstag, Tübingen 2009, S. 351–357. Wach, Adolf: Handbuch des Deutschen Civilprozeßrechts, Bd. I, Leipzig 1885. – Der Feststellungsanspruch: Ein Beitrag zur Lehre vom Rechtsschutzanspruch, in: Sonderabdruck aus der Festgabe der Leipziger Juristenfakultät für B. Windscheid zum 22. Dezember 1888, Leipzig 1889, S. 3–66 (urspr: S. 75–138). – Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung, 2. Aufl., Bonn 1896. – Der Rechtsschutzanspruch, ZZP 32, 1904, S. 1–34. von Wächter, Carl Georg: Pandekten, Bd. I–II, Leipzig 1880–1881. Walker, Wolf-Dietrich: Die Streitgegenstandslehre und die Rechtssprechung des EuGH – nationales Recht unter gemeineuropäischem Einfluß?, ZZP 111, 1998, S. 429–462. Weiß, Egon: Recitatio und Responsum im römischen Provizialprozeß usw., Zeitschrift der ­Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanische Abt., Bd. 33, 1912, S. 212–239. Wendehorst, Christiane C.: Rezeption deutschen Zivilrechts – Was bleibt übrig im 21. Jahrhundert?, in: Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, Göttingen 2008, S. 19–30. Wenger, Leopold: Institutionen des Römischen Zivilprozessrechts, München 1925. Wernecke, Frauke: Die Einheitlichkeit des europäischen und des nationalen Begriffs vom Streitgegenstand, Berlin 2003. Wessels, Johannes/Beulke, Werner: Strafrecht: Allgemeiner Teil, 37. Aufl., Heidelberg 2007. Wetzell, Georg Wilhelm: System des ordentlichen Civilprocesses, 1. Aufl., Leipzig 1861. – System des ordentlichen Civilprocesses, 3. Aufl., Leipzig 1878. Weyers, Hans-Leo: Über Sinn und Grenzen der Verhandlungsmaxime im Zivilprozess, in: Dogmatik und Methode: Josef Esser zum 65. Geburtstag, Kronberg 1975, S. 193–224. Wieczorek, Berhard(Begr.)/Schütze, Rolf A. (Hrsg.): Zivilprozeßordnung und Nebengesetze: Großkommentar, Bd. I, 3. Aufl., Berlin 1994 (zitiert: Bearbeiter, in: Wieczorek/Schütze). Wiegand, Wolfgang: Iura novit curia vs. ne ultra petita – die Anfechtbarkeit von Schieds­ gerichtsurteilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts, in: Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung – Zivil- und schiedsverfahrensrechtliche Aspekte, Festschrift für Franz Kellerhals zum 65. Geburtstag, Bern 2005, S. 127–144.

320

Literaturverzeichnis

Windscheid, Bernhard: Die Actio des römischen Civilrechts: vom Standpunkt des heutigen Rechts, Düsseldorf 1856. – Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I–III, 1. Aufl., 1862–1870. – Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl., bearbeitet von Theodor Kipp, Bd. 1, Aalen 1963. Wolf, Manfred: Gerichtliches Verfahrensrecht, Reinbek b. Hamburg 1978. – Einheitliche Urteilsgeltung im E ­ uGVÜ, in: Festschrift für Karl Heinz Schwab zum 70. Geburtstag, München 1990, S. 561–574. Yoshimura, Tokushige: Streitgegenstand und Verfahrens­ma­xi­men – Zugleich eine Auseinandersetzung mit der Schrift von Jauernig: „Verhandlungsmaxime, Inqui­si­tionsmaxime und Streitgegenstand“, ZZP 83, 1970, S. 245–266. Zeiss, Walther/Schreiber, Klaus: Zivilprozessrecht, 11. Aufl., Tübingen 2009. Zeuner, Albrecht: Fragen der prozessualen Erfassung materiellrechtlicher Rechtslagen im Hinblick auf die Stellung des Beklagten, in: Festschrift für Eduard Bötticher zum 70. Geburtstag am 29. Dezember 1969, Berlin 1969, S. 405–425. – Rechtsvergleichende Bemerkungen zur objektiven Begrenzung der Rechtskraft im Zivil­ prozeß – Aspekte der anglo-amerikanischen, der französischen und der deutschen Lösungskonzeption, in: Festschrift für Konrad Zweigert: zum 70. Geburtstag, Tübingen 1981, S. 603–622. – Zum Verhältnis zwischen internationaler Rechtshängigkeit nach Art. 21 E ­ uGVÜ und Rechtshängigkeit nach den Regeln der ZPO, in: Verfahrensrecht am Ausgang des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Gerhard Lüke zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 1003–1021. Zhou, Cui: Die jüngste Reform der chinesischen Zivilprozessordnung, ZZP Int. 12, 2007, S. 325–340. Zimmermann, Walter: Zivilprozessordnung: Kommentar anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 8. Aufl., Münster 2008. Zippelius, Reinhold: Juristische Methodenlehre, 8. Aufl., München 2003. Zöller, Richard (Begr.): Zivilprozessordnung: Kommentar, 28. Aufl., Köln 2010 (zitiert: Be­ arbeiter, in: Zöller). Zöllner, Wolfgang: Materielles Recht und Prozeßrecht, AcP 190, 1990, S. 471–495. Zweigert, Konrad/Kötz, Hein: Einführung in die Rechtsvergleichung: auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl., Tübingen 1996.

