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German Pages 410 Year 2021
Julia Kröger Paris (re)konstruieren
Lettre
Julia Kröger hat am Institut für Romanistik an der Universität Paderborn promoviert und gelehrt. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die französische Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts, insbesondere den Naturalismus Émile Zolas und die Stadt Paris, soziale und literarische Raumtheorien sowie die Schnittpunkte zwischen Literatur und Wissenschaft.
Julia Kröger
Paris (re)konstruieren Der Stadtraum in den Arbeitsbüchern und Romanen Émile Zolas
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Fassung der Schrift, die von der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn als Dissertation zur Erlangung des Grades Doktor der Philosophie (Dr. phil.) angenommen wurde.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Das Paris Émile Zolas, Marianne Delgado Klamroth Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5644-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5644-6 https://doi.org/10.14361/9783839456446 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis................................................................... 9 Danksagung .............................................................................. 11 1.
Einleitung...........................................................................13
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung.. 37 2.1 Der Raum als Container ............................................................ 37 2.2 Vom Containerraumdenken zur Rolle des Menschen in der Konstitution von Raum im Roman ............................................. 43 2.3 Zusammenfassung .................................................................. 51 2.4 Prämissen der vorliegenden Arbeit ................................................. 54 2.4.1 Elemente der Raumkritik..................................................... 54 2.4.2 Kriteriengeleitete Prüfung der bisherigen Arbeiten zum Raum im Zola’schen Œuvre .............................................. 57 Entwicklung des eigenen Raummodells ............................................. 61 Die Triplizität von Raum bei Henri Lefebvre.......................................... 62 3.1.1 Représentations de l’espace – espace conçu .................................. 63 3.1.2 Pratique spatiale – espace perçu ............................................. 64 3.1.3 Les espaces de représentation – espace vécu ................................ 65 3.2 Zur Wahl der Raumtheorie Henri Lefebvres ......................................... 67 3.3 Raummodell – die Produktion von Raum in der Literatur ............................. 78 3.3.1 Mimèsis I – Präfiguration .................................................... 82 3.3.2 Mimèsis II – Konfiguration.................................................... 84 3.3.3 Mimèsis III – Refiguration ................................................... 103
3. 3.1
4. 4.1
Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris..107 Die Präfiguration von Raumverständnis, Raumwahrnehmung und Raumerfahrung Zolas...........................................................107 4.1.1 »Vers un avenir inconnu« – Zolas Eroberung von Paris ...................... 108
4.1.2 »L’activité dans les sciences« – Raumideologie und theoretische Erforschung des Raums ........................................ 121 4.2 Die Dossiers préparatoires – Arbeitsmethode Zolas und selektiertes Textrepertoire .. 136 4.2.1 Émile Zola – »génie intuitif et génie constructeur« .......................... 136 4.2.2 Das räumliche Textrepertoire von La Curée, Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames – eine Synthese ................................. 142 4.3 Zusammenfassung ................................................................ 163 Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée ........167 Der alltägliche Ennui: Entzauberung und Reauratisierung im urbanen Naturraum – le retour du Bois ...........................................172 5.1.1 Der rätselhafte Alltag zwischen Faszination und Indifferenz: Mobilität und Stillstand, Öffentlichkeit und Intimität als Parameter der Inszenierung von Raum ..................................................174 5.1.2 Ennui erfahren und verstehen oder: der Ennui als außeralltägliches Ereignis und Mittel der relationalen Raumproduktion......................... 186 5.2 Auf der Suche nach dem eigenen Raum im Alltag – Raumbesetzung und Entortung .. 195 5.2.1 Die Produktion von Alltäglichkeit – exposer Paris ............................ 196 5.2.2 Orte des Nicht-Alltäglichen – das Fremde im Vertrauten ..................... 207 5.3 Zusammenfassung ................................................................ 222 5. 5.1
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris . 225 6.1 Einleitung: monter vers Paris ...................................................... 229 6.2 Exposition – les Halles als moderner Chronotopos: die Erkundung der Arena des Kampfes zwischen »Maigres« und »Gras« ............................... 239 6.2.1 Florents Eintritt in die Pariser Hallen: zur Verräumlichung kollektiver Erinnerung ...................................................... 240 6.2.2 Die Hallen als gigantisches Stillleben und moderner Erlebnisraum............ 246 6.2.3 Die Mechanismen des panoptischen Raums ................................. 255 6.3 Durchführung: Florent im Kampf gegen den Markt .................................. 264 6.4 Reprise: Spiel und Trieb – das Unbewusste der Hallen............................... 270 6.5 Kadenz: Rückzugsorte von der pathologischen Großstadterfahrung ................. 274 6.6 Coda: Die Konspiration der Hallen oder: das Ausscheiden Florents .................. 276 6.7 Zusammenfassung ................................................................ 282 7. 7.1 7.2
Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur ..... 285 Das Theater als Modell der Roman- und Raumproduktion Zolas...................... 288 Setting the scene – das Börsenviertel als Theaterraum.............................. 293 7.2.1 Zuschauer vor den Toren zum Paradies ..................................... 294 7.2.2 Denises Debüt im Ensemble Mourets oder: der Aufgang auf die Bühne als Eingriff in die totalitäre Raumordnung des Bonheur ............... 307
7.3 Showtime – zur Aufführung von Geschichte(n) im Theaterraum....................... 317 7.3.1 Die Generalprobe im Appartement von Henriette Desforges: Mouret als Patriarch und Eroberer – ein Meister der Selbstinszenierung ...... 320 7.3.2 »Der Widerspenstigen Zähmung«: Die Inszenierung der siegreichen Nation .. 323 7.3.3 »Die Rache der Frauen« – Akteurinnen im öffentlichen Raum ................ 332 7.4 Zusammenfassung ................................................................ 346 8.
Fazit .............................................................................. 349
Anhang ................................................................................. 357 Bibliographie ........................................................................... 367 Primärliteratur .......................................................................... 367 Sekundärliteratur ....................................................................... 369
Abkürzungsverzeichnis
CDLP Die Angabe bezieht sich auf die beim Verlag Cercle du livre précieux erschienenen Œuvres complètes von Émile Zola. Herausgegeben von Henri Mitterand. 15 Bd. Paris: Fasquelle 1966-1969. Es wird zuerst auf den Band, dann auf die Seite verwiesen. NM Die Angabe bezieht sich auf die beim Verlag Nouveau Monde erschienenen Œuvres complètes von Émile Zola. Herausgegeben von Henri Mitterand. 21 Bd. Paris: Nouveau Monde Éditions 2002-2007. Es wird zuerst auf den Band, dann auf die Seite verwiesen. Corr Die Angabe bezieht sich auf die Correspondance Émile Zolas. 10 Bd. Herausgegeben von Bard H. Bakker. Montréal/Paris: Les Presses de l’Université de Montréal/CNRS Éditions 1978-1995. Die Reihenfolge der Angabe ist wie folgt: Band, Seite, Datum (und Adressat des Briefs). Car Die Angabe bezieht sich auf die Carnets d’enquêtes Émile Zolas. Die Notizbücher sind Teil der Dossiers préparatoires Zolas. Herausgegeben von Henri Mitterand. Plon 2005 [1986]. CN Die Zitate stammen aus den Contes et Nouvelles in der Pléiade-Ausgabe. Herausgegeben von Roger Ripoll. Paris: Gallimard 1976. Die Zitate aus den Romanen der Rougon-Macquart-Reihe verweisen auf die Pléiade-Ausgabe. Herausgegeben von Armand Lanoux und Henri Mitterand. 5 Bd. Paris: Gallimard 1960-1967. La Curée und Le Ventre de Paris sind im ersten Band von 1960, Au Bonheur des Dames im dritten Band von 1964, L’Œuvre im vierten Band von 1966 und La Débâcle sowie Le Docteur Pascal im fünften Band von 1967 zu finden. Die verwendeten Titel werden wie folgt abgekürzt: C La Curée (1872) VP Le Ventre de Paris (1873) ABD Au Bonheur des Dames (1883) Œ L’Œuvre (1886)
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D La Débâcle (1892) DP Le Docteur Pascal (1893) N.a.f. N.a.f. steht für »nouvelles acquisitions françaises« und bezieht sich auf die Originalseiten der Dossiers préparatoires Émile Zolas. Der Hauptteil der Originalseiten (folios, später f°) liegt im Département des Manuscrits der Bibliothèque nationale de France in Paris. Einige Bände der Dossiers préparatoires (später Dossiers) wurden zwischen 2003 (Band I) und 2017 (Band VII, 1) unter der Leitung von Colette Becker veröffentlicht. Für den Roman Au Bonheur des Dames liegen zwei Arbeitsbücher vor. Im Text wird die Angabe wie folgt gemacht: Es werden jeweils der Name und die Nummer des Arbeitsbuchs aus dem Katalog der BNF angegeben. N.a.f. 10282 N.a.f. 10338 N.a.f. 10277 N.a.f. 10278 N.a.f. 10303 N.a.f. 10345
La Curée Le Ventre de Paris Au Bonheur des Dames Es wurden die »Notes générales sur la marche générale/ sur la nature de l’œuvre« konsultiert.
Danksagung
Die vorliegende Monographie stellt den vorläufigen Endpunkt einer wissenschaftlichen Reise dar, die am Institut für Romanistik der Universität Paderborn startete, mit der Einreichung der Dissertation im Jahre 2017 ein Zwischenziel erreichte, ihren Ursprung jedoch schon viel früher im Kreise meiner Familie und deren Liebe für Bücher nahm. Hier wurden Rüstzeug und Motivation für die intensive Auseinandersetzung mit Literatur vermittelt. Mein Dank gilt daher an erster Stelle meiner Familie, die mir auf meiner Reise stets zur Seite stand und mir an entscheidenden Etappen über mentale, emotionale und praktische Hürden hinweggeholfen hat: Janina und Marina Kröger – merci! Dass sich aus ersten organisatorischen Gesprächen über das Promovieren sowie inhaltlichen Diskussionen über Paris im 19. Jahrhundert, über Émile Zola und den Naturalismus eine konkrete Idee und vor allem fertige Dissertation entwickeln konnte, habe ich der Unterstützung, Hilfe und Sachkenntnis vieler Menschen in meinem Umfeld zu verdanken. Mein Betreuer, Prof. Dr. Stefan Schreckenberg, hat sich meines Projekts von Beginn an mit der gelungenen Balance aus Fachkompetenz, konstruktiver Kritik, Pragmatismus und Zuversicht angenommen. Ich habe die eingehenden Besprechungen der Kapitel dieser Arbeit als sehr bereichernd empfunden: Sie haben nicht nur inhaltliche und stilistische Korrekturen ermöglicht, sondern immer auch neue Energie für die nächsten Schritte gegeben. Sein Rat und Know-how haben sich bis in die Phase der Publikation der Arbeit als äußerst hilfreich erwiesen. Mein herzlicher Dank! Für die gründlichen Kommentare zu meiner Dissertation möchte ich zudem Prof. Dr. Sabine Schmitz danken. Bereits im Doktorandenkolloquium haben ihre fachlichen und methodischen Hinweise für die Schärfung von Terminologien und Theorie gesorgt. Gedankt sei ferner Prof. Dr. Annegret Thiem, PD Dr. Stefan Gross und Martina Welling für den reibungslosen Abschluss meines Promotionsvorhabens. Für die gemeinsamen Fahrten nach Paris, die zahlreichen Hinweise und Gespräche bei Tisch, für seine unkonventionelle Art und seine Freundschaft möchte ich Stefan Gross danken. Ohne seinen Zuspruch hätte ich das Abenteuer Promotion wohl nicht begonnen und in der Folge auch nicht Dr. Imke Jahns-Eggert und ihre Familie kennengelernt. An die interessanten Gespräche und schönen (Sommer-)
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Tage im Hause der Eggerts denke ich immer gern zurück. Meiner guten Freundin Karina Lammert danke ich für ihre fachliche Expertise und ihre Gründlichkeit beim Lektorieren des Manuskripts. Mehr noch möchte ich ihr aber für ihr stets offenes Ohr und ihre Anteilnahme an meinem Leben danken. Dies gilt auch für Patrick Fink, mit dem ich nun schon seit geraumer Zeit über das Promovieren und das Leben philosophiere. Mein Dank geht außerdem an Daniel Kaimann, der mir in Gesprächen oftmals blinde Flecken in der eigenen Wahrnehmung aufgezeigt hat. Der kollegiale Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen am Institut für Romanistik war während meiner Zeit in Paderborn sehr wichtig. Besonders möchte ich an dieser Stelle Amélie Charvet, Elise Rynkowski, Veit Husemann, Vicente Álvarez Vives und Delphine Launay erwähnen. Darüber hinaus hat meine Arbeit am Graduiertenforum KW mit Kevin Dear, Katharina Gefele und Julia Steinhausen für Abwechslung und weniger eigenbrötlerische Isolation im Wissenschaftsbetrieb gesorgt. Timo Kaerlein danke ich für den amüsanten und erhellenden Blick über den Tellerrand (und dies nicht nur in der Mensa). Für ihr Verständnis und ihr Vertrauen in mich danke ich meinen Freundinnen Natascha Filep, Anika Langkafel, Bianca Wehmeier, Elke Voits, Verena Eckert, Marcia Richards, Marina Glahe-Bracht, Sonja Jacobs, Ina Kleibrink und Judith Eberharter. Ebenso zu Dank verpflichtet bin ich Elisa Spenner und Pamela Peters für ihre Hilfe, die sich nicht allein auf die Durchsicht einzelner Kapitel der Arbeit beschränkte. Zuletzt freut es mich, dass ich Marianne Delgado Klamroth für die Gestaltung des Titelbilds gewinnen konnte. Mit seiner Leidenschaft für Ideen, seiner fachlichen Brillanz und (politischen) Integrität hat mich Daniel Hartley immer wieder aufs Neue dazu motiviert, über selbst gesetzte Grenzen hinauszudenken. Dan hat einen wichtigen Anteil an der Entwicklung des Projekts gehabt und an entscheidenden Stellen der Arbeit mit Geschick und Weitsicht geholfen, die richtigen Weichen zu stellen. Unsere lebhaften Diskussionen mit Terry Craven, Natalya Bekhta und Gero Guttzeit haben mir wiederholt vor Augen geführt, was den Kern von Wissenschaft und Freundschaft ausmacht. Ohne Dans bedingungslose Unterstützung und Liebe wäre dieses Buch nicht zum Abschluss gekommen. Dan: sans toi non plus. Die Kraft, Weisheit und Fürsorge meiner Großmutter, Hanny Rüther, haben mich mehr geprägt als ihr vielleicht bewusst war. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Julia Kröger Oktober 2020
1. Einleitung
Paris zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Émile Zolas. Bereits frühe Romane wie La Confession de Claude (1865) oder Thérèse Raquin (1867) spielen in der Metropole, die in der Rougon-Macquart-Reihe (1870-1893) zum Schauplatz der Hälfte aller Romane wird. Und auch im Zyklus der Trois Villes (1894-1898) erhält Paris im gleichnamigen Band einen prominenten Platz. Das Interesse an der Hauptstadt ist die logische Konsequenz des naturalistischen Anspruchs auf eine vollständige Wiedergabe der soziokulturellen Realität im Second Empire. Doch ist die Faszination Zolas auch in der Biographie des Autors begründet. Als Zola 1858 nach Paris zurückkehrt, befindet sich die Stadt in vollem Umbau. Der Präfekt Georges-Eugène Haussmann hat soeben den ersten von drei réseaux beendet, dessen imposanteste Neuerung die grande croisée mit ihren breiten Boulevards im Zentrum ist. Es ist diese problematische Etappe in der Transformation von Paris, der Zolas Werk entspringen soll. Der Autor dokumentiert und verarbeitet die Entstehung urbaner Großstadtstrukturen mit den Mitteln der Literatur. Die vorliegende Arbeit widmet sich genau diesen Verfahren der Raumkonstruktion in ausgewählten Arbeitsbüchern und Paris-Romanen Émile Zolas. Zolas Streifzug durch Paris in der Phase der Vorbereitung der Romane führt den Autor an verschiedene Viertel der Stadt. In den Arbeitsbüchern, den Dossiers préparatoires, hält er beispielsweise für Le Ventre de Paris das Treiben in den Markthallen fest; er skizziert Pläne der Gebäude, notiert Gesprächsfetzen und sammelt erste Ideen für die Geschichte, bevor er die Notizen für den Roman ausbaut. Diese Verfahren, den Stadtraum zu erforschen und erzählbar zu machen, dienen – entgegen häufiger Annahmen – nicht (nur) der Provokation der Kritiker oder der Selbstprofilierung im Literaturbetrieb; sie haben einen Eigenwert, der als fortschrittlich einzustufen ist, was bis dato nicht erschöpfend diskutiert worden ist. Sowohl Zolas (physisches) Eintauchen in eine unüberschaubar gewordene Pariser Lebenswelt als auch die inhaltliche und formale Versprachlichung dieser Erfahrung legen Zeugnis ab von einem gesteigerten Bewusstsein für raumbezogene Prozesse: die moderne Architektur, öffentlichen Festivitäten, neuen Werbeformate oder Weltausstellungen, kurz, der Hang zur Exposition als Ausdruck entstehender Räume des Scheins und des Pomps auf der einen Seite; das Vertreiben der Arbeiterklasse an
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den Stadtrand, die Banlieue, und der Kampf ums Überleben im Zeichen von kapitalistisch motivierter Enteignung von Raum auf der anderen Seite. Immer knüpft Zola die neuen urbanen Motive in seinen Romanen an räumliche Aushandlungsprozesse zwischen den Gewinnern und Verlierern des Fortschritts: Zu denken ist an Pierre und Félicité Rougons Streben nach Ruhm in der Stadt Plassans (La Fortune des Rougon), die Raumspekulationen Aristide Saccards im modernen Paris (L’Argent, La Curée), den Schutz des Territoriums in den Hallen durch Lisa Quenu (Le Ventre de Paris), den Geschäftsgeist Octave Mourets in der Kaufhauswelt (Au Bonheur des Dames) oder den Aufstand der Arbeiter in den Minen von Germinal.1 Wichtig ist, dass solche Aushandlungsprozesse ebenso auf Ebene des Texts bzw. des Textraums stattfinden, wenn nämlich Zola den Stadtraum mit narrativen Mitteln zum Leben erweckt, die Merkmale moderner Literatur erahnen lassen: »Die Welt Zolas ist schnell, grau, lärmend, geruchsintensiv, sinnlich direkt, ja vulgär – die Stasis der Flaubertʼschen Geschichte weicht einer energiegeladenen Welt des Umbruchs«, schreibt Niklas Bender (2009: 198).2 Zolas unverblümte Wiedergabe von Paris ist dabei mehr als ein Angriff auf die Bourgeoisie und die Politik des Second Empire. Das zentrale Argument dieser Arbeit ist, dass Zola den sozialen Raum der Stadt Paris in seinen materiellen, mentalen und symbolischen Dimensionen auf innovative Weise erfasst und dem Menschen dabei eine viel aktivere Rolle zukommt als bislang gedacht. Es stellt sich berechtigterweise die Frage, wie sich dieser Ansatz zu denjenigen Studien verhält, die das Phänomen der Stadt bei Zola traditionell im Rahmen der Milieutheorie analysieren. Es ist ein Gemeinplatz, Zola mit dem Milieudeterminismus Hippolyte Taines in Verbindung zu bringen, beruft sich der Autor doch explizit auf dessen Begriffstryptichon von race, milieu und moment. Gemäß einem
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Auch die meisten anderen Romane der Reihe thematisieren den Gewinn oder den Verlust von Raum, so zum Beispiel der Machtgewinn Abbé Faujasʼ in Plassans (La Conquête de Plassans), der Aufstieg Eugène Rougons auf die politische Bühne von Paris (Son Excellence Eugène Rougon), das Eindringen Octave Mourets in die Privaträume der Bourgeoisie in Pot-Bouille, Gervaises sozialer Abstieg in L’Assommoir, der Einfluss Nanas auf die Pariser Gesellschaft (Nana), die kriegerische Auseinandersetzung in La Débâcle, Hélènes Blicke auf Paris in Une page d’amour oder die brutalen Machenschaften der Familie Fouan in Rognes (La Terre) und der Roubaud in La Bête humaine. Es sei noch erwähnt, dass mit Ausnahme der Stadt Plassans (La Fortune des Rougon, La Conquête de Plassans), die geographisch zwar mit der Stadt Lorgues zusammenfällt, aber die Heimat Zolas, Aix-en-Provence, zur Schau stellen soll, alle Romane Zolas an real existierenden Orten spielen. Wenn in dieser Arbeit von Raum als Teil von Aushandlungsprozessen die Rede ist, setzt dies keine ontologische Räumlichkeit voraus, sondern die Existenz struktureller Bedingungen oder materieller Gegebenheiten, die verhandelt werden. Auch Auguste Dezalay konstatiert: »[L]e monde des Rougon-Macquart est protéiforme et polymorphe, tout entier placé sous le signe d’une continuelle et immense métamorphose« (1983: 55).
1. Einleitung
mechanistischen Weltbild versteht Taine unter Milieu die geistige und materielle Umwelt, die den Menschen formt, und definiert dessen Erbanlagen (race) und historische Situation (moment) als weitere Einflussfaktoren. Der Philosoph stößt mit der Vorstellung einer unilateralen Determinierung durch das Milieu auf große Zustimmung und popularisiert den Begriff besonders auch in den Literaturkreisen bzw. für Zolas literarisches Projekt.3 Gleichzeitig leistet Taine jedoch auch einen entscheidenden Beitrag zur Verkürzung der Bedeutungsebenen des Milieubegriffs und seiner Verhandlung – und dies auch im Werk Zolas. Denn in der Folge wird häufig die im Positivismus Auguste Comtes oder in der Experimentalmedizin Claude Bernards aufgerufene Idee der wechselseitigen Beeinflussung von Mensch und Milieu in der Debatte um den Determinismus vernachlässigt.4 Für Comte, der den Milieubegriff überhaupt erst aus der Physik (Isaac Newton, Jean-Baptiste de Lamarck) und der Biologie (Étienne Geoffroy Saint-Hilaire) in die Soziologie überführt hatte, liegt in der Untersuchung der Korrespondenz zwischen Lebewesen und Milieu gegenüber einer Analyse der rein äußeren Bedingungen der entscheidende Erkenntnisgewinn. Er hält im Cours de philosophie positive (1830-1842) das auf Aktion und Reaktion basierende Gleichgewicht zwischen innerem und äußerem Milieu fest – »[…] le système ambiant ne saurait modifier l’organisme sans que celui-ci n’exerce à son tour sur lui une influence correspondante« (1838: 302) – und verleiht dem Organismus nicht nur eine zentrale Rolle in biologischen, sondern vor allem auch in gesellschaftlichen Prozessen (vgl. Cheung 2014: 251; Sprenger 2014: 13). Zola beruft sich zwar auf die Arbeiten Comtes zum
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Parallel zu den Wissenschaften macht die Literatur den Milieubegriff über seine biologische Dimension hinaus für eine breitere Leserschaft verfügbar; der Ausdruck soziales Milieu etabliert sich bereits im Zeitraum zwischen 1818-1830, zu denken ist vor allem an Balzacs Analogie von zoologischen Arten und sozialen Typen eines Milieus. Letzteres wird also nicht mehr nur im physikalischen oder biologischen Sinne räumlich-quantitativ als der bloß umgebende Äther oder die Luft, in die der Organismus gebettet ist, gedacht, sondern in ein qualitatives Verhältnis zum Menschen gesetzt (vgl. Strappazzon 2018: 63, 161ff.). Valentin Strappazzon erläutert in seiner linguistischen Studie, warum der Milieubegriff als polysem zu begreifen ist und durchläuft dessen historische Entwicklungsstufen: Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sei eine Übertragung aus der Physik in die Biologie und Humanwissenschaften zu verzeichnen, was zu einer semantischen Ausweitung des Begriffs in verschiedene Fachbereiche, darunter auch die Literatur, geführt habe (vgl. Strappazzon 2018: 107). Der Term Milieu beschreibe erstens einen »intermédiaire, modificateur de l’élément de départ«, zweitens ein »élément où l’on baigne« oder aber drittens ein »ensemble de circonstances pouvant exercer une influence sur l’être – les êtres – qu’elles entourent« (ebd.: 169). Obwohl in den letzten beiden Fällen der »rapport action–réaction–interaction« von Bedeutung sei und »les êtres vivants, actifs« eine wichtige Rolle im »rapport englobant/englobé« spielten, würde die Partizipation des Menschen im Vitalprozess auf die deterministische Lesart verkürzt. Ausschließlich diese dritte Bedeutungsebene werde im 19. Jahrhundert weiterentwickelt und lasse die Facette der Wechselwirkung in Vergessenheit geraten (ebd.).
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Positivismus und beschreibt sein Projekt selbst als »sociologie pratique« (CLDP, X: 1188), entlehnt die Theorie des milieu intérieur organique jedoch aus der Experimentalphysiologie Bernards.5 Letzteres wird als eine von chemischen wie physikalischen Gesetzen bestimmte Umgebung höher entwickelter Organismen definiert, die in einem funktionalen Austausch mit dem milieu cosmique extérieur steht (Bernard 1865: 108f.). Je raffinierter das innere Milieu des Lebewesens, desto geringer die direkte Einwirkung durch das äußere Milieu: Le milieu cosmique général est commun aux corps vivants et aux corps bruts; mais le milieu intérieur créé par l’organisme est spécial à chaque être vivant. […] En effet, considérées dans le milieu général cosmique, les fonctions du corps de l’homme […] nous paraissent libres et indépendantes des conditions physicochimiques de ce milieu […] (Bernard 1865: 130, 136). Zola greift die Vorstellung der Interaktion zwischen innerem und äußerem Milieu auf, reichert sie um die Vererbungs- und Degenerationslehre Prosper Lucasʼ und Bénédict Augustin Morels an und schafft mithilfe dieser innovativen Anleitung für die Figuren- und Romankonzeption die Brücke von der Wissenschaft zur Literatur.6 Charaktere sollen anhand ihres inneren Milieus, das heißt ihrer psychischen wie psychopathologischen Erbmerkmale entworfen und in ein äußeres, soziales Milieu eingelassen werden; die Handlung wiederum werde dann nicht durch das Zufallsprinzip, sondern durch das geplante Aufeinandertreffen dieser Charaktere bzw. Temperamente in ihrem Milieu angestoßen.7 Der Ausgang der Experimente
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Mit Comte teilt Zola außerdem die Ablehnung von Religion und Metaphysik sowie den Glauben an den Fortschritt und an eine sozial-liberale Gesellschaft, die aus dem theologischen und dem metaphysischen Stadium in ein positives, das heißt wissenschaftliches Stadium übergehen soll (vgl. Harth-Peter 1994: 296). Bekanntlich hat Zola die Arbeiten Comtes nicht sehr umfangreich studiert und bezieht sein Wissen über den Positivismus in erster Linie aus den Arbeiten Émile Littrés sowie Artikeln des Larousse (vgl. Ripoll 1978: 125f.). Wie an späterer Stelle noch weiter ausgeführt werden wird, übernimmt Zola mitunter die Methodik der Experimentalmedizin, die Claude Bernard aus der Chemie und der Physik entlehnt, und sieht in der Übertragung des Wissens von innerem und äußerem Milieu für literarische Zwecke die natürliche Weiterentwicklung der physiologischen Wissenschaft (vgl. Kapitel 4.2). Zola hat im zweiten Vorwort zu Thérèse Raquin (1868) sowie im Vorwort zu La Fortune des Rougon (1871) die bereits von Hippokrates entworfene und von Taine propagierte Temperamentenlehre im Sinn, wenn er von den »troubles profondes d’une nature sanguine au contact d’une nature nerveuse« spricht, welche durch das Aufeinandertreffen zweier Temperamente ausgelöst würden (CDLP, I: 519-520; vgl. Mitterand 2009: xii). Neben Prosper Lucas findet Zola zudem in Bénédict Augustin Morels Degenerationslehre und ihrer Beschreibung der Verfallsstufen im Erbgang sowie dem Darwinismus Material für die Konzeption und Ausgestaltung seiner Romanreihe.
1. Einleitung
im Roman könne entsprechend zu Aussagen über die Gesetzmäßigkeiten des sozialen Verhaltens von Menschen in Gesellschaftsformen verallgemeinert werden. Während die genauere Aufschlüsselung von Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Handelns (im Roman) den Milieudeterminismus zu untermauern scheint, ergeben sich aus dem von Zola erkannten Zusammenspiel von innerem und äußerem Milieu Reibungsflächen, die die einseitige Beeinflussung des Menschen durch das äußere Milieu auszuhebeln scheinen. Spätestens im Roman wird deutlich, dass eine dem inneren Milieu der Charaktere inhärente Vitalkraft sowie die narrativen Mittel der Realitätswiedergabe das fixe Regelkorsett zu sprengen und den libre arbitre des Menschen zu restituieren in der Lage sind.8 Hieraus resultieren nicht unproblematische Widersprüche in der Milieutheorie und der Roman-Praxis des Autors. Obwohl die Zola-Forschung das Verhältnis von biologischem und sozialem Determinismus debattiert und die Idee der unilateralen Einwirkung des Milieus auf den Menschen teils revidiert hat, wird dem Hinweis auf Interdependenz inhaltlich und formal nicht ausreichend Rechnung getragen (vgl. de Faria 1977: 231).9 Stattdessen wird erstens die Diskrepanz zwischen Zola, dem Theoretiker, und Zola, dem Romancier, mit der »thèse des deux Zola« (Barjonet 2014: 61) sloganhaft
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Dass die Romankonzeption im Falle Zolas immer auch dem Regime der Imagination und Prozessualität unterliegt und die Charaktere im Roman mit einer schöpferischen Kraft ausgestattet werden, soll im weiteren Verlauf der Arbeit noch detaillierter besprochen werden (vgl. insbesondere Kapitel 4.2). Aurélie Barjonet sieht im Verhältnis von biologischem und sozialem Determinismus einen wichtigen Streitpunkt innerhalb der Zola-Forschung. Eine marxistische Literaturkritik habe Zola lange Zeit für den Eingriff in die Handlungsfreiheit des Menschen durch seine Erbanlage kritisiert. Rita Schober habe dies korrigiert, indem sie die Abnahme des Gewichts des biologischen Determinismus im Laufe der Romanreihe nachgewiesen habe. In Frankreich dagegen verharre die Forschung in der Position, dass die Vererbung den sozialen Determinismus dominiere (vgl. Barjonet 2014: 71). Barjonet liegt richtig in der Annahme, dass sich in der Tradition Hans-Ulrich Gumbrechts und Hans-Jörg Neuschäfers der Blick mit Michel Foucault stärker auf die ambigen Epistemai, die dem Naturalismus zugrunde liegen, verschoben hat. Gumbrecht untersucht die Metaphern des Biologischen und Sozialen bei Zola und hält letztere für gelungener. Er schlussfolgert, dass der Einfluss des sozialen Determinismus größer ist als die Wirkkraft der Vererbung (vgl. Barjonet 2014: 71f., Gumbrecht 1978: 91 und Neuschäfer 1976). Weitere Arbeiten zur Epistemologie Zolas stammen unter anderem von Elke Kaiser (1990), Rainer Warning (1999 [1990]), Marc Föcking (2002) und Niklas Bender (2009). Letzterer erklärt das soziale Milieu gegenüber der Physiologie erneut für sekundär (vgl. Bender 2009: 203). Die vorliegende Arbeit hat nicht das Anliegen, diese Diskussion zu beenden. Es geht nicht darum, abschließend den dominanteren Faktor der Determination zu bestimmen, sondern im Gegenteil darum, die Blickrichtung zu ändern und den Handlungsspielraum des Menschen in ausgewählten Romanen Zolas neu zu gewichten. Da der Autor die Relationalität von sozialem Milieu und Mensch erkennt, ist diese als Ansatzpunkt für eine veränderte Perspektive zu wählen. Vgl. zur Untersuchung der Milieutheorie im Werk Zolas auch die frühen Arbeiten von Hans Wiegler (1905) und Joan Yvonne Dangelzer (1938).
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abgetan.10 Zweitens wird an einem methodischen Zugang festgehalten, der Zolas Vertextungsstrategien nur begrenzt erfassen kann. Drittens wird die Problematik des Milieubegriffs umgangen, indem auf konzeptuell-terminologischer Ebene ein Ausweichen auf den Raumbegriff stattfindet, was sinnvoll ist, wenn denn dieser Schritt begründet und das Potential des Raumbegriffs für eine veränderte Lesart des Naturalismus voll ausgeschöpft würde. Die vorliegende Arbeit setzt an genau dieser Stelle an und hat zum Ziel, die Raumkonstitution im Werk Zolas als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum auf inhaltlicher und diskursiver Ebene zu definieren. Um zu wirklich neuen Einsichten zu gelangen, müssen bisherige Lücken in der Forschung erkannt, diskutiert und systematisch weitergedacht werden. Vor diesem Hintergrund gilt es zuallererst, die Entscheidung für den zentralen Analysebegriff des Raums zu begründen, bevor weitere Ausgangspunkte dieser Studie in Anlehnung an die Zola-Forschung vorgestellt werden. Es bestehen wichtige Schnittmengen zwischen dem Raum- und dem Milieubegriff. Beide sind aufgrund ihrer semantischen Bedeutungsbreite polysem, unterliegen daher einer disziplinären Offenheit und beherbergen eine Diskussion um die Handlungsfreiheit des Menschen. Im Falle des Raumbegriffs steht diese lange Zeit im Zeichen absolutistischer und relativistischer Raumtheorien. Während der absolute Raum nach Newton ein unabhängig von Dingen und Individuen existierender, unveränderbarer Container ist, definiert sich der relationale Raum nach Leibniz über Lagebeziehungen, Positionierungen und Wechselwirkungen zwischen Dingen und Individuen (vgl. Löw 2001: 18). Im Kern geht es folglich sowohl beim Milieu- als auch beim Raumbegriff um die Frage, ob der Mensch durch absolut geltende Gesetzmäßigkeiten determiniert wird oder aber an der Produktion seiner Lebenswelt beteiligt ist. Diese Frage wird im 20. Jahrhundert multidisziplinär und vermehrt mit Blick auf den Raum als übergreifender Kategorie diskutiert. Die Verwendung des Milieubegriffs hingegen beschränkt sich zunehmend auf die Geographie, Geschichtswissenschaft und Soziologie, wobei der Begriff hier mit dem 10
Aurélie Barjonet zeichnet die Geschichte der »thèse des deux Zola« nach, die als Abwandlung von John H. Matthews Les deux Zola: science et personnalité dans l’expression (1957) zu verstehen ist. Obwohl im 19. Jahrhundert schon Autoren wie Gustave Flaubert, Jules Lemaître, Guy de Maupassant oder Stéphane Mallarmé auf die poetische Seite Zolas referiert haben, wird Zola dennoch meist auf seinen wissenschaftlichen Anspruch reduziert. Seit den 1930er Jahren und verstärkt seit Frederick W. J. Hemmings Studie von 1952/53 entdecken neben ZolaForschern auch Wissenschaftler wie André Gide, Gaston Bachelard, Michel Butor, Marcel Girard, Gilles Deleuze oder auch Roland Barthes und Julia Kristeva neue Facetten des Autors (vgl. Dezalay 1973 und Barjonet 2014: 64ff.). Laut Aurélie Barjonet haben zuerst Victor Klemperer und Roger Ripoll das Potential der Widersprüche in Zolas Schaffen zu lesen oder sogar zu überwinden gewusst (vgl. Barjonet 2014: 76f.). Sylvie Thorel-Cailleteau sieht in der These zum einen ein Hilfsmittel, um das Werk Zolas überschauen zu können, und zum anderen eine Taktik, mit der das lückenhafte Erfassen der Qualitäten Zolas kaschiert werden soll (vgl. Thorel-Cailleteau 1998: 51).
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der Umwelt konkurriert und in Klassen- und Schichtmodellen auf der gesellschaftlichen Mesoebene primär im Verhältnis zum sozialen Raum auf der Makroebene interessiert (vgl. Vester 2014 [2002]: 313 und Hradil 2006: 5).11 Ein soziologischer Raumbegriff eignet sich für die Analyse von Zolas Großprojekt daher insofern besonders gut, weil durch ihn Phänomene in den Blick geraten, die gesamtgesellschaftlichen, objektiven Charakter haben und auf Ebene von Milieus unterschiedlich verhandelt und subjektiv vermittelt werden. Im Gegensatz zum Milieubegriff bietet der Raumbegriff eine konzeptuelle Klammer für die gesamte Rougon-Macquart-Reihe: Zola führt in den einzelnen Bänden die Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung für die französische Gesellschaft vor – die Figuren sind Teil sozialer Milieus mit ähnlichen Werten, Mentalitäten und Formen der Lebensgestaltung, welche wiederum in ihrer Gänze den sozialen Raum des Second Empire konstituieren.12 Wichtig ist also, dass der Autor die Veränderungen des Stadtraums in Abhängigkeit von menschlichen Akteuren und ideologischen Strukturen beobachtet, die der Milieubegriff – trotz der ihm bei Zola inhärenten Idee der Wechselseitigkeit – nicht ausreichend abdeckt. Mehr noch: Die Rede vom Milieu bei Zola lenkt den Leser unweigerlich in Richtung eines einseitigen Determinismus. Der Begriff des sozialen Raums schafft einen Ausweg aus diesem epistemologischen Engpass – er kann den Milieubegriff ohne dessen pejorativen Sinn 11
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In der Sozialraumtheorie Pierre Bourdieus beispielsweise erfasst das soziale Milieu den Habitus, das Kapitalvolumen sowie den Lebensstil einer Person, was eine Positionierung im sozialen Raum einer Gesellschaft hervorruft – das Milieu wird also explizit in Relation zu einem metaphorisch gefassten Raum gesetzt (vgl. Vester 2014 [2002]: 313f.). Émile Durkheim führt den Begriff des sozialen Milieus in die Soziologie ein und versteht darunter familiäre, berufliche und territoriale Relationen mit der Klasse als einer Sonderform des beruflichen Milieus (vgl. Vester 2014 [2002]: 310f.). Auch Max Weber spricht in diesem Kontext von der sozialen Klasse, welche sich über die Berufsstellung und die Lebensführung definiert (vgl. ebd.: 311). Mit Durkheim beginnt sich die Soziologie als eigenständige Disziplin zu etablieren und auch die Geographie um Friedrich Ratzel in Deutschland und Vidal de la Blache in Frankreich gewinnt – trotz ihrer Nähe zur Geschichtswissenschaft – zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Autonomie. Vom Einfluss geographischen Wissens auf Émile Zola wird später noch die Rede sein (vgl. Kapitel 4.1.2.2). Da die dem Zolaʼschen Projekt zugrundeliegenden Fragen um das soziale Verhalten von Menschen in Gesellschaftsformen den Fragen der (damaligen) Soziologie sehr nahestehen, hat die in dieser Disziplin stattfindende Diskussion des Raumbegriffs auf die Entwicklung des eigenen Modells entscheidenden Einfluss genommen und findet dementsprechend auch die größte Beachtung. Das soziale Milieu kann daher als ein von einer spezifischen lokalen und mentalen Position aus aufgenommener Teilausschnitt des sozialen Raums erfasst werden. Dabei darf allerdings trotz des dem Milieubegriff inhärenten Bezugs zum Räumlichen nicht dem Trugschluss erlegen werden, das Milieu befinde sich im Raum und stelle einen Container dar – Lebensstile, Normen und Werten verdichten sich nicht ortsgebunden, binnenkommunikativ, sondern durch eine bestimmte »sozio-räumliche Semantik« zu Milieus (Dörfler 2010: 39f.; vgl. auch Strappazzon 2018: 50 und Sprenger 2014: 17).
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mitdenken und neue Aspekte in Zolas Werk artikulieren. So erlaubt die Aufwertung des Raumbegriffs in Disziplinen wie der Soziologie eine Aufwertung und Akzentuierung von Zolas Bewusstsein für komplexe soziale Prozesse. Nicht nur in der Soziologie ist in jüngerer Vergangenheit ein Umdenken bezüglich der Bedeutung des Raums zu verzeichnen, worin eine weitere Begründung für das Hinzuziehen des Raumbegriffs zu finden ist. Im Zuge des sogenannten spatial turn wurde in den Kultur-, Sozial- und Literaturwissenschaften eine Vielzahl von Raummodellen entwickelt, die auf die Bedingungen einer Neubewertung von Raum im Allgemeinen und bei Zola im Speziellen wie zugeschnitten sind.13 Unter der Raumwende ist nämlich in erster Linie die »Revalorisierung von Raum bzw. Räumlichkeit« (Döring 2010: 90) sowie die »Ausbildung eines kritischen Raumverständnisses« zu verstehen (Bachmann-Medick 2010 [2006]: 289, 286). Die Spannweite reicht dabei von der Feststellung eines erhöhten Bewusstseins für den Raum bis hin zur Proklamation eines Paradigmenwechsels (vgl. ebd.: 284ff.; vgl. auch Schlögel 2003: 34). Trotz der Akzentverschiebungen wird insgesamt ein neuer Umgang mit Raum auf »interdisziplinärer, transdisziplinärer, ja wenn man so will: pandisziplinärer Ebene« (Soja 2008: 243) verbucht. Die Idee des Containerraums wird durch die Überzeugung ersetzt, dass der Mensch maßgeblich an der »Produktion von Raum« (Lefebvre 2000 [1974]) beteiligt ist, Raum also erst in Wechselwirkung mit dem Menschen hervorgebracht wird. Es ist an die Bedeutung der Wahrnehmung und des konkreten Erlebens von Raum in der Phänomenologie zu denken; an Konzeptionen, das heißt topologische oder topographische Repräsentationen von Raum, oder aber an symbolische Räume, an die postkoloniale oder feministische Diskurse geknüpft sind (vgl. Kapitel 3.2). Die Ausdifferenzierung der
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Der spatial turn hat sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre zu einem wohletablierten Forschungsfeld entwickelt. Die Wortgeschichte des Begriffs beginnt mit Fredric Jamesons Artikel »Postmodernism and Utopia« (1988a) bzw. seinem 1991 erschienenen Buch zur Postmoderne. Er schreibt: »A certain spatial turn has often seemed to offer one of the more productive ways of distinguishing postmodernism from modernism proper« (Jameson 1995: 154). Es sollte festgehalten werden, dass Jameson den spatial turn zu diesem Zeitpunkt bereits als vollzogene Wende oder Charakteristikum der Postmoderne versteht und keineswegs eine neue Wende einläuten will (vgl. Roskamm 2012: 173). Neben Jameson äußert sich als einer der ersten der Humangeograph Edward Soja zum spatial turn. Im Kapitel »Uncovering Western Marxism’s Spatial Turn« seiner Postmodern Geographies (1989) betont er mit Rückgriff auf Henri Lefebvres La production de l’espace (2000 [1974]) und Michel Foucaults »Des espaces autres« (1984 [1967]) die bis dato vernachlässigte Bedeutung des Räumlichen bzw. die soziale Konstruktion von Raum für die Geschichtsschreibung des Historischen Materialismus (vgl. Döring/Thielmann 2008: 7; Döring 2010: 90). In den 1990er Jahren erhebt sich der spatial tun in den Schriften Edward Sojas zum Thirdspace (1996), das heißt zum »Titel für die Programmatik einer postmodernen und kritischen Geographie« (Roskamm 2012: 173f.; vgl. auch Kröger [i. Ersch.]). Einen Überblick über bestehende Raumkonzeptionen gibt Günzel (2010, 2012).
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Wissenschaften im Laufe des 20. Jahrhunderts resultiert folglich in einer disziplinspezifischen Perspektive auf den Raum, die dem Prinzip der Wechselseitigkeit von Handeln und Struktur in der Raumkonstitution immer größere Bedeutung beimisst. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Wahl eines soziologischen, relationalen Raumbegriffs, der in dieser Arbeit immer Dreh- und Angelpunkt bleibt, ohne sich anderen Raumtheorien zu verweigern, das durchaus interdisziplinäre Großprojekt Zolas erschöpfend und konzise durchleuchten zu können. Trotz der Fortschrittlichkeit neuerer Raumtheorien hinsichtlich der Untersuchungszugänge und -gegenstände bleibt ein Diskussionspunkt vielfach ungelöst: Die Frage der Materialität des Raums, scheint sie doch mit einer Verdinglichung gesellschaftlicher Prozesse einherzugehen.14 Besonders mit Blick auf einen Autor wie Zola, der die materiellen Qualitäten des Raums sowie die Verhältnisse im Second Empire genauestens erforscht, ist es unabdingbar, diese Frage zu klären. Dort aber, wo der Milieudeterminismus Taines den Einfluss physischer und historischer Faktoren als zu groß eingestuft, diese aber explizit diskutiert hatte, übergehen kultur- und sozialwissenschaftliche Raumtheorien die Frage der Materialität häufig oder übernehmen am Ende doch unhinterfragt das Containerraumdenken (vgl. Hard 2003; vgl. Lippuner/Lossau 2004).15 Die Raumsoziologie Martina Löws beispielsweise veranschlagt zwar einen relationalen Raumbegriff und bezieht materi14
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Unter Materialität werden in dieser Arbeit primär die äußeren, physischen Gegebenheiten menschlicher Praktiken verstanden; darüber hinaus sollen im Sinne eines historischen Materialismus auch diejenigen Bedingungen hinzugezählt werden, die für die (Re-)Produktion gesellschaftlicher Verhältnisse maßgeblich sind. Obwohl den ökonomischen und politischen Faktoren dabei ein bedeutender Stellenwert beigemessen werden muss, sind sie lediglich Teil eines größeren Konglomerats (im-)materieller Faktoren, die auf dialektische Weise miteinander verwoben und vom menschlichen Handeln abhängig sind (vgl. Moissonnier 1982: 729). Von diesem Verständnis von Materialität können jene Ansätze in den Literaturwissenschaften profitieren, die extratextuelle und intratextuelle Phänomene zusammendenken möchten. Dass die Berücksichtigung der äußeren Bedingungen von Literatur in der Folge der Milieubeschreibung bei Hippolyte Taine durchaus sinnvoll ist, steht außer Frage. Doch darf dies nicht in einer unhinterfragten Idee von Determinismus münden. Dass sich die Frage der Materialität des Raums für die Literatur grundsätzlich noch einmal verkompliziert, ist offensichtlich und wird unter anderem in Kapitel 3.3.2.3 eingehender diskutiert. Jochen Kleinschmidt (2013: 65f.) differenziert das Containerraumkonzept in der aktuellen Forschung in vier Gruppen. 1. Der Containerbegriff als eine »Universalkategorie«, die der traditionellen Geographie zugschrieben wird und als »Formel für die Kritik an dieser« dient; 2. eine »Umschreibung des aus der cartesianischen Philosophie entwickelten Raummodells« für einen absolut gedachten Raum; 3. ein substantialistischer Begriff, der für diejenigen Modelle steht, die Raum als real und materiell existent betrachten; und 4. der Ausdruck eines deterministischen Raumverständnisses, in dem »soziale Strukturen und Prozesse« von äußeren Bedingungen bzw. durch »ihre Verortung innerhalb eines Staatsgebiets«, das heißt territorial, konditioniert werden. Diese Arbeit knüpft an das zuletzt formulierte Verständnis von Container an.
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elle und symbolische Raumelemente ein, doch ist ihr Ausgangspunkt grundsätzlich ein idealistischer: Raumvorstellungen haben den Vorrang vor konkreten räumlichen Konstitutionsprozessen, deren wirtschaftliche oder politische Rahmenbedingungen ausgespart werden. Welche Rolle die Materialität des Raums dann überhaupt noch spielt bzw. wie genau soziale, raumbildende Phänomene ohne diese Rahmenbedingungen zu analysieren sind, bleibt unklar (vgl. Löw 2001; vgl. Arnold 2001: 103f.; vgl. Kapitel 3.2).16 Es ist Christian Schmid demnach zuzustimmen, wenn er die Frage der Materialität als den »Kern der Raumdiskussion […], [die, J.K.] pièce de résistance jeder ›räumlichen‹ Theorie« (2010: 28, Hervorh. i.O.) bezeichnet. Wie in Kapitel 3 dieser Arbeit ausgeführt wird, löst die Theorie des sozialen Raums des Soziologen und Philosophen Henri Lefebvre aus La production de l’espace (1974) diese Problematik. Sie ist in der Lage, die materielle Seite des Raums umfassend zu denken: Lefebvre versteht es, sowohl alltagsweltliche Praktiken in ihrer konkreten, raumbildenden Funktion als auch systemische Einflussfaktoren zu erfassen (vgl. Kapitel 3.1, 3.2). Seine Raumtheorie vereint materielle, konzeptuelle und symbolische Elemente und kann dabei aktuelle Raumtheorien miteinbeziehen. Im Gegensatz zu diesen und existierenden Milieutheorien liegt der wesentliche Vorteil von Lefebvres Modell jedoch primär darin, dass es für die Entwicklung einer literaturwissenschaftlichen Raumtheorie anschlussfähig ist.17 Denn trotz gewinnbringender, durch den spatial turn auch in den Literaturwissenschaften angestoßener Diskussionen fehlt es aktuell an einem Modell, das raum- und literaturwissenschaftliche Erkenntnisse synthetisieren könnte, um die Genese von Raum
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Dieser Problematik musste sich bereits die klassische Soziologie stellen. Unter Raum wurde lange Zeit dessen geographisch-materielle Form gefasst, die aber als eine abgeleitete Größe ohne wirklich konstitutive Bedeutung für gesellschaftliche Prozesse von Untersuchungen ausgeklammert wurde (vgl. Soja 1989; vgl. auch Löw 2001: 9). Bei Bourdieu beispielsweise bleibt der soziale Raum der sozialen Positionen metaphorisch und situiert sich neben dem absolut gesehenen, angeeigneten physischen Raum (vgl. Bourdieu 1984; vgl. auch Löw 2001: 182). Benno Werlen arbeitet mit dem Begriff des materiellen Raums, in dem Lageverhältnisse durch in ihm angeordnete Dinge entstehen. Dieser materielle Raum wird jedoch vom sozialen Raum des menschlichen Handelns getrennt, Menschen platzieren Objekte, werden selbst aber nicht Teil der Raumkonstitution (vgl. Löw 2001: 133). Gerade vor dem Hintergrund einer Krise der Stadt in den 1960er Jahren und fortschreitender Globalisierungstendenzen stieß die Soziologie mit ihren tradierten Raumvorstellungen an fachliche Grenzen. Aus diesem Grund findet der Raum in aktuellen Studien in der relativierten Form den Weg in die Soziologie, ohne dass jedoch die Frage der Materialität abschließend geklärt würde. Die Revitalisierung eines kritischen Milieubegriffs für die Literaturwissenschaft bei JanHenrik Witthaus und Angela Oster (2014) ist zwar zu begrüßen, doch ist die Gefahr einer verengenden Lektüre im Falle Zolas zu groß. Denn wie kann es gelingen, mit dem Milieubegriff die poetische oder strukturelle Seite Zolas zu erfassen? Zudem klären die Autoren des Sammelbands den Vorteil des Begriffs gegenüber aktueller Raumkonzeptionen nicht.
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sowie die Wechselwirkung von Mensch und Raum (bei Zola) angemessen begreifen und die Frage der Materialität in der Literatur beantworten zu können (vgl. Frank 2017: 14, Thiem 2010: 11, Beck 2013: 2f. und Nünning 2009: 39). Dies verwundert umso mehr, als Teile der Zola-Forschung häufig nicht nur mit dem Raumbegriff arbeiten, sondern auch zu Ergebnissen kommen, die den Erkenntnissen der Raumwende nahestehen. Es lohnt sich daher, nach dem terminologischen Instrumentarium noch die notwendigen Weiterentwicklungen innerhalb der Zola-Kritik bzw. Literaturwissenschaft abzustecken. In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Publikationen erschienen, die die verschiedenen Facetten des (literarischen) Raums im Werk Zolas aufgespürt haben. Sie reichen von der Phänomenologie (Jean-Jacques Tonard 1994), über die critique génétique (Olivier Lumbroso 2004)18 , die Semiotik Denis Bertrands (1985) und die »sémio-génétique de la spatialité« Henri Mitterands (1990: 118)19 bis zum Strukturalismus (Philippe Hamon 2011 [1983]). Trotz der divergierenden Ansätze lässt sich ein gemeinsamer Nenner finden: Der Raum ist nicht bloß Dekor für das Figurenhandeln, sondern inhaltlich ein acteur und formal ein moteur, das heißt ein syntagmatisches und paradigmatisches Strukturierungsmerkmal.20 Zola verleiht »buildings, rooms, and even the landscapes […] thematic significance« (Moore 1982: 3) oder um es mit Chantal Bertrand-Jennings (1987: 11) zu sagen:
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Die critique génétique wird als Wissenschaft verstanden, die sich nicht nur mit dem Text als fertigem Endprodukt befasst, sondern diesen gerade in seiner Entstehung im Zusammenhang mit den sogenannten avant-textes oder intertextes betrachtet (vgl. Mitterand 1999a: 89). Das Institut des textes & manuscrits modernes unter der Leitung von Paolo d’Iorio wird gefördert vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und der École normale supérieure (ENS) und beherbergt eine Arbeitsgruppe Zola, die sich ausschließlich der Analyse der Romangenese im Werk des naturalistischen Autors widmet. Für nähere Informationen siehe www.item.ens.fr/(22.05.2020). Die Forschung Henri Mitterands versteht sich als sociocritique, die historisch aus dem Klima des Mai 1968 sowie dem Marxismus und Strukturalismus erwachsen ist. Von der Natur her interdisziplinär angelegt, werden Parallelen zwischen Literatur und Soziologie gezogen. Die Zola-Forschung zum Raum in der Literatur ist Teil einer in den Literaturwissenschaften übergeordneten Diskussion um die Frage nach der Natur des literarischen Raums. Wie in den Kapiteln 2 und 3 noch zu diskutieren sein wird, teilt sich die Forschung einerseits in Ansätze zum Raumerleben oder zur Semantik des Raums und andererseits in Arbeiten strukturalistischer oder narratologischer Provenienz (vgl. Thiem 2010: 12, 31ff. und Frank 2017: 12). Die französische Zola-Forschung sticht aus diesen Arbeiten insofern heraus, als sie der Konstitution des Raums durch das Konsultieren der Arbeitsbücher des Autors auf diskursiver Ebene bereits stärkeres Gewicht verliehen hat.
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[Les] lieux zoliens vivent de leur propre vie, abritent, écrasent, évincent leurs occupants, et tendent même à substituer à eux pour se métamorphoser en acteurs des grands conflits qui traversent Les Rougon-Macquart.21 Im Zitat kommt eine Dynamik des Raums zum Ausdruck, die aus seiner ständigen Transformation und seiner aktiven Rolle im Handlungsverlauf resultiert. Wie aber kann dieser dynamische Raum in der Mehrheit der Arbeiten dennoch auf das Bild eines geschlossenen Containers reduziert werden? Aus mindestens drei Gründen wird der offensichtlichen Bedeutsamkeit des Raums im Werk Zolas nicht ausreichend Rechnung getragen. Erstens wird zu sehr an den positivistischen Anteilen des Naturalismus und der Überbewertung des Roman expérimental festgehalten. Zweitens wird der Autor meist als Schlusslicht der literarischen Epoche des Realismus statt als Vorreiter oder sogar Teil der Moderne betrachtet. Wie weiter oben skizziert, mangelt es drittens an einem methodischen Vorgehen, das die Entstehung von literarischem Raum bei Zola im Verhältnis zur extraliterarischen Realität und als Ergebnis eines Austauschprozesses zwischen Mensch und Raum fassen könnte. Im Falle der Reduktion Zolas auf die Wissenschaft ist zu sagen, dass das Gros der Forschung die Raumkonstitution vor dem immer gleichen theoretischen Horizont liest und nur selten die Arbeitsbücher Zolas hinzuzieht. So wird ein methodischer Weg gewählt, der nur bestimmte Perspektiven auf das Phänomen Raum bei Zola zulässt. Die Folge ist, dass viele Ansätze im Extremfall in einer Tautologie enden, wenn nämlich Zolas Programm auf den Determinismus reduziert und jener Determinismus dann auch im Text nachgewiesen wird. Das Hinzuziehen von Raumtheorien anderer Disziplinen erlaubt eine Neubewertung von Zolas breit angelegten Studien; er muss in die Nähe von Diskursen wie den der Geographie des 19. Jahrhunderts gerückt werden, um sein fortschrittliches Raumverständnis nachzuweisen. So ist Philippe Hamon zu folgen, der unter anderem bezüglich der Ver21
Jean-JacquesTonard (1994: 2) äußert sich ähnlich zur Rolle des Raums im Werk Zolas: »Nous partons du principe que ces lieux ne sont pas de simples ›décors‹ posés là à des fins purement scéniques ou esthétiques. […] Nous verrons comment et pourquoi Zola parvient même à leur procurer une identité propre. Nous tenterons de leur restituer cette identité«. Auch Philippe Hamon (2011 [1983]: 209) erklärt: »On voit […] que l’espace zolien n’est pas simplement un arrière-plan descriptif neutre, une qualification secondaire à simple ›effet de réel‹ des personnages, mais qu’il ›informe‹ d’emblée l’ensemble du système en permettant de distribuer les personnages en sous-groupes définis par […] trois axes fondamentaux […], le sexe, la topographie et le savoir.« Für Neide de Faria ist der Raum ein »personnage-res« – er habe erzähltechnisch die gleichen Funktionen wie eine Figur, sei also aufgrund anthropomorpher Elemente als eine »strate espace« zu bezeichnen (de Faria 1977: 134, vgl. ebd.). Schließlich vermerkt ebenso Henri Mitterand: »L’espace romanesque de Zola […] est un agent de production […] et une marchandise, un objet de consommation […], et, à ce double titre, toujours déjà un enjeu« (Mitterand 1986: 46).
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bindung von Zola und der Geographie Élisée Reclusʼ schreibt: »[O]n pourrait ouvrir les analyses du côté de l’hypothèse d’un imaginaire géographique (d’époque, ou d’école) propre à la deuxième moitié du XIXe siècle (et pourquoi pas […] rapprocher Zola d’Élisée Reclus?)« (Hamon 2004a: 11). Auch die Arbeitsbücher sind mehr als eine neutrale Materialsammlung. Bislang liegen in der deutschen Zola-Forschung nur wenige Arbeiten zu den Dossiers Zolas vor, doch sind die Notizbücher eine unverzichtbare Quelle für ein besseres Verständnis des Zolaʼschen Naturalismus. Wenn der Autor vermerkt, dass seine Hauptaufgabe darin besteht, »[dʼ]étudier les gens avec qui ce personnage aura affaire, les lieux où il devra vivre, l’air qu’il devra respirer, sa profession, ses habitudes« (Zola im Interview mit Amicis, Le Figaro, 24.09.1881), klingt ein körperlich-sinnliches Eintauchen in den Alltag der Stadt an, das über die topographische Ordnung von Raum hinausgeht und an eine ethnographische Feldforschung erinnert (vgl. Mitterand 1986: 45). Dies ist deswegen wichtig, weil möglicherweise der sinnliche Zugang zum Raum durch Zola die oftmals für unüberwindbar gehaltene Distanz zwischen Theoretiker und Praktiker überbrücken kann. Denn die Sinne fungieren einerseits als Instrumente des Beobachters, das heißt als Filter der Außenreize, haben andererseits aber auch erzähltechnisch eine bedeutende Funktion. Sie werden zum Mittel, um die Beschreibungen der Stadt Paris mit ambigen Bildern des Apokalyptischen und Hoffnungsvollen zu füllen, deren mythische Opazität oder »wilde Ontologie« nicht geleugnet werden können (vgl. Warning 2009: 162).22 Zola rückt damit von der propagierten Transparenz und Formlosigkeit der Sprache ab, was ein Überdenken seiner Position im literarischen Kanon bedingt. Gerade die Methode Zolas weist nämlich auf den Konnex von »Modernisierung«, »Moderne« und »Modernitätserfahrung« hin. Fredric Jameson argumentiert, dass die Modernisierung den sozialen Wandel im Kapitalismus, die Moderne eine ästhetische Reaktion auf diesen Prozess und die Modernitätserfahrung eine Vermittlung zwischen diesen Ebenen beschreibt (vgl. Jameson 1995: 310). Letztere ist als »the way in which capitalist social relations are ›lived‹« zu verstehen, als »something like the time-space sensorium corresponding to capitalist modernisation« (WReC 2015: 12, Hervorh. i.O.). Zolas Eintritt in den materiellen Raum von Paris ist also unter anderem auch als eine körperliche Erfahrung der Modernisierung der Stadt zu verstehen, die im Naturalismus durchaus als eine literarisch 22
Der Band Mémoire et sensation (2008) hat die Relevanz der sinnlichen Wahrnehmung im Prozess der Aufnahme und Wiedergabe des Raums im Werk Zolas bestätigt: »La mémoire et les sensations dans l’œuvre zolienne possèdent une force textuelle puissante, car elles font l’épreuve du corps et du monde rassemblés. […] Les romans de Zola ne cessent de rappeler au lecteur que le corps assure la saisie du réel, que la mémoire et les sensations en sont les filtres puissants. […] Se rappeler, se remémorer, entendre, voir, sentir, c’est chaque fois, dans l’univers de Zola, faire l’épreuve du réel en soi« (Cnockaert 2008: 14).
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ausgetragene Kritik im Sinne moderner Literatur verstanden werden kann.23 Es ist nur möglich, zu diesem Schluss zu kommen, wenn einerseits neue theoretische Verbindungen gezogen und andererseits die Arbeitsbücher des Autors konsultiert werden. Der zweite Grund für die Vernachlässigung von Facetten des Raumzugangs Zolas ist jedoch, dass der Autor häufig am Ende einer literarischen Tradition eingeordnet wird (vgl. Schmitz 2016: 133). Der Naturalismus gilt in einer eher konservativen Lesart als Schlussstein des Realismus und nicht als Grundstein einer modernen Literatur, in der laut Roland Barthes der schreibbare (scriptible) an die Stelle des lesbaren (lisible) Texts tritt (vgl. Barthes 1970: 10ff.). Hybridität, Unbestimmbarkeit und Opazität scheinen im Roman Abgeschlossenheit, Transparenz und Hypertrophie zu ersetzen (vgl. Harrow 2010: 3). Diese Art der Periodisierung versagt dem Werk die Macht, zukünftige literarische oder soziale Entwicklungen zu antizipieren (Chevrel 1993: 12ff.). Es sind allerdings Stimmen zu vernehmen, die um neue Lesarten des Naturalismus bemüht sind. Eine wachsende Zahl von ZolaForschern versucht, den Autor nach vorn zu lesen, das heißt in die Nähe der Moderne zu rücken oder stärker mit modernen Theorien zu durchleuchten.24 Susan Harrow schreibt in ihrer jüngsten Studie: »Mapping Zola forward is a necessary project« (2010: 7). Sie sieht besonders in Zolas Kunstkritik und seinem Umgang mit dem
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Es existieren mittlerweile viele Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von »Modernisierung«, »Moderne«, »Postmoderne« etc. beschäftigt haben. Komplementäre oder auch widersprüchliche Theorien bieten unter anderem Jameson (2002), Williams (1989), Bradbury/McFarlane (1976), Brooker (1992), Levenson (1984) und Nicholls (1995). Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf eine geschlechtsspezifische Sprachregelung verzichtet. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein.
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Körper die Modernität des Autors.25 Colette Becker zielt in die gleiche Richtung und fasst Zola als einen Vorreiter innovativer Wissenschaften: Par ailleurs, sa véritable modernité ne réside-t-elle pas, non seulement dans la connaissance réelle qu’il a eue de la science et des avancées technologiques de son temps, mais aussi dans des intuitions d’un autre ordre, que d’autres sciences, alors balbutiantes, voire non encore instituées (sociologie, psychanalyse…) approfondirent et théorisèrent souvent des années plus tard? (Becker 2002: 59). Josette Féral wiederum erkennt im naturalistischen Theater zukunftsweisende Elemente, die im 20. Jahrhundert im experimentellen Theater münden sollen: [L]e théâtre naturaliste ne marque point la fin d’une époque théâtrale, comme il est convenu de le considérer habituellement, mais bien le début d’un nouveau courant que les théoriciens qui ont suivi ont pu modifier, réfuter au besoin, mais qui a marqué de son empreinte ce qui deviendra le théâtre contemporain expérimental (Féral 1982: 115). Philippe Hamon für seinen Teil bezieht die Modernität Zolas auf die Figurenzeichnung: Zola constitue, sans doute, sur cette notion de personnage, une date importante dans l’histoire du roman, charnière, si l’on veut, d’une part entre une esthétique de l’expression et de la représentation, et d’autre part une esthétique plus moderne (popularisée par le roman ›de montage‹ et par les écrits dits du ›Nouveau Roman‹) 25
Susan Harrow führt aus: »Zola’s pursuit of innovation is manifold: his investment in visual modernity (both pictorial and textual), his theoretical and scientific modernity (Taine, Bernard), his practical commitment to technology (photography, the locomotive), his rapt interest in material modernity and its abundant forms (architecture, health, industry, leisure, retail commerce, city space, sexuality), so many of which he folds into his novels. His political modernism, from his commitment to freedom, democracy and humanitarian liberalism – powerfully articulated in his support for Dreyfus – make Zola more vanguard than rearguard« (Harrow 2010: 4). Harrow vergleicht die zwischen Realität und Fantasie changierende Erfahrung der Welt der Pariser Passage des Panoramas durch den Comte Muffat in Nana mit den Passagen-Beschreibungen der Surrealisten; die kulturwissenschaftlich anmutenden Untersuchungen des kapitalistischen Systems und der durch die Warenkultur geschaffenen Anreize auf den Menschen in Au Bonheur des Dames und Nana stellten Bezüge zu Walter Benjamins Passagen-Werk dar; auch die »visual quality of his writing« (Harrow 2010: 4), die die impressionistische Malerei widerspiegele, sei ein Zeichen seiner experimentellen Ästhetik, die von traditionellen Lesern übersehen und nicht in Einklang mit einer einfachen Lesart der Zolaʼschen Romane gebracht werden könne (vgl. ebd.: 3f.). Vgl. hierzu auch Harrows 2011 erschienenen Aufsatz »Zola’s Paris and the spaces of proto-modernism«. Bezüglich der Verbindung zwischen Zola und den Surrealisten schreibt auch Lewis Kamm: »[Zola, J.K.] emerges as the naturalist author most likely to offer direct points of contact with surrealism« (Kamm 1983: 321).
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celle de ›l’ère du soupçon‹ et du ›bricolage textuel‹ (Hamon 2011 [1983]: 24, Hervorh. i.O.). Eine Ästhetik des »bricolage« und des »soupçon« auf Textebene unterstreicht die Brüchigkeit des Konzepts der fixen Identität. Wenn nun ernst genommen wird, dass Zola Mensch und Raum als interdependent betrachtet, bedeutet dies, dass auch die räumlichen Strukturen alles andere als fix sind. Und wenn zudem eine Prämisse der naturalistischen Poetik der Austausch zwischen Theater und Literatur ist, hat dies zur Folge, dass die Übernahme von modernen, dramatischen Techniken Innovationen auf narrativer Ebene auslösen kann. Die Erweiterung des theoretischen Blicks auf die Nachbardisziplinen ermöglicht demnach ein vollständigeres Nachvollziehen des literarischen Raums bei Zola.26 26
Hierzu zählt ebenso Zolas Verbindung zur Malerei und Musik, die wie seine Nähe zum Theater in den Romananalysen belegt wird. Die Sicht auf die modernen Anteile in Zolas Schriften stößt trotz dieser Hinweise auf geteilte Meinungen. Henri Mitterand hat mehrfach von der Notwendigkeit gesprochen, Zola in die Nähe moderner Literatur zu rücken, darunter besonders André Breton, Jean Cocteau und Arthur Rimbaud. In seinem Buch L’Illusion réaliste zieht er außerdem die Verbindung zwischen Zola und André Gide sowie dem Nouveau Roman (vgl. Mitterand 1994a: 119ff. und 137ff.; vgl. auch Mitterand 2001b). Philippe Hamon und Maryse Vassevière schließen sich in einer Ausgabe von Mélusine (Réalisme/Surréalisme) Mitterand an und sehen Parallelen zwischen der Hervorhebung des Disparaten bei den Surrealisten und bei Zola (Hamon) oder entdecken in Louis Aragons Paysan de Paris (1926) eine Hommage an Zolas Nana (Vassevière) (vgl. Hamon 2001, Vassevière 2001). Einschränkend merkt zum Beispiel Yves Chevrel an, dass der europäische Naturalismus (Verga, Holz, Schlaf, Strindberg) in einer Zeit des Niedergangs des Zolaʼschen Naturalismus bzw. im Übergang zum 20. Jahrhundert Züge einer modernen Literatur vorweggenommen und am Anfang der literarischen Moderne gestanden habe, Zola selbst aber trotz der Thematisierung der Moderne durch sein Vernachlässigen der Erneuerung formaler Aspekte des Romans dieser Entwicklung nur bedingt zuzuordnen sei (vgl. Chevrel 1995: 101ff.; vgl. zur Einordnung des Naturalismus in die Moderne zum Beispiel auch Chevrel 1993). Weitere aktuelle Tendenzen innerhalb der ZolaForschung weisen darauf hin, dass die Verbindung Zolas zum 20. und 21. Jahrhundert mehr ist als eine Modeerscheinung bzw. dass aktuelle Perspektiven auf den Autor des Naturalismus notwendig werden, vgl. zum Beispiel: Snipes-Hoyt et al. (2013); Dotoli (2008); Foulon (2008); siehe auch: »Emile Zola, l’autre visage«, Titel von: Magazine littéraire 413 (2002); Coussot (2002); Schober (2002), Gural-Migdal (1995). Henri Mitterand sieht Verbindungen zwischen Zola und der soziologischen Untersuchung des Alltags nach Erving Goffman, Auguste Dezalay erkennt in Zola Züge einer »psychanalyse de l’esprit scientifique« vor Gaston Bachelard (Mitterand 1986: 45; vgl. Dezalay 1983: 175). Daneben haben Xuan Jing/Lars Schneider in der Einleitung zu ihrem Band Anfänge vom Ende. Schreibweisen des Naturalismus in der Romania betont, dass der Naturalismus in Europa ein Übergangsphänomen zu den Heilsentwürfen des 20. Jahrhunderts und ein Syntagma des Kataklysmus sowohl bei Zola als auch bei Michel Houellebecq zu finden sei (vgl. Jing/Schneider 2014: 16). Auch Sabine Schmitz hat das Verhältnis von deutschem und französischem Naturalismus neu bewertet und gezeigt, dass durch die Berücksichtigung supranationaler Parallelen auch der französische Naturalismus als Teil eines gesamteuropäischen »Aufbruchs in die Moderne« gelten kann (vgl. Schmitz
1. Einleitung
Das Warwick Research Collective (WReC) geht noch einen Schritt weiter und strebt durch den Verzicht auf Periodisierungen eine neue Literaturgeschichtsschreibung an: We prefer to speak […] not of literary forms spreading or unfolding across empty time (and hence of literary history as being divided into sequential ›periods‹ – classicism, realism, modernism, postmodernism etc.), but of forms that are brought into being (and often into collision with other, pre-existing forms) through the long waves of the capitalisation of the world (WReC 2015: 50f.). Anders gesagt werden die Romane von Autoren unterschiedlicher Räume und Zeiten als multiple Antworten auf das Registrieren der kapitalistischen Modernisierung verstanden. Zola ist der Lesart des WReC zufolge einer der Vermittler der Modernitätserfahrung, welche per se sowohl mit traditionell-realistischen als auch modernen narrativen Verfahren gefiltert wird.27 Ob nun unter Rückgriff auf episodische Strömungen oder nicht: Beide Ansätze erschüttern den Erwartungshorizont des Lesers, da dieser gerade nicht alle Hinweise zur Entschlüsselung der Romane erhält, sondern sich mit Leerstellen im Text konfrontiert sieht, die plurale Lektüren zulassen. Entsprechend bergen für Susan Harrow die Wiederholungen von Motiven eine Selbstreflexivität der écriture Zolas, die Einschübe wissenschaftlicher Diskurse wie in Le Docteur Pascal erinnerten an Collage-Techniken und Analepsen an das Spiel mit der Zeitlichkeit (vgl. Harrow 2010: 64, 90). Dieses spielerische Vorgehen subvertiere die Autorität des »Wissenschaftlers« Zola im Determinismus und unterbinde die lineare Ausrichtung des Texts (ebd.: 93). Hieraus resultiert eine prinzipielle Offenheit des Romans, die allzu oft außer Acht gelassen wird. Dabei betont unter anderem Yves Chevrel den
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2016). Im Juni 2016 hat zudem unter der Leitung von Aurélie Barjonet und Jean-Sébastien Macke eine Jubiläumstagung zum Thema »Lire Zola au XXIe siècle« in Cérisy stattgefunden. Es wurden erneut Fragen rund um die Natur des Naturalismus aufgegriffen, die bereits 40 Jahre zuvor auf der von Pierre Cogny organisierten Tagung »Le Naturalisme« in Cérisy Thema waren. Sowohl der aktuelle Stand Zolas in der Forschung als auch die Modernität des Autors wurden hier bilanziert (vgl. Barjonet/Macke 2019). Das WReC fasst den Kapitalismus in der Theorie des »combined and uneven development« – »a situation in which capitalist forms and relations exist alongside ›archaic forms of economic life‹ and pre-existing social and class relations« (WReC 2015: 11). Sie ist Teil eines Konzeptes von Weltliteratur, das durch das Registrieren und Verarbeiten des modernen Weltsystems gekennzeichnet ist (vgl. ebd.: 9). Das WReC bricht mit der Vorstellung einer auf den Westen beschränkten Modernisierung und zeigt, inwiefern gerade der Konflikt von Zentrum und Peripherie zu modernen Formen der Literatur führt (vgl. ebd.: 50f.). Es ist nicht das Anliegen der vorliegenden Arbeit, Zola in den Bereich der Weltliteratur zu rücken, auch wenn dies sicherlich zu interessanten Ergebnissen führen würde. Es steht aber außer Frage, dass in Zolas Werk die internen Widersprüche des Kapitalismus registriert werden und nicht nur in realen, sondern auch in irrealen Elementen narrativiert werden, die das WReC für modern hält.