Literaturverzeichnis der chinesischen Veröffentlichungen Bi, Yuqian: Verhältnis zwischen Prozessvoraussetzung und Lis Pendens, Journal of the East China University of Politics and Law 2006, Nr. 4, S. 60–69. – Die Struktur der Klageänderung und die Modifikation des geltenden Rechts, Chinese Journal of Law 2006, Nr. 2, S. 17–32. Cai, Hong: Aufklärungsrecht: Basic Perspective and System Construction, Law Review 2005, Nr. 1, S. 107–113. Chai, Fabang (Hrsg.): Lehrbuch des Zivilprozessrechts, Law Press 1983. Chang, Yi (Hrsg.): Lehrbuch des Zivilprozessrechts, Chongqing Press 1982. Chen, Guiming/Li, Shichun: A Theory of the Safety of Procedure: Analysis of Civil Litigation as an Object, Tribune of Political Science and Law 1999, Nr. 5, S. 78–90. Du, Dan: Balance and Reconcile: On the Interpretation by Judge, Contemporary Law Review 2006, Vol. 20, Nr. 6, S. 111–117. Duan, Housheng: Untersuchung zum Streitgegenstand im Zivilprozess, Chinese People’s ­Public Security University Press 2004. – Untersuchung zum materiellrechtlichen Anspruch, Courtpress 2006. Duan, Wenbo: Overlapping of Claims: Taking Joinder of Chosen Claims as the Solution, ­Modern Law Science 2010, Vol. 32, Nr. 5, S. 158–164. Fan, Jinxue: On the Abrogation of the Kuomingtang’s „The Complete Literatures On Six Laws“, Science of Law 2003, Nr. 4, S. 38–46. Fang, Liufang: Rezension zum Vortrag von Su Yongqin „Civil Law: Accumulation, Selection and Creation“, Journal of Comparative Law 2006, Nr. 2, S. 37–40. Feng, Lixia: Fortuity or Necessity: Analysing the Reasons of Selection and Derivation from the Mode of Roman-Germanic Family Codification, Jin Ling Law Review 2003, Nr. 1, S. 145–157. Fu, Yulin: The separation of Simple Cases from Complicated Cases and of Summary Proce­ dures from Complicated Procedures and the Procedural Guarantee to Different Types of ­Cases, Chinese Journal of Law 2003, Nr. 1, S. 50–63. Guo, Chengwei (Hrsg.): Der Geist des Traditionellen Chinesischen Rechtssystems, China University of Political Science and Law Press 2001. Han, Hongjun: Bedeutung der richterlichen Aufklärungspflicht für die Zivilprozessrechtslehre, Science of Law 2006, Nr. 5, S. 77–84.

322

Literaturverzeichnis der chinesischen Veröffentlichungen

Han, Xiangqian/Qiao, Xin: A Summary of the Studies of Civil Procedure Law in the Latest 50 Years in China, Tribune of Political Science and Law 1999, Nr. 6, S. 96–100. Hao, Tiechuan: Untersuchung zum Traditionellen Chinesischen Rechtssystem, Fudan Uni­ versity Press 1997. He, Zhihui: Untersuchung zum Hintergrund der Modernisierung des Zivilprozessrechts am Ende der Qing-Dynastie, in: Chen, Gang (Hrsg.), Die Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts in den vergangenen hundert Jahren, Bd. I zum Ende der Qing-Dynastie, China Legal Publishing House 2004, S. 3–98. Jiang, Lishan: Study on the Issues of the Road to the Rule of Law in China (Part. I), Peking University Law Journal 1998, Nr. 3, S. 16–28. – Three Facts of Legal Modernization, Legal Science Monthly 2003, Nr. 2, S. 15–27. Jiang, Wei: The Mission of Civil Procedure Law in a Market Economy, Modern Law Science 1996, Nr. 3, S. 4–13. – Rück- und Ausblick des chinesischen Zivilprozessrechts, China Legal Science 1997, Nr. 5, S. 16–18. – (Hrsg.): Untersuchungen zum chinesischen Zivilprozessrecht, China University of Political Science and Law Press 1998. – (Hrsg.): Untersuchungen zum Zivilprozessrecht, China Remin University Press 2005. Jiang, Wei/Cui, Yuntao: Rück- und Ausblick des chinesischen Zivilprozessrechts, Chao Yang Law Review, Nr. 2, 2009, http://www.law.ruc.edu.cn/cyflpl/ShowArticle.asp?ArticleID=20175. Jiang, Wei/Duan, Housheng: Restatement on the Relationship between Claims and the Litigation Subject Matter Theory, Jurists Review 2003, Nr. 4, S. 72–82. Jiang, Wei/Fu, Yulin: The Chinese Civil procedural Law Moving Towards 21st Century, China Legal Science 1999, Nr. 6, S. 20–23. Jiang, Wei/Sun, Bangqing (Hrsg.): Entwurf und Begründung zur Modifizierung des chine­ sischen ZPG seitens der Gelehrten, Law Press, 2008. Jiang, Wei/Xiao, Jianguo: Der objektive Umfang der Rechtskraft, Chinese Journal of Law 1996, Vol. 18, Nr. 4, S. 37–48. Jiang, Wei/Xu, Jijun: Die neue Streitgegenstandstheorie: Die Anwendung und die entsprechende Garantie in China, Journal of Law Application 2003, Nr. 5, S. 4–8. Ke, Yangyou: The Conflict and Balance between the Theory of Res Judicata and the Retrial System, Journal of Law Application 2006, Nr. 7, S. 11–14. Li, Guilian: Legal Reform and Consular Jurisdiction in Qing Dynasty, Including Discussion on Shen Jiaben’s Thought of Saving the Country through Law, Peking University Law Journal 1990, Nr. 4, S. 46–50, 75. Li, Hao: Negative Factors in Fundamental Realities of the Country and Revision of Civil Procedure Law, Law Review 2005, Nr. 5, S. 109–115. – The Guarantee of the Procedural Rights in the Civil Procedure: Problems and Counter­ measure, Studies in Law and Business 2007, Nr. 3, S. 86–92.