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offenen und kommunikativen Ansatz des Naturalismus: »L’écrivain naturaliste […] ne tient pas le lecteur pour quantité négligeable, au contraire […], [l]e texte naturaliste […] ne perd jamais de vue la perspective fondamentale de la communication« (Chevrel 1993: 206, 216). Zola begnügt sich nicht mit der Fertigstellung seiner Romane, sondern ist darum bemüht, mit dem Leser in einen Dialog zu treten und Diskussionen anzuregen.28 Aus dem bisher Gesagten folgt konsequent der dritte Grund für die lückenhafte Untersuchung des Raums bei Zola. Es fehlt schlicht an einem methodischen Vorgehen, das ausgehend von dieser prozessualen Idee von Literatur die verschiedenen Facetten und die Genese von Raum im Werk Zolas nachvollziehen könnte. Sowohl in der Zola-Forschung im Besonderen als auch in den Literaturwissenschaften im Allgemeinen werden daher Desiderate für eine konzeptuelle Weiterentwicklung bestehender Modelle formuliert. Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (2009: 116) bemerken: »Die Beschreibung von Raumkonzepten und eine Reflexion methodischer Herangehensweisen stellen unseres Erachtens in mehrfacher Hinsicht ein wichtiges Desiderat dar.« Neumann hält an anderer Stelle fest: »Die Offenlegung und Beschreibung formaler Darstellungsverfahren, die bei der Konstruktion von Raum am Werk sind, stellt […] ein wichtiges Desiderat der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung dar« (Neumann 2009: 116; vgl. auch Frank 2017: 13). Der Zola-Spezialist Henri Mitterand ruft dazu auf, den Autor mithilfe neuer Ansätze aus der positivistischen Klammer zu »befreien«: »C’est tout un matériel conceptuel et terminologique à nettoyer ou au moins à revernir, si l’on veut placer le génie de l’auteur des Rougon-Macquart sous une lumière neuve« (Mitterand 2004: 21, »Libé-
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Éléonore Reverzy bemerkt: »Le romancier programme la lecture de son roman, ou, au contraire, se joue des attentes de son lecteur, […]. C’est bien souvent celui qui allégorise le travail de construction romanesque qui se trouve dans la position du lecteur ou du programmateur de lecture (Octave Mouret et les pièges qu’il tend à ses clientes, Mlle Saget et les scénarii qu’elle élabore, le juge Denizet)« (Reverzy 2007: 218). Susan Harrow bemängelt vor diesem Hintergrund die Vernachlässigung des Lesers in der Zola-Forschung: »[T]he hermeneutic work of authors and readers, and of characters themselves, [is, J.K.] an aspect of Zola’s writing that has been largely overlooked despite its rich allusiveness« (Harrow 2010: 126).
1. Einleitung
rer Zola«).29 Nur dann sei es möglich, den sozialen Raum des modernen Frankreich besser zu verstehen. Nachzuholen sei toute une pensée, tout un imaginaire, toute une multiple exploration du lieu, et en particulier du lieu urbain, dont il resterait à préciser les aspects, les fonctions, les valeurs, mais dont on voit bien qu’elle s’accommode […] à l’ambition moderne de scruter les contraintes profondes de la vie sociale, de saisir l’insaisissable de l’espace socialisé (Mitterand 1990: 260f.). Die vorliegende Arbeit entwickelt von dieser Problemlage aus die Prämissen des eigenen Ansatzes. Dem Risiko eines tautologischen Milieudeterminismus wird durch den Einbezug der wechselseitigen Beeinflussung von Mensch und urbanem Raum entgegengewirkt; obwohl an einer Periodisierung von Literatur festgehalten wird, schließlich sagt auch Fredric Jameson »[o]ne cannot not periodise« (Jameson 2002: 94), ist von einer Festschreibung Zolas am Ende einer literarischen Tradition abzusehen und seine Literatur als ein modernes Verfahren des Registrierens der räumlichen Veränderungen im Zuge der Modernisierung zu verstehen; zuletzt soll ein Vorschlag für ein neues Raummodell unterbreitet werden, das die Fortschrittlichkeit des Autors in seinem vielschichtigen und prozessualen Zugang zum Raum (in der Literatur) aufdecken und über die Zola-Forschung hinaus einen Beitrag zur Literaturwissenschaft leisten kann. Grundannahme ist, dass Zola geschlossene Raumordnungen des »erzählten Raums« (Maatje 1964: 30) der Geschichte konzipiert, die jedoch permanent durch die Raumpraxis, das heißt das Figurenhandeln, und die Raumsemantik subvertiert werden (vgl. Kapitel 3). Eine Konzentration auf den Stadtraum ist in diesem Kontext sinnvoll, weil eine artifizielle, vom Menschen konstruierte Umwelt präsentiert wird, »die in der Stadt den reinsten Ausdruck findet. Gerade der Mensch und sein Umfeld Stadt bilden im mechanistischen Paradigma des Milieus des 19. Jahrhunderts die große Ausnahme« (Witthaus/Oster 2014: 17). Sowohl das Programm als auch die narrativen Verfahren der Versprachlichung von Raum siedeln sich zwischen geschlossenen und offenen bzw. transparenten und opaken Formen an, sodass die Ambivalenz von Offenheit und Geschlossenheit als zentrales Merkmal der Raumerschließung Zolas angesetzt werden kann. 29
Dass das Problem der unvollständigen Erforschung von Raum für die Literaturwissenschaft generell gilt, wird noch zu zeigen sein. Ähnlich äußert sich Henri Mitterand in der Einleitung zu seinem Buch Zola tel qu’en lui-même (2009) mit dem aussagekräftigen Titel »Pour libérer Zola du ›naturalisme‹«. Natürlich haben bereits Kritiker wie Roland Barthes, Gilles Deleuze, Michel Butor oder Julia Kristeva den Naturalismus Zolas mit modernen Theorien durchleuchtet (vgl. Mitterand 2009: v und Harrow 2010: 9), was zu einer Neuausrichtung in der Zola-Forschung selbst geführt hat – zu denken ist hier an die zahlreichen feministischen oder kulturkritischen Ansätze –, doch fehlt es an einem überarbeiteten Instrumentarium für die Analyse von Raum bei Zola.
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Auf der Basis dieser Ausgangspunkte werden in Kapitel 2 die wichtigsten Positionen zur Untersuchung von Raum in der Zola-Forschung vorgestellt. Die Zahl der Publikationen zum Thema ist mittlerweile so ausufernd, dass ein zweckgerichteter Überblick umso wichtiger erscheint. Es wird in einem ersten Schritt geklärt, woraus sich die Übermacht des Diskurses zum Milieudeterminismus speist, indem Zolas theoretische Bemerkungen und anschließend zentrale Ansätze zum Thema aus der Sekundärliteratur vorgestellt werden. Dass eine unkritische Übernahme des Determinismus problematisch ist, beweisen im nächsten Schritt sowohl Zolas Aussagen selbst als auch die Entwürfe einzelner Zola-Forscher zur Interdependenz von Raum und Mensch oder offenem und geschlossenem Raum. Um anschließend die theoretischen Prämissen der aktuellen Studie transparent zu machen und die Stärken und Grenzen in der Forschungslage zu detektieren, werden wesentliche Ansätze resümiert und grundlegende Elemente einer Raumkritik entwickelt. Dies ist insofern auch hilfreich, als die Arbeiten zum Raum in der Zola-Forschung repräsentativ für die Raumuntersuchung in der Literaturwissenschaft generell sind und zentrale Arbeiten in diesem Schritt mit bilanziert werden können. In Kapitel 3 wird ein Modell für die Analyse von Raum bei Zola entwickelt, das die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum in den Vordergrund rückt.30 Es muss erstens in der Lage sein, Zolas Position gegenüber den Raumvorstellungen im 19. Jahrhundert auszuloten. Zweitens sind die Arbeitsbücher in der Genese von Raum zu berücksichtigen. Das gesammelte Material muss im Roman mithilfe literarischer Formen vermittelt werden, weshalb drittens die Wahl geeigneter narrativer Verfahren mitzudenken ist. Die Idee der sukzessiven Konstitution von Raum sensibilisiert viertens dafür, dass der Raum als das Ergebnis eines Produktions- und Rezeptionsprozesses zu verstehen ist.31 Die vorliegende Arbeit antwortet auf diese Kriterien, indem Henri Lefebvres Theorie des sozialen Raums mit Paul Ricœurs Theorie zur Kategorie der Zeit im Roman aus Temps et récit I (1983) zusammengeführt wird. Natürlich wird vorher erläutert, warum trotz zahlreicher neuerer Raumtheorien auf einen der Gründerväter der Raumwende zurückgegriffen wird. In Kapitel 4 beginnt die Anwendung des Raummodells. Es soll zuerst rekonstruiert werden, von welchen Diskursen Zolas Raumverständnis eingenommen 30 31
Eine frühere Version des Modells und seiner Anwendung für die Analyse der Raumgenese im Roman Le Ventre de Paris findet sich in Kröger [i. Ersch.]. Später wird in Bezug auf die Rezeption folgende Feststellung Annegret Thiems weiter ausgearbeitet: »Natürlich liegt diesem Ansatz gleichwohl die Idee zu Grunde, daß sich Raum allererst in der Vorstellung konstituiert. Voraussetzung für die Entstehung des literarischen Raumes ist also der Lektüre- bzw. Rezeptionsakt, der sozusagen das ›Kino im Kopf‹ ermöglicht, was wiederum Ausdruck unserer menschlichen Fähigkeit ist, uns die Welt über die beiden Dimensionen Raum und Zeit zu erschließen« (Thiem 2010: 34; vgl. auch Nünning 2009: 38).
1. Einleitung
wird, bevor die Konfiguration von Raummaterial in der Vorbereitung der Romane im Fokus steht. Es geht dabei genauso um die gesellschaftliche Lage wie um die persönliche Situation Zolas, weshalb dieser Teil der Arbeit von der deutschen Zola-Forschung in der Tradition Hans-Ulrich Gumbrechts und Rainer Warnings profitiert und diese mit der französischen Tradition eines biographischen Ansatzes verbindet. Was das Desiderat der Erweiterung des theoretischen Blicks auf Zola angeht, wird kurz auf Diskurse von Degeneration, Sinneshierarchie und besonders der Geographie eingegangen. Dies leitet über zur Untersuchung des Materials zum Raum in den Dossiers der Romane La Curée, Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames. Es wird gezeigt, inwiefern die Arbeitsbücher über ihre Funktion als Materialsammlung einen Eigenwert oder eine spezielle Räumlichkeit besitzen. In den Kapiteln 5, 6 und 7 steht schließlich die Konstitution von Raum in den gewählten Romanen der Familienreihe im Fokus. Der Grund für die Konzentration auf drei Romane liegt erstens darin, dass es per se sehr schwierig ist, ein so umfangreiches Werk wie das Zolas in Gänze abzudecken. Oftmals sehen sich solche Großprojekte dazu gezwungen, recht allgemeine Aussagen zu treffen. Zweitens ist es aufgrund des kleinschrittigen Vorgehens des Ansatzes schlicht unmöglich, eine größere Zahl von Romanen im Rahmen einer einzelnen Arbeit zu untersuchen. Drittens rührt eine gewisse Vollständigkeit daher, dass jeder Roman einen Repräsentanten oder eine Repräsentantin der Familien porträtiert: Aristide Rougon in der Curée, Lisa Macquart im Ventre und Octave Mouret im Bonheur. Viertens konzentriert sich die Arbeit auf jene Paris-Romane Zolas, die die größten Überschneidungspunkte bieten und eine Entwicklung im Schreiben des Autors nachzeichnen. Die Werke sind wichtige Dokumente zur Haussmannisierung. Sie alle räumen der neuen Architektur einen entscheidenden Platz ein – Privathaus, Café, Hallen und Kaufhaus sind wichtige Orte des modernen Paris. Fünftens decken die Romane die ambige Haltung Zolas gegenüber dem Fortschritt in utopischen und dystopischen Elementen ab. Sechstens konzentriert sich das Geschehen hier mehr auf das soziale Milieu als auf das Erbmaterial der Figuren, sodass sich eine Analyse des Raums hier besonders anbietet. Mit Auguste Dezalay (1983: 125) kann daher gesagt werden, dass es sich bei den Werken um einen »micro-cycle« innerhalb des übergeordneten Zyklus handelt.32
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Obwohl die drei gewählten Romane in vielen Untersuchungen zur Stadt oder zum Raum bei Zola auftauchen, sind sie nur selten in einen größeren Sinnzusammenhang gesetzt worden. Irene Albers (2002) sowie Patricia Carles und Béatrice Desgranges (1993) untersuchen die Romane Le Ventre de Paris und La Curée im Verbund. Fredric Jameson (2013) erweitert diese Beispiele in seinen Antinomies of Realism (2013) dann noch um Au Bonheur des Dames. Schließlich geht auch Auguste Dezalay auf alle drei Romane ein (vgl. Dezalay 2004).
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In Kapitel 5 wird mit La Curée die Phase des Umbaus der Stadt Paris im Second Empire geschildert. Im Fokus stehen zum einen Aristide Saccards Spekulationen um Raum sowie das Leben seiner Frau Renée in der Oberschicht der modernen Gesellschaft. Bislang vernachlässigte Aspekte von La Curée sind dabei die Bedeutung der Kommune für den Roman sowie das zeitspezifische Gefühl des Ennui Renées. Die Unzufriedenheit der jungen Frau äußert sich in utopischen Träumen bzw. subversiven Gegenentwürfen zur Raumordnung in Paris, die zum Inzest führen und ein dystopisches Ende nehmen. Während der zweite Roman der Rougon-Macquart den Weg hin zu einer neuen Raumordnung zwischen Transparenz und Opazität durch Georges-Eugène Haussmanns Alter Ego Saccard beschreibt, führt die Analyse von Le Ventre de Paris in Kapitel 6 die Kontrollmechanismen einer nun gefestigten Raumordnung in den Hallen von Paris vor. Lisa Quenu ist die Repräsentantin einer Stadtpolitik der Überwachung, die ihre gewonnene Macht vor ihrem Schwager Florent behaupten will. Dieser kehrt von der Strafinsel zurück nach Paris und versucht einen Aufstand gegen die Raumordnung anzuzetteln. Es beginnt ein Kampf zwischen homophonen und polyphonen Stimmen, der auch auf Ebene des TextRaums ausgetragen wird. Die territorialen Züge des Hallenviertels, die formal mit dem Aufbau der Symphonie korrelieren, wurden bislang von der Forschung noch nicht ausreichend erfasst. In Kapitel 7 wird zuletzt der Roman Au Bonheur des Dames thematisiert. Er steht im Zeichen einer Konsumkultur, die in dieser Dimension erst nach dem Umbau der Stadt entstehen konnte. Erzählt wird die Geschichte der Provinzlerin Denise, die nach Paris kommt, um eine Anstellung in Octave Mourets Kaufhaus zu finden. Wie die Hallen ist das Bonheur ein Ort strikter Kontrolle, doch findet Denise einen Weg, in die Raumordnung des Kaufhauses einzugreifen. Sie bewegt sich von der Rolle der passiven Zuschauerin, die im übertragenen Sinne auch der alte Handel im Viertel einnimmt, in die Rolle der aktiven Geschäftsfrau. Der elfte Roman der Rougon-Macquart fällt also aus der Reihe, da hier eine Utopie in der Stadt bzw. die Wirkkraft des Menschen realisiert wird. Doch hat das glückliche Ende des Romans einen ironischen Unterton, den Zola durch den Einsatz dramatischer Mittel herstellt. Das Kaufhaus wird zur Bühne eines Theaters, auf der verschiedene Rollen und Szenarien durchgespielt oder reflektiert werden können. Erst in den Romanen kommt es zum permanenten Eröffnen und Verschließen von Möglichkeiten der Figuren auf thematischer Ebene, was durch die Geschlossenheit und die Öffnung der Form auf erzähltechnischer Ebene verkompliziert wird. Die sprachliche Rekonstruktion von Raum muss sehr genau nachgezeichnet werden, indem die Struktur, Organisation und Relation der erzählten Räume auf Makro- und Mikroebene aufgedeckt werden. Ein solch kleinschrittiges Vorgehen ist deswegen notwendig, da der Rhythmus des narrativen Fortgangs der Handlung ein konstitutives Element der Produktion offener und geschlossener Räume im Roman darstellt. In allen drei Romanen bewegt sich die Nutzung der modernen Stadt
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zwischen variablem und standardisiertem Verhalten – versuchte Transgressionen von Ordnung rauben der Stadt zunehmend ihre Alltäglichkeit. Es werden zudem Macht- und Geschlechterverhältnisse sichtbar, da Figuren aufgrund ihrer sozialen Position oder ihres Geschlechts Zugang zu Räumen erhalten oder aber von ihnen ausgeschlossen werden. Die Frau ist dabei in allen Romanen der zentrale Marker von Ordnung und Determinierung – »la femme est l’axe autour duquel gravite la civilisation«, schreibt Zola selbst (1983 [1878]: 22, vgl. Mbarga 2008: 8). An räumliche Strukturen werden nämlich in jedem der Romane utopische und dystopische Sehnsüchte geknüpft. So überlagern sich zum Beispiel persönliche und nationale Erinnerungsorte mit nostalgischem und/oder traumatischem Potential.33 In Kapitel 8 wird rekapituliert, inwiefern der anfangs formulierten Problemlage durch den erneuerten oder interdisziplinären Zugang zum Raum begegnet werden konnte. Da sich die Arbeit natürlich nicht als Schlussakkord einer Forschungsrichtung versteht, werden mögliche Anknüpfungspunkte oder Wege der Vertiefung vorgeschlagen.
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Alexander C.T. Geppert et al. haben die Folgen der soziokulturellen Veränderungen in ihrer Kommunikationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter Einbezug der Kategorie des Raums untersucht (vgl. Geppert et al. 2005: 9). Sie gehen davon aus, dass überzeitliche »Verräumlichungspraktiken« immer dann in Gang gesetzt werden, wenn mediale Umwälzungen einen neuen Umgang mit Raum im Alltag und in der Wissenschaft erfordern. Es stehen sich drei Antinomien gegenüber, die auch für die Analyse der Situation Zolas in Paris (Kapitel 4) sowie des Raums im Roman fruchtbar gemacht werden können: 1. Standardisierung versus Variabilität; 2. Exklusion versus Inklusion; 3. Utopisierung versus Verlusterfahrung (vgl. ebd.: 47ff.).
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2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
Das Ziel der weiteren Ausführungen ist es, die zahlreichen Publikationen zum Raum im Werk Zolas in Anlehnung an dessen Milieutheorie zu systematisieren. Grob können die bestehenden Forschungsarbeiten in zwei Lager eingeteilt werden. Jene Studien, die den Raum als geographisch messbare Einheit oder abgeschlossenen Container verstehen, welcher den Handlungsspielraum der Figuren im Roman begrenzt, und jene Studien, die diesen Ansatz problematisieren, indem sie die Wirkkraft der Figuren inhaltlich wie formal aufzeigen und den Raum auf diese Weise dynamisieren und öffnen. Hiervon ausgehend können Kriterien für die Analyse von Raum abgeleitet werden, mit deren Hilfe Vor- und Nachteile der existierenden Arbeiten eingeschätzt und die Ambiguität des Raums im Werk Zolas offengelegt werden können. Wenden wir uns im Folgenden aber zuerst denjenigen Arbeiten zu, die den Raum bei Zola primär als determinierenden Behälter begreifen.
2.1
Der Raum als Container
Die dominante Position dieser Forschungsrichtung lässt sich mit Chantal Bertrand-Jennings Feststellung, die anthropomorphen Räume in den Romanen Zolas erdrückten den Menschen, zusammenfassen (vgl. Bertrand-Jennings 1987: 11).1 Dies ist ein direkter Verweis auf Zolas Aussagen zum Milieudeterminismus, die anhand einiger zentraler, wenn auch selektiver Textstellen aus der Roman- und Theatertheorie des Autors rekonstruiert werden können. In Le Roman expérimental von 1880 definiert Zola das Milieu unter Rückgriff auf Claude Bernard und Hippolyte Taine zuerst als Forschungsgegenstand sowie Mittel, um
1
Der Raum bekommt bei Zola auch animalische Züge oder verwandelt sich in ein pflanzliches Wesen, so zum Beispiel im Falle des Gewächshauses in La Curée, des Gartens in La Faute de l’Abbé Mouret oder des Zuges in La Bête humaine. Vgl. für einen knappen Überblick zur Untersuchung von Raum bei Zola Pagès (1993).
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Erkenntnisse und Methodik der Experimentalmedizin mit einer progressiven Romanpoetik zu verbinden. Er hat konkret das physiologische sowie das soziale Milieu im Sinn, wenn er den Determinismus im Kontext der Entwicklung der Wissenschaft bespricht: [L]e roman expérimental est une conséquence de l’évolution scientifique du siècle; […] il substitue à l’étude de l’homme abstrait, de l’homme métaphysique, l’étude de l’homme naturel, soumis aux lois physico-chimiques et déterminé par les influences du milieu (CDLP, X: 1186).2 Der Wahrheitsanspruch des Naturalismus verpflichtet dazu, qua wissenschaftlich rigorosem Vorgehen die Einflussfaktoren auf den Menschen, darunter physikalisch-chemische Gesetze und das äußere Milieu, zu untersuchen und die Künste auf diese Weise weiterzuentwickeln. Zola nimmt den Menschen also nicht nur als biologischen Organismus, sondern auch in seinem funktionalen Zusammenhang zur Gesellschaft wahr. Er erläutert: Eh bien! dans l’étude d’une famille, d’un groupe d’êtres vivants je crois que le milieu social a également une importance capitale. […] [C]es faits du mécanisme des organes agissant sous l’influence du milieu intérieur, ne se produisent pas au dehors isolément et dans le vide. L’homme n’est pas seul, il vit dans une société, dans un milieu social […] (CDLP, X: 1184). Zola schlägt im Zitat die Brücke von der Physiologie Bernards zur Geschichtsschreibung Taines. Letzterer erforscht in seiner Balzac-Studie das soziale Milieu als Faktor der Determination und konsultiert Literatur zum Autor, befragt Mitmenschen oder sucht dessen Wohn- und Geburtsort auf. Aus Zolas lobendem Kommentar zu diesem Vorgehen lässt sich sein erweitertes Verständnis vom sozialen Milieu als Verbindung geographisch-materieller, historischer Gegebenheiten sowie mentaler Einstellungen deduzieren (vgl. CDLP, X: 1185).3 2
3
Ähnlich ruft Zola in Le Naturalisme au théâtre (1881) dazu auf, das Theater zu innovieren, indem auch hier dem Milieu eine größere Rolle beigemessen werden soll: »Au théâtre surtout, il n’est pas permis de retourner en arrière. C’est l’époque, c’est le milieu ambiant, c’est le courant des esprits qui font les pièces vivantes« (CDLP, XI: 325). Im zweiten Vorwort zu Thérèse Raquin heißt es: »Quelles que dussent être leurs conclusions, ils admettraient mon point de départ, l’étude du tempérament et des modifications profondes de l’organisme sous la pression des milieux et des circonstances« (Zola 2007 [1867]: 5). Zola fasst in Le Roman expérimental zusammen: »Le déterminisme domine tout« (CDLP, X: 1183). Auch in Nos auteurs dramatiques und Les romanciers naturalistes (1881) bespricht er die Bedeutung des Milieus bzw. des Milieudeterminismus, doch sind die Bemerkungen deckungsgleich mit den hier zitierten Passagen und müssen daher an dieser Stelle nicht erneut angeführt werden. Bereits in den »Différences entre Balzac et moi« von 1869 hatte er konkret vermerkt: »Si j’accepte un cadre historique, c’est uniquement pour avoir un milieu qui réagisse; de même le métier, le lieu de résidence sont des milieux« (N.a.f. 10345, fo 15).
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
Hierin findet sich ebenso der Ausgangspunkt für die methodische Vorarbeit des Romanciers in der Rolle des Wissenschaftlers, womit die bekannte Analogiebildung zwischen Autor und Experimentator bzw. Beobachter pointiert und der Schritt hin zur Romanproduktion vollzogen wird. Zola spricht diesbezüglich von dem »document humain«, welches neben dem Milieu den Auftakt zur Arbeit am Roman markieren soll: [L]e romancier et le critique partent aujourd’hui du même point, le milieu exact et le document humain pris sur nature, et ils emploient ensuite la même méthode pour arriver à la connaissance et à l’explication […] de la machine humaine soumise à certaines influences (CDLP, X: 1297).4 Wichtig ist Zolas Hinweis darauf, dass das Milieu zwar die Daten zum Funktionieren der Maschine Mensch liefert, diese aber durch den Autor ermittelt und für die Literatur aufbereitet werden müssen. Schnell taucht daher auf narrativer Ebene eine letzte Bedeutungsebene des Milieubegriffs bei Zola auf. Das Milieu wird mit einem »cadre« gleichgesetzt, welcher zum formalen Mittel für die Wiedergabe der angesammelten Informationen zur Lebenswelt der Figuren wird (vgl. Lumbroso 2002). In »De la description« (1880) geht Zola auf jene Elemente ein, die das Milieu bzw. diesen »cadre« näher bestimmen: Nous estimons que l’homme ne peut pas être séparé de son milieu, qu’il est complété par son vêtement, par sa maison, par sa ville, par sa province; et, dès lors, nous ne noterons pas un seul phénomène de son cerveau, sans en chercher les causes ou le contrecoup dans le milieu. […] Je définirai donc la description: un état du milieu qui détermine et complète l’homme (CDLP, X: 1299).5
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Der Ausdruck »document humain« stammt von Edmond de Goncourt und wird schnell zum Leitmotiv der naturalistischen Schule. Er schreibt im Vorwort zu Les Frères Zemganno: »Car seuls, disons le bien haut, les documents humains font les bons livres: les livres où il y a de la vraie humanité sur ses jambes« (1879: x). Katherine Ashley (2005: 71) definiert den Term »document humain« als »the process of literary creation and the status of the document as material to be exploited in a novel [and, J.K.] the result of the process of observation and the accumulation of data. […] The document is, on the one hand, a material trace of a present or past empirical reality […] and generate[s] what can, given the dual meaning of the term, be considered a new document: the novel.« Auch im Theater möchte Zola ein bloß pittoreskes Bühnendekor durch den dramatischen Nutzen eines realistischen Milieuentwurfs ersetzt wissen und verweist dann auch auf den Determinismus: »[J]e retrouve ici la question de l’homme métaphysique, de l’homme abstrait qui se contentait de trois murs dans la tragédie, tandis que l’homme physiologique de nos œuvres modernes demande […] à être déterminé par le décor, par le milieu, dont il est le produit« (CDLP, XI: 353). Er führt aus: »[L]es uns voudraient qu’on en restât à la nudité du décor classique, les autres exigent la reproduction du milieu exact, si compliquée qu’elle soit. Je suis évidemment de l’opinion de ceux-ci« (CDLP, XI: 327).
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Entscheidend ist, dass Zola die Beschreibung als narrativen Platzhalter für das reale Milieu und seine Gegebenheiten ansetzt (vgl. Kapitel 3.3.2.3). Sie muss auf literarischer Ebene verdeutlichen, dass der Mensch den Bedingungen seines äußeren und inneren Milieus unterliegt – explizit nennt Zola die Stadt und die Provinz – und über wenig bis gar keine Handlungsfreiheit verfügt. Werden die Bemerkungen aus dem Roman expérimental selektiv gelesen, verwundert es nicht, dass sich Teile der Zola-Forschung mit einer engen Definition des Raumbegriffs begnügen, die mit einer verkürzten Definition des Milieus im Sinne von materieller Umwelt und kausalen Gesetzmäßigkeiten bei Zola kongruent ist. Dieser Logik folgend ist der Raum für Jean-Jacques Tonard zum Beispiel geographisch klar umrissen und gestaltet sich als »entité architecturale composée de quatre cloisons et d’un toit«, welche die Funktion eines »rempart« habe (Tonard 1994: 7).6 Ein Blick in die Forschungsliteratur bringt zahlreiche weitere Beispiele für diese Perspektive hervor, die vornehmlich eingenommen wird, wenn topographisch genau lokalisierbare Orte im Fokus stehen. Dabei sticht hervor, dass für viele der Romane der Rougon-Macquart-Reihe das gleiche Urteil gefällt wird. So wird der Raum der Bergbaustadt Voreux in Germinal als ein »espace euclidien« beschrieben (Mary 1984: 105), in La Faute de l’Abbé Mouret zeigt uns Zola laut Ormerod (1974: 35) einen »enclosed garden«, auch das Kaufhaus in Au Bonheur des Dames ist ein typisch weiblicher, »enclosed space of the ›whorehouse‹« (Waddell 2000: 63) und das Zimmer Nanas ein »huis clos« (Noetinger 1997: 161). Genauso stellt die Treppe in Pot-Bouille für Alain de Lattre einen »espace enfermé« (1975: 164) dar, ähnlich wie der »cabinet particulier«, der als Rückzugsort in der Öffentlichkeit inszeniert wird (vgl. Ponnier-Bonnin 2000: 177).7 Mit Mary Jane Evans Moore kann die Auslegung der naturalistischen Raumkonzeption vieler Zola-Forscher daher wie folgt zusammengefasst werden: »For these scholars, space is apparently a collection of places for people to be, and occasionally to move from one spot to another rather like men on a checkerboard« (vgl. Moore 1982: 3).8 Anders ausgedrückt verfügen die Figuren
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Dass diese Haltung gegenüber dem Naturalismus in den Literaturwissenschaften grundsätzlich weit verbreitet ist, beweist folgendes Zitat aus dem Aufsatz Wolfgang Hallets: »So kann man davon ausgehen, dass die realistische Literatur naturalisierende Vorstellungen befördert hat, die kulturelle Räume als relativ statische, transparente Entität erscheinen lassen« (Hallet 2009: 24). Von einer »géographie close« in den Raumanlagen Zolas geht auch Neide de Faria aus (1977: 232; vgl. hierzu auch Roland Bourneuf 1970: 11). Zur Idee des Gartens als Schutz vor der Außenwelt vgl. Piton-Foucault (2008). Im Grunde geht es in dem Vergleich privater und öffentlicher Orte bereits um den Kontrast von offenen und geschlossenen Räumen. Vgl. auch Lewis Kamm, der schreibt: »Critics of Emile Zola generally acknowledge that the novels of the Rougon-Macquart reveal Zola’s propensity to portray closed spatial worlds in which characters and events seem imprisoned within rigidly defined limits« (Kamm 1975: 224).
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
über keinen freien Willen und werden von äußeren Kräften, darunter fällt durchaus auch der Autor Zola, gelenkt. Die Begründung hierfür liefert das Bedürfnis Zolas nach Kontrolle und kompositorischer Ordnung, welches in den Arbeitsbüchern und hier besonders im Kartenmaterial zum Vorschein tritt. Anna Kaczmarek sieht in der Geschlossenheit der Räume eine notwendige Bedingung und Möglichkeit für Zola »pour mieux montrer ses personnages, pour rendre visible tout le réseau de relations et de dépendances qui les lient au lieu dans lequel ils vivent, et, par le lieu, à un milieu social« (Kaczmarek 2011: 30).9 Die Notwendigkeit des Geschlossenen wird zudem aus dem Umstand, dass die Romane Zolas formal sehr stark strukturiert und vorgeplant sind, abgeleitet, sodass kein Platz für räumliches Experimentieren zu bestehen scheint. Die Verteilung der einzelnen Bausteine der Erzählung folgt einer internen Logik »d’enchâssements, d’alternances, de parallélismes et de symétries« (Mitterand 1990: 199), die das Vorgehen Zolas in den Augen Henri Mitterands mit dem eines Strukturalisten vergleichbar
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Vgl. hierzu die aussagekräftigen Titel der Arbeiten Jean-Jacques Tonards und Anna Kaczmareks: Thématique et symbolique de l’espace clos dans le cycle des Rougon-Macquart d’Émile Zola (Tonard 1994) und »Le huis clos zolien. La conception et la signification de l’espace dans le cycle des Rougon-Macquart« (Kaczmarek 2011). Auf den Wechsel von geschlossenen und offenen Räumen wurde in der Forschung mehrfach aufmerksam gemacht, ohne dass dies jedoch in jedem Fall weiterführende Analysen nach sich gezogen hätte. Auguste Dezalays große Studie eruiert den Rhythmus von Öffnung und Schließung in der Familiensaga: »L’univers romanesque de Zola demeure […] sous le signe d’un paradoxe: c’est un monde en expansion continue, avec ses conquérants, ses ambitieux, ses fauves carnassiers, mais la loi du retour le fait pour ainsi dire retomber sur lui-même en se contractant jusqu’à acquérir une fantastique densité, et une plénitude compacte et opaque […]. Peut-être faut-il […] un espace intermédiaire entre le monde de l’expansion brutale et directe de leurs ambitions et l’enceinte resserrée où les enferment le cloître ou la maison close de leur famille originelle« (Dezalay 1983: 68, 198). In der Analyse von La Fortune des Rougons kommt er zu folgendem Schluss: »Si bien que le rythme des oppositions entre l’espace ouvert, onirique ou stratégique, et l’espace clos, létal ou fœtal, se superpose à la cadence des allers et retours […]: à l’espace clos de l’aire Saint-Mittre s’oppose, pour Silvère et Miette, l’espace ouvert des promenades dans la campagne« (ebd.: 310). Dies wird nicht zuletzt auch in der Anlage der Räume von Germinal deutlich. Der offene Weg in die Zukunft des Protagonisten Étienne steht der geschlossenen Welt der Mine gegenüber. Henri Mitterand geht auf die Entwicklung im Schreiben Zolas ein und konstatiert: »[À] l’obsession inquiète et malheureuse des espaces clos, dans Les Rougon-Macquart, succède […], à partir des Trois Villes, une euphorie et une utopie de l’ouverture et des vastes horizons, spatiaux et temporels« (Mitterand 1986: 70). Dies ist sicherlich korrekt, doch finden sich offene Strukturen bereits in den Rougon-Macquart. Für Alain de Lattre herrscht im Werk Zolas generell eine »disproportion« oder »dualité« vor, die sich auch auf den Raum überträgt (1975: 175, 207f.). Anne Belgrand sieht offene und geschlossene Räume speziell in La Curée am Werk (vgl. Belgrand 1987: 25).
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macht (vgl. Mitterand 1990: 109).10 Zu nennen sind in diesem Punkt die Arbeiten der critique génétique zur Genese der Romane bzw. der Räume im Werk Zolas. Das Vorgehen des Autors in den Arbeitsbüchern gilt hier oft als dogmatische Umsetzung der wissenschaftlichen Theorien. Mit Bezug auf das lexikalische und semantische Inventar des Positivismus, darunter zum Beispiel »constater, notes, étudier, faits, logique« (Mitterand 2014: 51, Hervorh. i.O.), wird Zola als »écrivain à programme« bestimmt, als »maître de l’œuvre [qui, J.K.] prend en charge ce que l’œuvre doit être, ce qui est l’exigence même de l’œuvre« (Ferrer 2002: 28). Olivier Lumbroso unterstreicht dies in seiner kognitionspsychologisch motivierten Studie und zeigt, welches Gewicht die dem Denken Zolas inhärenten geometrischen Figuren eines »espace abstrait, […] topologique et euclidien« (Lumbroso 2004: 302) in der Konzeption der Räume haben, und versteht diese als Basis der »géométromanie« Zolas (ebd.: 41).11 In diese Richtung zielt auch ein Teil der Arbeiten, die die Romane Zolas als Karten lesen. Hier wird mitunter Zolas Konfigurieren des Textraums mit der oft mathematischen Sicht des Architekten auf Raum (in der Planungsphase) verglichen. Neide de Faria bezeichnet Zola explizit als »architecte-urbaniste« (1977: 237). Der »all-powerful author« (Conley 1996: 292, vgl. Bray 2013: 7) kreiert einen objektiven, für alle verfügbaren Raum als Ausdruck des Bedürfnisses nach Ordnung (vgl. Lumbroso 2004: 76).12 Dies betont auch der von Franco Moretti erstellte Atlas of the
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Dies erinnert an das System der sich gegenüberstehenden Teilräume bei Jurij M. Lotman (1972). Die Frage der Komposition und die damit zusammenhängende, von Zola aber oftmals negierte Frage der Form werden in Kapitel 4 genauer untersucht. Zola schreibt selbst in seinem Brief vom 20.05.1884 an Joris-Karl Huysmans: »Peut-être estce mon tempérament de constructeur qui regimbe, mais il me déplaît que des Esseintes soit aussi fou au commencement qu’à la fin, qu’il n’y ait pas une progression quelconque« (Corr, V: 108). Die »organisation géométrique de l’espace« in La Bête Humaine erkennt zudem Éléonore Reverzy (2007: 212; vgl. auch Lumbroso 2004, 2002 und 2005). Die Manuskripte und Zeichnungen aus den Arbeitsbüchern Zolas wurden von Olivier Lumbroso und Henri Mitterand (2002) gesondert herausgegeben und kommentiert; vgl. auch Hamon (1997 [1984]) und Bloch-Dano (2002). Vgl. zur Genese der Romane zudem Lumbroso (2010, 2013). Vgl. dagegen zur Auflösung topographischer Ordnung in La Curée den Aufsatz von Masha Belenky (2013): Belenky verweist auf die topographische Genauigkeit Zolas, macht aber alsbald deutlich, dass der Autor die sozialen Orte des Haussmann-Paris mit einer Bedeutung auflädt, die nicht nur dem eigenen Anspruch nach Präzision, sondern auch der von Baron Haussmann intendierten Stadtordnung entgegenläuft (vgl. Belenky 2013: 27f.); ebenso ergründet Patrick Bray die Funktion der Karte der »Aire Saint-Mittre« aus La Fortune des Rougon und beweist, dass die »visual representation and authorial autonomy« der Karte einer »freedom of verbal expression« im Roman weichen (Bray 2013: 17) und degradiert den Stammbaum der Familie Rougon-Macquart zum bloßen Ablenkungsmanöver gegen den ungeklärten Ursprung der Familie (vgl. ebd.); siehe weiterhin zur topographischen Ausrichtung der Romane Zolas Loquet (1955) und Lastinger (2003).
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
European Novel (2009 [1999]), in dem neben dem topographischen Material der Romane Jane Austens oder Honoré de Balzacs auch die Topographie von Paris in den Romanen Zolas in einer Karte eingetragen wird.13 Trotz sehr interessanter Einblicke in die Überlappung realer und fiktionaler Geographien wird hier die Stadt in einen Raum transformiert, der seiner Dynamik und Wandelbarkeit im Roman beraubt zu sein scheint. Insgesamt wird deutlich, dass viele Arbeiten eine Definition von Raum als physische Entität gegenüber dem Milieu als sozialem Umfeld der Figuren wie selbstverständlich voraussetzen; diese Abgrenzung wird jedoch durchlässig, wenn ein gelebter Raum in seiner Wandelbarkeit und Beziehung zum Menschen im Werk Zolas im Vordergrund steht.
2.2
Vom Containerraumdenken zur Rolle des Menschen in der Konstitution von Raum im Roman
Es ist Sandy Petrey zuzustimmen, wenn sie schreibt: »The cliché that Zola does not present man as the conscious agent of his world has been repeated often enough« (Petrey 1974: 629). Auch die Vorstellung, dass Zola aufgrund seiner theoretischen Prämissen dazu gezwungen ist, auf determinierende, geschlossene Raumarrangements zurückzugreifen, ist zu revidieren. Nichts spricht dagegen, dass auch dynamische, offene Raumstrukturen die Figur hinlänglich darstellen können. Ganz im Gegenteil sind zum Beispiel subversives Verhalten und die hierdurch eingeleitete Öffnung des Raums wichtige handlungsgenerierende Momente. Die Übermacht des Determinismus bzw. die einseitig gedachte Beeinflussung des Menschen durch das Milieu werden von Zola bereits in der Theorie problematisiert und in ihrer Anwendung im Roman noch weitaus komplexer. In seiner Besprechung der Regularien des sozialen Milieus und des Menschen als sozialem Wesen beispielsweise muss Zola einräumen: »Sans doute, nous sommes loin ici des certitudes de la chimie et même de la physiologie« (CDLP, X: 965). Er gesteht ein, dass es einen Dunkelbereich der menschlichen Natur gibt – konkret spricht er von den Leidenschaften –, der (noch) nicht vollständig erschlossen und dem Determinismus untergeordnet werden kann. In der Folge tritt sogar 13
Franco Morettis Arbeit gehört zur angloamerikanischen literary geography. Daneben schreiten kartographische Projekte auch in der deutschen Literaturgeographie bzw. der französischen géographie littéraire voran. Zu wichtigen Vertretern zählt in Frankreich Michel Collot, der 2010 zusammen mit Julien Knebusch das Seminar »Vers une géographie littéraire« an der Sorbonne in Paris ins Leben gerufen hat, online einzusehen unter https://geographielitteraire.hypotheses.org/(29.07.2020); vgl. unter anderem auch Collot (2014). Barbara Piatti ist Autorin des Buchs Geographie der Literatur (2008) und Leiterin des interdisziplinären Projekts »Ein literarischer Atlas Europas« am Institut für Kartografie und Geoinformation der ETH Zürich, siehe: www.literaturatlas.eu/(18.07.2020).
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eine aktive Rolle des Menschen zum Vorschein, wenn Zola im Rahmen der Arbeit am letzten Band der Familiensaga, Le Docteur Pascal, auf die Bedeutung eines ausgewogenen Gleichgewichts zwischen innerem und äußerem Milieu eingeht: Nous baignons dans un milieu. Ce milieu, la nature, irrite perpétuellement par des contacts les terminaisons sensitives des nerfs […]. Or les sensations se changent alors en mouvements. […] Le travail est l’emploi de ce que nous recevons du dehors, nous brûlons ce que nous recevons, et c’est pourquoi le travail est nécessaire. […] L’équilibre parfait, c’est autant de travail que de sensations, rendre méthodiquement ce qu’on a reçu (DP: 1661f., Hervorh. i.O.). Die Betonung einer Interaktion beider Milieus überrascht nicht, da in Zolas physiologischer Milieutheorie das innere und äußere Milieu von den gleichen Gesetzmäßigkeiten bestimmt, Natur und Kultur in dieser Hinsicht also gleichgestellt werden (vgl. Kaiser 1990: 36f.). Es ist demnach nur folgerichtig, an die Stelle eines einseitigen Determinismus die Idee eines Austauschprozesses bei Zola zu setzen. In Le Roman expérimental (1880) nennt der Autor neben der Vorstellung eines perfekten Gleichgewichts dann auch die Annahme einer Wechselwirkung von Mensch und Milieu. Er sieht einen Schwerpunkt seiner Arbeit daher dans le travail réciproque de la société sur l’individu et de l’individu sur la société. [Il faut, J.K.] montrer l’homme vivant dans le milieu social qu’il a produit lui-même, qu’il modifie tous les jours, et au sein duquel il éprouve à son tour une transformation continue (CDLP, X: 1184).14 Der Mensch soll inmitten eines Milieus dargestellt werden, das er selbst produziert hat, das veränderbar ist, das erlebt und erfahren wird und das wiederum auch ununterbrochen auf den Menschen einwirkt. Erneut tritt der Aspekt der »Arbeit« und »Transformation« auf den Plan – der Austauschprozess hat folglich eine produktive Seite, was den Fortschrittsgedanken und damit die Veränderbarkeit von Mensch und Milieu in der Theorie Zolas belegt (vgl. Kaiser 1990: 40).
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Dass Zola grundsätzlich von einer Ambiguität seiner Theorie ausgeht, ist mehrfach belegt worden. Das wohl bekannteste Zitat stammt aus einem Brief von 1885 an seinen Freund, den Naturalisten Henry Céard: »Nous mentons tous plus ou moins […] je crois encore que je mens pour mon compte dans le sens de la vérité. J’ai l’hypertrophie du détail vrai, le saut dans les étoiles sur le tremplin de l’observation exacte. La vérité monte d’un coup d’aile jusqu’au symbole« (Corr, V: 249; vgl. auch Barjonet 2014: 65 und den Titel des Buchs von Colette Becker (Hg.): Le saut dans les étoiles. Paris: Presses de la Sorbonne Nouvelle 2002). Auch Daniel Ferrer bespricht die Instabilität der theoretischen Prämissen Zolas in seiner Untersuchung der Arbeitsbücher: »Dès le départ, dans les ›Notes générales sur la nature de l’œuvre‹, une sorte d’archi-ébauche, Zola explique que le choix des hypothèses scientifiques sur lesquelles il va s’appuyer est totalement arbitraire« (Ferrer 2002: 28).
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
Etwas später wird in Le Roman expérimental dann die Macht des Menschen oder besser des Autors noch expliziter genannt: Il [le milieu social, J.K.] […] est le produit variable d’un groupe d’êtres vivants, qui eux, sont absolument soumis aux lois physiques et chimiques […]. Dès lors, nous verrons qu’on peut agir sur le milieu social, en agissant sur les phénomènes dont on se sera rendu maître chez l’homme (CDLP, X: 1184). Das soziale Milieu ist laut Zitat das Produkt von Menschen und es erstaunt nicht, dass für Zola unter diesen Menschen die Gruppe der Autoren eine besondere Stellung einnimmt. Der Autor ist in der Lage, zum »maître« der Fakten zu werden und auf das Milieu einzuwirken. Sandra Kluwe kommentiert: »Sobald auch nur ein Funke von Genialität ins Getriebe des ›homme machine‹ einschlägt, hat die Trias von Vererbung, Milieu und historischen Zeitumständen keinen Einfluss mehr« (Kluwe 2001: 228).15 Es gibt also durchaus einen Weg, sich dem Einfluss des Milieus zu entziehen. Wenn diese Macht auch nur Intellektuellen zukommt, ist dennoch die Idee der Wechselwirkung als Grundkonstante bei Zola zu verzeichnen. Immer mehr Arbeiten innerhalb der Zola-Forschung befassen sich daher mit der Rolle der Figur(en) in Bezug auf das Konstruieren, Erleben und Wahrnehmen von Raum. Sie problematisieren den Determinismus-Gedanken, indem sie unter Rückgriff auf ein prozessuales Raumverständnis die Feststellung der Wechselseitigkeit, die im Zola’schen Milieubegriff bereits angelegt ist, weiter ausdifferenzieren.16 Henri Mitterand bestätigt, dass Zola schon in seiner frühen Schaffensphase das positivistische Milieudenken erweitert, indem er ihm aus der Vererbungslehre Prosper Lucasʼ eine Vitalkraft an die Seite stellt, die großen Einfluss auf seine Konzeption des Verhältnisses von Mensch und Milieu hat. In Bezug auf die Figur im Roman stellt Henri Mitterand (1990: 75) fest, dass la relation métonymique [entre le milieu et le personnage, J.K.] fonctionne dans les deux sens, […] le décor naturel se voi[t] investi des marques affectives, passionnelles, voire pulsionnelles, du personnage, et s’en fa[it] le témoin, le confident, voire le double. Henri Mitterand sieht die Wirkkraft der affektiv-triebhaften Figur im Roman in der hereditären poussée begründet, die Interaktionen im und Konstruktionen von
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Sandra Kluwe zeigt, dass Zola in seiner frühen Lektüre der Werke Hippolyte Taines die Künstlerpersönlichkeit und nicht den Wissenschaftler wahrgenommen, der DeterminismusGedanke also erst später an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Kluwe 2001: 226). Problematisch ist, dass Definition und Begründung der Verwendung des Raumbegriffs in den meisten Fällen fehlen, was beim Leser zu terminologischen Unklarheiten führen bzw. das Gefühl der willkürlichen Verwendung der Begriffe auslösen kann.
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Raum auslöste (vgl. Mitterand 1994b: 52).17 Obwohl der Mensch durch Naturgesetze, das geistige Klima und Lebensgefühl einer Epoche sowie die ihn umgebenden räumlichen Strukturen prädeterminiert wird, erlauben ihm die Vitalkräfte der Natur doch auch, auf seine materielle und soziale Umwelt einzuwirken und die deterministisch-fatalistische Weltsicht abzuschwächen.18 Es wird allzu oft übersehen, dass diese relationale Sicht bereits bei Claude Bernard zu finden ist. Auguste Dezalay ist einer jener Forscher, die darauf hinweisen, dass Bernard eine sowohl mechanistische als auch dialektische Weltsicht propagierte und letztere auch in Zolas Romanen, hier La Terre und Germinal, durchscheint: »Ce n’est pas la terre qui cloue le paysan à la terre, ni la mine qui enfonce l’homme sous le sol, c’est le système économique qui fait de celle-ci une exploitation de l’homme par l’homme« (Dezalay 1983: 107). Genauso wenig kann die Vererbung als einzige Erklärung für das menschliche Handeln angeführt werden. Colette Becker stimmt dem zu und notiert: Le personnage zolien est, certes, le produit de l’hérédité et du milieu. Mais il n’est pas que le résultat de causalités quasi automatiques. Si l’hérédité sert à Zola de ›fil d’Ariane‹ pour construire un système cohérent, celui-ci n’est ni fermé ni véritablement rigoureux (Becker 2002: 197).19 Die Zola-Spezialistin begründet die Inkohärenz des Systems sowohl mit dem Prinzip des Zufalls als auch mit dem Zuführen unübersichtlicher Faktoren durch angeheiratete Figuren.20 An die Stelle der prioritären Untersuchung eines strengen 17 18
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Zola bespricht die Erweiterung seiner Theorie in den »Notes générales sur la marche de l’œuvre« und den »Notes générales sur la nature de l’œuvre« (1867-68) der Arbeitsbücher. Den Vitalismus als Gegenpol zum Determinismus bespricht Thomas Stöber (2006) ausführlich. Von der Zweischneidigkeit Zolas berichtet auch Elke Kaiser (1990: 45): »[E]benso wie Determinismus und Indeterminismus bei Zola konkurrieren, erweist sich der demonstrative Materialismus bei näherem Hinsehen als eine Art heimlicher Idealismus.« Vgl. hierzu unter anderem auch die von Rainer Warning konstatierte Konterdiskursivität Zolas (vgl. Warning 1999 [1990]). Von einem Kampf der Paradigmen geht auch Niklas Bender aus (2009). Er untersucht, inwiefern sich im 19. Jahrhundert ein biologisch-medizinisches und historisches Paradigma gegenüberstehen. Zudem eruiert Bender, auf welche Weise hiervon ausgehend ein widersprüchliches Menschenbild zwischen Statik und Dynamik entsteht. Auch Jean-Jacques Tonard erkennt: »Chez Zola, l’homme et son milieu sont étroitement mêlés […]. Les lieux font corps avec les personnages au point de posséder par le biais de personnifications et de métaphores, des traits de caractères humains« (Tonard 1994: 2). Zum gleichen Schluss kommt Alain de Lattre. Er schreibt zur Verbindung von Milieu und Figur: »L’un se fait par l’autre« (1975: 109). Der Vermengung von Milieu und Figur gehen des Weiteren nach: Dezalay (1983: 109, 169), Best (1989), Nakai (1996), Betrand-Jennings (1973), (1987) und Lony (1997). Zu Recht verweist Colette Becker auf Le Docteur Pascal (1893), in dem Zola den Arzt Pascal (als Sprachrohr für den Autor) die naturalistische Theorie hinterfragen lässt: »La réalité vivante, presque à chaque coup, démentait la théorie. […] L’hérédité restait obscure, vaste et inson-
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
Determinismus durch Zola setzt Colette Becker dessen Untersuchung von Figurenverhalten, deren gelebte Erfahrung von Raum und Zeit bzw. die »interaction de l’individu et de son espace« (Becker 2002: 198). Wir erreichen also den Punkt, an dem auch die Forschung die Wechselseitigkeit anhand von Figur und Raum weiter ausdifferenziert. Entsprechend hält Henri Mitterand fest: [L’]originalité profonde de Zola n’est peut-être pas d’avoir appliqué au roman les lois de Taine […], mais d’avoir saisi, en précurseur de l’anthropologie la plus récente, la liaison fondamentale qui unit une société à ses lieux de vie (Mitterand 1990: 260).21 Nur wenige Vertreter der Zola-Forschung denken diesen Punkt theoretisch weiter und berücksichtigen in ihren Überlegungen zur Raumkonstitution bei Zola die aktive Partizipation der Figur. Philippe Hamon (2011 [1983]: 213, Hervorh. i.O.) notiert aus strukturalistischer Perspektive: »Chez Zola, l’espace […] non seulement construit le personnage […], mais est d’abord construit par le personnage, qui semble toujours être délégué à la fabrication de son ›cadre‹.«22 Der Mensch ist also kein passiver Part der Raumkonstruktion. Obwohl Philippe Hamon die Existenz eines »cadre« voraussetzt, ist die wesentliche Erkenntnis doch die, dass die Individuen an dessen »fabrication« beteiligt sind. Auch Denis Bertrand kommt in seiner
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dable, comme toutes les sciences balbutiantes encore, où l’imagination est maîtresse« (DP: 946; vgl. auch Becker 2002: 197). Ähnlich bemerkt Philippe Hamon (2011 [1983]: 206): »[L]a ›soumission‹ du personnage aux ›choses‹, a priori posé si nettement par ce texte théorique-programmatique de 1869 [»Différences entre Balzac et moi«, J.K.], n’est peut-être pas, finalement, la fonction principale de la relation personnage-milieu, ou, en tout cas, une relation aussi simple et univoque que celle qui relie en permanence un dominant à un dominé.« An anderer Stelle geht Philippe Hamon dann auch auf das Verhältnis von Theorie und Praxis im Schaffen Zolas ein: »De plus, si le milieu crée le personnage (dans la théorie), on voit souvent, dans le roman, le personnage créer et ›composer‹ son milieu« (vgl. Hamon 2011 [1983]: 84). Er erläutert im Anschluss, dass die »forces de destruction du système« (ebd.: 214) die Figuren, hier Nana und Auguste Lantier, am Ende dazu treiben, diese Räume und Milieus auch wieder zu zerstören (vgl. ebd.). Sylvie Thorel-Cailleteau kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die Beschreibungen oft von Figuren motiviert werden: »La description rend compte du ›milieu qui détermine et complète l’homme‹; […] on verra d’autre part la description introduite par les mouvements et les dispositions des personnages, et généralement organisée par ces dernières« (Thorel-Cailleteau 2001: 52). Maarten van Buuren geht dem Zusammenhang von Figur und Milieu anhand des Einsatzes von Metapher und Metonymie nach. Metaphorische Attribute der Figur könnten auf das Milieu übertragen werden und andersherum (vgl. van Buuren 1985: 77). Für den Fall, dass das Milieu Merkmale der Figur annehme, bedeutet dies van Buuren zufolge: »Au lieu d’appuyer la détermination de l’homme par son milieu, ils montrent au contraire que souvent l’homme détermine son milieu« (van Buuren 1985: 80). Vgl. zur Rolle des Blicks in der Entstehung von Raum auch de Chalonge (1987).
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semiotischen Studie zu diesem Ergebnis, wird aber in Bezug auf die Fähigkeiten der Figur etwas präziser. Er untersucht, inwieweit sich in der Anfangsszene des Romans Germinal ein figuratives räumliches Netz in dem Zusammenspiel der »figures de l’espace (objet de la description inaugurale) et la figure de l’acteur (le sujet humain qui leur est associé)« aufspannt, und spricht den Figuren eine »compétence cognitive qui porte précisément sur la construction discursive de la spatialité« (Bertrand 1985: 98) zu.23 Für die Arbeit von großer Relevanz ist die Analyse der sinnlichen Wahrnehmung als Voraussetzung für die Entstehung von Raum bei Henri Mitterand, Denis Bertrand und Neide de Faria. Für Henri Mitterand ist im Roman Germinal die räumliche Organisation in der Abfahrt in die Grube von der Wahrnehmung bzw. Handlung der Figur Étienne Lantier bestimmt: »Le lieu représenté n’existe aux yeux du lecteur que par l’énonciation muette qu’en fait le personnage, à la fois par son trajet, par ses perceptions, par ses tentatives d’identification et de repérage« (Mitterand 1990: 123).24 Er fasst zusammen, dass Étienne in einem phänomenologischen Verhältnis zu seinem »espace de vie« stehe und dabei drei Register aufgespannt würden: »les affects, la connaissance, l’action; le sentir, le savoir et le faire« (ebd.: 132). Im Vorwort zu Denis Bertrands L’espace et le sens beschreibt er dann konkreter die »vecteurs sensoriels et affectifs de la spatialisation (vue, ouïe, odeurs, toucher, impressions d’euphorie ou de malaise)« (Mitterand 1985a: 10) als bedeutende Indikatoren der Raumaneignung durch das Subjekt: Ainsi s’analysent en même temps les caractéristiques matérielles du lieu et les aspects de son occupation. Il arrive […] que ›le lieu s’inscrive tout entier‹ […] dans les corps qui l’occupent, dans leur contact, dans leur promiscuité et jusque dans leur sueur.
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Denis Bertrand ausführlicher zum Konnex von Subjekt und räumlichen Figuren: »Plus, elles [la dimension narrative et la dimension descriptive, J.K.] se référentialisent réciproquement: les figures de l’espace ne sont pas déposées isolément, laissées à leur seule capacité de référenciation, elles entrent dans le projet cognitif du sujet qui les produit et les délimite en fonction de sa disposition perceptive (en ce sens, le sujet référentialise l’espace, il en constitue le ›support‹); et inversement, les figures de l’espace – éléments exclusifs de la description – sont saisies dans un système de valorisations qui désignent le sujet et en dessinent le contour axiologique (c’est alors l’espace qui référentialise la figure d’un sujet dysphorique et lui ajoute un coefficient de réalité)« (Bertrand 1985: 98). Henri Mitterand gibt in seiner Analyse der Zeit in La Curée zu verstehen, dass der Determinismus hier lediglich als »données de surface« fungiert. Er führt aus: »La vérité sémiotique et esthétique de l’œuvre est ailleurs: dans ›l’exploration des modalités de l’expérience temporelle‹ pour reprendre une dernière fois les mots de Temps et récit [de Paul Ricœur, J.K.]« (Mitterand 1998: 133). Obwohl der Aspekt der Zeit in den Analysen des Romans im Vordergrund steht, geht es Mitterand immer auch um die Erschließung raumzeitlicher Verdichtungen im Sinne des Chronotopos Michail M. Bachtins.
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
Dass die Konstitution von Raum ein körperlicher Prozess ist, ist ein wichtiges Argument für die Aufwertung der Rolle der Figur. Neide de Faria sieht die topologische Position und den Blick der Figur (oben, unten etc.) ebenfalls als eine Voraussetzung für das Erschließen eines »espace réel« im Roman Zolas an (vgl. de Faria 1977: 237f.). Nach dem realen »cadre« des beruflichen Lebens und Handelns der Figuren untersucht sie die Semantik des »espace mythique« anhand einer »sémantique des sens« (de Faria 1977: 253). Visuelle, auditive und olfaktorische Reize erwecken für de Faria den Eindruck von kosmogonischen, chaotischen und animalischen Welten (vgl. ebd.: 273, 279, 284). Wenn Figuren Ereignisse im Raum primär affektiv wahrnehmend und nicht handelnd im Sinne Jurij M. Lotmans erleben, wird die anthropologische Seite des Raums als gestimmter oder gefühlsbetonter Raum betont und dessen rahmender, taxonomischer Charakter unterlaufen (vgl. Ströker 1977 [1965]). Die Wahrnehmung der Figur ist allerdings nicht nur das Mittel, um existierende Ordnungen des Raums wiederzugeben. Den Figuren obliegt es auch, über ihr Raumerleben jene resistenten Räume zu entdecken, die Rainer Warning in seinen Ausführungen zur Heterotopie Michel Foucaults anhand von La Fortune des Rougon oder Au Bonheur des Dames analysiert hat. Heterotope Orte repräsentieren, bestreiten und invertieren reale Orte und entstehen in der Literatur »in [der] Konvergenz des schreibenden Subjekts mit einem realen Raum, den es aufgrund bestimmter Merkmale imaginativ als einen ›anderen Raum‹ erfahren und festhalten kann« (Warning 2009: 21; vgl. Kapitel 3.2). Jene Erfahrung wird mit Rückgriff auf Martin Heidegger und Jacques Derrida als »ästhetische Präsenzerfahrung […] von Simulakren, Phantasmen, für die nicht Repräsentationsidentität wesentlich ist, sondern Differenzintensität und damit Wahrnehmung, Empfindung« (Warning 2009: 36f.) beschrieben. Nicht mehr die referentielle Funktion von Literatur ist dann von Interesse, sondern das Evozieren der räumlichen und zeitlichen »Ereignishaftigkeit ästhetischer Wahrnehmung« im Text (ebd.: 3; vgl. ebd.: 22). Allerdings geht auch Rainer Warning in den Romananalysen der körperlichen oder sinnlichen Erfahrung von heterotopen Orten auf Figurenebene und deren Verflechtung mit dem realen Ort nicht konsequent nach. Es zeigt sich, dass die Darstellung der sinnlichen Wahrnehmung der Figuren der Schlüssel für die Erforschung der Materialität und Semantik des Raums ist, die sich nicht auf topographische Gegebenheiten beschränkt, sondern im Austausch oder sogar der Aufhebung der Grenze zwischen Körper und Objektwelt liegt. Die Charaktere scheinen in der Praxis durch ihre Körperlichkeit bzw. ihr affektiv-sinnliches Dasein dem schier übermächtigen Raum etwas entgegensetzen zu können.25 25
Véronique Cnockaert merkt in diesem Kontext an, dass die Betonung des Sinnlichen den Determinismus schwäche: »[D]ès qu’il s’agit de peindre une sensation, quelle qu’elle soit, Zola s’éloigne du discours scientifique pour adopter une prose plus poétique qui ne craint pas un
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Ein letzter Forschungszweig entdeckt bezüglich des Raumerlebens in den Carnets d’enquêtes der Arbeitsbücher nun auch eine bislang wenig erforschte Seite Zolas. Das Konsultieren der Dossiers ist deswegen wichtig, weil hiermit eine alternative Quelle zur Bewertung der Raumarbeit Zolas gefunden wird. Bewusst vernachlässigt zum Beispiel Henri Mitterand das theoretische Programm, welches er für gründlich untersucht hält, und wendet sich der konkreten Begegnung Zolas mit dem materiellen Raum zu (vgl. Mitterand 2014: 51). Anstatt hier lediglich den Ort der Informationssuche zu sehen, erkundet Henri Mitterand Zolas »parti-pris des choses«, die jouissance du regard et de l’inventaire, la saisie gourmande et même l’incorporation, par tous les sens, de tout ce qui passe par les yeux, les oreilles, le corps: la pulsion scopique, auditive et coenesthésique, voire tactile, le besoin de happer et d’attraper […]. Voilà ce qu’est sa préhension de ce qu’il est trop simple et trop grossier de qualifier de document. Une immersion dans le fouillis des choses et des êtres (ebd.: 52).26 Henri Mitterand kritisiert ein vereinfachendes Denken des Naturalismus, da es Zolas sinnliche Immersion, die »intuition, intériorisée, et transmise, d’un vécu, dans son espace et son temps propres« nicht berücksichtige (ebd.). Hier können diejenigen Arbeiten der critique génétique anknüpfen, die Zola nicht als »écrivain à programme«, sondern als »écrivain à processus« einstufen, der erst im Laufe der Vorarbeiten seine Romanentwürfe aus einer Vielzahl von Möglichkeiten entwickelt, die dem Prinzip des »libre arbitre« und nicht einer vorgefassten Struktur gehorchen (Ferrer 2002: 31; vgl. auch Grésillon 2002). Insgesamt lässt sich mit Mary Jane Evans Moore resümieren, dass der Raum bei Zola »both fluid and subjective, […] even ›homocentric‹« ist (Moore 1982: 3); er ist prozessual zu verstehen, woraus sich die Annäherung, aber auch die Abgrenzung zum Zola’schen Milieubegriff ergibt. Zola schränkt sein nuancenreiches Raumverständnis epistemologisch durch die Verwendung des vom Determinismus durchzogenen Milieubegriffs ein und lässt der formulierten Dialektik von materiellen Strukturen und menschlichem Handeln keine Erweiterung seiner Theorie folgen. Auch in der Forschung lösen die Feststellung der Prozessualität und Dynamik der Beziehung Zolas zum Raum bzw. der Figuren zum Raum keine weiterführenden theoretischen Überlegungen aus, die es erlauben würden, die Ambiguität des Raums im Roman und den Facettenreichtum des Raumverständnis-
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certain lyrisme. C’est que l’expérience sensible, parce qu’elle est une rencontre impromptue avec la réalité, tord le réel« (Cnockaert 2008: 160). Von einer »immersion émergeante en régime naturaliste« geht auch Olivier Lumbroso (2017) aus und überprüft, inwiefern sich eine von dem positivistischen Programm verschüttete Empathie-Fähigkeit Zolas gegenüber dem zu beobachtenden Milieu in den Notizbüchern entfaltet.
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
ses Zolas umfassender aufzudecken. Mit der Betonung der Figurenwahrnehmung und -handlung sowie der damit einhergehenden Konstitution von Raum wird allerdings bereits ein wichtiges Moment des Wechselverhältnisses zwischen Figur und Raum auf formaler Ebene genauer herausgeschält, dem in der vorliegenden Arbeit weiter nachgegangen werden soll.
2.3
Zusammenfassung
Innerhalb der zwei übergeordneten Stoßrichtungen zur Raumuntersuchung im Werk Zolas können abschließend vier spezifische Forschungsstränge ausgemacht werden:27 1) Semantik des Raums: Hierunter fallen diejenigen Arbeiten, die sich dem Raum in der Literatur in seiner Symbolik und Metaphorik nähern. Er gilt als eigenständiger, die Geschichte motivierender Akteur im Romangeschehen, interessiert primär in seinen menschlichen Zügen als Spiegelung der états d’âme einer Figur oder als mikro- oder makrokosmische Grundstruktur für das Figurenhandeln (maison, chambre versus quartier, ville; lieu privé versus lieu public; dedans versus dehors) (vgl. Hamon 2011 [1983]: 206). Das Analysespektrum beschränkt sich hierbei meist auf die deskriptiven Passagen der Romane, auf konkrete Orte und die Emotionen und Gefühle der Figuren, die durch Räume hervorgerufen werden. Als Grundlage dienen einzelnen Arbeiten phänomenologische oder psychoanalytische Theorien sowie Ansätze aus der Diskursanalyse oder der Geschlechterforschung für die Erkundung geschlechterbezogener oder anderer Räume.28 27
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Diese Forschungsrichtungen sind repräsentativ für die Arbeiten zum Raum in den Literaturwissenschaften. An dieser Stelle muss keine Diskussion der Forschungslage erfolgen, da dies an anderer Stelle bereits überzeugend geleistet wurde und die vorliegende Studie nicht den Anspruch erhebt, die Diskussion über narratologische und (post-)strukturalistische Ansätze innerhalb der Forschung zum Raum vollständig abzubilden. Einen Stand der Dinge liefern das Handbuch Literatur & Raum von Andreas Mahler und Jörg Dünne (2015) sowie das Routledge Handbook of Literature and Space (2017). Einen Überblick geben außerdem die Arbeit Raum und Erzählen. Narratologisches Analysemodell und Uwe Tellkamps »Der Turm« von Caroline Frank (2017), die Studie Katrin Dennerleins zur Narratologie des Raumes (2009), Anna Becks Dissertation zur Subjekt- und Raumkonstitution (2013) sowie der Band von Alexander Ritter (1975); vgl. auch die Einleitung von Annegret Thiems Studie (2010) sowie die Artikel von Ansgar Nünning (2009), Antje Ziethen (2013) und Saskia Sasse (2009). Es soll genügen, auf zentrale Werke zu verweisen, um dann im dritten Kapitel weiterführende Informationen zu geben. Viele der frühen Arbeiten zur Raumuntersuchung in der Literaturwissenschaft nähern sich dem Raum in der Literatur unter diesem Aspekt, darunter zum Beispiel der erlebte Raum
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Paris (re)konstruieren 2) Topographie und Topologie: Der Schwerpunkt dieser Untersuchungen liegt auf der topographischen oder topologischen Gestalt des literarischen Raums im Vergleich zum realen Raum, das heißt unter anderem auf seiner kartographischen Genauigkeit/Ungenauigkeit und den durch die Text-Karte vorstrukturierten Bewegungen von Figuren. Vereinzelt werden für diese Wegstrecken topologische Netzstrukturen in den Dossiers préparatoires enthüllt, die an Knotenpunkten und Beziehungsmustern aufgespannt werden. In interdisziplinären Einzelanalysen wird versucht, die topographischen Daten der Literatur in elektronische Karten zu übersetzen (vgl. Collot 1992).29 3) Formanalysen: Diese Forschung vollzieht die räumliche Bedeutungserzeugung strukturalistisch oder semiotisch nach. Hier stehen die Korrelationen zwischen
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bei Bruno Hillebrand (1971) oder der anthropozentrische Raum bei Edwin Muir (1967). Beide Arbeiten versuchen, Mensch und Raum im Verbund zu denken und soziale Umweltfaktoren einzubeziehen. Robert Petsch (1975 [1934]) untersucht das Zusammenspiel von bestimmtem, absolutem und erlebtem Raum, das heißt, dass sowohl materielle als auch emotionale Seiten des Raums interessieren. Auch Herman Meyer (1957) geht der Symbolik und den Werten nach, die an Räume geknüpft werden. Gerhard Hoffmann (1978) greift auf Elisabeth Ströker zurück, um sein Raumkonzept des gelebten Raums in gestimmte Räume, Anschauungsund Aktionsräume aufzuteilen. Dietrich Jäger (1998) wiederum erweitert die Ansätze Gerhard Hoffmanns und Otto Friedrich Bollnows und entwickelt so eine phänomenologische Analyse des Raums. Vgl. in dieser Gruppe auch die Semantik von Räumen bei Baak (1983), das Kapitel »Maisons« aus Borie (2003 [1971]), Bachelard (1958), Butor (1964), Serres (1975), Noiray (1981) und van Buuren (1985). Viele der Arbeiten, die sich mit der Stadt Paris im Werk Zolas auseinandergesetzt haben, gehen thematisch vor. Vgl. zum Beispiel Kranowski (1968), Niess (1975-76), Thibault (1997), Corbineau-Hoffmann (2003) und Mitterand (2008). Auguste Dezalay möchte hingegen einen poetischen Zugang in der Tradition Gaston Bachelards und Pierre Sansots wählen, um die intimen oder imaginären Anteile des Stadtraums bei Zola zu erkunden (vgl. Dezalay 2004: 187f.; vgl. auch Duchet 1988). Zu dieser Gruppe zählen besonders jene Arbeiten, die im Zuge des von Siegrid Weigel ausgerufenen topographical turn entstanden sind. Der topographical turn verweist auf das Interesse deutscher Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaftler an »technische[n] und kulturelle[n] Repräsentationsweisen von Räumlichkeit« (Günzel 2007: 18) in medialen Formen wie Texten, Bildern oder Karten (vgl. Wagner 2010: 100). Hieraus entstandene, spezifische Fragestellungen und Methoden konnten nicht mehr unter den Begriff spatial turn subsumiert werden. Der Fokus liegt nicht auf dem lebensweltlichen Raum, sondern auf der Entzifferung und codierten Verschriftung von (geographischem) Raum (vgl. Weigel 2002: 160 und Döring/Thielmann 2008: 17). Siegrid Weigel geht in ihrem Aufsatz selbst nicht auf den spatial turn ein und wendet sich bei ihrer terminologischen Fixierung des topographical turn zuerst gegen die angloamerikanischen Cultural Studies, die mithilfe europäischer oder postkolonialer Studien (unter anderem Homi Bhabhas) einen ethnographischen Ansatz wählen, um symbolische Repräsentationen von Raum zu analysieren. Dieser Vorgang ist laut Siegrid Weigel problematisch, da Theorien oftmals unreflektiert übernommen und enthistorisiert würden (vgl. Weigel 2002: 159 und Wagner 2010: 104). Dem Raum als mentalem Modell gehen beispielsweise Herman (2002) und Ryan (2014) nach. Vgl. auch Kapitel 3.3.2.3, Fußnote 68.