Literaturverzeichnis der chinesischen Veröffentlichungen

323

Li, Long: Zum Rahmen der chinesischen Streitgegenstandslehre, Legal Science Monthly 1999, Nr. 7, S. 27–32. – On Joinder of Causes of Action in Civil Proceedings, Modern Law Science 2005, Vol. 27, Nr. 2, S. 78–84. Li, Shichun: Überlegungen zum Institut der Klagenhäufung, Studies in Law and Business 2005, Nr. 1, S. 83–89. Liang, Zhiping: Searching for Harmony in the Natural Order: A Study of the Legal Tradition of China from a Cultural Perspective, Shanghai People’s Publishing House 1991. Liu, Xuezai: On Lis Pendens in Civil Procedure, Law Review 2002, Nr. 6, S. 91–97. Qi, Shujie: Improvement of Retrial Procedure and Maintenance of the Validity of Cases Adjudicated, Jurists Review 2007, Nr. 6, S. 18–24. Ren, Zhian: No Lawsuit: Trend of Value in Chinese Traditional Legal Culture, Political Science and Law 2001, Nr. 1, S. 19–24. Shiga, Shûzô: Untersuchung zur chinesischen Rechtskultur: Darstellung aufgrund der Gestalt des Prozesses, Journal of Comparative Law 1988, Nr. 3, S. 18–26. Sun, Xianzhong: A Review on the Effects of Adopted western Civil Law in Modem China, China Legal Science 2006, Nr. 3, S. 166–174. Tan, Zhenbo: How to Settle the Conflict between the Unchangableness Theory and China’s Procedure for Trial Supervision in the Civil Procedure Law of PRC, Hebei Law Science 2003, Vol. 21, Nr. 1, S. 154–156. Tang, Lei/Zhu, Chuansheng: Zur Aufklärungsbefugnis, Social Science Research 2006, Nr. 5, S. 90–95. Tang, Weijian: The Market Economy and Prospects for the Theory of Civil Procedure Law (Part I), Tribune of Political Science and Law 1997, Nr. 1, S. 79–85. – The Market Economy and Prospects for the Theory of Civil Procedure Law (Part II), ­Tribune of Political Science and Law 1997, Nr. 2, S. 84–91. Tao, Jianguo/He, Bingqun: Confrontation and Harmony: On the judge’s interpretation right, Hebei Law Science 2007, Vol. 25, Nr. 8, S. 147–151, 159. Tian, Tao/Li, Zhuhuan: A Comment on the Chinese Translations of Western Law Books in the Qing Dynasty, Peking University Law Journal 2000, Nr. 3, S. 355–371. Wang, Hanqing: Die traditionelle chinesische Rechtskultur und der Aufbau des modernen Rechtssystems, Law Review 1994, Nr. 1, S. 80–84. Wang, Liming: Untersuchung zum Deliktrecht, Band I, China Remin University Press 2004. Wang, Shaohua: An Analysis of the Phenomenon of judicial superactism in Civil Suits, Peking University Law Journal 1991, Nr. 2, S. 17–20. Wang, Shihu: A Study of the Coincidence of Contractual and Tortious Liabilities, Modern Law Science 2000, Vol. 24, Nr. 4, S. 109–115. Wang, Song: Civil Judge’s Explanation Duty, Its Performance, Regulation and Remedy, Journal of Law Application 2007, Nr. 10, S. 43–46.

324

Literaturverzeichnis der chinesischen Veröffentlichungen

Weng, Xiaobin/Song, Xiaohai: Rechtskraft: Darstellung und Kritik ihrer Theorie, Nanjing University Law Review 2002, Nr. 3, S. 144–161. Wu, Shuchen: Wertgrundlage der traditionellen chinesischen Rechtskultur, Science of Law 1994, Nr. 2, S. 58–62. – Abschied von der Denkmethode des „Rechtskreises“, Peking University Law Journal 1995, Nr. 2, S. 1–6. – How to Face with the Legacy of Chinese Legal Culture, Jurists Review 2007, Nr. 5, S. 3–7. Wu, Zeyong: Die Reform des Zivilprozessrechts in der Modifizierung des Rechtssystems am Ende der Qing-Dynastie, Journal of Comparative Law 2003, Nr. 3, S. 72–89. – Revision of the Civil Procedure Code of the Grand Qing Empire, Modern Law Science 2007, Vol. 29, Nr. 4, S. 186–193. Xia, Jinwen: Century Vicissitude: the Idea of Judicial Independence and the System Evolution – Review from the Perspective of Judicial Modernization, Tribune of Political Science and Law 2004, Vol. 22, Nr. 1, S. 46–55. Xie, Donghui: Untersuchung zur Modernisierung des zivilprozessrechtlichen Erkenntnis­ verfahrens in der Nanjing-Dekade, Law Press, 2011. Xiong, Yuemin: The Empirical Analysis on the Court’s Interpretation in Civil Procedure, China Legal Science 2010, Nr. 5, S. 133–142. Xu, Aiguo: Der kontinental-europäischen Rechtskreis und die Transformation des traditionellen chinesischen Rechts, Social Science Journal 2010, Nr. 1, S. 47–51. Yan, Renqun: Übertretung des materiellen Rechts im Bereich des prozessualen Rechts: Am Beispiel der Konkurrenz der zivilrechtlichen Haftungen, Science of Law 2010, Nr. 3, S. 30–39. Yang, Lijie/Chen, Gang: Untersuchung zur Modernisierung des Zivilprozessrechts in der Anfangszeit der Republikperiode, in: Chen, Gang (Hrsg.), Die Entwicklung des chinesischen Zivilprozessrechts in den vergangenen hundert Jahren, Bd. I zur Republikperiode, China Legal Publishing House 2009, S. 1–150. Yang, Shuxiang: Comparative Study on the System of the Changing of Action, Heibei Law Science 2003, Vol. 21, Nr. 4, S. 134–140. Ye, Ziqiang: Zum Wesen der Rechtskraft, Chinese Journal of Law 1995, Nr. 5, S. 23–30. Yu, Jingyao: The Structure of the Independence of Justice and the Reform of Judicial System, Chinese Journal of Law 2004, Nr. 3, S. 52–57. Zhang, Jinfan: Allgemeine Darstellung zum Zivilprozessrecht im alten China, Law und Social Development, 1996, Nr. 3, S. 54–61. – (Hrsg.): Die Rückschau und Vorschau auf das Traditionelle Chinesische Rechtssystem, China University of Political Science and Law Press 2007. Zhang, Jinhong: Mängel der Bestimmungen zur Klagenhäufung und ihre Modifikation, Law Review 2007, Nr. 4, S. 94–98.

Literaturverzeichnis der chinesischen Veröffentlichungen

325

Zhang, Weiping: The Civil Proceedings in the Continental Legal System and in the AngloAmerican Legal System: A Comparative Study on the Two Litigating Systems (Part I), Law Review 1996, Nr. 4, S. 53–59. – Rational Knowledge of Absolute Authoritarianism: On the Basic Model of Former soviet’s Civil Proceedings, Modern Law Science 1996, Nr. 4, S. 61–66. – Zum Streitgegenstand und zu seiner Abgrenzung, Chinese Journal of Law 1997, Vol. 19, Nr. 4, S. 56–67. – The institutional Transformation and the Development of the Chinese Civil Procedure ­Theory, Journal of Tsinghua University (Philosophy and Social Sciences) 2001, Nr. 6, S. 2–10. – (Hrsg.): Compilation of Materials on Civil Procedure Law, Law Press 2004. – Grundbegriffe im Zivilprozessrecht, China Remin University Press 2005. – Zum Begriff der „Aufklärung“ im Zivilprozessrecht, Peking University Law Journal 2006, Nr. 2, S. 129–146. Zhang, Xiaohong: A New Attempt on Identifying the Discernment Criterion of the Object of Litigation on the Occasion of the Combination of Substantial Petition Rights, Journal of Zhejiang University (Humanities and Social Sciences) 2004, Vol. 34, Nr. 6, S. 95–100. Zhou, Qinglin: The Perplexity of Rationality: The Deconstruction of „Theorie der Anspruchskonkurrenz“ – And Appraising Article 122 of the Contract Law, Modern Law Science 2003, Vol. 25, Nr. 1, S. 40–47. Zhu, Qingyu: Zwei Gedanken zur Kodifikation des chinesischen bürgerlichen Rechts, Peking University Law Review 2001, Vol. 4, Nr. 2, S. 553–568. Zou, Hailin: Konkurrenz zwischen dem Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung und den anderen Ansprüchen, Studies in Law and Business 2000, Nr. 1, S. 55–63. Zuo, Mu: Einige Gedanken zum Aufbau des Instituts der richterlichen Aufklärungsbefugnis in China, People’s Judicature 2006, Nr. 11, S. 56–60.

Sachwortverzeichnis actio –– Bedeutungen der  43 f. –– in personam  48, 53 –– rem  48 f. Aktionenkonkurrenz  53 f., 69 aktionenrechtliches Denken 55, 69, 75, 79, 85, 101, 225, 253 Aktionensystem  44, 55, 61 ff., 81 allgemeine Ausschlusswirkung  48 ff., 53, 71, 85 Anspruchsgrundlage  38, 104, 125, 182, 236 f., 245 f., 249, 283 ff. Anspruchskonkurrenz  38, 70, 95 ff., 135, 138, 160, 164 f., 170 f., 208, 221 f., 225 ff., 237, 245 f., 252 ff., 283 f., 288 ff. –– in engerem Sinne 98 ff., 109, 112, 114, 117 f., 125 f., 135, 138 f., 154, 160, 164, 170 f., 176, 208, 222, 225 ff., 237, 245 f., 256 f., 290, 298 –– in weiterem Sinne  97 Anspruchsnorm  43, 93 ff., 104, 115 ff., 135, 139, 166, 175 ff., 237, 246, 249, 253 Anspruchsnormenkonkurrenz 115 Begriffsjurisprudenz  36, 102, 221, 223 f. bis de eadem re ne sit actio  49, 80 concursus actionum  52, 57 condemnatio  46 f. cumulatio actionum  75 da mihi facta, dabo tibi ius 66, 234, 241, 251 demonstratio  46 ff., 50 ff. dialogische Struktur des Erkenntnisverfahrens  244 Dispositionsmaxime  151, 161, 169, 228, 233, 239, 265 f. eadem res  53, 57, 79, 81 f. editio actionis  54