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
den verschiedenen narrativen Elementen und die Hervorbringung räumlicher Parameter durch das Zusammenspiel dieser Elemente im Vordergrund (vgl. Mitterand 1994a: 91). Wichtige Elemente für die Raumkonstitution durch die Figur sind die Figurenwahrnehmung in ihrer sinnlichen Dimension, die Figurenbewegung oder die Perspektivierung von Räumen. Durch die Ergebnisse dieser Analyse erfolgt dann erst im zweiten Schritt die Semantisierung der Räume (vgl. Frank 2017, Beck 2013, Thiem 2010).30 4) Raumgenese: Die Gruppe der Arbeiten der critique génétique durchläuft laut Henri Mitterand einen ständigen Prozess der Konstruktion, der Dekonstruktion sowie der Rekonstruktion verschiedener räumlicher Parameter im Werk Zolas (vgl. Mitterand 1998: 11). Die Forschung zur Raumgenese kann durch ihren breit gedachten Ansatz die Perspektiven der anderen Methodologien einnehmen. Konkret finden sich sowohl kognitiv-topologische Studien, die zum Beispiel dem Rezeptionsprozess eine wichtige Funktion beimessen, als auch formale Analysen, die neuerdings durch den Einbezug der praktischen Feldforschung Zolas ergänzt werden (vgl. Frank 2017: 50ff.).31
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Erste Ansätze zur Untersuchung des Raums als Strukturelement des Texts finden sich bei Franz C. Maatje (1975) und Elisabeth Bronfen (1986). Unter diesen Ansatz kann auch das SujetModell Jurij M. Lotmans (1973) fallen. Dass der Raum einer erzählten Geschichte immer ein wahrgenommener Raum ist, unterstreichen Mieke Bal (1985) und Gabriel Zoran (1984). Ruth Ronen (1986) unterscheidet zwischen einer expliziten Referenz auf den Raum, die im Roman durch zahlreiche »frames« zum Ausdruck kommt, und der impliziten Erzeugung von Raum durch den Leser, was für die Überlegungen in Kapitel 3 wichtig werden wird. Natürlich ist dies eine leicht vereinfachte Wiedergabe der Forschungsrichtungen. Es finden sich immer auch Überschneidungen zwischen den einzelnen Feldern. So stellen Formanalysen in den meisten Fällen auch thematische Aspekte zur Schau oder diskutieren die Hervorbringung metaphorischen Sinns durch ideologische Muster. Caroline Frank (2017) fächert die Forschungsrichtungen innerhalb der Literaturwissenschaften in klassisch-narratologische sowie poststrukturalistische Ansätze auf, wobei sich erstere mit strukturellen, letztere mit semantischen Elementen des Raumentwurfs befassen (vgl. Frank 2017: 13f.). Es kann sich ihrem Desiderat angeschlossen werden, nämlich eine Vermittlung zwischen »discoursbezogene[n] und semantische[n] Aspekten […] [anzustreben, J.K.], die zwischen den avancierten Ansätzen des spatial turn und den klassisch strukturalistischen Zugängen der raumnarratologischen Forschung vermittelt und die zugleich raumsoziologische und intertextuelle Ansätze heranzieht […]« (ebd.: 220, Hervorh. i.O.). Es ist nicht das Ziel der aktuellen Studie, eine feingliedrige raumnarratologische Taxonomie für die Analyse jedweden Texts bereitzustellen, sondern ein tragfähiges Raummodell für die Analyse der Raumkonstruktion im Werk Zolas zu entwickeln. Nichtsdestotrotz ist der eigene Entwurf anschlussfähig an raumnarratologische Studien und kann in diesen weitergedacht werden.
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2.4 2.4.1
Prämissen der vorliegenden Arbeit Elemente der Raumkritik
Die Forschungsergebnisse der vier Stoßrichtungen müssen hinsichtlich ihres Potentials und ihrer Grenzen für die Analyse der Funktion des Raums in Zolas Schriften geprüft werden. Um diese Prüfung zu systematisieren, werden im Anschluss Elemente einer Raumkritik bestimmt, die auch als Maßstab für das eigene Raummodell in Kapitel 3 dienen sollen. Sie scheinen also nur auf den ersten Blick losgelöst von den soeben genannten Forschungsansätzen zur Untersuchung von Raum, da es gerade diese Kriterien sind, welche die theoretischen Problembereiche und Anknüpfungspunkte der einzelnen Arbeiten offenlegen können. A. Raumideologien32 : Der Raum liegt niemals in seiner reinen Form vor, sondern ist immer schon das Zeichen eines bestimmten ideologischen Milieus (vgl. Badiou 2014: 118 und Medvedev 1976: 18f.). Wenn das Konzept Raum folglich Teil der Ideologie einer Gesellschaft ist, kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Literatur keinen neutralen, wertfreien Raum, sondern Raumideologien darstellt.33 Die Aufgabe der Forschung ist es dann, die dominanten Raumvorstellungen und deren Entstehen vor dem sozioökonomischen Hintergrund einer Zeit zu detektieren, um eine Kontrastfolie für die Analyse des Raums in der Literatur bereitzustellen.
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Die komplexe Geschichte des Begriffs Ideologie muss hier nicht diskutiert werden. Eine gute Arbeitsdefinition, die verschiedene Ebenen des Ideologiebegriffs in sich vereint, liefert Terry Eagleton: »A dominant ideological formation is constituted by a relatively coherent set of ›discourses‹ of values, representations and beliefs which, realised in certain material apparatuses and related to the structures of material production, so reflect the experiential relations of individual subjects to their social conditions as to guarantee those misperceptions of the ›real‹ which contribute to the reproduction of the dominant social relations« (1976: 54). Der schon früh von Michail M. Bachtin oder Georg Lukács in der marxistischen Literaturkritik betonte Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft wurde seit den 1960er Jahren von strukturalistischen Theorien überdeckt, die den »konkreten, textuell auffindbaren Konstituenten des literarischen Textes« (vgl. Jahraus 2007: 20f.) nachgingen und die außertextuelle Realität weitestgehend ausklammerten. Erst in den 1980er Jahren entstand eine Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (Schößler 2006) und damit eine Berücksichtigung des Wechselspiels von Literatur und Kultur bzw. Gesellschaft auch in der intellektuell dominierenden Literaturwissenschaft (vgl. Jahraus 2007: 19ff.); vgl. auch den Band Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft (Nünning/Sommer 2004). Zu denken ist aktuell beispielsweise an den New Historicism oder die Kulturpoetik (vgl. Beck 2013: 77; vgl. auch Köppe/Winko/Jannidis 2007). Manfred Engel spricht diesbezüglich von einem Paradigmenwechsel innerhalb der Literaturwissenschaft (vgl. Engel 2001: 8).
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung B. Raumideologie der Literaturkritik: Eine Erforschung des Raums in der Literatur muss von der Prämisse ausgehen, dass der Blick des Literaturkritikers niemals neutral ist. Bei jeder Raumbetrachtung ist die eigene Vorstellung von Raum zu reflektieren, um terminologische Ungenauigkeiten zu vermeiden und den Analysegegenstand Raum zu präzisieren. Das Fehlen einer konzeptuellen Basis in literarischen Raumuntersuchungen ist nämlich ein häufig auftretendes Problem, wodurch die Aussagen zum Raum teilweise willkürlich wirken. Durch eine präzise Begriffsverwendung wird der Raum denaturalisiert, das heißt seine Konstruiertheit exponiert und ein Vermengen der Kritiker- und der Autorenperspektive auf Raum verhindert.34 Denn nur, indem sich die Literaturwissenschaft ihrer eigenen begrifflichen Fundamente gewahr wird, kann erstens überhaupt eine Differenz zwischen eigenen und fremden Raumkonzeptionen bemerkt und zweitens mittels einer fundierten Periodisierung erkannt werden, inwiefern bestimmte Vorstellungen überzeitlich sind oder eine vorwärtsgewandte Lesart zulassen. C. Der Raum in der Literatur: Kompliziert wird das Verhältnis von Raumideologien (A) und Literatur dadurch, dass »[d]ie Literatur […] in ihrem Inhalt denselben ideologischen Horizont als Ganzes wider[spiegelt], dessen integrierter Bestandteil sie selbst ist« (Medvedev 1976: 19; vgl. auch Badiou 2014: 118).35 Das Potential der Literatur liegt allerdings gerade darin, dass sie trotz ihrer Verankerung in der ideologischen Wirklichkeit einer Epoche bestehende Raumvorstellungen durch räumliche Gegenentwürfe zur Diskussion stellen kann.36 Der
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Nichts anderes als das Transparentmachen der eigenen Raumkonzeption stellt die hier vorgenommene Systematisierung der Raumkritik dar. Ähnliches schwebt Lotman vor, wenn er von der Literatur als einem sekundären modellbildenden System spricht (vgl. Lotman 1973: 22). Die Verbindung von Text und Ideologie hat auch Philippe Hamon untersucht. Um den Unterschied von außertextuellen und intratextuellen ideologischen Strukturen sichtbar zu machen, schlägt er vor, mit dem Begriff »effetidéologie« zu arbeiten (Hamon 1997 [1984]: 9). Konkret geht er dann in Texten einer »sémiotique du savoir« nach, worunter die »stratégies de la manipulation, de l’évaluation, de la fixation de contrats, de la persuasion et de la croyance, de la connaissance et de la méconnaissance« fallen (ebd.: 11, Hervorh. i.O.). Dies hat vor allem für den Roman seine Gültigkeit, in dem es sich laut Georg Lukács um ein Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft (2009 [1920]) oder mit Michail M. Bachtin (1989, 1979) um die »diaologische Auseinandersetzung zwischen dem Erzähler und den Figuren« (Matzat 2014: 4) handelt. Die von Realismus und Naturalismus prominent gemachte Inszenierung der Romanwelt als eine dem Leser bekannte »treibt die perspektivische Differenz zwischen der realitätsadäquaten Sicht des Erzählers und eines Lesers einerseits und der subjektiven Sicht des Protagonisten andererseits in klarer Weise hervor« (Matzat 2014: 5). Für diese Arbeit unerlässlich ist zum einen die Idee des sich an der Realität abarbeitenden Subjekts und zum anderen der Polyphonie der Figurenreden und -perspektiven (vgl. ebd.: 28ff.), da die These aufgestellt werden kann, dass subjektive Gegendarstellungen
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Raum in der Literatur ist das Produkt eines Vorgangs der Selektion, Konfiguration und Refiguration im Sinne Paul Ricœurs (vgl. Kapitel 3), an dem Autor und Leser beteiligt sind und der so weit wie möglich rekonstruiert werden muss. Selektierte Zeichen (der Ideologie) einer Epoche werden durch den spezifisch literarischen Filter, das heißt »modes, genres, types and forms«37 konfiguriert, die in Kooperation mit dem Leser zur refigurierten Ebene führen. »[I]m Prozeß der [Refiguration der] fremden Zeichen produziert die Literatur selbst neue Formen und neue Zeichen für die ideologische Kommunikation« (Medvedev 1976: 21)38 , sie entwirft sogenannte storyworlds (vgl. Nünning 2009: 33), deren Bestandteil der Raum als »die Gesamtheit der Räume und Orte der Erzählung und der Handlung« (Beck 2013: 62) ist. Welcher Natur die Komposition der erzählten Welt ist, bestimmt die »spatial form« (Frank 1991) der Romane. Sowohl realer als auch literarischer Raum bestehen aus materiellen, mentalen und symbolischen Elementen und müssen ihrem Wesen nach kategorisiert werden. So macht es einen großen Unterschied, ob zum Beispiel Stadt- oder Landräume im Fokus stehen.
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eine gesellschaftlich vermittelte Raumideologie des Milieudeterminismus im Roman aushebeln können. Eine konzise Definition der Begriffe gibt Daniel Hartley in dem 2015 im Magazin Période veröffentlichten Interview zur »Politik des Stils«: »J’utilise ici une distinction très utile de Raymond Williams (1981) […]. Les modes sont des formes qui persistent dans et au travers d’ordres sociaux assez différents, et sont donc relativement indépendantes des transformations qui s’opèrent au sein et même entre les ordres sociaux spécifiques (par exemple, le drame lyrique et narratif). Les genres sont des formes qui persistent au travers d’ordres sociaux radicalement variables, mais qui sont plus dépendants que les modes des transformations qui s’opèrent entre les ordres sociaux pris en tant qu’époques (par exemple, la tragédie, la comédie, l’épopée et le roman de chevalerie – ces deux derniers genres ayant disparu avec l’émergence de l’époque bourgeoise). Les types sont des distributions, redistributions et innovations radicales d’intérêt qui correspondent au caractère social transformé et spécifique d’une époque (par exemple, le drame bourgeois, le roman réaliste et le paysage en peinture). Enfin, les formes sont des distributions, redistributions et innovations d’intérêt à plus petite échelle, s’étendant jusqu’au niveau des dispositions formelles: ›une position particulière, un choix approprié de la matière, un mode spécifique de composition‹ (Par exemple, le soliloque)«, einzusehen unter: http://revueperiode.net/la-politiquedu-style-entretien-avec-daniel-hartley/(30.07.2020). Pavel Medvedev macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Literatur die Wirklichkeit somit doppelt gebrochen widerspiegelt (vgl. Medvedev 1976: 19). Andreas Dörner und Ludger Vogt (2013: 30) erläutern: »Die These von der doppelten Brechung besagt […], dass Literatur ihr Material in Form von Zeichen aus den verschiedenen ideologischen Milieus der Gesellschaft bezieht. Diese schon gebrochenen Zeichen werden in eine neue, ästhetische Struktur integriert und üben ihre Zeichenfunktion nun zu den Bedingungen des neuen ästhetischen Textes aus.« Dass die aktuelle Literatursoziologie nach wie vor auf Pavel Medvedev zurückgreift, weist auf die Aktualität der von ihm entwickelten Theorie hin.
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
Der erzählte Raum in der Literatur ist niemals wertfrei; in der Fiktion wie in der Realität werden im Prozess der Raum- und Subjektkonstitution Wert- und Normsysteme verhandelt, die den Raum in ein politisches Terrain verwandeln. Die Politik des Raums begrenzt sich indes nicht nur auf die Themenwahl, sondern ist auch in seiner formalen Gestalt begründet (vgl. Hartley 2017 und Matzat 2014: 3).39
2.4.2
Kriteriengeleitete Prüfung der bisherigen Arbeiten zum Raum im Zola’schen Œuvre
In nur wenigen Publikationen werden terminologische Grundlagen ausreichend abgesteckt. So fehlt beispielsweise der konzeptuelle Bezug zwischen Raum und Milieu, in vielen Fällen bleibt eine Definition der verwendeten Termini gänzlich aus (vgl. Punkt B oben). Hierdurch wirkt es so, als herrsche Klarheit darüber, was unter Raum in den Romanen Zolas zu verstehen ist – ein Trugschluss, wie die diversen Versuche zur Klassifikation des Raums in der Literatur in Anlehnung an den Zola’schen Milieubegriff beweisen. Ausschließlich Chantal Bertrand-Jennings (1987), Philippe Hamon (2011 [1983]), Henri Mitterand (1990) und Jean-Jacques Tonard (1994) geben jeweils Arbeitsdefinitionen. Eine Positionierung der Zola-Forscher im Feld aktueller literatur- und kulturwissenschaftlicher Raumtheorien und -konzeptionen fehlt, sodass es zur Vermengung von Experten- und Autorenperspektive kommt (vgl. Punkt B). Keine dieser Arbeiten bezieht die Leserperspektive auf der Ebene der Refiguration mit in die Überlegungen ein (Punkt C). Die Entwicklung der Raumideologien (Punkt A) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird, wenn überhaupt, recht stereotyp mit Hippolyte Taine, Claude Bernard und Auguste Comte abgehandelt; weitere soziokulturelle Hintergründe wie der Eingriff in den städtischen Raum durch Haussmann werden unter anderem bei Henri Mitterand (1990) und Olivier Lumbroso (2004) besprochen. Letzterer führt die mentalen, raumgenerierenden Bilder Zolas auf ein Charakteristikum der Zeit zurück, »[qui] eut l’intuition de la primauté de telles images mentales et de leur participation à l’acte même de la création littéraire«. Das Bedürfnis nach Rahmung der Handlung rückt er in die Nähe der
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Die Arbeit schließt sich der Meinung Wolfgang Matzats ein, wenn er vermerkt: »So besteht die Leitthese dieser Untersuchung darin, dass sich die – insbesondere von Georg Lukács hervorgehobene – Konzentration des Romans auf das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in ganz konsequenter Weise aus den strukturellen Möglichkeiten ergibt, die in der Gattung angelegt sind und im Laufe der neuen Gattungsgeschichte zunehmend entfaltet wurden« (Matzat 2014: 3). Die Politik der Form resultiert allerdings daraus, dass die intern im Roman zu verzeichnenden Spannungen eine Spiegelung externer gesellschaftlicher Spannungen sind (vgl. Hartley 2017).
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projets panoramiques du XIXe siècle, c’est-à-dire les Expositions universelles, les tout premiers reportages aéronautiques en ballon, l’architecture et la science, qui élèvent le cadre à un principe d’épistémologie d’époque, investi dans la connaissance et la conception d’œuvres de grande envergure [et dans la, J.K.] pensée omnisciente qui circonscrit, conquiert, mesure, en quadrillant l’espace infini (Lumbroso 2004: 31). Weitere Einblicke in den historischen Kontext werden nicht gewährt. Henri Mitterand bezieht sich mehrfach auf den Begriff des Chronotopos Bachtins und macht deutlich, dass die Frage der raumzeitlichen Verdichtungen im Mittelpunkt des schriftstellerischen Schaffens der Romanciers des 19. Jahrhunderts stand und eine Art Metadiskurs über die Raum-Zeit des Romans ausgelöst hat (vgl. Mitterand 1990: 190). Grube und Wegstrecke in Germinal ordnet er ein in den »intertexte du souterrain et l’intertexte de la route [qui, J.K.] se répondent dans l’imagination romanesque du XIXe siècle« (vgl. ebd.: 193). Den größeren Konnex zwischen diesen Chronotopoi und dem raumzeitlichen Denken im 19. Jahrhundert nennt er nicht. Das Versäumnis der Behandlung der Raumideologien hat zur Folge, dass mit Ausnahme der in Abschnitt 2.2 genannten Arbeiten fast alle Untersuchungen unhinterfragt die deterministische Raumideologie übernehmen (vgl. Punkt A). In erster Linie sind es die Forschungen der ersten Gruppe (Semantik des Raums), die dadurch einem »Raumfetischismus« als Geodeterminismus anheimfallen. Der Terminus besagt, dass »die physische Materialität der Welt bzw. der physisch-materielle Raum als Erklärung für soziale Phänomene fungiert« (Belina 2013: 27), wobei die Prozesse zur sozialen Konstruktion dieser physischen Welt missachtet werden. Selbst wenn die Raumanalyse in diese Richtung gehen wollte, müsste geklärt werden, was genau unter Materialität in der Literatur zu verstehen ist. Es wird offensichtlich davon ausgegangen, dass eine Analogie besteht zwischen der Materialität der realen Welt und der (geographischen) Materialität in der Literatur (Gebäude, Straßen etc.). Dass diese überhaupt erst mit den spezifischen Mitteln der Literatur inszeniert werden muss, wird nicht diskutiert (vgl. Punkt C). Obwohl nicht geleugnet werden soll, dass die räumlichen Settings der Romane Einfluss auf die Figuren nehmen, ist doch die eigentliche Aufgabe der Literaturwissenschaft gerade, den Konstruktionscharakter der Literatur zu exponieren. Die Materialität des Raums wird in den Analysen dagegen nur recht kurz behandelt, beispielsweise anhand der bloßen Nennung von Orten oder Straßennamen. Ohne die Konstitution eines statischen Raums anhand formaler Mittel (Erzählerperspektive usw.) nachzuweisen und damit die These der Lenkung der Figuren durch eben diesen Raum zu legitimieren, wird auf die Metaphorik der Räume in Verbindung mit den Emotionen der Figuren übergegangen. Dies wäre sinnvoll, wenn dadurch eine Wechselwirkung zwischen Raum und Figur konstatiert würde (vgl. Punkt C), doch bleibt eine solche Fortführung der Frage aus. Konsequenz ist
2. Zur Ambiguität des Raums im Werk Émile Zolas – Positionen der Zola-Forschung
die Idealisierung des Raums als Resultat von zwei problematischen Abstraktionsvorgängen. Es wird erstens nicht geklärt, welche sozialen Prozesse zur Entstehung von Milieus ablaufen, und zweitens keine Basis für die Aufrechterhaltung der These des Raumdeterminismus im Roman geschaffen. So tritt neben den Raumfetischismus ein Raumidealismus, der die objektive, materielle Basis jedes sozialen Prozesses negiert und den Raum als ideelles Produkt deklariert. Zu kritisieren ist eine solche Denkweise […], weil […] mit der Bedeutungszuschreibung nur ein Moment der Wirklichkeit fokussiert wird, von den Gründen der Bedeutungszuschreibung, von der Gesellschaft und damit auch von der gesellschaftlichen Aneignung und Produktion von physischer Materialität bzw. physisch-materiellen Raum, aber abgesehen wird (Belina 2013: 28). Den eigentlichen Kern der Raumbetrachtung, das relationale Verhältnis von subjektiver Raumaneignung (Figurenbewegung, -wahrnehmung und -handlung) und quasi objektiven, die Figur einnehmenden materiellen Strukturen, erreicht dieser Forschungsansatz nicht. Den Gruppen zwei, drei und vier (Topographie und Topologie, Formanalyse, Raumgenese) muss zugestanden werden, dass hier die Entstehung des Raums in ihren diversen Stadien nachvollzogen wird (Punkt C). Für Olivier Lumbroso erschließt sich ein geometrischer oder euklidischer Raum als eine Art Fixpunkt, an dem sich die Figuren ausrichten. Insofern lässt sich die Übernahme eines Raumdeterminismus bis zu einem gewissen Punkt rechtfertigen. Wir haben es in der Mehrheit der Arbeiten zur Topographie des Raums in den Rougon-Macquart allerdings mit einem Raumfetischismus im engeren Sinne zu tun. Der Raum wird im Sinne Immanuel Kants absolut gesetzt, das heißt, dass er als mentale Vorstellung seine physisch-materielle Gestalt verliert. Er ist vielmehr die abstrakte Grundlage materieller Ereignisse (vgl. Belina 2013: 31ff.). Es wird also nicht hergeleitet, wie sowohl auf der außer- als auch auf der innerliterarischen Ebene der Raum von der sozialen Praxis abstrahiert wird. Das menschliche Wirken bzw. die Figurenperspektive wird hier nur vereinzelt berücksichtigt. Die Besonderheit der weiteren Formanalysen ist es, entweder explizit (Philippe Hamon) oder implizit (Henri Mitterand, Denis Bertrand) die Raumideologie Zolas diskutiert zu haben, ohne aber diese Diskussion inhaltlich auf die Raumideologien des 19. Jahrhunderts auszuweiten (Punkt A) oder auf die eigene Fragestellung zu beziehen (Punkt B). Der Nachweis der Vermittlung des Raums durch die narrativen Instanzen ist ein wichtiges Moment der Problematisierung der deterministischen Milieutheorie (Punkt C). Vor allem die Darstellung von Sinnlichkeit und Materialität in der Literatur wird hier ansatzweise vorgenommen. Die Aussagen zum Forschungsstand wollen nicht in pedantischer Kritik münden. Viele der Arbeiten geben immens wichtige Einblicke in die Bedeutung und Entstehung des Raums im Werk Zolas. Die vorliegende Untersuchung nutzt
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Anknüpfungspunkte aus allen Bereichen, kann aber besonders von den Ansätzen Henri Mitterands, Philippe Hamons, Denis Bertrands und Neide de Farias profitieren, die mit einem erzähltechnischen Instrumentarium die Wirkkraft der Charaktere auf den Raum herausschälen.40 Laut Henri Mitterand (1990: 212) ist diese Ebene der Betrachtung maßgeblich: L’œuvre de Zola nous incite donc à ne pas réduire l’étude de la spatialité romanesque au repérage thématique et symbolique des substances ou des formes fondamentales d’un univers de fiction, à la manière bachelardienne, ni au relevé des affects sensibles et psychiques associés au séjour des sujets dans leur site ou dans leur gîte, ni à la répartition respective des milieux et des sociétés. Les problèmes d’analyses les plus importants commencent lorsqu’on s’avise d’explorer les modes d’engendrement, de constitution et de transformation de l’espace comme composante organique de la narration. Die Studie setzt an diesem Punkt an und versucht einerseits das von der Forschung vernachlässigte, sinnlich-affektive Eintauchen Zolas in die Lebenswelt der Bewohner zu berücksichtigen und andererseits die Stabilisierung und Destabilisierung des Raums in einem Wechselspiel der verschiedenen Ebenen zu etablieren. Figuren sollen nicht aus der Beeinflussung durch den Raum gehoben, sondern als ein Teil der Gleichung in der Konstitution von Raum ausgewiesen werden. Die Blickrichtung geht also weg von einem statischen Raum, der in den Arbeiten primär Zola bzw. der Produktionsseite zugesprochen wird und an dem sich Bemerkungen der Forschung reiben, und hin zu einer Aufwertung des Zusammenhangs von Mensch und Raum, um letztlich eine Dialektik zwischen den Ebenen nachzuweisen. Aus diesem Grund ist es folgerichtig, die bisherigen Ergebnisse zu erweitern und in neue Kontexte einzubetten. Es wird im nächsten Schritt ein Raummodell entwickelt, das in der Lage ist, den genannten Elementen der Raumkritik zu genügen und die Ansätze in der Zola-Forschung zusammenzuführen. Im Zentrum muss ein dynamisches Raumkonzept stehen, das die Frage des Determinismus, das heißt die Rolle des materiellen Raums und des Menschen in raumbildenden Prozessen klärt. Im Idealfall handelt es sich um eine Theorie, die die Raumideologie im Prozess der Verstädterung berücksichtigt und die Raumpraktiken im urbanen Raum in Bezug auf den Einsatz von Körper und Sinnen durchleuchtet.
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Neide de Faria (1977) unterscheidet zwischen einem realen und einem mythischen Raum, was sinnvoll erscheint. Sie beschränkt den Einsatz der Sinne allerdings ausschließlich auf den semantischen Raum und vergisst deren materielle Seite. Außerdem soll im eigenen Ansatz gerade gezeigt werden, wie beide räumlichen Ebenen ineinander übergehen.
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Der Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre hat in La production de l’espace (1974) eine Raumtheorie entwickelt, die in ihrem Ansatz alle der genannten Kriterien zur Untersuchung von Raum bei Zola erfüllt: Lefebvre behandelt das Problem des Determinismus, die Materialität des Raums sowie das körperlich-sinnliche Handeln in der Stadt aus historischer Perspektive (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Die Theorie des sozialen Raums ist das Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung mit dem Phänomen der Stadt, den Prozessen der Modernisierung, dem Alltagsleben, der Linguistik und Semiotik, den philosophischen Studien und dem Entwurf der Rhythmusanalyse, was Titel wie La proclamation de la Commune (1965), Le droit à la ville (1968), La vie quotidienne dans le monde moderne (1968) oder auch La révolution urbaine (1970) zum Ausdruck bringen. Lefebvre gilt für Edward Soja neben David Harvey daher als die zentrale Figur der Raumwende (vgl. Soja 2008: 250).1 Tatsächlich bestätigt die zunehmende Frequenz der Verweise auf Lefebvre dessen Gewicht innerhalb des spatial turn. Er wurde zum Aushängeschild anti-essentialistischer Raumtheorien, womit jedoch eine Verfremdung und inhaltliche Reduktion seines komplexen Werks einherging. Die meisten Arbeiten der Raumwende beschränken sich nämlich auf den sozialen Raum aus La production de l’espace (1974) und vernachlässigen den werkinternen Kontext der Theorie.2 Das breite Forschungsinteresse Lefebvres 1
2
Erst Jahre nach dem Erscheinen von La production de l’espace haben Edward Sojas Besprechung in Postmodern Geographies und die Übersetzung des Buchs ins Englische dafür gesorgt, dass die Arbeit ihre verdiente Anerkennung erfuhr (vgl. Döring 2010: 91). Zu weiteren Vorarbeiten der Raumtheorie zählen Espace et politique (1968, Sammelband angefügt an Le droit à la ville), Du rural à l’urbain (1970) und La survie du capitalisme (1973). Soja räumt neben Lefebvre und Harvey der Urbanistin Jane Jacobs eine bedeutende Rolle in der Aufwertung des Räumlichen ein (vgl. Soja 2008: 250). Christian Schmid nennt in seinem wichtigen Beitrag zur Lefebvre-Forschung drei Wellen der Rezeption. Erstens die Aufnahme der Arbeiten durch die Stadtforschung seit den späten 1960er und 1970er Jahren (u.a. durch David Harvey und Manuel Castells). Zweitens die Rezeption durch die postmoderne Geographie angloamerikanischer Provenienz. Schmid begreift diese Phase mit ihren hybriden, kurzweiligen, theoretisch oft unscharfen Ansätzen als »neuen Eklektizismus« (Schmid 2010: 60). Drittens die Ausweitung der Arbeiten zum Raum auf zahlreiche weitere Disziplinen, darunter die Philosophie, die Architektur und ansatzweise
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ist es jedoch, was seine Raumtheorie für das zu entwickelnde Instrumentarium so interessant macht. An die Erklärungen zum sozialen Raum schließen sich daher im Folgenden die Begründungen zur Wahl der Raumtheorie an, welche weitere Einblicke in das Werk Lefebvres geben werden.
3.1
Die Triplizität von Raum bei Henri Lefebvre
Lefebvre verwendet den Begriff des sozialen Raums umfassend und zwar als eine Verbindung materieller, konzeptueller und symbolischer Elemente (vgl. Lefebvre 2000 [1974]: 35). Er bricht die Dichotomie von mental und physisch bzw. Subjekt und Objekt auf und entwirft eine Triplizität des Räumlichen, was er ex negativo wie folgt begründet: Un rapport à deux termes se réduit à une opposition, à un contraste, à une contrariété […] sous prétexte de transparence. Un tel système n’aurait ni matérialité ni résidu; système parfait, il s’offre comme une évidence rationnelle à l’inspection mentale (Lefebvre 2000 [1974]: 49f., Hervorh. i.O.). Lefebvre erklärt das Ziel, Raum abschließend definieren zu wollen, für defizitär und versucht stattdessen, die Komplexität des Raums bzw. den gesellschaftlichen Umgang mit Raum auf anspruchsvolle und historisierende Weise konzeptuell zu erfassen. Entsprechend kreiert er die Ebenen der Repräsentationen/Konzeptionen von Raum (a. représentations de l’espace – espace conçu), der räumlichen Praxis (b. pratique spatiale – espace perçu) und der Räume der Repräsentation (c. espaces de représentation – espace vécu). Er behält die physischen und mentalen Elemente demnach bei, bezieht diese aber grundsätzlich auf die menschliche Praxis und stellt ihnen symbolische Räume an die Seite.3 Keiner der drei Ebenen des Raums wird eine Vorrangstellung in der Raumgenese zugesprochen; sie sind gewissermaßen drei
3
auch die Literatur. In dieser Phase sei schließlich ein ernsthaftes und weitreichendes Interesse an Henri Lefebvres Werk entstanden, was sich in Forschungsprojekten oder Tagungen äußert (vgl. Schmid 2010: 7ff., 63). Besonders im anglophonen Raum ist das Interesse an Lefebvre (weiterhin) groß, wovon zahlreiche Veröffentlichungen u.a. von Elden (2004), Merrifield (2006) oder Stanek (2011) zeugen. In Frankreich wurden weite Teile des Werks Lefebvres lange vernachlässigt, das Interesse richtete sich hier laut Eleonore Kofman und Elizabeth Lebas in erster Linie auf die Schriften zur Stadt (vgl. Kofman/Lebas 2000 [1996]: 36; 53). In den vergangenen Jahren erhält die Forschung aus dem Hexagon allerdings neuen Aufwind, zu denken ist an die Neuauflage bedeutender Texte sowie regelmäßig stattfindende Workshops; vgl. hierzu u.a. auch Hess (2009), Ajzenberg et al. (2011) und Deldyck (2013). Lefebvre hatte schon zuvor in Le langage et la société (1966) ein triadisches Sprachmodell entwickelt, welches von Friedrich Nietzsche und Roman Jakobson inspiriert war und die Konzeptualisierung der »Repräsentationen von Raum« und »Räume der Repräsentation« prägen sollte.
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Seiten des gleichen Phänomens (vgl. Dörfler 2010: 53). Es lohnt sich daher, genauer zu prüfen, was sich hinter den drei Raumebenen verbirgt.
3.1.1
Représentations de l’espace – espace conçu
Les représentations de l’espace [sont, J.K.] liées aux rapports de production, à ›l’ordre‹ qu’ils imposent et par là, à des connaissances, à des signes, à des codes, à des relations ›frontales‹. [C’est, J.K.] l’espace conçu, celui des savants, des planificateurs, des urbanistes, des technocrates ›découpeurs‹ et ›agenceurs‹, de certains artistes proches de la scientificité, identifiant le vécu et le perçu au conçu […]. C’est l’espace dominant dans une société (un mode de production). Les conceptions de l’espace tendraient […] vers un système de signes verbaux donc élaborés intellectuellement (Lefebvre 2000 [1974]: 43, 49, Hervorh. i.O.). Auf dieser Raumebene sind sowohl diskursive Formen der Wissensproduktion als auch konkretere Formen wie Karten, Pläne oder Zeichnungen zu finden (vgl. Schmid 2010 [2005]: 216). Sie transportieren Raumvorstellungen und -ideologien zum Beispiel von Architekten, Mathematikern und Philosophen, schreiben sich trotz ihrer Abstraktheit in die soziale Praxis ein, sind Voraussetzung für Handeln im Raum und geben ihm Form (vgl. Lefebvre 2000 [1974]: 51). Das Repräsentieren von Raum bedeutet für Lefebvre laut Christian Schmid nämlich, »in einem mentalen Akt zerstreute Details zur Gesamtheit einer ›Wirklichkeit‹ zusammenzubringen« (Schmid 2010 [2005]: 217) und auf die räumliche Praxis auszurichten. Die Geschichte des Raums ist Lefebvre zufolge allerdings ein Prozess zunehmender Abstraktion von der räumlichen Praxis. Der anfänglich absolute Raum des Religiösen und Politischen zeichnete sich dadurch aus, dass er stärker gelebt als konzipiert war – »[a]vant l’intellect analytique qui sépare, bien avant le savoir, il y [avait] une intelligence du corps« (Lefebvre 2000 [1974]: 203f.). Mensch und räumliche Strukturen bildeten eine Einheit, sei es im anthropologischen Raum der Jäger und Nomaden oder im kosmologischen Raum der Antike. Seit dem 12. Jahrhundert jedoch säkularisiert sich der Raum. Er wird mit der Erfolgsgeschichte des Kapitalismus zunehmend funktional und kodiert – »c’est l’espace de l’accumulation [et, J.K.] cet espace laïcisé résulte de la résurrection du Logos et du Cosmos, qui se subordonnent le ›monde‹« (ebd.: 304). Dieser Code vom Raum entwickelt sich unabhängig von der Alltagspraxis. Er determiniert das »alphabet et la langue de la ville, les signes élémentaires, leur paradigme et leurs liaisons syntagmatiques« (Lefebvre 2000 [1974]: 58) und bindet sich als »savoir idéologique« im Gewand der Rhetorik oder des Metasprachlichen an den espace conçu (vgl. ebd.: 55). Diese Form des Wissens – »soutenu par une terrifiante capacité de violence, maintenu par une bureaucratie qui s’empare des résultats du capitalisme« (ebd.: 64) – unterscheidet Lefebvre von dem positiven Erkenntniszuwachs durch eine konstruktive Kritik
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(connaissance) der historischen Veränderungen unterliegenden Codes vom Raum (vgl. Schmid 2010 [2005]: 218). Lefebvre gibt das Beispiel des Mittelmeerraums, der in den kapitalistischen Gesellschaften des europäischen Nordens in einen Ferien- oder Freizeitraum verwandelt wurde, um zu zeigen, dass die Repräsentationen von Raum niemals neutral, sondern Teil einer Ideologie von Raum sind (vgl. Lefebvre 2000 [1974]: 75). Konzeptionen von Raum regulieren die Raumebenen der räumlichen Praxis und der Raumbedeutungen. Gleichzeitig sind dies allerdings auch jene beiden Ebenen, die sich durch ihren lebensweltlichen Charakter der Abstraktion von Raum entziehen können – »pour centrer autrement la connaissance, pour entraîner un déplacement du centre« (ebd.: 75).
3.1.2
Pratique spatiale – espace perçu
La pratique spatiale […] englobe production et reproduction, lieux spécifiés et ensembles spatiaux propres à chaque formation sociale [et] assure la continuité dans une relative cohésion (Lefebvre 2000 [1974]: 42, Hervorh. i.O.). La pratique spatiale d’une société secrète son espace; elle le pose et le suppose, dans une interaction dialectique: elle le produit lentement et sûrement en le dominant et en se l’appropriant. [Elle] suppose un usage du corps: l’emploi des mains, des membres, des organes sensoriels, les gestes du travail et ceux des activités extérieures au travail (Lefebvre 2000 [1974]: 48, 50, Hervorh. i.O.). Der Raum ist Teil und Ergebnis von Produktions- und Reproduktionsprozessen, selbst Ware und Produktionsmittel, aber gleichzeitig die Voraussetzung für den Fortbestand der Gesellschaft (vgl. Schmid 2008: 36). »In this way, the individual and his space are brought into a mutually determining (›dialectical‹) interaction« (Prieto 2012: 91). Für gewisse Zeit fixieren sich räumliche Strukturen in Form von Objekten, Straßen, Märkten und Netzwerken, das heißt, dass sich eine gewisse Kohärenz im Gebrauch von Raum aufgrund routinierter Bewegungen (zum Beispiel vom Arbeitsplatz zum Wohnort) ergibt. Der Raum steht dann in seiner materiellen, wahrnehmbaren Gestalt im Vordergrund und der Forschung zur empirischen Untersuchung und konzeptuellen Weiterarbeit zur Verfügung (vgl. Schmid 2010 [2005]: 214).4 Lefebvre verdeutlicht, dass die Bewohner der Stadt die Organisation von Raum und das Handeln in ihm zuallererst erlernen müssen. Sie entwickeln unbewusst Kompetenzen, die in dem sichtbaren, erfolgreichen Agieren im Raum, der Performanz, zum Ausdruck kommen (vgl. Lefebvre 2000 [1974]: 42; 48). Es geht im 4
Neben Inhalten der Linguistik und der Philosophie entlehnt Lefebvre den Begriff der Wahrnehmung der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys und stellt ihn auf ein materielles Fundament (vgl. Schmid 2010: 235ff.; vgl. Merleau-Ponty 2010 [1945]).
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Bereich der räumlichen Praxis also nicht um einen objektivierbaren Raum, sondern um das automatische, im Gegensatz zu den Raumkonzeptionen subjektive Wahrnehmen von Raum durch die Sinne oder das Besetzen von Raum durch den Körper (vgl. Schmid 2010 [2005]: 213).5 Das Alltagshandeln läuft derweil nur vordergründig automatisch und subjektiv ab, denn immer ist die Wahrnehmung von Raum vermittelt durch das mentale Bild von Raum, das in einer Gesellschaft veranschlagt wird. Die Ebenen der räumlichen Praxis und der Raumkonzeptionen können also nicht getrennt betrachtet werden. Sie schweben laut Stuart Elden in einem »›balance struck‹« – a dialectical relation – between idealism and materialism« (2004: 189). Elden erklärt, dass eine Raumwissenschaft allerdings erst durch die Einführung eines dritten Elements Fortschritte macht: »This provides us with a third term between the poles of conception and perception, the notion of the lived […] which resolves the conflict between the previous two, without being reducible to either« (ebd.: 190).
3.1.3
Les espaces de représentation – espace vécu
Les espaces de représentation, présentant (avec ou sans codage) des symbolismes complexes, liés, au côté clandestin et souterrain de la vie sociale, mais aussi à l’art (Lefebvre 2000 [1974]: 43, Hervorh. i.O.); l’espace vécu à travers les images et symboles qui l’accompagnent, donc espace des ›habitants‹, des ›usagers‹, mais aussi de certains artistes et peut être de ceux qui décrivent et croient seulement décrire:
5
Zur Verschränkung von Raum und Körper bei der Produktion von Raum schreibt Lefebvre mit Bezug auf Merleau-Ponty weiter: »Avant de produire (des effets, dans la matière, des outils et des objets), avant de se produire (en se nourrissant) et de se reproduire (par la génération d’un autre corps) chaque corps vivant est un espace et a son espace: il s’y produit et le produit. Rapport remarquable: le corps, avec ses énergies disponibles, le corps vivant, crée ou produit son espace; inversement, les lois de l’espace, c’est-à-dire de la discernabilité dans l’espace, sont celles du corps vivant et du déploiement de ses énergies. […] Voici donc un parcours de l’abstrait au concret, qui a l’intérêt majeur de montrer leur inhérence réciproque« (Lefebvre 2000 [1974]: 199f.). Lefebvre reiht sich ein in die Tradition des historischen Materialismus eines Karl Marx, der in Auseinandersetzung mit Hegel »die Menschen in ihrer Körperlichkeit und Sinnlichkeit, mit ihren Empfindungen und Imaginationen, ihrem Denken und ihren Ideologien« (Schmid 2010: 315) zum Referenzpunkt der Gesellschaftsanalyse macht (vgl. ebd.: 82f.). »Lefebvre proposes a model of historical change that respects the constraining force of material conditions while also emphasizing the ability of individuals to nudge […] the systems in which they were born«, kommentiert Eric Prieto (2012: 94). Der Mensch fällt in diesem Zusammenhang nicht nur als sozialer Akteur, sondern zugleich als körperlich-lustvolles Wesen ins Gewicht, worin Prieto eine wichtige Erweiterung des klassischen Marxismus sieht (vgl. ebd.: 95). Gegenüber der Vorstellung des vom Menschen losgelösten, abstrakten Raums zählt hier die »immediate relationship between the whole body and its space« (Butler 2012: 42).
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les écrivains, les philosophes. C’est l’espace dominé, donc subi, que tente de modifier et d’approprier l’imagination. Il recouvre l’espace physique en utilisant symboliquement ses objets. De sorte que ces espaces de représentation tendraient (mêmes réserves que précédemment) vers des systèmes plus ou moins cohérents de symboles et de signes non verbaux; […] le vécu corporel, lui, atteint un haut degré de complexité et d’étrangeté, car la ›culture‹ y intervient sous l’illusion d’immédiateté, dans les symbolismes […]. Les espaces de représentations, vécu plus que conçu, ne s’astreignent jamais à la cohérence, pas plus qu’à la cohésion (Lefebvre 2000 [1974] : 49, 52, Hervorh. i.O.).6 Obwohl Henri Lefebvre an dieser Stelle auch von Repräsentationen spricht, legt er anders als beim Umreißen des Konzepts der konzipierten Räume den Akzent auf das konkrete Erleben und Bewohnen bedeutungsreicher Räume im Sinne Martin Heideggers oder Gaston Bachelards (vgl. Elden 2004: 190).7 Wohnen (habiter) meint eine Aktivität im städtischen Raum und ist von dem statischen Begriff des Habitats (habitat) abzugrenzen. Es hat einen »noyau ou centre affectif […], est essentiellement qualitatif, fluide, dynamisé. [Il, J.K.] contient les lieux de la passion et de l’action, ceux des situations vécues, donc implique immédiatement le temps« (Lefebvre 2000 [1974]: 52). Diese Räume verweisen »nicht auf den Raum selbst, 6
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Der Begriff des gelebten Raums ist eine Anleihe der Arbeiten Eugène Minkowskis sowie Karlfried Graf Dürckheims und Resultat der Beschäftigung Lefebvres mit der Psychoanalyse Jacques Lacans (vgl. Schmid 2010: 238ff.). Bei Dürckheim (2005 [1932]: 16f.) heißt es: »Im gelebten Raum ist der Mensch mit seiner ganzen Wesens-, Wert- und Lebenswirklichkeit drin. Räumliche Wirklichkeit ist sinnhafte Mannigfaltigkeit in Ganzheiten, deren Sinnzentrum letzten Endes das personale Gesamtselbst ist. […] So sind der Mensch und sein Raum im aktuellen und im strukturellen Sinn aufeinander gestellt, und der gelebte Raum weist in all seinen Bestimmtheiten zurück auf Richtungen, in denen bestimmtes menschliches Leben und Wesen sich erweist und erfüllt.« Der Begriff des gelebten Raums wird fast zeitgleich in Minkowskis Le temps vécu. Etudes phénoménologiques et psychopathologiques (2013 [1933]) entwickelt. Auch hier geht es um einen mit Qualitäten aufgeladenen Raum der Überlagerungen. Später greift Elisabeth Ströker den gelebten Raum als gestimmten Raum der Anschauung in ihren Untersuchungen zum Raum (1965) auf und grenzt ihn vom Aktionsraum des Menschen ab. Auch für Aktionsräume gilt jedoch, dass sie »selbst nicht starr und unbeweglich sind, sondern im aktuellen Handeln gestützt, erweitert oder auch negiert werden können« (Ströker 1977 [1965]: 58). Die Kategorie des Erlebens ist bei Lefebvre insgesamt stärker auf Gaston Bachelard und Martin Heidegger zurückzuführen. Thomas Dörfler hält die Erweiterung von espace perçu und conçu um den gelebten Raum in der materialistischen Raumtheorie und im Kontext der 1960er für besonders innovativ, da die Stadtforschung zu diesem Zeitpunkt weitestgehend auf quantitativen Methoden basierte und sich dem funktionalen Bild der Stadt verschrieb (vgl. Dörfler 2010: 53). Berechtigterweise schlussfolgert er, dass »Lefebvre […] als großer Neuerer der Stadt- bzw. Urbanitätsforschung betrachtet werden [kann]« (ebd.: 53). Lefebvre rezipiert Heidegger allerdings kritisch, da für ihn die Erfahrung des Alltags von Heidegger zu abstrakt gedacht wird. Das In-der-Welt-Sein hat bei Lefebvre immer auch eine stark materielle Seite (vgl. van den Heever 2017: 74).
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
sondern auf ein Anderes, Drittes. Sie repräsentieren gesellschaftliche ›Werte‹, Traditionen, Träume – und nicht zuletzt auch kollektive Erfahrungen und Erlebnisse« (Schmid 2010 [2005]: 223). Aufgrund der Bedeutsamkeit des Erlebens kritisiert Lefebvre die Einordnung der Stadt als Text der Semiotik. Er bezweifelt nicht, dass der Raum kodierte Bedeutungen zum Dechiffrieren enthält, wendet aber ein »[que, J.K.] cet espace n’a pas été produit pour être lu et su mais pour être vécu par des gens ayant un corps et une vie« (Lefebvre 2000 [1974]: 168, Hervorh. i.O.). Die Idee einer Lektüre von Raum setze dagegen einen bereits existenten Raum voraus und verschleiere die Vielfalt an Codes und das Entstehen von Raum durch das menschliche Handeln (vgl. ebd.). Anders als die Raumkonzeptionen werden die Bedeutungen von Raum nach Eric Prieto nämlich nicht im offiziellen Top-down-Verfahren von Autoritäten aufoktroyiert; sie werden dem Bottom-up-Prinzip nach von den Stadtbewohnern, von Kunst und Literatur produziert und entspringen der »côté clandestin et souterrain« des sozialen Lebens (vgl. Prieto 2012: 93). Sie sind Ausdruck menschlicher Kreativität und durchzogen von den Möglichkeiten einer neuen, qualitativen Stadtnutzung, in der die Loslösung des Menschen von seinem lebensweltlichen Raum aufgehoben wird (vgl. Lefebvre 2000 [1974]: 402f.; vgl. Kofman/Lebas 2000 [1996]: 18ff.).8
3.2
Zur Wahl der Raumtheorie Henri Lefebvres
Die Triplizität von Raum ist der erste Grund für die Anwendung der Raumtheorie Lefebvres. Es wird möglich, die Vorarbeiten Zolas und die Einarbeitung des Materials in den Roman auf diesen drei Ebenen zu begreifen und entlang der vier in Kapitel 2 vorgestellten Forschungsansätze zur Untersuchung von Raum auszudrücken. An dieser Stelle sei zuerst einmal nur vermerkt, dass die Ebene der Raumkonzeptionen den erzählten Raum in seiner makro- und mikrostrukturellen Topologie und Topographie erfassen kann. Auf Ebene der Raumpraxis vermitteln Wahrnehmungsprozesse den erzählten Raum. Hier geht es besonders um die Schilderung körperlich-sinnlicher Erfahrungen. Unter den Raum der Bilder oder Repräsentationen fällt primär die Semantisierung des gelebten Raums in Metaphern oder Metonymien.9 In der Konsequenz kann die Einführung der vernachlässigten Ebene 8
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Es ist naheliegend, in diesen Räumen das Potential zum Widerstand gegen vorherrschende Abstraktionen von Raum zu sehen, und wichtig, dass Lefebvre in der Literatur den Vermittler gelebter Räume sieht. Denn damit nennt er eine essentielle Verbindung zwischen den realen Räumen der Stadt und den imaginären Räumen der Literatur, die weiter erschlossen werden soll. Es mag erstaunen, dass bislang nur in einzelnen Forschungsarbeiten versucht wurde, das Raummodell Lefebvres in seiner Mehrdimensionalität für die Literaturwissenschaften zu adaptieren. Carmel Bendon Davis untersucht in Mysticism and space (2008) die Räumlichkeit
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der materiellen Praxis die »thèse des deux Zola« (Barjonet 2014: 61) mit ihrer Antinomie von Wissenschaft und Symbolhaftigkeit im Werk Zolas auflösen. Denn die aktive Arbeit im und mit dem Raum in der Phase der Feldforschung zeigt eine Seite des Autors, die weder ganz dem Romancier noch dem Wissenschaftler zuzuordnen ist und den Beweis dafür liefert, dass die veranschlagte These der Determinierung des Menschen durch das Milieu angreifbar ist. Lefebvre findet einen Weg, über die Materialität des Raums zu sprechen, ohne in deterministische Raummodelle zurückzufallen.10 Dies ist ein weiterer Vorteil seines Modells gegenüber jüngeren Raumtheorien und erfüllt ein Desiderat, welches Heinrich Detering et al. (2012) in ihrer Bestandsaufnahme zum spatial turn in den Literaturwissenschaften formulieren. Sie verbuchen die Ausrichtung der Disziplin auf räumliche Fragen positiv, kritisieren aber, dass der Raum von der Literatur bislang in erster Linie metaphorisch wahrgenommen und in seiner materiellen Gestalt ausgeklammert worden sei (vgl. Detering et al. 2012: 257).11 Im Gegensatz dazu kann mit Lefebvre die Verbindung von materiellen Strukturen in der Stadt, welche vom Menschen bearbeitet werden, zu jenen vom Autor angelegten formalen
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mittelalterlicher Texte mithilfe der Raumtheorie Lefebvres, entwickelt aber kein übergreifendes Raummodell. David Coughlan unterbreitet in Written Somewhere: The Social Space of Text (2002) wertvolle Übertragungsmöglichkeiten des Raummodells Lefebvres auf die Literatur und denkt den Begriff der räumlichen Form in der Tradition Joseph Franks anhand des sozialen Raums der Literatur weiter. In Christopher Burlinsons Allegory, Space, and the Material World in the Writings of Edmund Spenser (2006) setzt der Autor seine Lektüre Lefebvres für die Untersuchung des Allegorischen als Ansammlung mentaler und physischer, ideologischer Elemente ein, um Spensers The Faerie Queene aus der Perspektive eines »new materialism« eine historische sowie theoretische Diskussion von Raum und materieller Kultur abzuringen (vgl. Burlinson 2006: 37ff.). Sabine Schülting nutzt in ihrem Artikel »London: Frühneuzeitliche Großstadt« (2015) die Raumtrias in Ansätzen. Hierzu auch Thomas Dörfler: »Die Lefebvresche Theorie [stellt] gegenwärtig das einzige Analyseinstrumentarium [dar], das die[se] Dimensionen der ›Raumpraktiken‹ überhaupt in den Blick bekommt. Nicht nur dadurch zeichnet sich seine Theorie vor vielen, dem modischen spatial turn zuzurechnenden Ansätzen aus« (Dörfler 2010: 55, Hervorh. i.O.). Die Autoren sehen Ausbaumöglichkeiten in den Arbeiten der Literaturgeographie, geben aber keine Definition von (literarischer) Materialität (vgl. Fußnote 54). Zur grundsätzlichen Notwendigkeit, die Materialität von Raum in der Literatur mitzudenken, aber auch zur Schwierigkeit der Darstellung von Materialität äußert sich ebenso Audrey Camus: »[L]a conception métaphorique de l’espace tend à nous détourner de sa matérialité; […] enfin cette matérialité elle-même fait question dès lors que l’univers diégétique n’a d’autre existence que verbale« (Camus 2011: 33). Schließlich kommen auch Birgit Neumann/Wolfgang Hallet (2009: 27) zu folgendem Schluss: »Die zentrale Frage, die sich für die Literaturwissenschaft stellt, ist folglich die nach der Repräsentierbarkeit von Raum, Körper und Materie in literarischen Texten.« Vgl. zur Diskussion des spatial turn in der Literaturwissenschaft Frank (2011, 2017), speziell in der Romanistik Dolle/Helfrich (2009).
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Strukturen im Text gezogen werden, welche die Figur belebt. Dabei spielt die sinnliche Wahrnehmung oder die Körperlichkeit des Menschen eine besondere Rolle. Der dritte Grund für das Hinzuziehen der Terminologie Lefebvres ist folglich darin zu sehen, dass er am konsequentesten von einer Sicht auf Raum als ontologische Einheit, Container oder reines Produktionsmittel abrückt und sich einer Sicht auf Raum als Prozess oder gesellschaftlich erzeugtes Produkt verschreibt. Die Beobachtung »L’espace (social) est un produit (social)« (Lefebvre 2000 [1974]: 35, Hervorh. i.O.) meint, dass es keinen präexistenten, geographischen Raum gibt, der der menschlichen Tätigkeit entzogen ist. Raum wird erst im Wahrnehmen, Konzipieren und Erleben produziert und unterliegt historischen Veränderungen. Das bedeutet, dass jede Epoche ein spezifisches Wissen, eine spezifische Materialität und spezifische Bedeutungen des sozialen Raums hervorbringt (vgl. ebd.: 25, 95f., 309ff.). Es wird deutlich, dass Lefebvre eine gesamtgesellschaftliche Sicht auf den Raum einnimmt, worin eine Erklärung für die fragmentarische Auseinandersetzung mit seinem Werk in der Forschung zu finden ist. Denn seit dem Ende großer Erzählungen scheinen Gesellschaftstheorien mit totalisierendem Anspruch ausgedient zu haben. Hierin ist jedoch gerade ein weiterer Grund zu sehen, warum Lefebvre für diese Arbeit so gewinnbringend ist. Sein Entwurf »einer allgemeinen raum-zeitlichen Theorie der urbanen Gesellschaft« (Schmid 2010 [2005]: 7) weist Berührungspunkte mit Zolas ambitioniertem Ziel auf, eine umfassende Geschichte des Zweiten Kaiserreichs zu schreiben. Trotz unterschiedlicher disziplinärer Zielsetzungen kommentieren beide Projekte Stationen der Modernisierung in Frankreich, was neue Diskussionen um den Raum und seine Merkmale entfacht hat.12 Lefebvre zieht diese Verbindungslinie zum 19. Jahrhundert selbst. In La production de l’espace heißt es:
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Die Prämisse für diese Annahme ist ein prozessuales Verständnis von Modernisierung, wie es unter anderem auch der Humangeograph David Harvey vertritt. Harvey konzentriert sich auf die soziokulturellen, politischen und ökonomischen Faktoren, die bei wichtigen Momenten in der Geschichte eine Veränderung der Merkmale von Raum und Zeit sowie ihrer Wahrnehmung herbeigeführt hätten. Er beschreibt eine zunehmende »›time-space compression‹« (Harvey 2007 [1990]: 147) und versteht hierunter eine mit dem europäischen Feudalismus einsetzende Beschleunigung des Lebens sowie ein Schwinden räumlicher Grenzen durch technischen Fortschritt und Globalisierung. Interessant ist zudem, dass Harvey in Paris, Capital of Modernity die Hintergründe der Entstehung des modernen Paris zu Zeiten Zolas behandelt und diese anhand der Theorie des sozialen Raums bei Lefebvre mit der Konstitution städtischen Raums in der Postmoderne zusammenbringt. Er untersucht die veränderten Marktbedingungen in einem liberalisierten Wirtschaftssystem und eine von Haussmann eingeleitete geographische Ausrichtung der Stadt auf die Logik des Kapitalismus, zum Beispiel in Form urbaner Segregation (vgl. Harvey 2003: 144).
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Il y a une certaine analogie entre la situation actuelle (pratique et théorique) et celle qui tendait à s’établir au milieu du XIXe siècle. Un ensemble de questions nouvelles (une ›problématique‹ comme on dit dans le vocabulaire des philosophes) déplace les anciens problèmes, se substitue et se superpose à eux sans pour autant les abolir (Lefebvre 2000 [1974]: 106). In La vie quotidienne dans le monde moderne nimmt Lefebvre dann auch direkten Bezug auf Zola: Ne laissons pas passer sans l’examiner avec le plus grand soin cette irruption du quotidien dans la littérature. Ne serait-ce pas plutôt l’entrée du quotidien dans la pensée et la conscience, par la voie littéraire, c’est-à-dire par le langage et l’écriture? […] Cette irruption de la quotidienneté n’était-elle pas annoncée depuis Balzac, Flaubert, Zola et bien d’autres? (Lefebvre 1968: 9f.).13 Zolas kulturkritische Analyse der Gesellschaft seiner Zeit, seine »intense fascination with the quotidian« (Harrow 2010: 30), sein Interesse an Revolutionen, das heißt Formen der Resistenz und Transgression, sowie sein Bewusstsein für kollektives und individuelles Verhalten in der Stadt sind spätere Forschungsschwerpunkte von Lefebvre (vgl. Harrow 2010: 30).14 Umgekehrt können dessen Arbeiten zur 13
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In Critique de la vie quotidienne I (1947) untersucht Lefebvre zudem die Erscheinungen des Alltagslebens in der Kunst Charles Baudelaires, Arthur Rimbauds und der französischen Surrealisten und ergänzt dies in einer späteren Auflage um die Werke Charlie Chaplins, Bertolt Brechts und Virginia Woolfs. Sein Aufsatz »Vers un romantisme révolutionnaire« (1957) führt den Niedergang des Kommunismus unter anderem auf das Fehlen kreativer Ansätze in der Kunst zurück. Er wird 1962 in dem Buch Introduction à la modernité erweitert, welches die Merkmale der ästhetischen Moderne (Baudelaire) diagnostiziert. Den Auftakt von La vie quotidienne dans le monde moderne (1968) macht eine Analyse von James Joyces Ulysses, und auch die Critique de la vie quotidienne III (1981) und Éléments de rythmanalyse (1992) zeichnen sich durch ihre zahlreichen Verweise auf moderne Kunst aus. Bekannt ist zudem Lefebvres Verbundenheit mit den Situationisten, allen voran Guy Debord, und ihrem Versuch, das Leben in der Stadt durch die Kunst aufzuwerten. Trotzdem bleibt Lefebvre gegenüber dem politischen Potential der Werke aus Kunst und Literatur verhalten. Es verwundert nicht, dass in seinen Augen allein das epische Theater Brechts und die Internationale situationniste das Potential haben, neue Verhaltens- oder Nutzungsangebote in der Stadt zu unterbreiten (vgl. Davis 2009: 73f. und van den Heever 2017: 76). Es kann ergänzend Andrew Thacker angeführt werden, der in seinem Buch Moving through modernity. Space and geography in modernism betont, dass es eigentlich die Literaten (z.B. Ford Madox Ford) sind, die Anfang des 20. Jahrhunderts das Räumliche des Lebens vor der weiteren theoretischen Erforschung des Raums explizieren (vgl. Thacker 2003: 2). Nichts spricht dagegen, Zola zu diesen Autoren zu zählen. Roland Barthes hat in Comment vivre ensemble (1976-77) beispielsweise die sozialen Praktiken und kollektiven Formen der Organisation im Raum bei Zola untersucht. Susan Harrow sieht in Zolas Interesse an sozialen Praktiken Parallelen zu Michel de Certeaus Theorie des Alltags (vgl. Harrow 2010: 30). Letztere wird in Arbeiten zur Raumwende häufig zitiert.
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Stadt nicht nur Zolas Verständnis von Paris in den Arbeitsbüchern erhellen, sondern auch die Romananalysen bereichern, was erneut die Verwendung des Modells im Rahmen dieser Arbeit erklärt. Für Lefebvre ist die Stadt ein vom Staat regulierter Wirtschaftskomplex. Sie ist eng mit der Geschichte des Kapitalismus verbunden und durchläuft historisch drei raumzeitliche »Felder«: le rural, l’industriel, l’urbain (Lefebvre 1970: 41, 46, Hervorh. i.O.).15 Die Momente der Industrialisierung und Urbanisierung bedingen einander, da die Industrialisierung die Mittel der Urbanisierung bereitstellt und die utopische, urbane Gesellschaft des Genusses die Industrialisierung begründet und ausrichtet (vgl. Schmid 2010 [2005]: 144 und Lefebvre 1970: 17ff.).16 Aufgrund ihres prozessualen Charakters erhält die Stadt bei Lefebvre nicht den Status einer Einheit. Sie nimmt vielmehr eine zwischen der globalen (l’ordre lointain/niveau global, Staat und Kirche, Ministerien, Autobahn) und der alltäglichen Ebene (l’ordre proche/niveau privé, Beziehungsgefüge, Wohnraum, Slums) operierende Vermittlerrolle ein (niveau mixte, Straßen, Plätze, öffentliche Gebäude) (vgl. Lefebvre 2013 [1968]: 44, Hervorh. i.O.; vgl. auch Schmid 2010 [2005]: 165, 326): La ville, c’est une médiation parmi les médiations. Contenant l’ordre proche, elle le maintient; elle entretient les rapports de production et de propriété; elle est le lieu de leur reproduction. Contenue dans l’ordre lointain, elle le soutient; elle l’incarne; elle le projette sur un terrain (un site) et sur un plan, celui de la vie immédiate (Lefebvre 2013 [1968]: 44, Hervorh. i.O.). Für Lefebvre ist die Haussmannisierung das Beispiel par excellence für die Macht der fernen Ordnung und einen radikalen Eingriff in den Stadtraum durch Technokraten und Stadtplanung. Der Ausschluss weiter Teile der Bevölkerung aus dem Stadtzentrum sowie der Abbau von Arbeitsplätzen durch die Mechanisierung in der Industrie waren nur zwei der Rationalisierungsmaßnahmen, die zu Konflikten zwischen Interessengruppen führten. 15
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Lefebvre nahm hiermit großen Einfluss auf die Idee der Stadt als Ort der Reproduktion eines Manuel Castells oder die materialistisch fundierte Radical Geography David Harveys (vgl. Schmid 2010: 37ff.). Harvey entlehnte das Gedankengut Lefebvres zur Erforschung von Raum im Zeichen des Kapitalismus für die marxistische Werttheorie (vgl. ebd.: 41; vgl. auch Gregory 2007: 3). Für Lefebvre ist die Stadt ein heterotoper und utopischer Ort der Begegnung und des Konflikts, ein differentieller Raum der Möglichkeiten, in dem mit sozialen Praktiken bestehende Produktionsverhältnisse beeinflusst werden können. Lefebvre verwendet den Begriff der Heterotopie erstens historisch als Raum des Ausgeschlossenen (zum Beispiel Orte des Handels außerhalb der Stadt im 16. Jahrhundert) und zweitens konzeptuell als Gegenspieler der Isotopie, dem Ort des Gleichen, und der Utopie, dem Raum des Imaginären, das an realen Orten zu spüren und damit konkret ist (vgl. Lefebvre 1970: 17f., 171f., 227f.; vgl. auch Schmid 2010: 278). Zum Vergleich der Heterotopie-Begriffe bei Lefebvre und Foucault siehe weiter unten im Text.
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Lefebvre versteht die Pariser Kommune mit ihren blutigen Barrikadenkämpfen und der Umfunktionierung von Straßen oder Cafés zu Orten einer Festkultur dann auch als eine Reaktion auf die Stadtpolitik. Ein Teil der Bevölkerung habe gegen den bürokratisch und militärisch geführten Staat aufbegehrt und zwar mit dem Ziel, die Stadt selbstverwaltet zu steuern (vgl. Lefebvre 1968: 307; vgl. Elden 2004: 157). Die Kommune sei daher die erste urbane Revolution gewesen. Terry Eagleton (2008 [1988]: ix) umreißt diese folgendermaßen: More than most classical revolutions, the Commune was a question of the rapid, dizzying transformation of everyday life, a dramatic upheaval in commonplace understandings of time and space, identity and language, work and leisure. Die Widersprüche des Stadtraums wurden deutlich sichtbar und damit die Chancen auf eine Veränderung seiner Regularien. Lefebvre hebt den qualitativen, emanzipatorischen Charakter der Stadt hervor und sieht in den Momenten der Stadtaneignung durch die Bewohner einen Weg in Richtung einer utopischen Gesellschaft. Das Einfordern des »Rechts auf Stadt« (Lefebvre 1968) der Bewohner als Konsequenz des Ungleichgewichts zwischen ökonomischem Nutzen und Lebenswert der Stadt ist auch in den gewählten Romanen Zolas immer ein Thema. Mithilfe von Lefebvres Überlegungen schließt sich daher eine Lücke in der Zola-Forschung, die den Partikularitäten der Stadt bislang nicht genügend Beachtung schenkte. Der letzte Grund für das Hinzuziehen der Theorie des sozialen Raums ist in Lefebvres Verhältnis zu den im spatial turn verhandelten Raumtheorien zu finden. Der Gewinn Lefebvres liegt darin, dass sein Modell diverse theoretische Positionen zum Raum synthetisieren kann und damit per se in der Lage ist, an verschiedene Raumkonzepte anzuknüpfen. Dies bestätigt Gerhard van den Heever, wenn er schreibt: »Lefebvre’s spatial triad signifies an integrative analytical practice« (2017: 75, Hervorh. i.O.).17 Bevor also das eigene Raummodell entwickelt wird, sei Lefebvre in aller gebotenen Kürze mit wesentlichen Vertretern in der Raumwende abzugleichen. Die Ebene der Raumwahrnehmungen teilt mit der Phänomenologie die Aufwertung der subjektiven Erfahrung und performativen Entstehung von Raum. Der Raum ist nicht absolut im Sinne der Physik oder ein Apriori im Sinne Kants, sondern ein Raum, der dem Menschen durch die Wahrnehmung gegebener objektiver Strukturen im Sinne Edmund Husserls oder Maurice Merleau-Pontys zugänglich ist.18 Körper und Raum stehen im ständigen Austausch, wodurch »Atmosphären« 17 18
Auch Carmel Bendon Davis kommt zu dem Schluss: »Lefebvre’s theory of space […] is the most comprehensive theory of space to date and therefore cannot be overlooked« (Davis 2008: 10). Die Phänomenologie Merleau-Pontys, Heideggers und Bachelards zählt wie die Physik Einsteins mit ihrer Anerkennung der Relativität von Raum und Zeit oder die Zoologie eines von Uexküll mit ihrer Betonung der subjektiv-konstruktivistischen Umwelt von Lebewesen zu den Prämissen der Raumwende (vgl. Johannsen 2008: 15). Die Idee eines im Entstehen be-
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
oder »gestimmte Räume« – in Anlehnung an Elisabeth Ströker (1965) oder Hartmut Böhme (2013 [1995]) – entstehen (vgl. Fußnote 6; vgl. auch Lehnert 2011). Interessant ist, dass Laura Bieger in der aktuellen Raumdiskussion auf die theatrale Seite der Stadt eingeht, die Lefebvre zuvor bereits als Merkmal der Kommune erkannt hatte. Er kennzeichnet die damaligen Prozesse in der Stadt als »fête«, »spectacle« und »tragédie« (Lefebvre 1965: 21). Diese Analyse weist Parallelen zu Biegers Erkenntnis auf, dass die immersiven Qualitäten von Gebäuden oder Vierteln »eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit dem Auflösen von Distanz« als »körperliches Erleben« möglich machten (Bieger 2011: 75). Die hiermit verbundene Funktion von Orten und ihrer Architektur als Speicher von Erinnerung und Auslöser von Emotionen oder Affekten leitet über zu Lefebvres gelebten Räumen (vgl. Peysson-Zeiss 1998: 2, 100ff. und Assmann 2007 [1992]). Subjektive Belange sind für Lefebvre zudem immer an sozioökonomische Fragen und die Position des Individuums in der Gesellschaft gebunden. Mit Michel de Certeau und Michel Foucault eint ihn daher die Untersuchung räumlicher Praktiken in Abhängigkeit von sozialen Kräften bzw. Machtstrukturen in Bezug auf Ideologie, Sprache und soziale Einrichtungen (vgl. Prieto 2012: 75).19 De Certeau kommt in L’invention du quotidien. Arts de faire (1990 [1980]) zu dem Schluss, dass der Stadtraum maßgeblich vom Menschen und seinen Handlungen, Bewegungen sowie dem Bewohnen und Benennen von Räumen bestimmt wird (vgl. ebd.: 139ff.). Urbane Strukturen und Orte (lieux), die auf Stabilität und Eindeutigkeit beruhen, verwandeln sich durch diese »Taktiken« in einen belebten Raum (espace), »animé par l’ensemble des mouvements qui s’y déploient« (ebd.: 173). Obwohl die Unterscheidung zwischen place und space bei Lefebvre mitschwingt, lehnt er es ab, den Raum terminologisch in abstrakte und konkrete Einheiten zu parzellieren. Abstraktion und Konkretheit sollen zusammengedacht werden, weshalb er ausschließlich mit dem Schirmbegriff Raum in einem erweiterten Sinne arbeitet (vgl. Prieto 2012: 89).20
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griffenen Subjekts ist eine sinnvolle Prämisse für das Überkommen der Vorstellung der Figur als fixe Einheit im Romanwerk Zolas. Für das Verständnis der Figur im Roman ist es später ausschlaggebend, zwischen der Figur als Aktanten der Handlung und der Figur als Person zu unterscheiden (vgl. hierzu Frow 2014). Lefebvre hat ein ambiges Verhältnis zu Foucault. Er kritisiert ihn in La production de l’espace, denkt aber die Idee der Produktion des sozialen Raums ausgehend von ihm weiter (vgl. Harris 2017: 264). David Harvey interpretiert seine Haltung gegenüber Foucault, auch Sartre und die Semiotik werden genannt, wie folgt: »Lefebvre never rejects such formulations outright. He always engages with them in order to appropriate and transform the insights to be gained from them in new and creative ways« (Harvey 1991: 431). Trotzdem bietet es sich für die Analyse von Le Ventre de Paris an, mit der Gegenüberstellung von space und place zu arbeiten. Üblicherweise wird der von Michel de Certeau beschriebene geometrische Raum von lokalisierbaren Orten (lieux) mit dem Begriff »space« und der konkrete Raum gelebter Orte (espaces) mit »place« belegt (vgl. Agnew 2011: 318f.). Die anthropologische Seite des Raums bindet sich dann an den Orts- und nicht an den Raumbegriff.