effektiver Rechtsschutz  211 f., 214 f., 219, 224, 235 f., 247, 252, 258, 277, 281, 289, 292 elektive Konkurrenz  70 exceptio litis pendentis  77 f. exceptio rei in iudicium deductae  56, 77 exceptio rei iudicatae  49, 56, 74, 80 f. Feststellungsklage  109, 127 ff., 136, 139 ff., 187 ff., 198, 203, 207, 210, 212 f., 254, 257 formula  44, 46 f., 55, 57 fundamentum agendi  73 Gesetzeskonkurrenz  95 ff. Gestaltungsklage  109, 144 ff., 258 Harmonie der Gesellschaft  276, 279 Individualisierungstheorie  69, 158, 238 f. Inquisitionsmaxime  69, 151 intentio  46 ff., 50 ff. –– certa 50 –– incerta  48, 50 f. iura novit curia  66 ff., 71, 79, 82, 87 f., 118, 234, 238 ff., 241, 243, 245, 247 ff., 296 Juristenausbildung  239, 252, 267, 289, 294, 296 Justizgewährungsanspruch  190, 207, 212 Kernpunkttheorie  183 ff., 301 Klageänderung 44, 57, 72 ff., 122 ff., 128, 148 f., 153, 167, 180, 232, 285, 288, 299 Klagegrund  46 f., 50, 53 f., 59 ff., 76, 79, 82, 88, 122 ff., 129 f., 138, 158 f., 161, 238, 240, 284, 292, 298, 300 Klagenhäufung  44, 75, 119 f., 298 Klagenkonkurrenz 70 Klagerecht  63, 65, 70 ff., 81 f., 91, 102 f. Klaglibell  72 f., 75 f., 79 Konstruktivismus  35, 102, 156, 221 f.

Sachwortverzeichnis Lebenssachverhalt  61, 96 f., 99 f., 110, 117 f., 120  f., 124, 126  f., 129  f., 134  f., 139, 145 f., 153, 155, 157 ff., 189, 194, 196 f., 200, 202, 205, 209, 215, 227, 230 f., 237, 245, 249, 255 f., 291, 293, 299, 301 liberaldemokratische Gesellschaft  228, 233 lis  77 ff. Lis pendens  219 litis contestatio  44 ff., 48 f., 51, 53 ff., 73 Marktwirtschaft  274 f., 279 materielle Rechtskraft  55, 77, 133 f., 141 f., 148, 153, 155, 179 ff., 208, 210, 212, 246, 256 f., 300 f. Pandekten  62, 221 petitio  61 f. petitum 73 praescriptio  46 ff., 51, 54 präjudizielle Frage  199 Präklusion  150 f., 160, 180 Principles of Transnational Civil Procedure 291 Prozessauffassung –– liberale  246 f., 275 –– soziale  243, 246 f., 251 Prozessökonomie 84, 105, 119, 122, 148, 169, 172, 174, 211 f., 215 f., 224 f., 235 f., 247, 295 prozessuale Konsumtion  45, 48 ff., 85 prozessualer Anspruch  44, 64 f., 85, 90, 103, 112, 109 f., 119 ff., 127, 158, 162, 179, 227, 229, 240, 254 f., 257, 291, 300 f. Rationalismus 102 Recht –– materielles 31, 36, 38, 41, 52, 57, 59, 61 ff., 68, 70, 72, 75, 86, 91 ff., 101, 103 ff., 114 ff., 119, 130 ff., 145, 160, 174 ff., 176 ff., 182, 235 f., 249, 252 f., 255 ff. –– objektives  61, 94, 97, 237 –– subjektives 59 ff., 91 ff., 97, 100, 105, 180, 209, 234, 237, 242, 245, 247, 249, 268, 288, 292, 295 Rechtsbegehren  44, 61, 126 f., 153, 155, 158, 163, 165, 168, 171, 173 f., 176 f., 179 f., 182, 196, 215, 230, 236, 250 f., 292 f., 301 Rechtsfolgenbehauptung 127, 146, 163, 166 ff., 182, 196 f., 199, 226, 256, 292 f.