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Wie Foucault geht Lefebvre davon aus, dass der Mensch von (Raum-)Diskursen bzw. Kategorien wie Körper, Klasse oder Sexualität determiniert wird, aber gleichzeitig auch selbstbestimmt handeln kann. Foucault führt mithilfe des Panopticons Jeremy Benthams, der Analyse des Lagers und seiner Ausläufer (Asyl, Spital) eindrücklich vor, inwiefern der Architektur die Macht zur Reglementierung von Körpern und sozialen Praktiken obliegt (vgl. Foucault 2001: 1462ff., Roskamm 2012: 178, Wagner 2010: 100).21 Obwohl Akteure Räume der Macht durchaus steuern und erklären können, konsolidieren sie sich im Alltagsverständnis durch automatisierte Routinen als objektive Entitäten oder fixe Container (vgl. Löw 2001: 162ff.). Sie sind laut Foucault nicht in einen leeren Raum eingelassen, sondern partizipieren an einem »ensemble de relations qui définissent des emplacements irréductibles les uns aux autres et absolument non superposables« (Foucault 2001: 1574). Dieses Netzwerk der platzierten und gelagerten Menschen und Dinge gibt eine topologische Sicht auf topographische Ordnungen frei, die nun in bewegliche Knoten im Raum übersetzt werden (vgl. Löw 2001: 148 und Wagner 2010: 105).22 Die Topologien und Topographien von Raum tauchen bei Lefebvre auf der Ebene der Repräsentationen von Raum auf.
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So zum Bespiel bei Yi-Fu Tuan, einem der Gründungsväter der »humanistic geography«, der mit qualitativen Methoden eine Abkehr von quantitativen, positivistischen Forschungen betreibt, in denen der Mensch lediglich als Produzent oder Konsument interessiert (vgl. Tuan 1979). »Place« ist für Tuan das Resultat der Übersetzung eines konzeptuellen Raums in einen gelebten Raum, »[which, J.K.] incarnates the experiences and aspirations of people« (Tuan 1979: 387; vgl. auch Westphal 2007: 5). De Certeau dreht das Verhältnis zwischen beiden Begriffen folglich um (vgl. Agnew 2011: 318). Die Gemeinsamkeit liegt jedoch darin, dass es der Mensch ist, der eine Brücke zwischen einem abstrakten (»space«; lieux) und einem belebten Raum (»place«; espaces) schlägt. Bei Tuan und neueren Ansätzen der Geographie (Doreen Massey, Nigel Thrift) wird sogar die strikte Trennung zwischen Raum und Ort aufgehoben – der Ort bleibt trotz eines von »placelessness« und sogenannten Nicht-Orten (Augé 1992) gezeichneten Lebens lokalisierbar, ist allerdings immer auch bewegt und an Raumbildungsprozessen auf globaler Ebene beteiligt (vgl. Agnew 2011: 324ff.). Anders als bei Michel de Certeau, der den Subjekten in bewusster Abgrenzung zu Foucault ein aktives Potential in der Raumkonstitution zuspricht, handelt es sich hier eher um ein restriktives Verständnis von Raum bzw. Institutionen und deren Wirkung auf den Menschen. Und dies, obwohl eingeräumt werden muss, dass Foucault hier im Vergleich zu seinen früheren Schriften von einem produktiveren Machtbegriff ausgeht, in dem auch Subjektivierungsprozesse bedeutsam werden. Insgesamt liegt Nikolai Roskamm richtig, wenn er konstatiert, dass der Raum mit Ausnahme des Heterotopieaufsatzes sowie des Determinismus nicht den Schwerpunkt Foucaults ausmacht und sich sein »Erkenntnisinteresse […] auf die Frage [richtet], welche Macht und Regierungstechniken sich an den räumlichen Strukturen ablesen lassen« (Roskamm 2012: 178f.). Dem stimmt Martina Löw zu und ergänzt: »Nur implizit verweist das Resultat der Lagerung und Pla(t)zierung auf die handelnden Menschen« (Löw 2001: 150). Foucaults Ausführungen zur Topologie werden Jahre später Teil des von Günzel ausgerufenen topological turn, durch den er sich von realen geographischen Räumen bzw. der Vorstellung von Raum als Substanz abwendet (vgl. Günzel 2008: 219-237; vgl. auch Mahler 2015).
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Wenn Foucault im Rahmen der Heterotopologie dann von einem Zeitalter des Simultanen und Relationalen ungleicher Lebenssphären spricht, wendet er sich vollends von der traditionellen Idee von Raum als Apriori oder Behälter für eine linear verlaufende Geschichte ab (vgl. Buschauer 2010: 12 und Bachmann-Medick 2010 [2006]: 285f.).23 Lefebvre wird hiervon ausgehend die Produktion des sozialen Raums weiterdenken, doch fällt sein Umgang mit Heterotopie und Utopie anders aus. Heterotopien können Lefebvre zufolge durch ihr Aufeinanderprallen im Stadtraum Konflikte mit dem Raum der Ordnung heraufbeschwören und in der Realisierung von utopischen Visionen enden. Peter Johnson kann der Heterotopie Foucaults, die sich als realisierte Utopie versteht, kein hoffnungsvolles oder befreiendes Potential abgewinnen. Der heterotope Ort lebe zwar durchaus durch seine subversiven Momente, doch entlüden sich diese nicht in Form utopischer Zustände bzw. der Änderung bestehender Verhältnisse (vgl. Johnson 2006: 84f.). Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Foucault und Lefebvre ist dagegen das Interesse an den imaginären und symbolischen Prozessen im Raum (vgl. Krug 2004: 23). Der Fokus verschiebt sich – dies gilt für viele diskurstheoretisch motivierte Arbeiten aus den Cultural und Urban Studies, der feministischen und postkolonialen Forschung oder der Kulturgeographie – von den Handlungen der Akteure im Raum auf die »diskursive Disposition« des Raums (Dörfler 2010: 43f.; vgl. auch Urban 2007: 79, Thrift/Whatmore 2004 und Gebhardt et al. 2007). Lefebvres Triplizität von Raum korrespondiert dann auch mit Theorien des Dazwischen. Hierzu zählen zum Beispiel die Arbeiten von Edward Said (2003 [1978], 1994 [1993]), Homi Bhabha (1994) oder Edward Soja (1996). Sie untersuchen eine postmoderne, inkohärente Welt fern von Dichotomien wie Zentrum und Peripherie oder Orient und Okzident. Die Idee der »Gleichzeitigkeit von ungleichen Räumen und Territorien« 23
Einige der Orte im Alltag werden laut Foucault von heterotopen Orten unterlaufen – »une espèce de contestation à la fois mythique et réelle de l’espace où nous vivons« (Foucault 2001: 1575). Sie sind zwar lokalisierbar und institutionalisiert, widersetzen sich aber dem realen Ort und seiner normativen Funktion. Um in einen heterotopen Ort eintreten zu können, muss nämlich eine Schwelle oder Grenze übertreten werden, wodurch der transgressive Charakter von Heterotopien sichtbar wird (vgl. Borsò 2004: 30). Zu den weiteren Kennzeichen einer Heterotopie zählt zweitens ihr universaler Charakter. Heterotopien sind Teil jeder Kultur und treten entweder als Krisen- oder als Abweichungsheterotopie in Erscheinung: Während erstere für Orte steht, an die Initiationsriten gebunden sind (zum Beispiel heilige Orte), sind letztere Orte für ein subversives Verhalten (zum Beispiel das Gefängnis oder die Psychiatrie). Heterotopien sind drittens historischem Wandel unterworfen, sie können viertens an einem Ort verschiedene Räume synthetisieren, fünftens den traditionellen Zeitverlauf außer Kraft setzen (zum Beispiel in Museen) und unterscheiden sich sechstens funktional von anderen Räumen (sie entlarven diese entweder als illusionär oder nehmen ihnen gegenüber eine kompensatorische Funktion ein) (vgl. Foucault 2001: 1575ff.). Der Begriff der Heterotopie wurde seit den 1980er Jahren in den Literatur- und Kulturwissenschaften und hier besonders in der postkolonialen Forschung breit diskutiert (vgl. Urban 2007).
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(Bachmann-Medick 2010 [2006]: 294) ist daher ein wichtiger Diskussionspunkt, der uns auch bei Lefebvre begegnet.24 Eine besondere Stellung nimmt die Geographie in der Tradition Sojas ein, die die Theorie des sozialen Raums im Zuge der Raumwende einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat. In Thirdspace (1996) untersucht Soja die Stadt Los Angeles mithilfe von Lefebvres Raumtrias, was zu interessanten Erkenntnissen führt. Paradoxerweise ist es aber gerade auch Soja, der die Theorie des sozialen Raums missinterpretiert. Er lässt die Ebene des wahrgenommenen und konzipierten Raums in der Ebene des gelebten Raums, dem Thirdspace, aufgehen, wohingegen Lefebvres Stärke gerade in der Dialektik zwischen den Ebenen liegt (vgl. Schmid 2010 [2005]: 310).25 Vom Ansatz her scheinen es die relationalen Raummodelle der Soziologie zu sein, die Lefebvres Vorstellung der Produktion von Raum am nächsten stehen. In der handlungstheoretischen Position Martina Löws ist der Mensch eine der beiden treibenden Kräfte in Raumkonstitutionsprozessen (vgl. Löw 2001: 150). Sie nennt »Spacing« die von Menschen vorgenommene Anordnung von Dingen und Lebewesen an lokalisierten Orten, wobei in der »Synthese« Wahrnehmungen, Vorstellungen und Erinnerungen aktiv zu einem Raum verknüpft werden (vgl. ebd.: 159f.).26 Der Raum entsteht bei Löw folglich aus der Dualität von Handeln und Struktur; er ist dem Handeln vorrangig und ebenso Konsequenz des Handelns (vgl. Löw 2001: 271; vgl. auch Beck 2013: 40). Dies erinnert stark an die routinierten Handlungen der Menschen auf der Ebene der Raumpraxis und die gelebten Räume aus La production de l’espace. Im Gegensatz zum Vorgehen Lefebvres bleibt die Frage des Determinismus in relationalen Raumtheorien jedoch oft ungeklärt. So wirft zum Beispiel die deutsche Humangeographie Löw vor, konzeptuell unscharf zu arbei-
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Homi Bhabha kreiert aus einer postkolonialen Perspektive heraus das Konzept der kulturellen Differenz in Abgrenzung zu der Vorstellung von Kulturen als in sich stabile, abgegrenzte Entitäten. Kulturelle Differenz entsteht in Verhandlungen zwischen Kulturen in einem zwischen den Kulturen liegenden Raum – dem Drittraum. Produkt dieser Auseinandersetzungen sind hybride Gebilde, kulturelle Mischformen, die alles andere als geschlossen sind (vgl. Bhabha 2006 [1994]: 34ff.). Edward Saids Erläuterungen zur imaginativen Geographie bzw. der Konstruktion des Fernöstlichen in Abgrenzung zum Westen in Orientalism (1978) und dessen Weiterführung in Culture and Imperialism (1993) waren zweifelsohne wichtig für den Vollzug der Raumwende, auch wenn Said selbst keine Raumtheorie konzipierte. Für eine weiterführende Problematisierung des Vorgehens Sojas vgl. Schmid (2010 [2005]: 65f., 310ff.) und Goonewardena et al. (2008). In Kapitel 4 dieser Arbeit werden die Raumebenen zwar getrennt dargestellt, doch geschieht dies nur aus Gründen der Übersicht. Ihre dialektische Verbindung soll damit nicht angezweifelt werden. Löw macht darauf aufmerksam, dass allein Dieter Läpple (1991) die menschliche Syntheseleistung als Bedingung zur Raumkonstitution erkennt, diese aber nicht in sein Raumkonzept integriert. Löw sieht die Aufgabe einer Raumsoziologie darin, das Was, Wer und Wie der Raumanordnung konsequenter zu definieren (vgl. Löw 2001: 151).
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ten und die räumliche Dimension des Gesellschaftlichen zu essentialisieren (vgl. Roskamm 2012: 184).27 Insgesamt akzentuieren die verschiedenen Positionen im spatial turn jeweils eine Ebene der Raumtrias Lefebvres. Die Raumwahrnehmungen nähern sich der Phänomenologie an, die Raumkonzeptionen korrelieren in erster Linie mit topographischen und topologischen Ansätzen, die Räume der Repräsentation verbinden sich mit den symbolischen Räumen postkolonialer, feministischer und geographischer Theorien. Es scheint, als wäre den dialektischen Bewegungen zwischen allen Ebenen nur schwer beizukommen. An diesem Punkt kann die Literatur für Aufklärung sorgen. Die vorliegende Studie pflichtet Westphal bei, dass »[l]a narrativité, fût-elle fictionnelle, amène une connaissance accrue de l’essence de l’espace, au même titre que tout autre représentation, discursive ou non« (2007: 271). Nicht umsonst greifen Jörg Dünne und Andreas Mahler – und dies ist entscheidend – auf Lefebvre zurück, um den Status der Literatur in »kulturellen Raumbildungsprozessen« (2015: 3) bzw. zum materiellen und symbolischen Raum zu bestimmen: [L]iterarische Texte [demonstrieren] das, was kulturelle Praktiken generell leisten […], dass sie nämlich im Sinne Lefebvres (1974) kulturellen Raum durch die spezifische Kopplung einer Dimension des Bezeichnens und des möglichen Handelns allererst ›produzieren‹ (ebd.: 4). Die Autoren erläutern, dass sich Literatur vorhandenen Raumordnungen und -begriffen nicht unterordnet, sondern diese erst auf spezifische Weise vermittelt (vgl. ebd). Als »poietische Medien der Raumaneigung, -auslegung, und -schaffung« ist es literarischen Texten möglich, »auf ihre eigene Gemachtheit, d.h. das ›Wie‹ der Raumproduktion zu verweisen« (Neumann 2009: 117). Zola ist bezüglich der Genese von Raum insofern ein besonders gutes Beispiel, als er diese in den Dossiers dokumentiert. Zudem ist es möglich, die dialektische Verbindung zwischen den drei Raumebenen im Roman darzustellen. Die Triplizität von Raum bereichert also nicht nur die Analyse von Raum bei Zola; auch Arbeitsbücher und Roman Zolas können die Theorie des sozialen Raums bei Lefebvre veranschaulichen. 27
Die Geographie hat sich seit geraumer Zeit der Frage des Geodeterminismus angenommen, weshalb eine Übernahme von Konzepten der Geographie in andere Disziplinen berechtigt scheint. Jörg Döring und Tristan Thielmann (2008) haben jedoch einschränkend bemerkt, dass sich die Positionen zur Raumwende innerhalb der Geographie sehr weit aufgefächert haben. Sie wagen eine Bestandsaufnahme: Neben »emphatischen« oder »strategisch-neutralen« Stimmen sehen sie ebenso »aversiv-souveräne« Haltungen (Döring/Thielmann 2008: 33f.), die den beteiligten kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächern die genannte naiv-reduktionistische Übernahme altgeographischer Ideen von Raum vorwerfen (vgl. Hard 2003; vgl. auch die Beiträge Werlens, Hards, Redeppenings und Lippuners in Döring/Thielmann 2008); kritisch äußern sich vor allem Lippuner/Lossau (2004, »In der Raumfalle«). Vgl. zudem Lossau (2012).
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3.3
Raummodell – die Produktion von Raum in der Literatur
Ausgehend von den bisherigen Aspekten zur Untersuchung von Raum bei Henri Lefebvre kann die Triplizität von Raum nun in einem Modell visualisiert werden, wobei die Überlegungen zur Stadt und zur Rolle des Menschen in der Produktion von Raum als Prämissen des Raummodells mitgedacht werden (vgl. Abb. 1).28 Ziel ist, die dynamische Beziehung zwischen Raum in der Literatur und sozialem Raum der Gesellschaft zu durchleuchten.29 Diese Dynamik wird sichtbar, wenn das literarische Schaffen als ein Produktionsprozess zwischen Autor, Text und Leser
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Die Erläuterung des Modells erfolgt schrittweise von dem sozialen Raum der Gesellschaft (Kreis 1) und der Ebene der Vorbereitung der Romane (Kreis 2) hin zum sozialen Raum in der Literatur (Kreis 3). Der Einbezug des Lesers und die Rückwirkung der Literatur auf den sozialen Raum der Gesellschaft werden mit dem Pfeil veranschaulicht. Unter der »ideologischen Region« werden die dominanten Diskurse einer Zeit gefasst, die Einfluss auf das Verständnis von Raum nehmen. Die »literarische Region« kennzeichnet die narrativen Paradigmen und Verfahren, die die Produktion von Raum in der Literatur bestimmen. Um die Zugehörigkeit der Literatur zum sozialen Raum einer Gesellschaft zu kennzeichnen, aber gleichzeitig zu markieren, dass die Literatur eigenen Gesetzen gehorcht, werden die drei Ebenen der Raumtheorie Lefebvres im dritten Kreis beibehalten, aber mit der hochgestellten Zahl 1 versehen. Zweiter und dritter Kreis hätten verschachtelt im ersten Kreis dargestellt werden können. Hierauf wurde aus Gründen der Übersicht verzichtet. Es handelt sich hier um eine Zielvorstellung, die mit dem geokritischen Ansatz Bertrand Westphals übereinstimmt: »La géocritique, en effet, se propose d’étudier non pas seulement une relation unilatérale (espace-littérature), mais une véritable dialectique (espace-littérature-espace) qui implique que l’espace se transforme à son tour en fonction du texte qui, antérieurement, l’avait assimilé. Les relations entre littérature et espaces ne sont donc pas figées, mais parfaitement dynamiques« (Westphal 2000: 21). Die Geokritik, die Westphal Anfang des 21. Jahrhunderts an der Universität Limoges ins Leben gerufen hat, macht es sich in kritischer Distanz zur komparatistischen Imagologie und im Anschluss an die erneute Berücksichtigung eines Referenten in der (geographieaffinen) Literaturwissenschaft zur Aufgabe, die Interaktionen zwischen realen und fiktiven Räumen zu erforschen (vgl. Westphal 2007: 221f.). Ausgangspunkt bildet laut Westphal der reale Ort, meist eine Stadt, deren Bild anhand diverser medialer Formen in einer multiperspektivischen, interdisziplinären Blickrichtung vergegenwärtigt wird. Statt eines Autors und eines Werks werden zahlreiche Autoren eingeschlossen – ein Grund, warum der geokritische Ansatz per se nur begrenzt mit der aktuellen Studie vereinbar ist, und dies, obwohl Westphal in einer jüngeren Studie dieses Ausschlusskriterium revidiert (vgl. Westphal 2013: 259f.). Generell scheint es der Geokritik eher um den Bereich diskursiver Konstruktionen von (postkolonialem) Raum in Literatur und Realität zu gehen, wodurch unter anderem der Bereich der räumlichen Praxis ausgeklammert wird (vgl. Bouvet 2011: 82). Zwei zentrale Merkmale sollen im Folgenden jedoch berücksichtigt werden: zum einen die multiple Fokalisierung als komplexe Verbindung von Autoren- und Erzählperspektive im Text, zum anderen die Polysensorialität, das heißt der Einbezug aller Sinnesmodalitäten in der Herstellung eines Sinns von Stadt (vgl. Westphal 2007: 199, 213ff.; vgl. auch Ganier/Zoberman 2006).
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
verstanden wird.30 Paul Ricœur hat einen solchen Kommunikationsprozess für die Kategorie der Zeit in Temps et récit I (1983) beschrieben, der auch auf die Kategorie des Raums angewendet werden kann. Es ist das Verdienst Ricœurs, den Vorgang »der Vermittlung zwischen wirklicher Zeiterfahrung und Erzählung« (Römer 2010: 297) eruiert und so den poststrukturalistisch-textimmanenten Ansatz überwunden zu haben. Ausgehend von Aristotelesʼ Verständnis der Poiesis als aktive Tätigkeit, »as a configuration of a world which is already meaningful« (Hartley 2017: 56, Herv. i.O.), setzt Ricœur den Ausgangspunkt der literarischen Produktion von Zeitbezügen in der sozialen Praxis einer Gesellschaft (vgl. Ricœur 1983: 85ff.).31 Der Autor ist nicht länger das Genie, das sein Material durch seine Vorstellungskraft gewinnt; er wird zu einem Arrangeur der in der Realität vorstrukturierten Bausteine und der Text das Produkt dieses Arbeitsschrittes. Nichts anderes schwebt im Grunde Forschern wie Olivier Lumbroso oder Philippe Hamon vor, wenn sie von Zola als constructeur oder architecte des Texts sprechen (vgl. Kapitel 2.1). Vervollständigt wird der Kommunikationsprozess durch die Rezeption der Inhalte durch den Leser und die »Neugestaltung unserer Handlungswelt und ihres Zeitverständnisses« (Römer 2010: 297). Ricœur begreift die drei Vermittlungsschritte zwischen realer Praxis und Erzählung als Präfiguration (Mimèsis I), Konfiguration (Mimèsis II) und Refiguration (Mimèsis III). Er entwickelt folgendes Verständnis von Mimesis: [S]i nous continuons de traduire mimèsis par imitation, il faut entendre tout le contraire du décalque d’un réel préexistant et parler d’imitation créatrice. Et si nous traduisons mimèsis par représentation, il ne faut pas entendre par ce mot quelque redoublement de présence, comme on pourrait encore l’entendre de la mimèsis platonicienne, mais la coupure qui ouvre l’espace de fiction. L’artisan de mots ne produit pas des choses, mais seulement des quasi-choses, il invente du comme-si. En ce sens, le terme aristotélicien de mimèsis est l’emblème de ce décrochage qui […] instaure la littérarité de l’œuvre littéraire. Mais […] la mimèsis n’a pas seulement une fonction de coupure, mais de liaison, qui établit précisément le statut de transposition ›métaphorique‹ du champ pratique par le muthos (Ricœur 1983: 76, Hervorh. i.O.). Dieses Verständnis von Mimesis ist aus zwei Gründen wertvoll. Zum einen erinnert es an die Stellungnahme Zolas gegenüber denjenigen Kritikern, die den Na30
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Mit Marcus Willand soll der Rezeptionsprozess ausgehend von einem realen Leser und nicht von theoretischen Leserkonzepten wie dem impliziten Leser verstanden werden (vgl. Willand 2014; vgl. auch Frank 2017: 54). Zu den verschiedenen Autorkonzepten in der Literaturwissenschaft vgl. Jannidis et al. (2007) und Willand/Schaffrick (2014). Hierin liegt vor allem der Grund dafür, das Literaturmodell Ricœurs mit dem Raummodell Lefebvres zu kombinieren: Beide stellen das menschliche Handeln ins Zentrum ihrer Entwürfe und heben das Zusammenwirken zwischen realer und fiktiver Wirklichkeit hervor.
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turalismus als einen naiv-doktrinären Versuch der originalgetreuen Abbildung der Wirklichkeit einstufen. Bekanntermaßen hält Zola dieser verkürzten Sicht auf den Naturalismus die Feststellung entgegen, das Kunstwerk sei »un coin de la nature vu par un tempérament«32 , das heißt der Ausdruck der Persönlichkeit des Autors und nicht bloß eine einfache Kopie der Realität. Diese kann nach Zola nie ungefiltert repräsentiert werden – es gilt, die Gesetzmäßigkeiten ihres Funktionierens durch das wissenschaftliche Experiment zu ergründen und die Geschichte ganz im Sinne Ricœurs als »comme-si« zu konstruieren. Zum anderen wird offensichtlich, dass Ricœur die Mimèsis als vermittelnde Instanz oder Operation zwischen einer bereits mit Bedeutung angereicherten sozialen Praxis und dem literarischen Werk versteht, die die dynamische Kommunikation zwischen Autor, Text und Leser motiviert (vgl. Hartley 2017: 56). Ausgehend von diesen Prämissen und Arbeiten, die sich bereits mit der Adaption des Zeit-Modells Ricœurs für den Raum beschäftigt haben (Nünning 2009 und Doyon-Gosselins 2011), ist es nun möglich, auch die Genese von Raum als Prozess der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration zu verstehen.33 Der soziale 32
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Erstmals verwendet Zola die Formulierung 1865 in dem Artikel »Proudhon et Courbet«, veröffentlicht in Le Salut public (26.07. und 31.08.1865; vgl. CDLP, X: 35-46), 1866 dann greift er ihn in seiner Taine-Studie und in »Mon Salon« auf. Bereits im Vorwort zu Germinie Lacerteux (1865) vertritt er diese Meinung und bestärkt dies zuletzt auch in Mes Haines: »Ma définition d’une œuvre d’art serait, si je la formulais: ›Une œuvre est simplement une libre et haute manifestation d’une personnalité‹« (CDLP, X: 38). Benoit Doyon-Gosselin vermerkt: »Or les idées de Ricœur sur le temps peuvent également s’appliquer à l’espace. Ainsi, peut-on proposer que les écrivains racontent des histoires afin d’habiter les espaces et de rendre compte du caractère spatial de l’expérience humaine« (Doyon-Gosselin 2011: 65). Sein Versuch der Übertragung der Ergebnisse Ricœurs zur Kategorie der Zeit auf die Kategorie des Raums begrenzt sich auf die Perspektive des Lesers bzw. des hermeneutischen Rezeptionsprozesses. Der Artikel Ansgar Nünnings, »Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung« (2009), fällt demgegenüber umfassender aus. Gerhard Hoffmann hat den Dreischritt (1978) indirekt beschrieben, aber nicht in sein Raummodell integriert: »Die Geschichte entsteht aus der Transformation der Elementenkomplexionen der narrativen Tiefenstruktur; sie evoziert, wenn auch in schematisierter Form, wiedererkennbare Wirklichkeit, zeigt Personen, Handlungen, Räume, die denen der Lebenswelt ähneln. Der Diskurs bildet die Manifestationsinstanz dieser scheinbaren Wirklichkeit der Geschichte, bezeichnet also die Selektion und Kombination der über die Sprachzeichen aufgerufenen Realitätspartikel, die Fügung der Erzähleinheiten zu Sequenzen und die (direkte oder indirekte) Perspektivierung und Interpretation der Erzählsyntagmen, ihrer Folge und der ganzen Geschichte durch den Erzähler und sorgt auch für die Rezeptionsmöglichkeit des im Text angebotenen Wirklichkeitsmodells durch den Leser unter Einbeziehung seines eigenen Erfahrungshorizontes« (Hoffmann 1978: 46). Caroline Frank baut das Mehr-EbenenKonzept Nünnings aus und entwickelt folgende Schritte der Raumanalyse: 1. »Auswahl und Kombination der Teilräume, räumliche Paradigmen«, 2. »Narrative Darstellung des erzählten Raums«, 3. »Semantiken des erzählten Raums« (Frank 2017: 76). Ein detaillierter Nachvollzug der Raumgenese (bei Zola) ist hiermit nur teilweise möglich; auch das Verhältnis des litera-
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Raum bei Lefebvre ist der Ausgangspunkt des Mimesis-Prozesses. Er ist neben der Zeit die zentrale Kategorie der menschlichen Erfahrung, welche von dominanten Raumideologien einer Zeit präfiguriert wird (vgl. Abb.1, Kreis 1). Um die Stufe der Vorbereitung der Romane aufzugreifen, muss das Modell Ricœurs um eine »Zwischenstufe der Konfiguration« erweitert werden (vgl. Abb. 1, Kreis 2). Erst dann beginnt die eigentliche Konfiguration des Materials im Text (vgl. Abb. 1, Kreis 3).34 Gibt Ricœur in Temps et récit II (1984) Hinweise für die Konfiguration von Zeit im Roman, darunter Zeitformen der Vergangenheit, Zeitraffung oder Perspektivierung, müssen hier narrative Verfahren der Vermittlung von Raum im Vordergrund stehen (vgl. Ricœur 1984: 93ff., 113ff., 131ff.). Bevor also auf die Stufe der Refiguration zu Ricœur zurückgekehrt wird, sollen aktuelle Erkenntnisse zur Vermittlung von Raum in der Literatur zusammengefasst werden. Im Moment der Mimèsis III wird die Literatur auf der einen Seite erneut als Teil des sozialen Raums der Gesellschaft erfasst, doch wird auf der anderen Seite die spezifische literarische Kommunikationssituation betont (vgl. Abb.1, Pfeil).35
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rischen Texts zur Realität wird hier eher zurückhaltend in Form der »Semantik« des Raums erschlossen (vgl. ebd.: 187ff.). Mitterand (1987) untersucht mithilfe des Zeitmodells Ricœurs den Roman La Curée, was darauf schließen lässt, dass eine Adaption des Modells für die Untersuchung von Raum bei Zola grundsätzlich gewinnbringend sein kann. Auf diese Weise wird dem Ansatz Ricœurs stärker gefolgt. Ansgar Nünnings Übertragung der Arbeit Ricœurs auf den Raum betrachtet die paradigmatische Achse im Roman als Teil der Selektion, die Konfiguration versteht er als syntagmatische Anordnung der selektierten Inhalte und die Perspektivierung als letzten Schritt der Darstellung der erzählten Räume (vgl. Nünning 2009: 39ff.; vgl. auch Beck 2013). Das Textrepertoire allein aus dem Roman als Endprodukt der Raumkonstitution zu ziehen, ist notwendig, wenn keine Arbeitsbücher oder ähnliche Vorarbeiten eines Autors vorliegen. Selbstverständlich wird der konzeptuelle Plan eines Autors nicht immer verschriftlicht; es darf sogar hinterfragt werden, bis zu welchem Grad das Entwerfen des Romans ein bewusst ablaufender Prozess ist. Die Herangehensweise Nünnings verzerrt allerdings die Theorie Ricœurs insofern, als es sich bei der Mimèsis I um einen präreflexiven Vorgang handelt, das heißt um eine vorgeprägte Positionierung des Menschen zur Welt der Handlung. Nünnings Ansatz betrachtet diese Disposition des Autors zur Erfassung der Welt nicht, sondern ausschließlich das Ergebnis des Erfassens, das heißt die selektierten Elemente im literarischen Werk, die dann streng genommen mit der Ebene der Konfiguration zusammenfallen. Es hat eine andere Qualität, wenn diese losgelöst von der ordnenden Syntagmatik des fertigen Texts bzw. ihrer Perspektivierung in einer gewissen paradigmatischen Unordnung betrachtet werden können. Sheila Hones, eine Vertreterin der Literaturgeographie, versteht die Kommunikationssituation der Literatur ebenfalls in räumlicher Hinsicht: »If fiction happens when it is read and if, as a result, it involves an interaction between author, text, and audience, then (because it is an interaction) it can be understood as an inherently spatial practice. [F]iction can be usefully understood as a geographical event, a dynamic unfolding collaboration, happening in space and time. This shift in perspective opens up a new dimension for the study of fiction, unfixing the text as stable subject matter and reconstituting it instead as a process, a set of relations, an event emerging at the meeting points of agents and networks« (Hones 2014: 23; 32).
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3.3.1
Mimèsis I – Präfiguration
Die Komposition des literarischen Werks gründet auf der »pré-compréhension du monde de l’action: de ses structures intelligibles, de ses ressources symboliques et de son caractère temporel« (Ricœur 1983: 87). Nicht nur ist die praktische Handlungswelt präfiguriert durch Sinnstrukturen (»les traits structurels [de l’action, J.K.]« [ebd.: 88]), symbolische Ressourcen und ihren zeitlichen Charakter; unser Vorverständnis, also das präreflexive Verständnis dieser Welt, ist auf diese Präfiguration hin ausgerichtet.36 Somit sind die Dispositionen von Handlungswelt und Mensch aufeinander abgestimmt und der Mitvollzug einer Geschichte, die Handlung nachahmt (mimēsis praxeōs), möglich. Gemäß seiner »hermeneutische[n] Phänomenologie« (Scharfenberg 2011: 15) nennt Ricœur drei zur Welt analoge Dispositionen des Menschen: erstens die Zeiterfahrung, zweitens symbolisches Handeln und drittens strukturelle Kompetenzen. Zeit ist nach Heidegger menschliche Zeit, eine Zeit des Besorgens (Innerzeitlichkeit), die unserem Dasein Bedeutung verleiht, durch Narrative vorstrukturiert ist und in Alltagserzählungen auftaucht (vgl. Römer 2010: 297). Analog zum präreflexiven Sinn der Zeit des Menschen soll dem Menschen im Rahmen der Arbeit auch ein präreflexiver Sinn des Raums, die Innerräumlichkeit, zugestanden werden, der das Verständnis von Raum (im literarischen Werk) ermöglicht und zugleich durch »kulturelle Topographien« (Böhme 2005) präfiguriert wird. Die symbolischen Ressourcen, das heißt »conventions«, »règles« etc. einer Gesellschaft (Ricœur 1983: 92f.), regulieren das Handeln bzw. Zusammenleben, indem sie dieses lesbar machen (»le symbolisme confère à une action une première lisibilité« [ebd.: 93, Herv. i.O.]). Sie sind vergleichbar mit dem vereinheitlichenden Code des espace conçu bei Lefebvre, der in kapitalistischen Gesellschaften auf die Handhabbarmachung der Stadt und ihrer Bewohner abzielt. Im Bereich der Strukturen schließlich verfügt der Mensch laut Ricœur über zwei Kompetenzen, die »compréhension pratique« und die »compréhension narrative«: Er hat ein Wissen vom Wesen paradigmatischer Praktiken (»une familiarité avec des termes tels qu’agent, but, moyen, circonstance, secours, hostilité, coopération, conflit, succès, échec etc.« [ebd.: 89]) und ihrer syntagmatischen Formgebung durch Narrative (»les termes de la sémantique de l’action« [ebd.: 91]). Der Kompetenz und Performanz eines Akteurs im Raum bei Lefebvre entspricht die Kompetenz bzw. Kenntnis der Strukturen bei Ricœur, freilich mit dem Unterschied, dass dem Menschen nicht nur ein narratives Verständnis der Handlung entlang
36
Handeln ist an dieser Stelle nicht im Sinne physischer Handlung, sondern strukturell in Bezug auf Motive, Ziele und den Ausgang von Handlungen zu verstehen (vgl. Römer 2010: 300f.).
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
der Aspekte »qui«, »comment« oder »pourquoi« (Ricœur 1983: 91), sondern auch eine compréhension spatiale (où) der Handlung oder Bewegungen zugesprochen werden muss. Dies bedeutet wiederum, dass die Sinnstrukturen nicht rein zeitlich, sondern auch räumlich auszulegen sind. Ricœurs Versäumnis liegt grundsätzlich darin, die Ebene der Präfiguration für ahistorisch und neutral zu halten, obwohl sie in Wirklichkeit Ergebnis menschlicher Produktion und konfliktreicher Aushandlungen ist (vgl. Hartley 2017: 56ff.). Um den ambivalenten Status der räumlichen Strukturen und Erfahrungen im vorliegenden Modell sichtbar zu machen, ist der soziale Raum umgeben von einer ideologischen Region, das heißt von dominanten Repräsentationen von Raum, die dem Handeln im und Erleben von Raum eine Form geben.37 Während der dominante Code einer Gesellschaft in der bewussten Arbeit an Repräsentationen von Raum hergestellt wird, tritt er in den Bereichen des gelebten und wahrgenommenen Raums nur implizit zutage. Er wird unbewusst über die Sozialisation erlernt und in routinierten, standardisierten Handlungen zur Anwendung gebracht bzw. reproduziert.38 Im Falle Zolas soll auf der Stufe der Mimèsis I die Art der Präfiguration von Raum im Verständnis Zolas überprüft werden. Diese Ebene des präreflexiven Verständnisses der Welt eines Autors ist notgedrungen eine hypothetische Rekonstruktion (vgl. Hartley 2017: 210). Dass eine solche Aufarbeitung trotzdem sinnvoll ist, hat die bereits zitierte Studie Olivier Lumbrosos zu den mentalen räumlichen Figuren Zolas, »inscrites a priori dans le cerveau de l’écrivain« (Lumbroso 2004: 18, Hervorh. i.O.), bewiesen. Die avant-textes des Autors zu konsultieren, was später um prägnante Stellen aus der Korrespondenz und dem journalistischen Schaffen Zolas erweitert werden soll, hat den Vorteil, die »processus mentaux, logiques et affectifs, de l’invention littéraire« (ebd.: 15) Zolas zu verstehen. Sie gelten als die verinnerlichten, räumlichen Formen und Erfahrungen, die Zolas Wahl der Elemente aus dem Materialpool des sozialen Raums anregen, und sollen als »persönlicher räumlicher Haushalt« des Autors gegenüber dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« bezeichnet werden. Konflikte können eintreten, wenn habitualisierte Bedeutungen, die immer schon an Orte oder an die Raumwahrnehmung geknüpft sind – 37
38
Lefebvre arbeitet zwar auch mit dem Ideologiebegriff, subsumiert diesen aber zusammen mit dem Begriff des Wissens unter den Begriff der Repräsentation (vgl. Schmid 2010 [2005]: 219). Um die politische Brisanz des Konzeptuellen beizubehalten und die Bedeutungsvielfalt des Begriffs Repräsentation zu umgehen, soll an dieser Stelle weiter mit dem Ideologiebegriff gearbeitet werden. Der unterschiedliche Grad der bewussten Arbeit am Code soll im Schaubild durch die gestrichelte Rahmung des gelebten und des wahrgenommenen Raums im Vergleich zur durchgehenden Rahmung des konzipierten Raums verdeutlicht werden (vgl. Abb. 1, Kreis 1). Da es bei Ricœur in den automatischen Handlungen nicht um Ideologien einer Zeit geht, bedeutet dies eine Erweiterung seines Ansatzes.
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zu denken ist an die semiotische Organisation von Raum bei Jurij M. Lotman oder die Einteilung in weiblich oder männlich konnotierte Räume – vom Autor nicht geteilt werden. Denn es darf nicht vergessen werden, dass die Topographien der Welt, um nur einen Punkt zu nennen, nicht neutral sind. Sie stellen »räumliche Ordnungsverfahren«, »Vorzeichnungen […] möglicher Handlungen« (Böhme 2005: xix) dar; sie sedimentieren sich in Orten, bringen diese gleichzeitig aber auch erst performativ hervor (vgl. ebd.). Die Ebene der Präfiguration ist nicht zu lösen von der Vorbereitung der Romane sowie ersten formalen Entscheidungen. Von Vorteil ist bei einem Autor wie Zola – im Unterschied zu Autoren, deren Arbeitsschritte nicht dokumentiert werden –, dass die Adaption der Inhalte im Laufe der Textproduktion, das heißt von der Vorstufe des Romans bis zum Endprodukt, nachvollzogen werden kann. Auf diese Weise wird die ambivalente Verbindung von realem und literarischem Raum exponiert und die Abstraktion vom realen Raum durch die Komplexität der literarischen Raumproduktion und -kommunikation kompensiert. Bevor weiter auf die textimmanente Ebene der Konfiguration abgehoben wird, sollen an dieser Stelle die Vorarbeiten des Autors/Zolas in eine Zwischenstufe der Konfiguration eingebettet werden.
3.3.2 3.3.2.1
Mimèsis II – Konfiguration Zwischenstufe der Konfiguration – Vorbereitung
Das gewonnene Material auf der Ebene der Dossiers préparatoires und der Paratexte soll mit Rückgriff auf Wolfgang Iser und Ansgar Nünning als Textrepertoire gekennzeichnet werden. Je nach literarischem Programm fällt der außertextuelle Bezug in Anzahl und Dichte höher oder niedriger, das Textrepertoire umfangreicher oder geringer aus (vgl. Nünning 2009: 41). Das bedeutet, dass das Sammeln von Material von der literarischen Tradition eines Autors und ersten Vorentscheidungen bezüglich der Handlungsorte der Geschichte vorbelastet ist. Unabhängig vom Umfang des Repertoires reduziert die Wahl der Inhalte aus dem sozialen Raum notgedrungen dessen Komplexität. Es ist bekannt, dass sich der Naturalismus Zolas durch eine hohe Anzahl an selektiertem Material bzw. ein dichtes Textrepertoire auszeichnet. Dreh- und Angelpunkt bleiben die Kategorien des Wahrgenommenen, Gelebten und Konzipierten »aus dem realen räumlichen Bezugssystem« (Nünning 2009: 40) bzw. dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« der Zeit.39 Hierunter fallen Topographien
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An dieser Stelle wird nicht weiter mit den Kategorien der Narrationstheorie Ricœurs gearbeitet, gleichwohl sein phänomenologischer Ansatz durchaus Parallelen zu Lefebvres Raum der räumlichen Praktiken (Welt der Handlung bei Ricœur) aufweist. Auch bei Lefebvre sind diese von unbewusst realisierten konzeptuellen Strukturen und symbolischen Inhalten vor-
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
(»Haus, Route, Bewegungen« [Böhme 2005: xviii]), Subjektmodelle und Raumkonzeptionen genauso wie das affektive Erleben von Raum oder die Erfahrung von Auseinandersetzungen um Raum (vgl. Kapitel 2 und 4).40 Auf dieser Stufe trifft der Autor in der Regel erste Entscheidungen bezüglich der Großstrukturen des Raums im Roman, zum Beispiel darüber, aus welchen Orten sich der »story space« (Ryan 2014: 5) konfiguriert und ob von »additiven, korrelativen [oder, J.K.] konsekutiven (kausalen) Verknüpfungsformen der einzelnen Orte untereinander« (Hoffmann 1978: 51f.) auszugehen ist.41 Zusätzlich können Anordnungen der Figuren an bestimmten Orten und deren Wegesystem diskutiert werden oder aber Bemerkungen zu deren chronotopischem Status und symbolischem Wert fallen, wodurch oppositionelle Raumstrukturen, Charakterisierungen und Handlungsoptionen von Figuren sowie mögliche Grenzüberschreitungen antizipiert werden können (vgl. Beck 2013: 85ff. und Frank 2017: 102f.). Insgesamt wird hier maßgeblich »das Bedeutungs- und Wirkpotential eines Textes« vorbereitet (ebd: 78). Einschränkend muss konstatiert werden, dass in diesem Stadium der Konfiguration die Dynamik des Raums durch die prioritäre Konzentration auf Containerräume (»settings« und »spatial frames« [Ryan 2014: 6f.]) sowie die ausschließliche Berücksichtigung der Autorenperspektive bis zu einem gewissen Punkt nicht berücksichtigt wird. Sheila Hones stimmt dem zu: »In this case, the assumed meta-
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geprägt. Insofern also fließen die Erkenntnisse Ricœurs zur Narrativierung von Zeit in die Analyse von Raum bei Zola ein. Natürlich ist es jedoch nicht das Ziel Ricœurs, ein gesellschaftliches Zeitmodell zu entwickeln, sondern die Prämissen der Narrativierung von Zeit in der Literaturproduktion zu untersuchen. Es handelt sich dabei um vorreflexive Präliminarien, die auch im Falle Zolas rekonstruiert werden sollen. Anders als bei Ricœur geht es in der Analyse von Raum aber nicht nur um das Vorverständnis von Handlungen in der Literatur, sondern auch um die konkreten Handlungen, Strukturen etc. der Bewohner im Raum, also um eine materielle Seite der Raumnutzung. In etwa durch diese Elemente definiert auch Katja Sarkowsky (2007: 43) den Raum der Literatur: »Space I define as the dynamic relationship between and [sic!] ensemble of different categories of textual elements such as characters, places, and other spaces, but also mythology, flashbacks, memory, stories etc.« (vgl. auch Beck 2013: 66). Als »narrative space« begreift Marie-Laure Ryan »the physically existing environment in which characters live and move« (Ryan 2014: 5), und sie unterteilt ihn in folgende Bereiche: a. spatial frames (»the immediate surroundings of actual events, the various locations shown by the narrative discourse or by the image« [ebd.: 6]), b. setting (»the general socio-historicogeographical environment in which the action takes place, […] a relatively stable category which embraces the entire text« [ebd.: 7]), c. story space (»the space relevant to the plot, as mapped by the actions and thoughts of the characters« [ebd.: 8]), d. narrative (or story) world (»the story space completed by the reader’s imagination on the basis of cultural knowledge and real world experience« [ebd.: 9]) und e. narrative universe (»the world presented as actual by the text, plus all the counterfactual worlds constructed by characters as beliefs, wishes, fears« [ebd.: 10, Hervorh. i.O.]).
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geography is one [of container space] in which the world is understood as being organized into variously scaled sets of interlocking pieces that together form a mosaic« (Hones 2014: 36f.). Der Einbezug der Feldforschung Zolas als Methode der Selektion bzw. praktisches Eintauchen in den gelebten Raum von Paris, die Einbindung dieser Phase in die übergeordnete Kommunikationssituation der Literatur generell sowie die Aktivierung der Settings durch die problematische Wahl der erzählerischen Mittel auf der folgenden Stufe gleichen diese Einschränkung jedoch aus.
3.3.2.2
Textimmanente Konfiguration I – Narrative Paradigmen
Die textimmanente Konfiguration ist die eigentliche Ebene der Konfiguration des Materials im literarischen Werk bei Ricœur und »le pivot de l’analyse« (1983: 86). In Temps et récit I heißt es: [J]e me propose de montrer que mimèsis II tire son intelligibilité de sa faculté de médiation, qui est de conduire de l’amont à l’aval du texte, de transfigurer l’amont en aval par son pouvoir de configuration. […] L’enjeu est donc le procès concret par lequel la configuration textuelle fait médiation entre la préfiguration du champ pratique et sa refiguration par la réception de l’œuvre (ebd.). Das Ziel der Konfiguration ist es erstens, aus Einzelereignissen eine Geschichte, »une totalité intelligible« (ebd: 102), entstehen zu lassen. Hieraus ergibt sich zweitens die Übersetzung der paradigmatischen Elemente in eine syntagmatische Ordnungsstruktur, die drittens mit einer zeitlichen Einheit der Narration korrelieren soll (vgl. ebd.: 102f.). Den Erfolg der Konfiguration misst Ricœur an der Fähigkeit des Lesers, der Geschichte folgen bzw. den Verlauf der Geschichte mit Ausrichtung auf einen »point final« oder »le sens du point final« mitvollziehen zu können (Ricœur 1983: 104, 105). Im Falle des Raums hieße dies erst einmal, dass der Leser räumliche Bilder im Text begreift und zusammensetzt. Greift Ricœur an dieser Stelle gewissermaßen die Stufe der Refiguration (Mimèsis III) vorweg, bringt er den Leser erneut ins Spiel, wenn er zuletzt zwei wichtige Prämissen des Nachvollzugs der Geschichte bespricht – die »schématisation« und die »traditionnalité«. Für Ricœur erhält die Konfiguration der Elemente in ein übergeordnetes Thema den gleichen Stellenwert wie die produktive Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft (vgl. Ricœur 1983: 106). In beiden Prozessen entstehen Schemata, durch die intellektuelle und intuitive Aspekte synthetisiert werden, im Falle der Konfiguration der Narration »une intelligibilité mixte entre […] la pointe, le thème […] de l’histoire racontée, et la présentation intuitive des circonstances, des caractères, des épisodes et des changements de fortune qui font le dénouement« (ebd.). Die Schemata treten in narrativen Paradigmen in Erscheinung, darunter Formen (»la concordance discordante«), Gattungen (»la tragédie grecque«, »l’épopée«) und Typen (»les œuvres singulières) (Ricœur 1983: 107), die vergleichbar einem Regel-
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
werk oder einer Grammatik den Ablauf der Synthese vorgeben. In dieser Funktion setzen sie sich in der »histoire sédimentée« (ebd.) fest und liefern den Grundstock für die Schöpfung neuer Werke (vgl. ebd.: 108). Diese Spannung aus Regelhaftigkeit und Innovation vereint Ricœur in dem transhistorisch verstandenen Term der »traditionnalité«. Mit der Vorstellung der Transhistorizität narrativer Formen bzw. des »coming-into-being of genres and forms as entirely contingent« (Hartley 2017: 51) stößt die von Ricœur propagierte Anerkennung des sozialen Charakters der Literatur an ihre Grenzen. Er verkennt, dass kanonisierte Formen das Ergebnis von Machtkämpfen sind und der Akt der Konfiguration damit ideologische Zwecke erfüllen kann: »[Indeed,] by symbolically resolving certain practical contradictions, literary works prevent these latter from being truly recognised in reality« (vgl. ebd.: 59).42 Die Verhandlung von Modi, Genres, Typen und Formen muss folglich als ein politischer Akt bzw. ein wichtiger Moment der Konfrontation des Autors mit den literarischen Traditionen seiner Zeit gelten (vgl. Nünning 2009: 41; vgl. Fußnote 37, Kapitel 2). Es geht um die Verhandlung (un-)konventioneller Darstellungsformen von Raum, wobei dieser Prozess abhängig ist von gewissen Einflussfaktoren, darunter beispielsweise Verlagsvorgaben, die Nachfrage auf dem Absatzmarkt, die Lesererwartung oder das theoretische Programm des Autors. Betrachten wir zur Veranschaulichung kurz die Situation Zolas im literarischen Feld der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Bourdieu 1992, Charle 1979 und Colin 1988). Wie vielen anderen Autoren gelingt es Zola nur schwer, sowohl wirtschaftlichen Publikumserfolg mit Arbeiten für Feuilletons oder Boulevardtheater als auch symbolische Anerkennung in den elitären Kreisen der literarischen Peers zu erlangen. Es ist bekannt, dass unter anderem Ferdinand Brunetière seinen Stil als brutal einstuft und die Kritik auch aus den eigenen Reihen kommt (vgl. Brunetière 1883: 13). Verfechter der écriture artiste wie die Goncourt-Brüder oder Joris-Karl Huysmans lehnen mit ihrer Suche nach einer ausgefallenen, dekadenten Sprache einen »retour à la langue si carrée et si nette du dix-septième siècle« (CDLP, XI: 247) ab, den Zola in den Romanciers naturalistes (1881) propagiert (vgl. Pagès 1993: 36). Nähere Informationen zu narrativen Verfahren gibt Zola nicht. Sie müssen aus den Kritiken, Zeitungsartikeln oder paratextuellen Formen wie den Vorworten zu den Büchern, aus Briefen, Interviews und natürlich den Romanen des Autors abgeleitet werden. Hier wird klar, dass Zola mit dem Verweis auf eine schlichte Sprache 42
Ähnlich fasst Henri Mitterand die Rahmenbedingungen der Literaturproduktion: »C’est peutêtre moins une question de ›dérive‹ que de traduction, ou de transposition: le réel ne peut donner lieu à la mimesis dans le roman qu’en se coulant dans des formes, qui, elles, constituent le réel du texte, qui donnent à la réalité l’existence textuelle, narrative-descriptive, mais qui en même temps, tendanciellement, la surdéterminent, lui surimposent un héritage générique, rhétorique, culturel, et peuvent par là jeter une ombre sur l’illusion de savoir objectif« (Mitterand 1994a: 17).
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nur um eine Legitimation seines Projekts bemüht ist und selbst eine écriture artiste bedient.43 Zola begegnet dem Vorwurf der Obszönität, indem er sich auf die philosophischen und wissenschaftlichen Implikationen des Naturalismus beruft. Der Autor folge in seinen Werken lediglich dem in der Realität beobachteten Material sowie experimentellen Verfahren bzw. objektiven Methoden. Formfragen werden mit dem Verweis auf die Transparenz der Sprache beantwortet (vgl. Baguley 1990: 43ff.). Der ideale Leser geht demzufolge beim Aufschlagen eines Romans Zolas einen »mimetic« bzw. einen »realist pact« (ebd.: 48, 49) ein, das heißt, dass er die geschilderten Ereignisse für wahr und die Darstellungsmittel für natürlich halten muss.44 Für die Vermittlung des Materials aus den Notizbüchern orientiert sich der Autor strikt an dem Regelwerk, dem cahier des charges des Naturalismus (vgl. CDLP, X: 1315ff.; vgl. Hamon 1982 [1973]: 132f., Baguley 1990: 52f.).45 Zola verstößt damit je43
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Alain Pagès hält folgende Spezifika der écriture artiste fest: »Le terme d’›écriture artiste‹ […] désigne traditionnellement un ensemble de procédés stylistiques que l’on retrouve […] chez les Goncourt, chez Daudet, chez Huysmans, et même chez Zola […]. [Elle, J.K.] se caractérise par la recherche de l’effet stylistique, l’alliance inattendue dans les mots et les images, la provocation. Privilégiant la sensation immédiate, notant des états plus que des actions, elle aboutit à une mise en valeur du substantif au détriment du verbe« (Pagès 1992: 9, 14). Mitterands Definition geht in die gleiche Richtung: »Le style artiste est d’abord le style d’une optique, d’une manière nouvelle de voir et de représenter la nature, une écriture neuve au service d’une sensibilité neuve. […] Les romanciers artistes sont cela, avant tout: des tempéraments, robustes et sensibles, gourmands et subtils tout à la fois; et, de plus, de grands techniciens du langage. Bref, des créateurs. Insistons là-dessus, car c’est précisément ce qui fera toute la différence entre le style artiste de la grande époque et ses avatars décadents« (Mitterand 1985b: 471f.; vgl. Pagès 1992: 9, Hamon 1967, Newton 1967). Dass sich Zola der Bedeutung der Form sehr wohl bewusst ist, zeigt seine Korrespondenz mit Jean-Baptistin Baille aus dem Jahr 1860: »Les aspirations vers l’avenir, le souffle de liberté qui s’élève de toutes parts, la religion qui s’épure: voilà certes les sources puissantes d’inspirations. Le tout est de trouver une nouvelle forme« (Corr, I: 232f., Ende August-Anfang September). »Il reste à donner un langage moderne à cette modernité.« Auf Bailles Vorwurf der Vernachlässigung der Form in der Poesie antwortet Zola in einem anderen Brief: »Moi, renier la forme! Où diable as-tu pêché cela?« (Corr, I: 228, 10.08.1860). Philippe Hamon hält sieben Grundannahmen in dem cahier des charges des Naturalismus fest, die sich im Grunde aber nur auf die naturalistische Theorie und nicht auf das Romanschreiben selbst beziehen: »1. le monde est riche, divers, foisonnant, discontinu etc.; 2. je peux transmettre une information (lisible, cohérent) au sujet du monde; 3. la langue peut copier le réel; 4. la langue est seconde par rapport au réel (elle l’exprime, elle ne le crée pas), elle lui est ›extérieure‹; 5. le support (le message) doit s’effacer au maximum (la ›maison de verre‹ de Zola); 6. le geste producteur du message (style, énonciation, modalisation) doit s’effacer au maximum; 7. mon lecteur doit croire à la vérité de mon information sur le monde« (Hamon 1982 [1973]: 132f., Hervorh. i.O.). Hamon sieht in der Lesbarkeit und der Beschreibung zwei zentrale Elemente der naturalistischen Ästhetik (vgl. Hamon 1982 [1973]: 133). Barthes bezeichnet diese Lesbarkeit im Realismus bekanntlich als »effet de réel« (1982 [1968];
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
doch gegen reale Zuschauererwartungen und Konventionen. Dies liegt daran, dass er zum Teil Inhalte und Darstellungsformen wählt, die noch keinen Eingang in die kanonische Literatur gefunden haben (vgl. Jameson 2013: 145ff.). Dazu zählen der Einsatz von Anti-Helden und die Schilderung ihrer pathologisch-neurotischen Zustände, das Verorten der Handlung in Arbeitervierteln oder der Verzicht auf universelle Schicksalsgeschichten zugunsten körperlich-affektiver Beschreibungen in konkreten, historischen Situationen (vgl. Jameson 2013: 25; vgl. auch Mitterand 2002: 82). Zola bietet laut Fredric Jameson »some of the richest and most tangible deployments of affect […] which […] had not found their way into language [before this mid-century], let alone become the object of this or that linguistic codification« (Jameson 2013: 45, 34).46 Eckt dieser moderne Zugriff auf Sprache mit den literarischen Konventionen an, ist das Verwischen von Genre-Grenzen ein Angriff auf die von Zola selbst gesetzte Regel der Transparenz im Naturalismus.47 So betont David Baguley: »[N]aturalist fiction […] was […] multi-generic in being at once narrative, dramatic and poetic, thereby rendering generic distinctions redundant« (Baguley 1990: 53, Hervorh. i.O.). Zola steht nicht nur Musik und Malerei nahe – er diskutiert in Kritiken sowohl Wagner als auch die experimentellen Formen der Impressionisten –, sondern ist besonders auch vom Theater beeinflusst. Er weiß, dass das Drama trotz des Vormarsches des Romans weiterhin das prestigeträchtigere Genre ist und der Erfolg auf der Bühne Anerkennung und finanzielle Sicherheit bringt: »Au théâtre, […] le gain est formidable. [L]e théâtre rapporte beaucoup plus que le livre, un nombre considérable d’auteurs en vit«, vermerkt er in L’Argent et la Littérature (CDLP, X: 1271).
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vgl. auch Watt 2001 [1957]). Vgl. zur Ästhetik des Naturalismus unter anderem auch De Lattre (1975), Cogny (1976 [1953] und 1978), Sesseau (1989), Hamon/Leduc-Adine (1992), Nelson (1992), Pierre-Gnassounou (1999), Thorel-Cailleteau (2001), Leduc-Adine/Mitterand (2004), Jouve/Pagès (2005), Chamarat/Dufief (2014), Jing/Schneider (2014) und Hamon (2015). Jameson definiert den Kern des Realismus anhand der Opposition von »destiny […] and […] personal identities« (Jameson 2013: 25) versus »the impersonal consciousness of an eternal or existential present« (ebd.). Er verdeutlicht die Tendenz im Roman, Affekt bzw. Alltägliches porträtieren zu wollen, mit Bezug auf Auerbachs Interpretation der Szene aus Madame Bovary (1857), in der Emma und Charles zu Abend essen. Der Ton dieser Szene sei nicht in eine der üblichen Kategorien wie »tragisch«, »sentimental« oder »komisch« und ihre notwendige Bedeutsamkeit zu zwängen, das Partikulare liege »in the fact that there is no name for what this one represents, for it does not seem to convey any of the lofty metaphysical themes […]. The dinner scene […] is the occasion for a feeling of Emma’s which escapes all easy categorization« (ebd.: 142; vgl. auch Auerbach 1982 [1946]: 449ff.). Interessant ist, dass Raimund Theis diese Hybridität im modernen Roman als eine »Mischform […], frei von jeder Gattungsschranke, bereit zum sprachlichen Experiment mit der Großstadt« erkennt (Theis 1971: 73). Wenn auch das sprachliche Experiment bei Zola noch nicht in der Tragweite vorhanden ist, so hält die Idee der Mischform deutliche Parallelen zur naturalistischen Literatur bereit. Auch Susan Harrow (2010: 61) führt den »stylistic eclecticism« Zolas und den »refusal of any single style« des Postmodernismus zusammen.
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Die Romananalysen werden aber zeigen, dass die benachbarten Künste mehr als ein Weg sind, um Geld zu verdienen. Sie entwickeln sich zu Kulturmodellen, die großen Einfluss auf die formale Gestaltung des Raums nehmen sollen (vgl. besonders Kapitel 6 und 7).48 Die Situation Zolas im literarischen Feld der Zeit entspricht jener Spannung zwischen Regelhaftigkeit und Innovation, die Ricœur als »traditionnalité« beschreibt. Während der Autor auf der einen Seite die Konventionen des Realismus voll ausschöpft, grenzt er sich durch neue Verfahren und sein politisches Engagement von den Vorgängern ab (vgl. Baguley 1990: 48). Dem Modell Ricœurs gelingt es nicht, die internen Kämpfe um Formen, Gattungen und Prestige im literarischen Feld zu registrieren und Werke als Ausdruck epochenspezifischer Weltanschauungen zu erkennen. In Kapitel 4 wird Zolas Verhältnis zu zentralen Diskursen der Epoche vertieft, doch sollen im nächsten Schritt zuerst jene narrativen Mittel skizziert werden, die für die Darstellung eines relationalen Raums aktuell angesetzt werden können. Sie stellen einerseits eine Ergänzung zu den in Temps et récit II (1984) genannten Verfahren zur Versprachlichung von Zeit dar, dienen andererseits aber auch als Kontrastfolie für jene von Zola gewählten narrativen Mittel, die die Romananalyse bestimmen soll.
3.3.2.3
Textimmanente Konfiguration II – Narrative Techniken
Der Mehrdimensionalität, die der Produktion von Raum auf außerliterarischer Ebene zukommt, muss auch im Übergang zur innerliterarischen Ebene Rechnung getragen werden. Dies wird eingelöst, wenn der Raum der Literatur weiterhin konsequent als Ergebnis der Kommunikation zwischen Leser, Autor und Text begriffen wird. Raum wird [dann, J.K.] nicht einfach als ›Umgebung‹ von Figuren verstanden, sondern als je nach Art der erzählerischen Vermittlung in Relation zur Perspektive einer Figur oder eines Erzählers allererst konstituierter und damit auch veränderlicher Raum bzw. Vielzahl von (möglichen) Räumen (Beck 2013: 64). Die Kommunikationssituation wird durch die auf Textebene operierenden Figuren und den im Erzählerraum situierten Erzähler verkompliziert.49 Sie sind zwei der 48
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Einen Überblick über das Wirken Zolas für das Theater geben Colette Becker (2002: 167ff. und 1996a), Janice Best (1986) und Lawson Carter (1963). Zur Verbindung Wagner–Zola siehe den Artikel mit entsprechenden Literaturhinweisen von Olivier Sauvage (2005). Siehe hierzu auch die Angaben in den Kapiteln 6 und 7 dieser Arbeit. Die Nähe Zolas zur Malerei hat unter anderem der Sammelband von Jean-Max Guieu und Alison Hilton (1988) untersucht. Vgl. für weiterführende Literatur auch Lethbridge (2007) und Spieker (2008). In Anlehnung an Seymour B. Chatmans Unterscheidung von story space und discourse space kann an dieser Stelle von Erzählraum (discourse, vorgenommene Anordnung der Elemente der erzählten Welt) und erzähltem Raum (story, dargestellte Welt) gesprochen werden, auch
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Elemente, die dem Autor aus dem breiten Repertoire der Erzähltextanalyse zur Disposition stehen und scheinbar als Platzhalter für die in der Präfiguration selektierten menschlichen Vorbilder und den Autor selbst fungieren. Dass dies allerdings nie eine so simple Eins-zu-eins-Übersetzung ist, belegt schon die politische Bedeutung der Wahl der gestalterischen Mittel. Wie bei jedem Übersetzungsvorgang handelt es sich um einen hoch komplexen Prozess, den es so weit wie möglich zu rekonstruieren gilt.50 Dabei sollen im Folgenden nur diejenigen Elemente der Erzähltextforschung vorgestellt werden, die sich in den letzten Jahren als zentral für die Strukturierung und Dynamisierung von Raum in der Literatur erwiesen haben. Sie werden in Verbindung zu den Terminologien Lefebvres, dem conçu, perçu und vécu, gesetzt, ohne eine Kategorisierung narratologischer Elemente entlang dieser drei Ebenen erzwingen zu wollen. Sie bieten einerseits jedoch eine geeignete Basis für grundsätzliche Beobachtungen zur Konstitution von Raum in der Literatur und zum Zusammenspiel von Charakteren und Erzähler auf den Ebenen von discours und histoire. Andererseits können Oppositionen zwischen den Ebenen oder qualitative Verschiebungen vom Übergang von einer Ebene zur nächsten offengelegt werden – zum Beispiel dann, wenn dem konzeptuellen Entwurf von Raum als Ansammlung von fixen Orten auf diskursiver Ebene die mobile Wahrnehmung einer Figur in der story world entgegenstrebt.51 Aus dem soeben Gesagten lässt sich auf der elementarsten Stufe festhalten, dass Raum in der Literatur durch die dynamische Interaktion von der Präsentation der fiktionalen Welt durch den Erzähler und den ihm zur Verfügung stehenden Präsentationsmitteln produziert wird. Wenngleich diese Unterscheidung frei auf dem Unterschied zwischen story und discourse (Chatman 1978) basiert, ist sie
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wenn beispielsweise Franz C. Maatje (1964) gegen die Annahme eines Erzählraums ist und nur einen Erzählerraum als Raum intradiegetischen Erzählens zulässt (vgl. Maatje 1964: 30f.; vgl. auch Friedemann 1910, Chatman 1978, Kahrmann/Reiß/Schluchter 1977, Reidel-Schrewe 1992: 11, 17 und Frank 2017: 65f.). Die Funktion des Erzählraums als Volumen (Seitenzahl etc.) wurde bei Herman Meyer (1975) oder Günther Müller (1978 [1947]) auf das Messbarmachen der Erzählzeit limitiert und bei Joseph Frank (1945) mittels der Analyse moderner Literatur als formgebende Raumstruktur eines Texts erkannt (vgl. Reidel-Schrewe 1992: 13ff.; vgl. auch 3.2.2.3). Auf das komplizierte Verhältnis von Autoren- und Figurenperspektive geht auch Bertrand Westphal ein: »Dès lors que la question du référent intervient, la typologie des catégories focales se complique sensiblement, dans la mesure où l’on doit d’une part saisir le point de vue de l’auteur percevant le monde en tant que sujet d’une inscription culturelle propre et d’autre part repérer les différentes modalités de la représentation (re-présentation) du point de vue dans l’œuvre. Dès lors, on aura à questionner le lien entre perception auctoriale en amont et représentation artistique en aval« (Westphal 2007: 207). Die anschließenden Bemerkungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie sollen wesentliche Aspekte der Vermittlung von Raum diskutieren, die dann in der Romananalyse weiter aufgeschlüsselt werden.
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hiermit nicht vollkommen identisch. Einige der Aspekte literarischer Räumlichkeit können der narrativen Handlung, andere den Modalitäten der Narration, manche auch beiden Ebenen zugeordnet werden. Sowohl die Parameter des Diskurses als auch die Parameter der Geschichte enthalten Elemente des espace conçu, espace vécu und des espace perçu und können auf einer Skala abgebildet werden, die von einem Zustand der Statik bis zu einem Zustand der Dynamik reicht. Die weiter oben selektierten, statischen Aspekte wie Ortsangaben, Angaben zum Setting oder der direkten Umgebung von Charakteren machen die topographischen Informationen des erzählten Raums aus.52 Sie werden üblicherweise vom Erzähler im Modus der Beschreibung genannt – »the major discourse strategy for the disclosure of spatial information« (Ryan 2014: 19) – bzw. über das Mittel der Referentialisierung vertextet. Sie können aber natürlich auch im Figurendialog oder inneren Monolog im Modus von Bericht oder Kommentar genannt werden (vgl. Frank 2017: 156ff.). Andreas Mahler setzt die »referentielle Stadtkonstitution« als einen wirksamen Punkt der Konstitution von Text-Welt-Bezügen in »Stadttexten« an. Sie reichen von der expliziten Nennung (»Paris«) über die metonymische Teilreferenz (»Seine«) bis zur verdeckten Referentialisierung (»eine Stadt, in der gelbe Taxis zirkulieren«) (vgl. Mahler 1999: 14ff.).53 Diese gegenständlichen, oft
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Eine konzise Definition des erzählten Raums gibt Caroline Frank (2017: 221f., Hervorh. i.O.): »Zum konkreten Raum der erzählten Welt zählen all diejenigen narrativen Entitäten in Texten, die zur in der Regel dreidimensionalen Umgebung der Figuren werden können, die ein Innen und ein Außen besitzen und in denen innerfiktionale Handlung stattfinden kann. Dabei werden auch Elemente, die sich in einem Raum befinden, als ein Teil von ihm, als sein Interieur, betrachtet. Zusätzlich zu diesen in der Fiktion Realitätsstatus besitzenden Räumen gehören zum konkreten Raum all jene Umgebungen, in denen der Erzählakt stattfindet, sowie all jene Räume, die sich die Figuren vorstellen, die aber in ihrer Vorstellung konkreträumliche Eigenschaften besitzen. Unterschieden werden muss dabei zwischen Raum einerseits und Teilräumen andererseits, denn jede erzählte Welt besteht aus unterschiedlich vielen Partialräumen, die wiederum zusammen den Raum der erzählten Welt bilden.« Für Andreas Mahler sind Stadttexte diejenigen Texte, »in denen die Stadt ein – über referentielle bzw. semantische Rekurrenzen abgestütztes – dominantes Thema ist, also nicht nur Hintergrund, Schauplatz, setting für ein anderes dominant verhandeltes Thema, sondern unkürzbarer Bestandteil des Texts« (Mahler 1999: 12). Wenn die Stadt erst »durch den Text hervorgebracht, hergestellt, produziert wird«, also Resultat der Imagination ist, entstehen laut Mahler »Textstädte« (ebd.). Katrin Dennerlein (2009: 209) erarbeitet ein ausdifferenziertes Raster »raumreferentieller Ausdrücke zur Bezeichnung des konkreten Raums der erzählten Welt« und unterteilt dieses in »Räume« und »Ortsangaben«. Die Räume werden anhand von Toponymen, Eigennamen, Gattungsbezeichnungen (Speisezimmer, Auto etc.), Deiktika und weiteren Konkreta (innen, außen, Fremde etc.), Ortsangaben und anhand von absoluten (z.B. metrischen) Ausdrücken evoziert (vgl. Dennerlein 2009: 209). Bei Caroline Frank wiederum spannt sich die »Auswahl der Teilräume« im Hinblick auf den Fiktivitätsgrad von Texten zwischen heteroreferentiellen, realen und autoreferentiellen, imaginären Räumen auf (vgl. Frank 2017: 79ff.). Die Teilräume werden dann qualitativ-semantisch oder topographisch-to-
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
geographisch lokalisierbaren Orte und Objekte gehören zum espace conçu1 der Literatur, da es sich um die dominanten Verfahren des Autors zur Reproduktion realer Verortungen handelt.54 Sie suggerieren, dass »eine bereits existente Stadt im Text lediglich dargestellt, abgebildet, nachgeahmt« werde (vgl. Mahler 1999: 12).55 Zusammen mit Raumkonzeptionen, die in der Erzähler- oder Figurenrede diskutiert werden, sollen die topographischen Angaben als »explizite Theorie des intraliterarischen espace conçu1 « bezeichnet werden.
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pologisch miteinander kombiniert (vgl. ebd.: 100ff.). Insgesamt erscheinen ähnlich wie für Mahler diese Lokalisierungen »comme le premier critère discriminant d’une typologie fondée sur le rapport que le texte fictionnel entretient avec la réalité [de référence]« (Camus 2011: 35). Für Repräsentationsformen dieses konkreten Raums der Literatur interessieren sich besonders die deutsche Literaturgeographie im Zuge des topographical turn und aufgrund seiner Überschaubarkeit auch viele narratologische Ansätze zur Untersuchung von Raum, wobei aktuell besonders die Abteilung der Literaturkartographie (im anglophonen Raum) bestrebt ist, auch innerfiktionale Welten und imaginäre Räume abbilden zu können (vgl. Piatti 2015: 229, Moretti 2009 [1999] und Tally 2011). Innerhalb der facettenreichen Ausprägungen der Literaturgeographie/géographie littéraire steht die Literaturkartographie exemplarisch für diejenigen Ansätze, die ihr Augenmerk auf die »géographie dans la littérature« (Collot 2014: 11) richten. Der Bereich der »géographie de la littérature« (ebd.) wird aufgerufen, wenn beispielsweise eine über die Kategorie des Raums bzw. die Topographie des literarischen Felds vollzogene Literaturgeschichte geschrieben werden sollte. Seit einigen Jahren findet ein Umdenken in Richtung einer Wertschätzung der spezifisch literarischen Vermittlungsweisen von Räumlichkeit durch écrivains-géographes statt (vgl. Brosseau 1994: 334ff., 1996 und 2017; vgl. auch Thacker 2017). Aufgrund der langen Tradition der Literaturgeographie in Frankreich spricht Julien Knebusch von dem eher geringen Einfluss der Raumwende auf die französischen Wissenschaften (vgl. Knebusch 2011). Übertragen auf das vorliegende Raummodell kann konstatiert werden, dass in neueren Ansätzen der Literaturgeographie vermehrt den narrativen Techniken zur Erzeugung von Raum auf der Ebene der Mimèsis II Tribut gezollt wird. Natürlich ist es auch denkbar, dass ein Text keine geographischen Eckdaten nennt. Audrey Camus (2011) nennt solche Texte »atopiques« gegenüber denjenigen Texten, die einen deutlichen referentiellen Bezug zur Realität aufweisen, unabhängig davon, ob rein fiktive oder real existierende Orte aufgerufen werden. Sie verwendet Marie-Laure Ryans Prinzip der »minimal departure« (Ryan 1991), um die Distanz zwischen der im Text dargestellten Welt und der realen Welt bzw. die Plausibilität der fiktiven Welt in der Beurteilung des Lesers zu beschreiben. Je größer die Distanz zwischen beiden Welten, desto opaker wird der Raum der Literatur, den Camus nun ähnlich wie David Coughlan als »spatialité« gegenüber der konkreten »localisation« von Orten bezeichnet, und desto mehr wird der Leser in die Welt des Texts hineingezogen (vgl. Camus 2011: 34ff., siehe zu Coughlan weiter unten Text). Camus nennt vier Arten der Immersion des Lesers in den »espace trouble«: die »immersion par indétermination descriptive«, »immersion […] par corporalisation et animisation du paysage«, »immersion […] par une réduction de la distance métaphorique« und die »immersion par focalisation interne stricte« (ebd.: 41ff., Hervorh. i.O.). Inwiefern anhand dieser Kriterien eine gewisse Intransparenz des Raums auch bei Zola detektiert werden kann, sei in den Romananalysen weitergedacht.
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Topographische Eckdaten konkretisieren die basale topologische Struktur von Raumentwürfen als weiteres Element des konzipierten Raums. Hier ist zuerst der Entwurf einander gegenüberliegender Teilräume und der Grenze im Sinne Jurij M. Lotmans zu nennen, doch auch weniger rigide Entwürfe von eingelagerten Räumen, heterotopen Räumen oder von Zwischenräumen werden bedeutsam (vgl. Nitsch 2015: 35f.; vgl. auch Frank 2017: 108ff.). In der Regel wird der Verbund von Topographie und Topologie im Bild von Karte und Tour nach Michel de Certeau (oder auch »survey« und »route«) veranschaulicht: In the map strategy, space is represented panoramically from a perspective ranging from the disembodied god’s eye point of view of pure vertical projection to the panoramic view of an observer situated on an elevated point. In this mode of presentation, space is divided into segments and the text covers them in systematic fashion, e.g. left to right, north to south, front to back. The tour strategy, by contrast, represents space dynamically from a mobile point of view. Thus an apartment will for instance be described room by room, following the itinerary of somebody who is showing the apartment. In contrast to the pure vision of the map view, the tour simulates the embodied experience of a traveler (Ryan 2014: 20; vgl. de Certeau 1990 [1980]: 175-180). Karte und Tour sind folglich als die literarische Konfiguration der Pläne und Zeichnungen zu verstehen, die Zola in seinen Notizbüchern anlegt. Dennoch macht das Zitat deutlich, dass die scheinbar verdinglichenden Raumentwürfe des espace conçu1 mit zwei Parametern interagieren, die ständig im Begriff sind, die Wirkung von starren Konzeptionen zu unterminieren: die Erzählperspektive und die Charaktermobilität. Je nach Definition des narratologischen Begriffs der Erzählperspektive ist letztere entweder zum Bereich des Konzipierten oder zu dem des Wahrgenommenen (espace perçu1 ) zu zählen. Mit Bezug auf Uspenskij definiert Marie-Laure Ryan (2014: 19) die Erzählperspektive zum Beispiel als a particular positioning of the narrator within the story space; this positioning may coincide with the location of a specific character whose movements are followed by the narrator, or it may move across a certain area that contains several characters as the focus of the discourse alternates between different individuals (Ryan 2014: 19; vgl. Uspenskij 1973 [1970]: 57-65). Während die Rede von dem »particular positioning« kongruent ist mit dem eher statischen Plan topologischer Grundstrukturen des espace conçu1 , bewegt sich die Fokalisierung auf einzelne Charaktere hin zum Raum der Wahrnehmung, dem espace perçu1 . In der Tat tritt hier ein ungeschriebenes Gesetz des literarischen Raums in Kraft: Der konzipierte Raum des Texts in der Vorstellung der Karte wird ausgehebelt, sobald zum Beispiel die interne Fokalisierung als »point d’ancrage« (Bouvet
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
2011: 84) der Erzählung eingenommen oder die Wahrnehmung von Raum einer Figur – »que celle-ci soit visuelle, auditive, olfactive, tactile ou […] gustative« (ebd.) – thematisiert wird. Dann nämlich werden dem Leser Einblicke in die subjektive Erfahrung von Raum und dessen geschlechterrelevante Merkmale gewährt. Die Konstitution der Umgebung der Figur dreht sich dann »gerade nicht bloß um die euklidische ›Grundausstattung‹ in Ausdehnung und Grundanlage« (Hallet 2009: 82) oder das »deiktische Körperpositionsschema« (Cuntz 2015: 65), sondern um das sinnlich-körperliche Erleben sowie emotionale Nachempfinden von Raum (vgl. Würzbach 2006: 193).56 Caroline Frank spricht daher zusammenfassend von einer »raumbezogenen Wahrnehmung«, die sich in Anlehnung an Genette in die Bereiche des Wissens (Informationen zum Raum), die Perzeption (unter anderem als Sinneswahrnehmung) und die ideologisch, emotional und psychologisch aufgeladene Apperzeption unterteilt (vgl. Frank 2017: 122ff.). Werden verschiedene Perspektiven auf Raum in Form einer »nomadologie du regard« (Schmitt 2011: 181) angeboten, führt dies dazu, dass sich zahlreiche subjektive places in einem space überlagern können und der Ort selbst nicht als statisch, sondern als stets veränderlich begriffen werden muss (vgl. Massey 2001 [1994]: 5). Der Raum wird in Erzählungen »damit relational konstituiert, und zwar relational zu Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen« (Beck 2013: 91), sodass sich auch die objektive Wirkung von Beschreibungen einschränkt (vgl. ebd.: 93). Eine Konsequenz aus der Vermittlung des erzählten Raums ist, dass die Wahrnehmung der Figur
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In Michael Cuntzʼ Worten: »So lässt sich zunächst sagen, dass die Orientierung im Text nicht als deiktische Positionierung oder Situierung in einem geometrisch-kontinuierlichen Raum funktioniert« (2015: 65). Gegen eine »begriffliche Selbst-Erfassung des Körpers nach linksrechts etc.« macht er stark, dass »vielmehr Körper und Raum ein Milieu bilden« (ebd.: 66, Hervorh. i.O.). Charles Avocat beschreibt diese zwei gegensätzlichen Seiten der Raumauffassung wie folgt: »[D’]un côté, une (ou plusieurs) image(s) sensorielle(s) correspondant à notre ›vision‹ du monde, c’est-à-dire filtrés par notre imaginaire, notre psychologie, nos expériences antérieures, notre esthétique, de l’autre une réalité physique, objective, tridimensionnelle, dont nous recherchons la formulation mathématique et abstraite […]; entre les deux, c’està-dire entre la subjectivité totale et l’objectivité absolue, […] un paysage vécu, perçu, observable par tout un chacun, à la fois réalité d’une image et image d’une réalité« (Avocat 1984: 14; vgl. auch Bouvet 2011: 85). Die Bewertung des Textangebots durch den Leser wird später noch diskutiert.
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auf der Ebene von Geschichte und Diskurs durch eine distanzierte Perspektive des Erzählers/Autors möglicherweise eingeschränkt wird.57 Ursula Reidel-Schrewe trifft in diesem Kontext mit Bezug auf Gérard Genette (»Wer spricht?«) eine zentrale Feststellung, nämlich dass die Untersuchung des Zusammenhangs von Perspektive und Raum die Fragen »wo wird gesprochen?« (Standort) und »wo wird wahrgenommen?« aufrufen, die bei Genette (1972) und Stanzel (2008 [1979]) mitschwingen (Reidel-Schrewe 1992: 32; 48, Hervorh. i.O.). Sie reduziert das extra- und intradiegetische Erzählen bzw. die Innen-/Außenperspektive auf eine »räumliche Bezeichnung für eine Erzählhaltung, […] die Sicht des Sprechers, seine an seine Individualität gebundene Betrachtungsweise von der Welt« (ebd.: 33, Hervorh. i.O.). Distanz würde hier nicht räumlich, sondern als Form des Engagements oder der Reserviertheit des Sprechers aufgefasst (vgl. ebd.). Vorrang habe daher die Perspektive. Sie unterscheidet nach Stanzel zwischen einem aperspektivischen (Nullfokalisierung bei Genette) und einem perspektivischen Erzählen (interne und externe Fokalisierung). Letzteres liegt vor, wenn auf einen Wahrnehmungsvorgang mittels Verben und Nomen sowie räumlicher Signifikanten referiert wird (vgl. ebd.: 35). Die Perspektivierung wird in diesem Fall exponiert und kann je nach Stellung der Koppelzeichen entweder »antizipierend, rückbezüglich oder einbettend fungieren« (ebd.: 49). Die integrierte Perspektivierung hingegen liegt vor, wenn der Gedankenbericht einer Figur wiedergegeben wird, so zum Beispiel in Form der erlebten Rede. Schließlich ist die absolute Perspektivierung zu ergänzen, die die direkte Rede bzw. die umittelbare Präsenz der Figur angibt (vgl. Reidel-Schrewe 1992: 49). Fehlen diese Informationen, liegt aperspektivisches Erzählen vor. Wichtig ist nun, dass beide Erzählsituationen das Problem von Distanz und Nähe aufrufen. Ist die Distanz des Erzählers zum Geschehen (Verhältnis von »Sprechbereich und dem ausgesparten Wahrnehmungsbereich« [ebd.: 36, Hervorh. i.O.]) nicht definiert, gilt der Bereich als »unendlich/fern« (ebd.), die mimetische Aperspektivierung dagegen löst Nähe oder Unmittelbarkeit aus – dies ist folglich kein Privileg der internen oder externen Fokalisierung mehr (vgl. Reidel-Schrewe 1992: 36). Perspektivisches und aperspektivisches Erzählen ergeben zuletzt durch
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Mieke Bal bezweifelt, dass die von Gérard Genette veranschlagte Nullfokalisierung (in Beschreibungen) aufgrund des ideologischen Inhalts jeder Repräsentation überhaupt möglich ist: »This is why it is important to be suspicious of the belief in the possibility of non- or zerofocalized description, defended by narratologists such as Genette […]. Description only appears to stand out in this regard because of its elastic extensibility, […] [it is] more overtly focalized, hence, subjectively limited, than the more easily naturalized stock plots to which Roland Barthes, among others, alerted us in S/Z« (Bal 2006: 583; vgl. auch Bal 2005).
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
die Selektion von räumlichen Ausschnitten die »Semantisierung des Raumes« (ReidelSchrewe 1992: 48, Hervorh. i.O.).58 Von besonderer Relevanz ist zusammenfassend, dass in fiktionalen Erzählungen die vom Erzähler gestreuten Informationen zum Raum eng mit der Perspektivierung, Wahrnehmung oder Anordnung des räumlichen Materials durch die Figur oder eine anonyme Vermittlungsinstanz zusammenhängen. Eine Figur kann hierbei in ihrer Aktivität oder Passivität auffallen, je nachdem wie stark sie an der Konstruktion der erzählten Welt beteiligt ist, das heißt, sich den Gegebenheiten ausgeliefert fühlt oder Einfluss auf diese ausübt (vgl. Frank 2017: 194). Formale Mittel und präsentierter Inhalt können dann insgesamt in einem symbiotischen Verhältnis stehen oder aber kontrastieren und dann zu oppositionellen Konstruktionen von Raum beitragen. Anders gesagt können sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Perspektiven semantisch in übereinstimmende oder konkurrierende Weltsichten übersetzen, sodass entweder ein homogenes, geschlossenes oder aber heterogenes, offenes Gesamtbild des Raums entsteht (vgl. Frank 2017: 152ff.; vgl. auch Neumann/Nünning 2008: 58). Mit Blick auf die Analyse ist dies zentral, weil es eine Annahme der Arbeit ist, dass die Entstehung von Raum bei Zola einem permanenten Mechanismus der Öffnung und Schließung gleicht. Mit der Perspektivierung hängt die Charaktermobilität zusammen, die räumliche Verhandlungen von Geschichte und Diskurs auf jedem Niveau des Texts auslösen kann. Durch Bewegungen oder ereignishafte Grenzüberschreitungen im Raum dynamisiert die Figur eine häufig »statische Ausgangssituation von klar begrenzter räumlicher Ausdehnung, die oft durch eine architektonische Begrenzung markiert ist« (Dünne 2015: 41).59 Hartmut Böhme nach zu schließen wird Raum überhaupt erst durch die Bewegung, durch das mühevolle, körperlich spürbare Überwinden von Distanzen eröffnet (vgl. Böhme 2005: xvii).60 Dies erschwert den Wahrneh58
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Katrin Dennerlein hält es ebenso für sinnvoll, zwischen geschilderten Wahrnehmungsakten und jenen Textstellen, in denen aufgrund fehlender Verben keine konkrete Wahrnehmung vorliegt, zu unterscheiden (vgl. Dennerlein 2009: 148). Es ist zu betonen, dass nicht jede Bewegung einer Grenzüberschreitung gleichkommt und nicht allen Figuren das gleiche Maß an Mobilität eingestanden wird, was eine Wirkung von Freiheit oder Begrenzung erzeugt (vgl. Beck 2013: 88). Dass außerdem die Grundstruktur der zwei Teilbereiche nicht rein statisch zu fassen ist, hat Lotman (1990) selbst in seinem späteren Konzept der Semiosphäre aufgegriffen. Für instabile Grundstrukturen stehen daneben die Polysysteme Itamar Even-Zohars oder die Formen der De- und Reterritorialisierung Gilles Deleuzes/Felix Guattaris ein (vgl. Westphal 2007: 87). Wolfram Nitsch vervollständigt Formen von Mobilität der Figuren durch »bewegte Räume«, zum Beispiel Verkehrsmittel wie Züge oder Schiffe, die Einfluss nehmen auf die Einhaltung oder das Überschreiten von Ordnungen und auch selbst als »Modellräume […] im Kleinen« (Nitsch 2015: 38) funktionieren können. Für Böhme widerspricht die Architektur nur scheinbar der Bewegung; trotz ihrer Stabilität ist sie ihrem Wesen nach ausgerichtet auf Bewegungen, »nämlich solche zur kulturellen Repro-
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mungsakt, besonders wenn der Gegenstand der Wahrnehmung das Großstadtleben ist: Der fixe Betrachterstandpunkt wird aufgegeben und muss sich in der Gehbewegung auf die Fülle von Außenreizen ständig neu ausrichten, wodurch der Eindruck geschlossener Räume deutlich erschwert wird (vgl. Hauser 1990: 133f.; vgl. Klotz 1969). Susanne Hauser zeigt diesbezüglich, inwiefern die Literatur lange Zeit auf das kanonische Prinzip der künstlichen Perspektive und die Instrumentalisierung des Sehsinns zurückgriff, um die Stadterfahrung auszudrücken und handhabbar zu machen – allerdings nur mit mäßigem Erfolg, sprengt(e) doch »der beständige Wandel der Gegebenheiten der Stadt […] jeden Rahmen« (Hauser 1990: 152). Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts werden entsprechend die Verlässlichkeit des Sehens und die distanzierte Position zur Großstadt in Zweifel gezogen und durch neue Aufzeichnungsverfahren ersetzt (vgl. ebd.: 117).61 Was hier deutlich wird, ist, dass Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster historisch variabel sind. Doris Bachmann-Medick ergänzt die Erkenntnisse Hausers gewissermaßen, da sie Beispiele der europäischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert auf Bewegungsmuster und Subjektverortungen hin durchleuchtet und zeigt, dass zum einen lineare, vom (männlichen) Subjekt gesteuerte Bewegungen oder Verortungen wie Panoramablick oder zielgerichtete Gehbewegungen auftauchen; zum anderen gibt sie frühe Beispiele für dezentrierte, verunsicherte Bewegungen als Reaktion auf die zunehmende Mobilität im 19. Jahrhundert, die üblicherweise erst der (post-)modernen Literatur zugeordnet werden (vgl. Bachmann-Medick 2009: 258ff.). Die Wahl der Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster zum Dokumentieren der städtischen Prozesse sagt insgesamt also viel aus über die Erzeugung geschlossener oder offener Räume. Diese Wahl hat Auswirkungen sowohl auf den Plot als auch auf den Status der Beschreibung: »Key points in the plot are reached when characters travel from one location to another, or converge in one place; in so doing they bring the separate plot strands together«, argumentiert Monika Fludernik (2009: 44). Entgegen der Idee eines statischen, die Erzählung retardierenden Moments der Beschreibung ist zum Beispiel in dem sukzessiven »Erzählen von Raum« durch Mobilität eine dynamische, da narrativierte Form der Beschreibung zu sehen (vgl. Ryan 2014: 19).62
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duktion unabdingbaren Bewegungen, die der Realisierung von Zwecken dienen und nicht nur das Wirken natürlicher Kräfte sind« (Böhme 2005: xiv). Wichtige Arbeiten zur literarischen Verarbeitung der Wahrnehmung des Großstadtlebens sind zudem die Beiträge Norbert Reichels (1982) und Heinz Brüggemanns (1985). Mieke Bals exzellenter Aufsatz zur Rolle der Beschreibung in Narrativen stellt die Vielseitigkeit von Deskriptionen anhand verschiedener Beispiele, darunter Prousts Recherche und Zolas Nana, unter Beweis. Bal zieht folgende Schlussfolgerungen: »Description not only produces those exhilarating pieces (such as Flaubert’s wedding cake) that suggest autonomy for description, albeit deceptively. It also inherently generates both the world in which events
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Die menschlichen Handlungen und Bewegungsabläufe sind mit dem Raum der menschlichen Praxis (espace perçu1 ) in Verbindung zu bringen. Auf dieser Stufe ging es Lefebvre um das Sichtbarmachen von routinierten, unbewusst ablaufenden Handlungen, des Gebrauchs der Sinne sowie der Kompetenz und Performanz der Handelnden im Alltag. Im naturalistischen Roman ist der Vollzug von Routinen und Handlungsmöglichkeiten der Figuren ein wichtiges Element der Raumdarstellung auf der Ebene der Geschichte. Routinen können nun auch durch besondere Ereignisse überhaupt sichtbar und unterlaufen werden und auf der Bedeutungsebene (espace vécu1 ) nachwirken, denn die Bewegung einer Figur von Teilraum A in Teilraum B nach Jurij M. Lotman ist in vielen Fällen ein Zeichen für sozialen Aufoder Abstieg (vgl. Dünne 2015: 42). Abgesehen davon ist natürlich die erzählte Welt bzw. jeder im Text aufgerufene Ort immer schon mit Bedeutung versehen, die der Autor entweder aus dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« in Form konventioneller Bilder, Metaphern oder kodierter Emotionen oder aus Eigenkreationen (Attribuierungen etc.) im Sinne der »Textstädte« Mahlers schöpft (vgl. Winko 2003; vgl. auch Mahler 1999: 12). Diese besonderen Orte bilden laut Benoit DoyonGosselin »figures spatiales« im Text, sogenannte »haut-lieux« (2011: 70), die sich als »lieux de mémoire, les lieux exemplaires et les lieux du cœur« im Text niederschlagen (ebd.: 70; 72).63 Die Bedeutung von Metapher oder Metonymie auf der Ebene der Geschichte schlägt direkt um in deren Bedeutung auf der Ebene des discours, womit der Kern der Räumlichkeit des Texts erreicht und der Übergang zu Mimèsis III eingeleitet wird. Die diskursiv erzeugte »spatial form« (Frank 1991) des Texts steht der erzählten Welt des Texts gegenüber und charakterisiert sich als »material organization of the printed line, formed by the line of textual signifiers« (Coughlan
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take place and subsequently the events themselves. […] I would even venture to say that description is the novel’s masterpiece. For, as a narrativity machine, description succeeds where narrative ›proper‹ fails – because narrative is inadequate, inappropriate, or both. It succeeds in creating a world for the narrative – the events – and in questioning that world, simultaneously. It points epideictically to the elements it holds together, while at the same time demonstrating apodeictically how artificial that coherence is. Metadeictically, it argues for the need and dangers of such an internal coherence as cannot be contained« (Bal 2006: 598; vgl. hierzu auch Bal 2005). Den Einsatz der Beschreibung für die Raumdarstellung bespricht zudem auch Caroline Frank (2017: 172, vgl. ebd.: 164ff.). Neben realen Orten kann der Text wie bereits erwähnt rein fiktive Orte aufrufen. Benoit Doyon-Gosselin beruft sich auf den Geographen Mario Bédard, um die diversen Orte näher zu definieren: Die »lieux exemplaires peuvent se rapprocher de l’utopie en ceci qu’ils font partie d’un monde conditionnel« (Doyon-Gosselin 2011: 71); die »lieux du cœur« wiederum »se situent à l’intersection d’éléments hérités du passé et de nouvelles constructions signifiantes« (Bédard (2002: 57) zitiert in Doyon-Gosselin 2011: 71). Zu Erinnerungsorten vgl. Nora (1984-1992).
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2012: 27).64 Anders als die vom Autor angelegten, aus dem Text selektierbaren topographischen Informationen des espace conçu1 ist die räumliche Organisation des Romans bzw. deren mentaler Nachvollzug nicht rein strukturell ableitbar, sondern auch eine subjektive Kategorie des Lesers als »co-creator« des räumlichen Texts (Coughlan 2012: 43).65 Der Rezipient stellt Figuren oder Netzwerke in einen größeren Zusammenhang und schafft somit eine »structuration spatiale globale de l’œuvre« (Doyon-Gosselin 2011: 72).66 Hierbei entsteht nicht unbedingt oder aus64
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Weiter erklärt David Coughlan: »The space of the text is to be found in the relations between the parts of the puzzle, in the ordering and re-ordering of the line of the text, and not in the picture, suggesting that a distinction has to be made between the space of the text and the world of the text, the virtual picture it projects« (Coughlan 2012: 19). Eine ausführliche Definition des Begriffs »spatial form« findet sich bei Jeffrey Smitten und Ann Daghistany (1981: 13f.): »›[S]patial form‹ in its simplest sense designates the techniques by which novelists subvert the chronological sequence inherent in narrative. We read narratives one word after another, and in this sense all narratives are chronological sequences. But the novelist’s arrangement of events within this linear flow of words often departs in varying degrees from strict chronological order. Also, portions of a narrative may be connected without regard to chronology through such devices as image patterns, leitmotifs, analogy, and contrast. ›Spatial form‹ is simply the general label for all these different narrative techniques.« Marc Brosseau schlägt eine ähnliche Richtung ein, wenn er in der Analyse von John Dos Passosʼ Manhattan Transfer (1925) das Stadt-als-Text-Paradigma um das Text-als-Stadt-Paradigma erweitert und im Zusammenspiel von syntagmatischer und paradigmatischer Ebene des Texts die Struktur der Stadt heraufbeschwört: »[T]he language of the text recreates urban diversity in a radically textual mode« (Brosseau 1995: 99), was der räumlichen Form bei Coughlan nahe kommt. Vgl. auch Thacker (2017: 34). Dies bedeutet natürlich nicht, dass nicht jeder Text grundsätzlich kognitiv erschlossen werden muss (vgl. Walsh o.J.: 1). Ivo Vidan kommentiert zum Text-Raum: »[S]patial form is a subjective category the application of which depends on individual appreciation« (1981: 140, zitiert in Coughlan 2012: 43). Auch bei Smitten/Daghistany (1981: 14) heißt es: »[S]patial form includes not only objective features of narrative structure but also subjective processes of aesthetic perception. These processes may be stimulated by narrative technique or they may exist even prior to technique; […] in its fullest sense, then, ›spatial form‹ embraces both a set of narrative techniques and the reading process itself.« Benoit Doyon-Gosselin spricht in seiner »Hermeneutik der fiktionalen Räume« auf dieser Stufe der Konfiguration, angeregt durch die Arbeiten zur Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer und Paul Ricœur, von der »explication« von Räumlichkeit im Text durch den Leser gegenüber der ersten Stufe, auf der die Räume zuerst einmal nur verstanden und beschrieben werden (vgl. Doyon-Gosselin 2011: 70f.). Die dritte Stufe der Refiguration ist dann als Stufe der Interpretation der konfigurierten Elemente zu begreifen. Der Prozess der Konfiguration ist zudem verwandt mit der »semiotische[n] Raumkonstitution«, in der »eine Summe von übernommenen Raumerfahrungen, eigenen (möglicherweise neuen) Wahrnehmungsaspekten und kulturell tradierten, historisch veränderbaren räumlichen Kodierungen sowie der mit ihnen verbundenen Deutungs- und Handlungspraktiken« (Hallet 2009: 89) synthetisiert wird. Dass die Schritte der Rezeption im Grunde natürlich nicht kategorisch zu trennen sind, steht außer Frage.
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
schließlich ein Bild des realen Paris, wie es Zola anstrebt. Die Romananalysen von Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames sind Beispiele dafür, dass die Strukturen des Texts den Leser zum Beispiel stärker an die Form eines Musikstücks oder das Theater erinnern können.67 Dieser hermeneutische Prozess der Konfiguration von räumlichem Sinn im Text soll als »implizite Theorie des intraliterarischen espace conçu1 « der Rezeption bezeichnet werden.68 Das Spiel mit der zeitlichen Ebene des Texts ist essentiell für die Herstellung eines Sinns für die Räumlichkeit des Texts, das heißt die Idee von Figuren oder Netzwerken. Dies geschieht zum Beispiel durch die bewusste 67
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Die Überzeugung, dass zwei Formen der Imagination von Raum im Roman existieren, kann mit der theaterwissenschaftlichen Terminologie Janine Hauthals (2009) und Lily Tonger-Erks (2016) veranschaulicht werden. Die Autorinnen unterscheiden zwischen einem szenischen und einem dramatischen Raum im Text. Der szenische Raum verweise auf Bühnenraum oder -bild, der dramatische Raum sei der imaginierte Schauplatz (vgl. Hauthal 2009: 371f. und Tonger-Erk 2016: 84). Im vorliegenden Fall rufen die intraliterarischen Marker im Text mal stärker die formale Architektur des Text-Raums, mal stärker die extraliterarische Stadt Paris hervor. Das semiotische Verstehen des Text-Raums kann zudem mit Richard Walshs Unterscheidung zwischen einer »narrative cognition« und einer »spatial cognition« geklärt werden. Während erstere die lineare Sequenz des Texts erfasse, richte sich letztere auf die »systemic logic of the spatial field« aus (Walsh o.J.: 2f.). Obwohl Walsh zugestimmt werden muss, dass jedem kognitiven Verfahren eine andere Logik unterliegt, kann versucht werden, die narrativen Strukturen aus dem Syntagma zu lösen und in einem räumlichen Bild zu vergegenwärtigen. Beeinflusst wird die Wahrnehmung von Raum zudem durch das Wissen des Lesers von Äußerungen des Autors, zum Beispiel in Theorieschriften, Interviews etc. Diese Form des espace conçu1 stellt die »explizite Theorie des extraliterarischen Raums« dar. Zuletzt ist zur Raumkonzeption noch die »implizite Theorie des interliterarischen Raums« zu zählen. Sie umfasst jene Informationen im Text, die auf andere literarische Werke verweisen. Natürlich kann dies auch explizit erfolgen. Die Vorstellung einer impliziten Theorie von Raum meint, dass der räumliche Gehalt im Text nicht konkret genannt wird, sondern eines Konstruktionsprozesses bedarf, der in der Regel unbewusst abläuft. Er wird nur dann explizit, wenn es sich bei dem Leser beispielsweise um einen Fachexperten handelt, dessen Auftrag es ist, diese Konstruktion von Raum zu verbalisieren. Zum Sinn von Raum können auch diejenigen kognitiven Ansätze der Raumforschung gezählt werden, die die Entstehung von mental maps bei der Lektüre von Literatur betonen. Von Interesse ist, dass auch David Coughlan die Verbindung von mentalem Raum und Leser zieht und dabei mit den Kategorien Lefebvres arbeitet. Er integriert zudem das real-physische Erscheinungsbild der Zeichen auf der Seite in die mentale räumliche Form des Texts: »[T]he bridge is the space of text, it passes from one bank to the other, and the space of text is a bridge. It touches the edges of physical and mental space, bridging the two, connecting them, and it does not side with one or the other, but remains attached to both while also remaining of itself« (Coughlan 2012: 97). Ob dabei ein kohärentes Gesamtbild der Welt kreiert wird, gerahmte Räume immer durch rahmende Räume (Haus – Zimmer) ergänzt werden oder einfach nur so viele Inferenzen zum Einsatz kommen, dass das Nachvollziehen der Handlung möglich ist, kann abschließend nicht geklärt werden (vgl. Frow 2014: 20; vgl. auch Ronen 1986).
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Kopplung von paradigmatischer Achse (»semantic, metaphor, encoding, similarity, substitution«) und syntagmatischer Achse (»metonymy, contextual integration, contiguity, decoding«) (C oughlan 2012: 63). Weitere Parameter sind mitunter Anachronie, Ana- und Prolepse, Wiederholungen oder im Text verstreute Wortgruppen, die den Leser dazu auffordern, die lineare Struktur des Texts mit seiner räumlichen Form in Bezug zu setzen.69 Schließlich schreibt David Coughlan unter Rückgriff auf Joseph A. Kestners The Spatiality of the Novel (1978) bezüglich der Erscheinungsform eines Buchs und der hiermit zusammenhängenden Leseerfahrung, dass durch das serielle Erscheinen einer Reihe die harmonische Verbindung zwischen den Teilen unterbrochen werde; der Eindruck vom Text als »architectural whole« könne dann nicht entstehen (Coughlan 2012: 23, vgl. ebd.).70
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Es ist kaum verwunderlich, dass David Coughlan und Joseph Frank (1991) ihre Ergebnisse an moderner Literatur festmachen. Ein Unterschied zwischen Frank und neueren Ansätzen zur Untersuchung der spatial form ist, dass aktuell vom Verbund von Raum und Zeit im Text ausgegangen wird und nicht wie bei Frank die Räumlichkeit des Texts nur unter der Voraussetzung der Unterbrechung oder gar Zerstörung der Linearität des Texts in Erscheinung tritt (vgl. Coughlan 2012: 73). Für die vorliegende Arbeit ist der Beitrag von Isabell Daunais zum Thema wichtig, denn sie macht darauf aufmerksam, dass auch Romanen vor dem 20. Jahrhundert eine spatial form inhärent ist, »mais de façon sous-jacente ou discrète, c’est-à-dire recouverte par la structure plus visible de la linéarité« (Daunais 2011: 103). Die Linearität des Texts ist ihrer Meinung nach eine Strategie, um der prinzipiellen Unabschließbarkeit der räumlichen Form des Romans entgegenzusteuern. Sie nennt in diesem Zusammenhang am Beispiel Balzacs die mehrdirektionale Mobilität bzw. die Möglichkeit der Figuren, sich in der »étendue«, dem »infini profane« des Texts auf Ebene von Geschichte und Diskurs frei bewegen zu können und dies selbst dann, wenn das Handeln durch einen fixen Rahmen begrenzt zu sein scheint (vgl. ebd.: 101f.). Dass Zola bereits dieses Bewusstsein für die räumliche Form des Texts hatte, beweist ein Blick in seine Korrespondenz. Am 11. März 1887 lässt er Edmond de Goncourt wissen: »Je viens de relire votre Journal en volume, et je tiens à vous dire combien, pour moi, ces pages gagnent à ne plus être fragmentées en courtes tranches. C’est à ce point que j’en sors avec l’idée que vous avez ajouté beaucoup de choses, et des meilleures« (Corr, VI: 99). Könnte dies noch als Einzelbeobachtung abgewertet werden, verstärkt sich der Eindruck, dass Zola der Form des Romans eine Aufmerksamkeit avant la lettre widmete, wenn folgende Briefauszüge an JoriKarl Huysmans und Henry Bauer hinzugezogen werden: »Enfin, j’ai donc relu En rade, dans le volume, et combien cela gagne toujours à n’être plus fragmenté, même lorsque les fragments sont longs! L’ensemble maintenant apparaît, sinon très simple, du moins très net. […] Toute la partie paysans prend un relief extraordinaire« (Corr, VI: 97f., 01.06.1887, À Huysmans). Und schließlich bewertet er seine eigene Literatur aus diesem Blickwinkel: »Et, je vous en prie, ne jugez pas La Terre d’après les feuilletons, attendez le volume. Mes romans perdent tant à être fragmentés« (Corr, VI: 167, 19.08.1887, À Henry Bauer). Vor Coughlan hat zudem bereits Genette exponiert, dass die Lektüre von Prousts A la recherche du temps perdu eine vollkommen andere sei, abhängig davon, ob das Werk im Ganzen oder in den Einzelwerken gelesen werde (vgl. Genette 1987: 61f.; vgl. auch Coughlan 2002: 22).
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
Bevor nun die Refiguration von Raum durch den Rezipienten vorgestellt wird, seien abschließend einige zusammenfassende Worte zur Ebene der textimmanenten Konfiguration gesagt. Der espace conçu1 der Literatur ist definiert durch die strukturelle Topographie und Topologie des Texts, die vom Autor angelegt und durch den Leser aktualisiert wird (»explizite Theorie des intraliterarischen und des extraliterarischen Raums«). Aufgerufen werden die je nach literarischem Programm lokalisierbaren oder fluiden Orte durch die Vermittlungs- und Wahrnehmungsinstanzen auf der Ebene des espace perçu1 . Sie sind die Basis für eine Vorstellung von Raum in der Literatur, indem sie Raum wahrnehmen, Bewegungen im Raum durchführen oder räumliche Prozesse thematisieren. Raum ist bedeutungsvoll und in diesen Bedeutungen entweder konträr zu oder kongruent mit symbolischen Vorstellungen von Raum der jeweiligen Gesellschaft (espace vécu1 ). Beschreibt dies die Funktionen der drei Raumebenen auf der Ebene der histoire, vereinen sie sich per se auch mit den Parametern des discours, der die Art der Vermittlung der Ebenen vorgibt und Ambivalenzen zwischen ihnen auslösen kann. Letztlich ist es der Leser, der ein Verständnis von geschlossenen und offenen Räumen aus der Interpretation der Textniveaus ableitet.71 Im Lektüreakt wird laut Ricœur die Verknüpfung von Mimèsis II und Mimèsis III vorgenommen, da der Leser die Elemente der Geschichte zusammensetzt und mögliche Leerstellen des Texts schließt (vgl. Ricœur 1983: 116). Es ist daher an der Zeit, zu Ricœurs Modell zurückzukehren.
3.3.3
Mimèsis III – Refiguration
Ricœur definiert Mimèsis III als intersection du monde du texte et du monde de l’auditeur ou du lecteur. L’intersection, donc, du monde configuré par le poème et du monde dans lequel l’action effective se déploie et déploie sa temporalité spécifique (Ricœur 1983: 109). Ein wichtiges Merkmal dieser letzten Stufe ist ihr Rückbezug zur alltäglichen Erfahrung von Zeit der Mimèsis I, weshalb Ricœur auch von der circularité bzw. spirale des Mimèsis-Vorgangs spricht (vgl. ebd.: 110).72 Der Leser aktiviert in der Herstellung von räumlicher Kohärenz sein Wissen von den narrativen Formen, die der Au71
72
Aus diesem Grund muss die Relationalität von Raum und Mensch in aktuellen Raumtheorien für die Literatur anders begriffen werden. Die Stabilität materieller Strukturen in der Realität, die auf den Menschen wirken können, gibt es in der Literatur nicht. Abgesehen von der Materialität des physischen Buchs existiert die Materialität von Raum in der Literatur lediglich als Eindruck beim Leser (vgl. Kapitel 3.3.3). Ricœur präferiert den Ausdruck spirale, um der Sackgasse des cercle vicieux zu entkommen. Die spiralförmige Bewegung zwischen den Ebenen markiert, dass sich der hermeneutische Vollzug/das Verstehen hochschraubt, also jeweils auf anderen Lagen anzuordnen ist und nicht einfach auf einer hermeneutischen Ebene stehen bleibt (vgl. Ricœur 1983: 111ff.).
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tor in der Mimèsis II selektiert, was augenblicklich zu einem Gefühl der Vertrautheit oder Distanz gegenüber dem Text führt. In diesem Zusammenhang greift Ricœur auf Gadamers Konzept der Horizontverschmelzung zurück, welches ein Verstehen des Texts über kulturelle, zeitliche und räumliche Distanzen hinweg erlaubt (vgl. Ricœur 1983: 120). Dieser hermeneutische Vorgang ist im Gegensatz zur Textimmanenz der Semiotik bewusst kommunikativ angelegt. Laufen Konfiguration und Refiguration bei Ricœur letztlich parallel ab, grenzt Benoit Doyon-Gosselin die Refiguration gegenüber der Konfiguration durch den Leser ab. Er sieht in der Mimèsis III nach hermeneutischem Prinzip einen Interpretationsvorgang, »un travail d’appropriation de la configuration spatiale par le lecteur« (Doyon-Gosselin 2011: 73; vgl. auch Hallet 2009: 85). Es handelt sich folglich um eine globalere Ebene der Sinnkonstruktion als die der Konfiguration, da sich der Leser in der Refiguration stärker vom Text selbst löst und diesen an die Erfahrung von Welt bzw. den realen Raum rückbindet. Diesen letzten Schritt der Zusammen- und Rückführung der Raumelemente durch den Rezipienten kennzeichnet die »implizite Theorie des extraliterarischen Raums«. In der Konstruktion einer Welt des Texts durch den Leser liegt das Potential der Adaption der Sicht auf Welt, denn »les œuvres littéraires ne dépeignent la réalité qu’en l’augmentant de toutes les significations« (Ricœur 1983: 121, Hervorh. i.O.). Mit der Wirkung der Literatur auf die soziale Realität schließt sich der Kreis der Mimesis, »in which mimesis 1 is [thus, J.K.] the sedimented result of mimesis 3 from a previous circuit« (Osborne 1995: 156). Unbestreitbar stehen Literatur und Wirklichkeit somit in einem symbiotischen Verhältnis. Prämisse ist, dass das enge Verständnis vom Raum der Literatur auf Textebene nun wieder in Richtung außertextuell erzeugter Räumlichkeit von Literatur als Teil des sozialen Raums erweitert wird. Dann nämlich wird das Potential der Literatur, das bei Ricœur unbestimmt bleibt, anschaulich und kann erneut auf den Ebenen des Gelebten, Wahrgenommen und Konzipierten zum Tragen kommen. Der Autor entwickelt im Text eine unter vielen medialen Repräsentationsformen von Raum (espace conçu). Wie andere Entwürfe auch sind literarische Werke laut Robert T. Tally »mapping machines, [that means, J.K.] devices or methods used to map the real-and-imagined spaces of human experience [but also, J.K.] themselves objects to be mapped« (Tally 2014: 3) und gehören damit zum sozialen Raum einer Gesellschaft. Außer in ihrer Funktion als Orientierungsmittel im Raum hat die Literatur in Abgrenzung zu nicht literarischen Repräsentationsformen die Kapazität, den sozialen Raum im Allgemeinen und das menschliche Bewohnen von und Handeln im Raum im Speziellen zum Thema zu erheben oder in Szene zu setzen (vgl. Beck 2013: 71).73 Dies kann darin münden, dass der Leser die Geschehnis73
Dies drückt Wolfgang Hallet folgendermaßen aus: »Durch die Modellierung von Raumprozessen macht die Literatur wie unter einem Brennglas Raumpraktiken, soziale Interaktionen
3. Entwicklung des eigenen Raummodells
se im Text sinnlich-körperlich nachempfindet und seine Wahrnehmung von Raum (espace perçu) beeinflusst wird. Literatur kann in ihren Raumkonzeptionen auf der einen Seite den Status quo des sozialen Raums bestätigen und untermauern. Auf der anderen Seite bieten literarische Texte in der Verhandlung räumlicher Beziehungen nicht selten aber auch eigene Raumentwürfe an, die gängige Vorstellungen von Raum investigativ herausfordern oder gar transformieren (vgl. Beck 2013: 71ff.).74 Sie sind anders als beispielsweise soziologische oder ethnologische Methoden in der Lage, »die ›ästhetischen und symbolischen Überdeterminierungen der jeweiligen Repräsentation‹ (Scholz 2004: 29) offen[zu]legen und damit kulturelle Ambivalenzen und Widersprüche in den Blick [zu] bringen« (Neumann 2009: 117). Klassenoder geschlechtsspezifische Räume, Grenzziehungen zwischen dem eigenen und dem fremden Raum oder das individuelle Verhalten in kollektiv reglementierten Räumen sind einige der überdeterminierten Themen, die in der Literatur zur Diskussion stehen und den ambivalenten und bedeutungsreichen Charakter realer Räume exponieren können. Diese Spannung zwischen dem Darstellen des sozialen Raums und dem Potential, Impulse zur Veränderung der räumlichen Ordnung zu geben, ist es, die die Besonderheit der Literatur ausmacht (vgl. Miller 1995: 6). Sie ist ihrer Form nach eine mediale Vermittlungsweise und damit Teil des konzeptuellen Raums der Gesellschaft, muss aber ebenso als Quelle der Imagination für den Bildhaushalt einer Gesellschaft bzw. der Leserschaft im gelebten Raum gelten (espace vécu). Für Bertrand Westphal hat die Literatur daher entscheidenden Anteil an der diskursiven Konstruktion der Realität bzw. an der Exposition ihres symbolischen Gehalts: »[C]est la littérature qui leur [les espaces humains, J.K.] octroie une dimension imaginaire, ou mieux: qui traduit leur dimension imaginaire intrinsèque en les introduisant dans un réseau intertextuel« (Westphal 2000: 21).75
74
75
und Bewegungen im Raum, Raumwahrnehmungen und -vorstellungen, damit verbundene Bewusstseinsprozesse sowie epistemologische Strategien und Problematiken sichtbar, die in der empirischen Wirklichkeit nur schwer der Analyse zugänglich sind. Das ist keine Ineinssetzung von Literatur und Wirklichkeit, im Gegenteil: Wie schon sichtbar geworden ist, ist die Literatur selbst Teil jener Naturalisierung und De-Naturalisierungen des Raums, die sich als allgemeine kulturelle Phänomene beschreiben lassen« (Hallet 2009: 85, Hervorh. J.K.). Ähnlich bemerkt Bertrand Westphal (2000: 21): »L’espace transposé en littérature influe sur la représentation de l’espace dit réel (référentiel), sur cet espace-souche dont il activera certaines virtualités ignorées jusque-là, ou ré-orientera la lecture.« Vgl. auch Miller (1995: 16): »[N]ovels do not simply ground themselves on landscapes that are already there, made by prior activities of building, dwelling and thinking. The writing of a novel, and the reading of it, participate in those activities. Novels themselves aid in making the landscapes that they apparently presuppose as already made and finished. This making is, however, ambiguous. It is both a making and a discovering.« Caroline Frank nennt narrative Raumdarstellungen, die auf Raumdiskurse referieren, »metaspatiale Fiktionen« (2017: 226, Hervorh. i.O.), worunter auch die ausgewählten Texte Zolas fallen.
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Abschließend ist die Literatur in »all that includes the physical reality of the text as book« (Coughlan 2012: 106) zur räumlichen Praxis (espace perçu) einer Gesellschaft in Beziehung zu setzen. Dazu zählen der Autor, die im Schreibprozess produzierte materielle Form des Texts, die Vermarktung des Buchs und zuletzt auch dessen Lektüre. David Coughlan (ebd.: 121) fasst zusammen: With the text reducible neither to its physical existence nor to ideal abstraction, both concrete and also abstract, not natural but reproducible, a social product, conceived of through representations of space, and sharing all this with social space, then the text must be considered spatially, as a social space, perceived and produced through spatial practice, and not simply viewed but experienced, lived, through reading. Auf der Makroebene spannt sich die Literatur zuletzt noch insofern räumlich auf, als sie in einen globalen Markt von literarischen Zentren und Peripherien eingewoben ist (vgl. Moretti 2009 [1999]: 3). Der Raum in der Literatur ist demnach das Ergebnis eines fortwährenden außer- und innerliterarischen Produktionsvorgangs, per se also dynamisch. Sowohl im realen Raum verankert als auch in Distanz zu ihm, ist er auf dem Schnittpunkt von Realität und Fiktion zu situieren. Da nun das Handwerkszeug für die Untersuchung von Raum im Werk Zolas vorliegt, kann im nächsten Kapitel die Anwendung des Modells auf den Ebenen der Präfiguration und der Vorbereitung der Romane beginnen.
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Die Untersuchung von Raum im Werk Zolas beginnt auf den Stufen der Mimèsis I und Mimèsis II bzw. der Zwischenstufe der Konfiguration (vgl. Abb.1, Kreise 1 und 2). Das bedeutet, dass Zolas Situation im sozialen Raum von Paris in den Blick genommen werden muss. Genauer geht es um diejenigen Faktoren, die Einfluss auf sein Verständnis, seine Wahrnehmung und seine Erfahrung von Raum nehmen. Wie in Kapitel 3.3.1 dargelegt, zählen hierzu der »gesellschaftliche räumliche Haushalt« der Epoche sowie der »persönliche räumliche Haushalt« Zolas. Es gilt daher erstens, Zolas Haltung gegenüber den raumzeitlichen Veränderungen im Second Empire zu klären, und zweitens, die ideologischen Raumvorstellungen zu untersuchen, die in sein Verständnis von Raum einfließen. Erst dann geht es konkret um das Material in den Dossiers, das Zola aus der Erforschung der drei Raumebenen des sozialen Raums gewinnt.
4.1
Die Präfiguration von Raumverständnis, Raumwahrnehmung und Raumerfahrung Zolas
In einem Brief an seinen Jugendfreund Jean-Baptistin Baille resümiert Zola wenige Jahre nach seinem Umzug nach Paris die einschneidenden raumzeitlichen Entwicklungen zur Zeit des Second Empire: Notre siècle est un siècle de transition; sortant d’un passé abhorré, nous marchons vers un avenir inconnu. […] Ainsi donc, ce qui caractérise notre temps, c’est cette fougue, cette activité dévorante; activité dans les sciences, activités dans le commerce, dans les arts, partout: les chemins de fer, l’électricité appliquée à la télégraphie, la vapeur faisant mouvoir les navires, l’aérostat s’élançant dans les airs. Dans le domaine politique, c’est bien pis: les peuples se soulèvent, les empires tendent à l’unité. Dans la religion, tout est ébranlé; […] Le monde se précipite donc dans un sentier de l’avenir, courant et pressé de voir ce qui l’attend au bout de sa course (Corr, I: 169, 02.06.1860).
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Zola analysiert in dieser Passage die soziokulturellen, psychologischen und geopolitischen Folgen der Modernisierung. Wichtig ist, anzumerken, dass er seine Epoche in eine größere Entwicklung einbettet – er erklärt sie zu einem »siècle de transition«. In der Aufzählung von Elementen der Beschleunigung und der Mechanisierung, darunter Eisenbahn, Schifffahrt und Telegraphie, sowie der Beschreibung des Vorstoßes in fremde Länder, gemeint sind die Kolonien, schwingt ein Gefühl der Angst, aber auch der Faszination mit. Der »rapid, enumerative style, and the sequence of metaphors of energy, transformation and unknowability« korrespondieren mit einer Erfahrung des Taumels »[and, J.K.] suggest a young man in thrall to the pressures and rhythms of modernity« (Harrow 2008: 214).1 Die Inhalte des Zitats bilden die Klammer der weiteren Ausführungen, welche mit dem historischen Kontext und mit dem »persönlichen räumlichen Haushalt« Zolas abgeglichen werden. Wie zu zeigen sein wird, erduldet Zola seine Situation in Paris nicht bloß – im Gegenteil schafft er sich aktiv einen Platz in der Gesellschaft. Besonders von Interesse ist dabei seine kritische Haltung gegenüber dem urbanen Raum, die sich vor allem in seinen Anfangsjahren in der Stadt, den Artikeln zum Pariser Alltag sowie zur Haussmannisierung und Kommune zeigt.
4.1.1
»Vers un avenir inconnu« – Zolas Eroberung von Paris
Die Anfangssituation des Autors im modernen Paris ist durch die dichotomen räumlichen Praktiken charakterisiert, die Alexander C.T. Geppert et al. (2005) beschreiben (vgl. Kapitel 1, Fußnote 33). Bezeichnend ist, dass Henri Mitterand Zola als »Le Déraciné« beschreibt (Mitterand 1999b: 153-182). Der junge Mann ist seiner räumlichen Orientierungspunkte aus der Heimat beraubt, die Formen des standardisierten Verhaltens im Raum der Großstadt beherrscht er noch nicht (vgl. Becker 2000: 251).2 Mitterand spricht an anderer Stelle von Zolas Gefühl des »depaysement« (Mitterand 1999b: 158), das durch die Mechanismen der Exklusion beim Besuch des Lycée Saint-Louis in Paris zunimmt: Zola, »le Provençal«, bleibt den
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Dies erinnert stark an Marshall Bermans Analyse der Erfahrung der Modernisierung: »To be modern […] is to experience personal and social life as a maelstrom, to find one’s world and oneself in perpetual disintegration and renewal, trouble and anguish, ambiguity and contradiction […]. Experiences like these unite us with the nineteenth-century modern world: a world where, as Marx said, ›everything is pregnant with its contrary‹ and ›all that is solid melts into air‹« (Berman 1988 [1982]: 345, 35f.). Colette Becker kommentiert die Anfänge Zolas in Paris analog zu Mitterand: »Ce déménagement est, d’abord pour lui, une véritable déchirure. Il a du mal à s’adapter à sa nouvelle vie, difficile matériellement« (Becker 2000: 251; vgl. auch Becker 1993b: 31). Zola fühlt sich nur in seiner gewohnten räumlichen Umgebung vollkommen wohl, wie er selbst zugibt: »Je ne suis guère l’homme des voyages. Un déplacement bouleverse ma vie« (Corr, II: 404, 05.08.1875, À Roux).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
reichen Mitschülern durch seinen Akzent und seine bescheidene Herkunft fremd (vgl. Mitterand 1999b: 159).3 Der urbane Raum von Paris löst bei Zola zuerst eine nostalgische Flucht in die Vergangenheit aus. Zahlreich sind die Passagen aus der Correspondance, in denen die fehlende Verankerung Zolas in Paris und die Idealisierung der Provence greifbar werden. Seinem Freund Paul Cézanne schreibt er am 14.06.1858: Seraient-ce les pins ondulant au souffle des brises, seraient-ce les gorges arides, les rochers entassés les uns sur les autres, […], serait-ce cette nature pittoresque de la Provence qui m’attire à elle? Je ne sais; cependant mon rêve de poète me dit qu’il vaut mieux un rocher abrupt qu’une maison nouvellement badigeonnée, le murmure des flots que celui d’une grande ville, la nature vierge qu’une nature tourmentée et apprêtée. Serait-ce plutôt les amis que j’ai laissés là-bas dans les voisinages de l’Arc qui m’attirent dans le pays de la bouillabaisse et de l’aïoli? Certainement, ce n’est que cela (Corr, I: 96ff.).4 Zola erinnert sich in olfaktorischen, visuellen, auditiven und gustatorischen Bildern an die Besonderheiten von Aix-en-Provence. Für Mitterand entstehen in den letzten Jahren seines Aufenthalts die »mémoire des lieux« Zolas (Mitterand 1999b: 145) sowie »cette expérience première, immédiate, charnelle, […] les racines de sa 3
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Wobei darauf aufmerksam gemacht werden sollte, dass Zola auch in Aix-en-Provence durch die italienische Herkunft des Vaters und seine ersten Jahre in Paris immer der Junge de Paris war und innerhalb der Schülerschaft des Collège Bourbon eine Außenseiterstellung einnahm (vgl. Mitterand 1999b: 159). Seine Erfahrungen der Schuljahre und das Verhältnis von Provinz zu Paris bindet Zola einerseits immer wieder an die Charaktere seiner Romane, andererseits zeichnet er diese als Journalist in den »Chroniques parlementaires« nach, die er besonders in den Zeiten der Kommune aus Marseille nach Paris sendet und in La Cloche veröffentlicht bzw. aus Paris nach Marseille schickt und in Le Sémaphore de Marseille oder in der Rubrik »Lettres de Paris« des Messager de l’Europe platziert. Im gleichen Brief hält er bezüglich des zu diesem Zeitpunkt von ihm bereits als markant empfundenen Unterschieds zwischen Hauptstadt und Provinz fest: »Paris est grand, plein de récréations, de monuments, de femmes charmantes. Aix est petit, monotone, mesquin, rempli de femmes… […]. Et malgré tout cela, je préfère Aix à Paris« (Corr, I: 96). Jean-Baptistin Baille berichtet er am 29.12.1859 von seinem zurückgezogenen Leben in Paris: »Je ne sors presque pas et je vis dans Paris comme si j’étais à la campagne. Je suis dans une chambre retirée, je n’entends pas un bruit des voitures et, si je n’apercevais dans le lointain la flèche du Val-de-Grace, je pourrais me croire encore à Aix« (Corr, I: 116f.). Ein halbes Jahr später hat sich an dieser Situation nichts geändert, wie der Brief an Paul Cézanne (25.06.1860) beweist. Hier heißt es: »Je suis las de Paris; je sors fort peu et, si c’était possible, j’irais m’établir près de toi« (Corr, I: 193). Die lebhaften Erinnerungen an seine Heimatstadt bleiben insgesamt über Jahre hinweg präsent: »Le malheur est que j’ai des souvenirs d’Aix […]. Je songe donc plus que je ne le voudrais à ce coin de terre perdu« (Corr, I: 444), lässt er Antony Valabrègue in seinem Brief noch im Frühjahr 1866 wissen. Und dies, obwohl sich sein Verhältnis zur Hauptstadt mittlerweile ins Positive gewendet hat.
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sensibilité et de ses intuitions futures« (Mitterand 1999b: 138).5 Das Erleben und Bewohnen (habiter) bedeutungsvoller Räume à la Gaston Bachelard (espace vécu) wird sich Zola als »véritable mythologie personnelle« (Becker 2000: 256) bewahren. Behütet von den Großeltern und der Mutter und angeregt durch die Eskapaden mit den Freunden entstehen in Kindheit und Jugend Erinnerungsorte, die mit einer starken Naturverbundenheit, der »sensibilité climatique« (Wrona 2011: 24) und der sinnlichen Intuition in der Erforschung der Umwelt (espace perçu) den räumlichen Haushalt Zolas prägen.6 5
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Mitterand liefert im ersten Band seiner Biographie über die Jugendjahre des Autors interessante Einblicke in die räumlichen Bewegungen und die Aufenthaltsorte Zolas. Die »mémoire des lieux« fächert Mitterand auf und schreibt ihr folgende Merkmale zu, die auf den ersten Roman der Rougon-Maquart, La Fortune des Rougon (1871), anspielen: »Et pourtant, sans bien le savoir, il emportait un précieux bagage: la mémoire des lieux, des noms et des silhouettes. Les cimetières désaffectés, les terrains vagues, le Cours et les rues de traverse, les églises, les chantiers de bois, les fermes du faubourg, les portails sculptés des demeures, les cafés, le quartier Sainte-Anne et la route d’Italie, le grand soleil sur les bastides, les Trouche, les Fouque et les Mouret, les jeunes dandys du cours, les filles de Provence et les bûcherons des forets, les soutanes de la Fête-Dieu et les redingotes des bourgeois…Un trésor d’images qui allaient comme s’endormir, puis se réveiller soudainement dix ans plus tard, aussi fraîches qu’au moment du départ: la vraie fortune des Rougon, à l’aube du cycle. Aix-en-Provence remémorée et remodelée en Plassans, dans toute sa vérité locale. Émile, le moment venu, n’aura qu’à fermer les yeux pour tout revoir, et tout réinventer« (Mitterand 1999b: 145f.). Es steht außer Frage, dass diese Naturverbundenheit niemals neutral ist, sondern beeinflusst wird durch Zolas Lektüre der romantischen Literatur Alfred de Mussets, Jules Michelets oder Victor Hugos und in der Stadt retrospektiv eine gewisse Instrumentalisierung durch Zola erfährt. Viele der Bilder der Jugend und der Zeit, die Zola mit den Freunden Cézanne und Baille verbringt, werden zum Beispiel in den Contes à Ninon (1864) und im Roman L’Œuvre (1885), hier insbesondere im zweiten Kapitel, wiederbelebt. Um das Thema Natur drehen sich indirekt viele der Romane Zolas, es sei exemplarisch an Nanas Aufenthalt in La Mignotte, an Renées Kutschfahrten in den Bois de Boulogne oder die Confession de Claude (1865) erinnert. Sein ausgeprägter Sinn für die räumlichen, speziell die klimatischen Gegebenheiten eines Ortes oder einer Region zeigt sich ebenso in zahlreichen (Urlaubs-)Briefen und Artikeln Zolas. In der Satire »Scènes d’élection en France« der »Lettres de Paris« von Dezember 1877 (NM, XII: 786-809) vollführt er laut Guillaume McNeil Arteau mit den Beschreibungen des Fischerdorfs L’Estaque, in dem er einen Urlaub verbringt, eine »écriture cartographique« (2015: 175). Ebenso beeindruckt ist er vom Meer der Normandieküste – »la mer, toujours la mer! Il souffle un vent de tempête qui pousse les vagues à quelques mètres de notre porte. Rien de plus grandiose, la nuit surtout. C’est tout autre chose que la Méditerranée, c’est à la fois très laid et très grand!« (Corr, II: 404, 05.08.1875, Saint-Aubin, À Marius Roux) –, dessen Eindruck er in seinen räumlichen Haushalt aufnimmt, um ihn als Material für einen seiner Romane, La Joie de vivre (1884), bzw. die Novelle La Fête à Coqueville (1882) einzusetzen: »Je prends des notes, à chaque nouvel aspect de la mer […] que je rêve glisser dans un de mes romans« (Corr, II: 409, 13.08.1875, Saint-Aubin, À Paul Alexis; vgl. Got 1980). Aus diesem Grund bemerkt Adeline Wrona (2011: 24): »Zola déploie une sensibilité climatique qui l’apparente aux écrivains de la modernité.« Das intuitiv-sinnliche Eintauchen in den Raum ist Teil von Zolas späterer
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Die positive Zeichnung des provenzalischen Naturraums darf allerdings nicht über die Kritik Zolas am Kleinstadtleben hinwegtäuschen, die durch den frühen Tod des Vaters und den sich daraus ergebenden schwierigen finanziellen Stand der Familie in der Stadt Aix ausgelöst wird. »[L]air de la Province est humide et éteint d’ordinaire les meilleurs feux d’artifice de l’esprit« (Corr, I: 254, 10.12.1866, À Valabrègue) lautet Zolas vernichtendes Urteil zum Konservatismus vieler Bürger der Stadt. Paris dagegen steht für den Fortschritt, die intellektuelle Blüte, das moderne Leben. Er ist von der urbanen Landschaft ebenso berührt wie von der Natur der Provence (vgl. Becker 2000: 257).7 Bezüglich der intellektuellen Anreize in Paris erklärt er Cézanne: Paris t’offre, […], un avantage que tu ne saurais trouver autre part, celui des musées où tu peux étudier d’après des maîtres, depuis onze heures jusqu’à quatre heures […]. Puis, le dimanche, nous prendrons notre volée et nous irons à quelques lieues de Paris; les sites sont charmants et, si le cœur t’en dit, tu jetteras sur un bout de toile les arbres sous lesquels nous aurons déjeunés (Corr, I: 272, 3.3.1861).8 Im Gegensatz zu der den Geist einengenden Provinz erfüllt Paris, »en termes d’espace et de vie, d’expansion« (Becker 2000: 255), die Bedürfnisse des jungen Schriftstellers. Denn »[p]our écrire, il faut avoir de l’espace et de l’air devant soi« (Zola im Interview mit Amicis, Le Figaro, 24.09.1881). Gemeinsam mit Freunden durchstreift Zola die Stadt und lässt sich von den »multiple confusions to which daily urban experience is always prone« inspirieren (Harvey 1989: 2). Zola schätzt die Folgen
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Methode der Untersuchung von Raum, antizipiert folglich den von Zola mehrfach propagierten und im Roman expérimental (»Du Roman«) ausführlich diskutierten »sens du réel« (CDLP, X: 1285-1289). Mit dem Kauf des Hauses in Médan 1878 erfüllt sich Zola den Wunsch, einen Ort der Ruhe in der Natur abseits des hektischen Lebens in Paris zu finden. »Je suis dans mon trou et je travaille« (Corr, IV: 309, 16.06.1882), antwortet er Henri Céard auf dessen Frage, wo er sich aufhalte. Die Eisenbahnstrecke, die in einiger Entfernung des Anwesens liegt, führt ihm jedoch weiterhin den zivilisatorischen Fortschritt vor Augen und gibt ihm die Idee für den Roman La Bête humaine (1890). Auf die Frage, warum Zola die Strecke Paris – Le Havre wählt, antwortet er David Dautresme: »J’y avais tout ce qu’il me fallait sous la main; et, de plus, voici dix ans que je l’étudie, à voir et à entendre, chaque jour et chaque nuit, ses deux cents trains passer sous les fenêtres de ma chère retraite de Médan« (Corr, VII: 91, 11.10.1890). Nichtsdestotrotz bleibt Paris der Ort der Inspiration, wie Zola aus dem Exil in England schreibt: Er brauche »la flamme de Paris«, um den nächsten Roman schreiben zu können (Corr, IX: 406, 01.02.1899, À Fernand Labori). Auch Antony Valabrègue rät er, die Provinz zu verlassen und sein Talent in Paris entfalten zu lassen: »La province est terrible. Deux ans de séjour à Aix doivent à coup sûr tuer un homme. J’ai en cela une opinion arrêtée qui me fera toujours vous appeler à Paris. […] Paris élargira vos horizons de poète« (Corr, I: 501, 29.5.1867). Baille lässt er wissen: »Paris est l’astre de l’intelligence, il envoie ses rayons jusque dans les provinces les plus reculées. […] [L]e génie viendra toujours se faire applaudir à Paris« (Corr, I: 210, 25.07.1860).
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dieses Großstadtlebens für das »Geistesleben« ähnlich wie nach ihm Georg Simmel (1903) ein: »Notre âge – je parle surtout de notre monde parisien – est secoué par un frisson nerveux«, heißt es in den im Figaro erschienenen Causeries littéraires vom 18.12.1866. »[C]e sont nos nerfs qui aiment et qui se brisent par la tension énorme que leur donnent nos fièvres chaudes. Nous vivons trop vite, et pas assez en brutes« (CDLP, X: 701). Die Raumerfahrung birgt für Zola immer ein Moment des Überreizens, das an das von Charles Baudelaire detektierte und später von Walter Benjamin (1939) aufgegriffene Schockerlebnis erinnert.9 In der Stadt muss sich Zola jedoch den Platz im Feld der Literatur erst erkämpfen. Schnell erlernt er »les moyens utilisés, les stratégies mises en jeu pour se faire une place dans cet espace, les rapports de force, les luttes, les ›campagnes‹, les ›conquêtes‹« (Becker 2000: 258). Er entwickelt in den Jahren 1862 bis 1866 im Verlagshaus Hachette ein Verständnis von der Rolle der Literatur in der räumlichen Praxis der Gesellschaft (espace perçu) und kommt erneut in Kontakt mit den Mechanismen der Inklusion und Exklusion, die den Kampf um den ständig neu verhandelten, politischen Stadtraum bestimmen. Er versteht, dass das literarische Zentrum der Zeit Paris ist und ein Autor nur hier zu Ruhm gelangen kann. Zola arbeitet unerlässlich daran, einer der Wortführer in Frankreich zu werden, und weiß um die neue Rolle des Literaten innerhalb des sozialen Raums des Second Empire.10 Durch die zunehmende Alphabetisierung der Bevölkerung existiert eine erhöhte Nachfrage nach Unterhaltungsliteratur, in der sich die Funktion der Autoren grundlegend ändert. Ein Autor verfügt nicht länger über einen Förderer, sondern lebt allein von seinem literarischen Schaffen – »[o]n naît poète, on devient ouvrier«, verkündet Zola Cézanne (Corr, I: 146, 16.04.1860) und zieht hiermit letztlich auch eine Bilanz seiner Anfänge in der Literatur im Zeichen des idyllischen Lebens in Aix und der Schule der Romantik (vgl. Braun 1993).11 9
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Zola ist schon vor seiner Arbeit an den Rougon-Macquart ein genauer Beobachter des Großstadtlebens. Er beschreibt Paul Cézanne am 01.08.1860 das Treiben auf der Straße, das er später zum Beispiel in seinen Roman La Curée einpflegen wird: »Le fait est qu’en écrivant cette lettre, je vois, de ma fenêtre, les fiacres se cahoter dans les ruisseaux, éclaboussant chacun; les grisettes sauter de pavé en pavé, sur la pointe des pieds, effarées, relevant leurs jupes; la foule se précipiter, les parapluies s’agiter« (Corr, I: 217). In späteren Jahren baut sich Zola durch Kontakte in Europa, Russland und Amerika ein internationales Netzwerk auf, ist folglich auch Teil des globalen Literaturmarkts. Er diskutiert beispielsweise mit einflussreichen russischen Pressedirektoren eine neue »convention littéraire« zwischen Frankreich und Russland (vgl. Corr, VII: 97-102, 23.12.1893). Vgl. hierzu auch Chevrel (1993 [1982]: 171ff). Im Roman expérimental (1880) veröffentlicht Zola erneut den Text »L’Argent dans la Littérature« und analysiert hier präzise die Entwicklungen im französischen Literatur- und Pressewesen. Er resümiert: »Nous ne sommes plus au temps où un sonnet, lu dans un salon, faisait la réputation d’un écrivain et le conduisait à l’Académie. […] Aujourd’hui, il nous faut produire et produire encore. C’est le labeur d’un ouvrier qui doit gagner son pain, qui ne peut se
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Colette Becker zählt Zola zu jener Gruppe von jungen Intellektuellen, die ab 1860 den mentalen und ökonomischen Übergang Frankreichs in ein liberales Regime aktiv mitvollzieht, das Second Empire stark kritisiert und vehement ihren Platz in der Gestaltung des Frankreich der Dritten Republik einfordert (vgl. Becker 1978: 15ff.; vgl. auch Rémond 1969).12 Wie viele andere Schriftsteller findet Zola in der kleinen Presse seinen Weg ins Zeitungsgeschäft und damit in die öffentliche Meinung.13 Er erlangt mit seinen Beiträgen im Salut public de Lyon, aus denen der Band Mes Haines (1866) entstehen wird, den »rubriques politiques« in La Tribune (1868-1870), dem Corsaire von 1872 oder der »chronique parlementaire« in La Cloche (1871-1872) sowie den »Lettres de Paris« im Sémaphore de Marseille (1871-1877) schnell einen Ruf als kontroverser Literaturkritiker und Polemiker (vgl. Wrona 2011: 15, 68; vgl. auch Mourad 2012: 21).14 Er berichtet vom soziokulturellen Alltag in Paris, von den Festen, vom Tod von Berühmtheiten oder vom Wetter (vgl. Leduc-Adine 2007:
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retirer qu’après fortune faite« (CDLP, X: 1279). Zola begrüßt diese neue Rolle des Autors trotz der Arbeitsanstrengungen und der finanziellen Misere, in der er sich zu Beginn seiner Zeit in Paris befindet, da sie ihn unabhängig in der Wahl seiner Themen macht. Colette Becker propagiert die These, dass die Jahre zwischen 1860 und 1865 mit der »double révolution – politique et économique« und der »mutation de la mentalité« (Becker 1978: 13f.) in Frankreich eine bedeutsame Wirkung auf Zola und seinen Entwurf des Naturalismus hatten: »Il y a une évolution et des nuances, mais l’enjeu en 60-65 est le même qu’en 77 et 90« (ebd.: 38). Vgl. auch Becker (1993b: 31) und Suwala (1993). In dem bereits zitierten Aufsatz »L’Argent dans la Littérature« resümiert Zola die Hintergründe des Aufstiegs der Presse und rechtfertigt die Arbeit als Journalist, nicht ohne eine gewisse Kritik zu äußern: »Le journal pénètre partout, les campagnes elles-mêmes achètent des livres. En un demi-siècle, le livre, qui était un objet de luxe, devient un objet de consommation courante. […] [L]e commerce de la librairie découple ses affaires, l’écrivain trouve largement le moyen de vivre de sa plume. […] Mais, sans compter les véritables tempéraments des journalistes, ceux qui ont le talent spécial de cette production et de cette bataille au jour le jour, qu’on me cite donc un écrivain de race qui ait perdu son talent à gagner son pain dans les journaux, aux heures difficiles du début« (CDLP, X: 1271f.). Die Rollen von Modernisierung und Presse bespricht Zola ebenso in den »Lettres de Paris« (»La Presse francaise«) des Messager de l’Europe (August 1877): »Au fur et à mesure que chemins de fer et fils télégraphiques faisaient disparaître la distance, les lecteurs devenaient de plus en plus exigeants. D’autre part, la vie devenait fiévreusement agitée et une curiosité inlassable s’emparait irrésistiblement du public. C’est ainsi que prit naissance la presse d’information« (NM, VIII: 652). Einen Überblick über den Journalismus im Leben und Werk Zolas gibt der Band Zola journaliste (2011), zusammengestellt und präsentiert von Adeline Wrona und Henri Mitterand. Daneben kann die Neuauflage von Mes Haines (1866), kommentiert von François-Marie Mourad, Hinweise auf weiterführende Literatur geben (vgl. Mourad 2012). Zwei Veröffentlichungen aktuelleren Datums seien noch erwähnt, die zum einen den Zusammenhang von Journalismus und Literatur und zum anderen die Bedeutung der seriellen Produktion im Werk Zolas unterstreichen (vgl. McNeil Arteau 2015 und Richter 2016).