327

Rechtsfrieden 45 f., 49, 52, 54, 59, 83 ff., 104 f., 118, 135, 169, 171 f., 174, 185, 219, 224 f., 235 f., 247, 249 f., 252, 258, 279, 286, 288 f., 292 Rechtshängigkeit  47, 49 f., 54 f., 77 ff., 125 ff., 149, 153 ff., 167, 180, 185, 187, 190 ff., 200 ff., 288, 293, 299 ff. Rechtskreis –– anglo-amerikanischer  34, 217, 220, 223, 251, 258, 270, –– germanischer 31, 34, 42, 89, 217, 220, 223, 228, 232, 234, 241, 282 –– kontinental-europäischer 32, 232, 241, 270, 281, 283 f., 296 –– romanischer  34, 217, 220, 250 f. Rechtsrezeption  272, 277 ff., 280, 294 Rechtsschutzanspruch  64, 226 Rechtsschutzbegehren  166, 180, 236 Rechtssicherheit 52, 54, 83 ff., 104 f., 150, 169, 171 f., 174, 214, 225, 230 f., 235, 247, 249, 271, 286, 288, 294 Reform- und Öffnungspolitik  263, 267 f., 270, 273, 278 res  77, 79, 81 Res judicata  219 richterliche Aufklärungs- und Hinweispflicht  69, 161, 178, 241 ff., 297 Solutionskonkurrenz  56, 71, 84 ff. Straßenbahnunfall  97, 99, 109, 115 Streitgegenstand –– Identität des 50, 54  f., 81, 121, 125, 127 ff., 133 f., 166, 183, 193, 196, 199, 202, 205, 208, 229, 231, 258 –– Teilidentität des 128 f., 134, 141, 143, 183, 199 f., 202, 215 f., 229 Streitgegenstandsbegriff –– einheitlicher  39, 77, 113, 118, 127, 137, 144, 146 ff., 151 ff., 230 f., 293 f. –– variabler  137, 144, 146 ff. Streitgegenstandstheorie –– eingliedrige prozessuale 113, 117 f., 120 ff., 124 f., 126 ff., 134, 137, 148 f., 153 f., 156, 162 ff., 227, 294 –– klassische zweigliedrige prozessuale 109 ff., 114, 117  f., 120  ff., 124, 126, 128  ff., 134 f., 137, 139, 144, 148 f., 152 ff., 156 f., 180, 226, 286

328

Sachwortverzeichnis

–– neue materiellrechtliche  114 ff., 162, 164 f., 175, 178 f., 226, 229, 286 –– ursprüngliche materiellrechtliche  108 f., 145, 154, 164, 173, 178 f., 182, 209, 225, 229 f., 284 ff., 294, 299 –– verbesserte zweigliedrige prozessuale  139, 153, 161 f., 166, 172 f., 177, 181, 224, 227, 229 ff., 248, 250, 293 ff., 298 f., 302 Substantiierungstheorie  69, 88, 158, 238 f. super ex officio doctrine  266, 269 Tatbestand  46, 53, 93 ff., 98 ff., 175 f. Tatbestandsmerkmal 64, 97  ff., 110, 117, 139, 159 f., 171, 175 ff., 182, 255, 293 Tatsachenkomplex  82, 138, 159, 177, 181 f., 194

traditionelles chinesisches Rechtssystem  31, 260 f., 268 f., 276 Verfahrenskonzentration  118 f., 126 f., 129, 148, 169, 194, 209, 211 f., 216, 235, 237, 258, 295 Verhandlungsmaxime  60, 69, 151, 160 f., 233, 236, 243, 262, 266 Verjährung 116 Wechselprozess  129 ff. Widerklage 127, 129, 148, 198, 207, 210, 212 Zuständigkeitskonkurrenz  167, 298, 302 Zwischenfeststellungsklage  198, 212