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190ff.; vgl. auch Wrona 2011: 144ff., 172ff., 199ff.).15 Dieses Material prägt nicht nur sein Verständnis, sondern später auch die Darstellung von Raum im Roman. JeanPierre Leduc-Adine (2007: 186) fasst bezüglich der »Lettres de Paris« zusammen: Autour de la chronique parlementaire, au jour le jour, Zola croque les divers éléments du paysage parisien: décors, personnages, images dont un certain nombre seront repris et inclus dans le tissu romanesque des Rougon-Macquart, comme il se fait l’écho de tous les bruits qui courent la ville, politiques, mais aussi mondains.16 Andererseits entwickelt sich Zola, und dies ist an dieser Stelle von größerem Belang, zu einem scharfsinnigen Kommentator der politischen Entwicklungen der Zeit und bewertet die räumlichen Prozesse, besonders die Eingriffe in den Stadtraum durch Haussmann und die Pariser Kommune, mit Sachverstand. In diesem Kontext wird deutlich, inwiefern der »persönliche räumliche Haushalt« des Autors mit dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« in Konflikt gerät, denn Zola blickt hinter die Fassaden des Haussmann-Paris und erkennt, dass die Neuerungen in erster Linie der Obrigkeit, der erstarkten Bourgeoisie und einflussreichen Industriellen dienen. Sie sind die Profiteure des wirtschaftlichen Aufschwungs der 1850er Jahre und konsolidieren eine kühne Politik der Investition in und Spekulation um den Stadtraum (vgl. Gaillard 1978: 67ff.). Zola kommt zu einem zwiegespaltenen Urteil, das sich zwischen ästhetischen und soziologischen Aspekten aufspannt und seine Sensibilität für die wachsende Urbanisierung und ihre Folgen erkennen lässt (vgl. Solda 2005: 96). Zuerst sei auf die politischen und kulturellen Folgen des Umbaus eingegangen. Zola wirft einen kritischen Blick auf die Segregation des Zentrums von Paris, das heißt die Umsiedlung der armen Bevölkerung in die Randgebiete der Stadt: »Il fut […] profondément ému et choqué dans son besoin de justice et de vérité. Il prit conscience des injustices sociales et de l’hypocrisie de la classe dominante«, notiert Colette Becker (1978: 44), was seine Ausführungen zur Wohnsituation der Arbeiter unterstreichen: 15
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Zu denken ist natürlich vor allem an »J’accuse« (1898), die »Campagne« im Figaro (18791880/81) oder die Beiträge im Messager de l’Europe (1875-1880). Zuvor schreibt Zola 1868 bereits für La Tribune über die Sitzungen der Deputierten. 1870, mitten im deutsch-preußischen Krieg, gründet er mit Marius Roux die patriotische Zeitung La Marseillaise, die allerdings schon nach zwei Monaten wiedereingestellt wird. Die »Lettres de Paris« des Sémaphore sind nach Jean-Pierre Leduc-Adine »un [sic!] véritable éphéméride des sessions parlementaires, au rythme des ouvertures et de clôtures des sessions, à l’écoute des bruits, nouvelles vraies et fausses nouvelles« (2007: 188; vgl. auch Wrona 2011: 172ff., 191). 1876 beendet Zola seine »chroniques parlementaires« und schreibt die »Notes parisiennes« für den Sémaphore, wobei er auch hier politische Kommentare einstreut (vgl. Leduc-Adine 2007: 189). Hier wird der fließende Übergang zur Ebene der Konfiguration deutlich, denn der politische und mondäne Alltag ist beispielsweise in La Curée ein wichtiges Thema (vgl. Kapitel 5). LeducAdine nennt die Artikel des Sémaphore daher auch eine Art »dossier préparatoire« (vgl. LeducAdine 2007, Hervorh. i.O.).
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Ils […] habitent les ruelles noires […], les trous pestilentiels de la vallée Mouffetard. Ce n’est pas pour eux qu’on assainit la ville; chaque nouvel boulevard qu’on perce les jette en plus grand nombre dans les vieilles maisons des faubourgs. […] M. Haussmann, qui est plein de sollicitude pour les riches, a fait des bois de Boulogne et de Vincennes des promenades princières, où les heureux de ce monde peuvent aller bercer leurs rêveries, au trot régulier de leurs chevaux de luxe (La Tribune, NM, III: 473, 18.10.1868).17 Genau diese Inszenierung des Reichtums, die Kutschen und Träumereien der Reichen sind es, die Zola in La Curée einarbeiten wird (vgl. Kap. 5). Zola beweist analytische Weitsicht, da er das »Recht auf Stadt« im Sinne Henri Lefebvres als ein Privileg der Bourgeoisie begreift, was der Soziologe Richard Sennett 1976 bestätigen soll (vgl. Sennett 1976: 137).18 Sennett spricht von der Einrichtung einer »ecology of quartiers as an ecology of class« (ebd.: 134), die auch Zola registriert. Das Volk hat sich in den neu angelegten Grünflächen in der Stadt aufzuhalten. Zola missbilligt diese künstlichen und domestizierten Parks: Dès que la pioche des démolisseurs de M. Haussmann a changé tout un quartier en une vaste place nue et blanche de plâtre, […], on apporte des arbres et des rochers, on creuse une mare, on trace des allées qu’on borde de pots de fleurs enfoncées dans le sol; et, huit jours après, on livre aux promeneurs un jardin étroit, poussé comme par enchantement, […] un gazon propre et civilisé (Contes et nouvelles (CN), »Des squares«, NM, II: 489).19
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Noch am 08.06.1872 heißt es in den »Chroniques politiques« von La Cloche: »Le Paris de M. Haussmann est une immense hypocrisie, un mensonge d’un jésuitisme colossal. […] Pour nettoyer la ville, on a commencé par sabrer le vieux Paris, le Paris du peuple. […] Son rêve était de badigeonner la ville, de l’aligner, de la mettre en toilette de gala, quitte à la laisser les pieds nus et à cacher chaque déchirure, chaque tache de graisse, sous un nœud de dentelle« (»Le nettoyage de Paris sous Haussmann«, NM, V: 767). Einen Monat zuvor bilanziert er die Haussmannisierung ähnlich kritisch: »L’Empire flambant dans l’agio, dans la spéculation effrénée, l’Empire n’étant plus qu’une partie monstre de baccara, faisait sourire quand il envoyait quatre sergents de ville et un commissaire de police fermer quelques maisons borgnes du quartier Mouffetard. Haussmann, pendant cette belle expédition, jouait les quartiers à la roulette« (La Cloche, NM, V: 739, 18.5.1872). In The Fall of Public Man heißt es: »It is important to see that this ›right to the city‹, as Henri Lefebvre calls it, was becoming a bourgeois prerogative« (Sennett 1976: 137). Der Text wurde am 18.06.1867 im Figaro veröffentlicht. In dem oben zitierten Artikel aus La Tribune führt Zola diesen Gedanken weiter: »Peut-être le préfet de la Seine croit-il avoir assez fait pour les pauvres, en semant Paris de squares. Mais quels tristes coins de nature, quelles promenades poussiéreuses et étouffantes! Des ruisseaux coulent autour des arbres maigres, des grilles isolent les moindres bouts de gazon, les bancs sont rares et les chaises se paient. Ces bocages de carton sont bons pour les petits bourgeois malingres« (NM, III: 473, 18.10.1868).
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Der Unterschied zwischen Stadt und Land bzw. künstlicher und scheinbar unberührter Natur brennt sich Zola ein und wird viele seiner Romane durchziehen (vgl. Fußnote 6). Interessant ist, dass Zola in diesem Kontext den Wert der Festkultur und des Theaters für die Bewohner diskutiert und Punkte anspricht, die Lefebvre bezüglich der Bedeutung der Feste im Haussmann-Paris thematisiert (vgl. Kap. 3.2). Einen Weg, der Arbeiterschaft ein angemessenes Naturerlebnis zu schaffen, sieht Zola in der Einrichtung dauerhafter Festplätze außerhalb von Paris: »Mais ouvrez l’horizon, appelez le peuple hors des murs, donnez-lui des fêtes en plein air« (Tribune, NM, III: 473, 18.10.1868). Er bemängelt den Beschluss des Präfekten, viele der Jahrmärkte in den annektierten Gemeinden zu schließen. Denn Zola sieht das Potential dieser Versammlungsorte: »Anciennement, la fête de Montmartre mettait en révolution une bonne moitié de Paris.«20 Aus diesem Grund kritisiert er in den ParisArtikeln die Inszenierung von Reichtum, die kollektive Feiern ersetzt und lediglich der Stärkung des Staates dienen soll. Neben dem Verschwinden der Jahrmärkte beobachtet Zola den Niedergang der Theaterkultur als eine Konsequenz der Haussmannisierung. Er hält mit Blick auf das veränderte Freizeitverhalten der Pariser fest: Les théâtres de banlieue ferment, écrasés par le droit des pauvres et par la concurrence des cafés-chantants (Cloche, NM, V: 717, 3.5.1872). [L’]Ambigu, […] n’a plus de public […]. C’est le percement de cet interminable boulevard du Prince-Eugène, le bouleversement du quartier qui a tué ce coin béat, où pendant cinquante ans les théâtres ont attiré et retenu tout Paris (Sémaphore, NM, V: 744, 19-20-21.5.1872). Zola lässt das »vieux Paris populaire« in nostalgischen Bildern wiederaufleben und stellt es der Monotonie des Zweiten Kaiserreichs gegenüber, auch wenn er sich eines Lobes für die neue Ästhetik der Stadt nicht verweigert: Personnellement, je chercherais volontiers querelle à M. Haussmann. Je regrette, en amant désespéré des anciens horizons, mes vieilles rues, mon vieux bois de
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Wobei Zola an dieser Stelle mit Revolution keinen politischen Aufruhr meint. Zola betont, dass Haussmann der »sens des joies populaires« fehle, weshalb er dafür sorge, »d’aligner les fêtes et de les rendre dignes des boulevards. Il fit construire des baraques […]. Ces baraques disent tout l’Empire. […] C’est la décadence pour les yeux« (Tribune, NM, III: 473, 18.10.1868). Unter der Dritten Republik wurden die Feste wieder regulär aufgenommen, was Zola befürwortet: »Or, la suppression des fêtes avait fait le désespoir des quartiers populeux. La République, qui n’est point une petite maîtresse, vient de rétablir ces fameuses fêtes. Il faut être Parisien pour comprendre toute l’importance d’une pareille nouvelle« (Sémaphore de Marseille, NM, VI: 586, 26.11.1874). Vgl. zum Stellenwert der Festkultur im Werk Zolas Dousteyssier-Khoze/Welch (2009).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Boulogne, mon vieux Luxembourg. […] J’aimais d’amour l’ancien bois de Boulogne. J’ai de l’admiration et du respect pour le nouveau (Gaulois, NM, III: 592, 08.03.1869).21 Hier zeigt sich Zolas positives Urteil zum Umbau der Stadt. Von der rue Monsieurle-Prince und der rue du Faubourg-Saint-Jacques aus beobachtet Zola die Bauarbeiten und erläutert den Lesern des Sémaphore de Marseille den Abbau der Butte des Moulins für die Öffnung der avenue de l’Opéra (vgl. Mitterand 2008: 90).22 Er schätzt die Fortschritte im Bereich der Stadthygiene und die Dynamik des modernen Lebens: »[L’]œuvre faite est grande. Personne, je crois, ne songe à la nier«, schreibt er am 08.03.1869 im Gaulois (NM, III: 592ff.).23 Doch sind diese Kommentare die Ausnahme. In die Bewunderung fließen oftmals ironische Bemerkungen ein, wenn er zum Beispiel bezüglich der möglichen Berufung Haussmanns in das Kunstministerium davon spricht, »qu’il [Haussmann, J.K.] va exiger que toutes les toiles aient la même dimension, et que tous les cadres soient faits sur un modèle uniforme« (La Tribune, NM, III: 489, 04.02.1869).24 21
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Ähnlich bringt er seine Vorliebe für das alte Paris in einem Artikel aus der Cloche vom 14.03.1870 zum Ausdruck: »Ces jours derniers, je flânais sur le quai Saint-Paul, un quai respecté jusqu’à cette heure par les maçons du Second Empire. J’adore les coins perdus de la grande ville, où les maisons, gardant leurs caprices, ne s’alignent pas, désolantes, uniformes comme des casernes« (NM, III: 509; vgl. auch Solda 2005: 96). Siehe den Artikel »Un accident de chemin de fer. Les travaux de l’avenue de l’Opéra« (09.03.1877): »La démolition des maisons pour la percée de l’avenue de l’Opéra est à peu près terminée. Il ne reste plus que cinq ou six immeubles debout, et dans quelques jours la trouée sera complète. Dans ce moment, on abat, au coin de la rue Saint-Roch et de la rue Neuve-des-Petits-Champs, la dernière maison qui cachait encore l’Opéra; à chaque coup de pioche, le monument apparaît« (NM, VIII: 615). So zum Beispiel auch in den Documents Littéraires aus dem Jahr 1879: »[I]l faut aimer le nouveau Paris, une ville superbe, où les imbéciles seuls peuvent s’ennuyer, et dont la transformation a amené, en moins d’un demi-siècle, des changements considérables dans les mœurs […]. Nous devons accepter l’architecture de nos halles et de nos palais d’exposition, les boulevards corrects et clairs de nos villes« (CDLP, XII: 369f.; vgl. auch Solda 2005: 104f.). Das Projekt der Verlegung der Friedhöfe in die Außengebiete der Stadt zu Zwecken der Reinigung der Stadt begrüßt Zola dann auch: »Il est question de fermer le Père-Lachaise, et d’ouvrir un grand cimetière, le plus éloigné possible de la ville. […] Je vous avoue que je suis un fervent partisan de l’ancien projet de M. Haussmann, qui voulait mettre les cimetières à plusieurs lieues de Paris« (Sémaphore de Marseille, NM, VI: 556, 3.10.1873). Es ist demnach nicht falsch, wie Pierre Solda von einer Evolution in der Einschätzung der Haussmannisierung durch Zola auszugehen, auch wenn einschränkend gesagt werden muss, dass Zola in erster Linie in Bezug auf die hygienischen sowie ästhetischen und nicht die soziologischen Aspekte des Stadtumbaus eine gewandelte Haltung an den Tag legt (vgl. Solda 2005: 105). In der Ausgabe vom 30.08.1868 der Tribune nimmt Zola anlässlich der Kritik an der von Napoleon III. bei dem Künstler Émile Thomas in Auftrag gegebenen Statue der Venus Bezug auf die Kunst des Second Empire und zeichnet ein ironisches Bild der Arbeiten Haussmanns: »La vérité est que le second Empire ne comptera ni un grand peintre, ni un grand sculpteur,
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Seine Kritik am Second Empire verschärft sich, als er in den Jahren 1870/71 von der Kommune berichtet. Es ist das in Flammen stehende Paris der fête impériale, das seine Darstellung von Raum nachhaltig beeinflussen wird: »J’ai contemplé […] Paris qui continue à brûler, et devant ces monuments en cendres, […] devant cette misère profonde des vivants et des morts, un sanglot est monté à ma gorge« (Sémaphore, NM, IV: 579f., 02.06.1871), klagt Zola.25 Sein politisches Engagement wird geweckt, als er gegenüber der Thiers-Regierung in Versailles das Wort für Paris ergreift (vgl. Becker 1980: 45).26 Obwohl er die Anarchie in der Stadt und die Gewaltanwendung der Kommunarden verurteilt, rügt er die Härte der unversöhnlichen Politik Thiers bzw. das brutale Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung in der Mai-Woche.27
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ni un grand écrivain. Les seuls artistes que l’on encourage réellement, ce sont les maçons de M. Haussmann. On leur a livré une ville entière, et ils ont fait une ville de plâtre, de cartonpierre et de simili-marbre« (NM, III: 672). In den »Lettres de Paris« des Sémaphore vom 28./29./30.05.1871 dokumentiert Zola die in Flammen stehenden Gebäude von Paris: »Quand ce cri a couru Paris: les Tuileries brûlent, le Louvre est menacé! la consternation a été grande, et j’ai vu des hommes, restés à l’écart jusqu’alors, qui se sont portés en foule sur le lieu du sinistre pour protéger nos richesses artistiques, notre Musée, un des plus complets de l’Europe. Mais la troupe était à l’œuvre, le Louvre était sauvé. Des Tuileries, il ne reste debout que le pavillon de Flore, reconstruit dernièrement. Le pavillon de l’Horloge s’est écroulé vers quatre heures. […] On ne peut d’ailleurs rendre encore un compte exact du désastre. […] A un kilomètre, on sentait la chaleur de ces masses énormes de matériaux incandescents« (NM, IV: 569). Noch fast zwanzig Jahre später wird er die Erinnerungen Edmond de Goncourts an die Kommune in dessen Journal bestätigen, was seine tiefe Erschütterung durch die Ereignisse unterstreicht: »Avant de quitter Médan, je relis, dans le volume que vous m’avez fait le grand plaisir de m’envoyer, vos Mémoires du Siège et de la Commune; et c’est bien certainement ce qui a évoqué en moi, avec le plus de vie intense, ces terribles mois que j’ai vus« (Corr, VII: 93). In den »Chroniques politiques« vom 10.06.1871 lässt er die Leser an seinem Gang durch die Trümmer der Stadt teilhaben (vgl. Sémaphore, NM, V: 480-483). Viele der Erinnerungen an die Ereignisse in Paris fließen in den Roman La Débâcle (1892) ein. Auch in den zu untersuchenden Romanen finden sich Spuren der Kommune (vgl. Kapitel 5, 6 und 7). Wichtig ist, dass sich Zola für die unfreiwillig in den Konflikt gezogenen Bewohner der Stadt bzw. die Reformen einfordernden, gemäßigten Anhänger der Kommune und nicht für die hitzigen Kommunarden einsetzt. In den »Lettres de Versailles« vom 17.08.1871 teilt er die Angeklagten der Kommune, darunter der Maler Gustave Courbet, in vier Gruppen ein: »les scélérats, les fous, les braves gens et les imbéciles« (Sémaphore, NM, V: 547; vgl. auch Becker 1980: 45). Ab Mitte April 1871 – La Cloche wird für kurze Zeit eingestellt, woraufhin Zola im Sémaphore klare Stellung zur politischen Lage bezieht – stimmt er Versailles insofern zu, als er eine Rückkehr zur Normalität und Ordnung herbeisehnt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass er die Politik oder Methoden Adolphe Thiers gutheißt (vgl. McNeil Arteau 2015: 128). Der Artikel im Sémaphore de Marseille vom 28.4.1871 lässt keinen Zweifel daran, dass Zola gegen die Pläne der Kommune ist, die Opfer der Auseinandersetzung aber beklagt: »Si la Commune s’était contentée de réclamer nos franchises municipale, la population entière aurait été avec elle. Je ne dois pas vous le cacher, Paris entend fermement se gouverner luimême […]. Mais si la grande ville entend désormais faire ses affaires elle-même, elle ne veut
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Zolas Berichterstattung beinhaltet zwei Aspekte, die Hinweise auf sein räumliches Verständnis geben. Erstens bedeutet für Zola die geographische Trennung zwischen der Nationalversammlung in Versailles und den Verhältnissen in Paris auch eine ideologische Trennung: Der Standort Versailles steht für die Monarchie, Paris für die Republik – Stillstand auf der einen, Fortschritt auf der anderen Seite (McNeil Arteau 2015: 124).28 Die räumlich gezogene Achse ist nicht neutral, son-
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en aucune façon prêter la main à la révolution dont le but avoué est de s’emparer du pouvoir central. Aussi la Commune vient-elle de commettre une grande faute en donnant à entendre qu’elle voulait se substituer au gouvernement de Versailles et régénérer violemment la France entière. […] Il faut qu’on la balaie de Paris, non à coups de canon, mais à coups de sifflets, comme le cortège débraillé de quelque carnaval sinistre, aux loques tachées de boue et de sang. Et, cependant, j’ai une grande pitié pour les victimes de cette épouvantable lutte. […] Les listes des morts et blessés que publient les journaux de Versailles sont navrantes à lire« (NM, IV: 480ff.). Dass sich Zola ab Mitte April 1871 vollends auf die Seite Versailles stellt, wie Guillaume McNeil Arteau annimmt (vgl. 2015: 128), kann nicht eindeutig bestätigt werden. Richtiger wäre mit Colette Becker zu sagen, dass Zola so lange Sympathien für die Kommune hegte, bis diese in eine revolutionäre Bewegung umschlug, während er selbst grundsätzlich aber die Unabhängigkeit der Stadt von der konservativen Regierung in Versailles unterstützte (vgl. Becker 1980: 44f.). Zola zeigt sich in seinen Artikeln für La Marseillaise nämlich sehr patriotisch und ist für die Mobilisierung aller Kräfte gegen Preußen (vgl. zum Beispiel den Artikel »Aux Armes!«, NM, IV: 283-285, 4-5.10.1870). Vittorio Frigerio wirft in einer jüngeren Studie ein neues Licht auf das Verhältnis von Anarchisten und Literaten Ende des 19. Jahrhunderts und führt (unter Rückgriff auf André Girard) vor, dass Zolas Gedankengut eine große Schnittmenge zu der anarchistischen Bewegung aufweist und beispielsweise der von Zola betonte Unterschied zwischen »révolution« der Anarchisten und seiner vertretenen Idee der »évolution« nur vordergründig eine Kluft zwischen beide Bewegungen trieb (vgl. Frigerio 2006: 18f.; den Unterschied erwähnt Zola zum Beispiel in dem Interview mit Jean Carrère für die Ausgabe des Figaro vom 25.04.1892, vgl. Speirs/Signori 1990: 91). In einem Brief vom 07.03.1892 an Paterne Berrichon bestätigt er: »[J]e suis, moi, un évolutionniste, croyant à un développement normal et continu que les coups de force ne peuvent ni hâter, ni arrêter« (Corr, VII: 253); bereits in Mes Haines äußert er sich kritisch Pierre-Joseph Proudhon gegenüber, der in Frankreich als Anarchist gilt (vgl. CDLP, X: 35-46). Elke Kaisers Forschungsergebnisse unterstreichen dies. Sie macht im Hinblick auf La Faute de l’abbé Mouret (1875) deutlich, dass Zola mit evolutiven, reformatorischen Elementen und revolutionären Elementen des Naturausbruchs arbeitet (vgl. Kaiser 1990: 71, Hervorh. J.K.). Während sich Frigerio das Gewicht von Zolas Werk in anarchistischen Schriften anschaut, betrachtet Eduardo A. Febles (2010) anarchistische Elemente in den Romanen Germinal (1885), Paris (1898) und Travail (1901). Vgl. zu Zolas Verhältnis zur Kommune auch Cogny (1980), Ripoll (1968), Brunet (2002), Baguley (2004) und Matlock (2013). Die »chroniques parlementaires«, die Zola zwischen 1871 und 1873 verfasst, bringen mehrfach die Rückwärtsgewandtheit der Deputierten in der Provinz zur Sprache (vgl. McNeil Arteau 2015: 125ff.). In dem Artikel »Une nuit à Versailles« ist beispielsweise zu lesen: »On dort à Versailles comme on dort au Père-Lachaise. En parcourant ces avenues, ces places, ces rues, si absolument désertes, je croyais traverser quelque cimetière énorme, quelque ville des morts […]. Enfin, si toute la droite se refuse à entendre le cri de la France, c’est qu’elle digère et dort
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dern mit Bedeutung gefüllt – »la géographie […] se dédouble en une cartographie du politique« konstatiert auch McNeil Arteau (2015: 126). Allein Paris ist in der Lage, Frankreich in Richtung der von Zola propagierten Republik zu bewegen. »Paris a été héroïque«, äußert Zola in einem Brief Louis Ulbach gegenüber (Corr, II: 277, 10.02.1871) und schreibt auch Cézanne einige Monate später voller Hoffnung: »Paris renaît. C’est, comme je l’ai souvent répété, notre règne qui arrive« (Corr, II: 294, 04.07.1871), womit er auf die intellektuellen Anhänger des Positivismus als mögliche Drahtzieher der zukünftigen Gesellschaft anspielt.29 Der zweite Aspekt, der abschließend hervorzuheben ist, ist Zolas Bewusstsein für einen Prozess, den Lefebvre Jahrzehnte später mit dem »Recht auf Stadt« verknüpft. Obwohl Zola die Kommune als »pastiche« der Situation von 1793 abtut (Sémaphore, NM, IV: 512, 7-8.05.1871), erkennt er dennoch, dass es sich um einen bedeutenden Eingriff eines Teils der Bürger in den Stadtraum bzw. die Einforderung der Teilhabe an politischen Prozessen handelt. Er wirft Thiers zu Beginn der Konflikte vor, nicht verstanden zu haben, dass die »insurrection de Paris n’est pas une simple émeute, et que, si les hommes de l’Hôtel de Ville sont encore au pouvoir, c’est que Paris entier réclame avec eux ses franchises municipales« (Cloche, NM, IV: 459, 11.04.1871). Er erläutert, dass die Herstellung von Ordnung, die Thiers anstrebt, nicht ohne die Zustimmung der Bürger erfolgen kann und dass die beste Art, »de rétablir l’ordre à Paris, ça serait de contenter les vœux de ses deux millions d’habitants, en déclarant Paris ville libre« (ebd.). Zusammenfassend führen die Kindheits- und Jugendjahre Zolas in der Provence sowie dessen (Anfangs-)Jahre in Paris eindrücklich die Ausbildung des »persönlichen räumlichen Haushalts« Zolas in Wechselwirkung mit dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« im Verlauf der Geschichte des Second Empire vor
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trop laborieusement, et qu’elle a dans les oreilles le grand silence de la province« (Cloche, 21.09.1871, NM, V: 571f.). Dass Zola kein Vertrauen in die Politik hegte, ist bekannt. Er schreibt Jules Vallès am 24.05.1879: »Je l’ai dit ailleurs, la politique, en nos temps troubles, est le lot des impuissants et des médiocres« (Corr, III: 336). McNeil Arteau sieht in Zolas Haltung einen Vorgeschmack auf seinen Einsatz gegen den Ordre moral der Dritten Republik und deren Fiktionalisierung der Realität im politischen Diskurs, was er in Son Excellence Eugène Rougon (1876) thematisieren wird (vgl. McNeil Arteau 2015: 133ff.). Zola betont in der »Campagne« im Figaro, dass Fortschritte nur von der Literatur angestoßen werden: »Je veux dire que la seule action réelle et durable se trouve dans la pièce écrite, et que les hommes politiques, si haut qu’ils soient, meurent à la tâche, […]. Nous sommes donc la grande force, avec notre encre et nos plumes. Les hommes politiques le savent bien, et c’est pour cela qu’ils affectent tant de mépris. […] Quand un artiste se lève, un frisson passe sur le peuple, la terre pleure ou s’égaie: il est le maître, il ne mourra plus, les siècles sont à lui« (»L’encre et le sang«, CDLP, XIV: 456f., 11.10.1880). Zolas Arbeiten in Mes Haines, seine stete Behandlung der question sociale und sein Einsatz in der Dreyfus-Affaire, um nur einige Punkte zu nennen, lassen Zola wenn nicht als militanten, dann aber als politisch engagierten Schriftsteller gelten.
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Augen. Die Zeit in der Provinz ist der emotionale Fluchtpunkt des Autors, hier entstehen die Erinnerungen an Orte der Geborgenheit und sein sinnlich-intuitives Naturempfinden, das später seine Bewertung der künstlichen Natur in der Stadt und zahlreiche Milieubeschreibungen leiten wird. Den intellektuellen Fluchtpunkt bildet der städtische Raum, dessen Verhältnis zur Provinz ein wichtiges Thema im räumlichen Haushalt Zolas bleiben wird. In Paris findet er die für ihn nötige »activité dévorante« der Moderne – Second Empire und Leben Zolas treffen sich in dem von Zola genannten Moment der »transition […] vers un avenir inconnu« (vgl. 4.1). Seinem Motto »Tout ou rien!« folgend (Corr, I: 232, Ende August-Anfang September 1860, À Baille, Hervorh. i.O.), trotzt Zola den anfänglichen Ausgrenzungsmechanismen in der Stadt und erarbeitet sich seinen Platz in der räumlichen Praxis des sozialen Raums. Von dieser Stellung aus setzt er sich mit dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt«, das heißt den politischen und soziokulturellen Belangen des Stadtraums, in seiner vollen Bandbreite auseinander – sei es die Situation der Arbeiter, genauer deren Stadtnutzung bzw. Recht auf Stadt, die Änderung des Stadtbilds oder der Bürgerkrieg der Kommune. Die Einblicke in den räumlichen Haushalt Zolas beweisen, dass der Autor die menschliche Produktion von Raum genauestens studiert hat. Diese Erfahrung präfiguriert Zolas Verständnis von Raum und übersteht auch den Angriff auf den libre arbitre in der Theorie des Naturalismus.
4.1.2
»L’activité dans les sciences« – Raumideologie und theoretische Erforschung des Raums
4.1.2.1
Stadtpolitik und Wissensdiskurse
Zolas Kommentare zu den räumlichen und soziokulturellen Veränderungen in Paris haben implizit bereits die Raumideologie der Stadtpolitik anklingen lassen. Im Folgenden sollen die zentralen Raumvorstellungen detektiert werden, die Zolas Verständnis von Raum und damit die Vorbereitung der Romane bzw. die Raumkonstitution im Roman beeinflusst haben. Neben dem stadtplanerischen Diskurs geht es in aller gebotenen Kürze auch um die Wissensdiskurse, die den Naturalismus Zolas geprägt haben. Dabei soll der Diskurs der Geographie als ein bislang vernachlässigter Diskurs der Zeit die Darstellung komplettieren.30 Eine Ausgangshypothese ist, dass die Raumideologie durch Metaphern vergegenwärtigt wird, die Literatur und Leitwissenschaften der Epoche als Hilfsmittel zur Erfassung raumzeitlicher Veränderungen einsetzen. Diese Metaphern strahlen aufgrund der »zeit-
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Vgl. zu den Arbeiten, die sich bereits mit der Prägung des Zolaʼschen Werks durch die Epistemai im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt haben, Kapitel 1, Fußnote 9. Im Folgenden sind daher lediglich die großen Entwicklungslinien mit partiellem Bezug auf diese Forschungen zu skizzieren.
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geistprägenden Autorität« (Luutz 2007: 32) der Disziplinen als »images-normes« in die »grands imaginaires collectifs de l’époque« (Lumbroso 2004: 74) und damit in die Raumwahrnehmung im Alltag aus.31 Sie finden schließlich nach dem Umweg über das mentale Lexikon des »raumideologischen gesellschaftlichen Haushalts« Eingang in den »persönlichen räumlichen Haushalt« Zolas. Da nicht alle räumlichen Metaphern kongruent mit der herrschenden Raumideologie sind, kann es zu konfliktuellen Raumvorstellungen kommen. So wird es möglich, die Ambiguität und Originalität der Raumbehandlung Zolas vor einem komplexen theoretischen Diskurshorizont der Zeit zu diskutieren. Die Politik der Stadtplanung im Zweiten Kaiserreich, das bedeutet der dominante Code des Raums im Bereich des espace conçu, kann mit Kriterien wie »Ordnung«, »Überwachung«, »Abstraktion«, »Transparenz«, »Exposition« und »Spektakel« beschrieben werden. Haussmann leitet eine »radical reorganization of public space« (Harvey 2006: 18) ein, die auf das Ziel der Implementierung der Macht Napoleons ausgerichtet ist (vgl. Nelson 1996: 23). Die Verbesserung der Ordnung, der Hygienestandards, der Ästhetik und des Verkehrs in der Stadt haben demnach weitreichende politische Implikationen, von denen nur einige genannt werden sollen. Die von Zola notierte Segregation des städtischen Raums führt zur Entstehung einer Banlieue; die Investitionen privater Bankiers in den Umbau der Stadt räumen ihnen eine ungeahnte Macht ein und verwandeln den urbanen Raum in eine Ware, um die spekuliert wird; auch das Parzellieren des städtischen Raums in funktionale Einheiten, das bedeutet aktive und passive, private und öffentliche Bereiche, wird verschärft (vgl. Ross 2008 [1988]: 42). Diesen Prozess versteht Lefebvre als Prozess der Abstraktion des Raums, da dieser ohne das Zutun der Bevölkerung verändert und für wirtschaftliche Zwecke instrumentalisiert wird.32 Ein konkretes Beispiel ist das veränderte Verhältnis der Bewohner zu den Wasserwegen in Paris. Vor dem Hintergrund der Säuberung der Stadt werden die petits métiers wie das Wäschewaschen an oder die Schiffmühlen auf der Seine verboten – der Fluss wird von einem Ort der Arbeit in einen Ort der Freizeit umfunktioniert. Ähnlich schränkt Haussmann die Nutzung des Kanals Bièvre, der ein geschäftiger Wasserweg war, auf die Ableitung von Abwässern ein. Das bedeutet, dass die Versorgungsmechanismen 31
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Oder um es mit Olivier Lumbroso (2004: 169f.) zu sagen: »La psychologie cognitive d’un individu s’articule aux modèles de pensées de son époque, à ses schèmes socio-économiques, philosophiques et techniques. Des sphères de résonance entourent le sujet cognitif: sphère sociale, épistémologique, idéologique, qui engage à percevoir aussi les schèmes comme des ›images-normes‹.« Lefebvre kommentiert: »Il a été dit et redit comment Haussmann a brisé l’espace historique de Paris au profit d’un espace stratégique, donc prévu et découpé comme tel; les critiques n’ont peut-être pas assez insisté sur la qualité de l’espace ainsi blessé à mort; il comportait le double réseau des passages et des rues, haute et rare complexité qualitative« (Lefebvre 2000 [1974]: 360).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
der Stadt bewusst im Verborgenen bleiben und die Seine ästhetischen Zwecken und damit der Repräsentation und Stärkung des Staats unter Napoleon dient (vgl. Cohen 2003: 22ff.; vgl. auch Parkhurst-Ferguson 1997). Die Inszenierung Napoleons als imperialer Herrscher wird auch durch den Einsatz neuer Baumaterialen wie Glas und Eisen in der Architektur, die imposanten Boulevards und Monumente, öffentliche Paraden sowie Feste und Weltausstellungen befördert. Laut Philippe Hamon (1989:10) entsteht durch die Architektur la ›mise en scène‹ de la vie quotidienne (E. Goffman) et de ses rituels dans lesquels ›s’expose‹ le social, rituels fondés sur […] des oppositions meuble-immeuble, privé-public, sacré-profane, dedans (l’intimité)-dehors (l’exposition, l’exhibition). Die Architektur wird zum materiellen Träger einer Kultur des Spektakels im öffentlichen Raum – »spectacular in the most oppressive sense of the word« (Clark 1984: 36; vgl. auch Debord 1992 [1967], Schwartz 1998, Fureix/Jarrige 2015) –, denn die Kultur des Spektakels soll mit ihren neuen Verkaufsstätten, den Kaufhäusern, über ihr Ziel der Profitsteigerung und das Regulieren des Kaufverhaltens hinwegtäuschen. Das neue Image der anziehenden Stadt wird notwendig, da diese ihre Form der »contingent unit […], a potential site for the construction of utopian dreams of a nurturing social order« (Harvey 2006: 23) verloren hat. Hannah Thompson bestätigt, dass Paris in der Wahrnehmung der Bourgeoisie nach den Revolutionen von 1830 (und 1848) zum Unruheherd wird. Eine Angst vor Krankheiten und vor der »opacity of the poorest neighboorhoods« (Thompson 2003: 544) setze ein, auf die die Obrigkeit mit einer Architektur der Transparenz, dem Kult der Exposition und einem Mechanismus der Überwachung reagiere (vgl. ebd.: 545 und Harvey 2006: 24). Die Boulevards zum Beispiel haben nämlich nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine strategische Funktion. Sie sollen einerseits den Verkehr in der Stadt erleichtern und andererseits den Bau von Barrikaden bei möglichen Aufständen erschweren. Ist dies eine Maßnahme zur Kontrolle des öffentlichen Raums, gilt es auch den privaten Raum zu regulieren. Es wird ein Netzwerk von Informanten eingesetzt, zum Beispiel Concierges oder Polizisten in Zivil, die Personen gezielt aushorchen sollen (vgl. Harvey 2006: 29). Dennoch wird das Ziel der absoluten Durchleuchtung der Stadt im Sinne des Panopticons bei Foucault nicht erreicht: »Governance by spectacle, it turns out, is a very chancy business: it can all too easily spin out of control to produce unintended and sometimes quite surprising consequences«, schreibt David Harvey (ebd.: 28).33 Obwohl versucht wird, weite Teile der Stadt nach sozialen Gruppen zu homogenisieren, kommt es in den neuen Parks oder auf den Boulevards zu einer 33
Zum Vergleich der Stadt mit einem Ort der Kontrolle im Sinne Foucaults schreibt Margaret Wetherill (2004: 154): »Foucault has encouraged us to see Haussmann’s Paris as a place of supervision and control. […] It is a space of cause and effect, classification and categories.«
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Vermischung der Klassen, die nur schwer zu kontrollieren ist. Trotz der Öffnung der beengenden Verhältnisse im Stadtzentrum bleiben mittelalterliche Strukturen in anderen Teilen der Stadt bestehen. Die Randgebiete von Paris wiederum entwickeln sich zu jenen Orten, in denen politische Gegenbewegungen ihren Anfang finden, welche in die Pariser Kommune übergehen. Die Kommune ist ein Beispiel für die »geopolitical struggles […] that were intensely symbolic of clashing ideologies in the public sphere of politics« (Harvey 2006: 31). Nicht nur erobern die Aufständischen das Stadtzentrum zurück; sie greifen die Raumideologie der Funktionalität und des Spektakels an, indem sie durch den Barrikadenbau die Fluchtlinien der Stadt zerstören und den fließenden Verkehr aufhalten, den Privatraum durch geheime Netzwerke zwischen den Häusern in einen öffentlichen Raum umkehren und visuelle Symbole der Macht wie die Vendôme-Säule niederreißen (vgl. Ross 2008 [1988]: 5, 33, 41f.). Mehr noch als ein Angriff auf die Politik der ThiersRegierung ist dies ein Angriff auf die raumideologische Bewusstseinsmanipulation durch die Obrigkeit bzw. eine Veränderung der raumzeitlichen Organisation von Paris.34 In der Folge zeichnet sich die Raumideologie der Stadtpolitik durch eine komplexe Sicht auf Paris und seine Bewohner aus, die sich durch Exlusion, Opazität und geschlossene Räume auf der einen und Inklusion, Transparenz und offene Räume auf der anderen Seite charakterisiert (vgl. Thompson 2003: 525).35 Wichtig ist, dass die Transparenz zwar eine Öffnung des visuell wahrnehmbaren, materiellen Raums nach sich zieht, der politische Zweck der Transparenz aber die Kontrolle ist, weshalb die Ordnung des espace conçu im sozialen Raum eine geschlossene ist. Die Politik Haussmanns wird in räumlichen Metaphern versinnbildlicht, die den Raum auf die mathematische Vorstellung eines homogenen, euklidischen Raums der Geometrie bzw. eines absoluten Raums der klassischen Physik Newtons reduziert (vgl. Lefebvre 2000 [1974]: 25 und Kern 2003 [1983]: 132). Eine Idee des »cadre« entwickelt sich zum »principe épistémologique dʼépoque« (Lumbroso 34
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Den symbolischen Wert der Barrikaden präzisiert Kristen Ross (2008 [1988]: 36, Hervorh. i.O.): »[I]n contrast to the unique, well-suited, and centralized civic monument, whose aura derives from its isolation and stability, barricades were not designed around the notion of a unique ›proper place‹ […]. Monumental ideas of formal perfection, duration and immortality, quality of material and integrity of design are replaced by a special kind of bricolage – the wrenching of everyday objects from their habitual context to be used in a radically different way.« Die Zerstörung der Vendôme-Säule sieht sie als »refusal of the dominant organization of social space and the supposed neutrality of monuments« sowie als »accomplishments in the imaginary or preconscious space that lies outside specific and directly representable class functions – the space that could be said to constitute the realm of political desire rather than need« (ebd.: 39). Peysson-Zeiss (1998: 103) zufolge besteht der »dualisme entre l’idée d’espace fini et celle d’ouverture« in der Wahrnehmung der Stadt seit dem 18. Jahrhundert. Der Abriss von Stadtmauern habe unter anderem dafür gesorgt, dass die Stadt nicht mehr als autonome Einheit und vom Umland getrennt gedacht worden sei (vgl. ebd.).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
2002: 119 und 2004: 31).36 Sie koppelt sich unter anderem in der Philosophie Hippolyte Taines oder dem Positivismus Auguste Comtes an eine teleologisch gedachte Geschichte, für die der Raum lediglich als Handlungsdekor fungiert (vgl. Westphal 2007: 9f., Osterhammel 2011: 141 und Baßler et al. 1996: 22). Es ist diese dem Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts inhärente Idee des Fortschritts, der Dynamik und der Transformation von Systemen in homogenisierten Räumen, die sich in der räumlichen Metapher des sich horizontal ausspannenden Zeitstrahls verdichtet und den »fondement idéologique du champ scientifique« (Gural-Migdal 2003: 19) darstellt. Sie tritt im Stadtdiskurs subtil in der »culte de l’axe« oder dem Bild des steten (Geld-)Flusses in Erscheinung (Giedion 2015 [1941]: 460; vgl. auch Welch 2003: 40 und Castells 2000). Für Donald M. Lowe basiert die dominante epistemologische Ordnung im bürgerlichen Zeitalter daher auf einer »immanent, rational spatial representation« (Lowe 1982: 59, 13), die sich auf die visuelle Wahrnehmung konzentriert. Entsprechend sieht Antoine M. Paccoud in der Haussmannisierung einen Versuch, »to impose the rationality of the visual over an urban space, to make it conform to the abstract space sought by the state« (Paccoud 2012: 10). Diese visuelle Form der Repräsentation prägt nicht nur den mentalen Haushalt der Gesellschaft, sondern auch den »persönlichen räumlichen Haushalt« Zolas. Es ist kein Zufall, dass die Theorie Zolas von der Dichotomie von Opazität und Transparenz bzw. der Betonung des Sehsinns durchzogen ist. Zola ist ein Verfechter der Moderne »[qui, J.K.] se précipite […] dans un sentier de l’avenir« (Corr, I: 169) – »je suis de mon temps« bestätigt er Jean Baptistin Baille im selben Brief (ebd.: 170), was sich zum einen auf seine Verbundenheit mit dem aktuellen Zeitgeschehen und zum anderen auf die von ihm geteilte »evolutionistische Fortschrittsideologie« (Kaiser 1990: 60) bezieht (vgl. Wrona 2011: 25).37 Indem sich Zola den positiven Wissenschaften verpflichtet, übernimmt er die Vorstellung einer transitorischen, 36
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Olivier Lumbroso orientiert sich bei der Einordnung Zolas in die rahmenden oder panoramatischen Projekte von Literatur, Architektur und Wissenschaften seiner Zeit unter anderem an den Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Blick in die einzelnen Disziplinen »révèle[nt] que le cadrage fournit l’opérateur topologique de la pensée omnisciente qui circonscrit, conquiert, mesure, en quadrillant l’espace infini, en le ramenant à la succession ou l’emboîtement d’aires délimitées« (Lumbroso 2004: 31). Auch Mitterand knüpft in seiner Besprechung der Raumgenese in La Bête humaine an das Konzept der Linie an, »un mode de délimitation de l’espace terrestre, mais aussi un mode de délimitation des structures du récit« (1994a: 90). Lumbroso diskutiert zudem die Funktion der Metaphern im Text: Während die Gerade Homogenität erzeugen soll, steht die Kreuzung demgegenüber für eine polyphone oder dichotome Unterteilung des »espace stratifié et hiérarchisé, qui révèle les mécanismes idéologiques sous-jacents de la société impériale« (Lumbroso 2004: 87). In seinem Kommentar zu Edmond und Jules de Goncourts Germinie Lacerteux bringt Zola dies erneut in der Befürwortung von Thema und Stil des Buchs zur Sprache: »Mon goût, si l’on veut, est dépravé; j’aime les ragoûts littéraires fortement épicés, les œuvres de décadence
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einem Optimalzustand entgegenstrebenden Epoche.38 Zola zufolge lösen neue Erkenntnisse in den Wissenschaften und neue Technologien eine Weiterentwicklung der Gesellschaft aus. Doch auch der Literatur obliegt es, die Menschen durch die Erhellung des Geistes in eine bessere Zukunft zu führen.39 Laut Wrona ist es ein einfaches Unterfangen, die Dichotomie von Opazität und Transparenz des Stadtdiskurses in den Schriften Zolas zu detektieren, das heißt de retrouver dans le paysage urbain les traces de la fiction zolienne; de voir dans l’architecture de verre et de fer la manifestation d’une esthétique d’époque […]. ›Écriture de la transparence‹ (Hamon 1968) et invention de la maison de verre (Hamon 1989) ont partie liée […] au [19e , J.K.] siècle (Wrona 2005: 139). Zola findet in der Logik des urbanen Projekts die Grundlagen für seine Romankonzeption (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Die Transparenz der Schrift ist nötig, um dem Leser Ideen und Erkenntnisse mitzuteilen.40 Er nennt die Bedeutung des Sehsinns
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où une sorte de sensibilité maladive remplace la santé plantureuse des époques classiques. Je suis de mon âge« (CDLP, X: 62). Einige Beispiele seien zu nennen. Schon 1864 verfasst Zola einen aussagekräftigen Text mit dem Titel»Du progrès dans les sciences et dans la poésie«: »C’est une idée grande et belle que celle de l’humanité en marche vers une cité idéale, cité de justice et de liberté. […] La science lui ouvre les voies […]« (CDLP, X: 310, 314). In Mes Haines (1866) heißt es: »Eh quoi! nous en sommes à cet âge où […] l’esprit humain est en enfantement d’une vérité nouvelle […]. Les horizons s’élargissent, la lumière monte et emplit le ciel« (CDLP, X: 23). Auch in den »Notes générales sur la marche de l’œuvre« (1868) scheint in der Skizze der Ausrichtung seiner Familiensaga das historische Bewusstsein der Zeit durch: »[J]e veux peindre, au début d’un siècle de liberté et de vérité, une famille qui s’élance vers les biens prochains, et qui roule détraquée par son élan lui-même, justement à cause des lueurs troubles du moment, des convulsions fatales de l’enfantement d’un monde« (N.a.f. 10345: fo 3). Im Roman expérimental (»Le naturalisme au théâtre«) nennt er die »évolution constante de l’esprit humain« (CDLP, X: 1233) und trifft später in »La République et la Littérature« die Aussage »la République sera naturaliste ou elle ne sera pas« (ebd.: 1380), die symptomatisch für den Glauben an den positivistischen Fortschritt ist. Zola sieht den Künstler in der Rolle des»poète [qui, J.K.] se doit au progrès [et qui, J.K.] peut pousser très loin l’humanité dans la voie du progrès« (Corr, I: 206, 25.07.1860, À Baille). HansJoachim Müller nach zu urteilen weist der Roman expérimental (1880) zwar bereits eine Evolutionstheorie auf, doch »[ist sie] vollständig säkularisiert und [befaßt] sich ausschließlich mit politischen und sozialen […] Problemen« (Müller 1977: 24; vgl. auch Müller 1981). Es ist richtig, dass eine utopische Vorstellung eines auf Erkenntniszuwachs bauenden, fortschrittlichen Gesellschaftssystems erst in den späteren Werken von Les trois villes und Les quatre évangiles zur wirklichen Entfaltung kommt. Dass dies ein übergeordnetes Ziel des Romans im 19. Jahrhundert ist, bemerkt Eléonore Reverzy: »L’œuvre des romanciers du XIXe siècle se place au cœur de ce débat [sur la transparence et l’obscurité, J.K.], puisqu’elle tend tout à la fois au didactisme et à ›l’expression personnelle‹ (Zola). Le roman du XIXe siècle cherche à incarner le sens, à mettre en image l’idée« (Reverzy 2007: 53). Zuletzt hat sich Piton-Foucault (2015 [2012]) eingehend mit der Oppositi-
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
für den Romancier und dessen Darstellung der Wirklichkeit unter anderem in dem bekannten Bernard-Zitat aus dem Roman expérimental: »[Il] constate purement et simplement les phénomènes qu’il a sous les yeux. […] C’est presque toujours ici une expérience ›pour voir‹« (CDLP, X: 1178, Hervorh. J.K.). Zola entwirft den Sehsinn als das adäquate Mittel zur Aufnahme der Realitätsdaten und zur Einlösung des positivistischen Projekts, die Dinge so wiederzugeben, wie sie sich dem Beobachter in der Wirklichkeit darbieten. Er greift damit auf das simplifizierende Denken der Raumideologie über eine konstruierte Sinneshierarchie zurück, in der das Sehen neben dem Hören als Sinneswahrnehmung der Moderne und Ordnung gilt (vgl. Jütte 2000: 72). Dies fasst Jacques Noiray folgendermaßen zusammen:41 Voir, c’est contrôler et posséder. Voir, c’est pouvoir. […] C’est par la vue, mieux que par tout autre sens, que s’organise une nouvelle maîtrise du monde qui passe par la possession des biens et l’accumulation visible des choses. En même temps, voir, c’est comprendre, dans un monde en voie de rationalisation où tout système d’explication du monde repose sur le classement […]. Voir, c’est aussi vérifier. […] Le regard est la condition du vraisemblable (Noiray 2005: 376f.). Zola verpflichtet sich dem Glauben »that the eye could embrace, within the act of seeing, the faculties of cognition and imagination required for scientific analysis and literary creation« (Berg 1992: 60) und beschreibt den Sehsinn als zuverlässiges Messinstrument der Außenwelt.42 Es wird allerdings zu zeigen sein, inwiefern Zo-
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on von Transparenz und Opazität im Werk Zolas auseinandergesetzt, betrachtet diese aber nicht explizit in räumlicher Hinsicht. Vgl. hierzu auch Hamon (1968). Die Vorrangstellung des Sehsinns vor den anderen Sinnen wächst laut Marshall McLuhan im 19. Jahrhundert aufgrund technologischer Veränderungen wie der Photographie oder des Lichtdrucks noch weiter (vgl. McLuhan 2005 [1961]: 43). Besonders die Soziologie und die Anthropologie haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten um eine Neubewertung des Sinnesdiskurses verdient gemacht. Sie zeigen unter anderem mit Beispielen aus anderen Kulturkreisen, inwiefern eine Sinneshierarchie und überhaupt die Anzahl der menschlichen Sinne kulturelle Produkte sind, die gesellschaftliche Klassenverhältnisse widerspiegeln und historischen Wandlungen unterliegen (vgl. Howes 1991, 2003, 2005, Classen 1993, 1994, 1998 und Corbin 1986, 2000). Vgl. auch die in Kapitel 3 zitierte Aussage Zolas, das Kunstwerk sei ein »coin de la nature vu par un tempérament« (vgl. Fußnote 32). William J. Berg entwickelt eine Poetik des Sehens in Zolas Werk anhand der Theorie des Naturalismus und der Schriften zur Kunstkritik. Während Zola in den Abhandlungen zu den Impressionisten vermehrt das natürliche, primitive Auge oder die direkte Wahrnehmung des Künstlers, das heißt eine realitätstreue, befreite Weise des Sehens lobt, führt er diese und weitere Prinzipien über die rigorose Analyse, die genaue Beobachtung und die Kreativität und Freiheit des Romanciers in die Theorie des Naturalismus ein, die sich dadurch zwischen den Attributen der Wissenschaftlichkeit und der Empfindsamkeit des Sehens aufspannt (vgl. Berg 1992: 29-60). Für Lumbroso besteht eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Visuelle bei Zola seit seiner Schulzeit; er verweist auf den Eintrag Zolas zum Geometrieunterricht in Aix im Vergleich zu Paris (vgl. Lumbroso 2004:
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la in Theorie und Praxis auch auf die sogenannten niederen Sinne zurückgreift. Der philosophische Sinnesdiskurs der Aufklärung bringt Tast- und Geruchssinn mit Primitivät, Unordnung, Gefahr sowie dem Weiblichen und den unteren Klassen in Verbindung. Das bedeutet, dass mit der Sinneswahrnehmung immer auch eine soziale Hierarchie korreliert – die Frau gilt als körperbetont und wenig rational, die unteren Klassen verhalten sich animalisch (vgl. Stewart 2005: 62, Kapitel 5, Fußnote 23 und Kröger [i. Ersch.]). Hieran bindet sich dann auch die Vorstellung, dass die Arbeiterklasse in dunklen Behausungen wohnt und grundsätzlich undurchsichtig ist. Wenn Zola dann eben diese für opak gehaltenen Sinne und Mitglieder der Gesellschaft in der Literatur porträtiert, kommt dies einem Angriff auf die Logik von Ordnung und Transparenz der Raumideologie gleich. Dass Zola per se eine Resistenz gegenüber der Raumideologie entwickelt, betont Adelina Wrona: L’architecture transparente, dans le roman zolien, mais aussi généralement dans le goût de l’époque, ne le reste jamais tout à fait; […] rien n’est plus aisé […] que de fermer la fenêtre ouverte sur la ville, et de trouver dans la pénombre de l’espace […] le lieu fécond d’une rêverie moins soumise à la dictature du réel (Wrona 2005: 140f.). Wrona entnimmt den Arbeiten Zolas neue Bilder, »[de, J.K.] nouvelles fantasmagories« (ebd.: 141), die nicht mehr einfach zu entschlüsseln sind (vgl. auch Marin 2003). Ähnlich verhält es sich mit Zolas Glauben an die Fortschrittsideologie und dem Bild der geraden Linie. Elke Kaiser kommt zu dem Schluss, dass Zola das Potential der Wissenschaften, das Geheimnis der force vitale des Lebens aufzudecken, im Laufe der Zeit für begrenzt erachtet (vgl. Kaiser 1990: 61f. und van Tooren 1998: 24). Der Autor konzeptualisiert weder eine reine Erfolgsgeschichte der Menschheit noch verschreibt er sich ganz dem Glauben an den Vitalismus der Natur, sondern beschreibt mit Blick auf die Degenerationstheorie Bénédict Augustin Morels auch den Verfall des Menschen im Zeichen des natürlichen Mortalismus (vgl. Föcking 2002). Diese gegensätzlichen Menschenbilder haben Folgen für sein Verständnis von Raum sowie die Repräsentation von Geschichtsabläufen. Mit der Degenerationstheorie Morels und der Evolutionstheorie Charles Darwins kommt die Idee mannigfaltiger, netzartiger historischer Gemenge auf den Plan, die dem Bild der geraden Linie der Geschichte mit einer prinzipiellen Offenheit entgegenläuft (vgl. ebd.: 288):
41). Das Vorwort zum Buch Lumbrosos trägt dann auch den Titel »Zola, le visuel« (Lumbroso 2004: 13ff.). Irene Albers thematisiert die Bedeutung des Photographischen im Werk Zolas. Der Autor betone häufig die »photographische« Genauigkeit, die für die Aufnahme der Daten aus der Realität notwendig sei (vgl. Albers 2002: 33ff., 221ff.). Vgl. hierzu auch Mitterand (1987).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Metaphern des Baumes, des Korallenriffs oder des Netzes tragen [der, J.K.] nichtgerichteten, offenen und nicht qualitativ-hierarchischen Komplexität Rechnung und illustrieren gleichzeitig den tiefendimensionalen Erkenntnisweg, der von einer scheinbar chaotischen Oberfläche zusammenhangloser Phänomene durch das Zurückverfolgen der genealogischen Linien in der Vertikalität der Geschichte auch für die Horizontalität der Gegenwart Ordnung schaffen kann (Föcking 2002: 286f.). Hiermit ist ein Schritt in Richtung eines topologischen, räumlichen Denkens vollzogen, das von der Simultaneität von Strukturen bzw. der Parallelität historischer Prozesse ausgeht.43 Es kann also festgehalten werden, dass Zola der Verfechter einer ambigen Raumideologie ist. Er interessiert sich für teleologische und mathematische Strukturen, dekonstruiert diese aber gleichzeitig »par l’imprévisible, les aléas, la naturalité étrange et inquiétante de l’organique, du corporel, du vécu, et du temps« (Mitterand 2006: 328).44 Seine praktische Erforschung des Pariser Raums ist viel intuitiver als es sein ordnendes Denken vermuten lässt. Dass sein Verständnis von Raum sowie sein methodisches Vorgehen in diesem Kontext deutliche Parallelen zur sozialen Geographie der Zeit aufweist, wird im Anschluss gezeigt.
4.1.2.2
Émile Zola und die soziale Geographie
Die Wirkkraft der dominanten Raumideologie greift in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so weit, dass eine reale diskursive Vielfalt verdeckt wird. So ist die 43
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Zu akzentuieren ist die Formulierung Marc Föckings, dass das tiefendimensionale Zurückverfolgen der genealogischen Linien Ordnung schaffen kann; durch die Relativierung der Macht der Wissenschaft erkennt Zola einen Zustand der erkenntnistheoretischen Offenheit an (vgl. Kaiser 1990: 61). Es herrscht Einigkeit darüber, dass in Zolas Romankonzeption teils widersprüchliche Wissensdiskurse und räumliche Metaphern verschmelzen, die die histoire naturelle und die histoire sociale widerspiegeln. Abhängig vom wissenschaftlichen Referenzsystem, das die Forschung der Theorie Zolas jeweils zugrunde legt, resultieren daraus unterschiedliche Verräumlichungen der Naturalismus-Konzeption. Während Hans Ulrich Gumbrecht (1978) die Dichotomie von Kultur und Natur aufrechterhält, evoziert Elke Kaiser im Anschluss an Hans Robert Jauß und Wolf Lepenies das Bild der Spirale, das Zolas ambige Theorie »als Komromiß zwischen Zyklik und Teleologie, zwischen Natur und Geschichte« (Kaiser 1990: 72) aufhebt. Während Elke Kaiser im Zolaʼschen Werk vor allem Einflüsse der Milieutheorie, des Physiologismus, des Darwinismus und der Psychoanalyse Sigmund Freuds entdeckt, macht Marc Föcking das von der Forschung vernachlässigte Entartungskonzept Prosper Lucasʼ und Bénédict Augustin Morels stark und entwirft das Bild des Netzwerks (vgl. ebd.; vgl. Föcking 2002: 287; vgl. auch Schmitz 2016). Zur Verbindung Zola–Darwin vgl. Schmidt (1974), Woollen (1980), Niess (1980), Lyle (2008), Baguley (2014). Dass dies Auswirkungen auf den Text-Raum, das heißt die formale Komposition des Romans nimmt, vermerktPhilippe Hamon: »Avec Zola, on passe d’une esthétique de la liaison à une esthétique de la ponctuation, d’une esthétique linéaire du récit à une esthétique ›topologique‹ du texte« (Hamon 2011 [1983]: 319).
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Verbindung von Zolaʼschem Naturalismus und Geographie bislang nicht ausreichend betrachtet worden. Denn dass Berührungspunkte zwischen Zola und der Geographie bestehen, wurde bereits von Philippe Hamon vermerkt (2004a, vgl. Kapitel 1). Auch Henri Mitterand bezeichnet die Arbeitsbücher Zolas als »une espèce de géographie sociale de la France des trois dernières décennies du XIXe siècle, un tableau général des conditions et des mœurs« (Mitterand 1987: 81). Amr Tawfik Kamal schließlich vergleicht Zolas Projekt der Rougon-Macquart sogar mit einem der Gründerväter der modernen Geographie, Vidal de la Blache, speziell in Bezug auf dessen Tableau de la géographie de la France (1903): Just as Vidal analyzes French society through the depiction of geographic, or spatial, tableaux, Zola depicts iconic sites or spaces of the Second Empire […]. Zola’s naturalist writing is itself a tableau de la géographie de la France, which takes into account the impact of milieu on the individual. Just as Vidal de La Blache and Michelet asked what circumstances made France and Frenchmen into what they are, and how they shaped, and were shaped by, their environment, Zola’s series tracks the history of the members of this family and its behavior in different locales (Kamal 2013: 131). Kamals Schlussfolgerung ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Zola auf einen klassischen Milieudeterminismus reduziert wird. Obwohl eine Nähe zu Vidal de la Blache nicht geleugnet werden soll, ist es doch wichtig, den geographischen Diskurs weiter nach jenen Stimmen abzusuchen, die sich tatsächlich einer sozialen Geographie verschrieben haben. Denn de la Blache bleibt mit seiner Methodologie beschreibender Taxonomien letztlich einem Denken verhaftet, das »the social and economic contradictions of which space is the material terrain« (Ross 2008 [1988]: 87) vernachlässigt und den Raum als natürlichen Referent, ganz im Fahrwasser der dominanten Raumideologie, lediglich in seinem »perceptible, visible aspect« (ebd.: 86) betrachtet.45
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Die Stellung Vidal de la Blaches in der französischen Geographie ist umstritten. Marie-Claire Robic beklagt die vorschnelle Engführung von Vidal und dem Possibilismus und macht darauf aufmerksam, dass dieser sehr facettenreiche Diskurs in der Forschung vereinfacht wurde (vgl. Robic 2000 und 2002). Olivier Orain führt diesen Gedanken fort und eruiert, inwiefern der von Lucien Febvre angestoßene Dualismus von Determinismus und Possibilismus in den 1930er Jahren von der amerikanischen Schule (Carl Sauer, Robert B. Hall, Harry E. Moore) und nach dem Krieg von Paul Claval gefestigt wurde (vgl. Orain 2007). Er untersucht den 1903 von Vidal in der Revue de synthèse veröffentlichten Artikel »La géographie humaine. Ses rapports avec la géographie de la vie« auf seine possibilistischen Anteile und kommt zu folgendem Urteil: »Par voie de conséquence, la géographie humaine de Vidal n’est en aucun cas ›possibiliste‹ mais déterministe en généralité et indéterministe dans lʼétude des cas particuliers« (Orain 2007).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Vidal de la Blache leistete einen wichtigen Beitrag dazu, die Grundlagen der geopolitischen Raumideologie Frankreichs zu legitimieren. Die imperialen Bestrebungen konnten nämlich von einem Raumverständnis zehren, das neben den bereits genannten Homogenisierungen des Raums ein undialektisches Verhältnis zwischen Mensch und Natur propagierte, »which is to say, nonhistorical – and one in where all alterity is absent« (Ross 2008 [1988]: 87). Dieses vereinfachende Denken vom Raum wurde zudem dadurch befördert, dass die Geographie mit ihren Kenntnissen bzw. kartographisch präziseren Vermessungen der Welt erstens die Voraussetzungen für die erfolgreiche Einnahme und Beherrschung der Kolonien, zweitens überhaupt erst eine Vorstellung klar umrissener Territorien und damit drittens ein gesteigertes Nationalgefühl schuf.46 Die Fortschritte in der Geographie spielen dem bürgerlichen Wirtschaftswachstum in die Karten, oder wie Kristin Ross es bilanziert: »Geography […] is not born during the triumph of the bourgeoisie; its development is part and parcel of that triumph« (Ross 2008 [1988]: 93, Hervorh. i.O.). Das Gros der geographischen Institutionen nämlich fügt sich ganz der staatlichen Politik im Zeichen der Rehabilitation Frankreichs nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen und verkommt laut Ross zur »propaganda […] for voyages and explorations« (ebd.: 94). Diese Geographie fasziniert ein breites Publikum und schürt die Phantasmagorie der »geraden Linie« Haussmanns zum Beispiel in dem Ziel, die direktesten Wege zwischen den Ländern zu erkunden und die Eisenbahnnetze entsprechend auszubauen (vgl. ebd.: 95). Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die geographischen Arbeiten des militanten Anarchisten und Kommunarden Élisée Reclus aufgrund ihrer politischen Brisanz bzw. seiner Ablehnung des Imperialismus in Frankreich auf Missbilligung stießen (vgl. Pelletier 2013: 152ff.). Doch ist er erst derjenige, der eine soziale Geographie ins Leben ruft (vgl. Scheibling 2011: 17). Der Epigraph zu seinem aussagekräftigen Werk L’Homme et la Terre (1905) lautet: »La géographie n’est autre chose que l’histoire dans l’espace, et l’histoire la géographie dans le temps.« Anders als Vidal de la Blache erschließt Reclus die Mechanismen des sozialen Raums in ihrer
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Nicht umsonst wurde die Niederlage gegen Deutschland 1871 auf das fehlende geographische Wissen des Militärs zurückgeführt, woraufhin der Ausbau der Geographie vorangetrieben wurde. Kristin Ross spricht von einem »geographic fever« in den Folgejahren (2008 [1988]: 93) und zählt hierzu die Gründung von Akademien und Zeitschriften (L’Explorateur, Revue de géographie), das Abhalten zahlreicher Kongresse und den Ausbau des Geographieunterrichts in den Schulen (vgl. ebd.). Zola kennt diesen Diskurs über die fehlende Vorbereitung der französischen Soldaten und nimmt darauf in seinem Roman La Débâcle (1892) Bezug. In einem Gespräch mit General Bourgain-Desfeuilles sagt Colonel de Vineuil: »C’est idiot tout de même! Comment voulez-vous qu’on se batte dans un pays qu’on ne connaît pas! Le colonel eut un vague geste désespéré. Il savait que, dès la déclaration de guerre, on avait distribué à tous les officiers des cartes d’Allemagne, tandis que pas un, certainement, ne possédait une carte de France« (D: 472).
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Historizität und räumt dem Menschen einen entscheidenden Platz in der Veränderung von Raum ein, denn: »La géographie n’est pas chose immuable, elle se fait, se refait tous les jours: à chaque instant, elle se modifie par l’action de l’homme« (Reclus 1905: 335; vgl. auch Ross 2008 [1988]: 91).47 Zu Recht gilt er als ein »Beziehungsdenker [im modernen Sinne, J.K.], niemand, der in Kategorien verdinglichter Großregionen denkt« (Osterhammel 2011: 142) und sollte deshalb mit Bezug auf Paul Rabinow zu den Mitbegründern eines »Social-Spatial Turn« im späten 19. Jahrhundert gezählt werden (vgl. Rabinow 1995: 194 und Ross 2008 [1988]: 91ff.).48 Zolas Einstellung zur Geographie kann mithilfe verschiedener Fragmente aus seinem Werk erschlossen werden. Sie geben Rückschlüsse auf Zolas Raumverständnis, das nicht allein durch die biologischen und philosophischen Diskurse, sondern auch vom geographischen Denken geprägt wird. Er zeigt früh ein Bewusstsein für die zunehmenden territorialen Grenzziehungen: »[L]es peuples se soulèvent, les empires tendent à l’unité« (Corr, I: 169, 02.06.1860), äußert er und spielt damit auf die Prozesse der Nationalisierung und das Ringen um die Hegemonie in Europa an. Die Prämisse für Zolas Thematisierungen der Geographie ist ihre Zugehörigkeit zum »nouvel esprit du siècle« (»Lettres de Paris«, NM, VIII: 644) und der Rückstand Frankreichs im Bereich des geographischen Wissens. »[N]ous étions d’une ignorance crasse en histoire et surtout en géographie, justement parce que ces sciences touchent de trop près au monde vivant«, berichtet Zola im März 1877 (NM, VIII: 644) und führt dies auf die »haine pour l’actualité vivante«
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In dem Artikel »De l’action humaine sur la géographie physique: l’homme et la nature« der Revue des deux mondes vom 01.12.1864 drückt er dies wie folgt aus: »A mesure que les peuples se sont développés en intelligence et en liberté, ils ont appris à réagir sur cette nature extérieure dont ils subissaient passivement l’influence; devenus, par la force de l’association, de véritables agents géologiques, ils ont transformé de diverses manières la surface des continents, changé l’économie des eaux courantes, modifié les climats eux-mêmes« (Reclus 1864: 762). Dazu erklärt Kristen Ross (2008 [1988]: 86): »Vidalian geography, composed as it is in the late nineteenth century, is striking in its almost total evasion of ongoing historical developments like the industrial revolution or colonialism, famines or the rise of urbanism. Cities figure very little in Vidalian geography.« Laut Paul Rabinow hat ein historischer »Spatial Turn« bereits mit der Institutionalisierung der deutschen und französischen Geographie im 19. Jahrhundert stattgefunden (vgl. Rabinow 1995: 194). Im Gegensatz zu dem Containerraumdenken der deutschen Geographen habe sich in Frankreich eine auf soziale Faktoren ausgerichtete, fortschrittlichere Raumdisziplin durchgesetzt, weshalb Rabinow hier von einem »Social-Spatial Turn« spricht (ebd.). Reclus und die Vertreter einer sozialen Geographie sind deswegen auch Vorreiter, weil die Erforschung von Raum und Mensch bzw. die auf sinnliche Aspekte eingehende Geographie erst seit den 1970er Jahren wieder ausgebaut wurde (vgl. Larsimont 2013).
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(NM, VIII: 644) zurück.49 Er fordert für alle Schulformen, »de donner plus de place aux langues vivantes, à l’histoire et à la géographie« (ebd.: 645).50 In den Contes à Ninon kritisiert Zola die Verzerrung von Wissenschaften wie der Geographie im veralteten Schulunterricht und nennt in einer der Erzählungen der Abenteuer der Brüder Sidoine und Médéric (»Où Médéric vulgarise la géographie«) indirekt zwei Aspekte der geographischen Forschung, die den Naturalismus Zolas mit der Disziplin verbinden. Erstens das methodische Vorgehen und zweitens die Einsicht, dass sich Mensch und Raum gegenseitig beeinflussen. Gehen wir zuerst auf die in der Erzählung versteckten Aussagen zur Methodik ein. Médéric instruiert seinen Gefährten über die Geographie bzw. die Vorzüge der »carte naturelle« (CN: 161), die sich in der vor ihnen liegenden Landschaft ausbreitet und für deren Lektüre es laut Médéric keiner geographischen Bildung bedarf: »Regarde, tu seras savant.« Das Sehen bzw. die »mémoire du regard« (ebd.: 165) reichten aus, um die von Gott geschaffene Natur entziffern zu können. Hier handelt es sich einerseits um den Aspekt des Kartierens, den sich Zola in seinen Vorarbeiten zunutze macht,
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Den Einfluss der Geologie für die Verbreitung des positiven Wissens bespricht Zola im Roman expérimental (»Le naturalisme au théâtre«): »Il suffira de nommer encore la cosmographie et la géologie, qui ont porté un si terrible coup aux fables des religions. L’éclosion était générale, et elle continue« (CDLP, X: 1234). Dies hatte er bereits Jahre zuvor in »La géologie et l’histoire«, einem Kapitel aus Mes Haines, in dem Zola Victor Duruys Introduction générale à l’histoire de France vorstellt, hervorgehoben: »Je vois dans l’étude de la géologie une croyance nouvelle, croyance philosophique et religieuse« (ebd.: 100). Er bewertet die Berücksichtigung von geographischen und sozialen Faktoren in der Geschichtsschreibung Duruys positiv, gegen das Ableiten einer moralischen Disposition der Bewohner von geographischen Faktoren, einem Milieudeterminismus also, hat er jedoch Vorbehalte: »L’auteur obéit à la direction générale des esprits de notre temps, qui cherchent dans le monde physique et matériel l’explication des faits moraux; il renouvelle les tentatives de M. Taine et M. Deschanel. On ne saurait, d’ailleurs avancer avec plus de prudence et de discrétion sur ce terrain glissant« (ebd.: 103). Dass geologisches Wissen in Zolas Konzeption des Romanzyklus eingegangen ist, haben zum Beispiel Marc Föcking (2002), Philippe Walker (1984, Kapitel 4) und Auguste Dezalay (1983: 49f.) nachgewiesen. Er thematisiert in seinen Schriften mehrfach die Schulung geographischer und geologischer Kenntnisse. Im Gaulois bespricht Zola Ernest Daudets Roman Le Missionnaire und vermerkt, dass »[l’]étude de la physique, de la botanique, de la géographie, de l’astronomie« die Ausbildung der Missionare komplettiere (NM, III: 588, 03.02.1869). In Le Vœu d’une morte macht Daniel »la tour du cabinet [de M. Tellier, J.K.], regardant les cartes de géographie« (NM, II: 56). Octave Mouret richtet für die Mitarbeiter des Au Bonheur des Dames Geographiestunden ein, in Vérité (1903) machen Joseph und sein Sohn mit mehreren Schülern eine »promenade de géologie et de botanique« (NM, XX: 328). In L’Œuvre (1886) schließlich sind die geographischen Karten ein Teil der Erinnerungen an die Jugend der drei Freunde: »Et la maraude, le pillage des champs d’oignons en promenade; des pierres jetées dans les vitres, où le grand chic était d’obtenir, avec les cassures, des cartes de géographie connues« (Œ: 37).
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und andererseits um ein beschreibendes Verstehen der Landschaft im Sinne Vidals, das für das naturalistische Beschreiben in der Geographie und der Literatur zur Norm wurde (vgl. Claval 2014: 39).51 Wie Zola selbst anmerkt, hat er ein ausgeprägtes Gedächtnis für die visuellen Merkmale von Landschaften: Mes souvenirs visuels ont une puissance, un relief extraordinaire […]. Quand j’évoque les objets que j’ai vus, je les revois tels qu’ils sont réellement, avec leurs lignes, leurs formes, leurs couleurs, leurs odeurs, leurs sons (Supplément littéraire du Figaro, 10.12.1892, CDLP, XII: 675; vgl. auch Solda 2000: 6).52 Zola beschreibt hier neben dem Visuellen weitere Erinnerungen an sinnliche Eindrücke und damit die für die Materialgewinnung des Geographen entscheidende »pratique du terrain« (Larsimont 2013), die bis zur Etablierung quantitativer Erhebungen im 20. Jahrhundert die zentrale Methode der Disziplin bleibt (vgl. ebd.: 2). Zolas Verständnis von Raum entlehnt daher sowohl theoretische als auch praktisch-methodische Prämissen der Geographie.
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Im ausgehenden 18. Jahrhundert beginnt die Geographie, sich auf Landschaftsbeschreibungen zu konzentrieren: »[E]lle [la description régionale, J.K.] part de l’observation directe du paysage et montre [grâce à un vocabulaire précis] comment il varie d’une portion de l’espace à l’autre« (Claval 2014: 39). Zola geht ähnlich in der Erforschung von Gesichtszügen vor. Er bittet Henri Céard am 18.12.1879, eine Leiche zu begutachten, um ein Vorbild für die kranke Nana zu haben, denn: »De cette façon, je n’inventerais rien, j’aurais un masque vrai; et insistez sur l’état des yeux, du nez, de la bouche – une géographie générale et exacte, dont je ne prendrai que le nécessaire, bien entendu« (Corr, III: 422). In seinen Notizen für den Roman Rome (1896) findet sich folgender Vermerk, der die Bedeutung des Kartierens für den Autor deutlich macht: »Puis toute la ville s’étend. Je l’ai déjà, on peut reconstruire, avec le plan, ce qu’on voit, mais panoramiquement, comme une carte de géographie étalée« (NM, XVI: 866). Die geographische Regionalforschung stand einer regionalen Literatur Ende des 19. Jahrhundert aufgrund der Bezugnahme auf die naturalistische Beschreibung sehr nah. Beide Disziplinen vereinen sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der »géographie littéraire«, die in der Folge von Hippolyte Taine versuchte, Werk und Autor durch geographische Faktoren zu erläutern (vgl. Chevalier 1993: 11). Schnittmengen zwischen Zolas Ästhetik und der geographischen Methode wurden daher auch in einzelnen Ansätzen untersucht (vgl. Loquet 1955, Marcilhacy 1957, Tissier 2000, Lastinger 2003 und Charles 2015). Die ausgeprägte visuelle Vorstellungskraft Zolas und seine Verwendung räumlicher Metaphern bestätigt auch die Untersuchung des Dr. Toulouse (1910 [1896]). Das Zitat ist auch deswegen so interessant, weil es die Charakteristika der Landschaften aufruft, die die geographische Forschung einem »constat émotionnel ou approche sensorielle« (Avocat 1984) nach im 20. Jahrhundert weiter erkundet. Charles Avocat fügt in sein Raster zur Datenerhebung von Landschaften unter anderem genau die von Zola genannten Merkmale ein, nämlich »formes«, »lignes«, »couleurs«, »odeurs«, »bruits« (vgl. Avocat 1984: 24-31). Daneben geht es ihm um die dominanten Muster der Landschaft sowie deren sozioökonomische und natürliche Faktoren (vgl. ebd.; vgl. zur sinnlichen Beobachtung in der Feldforschung der Geographie auch Larsimont 2013).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
In der Erzählung (»Où Médéric vulgarise la géographie«) beklagt der Riese den Eingriff des Menschen in die Natur, und es ist diese Klage, die in ihrer positiven Wendung für Zola die Notwendigkeit der tiefergehenden Erkundung der Welt begründet und eher einer sozialen Geographie Élisée Reclusʼ als einer beschreibenden Geographie Vidal de la Blaches zuzurechnen ist (vgl. Becker 1993b: 150): En introduisant l’humanité sur ce vaste théâtre, il se produit un effrayant pêlemêle. Il est si aisé, chaque cent ans, de prendre une feuille de papier et de dessiner une nouvelle terre, celle du moment! Si la terre du Créateur avait subi tous les changements de la terre de l’homme, nous aurions devant nous, au lieu de cette carte naturelle si nette au regard, le plus étrange mélange de couleurs et de lignes (CN: 163f.).53 Die ständigen Veränderungen, die der oben genannte »monde vivant« durch den Menschen erfährt, bzw. die menschliche Schöpfung der »mélange de couleurs et de lignes« verweisen auf die Historizität geographischen Wissens und die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum, worin der zweite genannte Anknüpfungspunkt zwischen Zola und der Geographie liegt. Der »persönliche räumliche Haushalt« Zolas hält ein fortschrittliches Wissen vom Raum der sozialen Geographie bereit, in dem sich erneut das topologische Netzwerk von Linien bzw. eine potentielle Pluralität von Räumen im Konzept des »mélange« manifestiert. Wenn er auch nicht als Geograph stricto sensu gelten kann, laufen die Methodik und das Erkenntnisinteresse Zolas in diese disziplinäre Richtung.54 Es gibt im Laufe des 19. Jahrhunderts weitere Disziplinen, welche sich einem heterogenen, veränderbaren Raum nähern und die herrschende Raumideologie der Zeit angreifen (vgl. Mainzer 2010: 12). Bernhard Riemann und Nikolai I. Lobachevsky revolutionieren die Mathematik mit ihrer nicht-euklidischen Geometrie, die Kunst Paul Cézannes bricht mit der linearen Perspektive und gibt auf einer zweidimensionalen Fläche multiperspektivische Einblicke in die Realität, die Biologie er-
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Zola muss die Arbeiten Élisée Reclusʼ wahrgenommen haben. Er arbeitet zur gleichen Zeit für Hachette wie Reclus, der die Serie der Guides Joanne für den Verlag beginnt. Beide schreiben für die Revue des Deux Mondes, Zola kommentiert das Buch La Conquête du pain (1892) von Peter Kropotkin, für das Reclus das Vorwort verfasst. Reclus wiederum reagiert auf den Artikel J’accuse (1898) in einem Interview und diskutiert dort den Antisemitismus. Nachdem letzterer aufgrund seiner Beteiligung an der Kommune ins Exil verbannt wird, notiert Zola im Sémaphore de Marseille: »M. Élisée Reclus, ce savant compromis dans les affaires de la Commune, a été condamné hier à la déportation. Décidément, les conseils de guerre sont incorruptibles. Ils n’ont pas plus égard à la maladie qu’au talent« (NM, V: 615, 18.11.1871). Michel Chevaliers Urteil lautet ähnlich. Zola sei zwar kein Geograph, doch könne »la minutie de certaines de ses enquêtes [en matière urbaine et industrielle] le faire passer pour un précurseur des sciences humaines« (Chevalier 1993: 30). In jedem Fall ebnet er in der Tradition Taines den Weg für eine Literaturgeographie.
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forscht die veränderte Raumwahrnehmung verschiedener Tierarten, die Soziologie die räumliche Organisation in unterschiedlichen Kulturen (vgl. Kern 2003 [1983]: 132 und Welch 2003: 44f.). Zola in diesem Kontext ausschließlich innerhalb der deterministisch-homogenisierenden Raumideologie situieren zu wollen, kommt einer Verkürzung seines Denkens gleich, zumal beispielsweise auch seine Nähe zu den Impressionisten und ihrer ästhetischen Wirklichkeitserfassung bekannt ist. Abschließend kann daher festgehalten werden, dass Zolas Position gegenüber einer Raumideologie, die das visuelle Feld der Wahrnehmung mit ihren Prinzipien von Ordnung und Übersicht propagiert, komplizierter ist, als es eine Engführung von Naturalismus und simplifizierter Determinismustheorie vermuten lässt. Bei der Zolaʼschen Theorie handelt es sich »um eine Ansammlung heterokliter Ansätze, die Zola eklektizistisch aus diversen Disziplinen und Wissensgebieten zusammenstellt« (Bender 2009: 199), und nirgends zeigt sich dies deutlicher als in Zolas Raumverständnis. Dieses wird einerseits bestimmt von den dominanten Raumvorstellungen und visuellen Raumbildern der Geometrie (Kreis, Gerade, Kreuzung) und der Biologie (Stammbaum, Netzwerke, Organismen) mit ihrer rahmenden oder funktionalen Darstellung räumlicher Phänomene. Ebenso findet sich die explorative, beschreibende Geographie in Zolas Denken wieder und hängt sich an das im Eingangszitat (4.1) gezeichnete Bild der nach vorn drängenden Eisenbahn bzw. Nation, welches sich aber nur partiell, und zwar hinsichtlich der patriotischen Haltung Zolas von den geopolitischen Zwecken Frankreichs einnehmen lässt. Zu vehement offenbart sich in Zolas Schriften und Methoden andererseits auch das anarchistische Moment des Übertretens raumideologischer Grenzen, welches durch seine Kenntnis fortschrittlicher Raumdiskurse aus Malerei, sozialer Geographie und deren ganzheitlich-sinnlicher Raumerforschung motiviert wird. Die Phase der Vorbereitung der Romane führt deutlich vor Augen, inwiefern Zolas Erforschung des Pariser Raums von dem facettenreichen Bildhaushalt der Gesellschaft geleitet wird, sich aber auch durch die Funktionalisierung räumlicher Metaphern und das intuitive Eintauchen in den sozialen Raum auf den Ebenen des gelebten und wahrgenommenen Raums von diesem absetzt.
4.2 4.2.1
Die Dossiers préparatoires – Arbeitsmethode Zolas und selektiertes Textrepertoire Émile Zola – »génie intuitif et génie constructeur«55
Die Dossiers préparatoires dienen als Wissensgrundlage für jeden der zwanzig Romane des Rougon-Macquart-Zyklus und sind damit essentiell für den Entstehungspro55
Die Bezeichnung stammt aus der Einleitung von Henri Mitterand zu La Curée (CDLP, II: 308).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
zess von Raum im Roman.56 Vom Aufbau her sind alle Dossiers ähnlich angelegt. Zola konstruiert ein »système paratextuel« (Leduc-Adine 2002: 10), das aus vier Sektionen besteht. Ein erster Part, L’Ebauche, gibt skizzenhaft Auskunft über das Setting, die Handlung und die Hauptcharaktere im Buch. Die Sektion Personnages führt diese in ihren biographischen, physischen und psychologischen Besonderheiten ein. Die Plans beinhalten die Verteilung des narrativen und deskriptiven Materials innerhalb der einzelnen Kapitel. Die Carnets d’enquêtes schließlich tauchen in den Notes als »choses vues« neben den »choses lues« und den »choses sues« (Mitterand 1987: 44) auf und komplettieren als Ergebnis intensiver Feldforschung heterogene »régimes sémiotiques« (Hamon 2009: 24) wie Photographien, Namenslisten, Zeichnungen und Karten sowie den bereits dargelegten »persönlichen räumlichen Haushalt« Zolas (vgl. ebd.: 14; vgl. auch Leduc-Adine 2002: 11).57
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Ein Teil der Dossiers préparatoires (im Folgenden Dossiers) wurde zwischen 2003 (Band I) und 2017 (Band VII, I) unter der Leitung von Colette Becker veröffentlicht. Die Carnets d’enquêtes (später Car) hat Henri Mitterand 1986 herausgegeben; es handelt sich um Teile aus den Dossiers préparatoires, die Mitterand in einen kohärenten Zusammenhang gestellt und kommentiert hat. Der Hauptteil der Originalseiten (folios, im Folgenden f°) liegt im Département des Manuscrits der Bibliothèque nationale de France in Paris. In diesem Kapitel werden zur besseren Orientierung jeweils der Name und die Nummer des Arbeitsbuchs aus dem Katalog der BNF angegeben. Die Abkürzung N.a.f. steht für »nouvelles acquisitions françaises«. Für den Roman Au Bonheur des Dames liegen zwei Arbeitsbücher und damit zwei Nummern vor. Die Informationen aus den Passagen der allgemeinen Überlegungen (»Notes générales sur la marche générale/sur la nature de l’œuvre«) stammen aus den Büchern mit den Nummern 10303 und 10345. Während die Informationen im Bereich der »Feldforschung« (espace perçu, Kapitel 4.2.2.2) aus den Notizbüchern der Dossiers stammen, sind alle weiteren Informationen den anderen Sektionen der Dossiers entnommen. Jean-Pierre Leduc-Adine macht berechtigterweise darauf aufmerksam, dass die Dossiers zu La Fortune des Rougon und La Curée noch nicht so ausgearbeitet und ausführlich sind wie die weiteren Dossiers (vgl. Leduc-Adine 2002: 10). Letzteres Arbeitsbuch gliedert sich in die Bereiche Plan, in dem die einzelnen Kapitel des Romans präsentiert werden, in Informationen zur Haussmannisierung (unter anderem die »Exemples d’expropriation« oder »agents voyeurs«), in Details zum »hôtel«, darunter die »serre«, die Premiers détails zu den Kapiteln, in die Renseignements divers (»La Phèdre de Racine«, »Bois de Boulogne«) und in ausführliche Mitschriften aus diversen Werken zum Ablauf und der Finanzierung der Umbauarbeiten von Paris. Ausgeschnittene Zeitungsartikel und Skizzen komplettieren die heterogene Sammlung. Die Dossiers von Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames folgen einem ausgereifteren Muster: Neben den Teilen Ébauche, Plan, Personnages, Notes und Renseignements divers enthalten die beiden Bücher umfangreiche Aufzeichnungen zu den verschiedenen Pavillons und Abteilungen in Hallen und Kaufhaus, den Produktpaletten, dem Tagesgeschäft, den Verkäufern und den Straßen des jeweiligen Quartiers, die sowohl von Informanten wie ehemaligen Abteilungsleitern des Louvre oder Bon Marché und einem Bereichsleiter der Polizeipräfektur, aus Zeitungsartikeln oder aber aus den Beobachtungen Zolas selbst stammen. Es kann noch angemerkt werden, dass Zola besonders für La Curée von Zeitungsartikeln zehren kann, die die Gepflogenheiten der Neureichen thematisie-
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Aufgrund der Heterogenität der Dokumente ist es schwer, die Dossiers als Textsorte zu definieren. Philippe Hamon vergleicht sie beispielsweise mit der postmodernen »auto-fiction« oder einem »soliloque programmatif« (Hamon 2009: 21, 20), fasst sie aber auch offen als »›cuisine‹ de l’œuvre, la ›pot-bouille‹ avec ses routines, son train-train, ses ratures, mais aussi ses mystères cachés« (Hamon 2009: 13) bzw. einen »texte hétérogène stylistiquement et rythmiquement« (ebd.: 30) auf. Sie stellen durch die nicht vollständig nachvollziehbare Chronologie der Dokumente eine Art »bricolage« dar, die den Leser zu »pluralen Lektüren« einlädt (ebd.). So kann ein Netzwerk intra- und intertextueller Bezüge erschlossen werden, das einen makrostrukturellen Raum zwischen den gesamten Dossiers öffnet, in dem sich Räume überlagern und Figuren der Rougon-Macquart an verschiedenen Stellen wieder auftreten.58 Die fehlende Homogenität der Dossiers führt daher letztlich zu unterschiedlichen Interpretationen des Status der Arbeitsbücher und ihres Autors im Rahmen des naturalistischen Projekts. Werden die avant-textes und Zola zum einen mit dem Etikett des deterministischen Programms bzw. dem »écrivain à programme« versehen, gilt die Komposition parallel als »bricoleuse« (Lumbroso 2009: 88, Hervorh. i.O.), als Experimentierfeld und ihr Autor als »écrivain à processus« oder »libre arbitre« (vgl. Ferrer 2002 und Grésillon 2002; vgl. Kapitel 2.1).59 Ganz offensichtlich spiegeln die Vorarbeiten die naturalistische Theorie und die Prämisse Zolas, der Literaturproduktion eine methodisch klar geleitete enquête oder analyse des Autors als savant-travailleur fern der für obsolet erklärten Imagination des kreativ-schöpferischen Autor-Genies zugrunde zu legen60 ; zugleich
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ren (vgl. zum Beispiel Cloche, »Les épaules de la marquise«, CDLP, XIII: 262-266, 21.02.1870). Zu einer Übersicht zu den verwendeten Quellen siehe die Verweise Mitterands in den PléiadeAusgaben (vgl. auch Lethbridge 1987, Becker/Gaillard 1982: 29ff. und Ripoll 1974). Wenn nämlich Charaktere wie Claude Lantier, Octave Mouret, Eugène Rougon oder Aristide Saccard mehrfach in den Dossiers aufgerufen werden, führt dies zu einer Simultaneität von Handlungsansätzen, die durch die führende Hand des Autors nicht erschüttert wird. Daunais kommentiert: »[M]ême en les [les personnages, J.K.] situant dans un cadre relativement déterminé, […] ils […] ne cessent […] d’être des figures principales puis secondaires, de disparaître puis de réapparaître« (Daunais 2011: 101, 104). Der Eindruck der Gleichzeitigkeit wird dadurch verstärkt, dass die Handlungszeiträume der Romane zusammenfallen. 1852 ist das Jahr, in dem sich Aristide Rougon in Saccard umbenennt und in dem Lisa Quenu heiratet; während sich die Intrige um Florent in den Hallen 1859 zuspitzt, wächst Maxime nicht weit entfernt im Hause Saccard auf; 1864 ist das Todesjahr Renées und das Jahr, in dem Denise im Kaufhaus ihre Arbeit aufnimmt. Für Neide de Faria steht daher die Geschlossenheit einzelner Romane der Offenheit des gesamten Zyklus gegenüber (vgl. de Faria 1977: 199). Auguste Dezalay geht in diesem Zusammenhang der Bedeutung des Worts »programme« nach und notiert, dass»le programme implique une maîtrise des conséquences d’un projet, et un accomplissement de la volonté du concepteur de l’entreprise« (Dezalay 2003: 23). Belege für diese Haltung finden sich an zahlreichen Stellen seines theoretischen und journalistischen Schreibens. Beispielhaft sei folgender Auszug aus Zolas Artikel »Les droits du romancier« (Figaro, CDLP, XIV: 798, 06.06.1896) zitiert: »Pour mon compte, ma méthode n’a
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
aber entwickelt sich der Schaffensprozess performativ, »Zola trouve la fin […] en marchant, en avançant à tâtons dans l’invention du roman« (Grésillon 2002: 60, Hervorh. i.O.), bis zuletzt werden ein »possible-à-chaque-instant« und der Einfluss der Persönlichkeit des Autors zugelassen (Hamon 2009: 17, Hervorh. i.O.).61 Regelkonformität und freier Erfindergeist drücken sich in der Anlage geschlossener und offener Räume aus, die durch die Triplizität der konzipierten, wahrgenommenen und gelebten Räume greifbarer werden. Dabei schlägt sich die Programmatik auf die Seite des Konzeptuellen, wird jedoch in der schwer kontrollierbaren Raumwahrnehmung immer wieder ausgehebelt. Diese ständige Bewegung zwischen Einschränkung und Freiheit muss in den folgenden Ausführungen mitgedacht werden. Sie charakterisiert sowohl die allgemeinste Ebene der Produktion, das heißt das Rahmenprogramm des gesamten Zyklus als eine Art »prégenèse […] ou une archéogenèse« (Mitterand 1994a: 91), als auch die konkreten Entscheidungsprozesse in Bezug auf das Textrepertoire in der Romangenese. Die Spur führt zuerst in das literarische Feld der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem sich Zola gerade durch die Formulierung eines neuen Literaturprogramms zu positionieren gedenkt (vgl. Kapitel 3.3.2.2): [J]e désirerais trouver quelque sentier inexploré […]. Il est une chose évidente, chaque société a sa poésie particulière, […] l’homme qui la trouverait justement serait célèbre. […] Le tout est de trouver une nouvelle forme (Corr, I: 232f., Ende August/Anfang September 1860, À Baille).62
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jamais varié depuis le premier roman que j’ai écrit. J’admets trois sources d’information: les livres, qui me donnent le passé; les témoins, qui me fournissent, soit par des œuvres écrites, soit par la conversation, des documents sur ce qu’ils ont vu ou sur ce qu’ils savent, et enfin l’observation personnelle, directe, ce qu’on va voir, entendre ou sentir sur place. À chaque nouveau roman, je m’entoure de toute une bibliothèque sur la matière traitée, je fais causer toutes les personnes compétentes que je puis approcher, je voyage, je vais voir les horizons, les gens et les mœurs. S’il existe une quatrième source d’information, qu’on me la désigne et vite je courrai m’y abreuver.« Vgl. auch das Kapitel »Méthode de travail« in dem von Zolas Freund, Paul Alexis, verfassten Buch: Émile Zola. Notes d’un ami. Paris: Charpentier 1882. In die gleiche Richtung denkt Gisèle Séginger, wenn sie konstatiert, dass »[m]algré l’écriture auto-injonctive de Zola dans l’Ébauche – ›Je voudrais‹, ›Mettre‹, ›J’aurai‹ – la planification n’empêche nullement d’une part une prospection et d’autre part une ouverture de l’endogenèse (les transformations du texte zolien par un travail d’élaboration interne de la fiction) sur l’exogenèse (l’interférence d’autres textes, d’autres représentations qui participent à la genèse du texte zolien)« (Séginger 2003: 9). Zola will sich beweisen und sich von seinen Vorbildern, darunter vor allem Honoré de Balzac und Victor Hugo, abgrenzen. Bereits am 10.08.1860 hatte Zola in einem Brief an Baptistin Baille die Frage der Form diskutiert: »Maintenant tu pourras demander, puisque je m’occupe de l’art, quelle forme je crois la meilleure pour arriver au but, quel genre je choisirai. Je te répondrai que je cherche encore ma voie, que la meilleure forme est celle dont on se sert le mieux« (Corr, I: 224). Zola ist zu diesem Zeitpunkt noch stark von der romantischen Poesie
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Zola hält eine Literatur, die sich der Romantik verschreibt, für veraltet. Seine Ablehnung eines mystischen Idealismus, einer dogmatischen Theologie und Rhetorik mündet in der naturalistischen Doktrin mit ihrem breit gefächerten »cahier des charges« (Hamon 1982 [1973] und 2011 [1983]: 23), das genaue thematische, ästhetische, formale und stilistische Vorgaben enthält und ein geschlossenes Schreibprogramm bedingt. So fällt die thematische Wahl der räumlichen Settings auf der Makroebene eindeutig aus: Der Autor erfindet das soziokulturelle Umfeld der Figuren nicht, er entwirft im vorliegenden Fall keine fiktive Stätte, sondern das historische Paris im Second Empire und wichtige Stationen der Stadtgeschichte. Seine Protagonisten sind Angehörige der »cinq mondes« (»peuple«, »commerçants«, »bourgeoisie«, »grand monde« und »monde à part«), die seit 1848 vermehrt in der Literatur auftauchen (vgl. Colin 1988: 90). Im Verbund der »groupe« bzw. »famille« decken diese sozialen Milieus die gesellschaftliche Diversität der Zeit ab, erfüllen also den Anspruch Zolas auf eine totalisierende Darstellung im Zeichen der Großprojekte wie der Tableaux de Paris; die zyklische Anlage der Romanreihe wiederum folgt der »manie de la ›série‹« einer Comédie humaine Balzacs und macht ihre Produktion berechenbar (vgl. Dezalay 2003: 26f.).63
63
beeinflusst und zieht die Form des Gedichts dem Drama und der Tragödie vor. Wie viele andere realistische und naturalistische Autoren wendet er sich in der Folge dem Roman und der Novelle zu. Vgl. zur Rolle der Romantik in Zolas Schaffen Braun (1993). Zola äußert sich 1868 bei seinem Besuch der Goncourt-Brüder zum ersten Mal zu seinem Entwurf der Romanreihe und der zu behandelnden Familienzweige (vgl. Mitterand 1994a: 15). Der großen Disparatheit der Figuren kommt Zola mit dem Entwurf der »groupe« entgegen, die er in seinen Notizen von 1867 bis 1869 thematisiert und zum ersten Mal im Vorwort zu La Fortune des Rougon (»un petit groupe d’êtres, une famille«, »tout un groupe social«) und im Roman selbst in Form der »bande insurrectionnelle« einsetzt. Für Auguste Dezalay gleicht dies Zolas persönlichem Bedürfnis nach Kontakt zu einer Gruppe Gleichgesinnter wie der der Soirées de Médan (vgl. Dezalay 2003: 27ff.). Den Unterschied zwischen der Comédie humaine Balzacs und seiner Romanreihe erklärt Zola in den »Différences entre Balzac et moi«: »Je ne veux pas peindre la société contemporaine, mais une seule famille, en montrant le jeu de la race modifiée par les milieux. Si j’accepte un cadre historique, c’est uniquement pour avoir un milieu qui réagisse […]. Ma grande affaire est d’être purement naturaliste, purement physiologiste« (N.a.f. 10345: fo 15). Beide eint allerdings die Stoßrichtung einer Generation »[qui, J.K.] reprend volontiers l’héritage de l’encyclopédisme des Lumières« (Mitterand 1998: 43). Zola beharrt nicht auf der Ausgangssituation von 1868; im Gegenteil weitet er sein Projekt im Laufe der Zeit aus (vgl. Mitterand 1990: 27). An die Darstellung der »cinq mondes« schließt sich eine erste Liste der Romane; aus den Schriften Charles Letourneaus, Jules Michelets, Prosper Lucasʼ, Ulysse Trélats, Jacques-Joseph Moreau de Toursʼ und Bénédict Augustin Morels zieht Zola das formale Organisationsprinzip zwischen den sozialen Milieus, nämlich die hereditäre und degenerative Verknüpfung der Welten, und visualisiert diese im Stammbaum der Familie und in einer aktualisierten Liste der Romane. Zur Chronologie der Pläne und Notizen siehe die Korrektur Mitterands (2014) seiner Ausführungen in der Pléiade-Ausgabe der Rougon-Macquart sowie seines Aufsatzes von 2003.
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Auch Figurenwahl und formale Gestaltung der Romane weisen intertextuelle Bezüge zur literarischen Tradition, hier der griechischen Mythologie, auf, und dies obwohl Zola auf die epische Tragweite der Charaktere verzichtet. An die Stelle der Regeln der Komposition des klassischen Theaters und der Architektur (»exposition«, »nœud«, »dénouement«) möchte er den banalen Alltag, die »tranche de vie, sans début ni fin, avec des hauts et des bas, où se juxtaposent les épisodes d’une destinée«, setzen (Lumbroso 2009: 79, vgl. ebd.: 76ff.). Die Strukturen der Welt arrangieren laut Zola ohne Eingriff des Autors die gesammelten Beobachtungen in einem logischen Ablauf der Geschichte, »le dénouement n’est plus qu’une conséquence naturelle et forcée«, lautet es im Roman expérimental (CDLP, X: 1286). Und dennoch haben viele Charaktere Züge archaischer Heldenfiguren und werden nach genauen Prinzipien ausgewählt.64 Die Notizbücher tragen demnach eine klare Handschrift des »bâtisseur« Zola, die auf »totalisation«, »assemblage« und »connexion« beruht (Lumbroso 2009: 83) und Zolas klassische Ausbildung unter Beweis stellt.65 Die geplante Anlage der Kapitel wirkt für Colette Becker dann auch 64
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Vier Prinzipien strukturieren die jeweilige Wahl der Produzenten von Raum: erstens die »permutation des personnages« (vgl. Pagès 2009: 54, Hervorh. i.O.), das heißt der nur einmalige Einsatz eines Familienmitglieds als Hauptfigur eines Romans; zweitens die Berücksichtigung der »fêlure« als notwendiger hereditärer Marker der Familie; drittens die Regel, dass sich die Wege beider Familienzweige in einem Roman nicht kreuzen; viertens das mögliche Eintreten der Figuren in andere Familien oder das Hinzutreten von neuen Figuren wie Denise, wodurch die »familles recomposées« entstehen (ebd.: 56, Hervorh. i.O.; vgl. ebd.: 54ff.). Zola setzt sich an einigen Stellen über diese Prinzipien hinweg. So ist die fêlure bei den einzelnen Familienmitgliedern unterschiedlich stark ausgeprägt, Jacques (La Bête Humaine), Étienne (Germinal) und Claude (L’Œuvre) Lantier thematisieren sie im Roman offen, während sie bei anderen Figuren nur implizit zutage tritt. In La Fortune des Rougon, La Conquête de Plassans und Le Docteur Pascal treffen zudem Teile der Rougon und der Macquart aufeinander. Octave Mouret ist sowohl der Protagonist von Pot-Bouille als auch von Au Bonheur des Dames, Aristide Saccard die Hauptfigur in La Curée und L’Argent. Gegen eine von Beginn an normative Ausrichtung der Geschichte spricht außerdem, dass Zola die Figurenzahl auf Rat Hippolyte Taines vergrößert, Variationen der Romantitel vorschlägt, die endgültige Namensfindung oftmals erst am Ende der Genese abschließt und den Stammbaum der Familie im Laufe der Jahre noch ergänzt. Henri Mitterand nennt in der »bibliothèque virtuelle der Rougon-Macquart« (1998: 42) die Goncourt-Brüder, Flaubert, Balzac sowie die klassischen Texte Jean Racines oder die Bibel als literarische Inspirationsquellen. Er definiert Zola zudem mit Blick auf die Figurenzeichnung als »le plus grec des romanciers français du XIXe siècle« (Mitterand 1998: 87) bzw. als »porteur moderne d’une inspiration fondamenalement grecque« (ebd.: 86). Er wirbt dafür, in Zola nicht nur den Autor des logos, sondern vielmehr des muthos zu sehen, der die Fatalität des genos, Riten und den Wettstreit von eros und thanatos aktualisiere. Der Status des Mythischen in Zolas Werk ist in einzelnen Studien explizit untersucht worden (vgl. Borie 2003 [1971]; vgl. auch Schor 1978 und Ripoll 1981), zuletzt in einer Arbeit von Mihaela Marin (2007). Sie sieht die archaischen Quellen in ein komplexes intertextuelles Netz eingewoben und misst ihnen über die thematische Funktion hinaus eine die Theorie Zolas destablisierende und die Romane strukturierende Funktion bei. Der Sammelband von Philippe Hamon, Le signe et la consigne
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wie die Technik eines »dramaturge-metteur en scène« (Becker 1990: 58). Ein soziales Milieu wird vollständig ausgebreitet, die Romanabfolge muss harmonisch sein (»symphonie habituelle«), die interne Struktur eines Romans »cadre«, »phases«, »chapitres« und »marche« um eine Figur als »pivot« aufweisen (vgl. Lumbroso 2009: 86f.).66 Gleichwohl dürfen diese formalen Regelungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zola dem Schreibakt ein Moment des Unkontrollierbaren zugesteht. Dies zeigt sich allein schon an den zahlreichen Streichungen oder den Namensänderungen der Figuren – nichts ist zu Beginn der Romanproduktion definitiv (vgl. Becker 2014: 430 und 1993a). Zola schreibt: »Il ne faudrait pas croire que d’après ce plan l’œuvre sera dure et rigide comme un traité de physiologie ou d’économie sociale. Je la vois vivante et très vivante« (N.a.f. 10303: fo 77; vgl. Lumbroso 2009: 81). In diesem Licht ist auch die in den »Notes générales sur la nature de l’œuvre« ausdiskutierte Passion des Schreibens und der Komposition zu deuten. Nicht nur thematisch ist der »souffle de la passion« der Zeit Antrieb der Figuren der Rougon-Macquart; die »poussée« initiiert auch die »larges chapitres, logiquement construits«, ihre »masses«, eine »force«, die Zola seiner Romanproduktion einschreibt (N.a.f. 10345: fo 10, 11; vgl. Mitterand 1998: 66f.). Insgesamt wird das Textrepertoire also in einem Verfahren ermittelt, das sowohl logischen Regeln folgt als auch Intuition zulässt. Es wird nicht ex nihilo selektiert, sondern hat Anklänge aus der klassischen Literaturbildung Zolas sowie den Konventionen seiner Zeit. Die Analyse der Raumgenese der drei Romane kann dies exemplarisch vertiefen.
4.2.2
Das räumliche Textrepertoire von La Curée, Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames – eine Synthese
In der Einleitung dieser Arbeit wurden die drei Romane der Rougon-Macquart-Reihe bereits thematisch vorgestellt und anhand ihres jeweiligen Hauptschauplatzes räumlich miteinander in Beziehung gesetzt. Im Folgenden sollen daran anschließend zuerst wichtige Aspekte der makro- und mikrostrukturellen Konzeption des Raums mithilfe der in den Dossiers genannten Orte und Wege des »story
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(2009), trägt dem Thema insofern Rechnung, als er in den Kapiteln zur »Inventio«, »Dispositio«, »Elocutio«, »Memoria« und »Actio« Zolas Arbeitsweise mit dem Vorgehen der Rhetorik vergleicht (vgl. Hamon 2009: 38ff.). Olivier Lumbroso (2009) und Henri Mitterand (1994b) haben unter anderem das metasprachliche Material der Dossiers durchleuchtet und gezeigt, inwiefern Zolas Vokabular Hinweise auf eine durchdachte Komposition gibt. Der Anhang des von Philippe Hamon herausgegebenen Sammelbandes trägt eine Auswahl an Stichworten aus den Dossiers zusammen, die das formale Programm Zolas unterstreichen, darunter zum Beispiel »arranger«, »couper«, »complet«, »dramatiser«, »plan« (vgl. Hamon 2009: 253ff.).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
space« und ihrer syntagmatischen Verbindung im Bereich des Konzeptuellen untersucht werden. Neben diesem Grundgerüst des Raums interessieren auch die Dynamisierungen der Strukturen, die unter anderem der besonderen Kommunikationssituation in den Dossiers geschuldet sind. Mit dem Konnex von Struktur und Dynamik hängt die Frage zusammen, inwiefern in den Arbeitsbüchern eigene Räume entstehen, die sich sowohl formal als auch inhaltlich entwickeln und eine neue Sicht auf den Raum im Roman freigeben. An die Ebene der konzeptuellen Darstellung von Raum (espace conçu) schließt die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung von Räumen an (espace perçu); beide Ebenen tragen Bilder des gelebten Raums bzw. des räumlichen Haushalts der Literatur der Epoche in sich (espace vécu), sodass diese Ebene jeweils im Verbund mit den anderen Ebenen vorgestellt wird.
4.2.2.1
»Zola, acrobate des figures«67 – Elemente des espace conçu
Gleich zu Beginn steckt Zola in den Dossiers auf der Ebene der topographischen Großstrukturen den Rahmen für den jeweiligen Roman ab – »le monde de la Halle, monde grouillant qui entourera Charles [Florent]« im Falle des Ventre de Paris (N.a.f. 10338, Ventre: fo 60), als »un roman dans le commerce« (N.a.f. 10345: fo 23) wird Au Bonheur des Dames definiert, »un ménage parisien, dans la haute sphère des parvenus« (N.a.f. 10303: fo 54) ist der Ausgangspunkt von La Curée.68 Während die Pariser Hallen und das Kaufhaus der referentielle Ort für den Großteil der Szenen sind, wählt Zola im Fall von La Curée mit dem Anwesen der Saccard, das für die mondänen Viertel der Stadt steht, der Ile Saint-Louis und dem hôtel Beraud, die für das alte Paris stehen, dem Bois de Boulogne und den an den Boulevards gelegenen ca-
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Die Überschrift hat zuerst Olivier Lumbroso für eines der Kapitel seiner Arbeit gewählt (2004: 169). Laut Philippe Hamon ist die Rahmung der Handlung der erste Schritt der »Inventio« (vgl. Hamon 2009: 28). Der Stellenwert des epochentypischen Bilds des »cadre« für Zola misst sich auch an der häufigen Frequenz der Verwendung des Worts in den Dossiers (vgl. ebd., »Annexe«: 254f.). Im Ébauche des Ventre de Paris findet sich folgende Formulierung: »Donc, j’ai Cayenne, j’ai l’histoire d’un complot, j’ai une trahison, le tout dans le cadre des Halles, de la bourgeoisie repue« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 59), womit nicht nur der Rahmen abgesteckt, sondern auch auf die Notwendigkeit der Intrige für den Handlungsverlauf angespielt wird. In den Notizen zu Au Bonheur des Dames führt Zola ebenso über den »cadre« in die Handlung ein: »Le cadre [du chapitre IX, J.K.] est la mise en vente des nouveautés d’été (trois jours)« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 162). In Bezug auf das zehnte Kapitel formuliert Zola: »Par exemple, voici le cadre: la veille, ou mieux le matin, la scène dans la chambre: tous ceux qui montent voir Louise, tous ceux qui la travaillent« (ebd.: fo 181). Schließlich schreibt er auch dem Finale seinen Rahmen ein: »Large description du magasin arrivé à toute son apothéose. Une exposition de blanc. C’est le cadre« (ebd.: fo 239).
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fés häufiger wechselnde referentielle und typisierte Orte der Handlung.69 Mit dem privaten Raum der Saccard und dem (künstlichen) Naturraum des Parks wird die Unterscheidung von öffentlichen und privaten Räumen, von Innen- und Außenräumen aufgerufen, die auch in den anderen beiden Romanen vorliegt: Denises Angestelltenzimmer, das Haus der Baudu und der Quenu, Florents Ausflug in die Natur mit Claude und Madame François, das Straflager auf der Teufelsinsel sowie der Besuch der Vororte in Au Bonheur des Dames sind Beispiele für Ortswechsel, die jedoch weiter im Verbund mit dem Hauptschauplatz gedacht werden müssen. Anders als in La Curée werden in den beiden anderen Romanen auch Arbeitsräume im Alltag der Stadt gezeigt. In allen drei Dossiers ist der »cadre« der Handlung folglich eine begrenzte Anzahl real existierender, dem Leser zum Teil bekannter Orte und Randgebiete in Paris. Es steht jeweils ein Hauptraum (Kaufhaus, Hallen) im Fokus, wobei in La Curée aufgrund der Wahl der Orte (Boulevards, Café) eine größere Beweglichkeit der Figuren in der Stadt zu erwarten ist. Die partiellen Einblicke in den Stadtraum erwecken erst in der Summe den Anschein auf Vollständigkeit, was zwei Konsequenzen hat: auf produktionsästhetischer Seite die Schwierigkeit der wahrheitsgemäßen Fiktionalisierung realer Gegebenheiten, auf rezeptionsästhetischer Seite eine spezifische Erwartungshaltung der in unterschiedlichem Grade ortskundigen Leserschaft an den im Roman porträtierten räumlichen Haushalt.70 Auf der mikrostrukturellen Ebene situiert Zola die Episoden und Figuren oft anhand von Präpositionen, so zum Beispiel in folgenden Hinweisen: »La scène entre Renée et Maxime se passe dans la serre« (N.a.f. 10282, La Curée: fo 235); »Une conversation d’Octave au milieu des femmes […]; le montrer au milieu d’elles, trônant« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 73, 70) und »Je la [Lisa, J.K.] place dans la boucherie, au milieu de ses viandes, avec un tablier blanc« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 51) sowie »Il [Florent, J.K.] s’éveille affamé au milieu des Halles […] et il est là, dans les légumes, dans la nuit« (ebd.: fo 10).71 Klingt bereits im Zitat aus der Ébauche von Au Bonheur des Dames die besondere Stellung Octave Mourets im Kaufhaus an, verweisen die Position Lisas inmitten der Fleischereiprodukte und Florents inmitten des Gemüses schon auf das für den Hallenroman zentrale Bild des »ventre«, die Überfülle
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Lumbroso (2004: 98) unterscheidet zwischen den »lieux-types (une maison bourgeoise, une église), référentiels (l’hôtel Menier, la Grenouillère) [et, J.K.] collectifs (les Halles, le quartier)«. Mit Caroline Frank können die gewählten Texte als heteroreferentiell eingestuft werden. Sie referieren auf außertextuelle Räume und haben durch die hohe Frequenz der Verweise einen niedrigen Fiktivitätsgrad (vgl. Frank 2017: 82ff.). Vgl. weiterhin: »Je voudrais une sorte d’idylle dans la Halle« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 71); »Description de […] Lisa sur le seuil« (ebd.: fo 11); »L’idée politique se réveille dans la tête de Florent, au milieu du pavillon de la marée, […] sensation de Florent, au milieu des Halles« (ebd.: fo 28, 29).
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an Lebensmitteln und die Symbiose von Figur und Milieu im Bereich des Gelebten (vgl. Ripoll 1981, Noiray 1981, Dezalay 1983).72 Nicht zufällig wird die Metapher des Bauchs der Hallen direkt zu Beginn von Plan und Ébauche des Dossier genannt: Le ventre est l’organe dirigeant […]. L’idée générale est: le ventre; – le ventre de Paris, les Halles où la nourriture afflue, s’entasse, pour rayonner sur les quartiers divers; – le ventre de l’humanité, […] le contentement large et solide de la faim, la bête broyant le foin au râtelier, la bourgeoisie appuyant sourdement l’empire (N.a.f. 10338, Ventre: fo 1, 47). Schon hier kommt eine Kritik an der Gier der Bourgeoisie nach Reichtum zur Sprache. Die Metapher des »ventre« ist neben der geometrischen Figur sowie den topologischen und figurativen Raumdarstellungen ein Hilfsmittel, das sich Zola zunutze macht, um die disparat wirkenden Lokalisierungen auf einen semantischen Nenner zu bringen.73 Philippe Hamon begreift die Metapher als einen »opérateur rhétorique« (Hamon 2004b: 85), der die Kreation steuert und Teil des räumlichen Haushalts der Literatur der Zeit ist.74 Zola verbindet sie Olivier Lumbroso nach zu 72
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Vgl. hierzu auch folgende Kommentare: »Louis, engraissé, l’écoute, les mains dans la chaudière aux boudins« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 57); »Charles, à la Halle, au milieu des nourritures« (ebd.); »[L]e soir, dans le laboratoire, au milieu des viandes, les deux frères causent« (ebd.: fo 56); »Un amour au milieu des légumes, ou des poissons« (ebd.: fo 67). Olivier Lumbroso leitet vier Raumtypen aus den Dossiers ab: »l’espace topographique«, »l’espace topologique«, »l’espace figuratif« und »l’espace figural« (Lumbroso 2004: 113). Ihre Funktionen der Ortsbezeichnung, der Herstellung von topologischen Relationen, der Organisation durch die geometrische Figur und des Generierens semantischer Verbindungen leiten die Schritte der Raumgenese in den Dossiers der Romane. Die Reihenfolge ihres Einsatzes durch Zola variiert laut Lumbroso allerdings in den verschiedenen Arbeitsbüchern. Im Falle von Au Bonheur des Dames beginnt die Produktion von Raum mit der geometrischen Figur, die dann die Konstruktion topologischer Netzwerke steuert; in den Dossiers von La Curée und Le Ventre de Paris hingegen setzt Zola zuerst eine Metapher ein, um seine Raumvorstellung zu verbildlichen, und geht dann über in den Bereich des Topologischen und Geometrischen. Im weiteren Verlauf der Diskussion geht es weniger um die Schritte der Genese als um die grundsätzlichen Strategien bzw. gerade genannten Raumniveaus zur Übersetzung des realen Pariser Raums. Die anatomische Metapher (»ventre«, »digérer«) hat eine lange literarische und philosophische Tradition und stützt sich auf ihre ethnologische (die Fastenzeit in der katholischen Lehre) und ikonographische Ausformulierung (die »gravures anglaises« in der Ébauche [N.a.f. 10338, Ventre: fo 101], die an Pieter Bruegels Le combat de Carême et de Mardi-Gras von 1559 erinnern; vgl. Hamon 2004b: 85f.). Sie taucht bereits bei François Rabelais, Jean de La Fontaine und Honoré de Balzac (im Prolog zu La fille aux yeux d’or) auf, geht ein in das Bild des organischen Kreislaufes bei Claude Bernard und Zola, zeigt sich in Maxime Du Camps Titel Paris et ses organes (1879) und in dem natürlichen Kampf ums Überleben in der Theorie Charles Darwins (vgl. ebd.). Olivier Lumbroso ordnet der Metapher des »ventre« darüber hinaus Isotopien zu, »qui s’orientent du côté des images thermiques (le nid de plume du ventre maternel), circulaire (le boulet, l’éboulement, les légumes ronds) [et, J.K.] organiques (la chair, le
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urteilen mit einem Netz aus topologischen (»le rayonnement des Halles« [N.a.f. 10338, Ventre: f° 65]), rhetorischen (»le poème du ventre« [ebd.: fo 78]), narrativen (»raconter le triomphe absolu et colossal du ventre«), physiologischen (»Dans le ventre, branche des Macquart, appétit sanguin des beaux légumes et des beaux quartiers de viande rouge« [ebd.: fo 48]) und soziologischen Aspekten (»je veux lui donner l’honnêteté de sa classe« [ebd.: fo 49], vgl. Lumbroso 2004: 207). Es kann ergänzt werden, dass das Bild des Bauchs als Ausdruck des »›bas corporel‹« (Scarpa 2000: 211) sowie die Objektfülle gleichsam symbolische Verweise auf die Bedeutung des Materiell-Körperlichen im naturalistischen Programm sind und sich in den Merkmalen der Charaktere und der Thematisierung der Nahrungsmittel widerspiegeln.75 Zolas Heldin Lisa beispielsweise ist die metonymische Verkörperung der Hallen (»L’héroine, belle bouchère«, »c’est la Halle faite femme« [N.a.f. 10338, Ventre: fo 50, 63]): »Lisa c’est le ventre, [elle, J.K.] domine, c’est ma création principale. Je veux donc qu’elle soit un centre considérable d’où rayonnent les diverses intrigues, les différents épisodes« (ebd.: fo 1, 64). Sie ist ein zentraler Baustein für die Beherrschung des Raums im Roman – »un personnage nodal et un échangeur qui relie et fait circuler« (Lumbroso 2004: 210). An ihre Seite stellt Zola den episodisch auftretenden Marjolin, »le Quasimodo de mes Halles […], le dieu de la Halle, [qui, J.K.] en connaîtra les coins les plus cachés, en aura fait son domaine, [et qui, J.K.] l’expliquera sans cesse par ses courses« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 62). Die Figur aus Victor Hugos Notre-Dame de Paris ist nur ein Beispiel für die intertextuellen Entlehnungen aus dem literarischen Haushalt der Zeit, die Zola jedoch nicht bloß kopiert, sondern für seine Zwecke, hier den Panoramablick über den Raum der Hallen, adaptiert (vgl. Zinszner 2006, Dezalay 1984, Baguley 1968 und Etkind 1968).76
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sang, les boyaux)« (Lumbroso 2004: 209). Alain Corbin merkt an, dass die Hallen nicht nur als Bauch, sondern ebenso als das Herz der Stadt sowie als Symbol für die sich ändernden hygienischen Umstände und einen »lieu d’un afflux et d’un reflux« verstanden wurden (Corbin 2004: 10). Marie Scarpa schreibt ihnen zu Zeiten der »fête impériale« zudem ein karnevaleskes Element ein (vgl. Scarpa 2000). Vgl. für die verschiedenen Bedeutungsdimensionen der Metapher des Bauchs Gural-Migdal (1991). Marie Scarpa merkt an, dass die Thematisierung von Nahrung und Speisen bzw. die Darstellung des Essens als niedere, körperliche Tätigkeit in der kanonischen Literatur des 19. Jahrhunderts selten war. Dies führt sie darauf zurück, dass für die damalige Gesellschaft das Körperliche grundsätzlich ein Tabu-Thema war (vgl. Scarpa 2000: 66). Umso verständlicher ist die Kritik an Zolas offener Behandlung des Themas. Marjolin ist nämlich laut Zola kein »nain romantique«, sondern »le jeune garçon réaliste« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 62). Für La Curée verwendet Zola das Phèdre-Schema Jean Racines, um das Thema des Inzests zu inszenieren (»Décidément, c’est une nouvelle Phèdre que je vais faire« [N.a.f. 10282, Curée: fo 298]), und antizipiert eine mise en abyme im Roman, da ihm »Renée à une représentation de Phèdre, avec Maxime« vorschwebt (ebd.: fo 241; vgl. hierzu Dezalay 1971). Weitere Beispiele aus dem Ventre de Paris sind Cadine und Marjolin als »Paul et Vir-
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Wie in Le Ventre de Paris startet Zola die Raumproduktion im Dossier von La Curée mit einem Bild aus dem Bereich des gelebten Raums der Zeit bzw. Zolas Erfahrung des Lebens in der Stadt. Der »tourbillon«, die »appétits« und die »fortunes rapides« sind typische Formulierungen in Beschreibungen der Haussmannisierung (vgl. Kapitel 5, Fußnote 8). Sie korrelieren mit Zolas Verständnis der Modernisierung (vgl. Kapitel 4.1): Aristide, emporté dans le tourbillon des affaires (N.a.f. 10282, Curée: fo 296); Il ne faut pas oublier que mon roman est le tableau vigoureux du déchaînement des appétits et des fortunes rapides et de surface. Tout doit être compris dans ce sens. […] Pour aller à leur but, les personnages enjambent tous les obstacles, rien ne les arrête. […] [D]ans le tourbillon qui les emporte, on pourrait les montrer comme affolés, écœurés de satiété, ayant une monomanie (ebd.: fo 297, 298).77 Die im Zitat implizierte Idee des Fortschritts verdichtet sich im epochentypischen Bild der dynamischen Bewegung der Figuren. Sie ist mit der Metapher des »ventre« zu verbinden, die das Bild des Kreises und einen Vergleich von innen und außen bzw. Ausgrenzung evoziert (vgl. Scarpa 2000: 33; vgl. auch Lumbroso 2004: 209). Hiermit vollzieht Zola den Übergang vom metaphorischen Erfassen des Raums zur topologischen und geometrischen Aufzeichnung der Gegebenheiten, das heißt den Schritt der codierten und stilisierten Abstraktion des konkreten Raums (vgl. Lumbroso 2004: 99).
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ginie aux Halles« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 111), Lisas Aussehen ist vergleichbar mit »un Rubens« (ebd.: fo 48, 49), und »Théocrite aux Halles« beschreibt die Situation Claudes gegenüber einer Verkäuferin (ebd.: fo 71, 72). Die Figuren und Bilder aus dem Haushalt der Literatur sind Teil der »memoria« des Produktionsvorgangs, des »déjà lu« Zolas (Pierre-Gnassounou 2009: 184). Die Variation des ursprünglichen Schemas im Falle Marjolins ist eine von drei Formen des Zolaʼschen Umgangs mit der literarischen Tradition. Die zweite Form ist die Dissoziation, das deutliche Abweichen vom Schema, die dritte Form die klare Imitation von Vorbildern wie Shakespeare oder Balzac (vgl. ebd.: 186ff.). Zola berücksichtigt außerdem die verschiedenen literarischen Genres, wenn er von »drame«, der bereits erwähnten »idylle dans les Halles et les champs« oder der »bout d’histoire fantastique« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 35, 75) spricht (vgl. Hamon 2004b: 86). Ein letzter intertextueller Bezug ist der auf die eigenen Romane und deren Orte und Figuren. In der Einleitung wurde schon darauf hingewiesen, dass Zola mit Le Ventre de Paris das Gegenstück zu La Curée entwirft (vgl. N.a.f. 10338, Ventre: fo 50). In der Ébauche des Hallenromans merkt Zola an, dass seine Idylle nicht der Miette und Silvères aus La Fortune des Rougon gleichen soll (vgl. ebd.: fo 71; vgl. auch Hamon 2004b: 87); in Au Bonheur des Dames gilt es, die Ähnlichkeit zwischen Denise und Madame Hédouin zu vermeiden: »pas répéter Madame Hédouin pourtant« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 14). Zola geht in den Premiers détails speziell auch auf die Situation Renées ein: »Blanche [Renée, J.K.], dans son tourbillon est à cette propriété qui ne lui appartiendra que plus dévorée« (N.a.f. 10282, Curée: fo 310); im zweiten Kapitel des Romans soll Renée »en plein tourbillon« präsentiert werden (ebd.: fo 317).
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Die topologischen Grundlagen der Romane Zolas äußern sich erstens im konfliktgeladenen Kontrastieren von Schauplätzen und Figuren auf der makrostrukturellen Ebene (vgl. Schmidt 1989); zweitens in der Konstitution von Teilräumen und Grenzen, die überschritten und semantisch aufgeladen werden; Zola veranschaulicht sie drittens mit Räumen, die in einem Verhältnis der Kontiguität, der Inklusion und der Intersektion stehen, und dynamisiert sie viertens durch Bewegungsmuster (vgl. Lumbroso 2004: 217; vgl. auch Frank 2017: 100ff.). Auf alle vier Elemente wird im Folgenden kurz eingegangen. »La bataille des maigres et des gras« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 100), der »grand commerce absorbant, écrasant tout le petit commerce« und »la lutte posée entre les deux magasins« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 5, 40) sind Beispiele für eine direkte Nennung der kontrastiven Struktur, die immer auch an eine Besetzung von Raum gebunden ist, der erst durch die verschiedenen Rollen der Charaktere im Raum (Fischverkäufer, Blumenhändler etc.) vollständig dargestellt werden kann; zusammen mit der Gegenüberstellung des alten Paris der »vraie bourgeoisie« (N.a.f. 10282, Curée: fo 218) und des neuen Paris der Spekulation um den Stadtraum in La Curée konstituiert sich somit bereits in den Dossiers das Thema der von Interessengruppen umkämpften Territorien (vgl. Dezalay 2003: 31). Es verwundert daher nicht, dass Zola häufig ein militärisches Vokabular verwendet, um einerseits den Inhalt der Romane zu beschreiben und andererseits der Statik des Rahmens durch die Dynamisierung der Konflikte um den Raum als Motor der Handlung entgegenzuwirken: »Il y a lutte, j’ai une intrigue« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 66) heißt es in den Arbeitsbüchern vom Ventre de Paris bezüglich des Verhältnisses zwischen Lisa und Marjolin. »La lutte des deux magasins doit être le vrai drame, très vibrant. L’ancien commerce battu dans une boutique«, schreibt Zola im Ébauche zu Au Bonheur des Dames (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 9); Denises »lutte […] dans le rayon«, die »rayons en guerre« verschärfen den Konflikt (ebd.: fo 99, 100).78 Zo78
Im Entwurf des dritten Kapitels betont er, »[de, J.K.] ne pas oublier de donner à Octave une lutte dans les affaires« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 77). In der Gesamtkomposition der Romane, der »dispositio« nach Philippe Hamon, die sich in den Arbeitsbüchern von La Curée und Le Ventre de Paris an der klassischen Tragödie orientiert, spielt der »drame« eine wichtige Rolle (vgl. Desfougères 1987). Die Kapitel von La Curée teilt Zola wie folgt ein: »1er = Exposition – 2 = Tout le passé – 3 = l’inceste – 4 = Le drame se noue, Aristide se remet à sa femme et à son terrain. – 5 = Le drame en plein, entre le père et le fils, Renée avoue un amant. – 6 = Soirée chez les mareuils [sic!], pendant du chap. 1er , où nous retrouvons tous nos personnages, et où le coup final se prépare. – 7 = La crise« (N.a.f. 10282, Curée: fo 211). Der Plan von Le Ventre de Paris ist ähnlich strukturiert, es ist unter anderem von dem »Commencement de l’intrigue«, dem »Développement du drame« oder dem »Dénouement« die Rede (N.a.f. 10338, Ventre: fo 3, 4). Im Ébauche zu Au Bonheur des Dames vermerkt Zola zum Beispiel: »[J]e puis mettre cette boutique dans le pâté de la maison et la faire absorber; ce qui me donnerait un drame d’un immeuble longtemps convoité et enfin conquis« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 6); im Plan wiederum möchte er »surtout le drame avec Colomban et Geneviève« (ebd.: fo 148), und mit
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la fügt etwas später im Plan die epische Note des »lutte pour la vie« hinzu (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 30, Hervorh. i.O.; vgl. auch N.a.f 10278, Bonheur: fo 83, 66). In der gleichen Sektion definiert er das neunte Kapitel von La Curée über die »faiblesse de Maxime et les luttes, les hésitations de Renée« (N.a.f. 10282, Curée: fo 235), bezeichnet folglich auch Renées psychologische Tortur als »lutte«. Es wird deutlich, dass die kontrastive Struktur nicht nur ein Mittel der Einteilung der Räume, sondern auch ein narratives Verfahren ist, durch das die Handlung interessanter gestaltet und vorangetrieben wird. In diesem Punkt ist die Grenze oder Grenzüberschreitung bei Zola das zweite effektive Hilfsmittel, um die topologischen Muster der Romane vorzubereiten. In allen Dossiers werden verschiedene Figuren oder Gruppierungen eingesetzt, die sich in Lagern gegenüberstehen und von Zola bewertet werden. Sie versammeln sich um eine Hauptfigur, die die Grenze überschreitet. Wie Lisa in Le Ventre de Paris sind Octave und Denise der »pivot« der Handlung des Kaufhausromans (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 28, 88, 162).79 Zola setzt sie und ihre Umgebung auf der mikrostrukturellen Ebene über Nomen, Präpositionen und Verben der Frontalität in Beziehung zu anderen Charakteren und Orten – im Plan zu Au Bonheur des Dames hält er fest: »Un jour, elle [Denise, J.K.] se trouve face à face avec son oncle Baudu« und »Colomban opposé aux vendeurs d’en face« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 148). Auch im Dossier zu La Curée werden die Figuren über diese sprachlichen Mittel in Lager eingeteilt: »Blanche en face de Louise« (N.a.f. 10282, Curée: fo 210), »[l]es trois personnages [Renée, Maxime, Aristide, J.K.], les opposer à un moment« (ebd.: fo 243), »belle opposition entre les deux [Florent et Quenu, J.K.] (N.a.f. 10338, Ventre: fo 56)«, »Lisa vis-à-vis de la famille, […] en face de sa sœur Gervaise, […] en face du dieu de la halle« (ebd.: fo 65) oder »la marchande de poisson devient […] la rivale de Lisa« (ebd.: fo 75, Hervorh. i.O.) lautet es im Plan zu Le Ventre de Paris.80 Auf diese Weise nutzt Zola erstens die Funktion des Kontrasts, um die Figuren physisch im Raum
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Blick auf ein einschneidendes Ereignis heißt es: »Une chose très dramatique comme un suicide peut-être« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 13). Zola fasst zusammen: »Tout le drame va donc être dans l’opposition d’Octave et de la femme« (ebd.; vgl. auch Hamon 2009: 259). In den Premiers détails zu La Curée schließt Zola die Position des Lesers ein, wenn er notiert: »A la fin du chapitre, il faut que les lecteurs comprennent le drame« (N.a.f. 10282, Curée: fo 317). Zola bezeichnet die Frau in der Rolle der Kundin zusätzlich als »pivot« des Romans (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 173), doch sind die Kundinnen im Dossier noch kein Motor der Handlung. Dies ändert sich im Roman (vgl. Kapitel 7, insbesondere 7.3.3). Folgende weitere Beispiele können angeführt werden: »En outre Mme Lecœur et la Sarriette contre Gavard« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 19); »Il est dans le trou heureux où la nourriture se fabrique. Comparaisons. Mettre cela au milieu de l’œuvre, pour produire une opposition« (ebd.: fo 80); »Là peut être la rivalité. Lisa et la Normande se détestent parce qu’elles sont belles toutes deux, et qu’on les oppose l’une à l’autre. Mlle Saget va de l’une à l’autre, rapportant les cancans, soufflant sur leur rivalité« (ebd.: fo 91).
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anzuordnen, und bringt zweitens ein semantisches Wertesystem in Gang, in das widersprüchliche Bilder aus dem gelebten Raum der Epoche eingespeist werden. Zum einen werden der Großhandel, die Pracht der Gebäude und die Architektur der Pariser Hallen mit einer positiven Vorstellung von Fortschritt verknüpft. Zola formuliert das Thema des strahlenden Triumphs vor allem im Dossier für den Hallenroman in Wendungen wie »Les Halles changées en fontaine de feu« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 40) oder »Le soleil sur les légumes. Flamboiement« (ebd.: fo 16) und vergleicht im Dossier zu Au Bonheur des Dames das Kaufhaus mit einem »temple élevé à [la, J.K.] gloire [de la femme, J.K.]«.81 Er gibt dem Fortschritt zum anderen aber immer auch eine bedrohliche Note: »C’est par le ventre que la bourgeoisie peureuse est prise, […] les Halles grondent, avec leur appétit éternel« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 59). Eindringlicher wird dies noch, wenn Zola Florents Weg in ein bedrohliches Paris heraufbeschwört: »Je ferai tomber Florent après le pont, […] avec Paris monstrueux deviné dans le silence, […] au bout de la file régulière des lumières […] de cette ligne de feu« (ebd.: fo 245). Das Kaufhaus wiederum hat »le sang de [Madame Hédouin, J.K.] dans les fondements« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 14; vgl. fo 59), löst bei der Klientel eine »névrose« bzw. »griserie« (ebd.: fo 169) aus und treibt den Kleinhandel im ökonomischen Wettstreit zum »martyre« (ebd.: fo 15).82 Die Konfiguration der Topologie kann im dritten Schritt über die Kontrastierung und Grenzziehung hinaus weiter eingeteilt werden in Phänomene der Konti81
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Diese positive Zeichnung der Hallen ist deswegen auch so interessant, weil der Ort damals vielmehr mit negativen Attributen wie der Krankheit belegt wurde (vgl. Corbin 2004: 8). Vgl. zur Antizipation der zentralen Beschreibungen im Roman und zur Berücksichtigung der zeitlichen Abläufe und ihrer Auswirkungen auf die visuelle Gestalt der Hallen: »[D]escription du jour levant sur les légumes« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 16); »Les Halles, le soir, rappel« (ebd.: fo 3); »La charcuterie, dans le soleil levant« (ebd.). Zola geht im Dossier von Au Bonheur des Dames vergleichbar vor: »Salon décrit brièvement. Fenêtres sur les Tuileries. Jardin. Octobre« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 66); »Alors l’aspect pittoresque, le magasin dans les ténèbres, avec les lanternes de service« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 105); »Enfin finir par une description du Bonheur, le soir, au sortir de la table, éclatant de lumière, […] le Bonheur resplendissant à travers la pluie« (ebd.: fo 38). Für Mitterand ist das Thema des Feuers eines der »pures valeurs ou de purs éléments, comme la nuit, le noir […], la terre, le vent, le corps« und im Bereich des Mythischen anzuordnen (Mitterand 1987: 89f.). Zolas Faszination für die Gestalt der Hallen zeugt von seinem Interesse an der neuen Architektur der Zeit (vgl. Hamon 1989). Vgl. zur Bedeutung der Feuermetaphorik als Element der Thermodynamik in Zolas Werk Serres (1975). Bachelard (1992 [1949]) untersucht in dieser Richtung Zolas heimliches Verlangen nach Feuerszenarien. Die Bedrohung geht in La Curée von dem Gewächshaus aus, ein Sinnbild für das Element der Erde und des Körperlichen. Maxime und Renée »se sentaient pris dans cette puissante végétation« (N.a.f. 10282, Curée: fo 337), malt sich Zola aus. Demgegenüber zeichnet er die Stadt und die Erinnerungen Renées an ihre Kindheit in einem positiven Licht. Die Schlussszene soll umfassen: »Le grand paysage. Renée dans la chambre des enfants. La ville complice, là-bas; ici la ville tranquille« (ebd.: fo 359).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
guität, der Inklusion und der Intersektion (vgl. Lumbroso 2004: 217). Zola evoziert in diesem Kontext räumliche Nähe anhand von präpositionalen Positionierungen. Renée befindet sich im Café »en tête-à-tête [avec Maxime et, J.K.] s’abandonne naturellement« (N.a.f. 10282, Curée: fo 227); beim Spaziergang im Bois de Boulogne gedenkt Zola, beide »côte à côte« zu positionieren (ebd.: fo 317). Er schafft bezüglich des Kaufhauses und der Hallen die Illusion der Inklusion oder Einheit, indem er beide Orte im Bild des »colosse«, des »monstre« und der »machine qui se met en branle/à vapeur« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 6, 23, 36, 60 und N.a.f. 10278, Bonheur: fo 69) alles in ihrem Umfeld einnehmen lässt (vgl. N.a.f. 10277, Bonheur: fo 6).83 Dem Schema der Intersektion entspricht die Position Aristides »entre Eugène et Agathe, sa femme et ses enfants« und Renée »prise entre Aristide […] et Maxime« (N.a.f. 10282, Curée: fo 295, 302) sowie das Geschäft Bourrasʼ »pris entre […] le Bonheur et l’ancien hôtel Duvillard, […] il se trouve serré« (N.a.f. 10278, Bonheur: fo 328; N.a.f. 10277, Bonheur: fo 128, 130); Denise ist in der Konfektionsabteilung, »le rayon de la lingerie à côté, avec Marguerite entrevue« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 58). Die Nähe zwischen den Figuren erweckt im Falle von Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames den Eindruck einer eingeschworenen Gemeinschaft, die durch den Eintritt der Figuren Denise und Florent angegriffen wird (vgl. N.a.f. 10338, Ventre: fo 93, N.a.f. 10277, Bonheur: fo 53). Hier deutet sich eine Dynamisierung des Geschehens durch die Bewegung einer Figur an, was uns zum vierten Element in der Topologie der Romanstruktur führt. Die verschiedenen topologischen Schemata werden von Zola kombiniert und laut Lumbroso (2004: 104) an eine »microtopologie des corps en mouvement« gekoppelt, was mit Blick in die Dossiers der drei Romane bestätigt werden kann. Zola dynamisiert die Netzwerke bereits in den Plänen mithilfe der Anlage verschiedener Bewegungsmuster. Charaktere kommen an Orten an, steigen Stufen hinauf und hinab, betreten Räume oder irren umher.84 Im Dossier von Au Bonheur des Dames beschließt Zola, das Treiben vor und in dem Kaufhaus mithilfe der Bewegungen von Figuren und Fahrzeugen festzuhalten:
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Diese homogenisierende Darstellung der fragmentierten Stadt Paris ist ein typisches Verfahren der Literatur. Bereits bei Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot oder Louis-Sébastien Mercier werden positive Attribute wie die kulturelle und intellektuelle Diversität von der Idee der babylonischen Stadt, der Stadt als Hölle oder Abgrund, als mythisch, labyrinthisch oder als schwarzer Ozean (Hugo, Poe, Baudelaire) überschattet. Die Prämisse dieser Interpretationen war die Lesbarkeit der Stadt und die mögliche Übertragung der urbanen Erfahrung in die Literatur (vgl. Stierle 1993; vgl. auch Kröger [i. Ersch.]). Vgl. »Florent entre aux Halles« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 24); »Gavard arrive«; »Il monte«; »Claude le fait descendre« (ebd.: fo 6); »toutes mes femmes défilent« (ebd.: fo 21); »[Claude, J.K.] viendra rôder dans la Halle« (ebd.: fo 61); »Elle descend, dans un châle« (N.a.f. 10282, Curée: fo 358); »une promenade au Bois« (ebd.: fo 317); »Larsonneau marche de long et large« (ebd.: fo 347); »Ils descendent dans la serre« (ebd.: fo 227).
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[L]es paquets qu’on commence à descendre. […] Puis distribuer les clientes et donner l’impression de foule […]. Les voitures qui s’écrasent de plus en plus dehors. Et tout le mouvement intérieur (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 88); Les voitures circulant dans tout Paris (ebd.: fo 212); La maison décrite par la promenade d’Octave, du haut en bas (ebd.: fo 25); Mes clientes promenées de comptoir en comptoir me donnant l’animation, la vie (ebd.: fo 26; vgl. fo 89).85 Das Zirkulieren der Ware und die Bewegungen der Charaktere in einem topologischen Netz weisen auf die dynamische Natur räumlicher Phänomene hin, die in den Dossiers stärker ins Gewicht fällt als die Statik von Gebäuden und Menschen. Und dies selbst dann, wenn Zola mit dem Format der Karte arbeitet. War bislang erst in Ansätzen die Rede von geometrischen Figuren als Hilfsmittel der Raumkonzeption, sind diese im Zusammenhang mit den Skizzen Zolas als letzter Punkt der konzeptuellen Vorarbeit im Entstehungsprozess der Romane zu analysieren. Sie ermöglichen dem Autor einen gänzlich anderen dokumentarischen Zugang zum materiellen Raum, der sich aus den damaligen Zeichnungen industrieller Objekte, den croquis, ableitet (vgl. Lumbroso/Mitterand 2002: 313).86 Die Skizzen verankern die räumlichen Charakteristika im graphischen Gedächtnis des Autors und haben im Vergleich zur Topologie des Raums die Funktion, dessen morphologische Strukturen, Proportionen und Distanzen offenzulegen und spätere Beschreibungen, Verortungen und Wegestrukturen zu schärfen (vgl. Lumbroso 2004: 131). Zola ist fasziniert von der neuen Architektur der Stadt. Er holt zum Beispiel für Au Bonheur des Dames Auskünfte bei seinem Freund, dem Architekten Frantz Jourdain, ein und nimmt Details in sein mentales Repertoire auf (vgl. Abb. 2; vgl. zum Beispiel Corr, IV: 303, 18.05.1882, À Frantz Jourdin). Seine Zeichnungen des Louvre und des Bon Marché aus dem Frühjahr 1882 lassen die unregelmäßigen Formen der realen Innenraumarchitektur erkennen (vgl. Corr, IV: 424; vgl. Abb. 3, 4), die er in
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In den beiden anderen Dossiers finden sich weitere Dynamisierungen: »Aspect du boulevard vers minuit. […] En dessous, sur le boulevard, un roulement continu de voitures, des yeux qui filent. L’omnibus de la Madeleine. […] Le va-et-vient des promeneurs, dans l’ombre, puis éclairés. Effet de promenade lente. Les filles allant de café en café« (N.a.f. 10282, Curée: fo 228); »Tout le mouvement des rayons avec les vendeurs et vendeuses« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 167); »En haut, Denise qui a pris une entorse, en montant à l’atelier, fait la grasse matinée. […] Mais elle va descendre, elle quitte sa chambre« (ebd.: fo 174); »La réclame formidable qui émeute Paris, la foule sur la rue nouvelle, indiquer le mouvement et les voitures« (ebd.: fo 229); »Denise conduit la femme de Jean au rayon des confections« (ebd.: fo 233). Olivier Lumbroso und Henri Mitterand erläutern, dass die »croquis« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmalig in Pierre Larousses Grand Dictionnaire Universel als »genre de notes« auftauchen und zum festen Bestandteil der Reisebücher von Schriftstellern wurden (vgl. Lumbroso/Mitterand 2002: 313). Der Zweck der Zeichnungen Zolas ist nicht die präzise Repräsentation des Raums, was der stenographische Stil der Skizzen beweist (vgl. ebd.).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
seiner Skizze des fiktiven Bonheur ausbessert (vgl. Abb. 5).87 Auch die Verteilung der diversen rayons auf den Etagen hält Zola fest, schafft mit der Seidenwarenauslage in der Mitte der Abteilung insgesamt aber einen zentralen Anker (vgl. Abb. 5). Für die Vorbereitung von La Curée wiederum besichtigt Zola zwischen Herbst 1869 und Frühling 1870 mehrfach das Wohnhaus des Chocolatiers Menier am Parc Monceau und fertigt einen geometrischen Lageplan der verschiedenen Räume an, in dem sich seine Vorliebe für die symmetrische Anordnung der Zimmer kundtut (vgl. Abb. 6; vgl. Lumbroso/Mitterand 2002: 328).88 Hier findet er vor allem im Gewächshaus, im Salon und in den Privaträumen zentrale Szenerien sowie den Grundtenor für den späteren Roman (vgl. Abb. 7-9). Die opulente Einrichtung, die er in seinen Notizen dokumentiert, ist nämlich Zeichen für den gelebten Raum des Second Empire bzw. die maßlosen »appétits« der Neureichen. Das Gewächshaus nimmt in diesem Kontext einen besonderen Stellenwert ein. Zola skizziert die Gestaltung der serre auf einem Extrablatt und beschreibt die Atmosphäre an diesem Ort, der folglich schon im Dossier einen wichtigen Platz einnimmt (vgl. Kapitel 4.2.2.2).89 Das Dossier von Le Ventre de Paris knüpft hier insofern an, als Zola nach dem Prinzip des Schachbrettmusters ebenso einen euklidischen Raum skizziert (vgl. Abb. 10-13). Er verwendet für den Plan der Hallen offizielle Karten der Stadt und die Zeichnungen eines Informanten und füllt sie mit seinen persönlichen Gängen in das Quartier sowie seinen Notizen aus dem Werk Jules Ferrys zur Haussmannisierung (vgl. Lumbroso 2004: 219; vgl. Abb. 11). Es fallen zuerst die quadratisch gezeichneten Pavillons ins Auge, die in zwei parallelen Geraden angeordnet werden. Sie bieten Zola bereits auf den ersten Seiten des Dossier Orientierungspunkte für die Schauplätze der Handlung und lassen eine strukturelle Homologie zwischen der konkreten physischen Anlage der Hallen und der textuellen Verteilung der räumlichen Informationen vermuten (»Pavillon de la volaille« [N.a.f. 10338, Ventre: fo 4], »criée de la viande« [ebd.], »criée de la marée« [ebd.: fo 3]). Deutlich erkennbar ist daneben die Anlage zweier Achsen (rue de Rambuteau, rue du Pont-Neuf) im Stil der grande croisée von Paris, welche sich an der Pointe SaintEustache schneiden (vgl. Abb. 10). Sie konkretisieren die topologischen Strukturen
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Der Bon Marché wurde 1852 von Aristide Boucicaut gegründet und 1869 vergrößert. Der Louvre wiederum eröffnete 1855 unter der Leitung von Alfred Chauchard. Zola nimmt auch das Kaufhaus Printemps zum Vorbild, beschränkt den Großteil seiner Erkundungen aber auf die ersten beiden Geschäfte (vgl. Car, Bonheur: 147). Zola besichtigt bereits 1867 das Haus der Familie Houssaye in der rue Beaujon, ist zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht konkret mit dem Rougon-Macquart-Zyklus beschäftigt (vgl. Car, Curée: 27). Patrick M. Bray nach zu urteilen suggeriert die »juxtaposition of places and text on the map […] a sort of prenarrative« (Bray 2013: 161f.).
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und entfalten das Programm des Romans mittels des an ihnen haftenden semantischen Wertesystems – die rue de Rambuteau ist ein Knotenpunkt des Bösen mit der Metzgerei der Quenu, der listigen Madame Saget und der Schenke Lebigres (vgl. N.a.f. 10338, Ventre: fo 185), Sainte-Eustache ein heller Fleck inmitten der sonst eher düsteren Straßen rund um die Hallen und ein Erinnerungsort für Florent, der in der angrenzenden rue Montorgueil gefangen genommen wird (vgl. ebd.: fo 136-143; vgl. auch Lumbroso 2004: 220f. und 2002: 338).90 Hier wird deutlich, dass Zola die neuen städtischen Strukturen und deren negative oder positive Wahrnehmung in der Öffentlichkeit für die Konzeption der Räume nutzt. Die Kreuzung ist nicht die einzige geometrische Figur, die der visuellen Ideologie der Stadtplanung bzw. des Stadtbilds entspringt und in Zolas Arbeitsbüchern auftaucht. Für die Genese des Raums von Au Bonheur des Dames ist die Grenzlinie und mit ihr der »focus spatial« im Raum (Lumbroso 2004: 154, Hervorh. i.O.) noch vor den weiter oben aufgedeckten topologischen Merkmalen der ausschlaggebende Faktor für die räumliche und narrative Ausgestaltung der Geschichte (vgl. ebd.: 152). »[M]on point de centre est dans le magasin«, vermerkt Zola in der Ébauche des Romans (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 19) und richtet sein Hauptaugenmerk auf die place Gaillon, Ecke rue de la Michodière und rue Neuve-Saint-Augustin, ohne sich weiter mit der rue Monsigny zu beschäftigen (vgl. Abb. 14). Ähnlich hierarchisch geht er in dem Raumausschnitt vor, der von der avenue de l’Opéra, den Boulevards, der rue Richelieu und der rue Neuve-des-Petits-Champs gebildet wird (vgl. Abb. 15). Zola spart in seiner Skizze die angrenzenden Teile der Stadt aus; wenn dem eingezeichneten Durchbruch der rue du Dix-Décembre größeres Gewicht eingeräumt werden darf, geht es ihm vielmehr um die Antizipation territorialer Kämpfe um den Raum im Arrondissement (vgl. Lumbroso/Mitterand 2002: 438ff.). Diesen Eindruck verstärkt Zolas thematischer Kommentar der Skizze (Abb. 15): »Le grand magasin tuera les commerces des rues Neuve-Saint-Augustin […], ceux des rue Richelieu, […] enfin fera sentir son influence jusqu’aux rues Saint-Honoré, Montmartre, de
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Florent und die anderen Figuren werden den diversen Quartiers und Straßen ihrem Charakter nach zugeordnet (vgl. N.a.f. 10338, Ventre: fo 146-149). Zola notiert sogar bezüglich der Rue Courtalon und der Impasse des Bourdonnais, sie seien »excellent pour y loger un pauvre ou un original/un personnage« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 137, 138). Er beschreibt eingehend die spätere Fleischerei: »Je la placerai dans la rue Rambuteau, au n° 110, en face de la poissonnerie. […] Elle occupera tout le rez-de-chaussée, avec une allée à droite. […] Ma charcuterie se trouve au soleil l’après-midi« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 185). In La Curée ist die Stadtstruktur ähnlich präsent. Der Laden Madame Sidonies ist in der rue Faubourg Poissonnière, Eugène in der rue Faubourg Saint-Honoré situiert. Wird hierzu der soziale Aufstieg Saccards geographisch von der rue Saint-Jacques bis zum Haus am Parc Monceau nachvollzogen, ergibt sich laut Olivier Lumbroso ein Dreieck der Machtbeziehungen, in dem Saccard von Sidonies Intrigen auf der einen und Eugènes Position in der Politik auf der anderen Seite profitiert (vgl. Lumbroso 2004: 220).
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la Paix et Boulevards« (N.a.f. 10278, Bonheur: fo 324).91 Ganz offensichtlich scheint in diesem Kommentar dann auch Zolas persönliche Erfahrung der kämpferischen Auseinandersetzung um Paris durch. Insgesamt sind die Skizzen in den Dossiers weit davon entfernt, die Realität mimetisch abzubilden. Sie erzeugen in ihrer Gänze nur den Anschein von Vollständigkeit oder Präzision. Obwohl sie ein wichtiges Mittel zur Erfassung des realen Raums sind, verfremdet Zola die Daten der Informanten und nutzt sie für die imaginative Erweiterung (vgl. Lumbroso 2002: 115).92 Genauso wenig erwecken die topologischen Informationen den Anschein einer einfachen Wiedergabe realer Netzwerke in der Stadt. Sie enthalten eine Dynamik, die das Prinzip der Ordnung herausfordert. Wie auch im Fall der Skizzen entziehen sie sich durch Metaphern der Überfülle und des Verzehrens aus dem gelebten Raum des »gesellschaftlichen räumlichen Haushalts« der Kontrolle Zolas, oder um es abschließend mit Lumbroso (2004: 227) zu sagen: »L’imaginaire des métaphores organiques se superpose à la rationnalisation rassurante, pour fabriquer une topographie urbaine dialogique qui annonce le débordement d’énergie.« Hier tritt erneut eine gewisse Opazität der Form auf den Plan, die die Transparenz der Konzeptionen unterläuft. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn im nächsten Schritt die Feldforschung betrachtet wird.
4.2.2.2
Feldforschung mit allen Sinnen – l’espace perçu
Der Schritt von den mentalen und visuellen Raumkonzeptionen hin zur praktischen Feldforschung macht eine methodische Weichenstellung nötig. Zola verlässt das Terrain der choses lues, um seine Vorarbeiten mit den documents humains bzw. den choses vues anzureichern. Er inspiziert die Hallen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten, betritt die Zimmer der Angestellten des Bon Marché, verfolgt den Weg der Ware vom Lagerraum bis in die Abteilungen und durchstreift die Etagen des Louvre. Ob das Eintauchen in die Sprache, die Gewohnheiten, kurz gesagt das Leben der Menschen nun als »dichte Beschreibung« (Geertz 1999) des Ethnographen,
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Zola ergänzt diese Beschreibung um eine semantische Aufladung, wenn er das Vorbild für die Häuser der Baudu und der Bourras findet und sie den Gebäuden der rue de la Michodière gegenüberstellt: »Rue de la Soudière je prendrai le numéro 3, pour y installer les Baudu. […] Boutique très basse de plafond, avec entresol encore plus bas, écrasé. La façade est complètement plate et nue; […]. Allée noire, cour intérieure humide et obscure; le pavé, le trottoir semble entrer dans la maison, quand il fait gras. […] Ce côté de la rue de la Michodière compte cinq grandes maisons, des hôtels avec de larges cours intérieures. […] Très beaux premiers étages, avec des plafonds de cinq mètres« (N.a.f. 10278, Bonheur: fo 326, 327). Wichtig ist, dass die Stilisierung oder Konstruktivität der croquis keine Besonderheit Zolas, sondern ein grundsätzliches Kennzeichen von Karten ist. Letztere bilden nie einfach physische Oberflächen der Erde mimetisch ab (vgl. Dünne 2011: 32).
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als Analysemethode der Geographie oder von Zola im Roman expérimental als »sociologie pratique« (CDLP, X: 1188) bezeichnet wird, ist zweitrangig.93 Wichtig ist, dass sich sein Erkenntnisinteresse auf die Erforschung routinierter Handlungen von Menschen in ihrem jeweiligen Milieu richtet, wobei die sinnlich-körperliche Präsenz des teilnehmenden Beobachters zur Aufnahme der materiellen Daten des espace perçu notwendig wird (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Letztere benötigt Zola, um sein naturalistisches Programm der genauen Wiedergabe realer Phänomene zu legitimieren, doch dringt auf diese Weise in den Bereich des wahrgenommenen Raums ein Moment des Kontrollverlusts ein. Obwohl Zola die praktische Arbeit erst beginnt, wenn er einen ersten Plan des jeweiligen Romans angefertigt hat, entsteht bei der Materialsuche eine Art Überschuss, der die engen Grenzen des Rahmens überschreitet und die Limitiertheit der Idee einer lesbaren Stadt aufzeigt. Denn sobald der Körper als Forschungsinstrument in einer ganzheitlichen Raumerfahrung eingesetzt wird, wenn Sinne, Affekte und Emotionen ins Spiel kommen, zählt eine andere Ebene der Wissensgenerierung als die Rationalität des encadrement. Hier geht es vielmehr um das Eintauchen in die Atmosphäre eines Raums: »Il y a un attrait pour la topographie qui est un besoin de la présence des choses, et souci de l’atmosphère«, meint auch Neefs (1990: 65). Weiter oben im Text sind der Seh- und Hörsinn als Teil der Ideologie des Raums exponiert worden und es überrascht nicht, dass diese beiden Sinne aufgrund der ihnen kulturell eingeschriebenen Funktionalisierung generell die bevorzugten Informationsfilter in der Feldforschung Zolas sind. Die Carnets d’enquêtes legen hiervon ein Zeugnis ab. In den allgemeinen Bemerkungen zur Topographie der Hallen, des Kaufhauses und der Waren, zu den angrenzenden Geschäften, dem Aussehen und Verhalten der Verkäufer sowie zum hôtel particulier und seiner Innenausstattung dominieren visuelle und auditive Impressionen. Besonders die Carnets für La Curée reduzieren die sinnliche Vielfalt fast vollkommen auf das Sehen und beschränken sich auf den Bois de Boulogne, das Quartier um den Boulevard Malesherbes und den Parc Monceau sowie die Ile Saint-Louis. Zola beschreibt unter anderem die Umgebung des Hauses des Chocolatiers Menier – »[d]e l’hôtel on voit le jardin en pente et les pelouses du Parc Monceau« (Carnets [Car], Curée: 28) – und die symmetrische Gestaltung des Parks: Quand on regarde le lac de face, des rondeurs, les petits bois de chaque côté, au fond des îles, les massifs. Nature qui n’est d’aucun pays, la Suisse, la Norvège, la
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Die dichte Beschreibung meint im Gegenteil zur rein deskriptiven Beschreibung die Berücksichtigung des kulturellen Kontexts menschlichen Verhaltens durch den Beobachter (vgl. Geertz 1999: 12).
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Normandie; quand on regarde le lac en contrebas, avec les allées jaunes qui descendent et serpentent, jardin colossal (Car, Curée: 37f.).94 Neben den Ausmaßen des Parks und seiner befremdlichen »nature« interessieren ihn im Haus vor allem die Lage der Zimmer, das Inventar der Möbel und die Farbgestaltung, so zum Beispiel im grand salon: »Meuble rouge, bois doré, damas de soie; rideaux damas de soie rouge avec double rideau, store poult-de-soie bleu clair« (ebd.: 28); im Bad wiederum sieht er »[s]ur le sol une moquette blanche et grise, une grande peau d’ours noir tenant une large partie du sol, […] une baignoire de marbre rose, surmontée d’une glace de Venise encadrée d’argent« (ebd.: 30). Aus der Vielzahl von wahrgenommenen Details, die unkommentiert bleiben, werden später im Roman das Bärenfell und die Badewanne eine große symbolische Bedeutung erhalten. Insgesamt sind die Notizen zu La Curée weniger ausführlich, was den Eindruck erweckt, Zola hätte bereits gewusst, welche Informationen er für den späteren Roman verwenden wird. Die Carnets von Au Bonheur des Dames und Le Ventre de Paris sind dagegen voll von disparaten visuellen und auditiven Eindrücken. Zolas Interesse gilt wie im Fall von La Curée vor allem den Licht- und Farbspielen. Es seien wegen ihrer strukturierenden und leitmotivischen Funktion sowohl in den Dossiers als auch im Roman zuerst die Aufzeichnungen zur Weißwarenausstellung im Bon Marché herausgegriffen: Pour l’exposition du blanc, tout le magasin est blanc, tous les rayons mettent à l’étalage ce qu’ils ont de blanc […]. On garnit de blanc les rampes des galeries supérieures et des escaliers. Tous les trumeaux sont blancs. Des rideaux tombent du vitrage, des dentelles larges pour meubler. Des fleurs blanches, des chaussettes blanches (Car, Bonheur: 166).95 94
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Für Zola sind die Distanzen und Ausblicke von bestimmten Fluchtpunkten aus wichtig. Er beschreibt das Vorbild des hôtel Béraud auf der Ile Saint-Louis wie folgt: »Il y a un petit balcon en haut ouvert sur une grande chambre. On voit de là: en face des arbres du Port-aux-Vins, plus loin les massifs du Jardin des Plantes; en bas (presque à l’angle droit) l’estacade à gauche; à droite le pont de Constantine […]. Puis la Seine qui monte large, avec ses deux berges pavées en pente; […]. Au bas du ciel il y a quelques nuages. Le reste est bleu et ardent. La Seine est verte avec des pointes de lumière. Bordée de bateaux. Au loin, sous les ponts, après une bande sombre, des plaques de lumière, une robe changeante. Des plaques sombres à l’endroit où l’eau est comme plissée« (Car, Curée: 36). Es scheint, als schweife er immer dann von seinem quasi-objektiven Blick ab, wenn er sich länger dem Anblick einer Landschaft hingibt. Dies ist vor allem in der Betrachtung der Seine der Fall, die eine Sensibilität für die changierenden Farb- und Schattenspiele auf dem Wasser preisgibt. Auch im Carnet zum Hallenroman stellt sich Zola den Anblick der Hallen aus der Vogelperspektive vor: »Le toit des pavillons doit offrir à vol d’oiseau des verrières carrées, les avenues des verrières allongées« (Car, Ventre: 347). Die Weißwaren zählen auch zu den Produkten, die Zola aus dem Katalog des Louvre und des Bon Marché (»Soie«, »Dentelles«, »Mouchoirs«, »Les fleurs«, »Parfumerie«, »Mercerie«, »Meubles et tapis« etc.) näher beschreibt: »Satin blanc, velours blanc, soie blanche. Satin du-
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Die Üppigkeit der Farbe Weiß hinterlässt einen bleibenden Eindruck bei Zola und fügt sich in den metaphorischen Bildhaushalt des gelebten Raums, den Zola in der Beschreibung der Architektur des Gebäudes explizit aufruft: Tout est bâti en brique et fer. La façade en belle pierre. Les halls très légers, très hauts. […] Des lustres, surtout dans le grand hall sur la rue de Sèvres. L’aspect de ses halls qui se succèdent, un en demi-cintre, avec les galeries jetées comme des ponts, les escaliers qui montent, légers, comme dans le vide, les étages superposés, la fuite de tous ces lointains, ces entassements de palais babyloniens, mais réalisés avec une légèreté extraordinaire (le fer et le brique). Les coins de marchandises entrevus […], tout le neuf d’un ménage, tout le bonheur d’une femme à mettre dans ses meubles (ebd.: 169, Hervorh. J.K.).96 Der Autor greift auf den Vergleich zurück, um das Kaufhaus zu charakterisieren, und überschreitet mit den »palais babyloniens« die Grenzen der neutralen Aufzeichnung. Zola scheint den Einsatz neuer Baumaterialien der Zeit, deren Einsatz Leichtigkeit und Opulenz evoziert, ebenfalls für märchenhaft zu halten. Dies zeigt unter anderem seine Stilisierung der lichtdurchfluteten Räume: »Le soleil de 4 heures entrant et traversant tout d’une poussière d’or« (Car, Bonheur: 185). Das folgende Beispiel aus den Notizen für Le Ventre de Paris knüpft thematisch hieran an und exemplifiziert das atmosphärische Schreiben Zolas: Vers 4 heures. Les persiennes en haut sont baissées. La Halle est toute grise. Les verrières allongées des rues jettent seules des rais de soleil, dans le gris général. Les pavillons vus par la poissonnerie, à l’heure où le soleil baisse: les piliers et les planchers se détachent en noir sur la lueur confuse du soleil qui perce par les
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chesse blanc, très souple, sans apprêt, ne se chiffonne pas. […] Tous les blancs, tous les tons du blanc« (Car, Bonheur: 193). Er notiert in einer synästhetischen Note das »chanson de blanc« (ebd.: 170) und die »odeur forte du blanc« (ebd.: 189); in einer weiteren Beschreibung eines kundenreichen Tages im Louvre bemerkt er »l’écroulement de blanc au comptoir de la lingerie« (ebd.: 186) und »[l]es piles de blanc, arrangées en forme de décrochement de briques. […] Les piles d’étoffes par terre, tout neigeux« (ebd.: 189). Genauso geht Zola für den Ventre de Paris vor und setzt die Architektur der Hallen in Szene: »Les Halles avec soubassement très bas en brique. Immense persienne cintrée. Chaque pavillon a un dôme carré, avec des fenêtres latérales qui s’ouvrent. […] Toutes les charpentes en fonte évidée; le reste en bois« (Car, Ventre: 347); »Par un temps de pluie (pluie fine). Tout gris. Les toitures, les armatures de fer bleuissent, se détachent en gris foncé sur le gris clair du ciel. L’air est empli d’une buée bleuâtre« (ebd.: 349); »[P]ar l’ouverture des portes, tombe le soleil en poudre, en haut le ciel est clair, et les Halles se détachent en noir, avec leurs fines nervures de fonte« (ebd.: 369). Die Vorzüge der Durchlässigkeit der Konstruktion werden ebenso mystifizierend wie im Fall von Au Bonheur des Dames kommentiert: »[D]es pavillons de biais […] qui ressemblent à des terrasses suspendues, à des architectures hindoues, à des couloirs aériens, à des ponts volants jetés sur le vide. C’est d’une légèreté et d’un caprice fantastiques. C’est babylonien« (Car, Ventre: 349, Hervorh. J.K.).
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baies, les lames des persiennes, les ouvertures de toutes sortes. On croit entrevoir quelque grande machine, quelque appareil monstrueux et inconnu (Car, Ventre: 348).97 Mithilfe der beiden zuletzt genannten Zitate kann die Genese der dem Roman zugrundeliegenden Metaphorik nachvollzogen werden: Sie beginnt mit einer affektiven Beobachtung des materiellen Raums, aus der heraus intuitiv die Idee des Palastes und der Maschine erwächst.98 Wieder steht daneben die Farbgebung im Fokus, was zweifellos der Nähe Zolas zur impressionistischen Malerei Rechnung trägt. Diesbezüglich hält er beim Anblick der Gemüse- und Fischauslagen fest: On dirait que les légumes sont une vaste aquarelle lavée; très tendre, très délicats de ton. Le vert glauque des choux, dont les feuilles semblent en bronze; les choux rouges, bronze violacé (Car, Ventre: 368); Cependant les compteurs-verseurs déballent le poisson et le rangent sur les paniers plats, mannes plates, superbes natures mortes (ebd.: 389, Hervorh. J.K.).99 97
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Die Qualitäten des Lichts nennt Zola häufig, so zum Beispiel auch in folgender Passage: »De grands stores intérieurs pour les rayons de soleil qui tombent en poudre d’or« (Car, Bonheur: 175). Im Carnet zum Ventre de Paris geht dies über in stimmungsvolle Zeichnungen der Gegebenheiten: »Par les beaux temps, des raies larges de soleil tombent dans l’atmosphère grise des allées et font des nappes d’or sur le terrain battu« (Car, Ventre: 347); »Les jeux de lumière changent à chaque instant l’aspect des Halles. Un coucher de soleil sur les halles, les vitres brillent, en haut« (ebd.: 349). Auch die Effekte künstlicher Lichtquellen werden thematisiert: »Les Halles la nuit. Le carré que forme chaque pavillon, avec les gaz intérieurs (rangés pour certains, poudroyant pour les autres); lueurs derrière les persiennes de fonte qui se détachent en lignes noires; les toits noirs; les persiennes hautes, moins éclairées« (ebd.: 364); »Dans la nuit, les personnages. Des femmes, sous les rues couvertes, ont des bougies. Mais la plupart ont des lanternes. Effet d’un coup de lanterne sur un tas de légumes« (ebd.: 365). In eine ähnliche Richtung zielt der Einsatz von Spiegeln, deren Wert Zola für das perfekte Arrangement der Ware memorisieren möchte: »Ne pas oublier que les glaces des coins, des côtés, reflètent l’étalage, font tourner les motifs en les répétant. Une science approfondie du jeu des glaces« (ebd.: 193). Henri Mitterand kommt für die Carnets Zolas bzw. die »choses vues« insgesamt zu dem Schluss, dass »l’image et le symbole sont indissociables du premier coup d’œil jeté par Zola sur le réel [et qu’ils naissent, J.K.] avec la sensation parce qu’il est dans les choses« (Mitterand 1968: 187). Vgl. auch: »Le côté artistique est les Halles modernes, les gigantesques natures mortes des huit pavillons« (N.a.f. 10338, Ventre: fo 48) oder die »poésie de la nourriture« (ebd.: fo 35): »Ce qui frappe, ce sont les chicorées épanouies, montrant leur cœur blanc dans le vert tendre de leurs grosses feuilles. Carottes rouges, navets blancs avec leur panache de feuilles vertes. […] Le soleil tape obliquement sur les légumes, rougit les carottes, allume le cœur blanc des chicorées. Très pittoresque« (ebd.: 393, Hervorh. J.K.). Im Plan für La Curée sticht besonders die Beschreibung des Treibens auf den Boulevards bei Nacht heraus : »Ce qui frappe avant tout, c’est la ligne éclairée des kiosques: ensignes coloriées, vertes, rouges, jaunes. Pas de lumière épandue. D’énormes lanternes chinoises ou vénétiennes. Les arbres font deux lignes sombres
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Zola stellt eine hohe Sensibilität für die Farbzusammensetzung und die ästhetische Anordnung der Ware unter Beweis. Genauso faszinieren ihn Form und Farbwahl der Ausstellung der Regenschirme, die ihm in der Reaktion einer Kundin ein fantastisches Element und einen erneuten Vergleich liefert: Toutes ces rondeurs, à fond de couleurs rouges, vertes, bleues, jaunes, blanches, encadrées de feuillages clairs: on dirait des lanternes vénitiennes, allumées. Le soleil de 4 heures. Le mot d’une dame: ›C’est féerique‹ (Car, Bonheur: 188). Neben den visuellen Wahrnehmungen wird im Zitat auch dokumentiert, wie eine Dame die märchenhafte Atmosphäre im Kaufhaus beschreibt. An anderer Stelle notiert Zola selbst die stimmungsvolle Ruhe im Raum: »La chanson du blanc dans un coin. […] La tranquillité de la ganterie avec ses dames assises qui essaient, les murmures, le silence« (ebd.: 170). Er hält solche auditiven Eindrücke vielfach fest, so auch als er eine Szene des nächtlichen Ausladens von Gemüse in den Hallen beobachtet: »Peu de monde, bruit sourd. […] Un employé, gros, grand paletot, chapeau mou, favoris, une canne, distribue les bulletins: ›Eh! Là-bas, avançons…Combien avez-vous de mètres?…Cinq?…‹« (Car, Ventre: 364). Die registrierten Aussagen der Angestellten im Kaufhaus vervollständigen das auditive Sprachmaterial. Bewirbt sich jemand um einen Posten, lautet die typische Auskunft des Personalchefs: »Je vous écrirai, ou bien: Repassez« (Car, Bonheur: 207); ist zu klären, wer den nächsten Kunden betreut: »A qui la ligne?« (ebd.: 208); soll jemand entlassen werden, reicht die Aussage: »Vous avez une drôle de tête, passez à la caisse« (ebd.: 210).100
dont les têtes se détachent finement en noir sur le ciel bleu, des deux côtés. En dessous, sur le boulevard, un roulement continu de voitures […]. Les cafés ouverts projetant une grande lueur« (N.a.f. 10282, Curée: fo 228). 100 Vgl. unter anderem auch: »Des conversations s’établissent: ›Eh là-bas, la chicorée!‹ ›Vendstu pour cent sous, et puis l’autre quatre francs, ça fera neuf francs…Et combien qu’y faut te donner, Marcel?‹ […] Des cris, des appels: ›Louis!‹, ›Victor!‹ […] Au loin un hennissement de cheval, le braiment d’un âne« (Car, Ventre: 366); »L’après-midi, l’église silencieuse, on confesse et l’on entend le brouhaha des Halles, et surtout le roulement des voitures à la pointe SaintEustache« (ebd.: 359). Verschiedene Situationen im Kaufhaus werden folgendermaßen registriert: »Le buffet public. […] De sept à huit vols par jour. Le tour du porte-monnaie. Une femme: ›Je n’ai plus mon porte-monnaie‹. Et se refouillant: ›Ah! si!‹. […] La mère s’accroupit: ›Mon pauvre petit, que veux-tu?‹« (Car, Bonheur: 162); bei der Inventarisierung: »C’est un bouleversement de tous les paquets, des chiffres criés, des ballots qui passent de main en main, un branle-bas général« (ebd.: 158); um Ordnung auf den Kleiderstapeln zu schaffen, ruft die Abteilungsleitung die Verkäufer herbei: »Faites le déplié« (ebd.: 165); im Kundengespräch: »J’ai votre affaire. […] Sont-ce les nuances qui vous déplaisent? Nous avons autre chose. Vous plaît-il de voir?«; zusätzlich notiert Zola »[q]uelques mots d’argot: Faire un Rouen, manquer une vente. Dix-sept, cri de méfiance à l’aspect d’un chef. Rouffian, rouffianne, vendeur, vendeuse au pair« (ebd.: 227, Hervorh. i.O.) sowie die nächtlichen Bauarbeiten am Kaufhaus »à la lumière électrique«, die einen »continuel bruit« verursachen (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 143).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Die unveränderte, meist unkommentierte Redewiedergabe erweckt den Eindruck von Authentizität und Unmittelbarkeit und hat ebenso die Funktion der sozialen Distinktion der Bewohner, da mit einer bestimmten Klasse auch ein bestimmter Sprachgebrauch assoziiert wird (vgl. Cowan/Steward 2007: 13ff.). Wird hier also der soziokulturelle Kontext bedeutsam, treten besonders gesellschaftliche TabuThemen auf den Plan, wenn Zola von den niederen Sinnen spricht. Berührung und Gerüche haben einen großen Stellenwert in den Notizbüchern. Das Taktile wird von Zola teilweise nebenbei bemerkt (»Les marchandes de citron. Trois citrons dans la main« [Car, Ventre: 353]), bezieht sich auf Qualitäten der Ware (»l’oseille molle« [ebd.: 361], »le satin souple, soyeux au toucher« [Car, Bonheur: 198]), und wird immer dann festgehalten, wenn Gedränge bzw. Enge vorherrscht (»étroits sentiers« [Car, Ventre, ebd.: 366], »Une foule énorme se presse autour des bureaux de vente« [ebd.: 390]; vgl. Kröger [i. Ersch.]). Frappierender sind jedoch die Textstellen, in denen Zola Körperteile bzw. künstliche, fragmentierte Körper beobachtet, den Tastsinn also explizit über die Körperlichkeit thematisiert. Noch recht harmlos wird er aufmerksam auf »des femmes en tas, des bras en l’air tenant des ballons, des bras maigres, des bras au poignet court et gras« (Car, Bonheur: 185).101 Dagegen erschließt sich der Konnex von Gefahr, Gewalt und Körperlichkeit aus Zolas Betrachtung der Schaufensterpuppen: Sur les marches, des mannequins, paletot, robe de chambre, sans tête, avec le petit manche de bois comme un manche de poignard, enfoncé dans le molleton rouge, qui fait comme la section saignante d’un décapité (ebd.: 186). Fallen Zolas Kommentare zu den pittoresken Auslagen der Produkte eher schlicht aus (»superbe«, »jolis dessin« etc.), ist seine Reaktion auf die ausgestellten Körper im Bild von Dolch und blutender Wunde einprägsamer und ein wichtiger Hinweis für den Roman.102 Ob nun im positiven oder negativen Sinn, die Quintessenz der Warenwelt ergibt sich für Zola aus einer Bemerkung Carbonauxʼ: »Le grand magasin de nouveautés […] tourne à la religion du corps, de la beauté, de la coquetterie et de la mode« (Car, Bonheur: 184). Sie ersetze damit die traditionelle Religion (vgl. Car, Bonheur: 184). Mit der »religion du corps« hat Zola neben dem »temple«, der »machine« und der »féerie« einen weiteren Bedeutungsmarker aus dem espace vécu für den Kaufhausroman gefunden, der vor dem Hintergrund der Tabuisierung alles 101
Zusätzlich kann das Wahrnehmen von Hitze als Information des Tastsinns gewertet werden. In den Zimmern im Dachgeschoss des Kaufhauses vermutet Zola: »On doit y cuire en été et geler en hiver [parce qu’elles sont, J.K] mal aérées, et […] intolérables en été à cause de la chaleur« (Car, Bonheur: 163, 181; vgl. auch ebd.: 158). 102 Vgl. auch: »Le salon d’essai, pour les dames. Vitres dépolies. Quand une vendeuse ouvre une porte, on aperçoit la cliente, en corset, les bras nus. […] Les mannequins avec corset et jupe, sans tête, férocement obscènes. Des mannequins avec des peignoirs très riches« (Car, Bonheur: 186, Hervorh. J.K.).
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Körperlichen in der Ideologie der Bourgeoisie schon an dieser Stelle eine provokative Note erhält. Diese für damalige Verhältnisse skandalösen Elemente der Notizbücher werden zuletzt durch den Geruchssinn komplettiert.103 In dem »mouvement qui porte [les viandes cuites, J.K.] à sentir« in einem der Pavillons (Car, Ventre: 396) werden Geruch und Berührung zusammen wahrgenommen. Häufiger werden Gerüche jedoch gesondert registriert. Zola bezeichnet die rue Vauvilliers als »puante« (ebd.: 355), die Gerüche in den Hallen bei Regen als »beaucoup plus pénétrantes« (ebd.: 349), der Gemüsemarkt wird wie folgt beschrieben: »Ce qui domine comme odeur, c’est la senteur âpre des carottes, et le parfum du persil, et du céleri« (ebd.: 364). Auch die Gerüche auf dem Blumenmarkt affizieren Zola: Er vernimmt einen »odeur très pénétrante et très délicate« (ebd.: 367), der Käse hat einen »odeur forte« (ebd.: 396; vgl. auch ebd.: 366), jeder Lagerkeller »son odeur propre« (ebd.: 400), die nassen Straßen einen »odeur fraîche« (ebd.: 388), wobei der Besuch der Resserre de la volaille besonders einprägsam gewesen sein muss: En entrant, odeur forte, pénétrante et comme tiède. C’est une odeur de plume, de fiente de volaille où les alcalis vous prennent à la gorge, et l’on garde longtemps l’odeur dans ses vêtements. Ce doit être très malsain de vivre dans cet air renfermé plein de senteurs vivantes (Car, Ventre: 402). Das Zitat ist ein gutes Beispiel dafür, wie Zola von den sensorischen Qualitäten eines Ortes vereinnahmt bzw. wie die olfaktorische Wahrnehmung interiorisiert und kognitiv verarbeitet wird. Zolas Beschreibung der Gerüche, die einem die Kehle zuschnüren, ruft ein Gefühl der Bedrängnis und des Unwohlseins hervor (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Das Urteil, die Umstände im Geflügellager seien gesundheitsgefährdend, signalisiert die kulturelle Prägung der Wahrnehmung Zolas, da vor den Ergebnissen der Bakteriologieforschung Louis Pasteurs die Erklärung von Krankheit durch schlechten Geruch weit verbreitet war. Alain Corbin betont, dass das Thema der »hygiène publique« seit 1794 sehr wichtig für Paris war und die Hallen als »centre olfactif de la capitale« und Herd für Infektionen galten (Corbin 2004: 8).104
103 Der Geschmackssinn soll nicht gesondert aufgeführt werden, da Zola nicht explizit auf die gustatorische Wahrnehmung eingeht. Dies heißt nicht, dass Nahrung oder zubereitete Speisen nebensächlich behandelt würden. Denn natürlich spielen sie im Hallenroman eine bedeutende Rolle. Zola notiert sich auch für Au Bonheur des Dames, welche Gerichte den Angestellten der Kaufhäuser serviert werden. Ihre Bedeutung erschließt er sich allerdings in der Regel nur über das Visuelle. 104 Es überrascht nicht, dass Zola nur diejenigen (olfaktorischen) Eindrücke festhält, die ihm aus seinem Alltag nicht allzu bekannt sind, was den ethnozentrischen Blick des Beobachters verdeutlicht. Vgl. zudem die multisensorische Wahrnehmung: »Les glaces partout. Le murmure continue de la foule, le bruit bourdonnant des conversations, l’air étouffé, la chaleur lourde, avec l’odeur des étoffes« (Car, Bonheur: 185f.); vgl. auch die »odeur forte du blanc« (ebd.: 171)
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Dass von dem Lagerraum und dessen Geruch angeblich diese Bedrohung ausgeht, kommt Zola insofern zugute, als er hier die passende Kulisse für seine Vergewaltigungsszene zwischen Lisa und Marjolin findet (vgl. Car, Ventre: 403). Äußerst relevant ist in diesem Kontext auch die einzige Textstelle im Carnet von La Curée, in der der Geruchssinn angesprochen wird, vorausgesetzt aber, sie wird in Ergänzung mit den Notizen zum vierten Kapitel des Romans gelesen. In der detaillierten, eher neutralen Beschreibung des Gewächshauses und der Pflanzenvielfalt hält Zola lediglich fest: »[L]es oerides, grappes violettes sentant bon« (Car, Curée: 34). Für das vierte Kapitel konnotiert Zola diesen Vermerk dann als eine Unsittlichkeit »de tous leurs sens [Maxime et Renée, J.K.]« und formuliert aus: »Ce fut une nuit d’amour fou. Dans cette chaleur la serre aimait avec eux, […] les odeurs eussent suffi à les jeter dans une crise nerveuse extraordinaire« (N.a.f. 10282, Curée: fo 337, 348).105 Das Beispiel führt vor, inwiefern die olfaktorische Wahrnehmung als Mittler der affektiven Begegnung von Körper und Raum eine kulturell negativ kodierte Emotion hervorruft, die in einer Stimmung der Zügellosigkeit und in der moralischen Verurteilung der Unzucht an einem bereits hier schon potentiell heterotopen Ort mündet. Solche Intensivierungen auf Basis von Affekt und Sinneswahrnehmung sind typisch für Zola und können in den Romananlysen weiter untersucht werden (vgl. Kröger [i. Ersch.]).
4.3
Zusammenfassung
Zola findet in der schriftstellerischen Tätigkeit bzw. dem naturalistischen Projekt eine Antwort auf die ideologische, politische und theoretische Situation im Frankreich der 1860er Jahre. Das Second Empire im Allgemeinen und die Stadt Paris im und: »La cave des fruits ne sent qu’une vague odeur de pomme pourrie, de verdure aigrie« (Car, Ventre: 401); »L’odeur est fade, nauséabonde. […] Une odeur de sang pestilentielle, dans la lueur rouge du gaz. Les pieds clapotent dans une boue sanglante. Très horrible« (ebd.: 404); »L’odeur qui domine est celle de l’oignon« (ebd.: 409). 105 Zola hat für La Curée mehrfach den Jardin des Plantes besucht. Er gibt sich noch den Hinweis, »[de, J.K.] mêler un peu le tout« (N.a.f. 10282, Curée: fo 337), »les odeurs (vanille, orchidées, odeur humaine)«, »les bruits« (ebd.). Interessant ist außerdem die Zusammenführung von Geruch, Berührung und Weiblichkeit. Gleich zu Beginn hält Zola im Arbeitsbuch von Au Bonheur des Dames fest: »[L’]odeur de la femme domine tout le magasin« (N.a.f. 10277, Bonheur: fo 4) und Denise habe »un parfum à elle« (ebd.: fo 201). Später führt Zola »puissance de la femme« und »odeur de la femme« (ebd.: fo 168) zusammen. Ein Vorzug des Geschäfts ist es, »[que, J.K.] les femmes ont gratis le toucher et la vue« (ebd.: fo 169), beim Verlassen des Kaufhauses ist »l’œil extrêmement dilatée« und zwar aufgrund der vielen Reize. Zola ist sich bewusst, dass eine offene Zurschaustellung des Sinnlichen auf Kritik stoßen kann, weshalb er schreibt: »Pourtant, je ne voudrais pas d’épisodes trop sensuels. Éviter les scènes trop vives, qui finiraient par me spécialiser« (ebd.: fo 4).
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Speziellen sind bereits vor der Romanreihe Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit für die Presse. Zola unterzieht den »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« der Zeit einer komplexen Untersuchung, die sich in einen mental-konzeptuellen (espace conçu) und einen empirischen Bereich (espace perçu) auffächert und sich daher als »a continuous dialogue between experience, action [and, J.K.] concept formation« darstellt (Harvey 1989: 8). Während Dossier bzw. C arnet von La C urée noch recht überschaubar sind, sind die Arbeitsbücher von Au Bonheur des Dames und Le Ventre de Paris sehr umfangreich und ähneln einander stark in Aufbau und Erkenntnisinteresse. In allen drei Fällen beobachtet Zola die performativen Handlungen bzw. die Aneignung des städtischen Raums durch seine Bewohner, in La Curée in Bezug auf Spekulation, Kommodifizierung von Raum und Freizeitverhalten der oberen Gesellschaftsschicht, in Hallen- und Kaufhausroman hinsichtlich des Arbeitsalltags des peuple in einem umkämpften Territorium. Er entwirft Charaktere wie Florent oder Denise als Eindringlinge in diesen Raum, sodass Mechanismen der Exklusion und Inklusion, der Reglementierung und Überschreitung sowie der Utopisierung und des Verlusts im Sinne Alexander C.T. Gepperts et al. (2005) greifen und das Geschehen narrativ dynamisieren. Es geht Zola nicht einfach nur um eine ästhetische Zeichnung der Umgebung im Sinne einer deskriptiven Geographie, sondern um die Beziehung von Mensch und Raum und den konfliktreichen Prozess der Eroberung und Produktion von Raum auf einer thematischen und formalen Ebene, was die Analyse der Raumkonzeption bewiesen hat. Die Methode der immersiven Feldforschung bringt eine Seite Zolas zum Vorschein, der bislang nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sie beginnt im Grunde schon mit den Erkundungen der Landschaft um Aix in der Kindheit bzw. der Sensibilität Zolas für den wahrgenommenen Raum. Kein anderer Autor seiner Zeit hat sich in dem Maße darum bemüht, »[de] s’imprégner le plus possible de l’air ambiant« (CDLP, X: 1286). Auf diese Weise schafft Zola ein Gegengewicht zur rationalen Raumkonzeption und einen Weg aus der naturalistischen Doktrin. Denn die stakkatohaft niedergeschriebenen Notizen des »instantané, le décadrage, la vision partielle, le point de vue démultiplié par la mobilité du marcheur« (Lumbroso 2017: 84) streben dem kontrollierten espace conçu entgegen und sind damit Teil der schöpferischen Freiheit in der Raumgenese. Ergebnis ist eine »connaissance inédite du monde, […] une sorte de contre-enquête idéologique, qui apporte avec elle la couleur personnelle« (ebd.: 83), bzw. ein Fundus von »those qualities of the physical and geographical formations that are most difficult to detect« (Prieto 2011: 14). Diese atmosphärischen Qualitäten des Raums sowie ein subjektiver sense of place entfalten sich relational zwischen Menschen oder aber Gebäuden und Menschen und gehen in verschriftlichter Form in das Textrepertoire Zolas ein. Dabei entwickelt sich ein Bild der Stadt jenseits der Homogenität und sinnlichen Reduktion auf das Visuelle (vgl. Kröger [i. Ersch.]).
4. Die Vorbereitung der Romane – Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris
Die Arbeitsbücher dokumentieren vielmehr die Stadt »as roiling maelstrom[s] of affect« (Thrift 2004: 57) und Produktionsstätte sinnlicher Vielfalt, die allerdings mit einer veränderten Nutzung und Bewertung der Sinne in der Großstadt zusammenhängt. Der gesteigerte Einsatz von Seh- und Hörsinn für die Orientierung in der Stadt und die Demonstration von Macht, für die Signalisierung von Klassenunterschieden und der Wertschätzung der Stadtästhetik bei gleichzeitiger Abwertung von Geruch und Berührung sind typisch für den modernen Sinnesgebrauch der Bourgeoisie (vgl. Cowan/Steward 2007: 12ff.). Zolas Sinneswahrnehmung ist alles andere als unvoreingenommen. Sie muss als ein selektiver, von der Raumideologie der Zeit, von kulturellen Einflüssen und den literarischen Intentionen geleiteter Prozess verstanden werden, dessen Ziel es zum einen ist, Material für die Komposition des Romans zu sammeln; zum anderen hat die Feldforschung im körperlichen Eintauchen, in einer nicht zweckgebundenen Faszination für den Raum ihren Eigenwert. Der symbolische Haushalt Zolas (espace vécu) ist klar von der Literatur der Zeit geprägt, entsteht aber in der Praxis auch aus der sinnlich-affektiven Begegnung mit dem realen Raum, der nicht nur für kompositionelle Zwecke genutzt wird, sondern in seinen materiellen Qualitäten von Belang ist. Erste Eindrücke, erste Details wie der Geruch im Gewächshaus oder die Farbspiele in Hallen und Kaufhaus rufen Bilder einer fantastischen Maschinerie oder Versuchung hervor und werden für die konzeptuelle Weiterarbeit genutzt. So entpuppt sich die Ebene des wahrgenommenen Raums als fehlendes Bindeglied zwischen den »deux Zola«. Sie erweitert den Zola-compositeur scientifique (espace conçu) und den Zola-rêveur symboliste (espace vécu) um den Zola-enquêteur affectif (espace perçu). Wie Henri Lefebvre angemerkt hat, sind die Raumebenen stark miteinander verzahnt – Wahrnehmungen, Konzeptionen und Raumbilder entstehen prozessual aus der aktiven Erschließung des Raums durch Zola. Die Zwischenstufe der Konfiguration hat einen Eigenwert, der nicht unterschätzt werden darf. Indem mit den Ebenen des Konzipierten, Wahrgenommenen und Gelebten von Lefebvre gearbeitet wurde, konnte gezeigt werden, wie facettenreich die Erschließung des sozialen Raums durch Zola über die Einhaltung des naturalistischen Regelwerks hinaus ist. Zola konzipiert mentale Karten chronotoper Orte, die in ihrem metaphorischen Reichtum den kritischen Ton gegenüber der Bourgeoisie und gleichzeitig eine positive Zeichnung des Fortschritts in sich tragen. Dabei stehen sich bereits hier Räume gegenüber, die von ihrer Anlage her in offene (Boulevards) und geschlossene (Café, Hôtel) Räume eingeteilt werden können. Nicht erst die Romane entwerfen daher ein ambivalentes Bild der Hauptstadt als Sinnbild der Moderne; schon die Dossiers geben Auskunft über eine dynamische und widersprüchliche Zeit, die Zola allen drei Ebenen des Raums einschreibt.
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5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
Im Übergang zur konkreten Romanproduktion stellen sich Zola unweigerlich neue Herausforderungen: Die Nachfrage auf dem Literaturmarkt, literarische Konventionen, die persönlichen Ambitionen und die finanzielle Situation Zolas haben Einfluss auf die Wahl der formalen Elemente (vgl. Kapitel 3.3.2.2). In Kapitel 4 dieser Arbeit wurden die politischen, ideologischen und theoretischen Merkmale der Situation Zolas im sozialen Raum des Second Empire erläutert. Zusammen mit den Elementen des literarischen Felds bilden sie die allgemeine Grundlage der Kommunikationssituation zwischen Autor, Leser und Text, die aber im Fall der Romane mit deren Entstehungskontext präziser erfasst werden kann. Auf diese Weise lassen sich die historischen Umstände in die konkrete Produktion von Raum durch Zola einerseits und die vom Leser modellierte, »implizite Theorie des intraliterarischen Raums« andererseits einbeziehen (espace conçu1 , vgl. Abb. 1, Mimèsis II und III). Hierunter fällt auch der jeweilige Entwicklungsstand der naturalistischen Theorie, der in die »explizite Theorie des extraliterarischen Raums« einfließt und sich auf die intratextuelle Modellierung von Raum durch Zola auswirkt.1 Zola beginnt noch vor der Fertigstellung von La Fortune des Rougon (1871) mit den Vorbereitungen zu La Curée – ein Indiz sind die sich ab 1868 häufenden Zeitungsartikel zum Thema des Romans (vgl. Lethbridge 1977a: 38).2 Motiviert durch 1
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Die »explizite Theorie des extraliterarischen Raums« bezieht sich auf die von Zola in Schriften, Interviews etc. explizit genannten Aussagen zum Milieu bzw. zum Raum (vgl. Kapitel 3.3.2.3, Fußnote 68). In diesem Kapitel der Arbeit wird häufiger auf die entwickelte Terminologie verwiesen, um die verschiedenen Elemente der Theorie anhand der Praxis zu verdeutlichen. In den Kapiteln 6 und 7 werden aus Gründen der besseren Übersicht weniger Verweise gemacht. Colette Becker hat in ihrer Untersuchung der Chronologie der Genese die verschiedenen Artikel aus La Tribune, Le Rappel und La Cloche zusammengestellt, die auf das Thema des Romans hindeuten (vgl. Becker 1987b: 15ff.). In »La fin de l’orgie« zum Beispiel heißt es: »Ah! quelle curée que le Second Empire! Dès le lendemain du coup d’État, l’orchestre a battu les premières mesures de la valse, et vite le thème langoureux est devenu un galop diabolique […]. Depuis dix-huit ans, nous assistons à cette ripaille. […] La table est rougie de vin et de sang« (La Cloche, CDLP, XIII: 260, 13.02.1870).
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den Kommentar des Journalisten Jules Richard zur Rede Adolphe Thiers vor dem corps législatif, in dem Richard die Merkmale der Haussmannisierung eines Romans Balzacs für würdig erachtet, versucht Zola, sich mit der Bearbeitung dieses Themas endgültig aus dem Schatten des Vorbilds zu lösen (vgl. Lethbridge 1973: 27).3 Ab Juni 1870 wird der erste Roman der Rougon-Macquart-Reihe im Feuilleton veröffentlicht; zu diesem Zeitpunkt hat Zola das erste Kapitel des Folgeromans bereits verfasst (vgl. Lethbridge 1973: 26). Den weiteren Schreibprozess unterbrechen jedoch die Korrektur der Feuilletonversion von La Fortune des Rougon und die Pariser Kommune.4 Parallel zur Arbeit an der Romanreihe sendet Zola seine Beobachtungen der Geschehnisse an La Cloche und den Sémaphore de Marseille (vgl. 4.1.1). Dass die weiteren zehn bzw. sechs Kapitel in ihrer Endversion erst nach der Kommune entstehen, ist zentral. Mit Jann Matlock ist davon auszugehen, dass sich literarisches und journalistisches Schaffen Zolas überlappen. Das bedeutet, dass sich die Erfahrungen der Pariser Kommune derart in Zolas Gedächtnis eingebrannt haben, dass sie implizit in den Roman und – wie ergänzt werden soll – in die Produktion von Raum im Roman eingeflossen sind (vgl. Matlock 2013: 324).5 Ab September 1871 erscheint La Curée in La Cloche, die Kapitel 4-6 entstehen ab Oktober, zeitgleich mit dem Antritt der provisorischen Regierung bzw. dem Beginn der conseils de guerre gegen die Kommunarden (vgl. Lissagaray 2000 [1876]: 411ff.; vgl. Lethbridge 1977a: 45ff.). Neben Zolas Text zum Zweiten Kaiserreich sind im Zeitungsblatt Bilder der Angeklagten und der Trümmer von Paris abgedruckt;
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Zola fasst den Artikel aus dem Figaro vom 25.02.1869 zusammen, in dem Richard das Projekt des Präfekten diskutiert (vgl. Lethbridge 1973: 26). Lethbridge kommt zu dem Schluss, dass der Roman La Curée seine Anfänge nicht nur »au milieu de la bataille politique«, sondern »littéralement dans un article polémique proprement dit« genommen hat (ebd.: 28). Robert Lethbridge geht davon aus, dass Zola im Sommer 1870 lediglich erste Vorbereitungen für das zweite Kapitel von La Curée treffen konnte (vgl. Lethbridge 1977a: 46f.). Die Veröffentlichung von La Fortune des Rougon wird nach dem sechsten Kapitel im Juli 1870 aufgrund des Kriegs ausgesetzt, erst im März 1871 folgt die Fortsetzung, im Oktober dann erscheint die Erstauflage in Buchform (vgl. ebd.). Hiermit korrigiert Lethbridge die von Henri Mitterand in der Pléiade-Ausgabe vorgeschlagene Chronologie des Schreibprozesses (vgl. Mitterand 1960a: 1576ff.). Vgl. zur Genese von La Curée unter anderem auch Grant (1954), Lethbridge (1973) und Matlock (2013). Den Einfluss der Kommune nicht nur auf politische Fragen zu beschränken, ist auch der Ansatz von Kristin Ross in Communal Luxury. The Political Imaginary of the Paris Commune (2015). Sie untersucht, inwiefern sich das Imaginäre der Kommune unter anderem in den Bereichen der Erziehung und der Literatur durch eine »historical landscape of the Commune […] at once lived and conceptuel«, die Anleihen von Lefebvre sind offensichtlich, spürbar gemacht hat. Sie erläutert: »By ›lived‹, I mean that the materials I have used to compose it are the actual words spoken, attitudes adopted, and physical actions performed by the insurgents […]. Conceptual, in the sense that these words and actions are themselves productive of a number of logics« (Ross 2015: 1).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
diskutiert wird hier unter anderem die Frage, ob die Begnadigung der Aufständischen in Anbetracht des erheblichen Mangels an Arbeitskräften in Paris umgesetzt werden soll. In gewisser Hinsicht überlagern sich durch das Nebeneinander der Informationen in der Zeitung die Blütejahre und das Ende des Second Empire räumlich und zeitlich, was eine Auseinandersetzung des Lesers mit den traumatischen Erlebnissen und ihrer Vorgeschichte ausgelöst haben mag (vgl. Matlock 2013: 326, 344). Im November 1871 ist ein Teil des vierten Kapitels von La Curée mit Andeutungen auf die Inzest-Szene im Feuilleton zu lesen. Die Zensur setzt daraufhin der weiteren Veröffentlichung des Romans ein Ende (vgl. Grant 1954: 29).6 Zola reagiert auf die Einstellung mit dem bekannten Brief an den Herausgeber von La Cloche, Louis Ulbach. Er beklagt hierin die Entscheidung der Zensurbehörde und steckt in seiner Rechtfertigung der Inhalte des Romans den Rahmen der Geschichte und ihren Platz in der Romanreihe ab: La Curée n’est pas une œuvre isolée, elle tient à un grand ensemble, elle n’est qu’une phrase musicale de la vaste symphonie que je rêve. […] Pendant trois années j’avais rassemblé des documents, et ce qui dominait, ce que je trouvais sans cesse devant moi, c’étaient les faits orduriers, les aventures incroyables de honte et de folie […]. Cette note de l’or et de la chair […] sonnait si haut et si continuellement, que je me décidai à la donner. […] La Curée, c’est la plante malsaine poussée sur le fumier impérial, c’est l’inceste grandi dans le terreau des millions. J’ai voulu, dans cette nouvelle Phèdre, montrer à quel effroyable écroulement on en arrive, lorsque les mœurs sont pourries […]. Ma Renée, c’est la Parisienne affolée, jetée au crime par le luxe et la vie à outrance; mon Maxime, c’est le produit d’une société épuisée, l’homme-femme […]; mon Aristide, c’est le spéculateur né des bouleversements de Paris […]. Et j’ai essayé […] de donner une idée de l’effroyable bourbier dans lequel la France se noyait. […] Me faudrait-il […] arracher les masques, pour prouver que je suis un historien, et non un chercheur de saletés? (Corr, II: 304f., 08.11.1871, Hervorh. i.O.). Die wahrheitsgetreue Wiedergabe der moralisch verwerflichen Realität ist Zola zufolge der Grund für die von der Kritik angeprangerten Passagen des Romans und dürfe ihm nicht angelastet werden.7 Zola formuliert dies sehr plastisch und zwar 6
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Zola hatte ursprünglich elf Kapitel für den Roman geplant, reduziert sein Material aber auf die bekannten sieben Kapitel. Interessant ist, dass die Zensur nicht der eigentlichen InzestSzene galt, sondern bereits die Vorzeichen einer möglichen Liaison zwischen Renée und Maxime inakzeptabel waren (vgl. Grant 1954: 32f.). Schon zu Lebzeiten Zolas hat beispielsweise Paul Alexis in seiner Rezension zu La Curée in La Cloche (24.10.1872) den historischen Wert des Romans betont (vgl. Alexis 1998 [1872]: 59-64). Zahlreiche Studien zum Roman haben sich in der Folge mit diesem Thema beschäftigt, vgl. zum Beispiel Ripoll (1974) und die Beiträge von Becker, Leduc-Adine, Plessis und Lethbridge
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so, als hätte sich ihm das Thema auditiv aufgedrängt (»cette note […] sonnait si haut et si continuellement«). Sein Ziel ist es, das Milieu der Spekulation im neuen Paris Haussmanns nach reichlicher Recherche so präzise wie ein Historiker wiederzugeben. Ort und Hintergrund der Handlung werden dem Leser direkt kommuniziert. Mit Hinweisen zum Roman, das heißt dem Bezug zu Racine, dem Thema der Spekulation bzw. des Inzests sowie den Charakterisierungen der drei Hauptfiguren, weist Zola dem Leser eine Richtung für die Lektüre. Die Verwendung von Vornamen und Possessivpronomina (»ma Renée«) in Bezug auf die Protagonisten hebt die Autorität des Autors zusätzlich hervor und schafft eine Vertrautheit zwischen Leser bzw. Autor und Figur. Hatte Zola die theoretische Abhängigkeit der Figuren vom Milieu im Dossier im Privaten nur kurz ausgehandelt, deutet er die Verhaltensursachen der Charaktere nun öffentlich, was einen neutralen Blick des Lesers auf mögliche Freiräume der Figuren erschwert. Um Bedrohung und Gefahr zu evozieren, greift Zola auf Elemente des gelebten Raums der Zeit zurück: Isotopien von Krankheit oder Anomalie (»plante malsaine«, »folie«, »homme-femme«, »inceste«), von Niedertracht und Korruption (»crime«, »impudent«), von Reichtum (»or«, »millions«, »luxe«) und Fäulnis (»fumier«, »bourbier«, »faits orduriers«) sowie von Untergang oder Degeneration (»écroulement«, »vie à outrance«, »bouleversement«) führen den Leser in die Stimmung des Romans ein. Dessen Titel, La Curée, vereinnahmt die Bedeutungsebenen des Reichtums und des Todes, lässt aber offen, ob auf die Jahre des Exzesses der fête impériale oder auf die Opfer der Kommune angespielt wird (vgl. Matlock 2013: 327). An die Stelle einer klaren thematischen Zuordnung von »or« und »chair« als Zeichen der Lasterhaftigkeit des Zweiten Kaiserreichs tritt daher eine Doppeldeutigkeit, die den Lektüreakt erschwert. Schon vor dem Aufschlagen des Buchs gelingt es Zola, dem Glanz der Zeit in einem Moment des Übergangs bzw. der »vaste symphonie« der Romanreihe eine apokalyptische Note abzugewinnen, was zuweilen an die Ästhetik des Hässlichen bei Baudelaire erinnert.8
8
in Mitterand/Becker/Leduc-Adine, Genèse, structures et style de La Curée, 1987; vgl. auch LeducAdine, Plessis und Lethbridge in Baguley (1987). Dass dies in der Zeit gebräuchliche Zustandsbeschreibungen waren, beweist beispielsweise ein Blick in die Comptes fantastiques d’Haussmann (1868-1869) von Jules Ferry, deren Präambel Zola in gekürzter Fassung in sein Dossier zum Roman überträgt (vgl. Ripoll 1974: 52). Auch in diesem Text ist die Rede von einer »intolérable hôtellerie, la coûteuse cohue, la triomphante vulgarité, le matérialisme épouvantable« (Ferry 1868-1869: 8), der das alte Paris der »relations anciennes, les plus chères habitudes« auf die »pente des catastrophes« gelenkt habe (ebd.). Daneben lassen sich in dem Kommentar Jules Willis zur Rede Adolphe Thiers Ausdrücke finden, die in Zolas Dossier bzw. dem Roman in abgewandelter Form auftauchen, darunter der »tourbillon de poussière dʼor«, die »fantasmagories du calcul« oder die »liquidation« (Richard 1869: 2). Grundsätzlich dient ihm Haussmann als Vorbild für Aristide Saccard, um mit der öffentlichen Meinung zum Auftreten des Präfekten zu spielen (vgl. Lethbridge 1987: 93). Schließlich sind auch die Entlehnungen von Jean Racine nicht ungewöhnlich, da dessen Wer-
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
Die Erstveröffentlichung in Buchform im Januar 1872 erfolgt ohne Kommentare der Presse und basiert auf einer von Zola korrigierten Version der Seiten aus dem Feuilleton (vgl. Grant 1954: 30).9 Im Vorwort orientiert sich Zola vollständig, teilweise sogar wörtlich an den Inhalten des Briefs an Louis Ulbach, lediglich der explizite Bezug zur Wissenschaft sticht hervor: »[J’]ai essayé d’écrire une œuvre d’art et de science qui fût en même temps une des pages les plus étranges de nos mœurs« (C: 1582). Zum Zeitpunkt der Vorbereitung des Romans hatte Zola im Vorwort zur zweiten Auflage von Thérèse Raquin (1868) sowie im Vorwort zu La Fortune des Rougon (1871) konkrete Inhalte seiner Theorie des Naturalismus bzw. seiner Raumkonzeption formuliert. Sie basieren in erster Linie auf dem Studium der Werke Hippolyte Taines, Jules Michelets und Prosper Lucasʼ und dem Glauben an Temperamentenund Vererbungslehre (Charles Letourneau, Bénédict Augustin Morel), wobei auch seine klassische Ausbildung im Bereich des Theaters und der Musik eine wesentliche Rolle spielt (vgl. Kapitel 6 und 7). Die Grundlagen des Naturalismus sind gelegt. Unabhängig davon, ob die Inhalte der Notizbücher in den Rezeptionsprozess einfließen oder nicht, erhält der Leser durch die sehr eindeutigen Aussagen Zolas und den historischen Kontext Anhaltspunkte, um eine »explizite Theorie des extraliterarischen Raums« zu modellieren und den hermeneutischen Konstruktionsprozess von Raum im Roman in Gang zu setzen. Die zwei zentralen, im Falle der Haussmannisierung von staatlicher, im Falle der Kommune zudem von bürgerlicher Hand geführten Eingriffe in den Stadtraum waren von traumatischer Brisanz. Sie veränderten die räumliche und zeitliche Organisation des Alltags, was
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ke in diesen Jahren eine Renaissance erfuhren (vgl. Palacio 1987: 172). Zola knüpft demnach an die für die Zeit typischen Topoi der Zerstörung, des Strudels und der Phantasmagorie an, um das Lebensgefühl der Pariser Bürger angesichts urbaner Entwicklungen darzustellen. Robert Lethbridge spricht diesbezüglich mit Bezug auf die Einschätzung von Maurice Le Blond zur Aufnahme von La Curée in der Presse von einer »conspiration du silence« (1977b: 203). Es ist davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt der Blick in die Vergangenheit angesichts der aktuellen Ereignisse von geringerem Interesse war und das Publikum patriotische Themen den satirisch geschilderten Prämissen des Untergangs des Second Empire vorzog (vgl. ebd.: 204). Lethbridge führt das Vorgehen der Kritik auf eine Abwehrhaltung gegenüber der politischen Einstellung des Autors zurück und stellt die Vermutung an, dass die Zensur nicht nur Zola, sondern vielmehr dem als Sympathisanten der Kommune verurteilten Louis Ulbach galt (vgl. ebd.: 210f.). Auf die zweite Auflage des Buchs folgen Rezensionen aus den Literaturkreisen. Paul Alexis, Édouard Sylvin und Camille Pelletan sprechen sich für Zola aus, letzterer vergleicht La Curée in seiner Rezension, die am 08.11.1872 in Le Rappel veröffentlicht wird, mit einem »œuvre d’historien« (Pelletan 1872: 3; vgl. auch Lethbridge 1977b: 215). Die Besprechungen Jules Clareties und René de la Fertés dagegen sind laut Lethbridge eher zwiegespalten (vgl. Lethbridge 1977b: 212, 219). Einige Jahre später fällen Anatole France, Guy de Maupassant und Louis Desprez ein positives Urteil über den lebendigen Stil Zolas (vgl. Carles/Desgranges 2003: 19).
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eine Phase der Neuorientierung auslöste. Dies bietet einen wichtigen Orientierungspunkt für die »implizite Theorie des intra- und extraliterarischen Raums«.10 Wird der Roman im Lichte der Ereignisse um 1870-72 betrachtet, erweitert sich die in der Forschung meist auf die im Roman beschränkten Jahre des Second Empire (1862-1863) um eine neue Dimension. Es gilt, dem Roman durch die Berücksichtigung des Zeitpunkts der Veröffentlichung nicht nur einen Vergangenheits-, sondern auch einen Aktualitätswert zuzusprechen.11 Zugleich gerät die Vorstellung absoluter Räume in der Theorie des Naturalismus schon vor der Lektüre des Romans ins Wanken. Indem die Kommunarden ihr Recht auf Stadt geltend machten, führten sie die Idee räumlicher Stabilität an ihre Grenzen. Der soziale Raum einer Zeit steht immer wieder neu auf dem Prüfstand und nirgends offenbart sich dies so eindrücklich wie im Paris dieser Jahre. Im Schnittpunkt von Second Empire und Dritter Republik situiert, entsteht La Curée als ein Roman des Übergangs.12 In Renées Wahrnehmung des Alltags als Verbindung von Routine und Außergewöhnlichem bzw. Isotopie und Heterotopie im Sinne Lefebvres lassen sich dessen utopische Momente des Glücks, aber auch dystopische Momente des Niedergangs ablesen (vgl. Kapitel 3.2, insbesondere Fußnote 16).
5.1
Der alltägliche Ennui: Entzauberung und Reauratisierung im urbanen Naturraum – le retour du Bois
Anhand der drei Ebenen des Raums kann die Darstellung und Wahrnehmung von Alltag in La Curée gewinnbringend untersucht werden. Die räumlich-topologische Achse ist eine von vier Kategorien, die auch Solte-Gresser ihrer »Poetik der Alltäglichkeit« zugrunde legt. Es wird zu zeigen sein, dass die drei weiteren Kategorien – die »zeitliche Achse«, die »Wahrnehmung des Körpers« und die »Erfahrung der Dinglichkeit des Alltags« (vgl. Solte-Gresser 2010: 377ff.) – eine wichtige Rolle in der Inszenierung des Alltags in La Curée spielen. Allerdings hängen diese Kategorien 10
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Unter der »impliziten Theorie des intra- und extraliterarischen Raums« wurde in Kapitel 3.3.2.3 der hermeneutische Prozess der Konfiguration von räumlichem Sinn im Text durch den Rezipienten sowie die Zusammen- und Rückführung der Raumelemente über den Text hinaus gekennzeichnet. In La Curée die Verdichtung verschiedener Räume und Zeiten zu sehen, ist das Ergebnis der eigenen Lektüre bzw. des eigenen Refigurationsprozesses. Aus der sehr umfangreichen Forschung zum Roman haben besonders die Arbeiten Harrows (1997, 2000), Matlocks (2013) und Reids (1993) diesen Prozess begünstigt. Dies bestätigt Priscilla Parkhurst-Ferguson: »La Curée focuses neither on Paris past nor yet on Paris present or future but on Paris in the making, on a Paris becoming. More than any other literary text, perhaps more than any other text altogether, La Curée represents Paris in the throes of transformations as revolutionary as any the city would know« (Parkhurst-Ferguson 1997: 117).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
allesamt von einer räumlichen Konkretisierung ab, sodass sie als Unterkategorien der Topologie der Alltäglichkeit verstanden werden sollen. Es ist Zolas Interesse an der zeitspezifischen Erfahrung des Alltags der Figuren, das ihn so fortschrittlich macht. Im ersten Kapitel von La Curée werden mit dem Bois de Boulogne, der Avenue de l’Impératrice, der Avenue de la Reine-Hortense, dem Boulevard Malesherbes und dem hôtel Saccard am Parc Monceau prestigeträchtige Neuerungen der Haussmannisierung vorgestellt. Zola führt diese durch die Kutschfahrt Renées und Maximes in Begleitung des tout Paris ein, sie endet mit der Ankunft bei den Saccard. Es schließt sich während des Abendempfangs eine Inspektion der Wohnräume des Anwesens an, die ihren Höhepunkt im Gewächshaus findet. Trotz des fiktiven Charakters des Anwesens gleicht dieses im Hinblick auf die verwendeten Baumaterialien, die Anlage der Räume und deren Ausstattung einem prototypischen Gebäude der oberen Gesellschaftsschicht der Zeit. Die konzeptuelle Anlage des ersten Kapitels sowie der weiteren Kapitel orientiert sich folglich an geographisch klar lokalisierbaren Orten der Stadt, die in Form metonymischer Teilreferenzen aufgerufen werden. Es werden also explizit Elemente der außerliterarischen Welt genannt, die der Leser in seiner Vorstellung von Raum konfiguriert. Sie binden sich an dessen mental map und geben ihm durch ihren Wiedererkennungswert ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit (vgl. Corbineau-Hoffmann 2009: 72). Wichtiger als die Bestimmtheit der Ausgangssituation ist aber die Operationalisierbarkeit von Orten und ihren Gegebenheiten im topologischen Gefüge des Texts. Park, Boulevard und Haus interessieren nicht als abstrakte Einheiten auf dem Stadtplan bzw. in der Geschichte, sondern als miteinander verknüpfte Impulsgeber auf der diskursiven Ebene des Texts. Zentral ist ihr lebensweltlicher Bezug, das bedeutet die Art, wie sich die Figuren in ihnen und zu ihnen verhalten. Die Handlung führt im ersten Kapitel sukzessive von traditionell als Außenräumen markierten Bereichen der Stadt – dem Park und den Straßen – hin zu den Innenräumen des Hauses. Diese sind nur anteilig der privaten Sphäre zuzuordnen, da unter anderem der Salon der öffentlichen Zurschaustellung der sozialen Position der Hausbewohner dient. Nur einzelne Räume, darunter das Schlafzimmer Renées, sind als Rückzugsorte zu verstehen. Der Raum des Gewächshauses nimmt eine Sonderstellung innerhalb dieser Anordnung ein: Die gläserne Konstruktion erweckt den Eindruck von Transparenz, doch wird aufzuschlüsseln sein, inwiefern sie zum Beispiel in Konkurrenz zur Abgeschiedenheit und semantischen Undurchsichtigkeit der serre tritt. Es kann daher auf der Ebene der »impliziten Theorie des intraliterarischen espace conçu1 « zuerst die Schachtelung von Räumen konstatiert
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werden (Stadt – Park – Haus etc.), in denen neben dem Treibhaus auch die Kutsche als Grauzone, das heißt (mobile) Enklave bzw. Exklave fungiert.13 Die Kutsche ist ein Zeichen des Wohlstands, ein Element im Verkehrsraum der Stadt sowie ein Rückzugsort für die Privatgespräche zwischen Renée und Maxime. Sie ist sowohl ein »espace-contenu«, der die Position der Saccard innerhalb des im Park vertretenen corps social sichtbar macht, als auch ein »espace-contenant« (De Chalonge 1987: 59). Die Frage drängt sich auf, wie sich diese besonderen Orte oder Objekte des Alltags zum umliegenden Park bzw. Stadtraum verhalten (»Außentopologie«, vgl. Broich/Ritter 2014: 5). Welche Instanz erzählt oder perspektiviert sie? Und welche intrinsische Bedeutung wird ihnen zuteil (»Innentopologie«, vgl. ebd.: 4f.)? Unweigerlich binden sich an die konzeptuelle Struktur von Raum im Text die Parameter des espace perçu1 und des espace vécu1 . Die genannten Orte und Objekte existieren schon vor der Lektüre als räumliche Muster in der Vorstellung des Lesers und werden als solche im Text evoziert; ein Sinn von Raum hängt jedoch ebenso vom Nachvollzug der narrativen Modellierung der Informationen im Text ab. Die Vermittlung des Geschehens durch den Erzähler oder eine Figur bringt den Raum performativ hervor und unterzieht ihn einer Bewertung. Dabei ist vor allem auch die Reihenfolge der Nennung räumlicher Parameter im Verhältnis zu den anderen narrativen Elementen zu berücksichtigen.
5.1.1
Der rätselhafte Alltag zwischen Faszination und Indifferenz: Mobilität und Stillstand, Öffentlichkeit und Intimität als Parameter der Inszenierung von Raum
Die Eingangsszene von La Curée ist ein Beispiel für die dynamische Entstehung räumlichen Sinns durch den ständigen Wechsel der Standorte im und Perspektiven auf Raum. Denn das hiermit zusammenhängende Spiel von Nähe und Distanz verlangt vom Leser eine ständige Neuausrichtung. Es erweckt entweder die Illusion unvermittelten Nachvollziehens der Situation im erzählten Raum oder aber eine Reflexion erwähnter räumlicher Gegebenheiten in Kommentaren etc. (vgl. Dennerlein 2009: 115ff.). Das eigentliche Thema des Romans bzw. der Szene, die Erfahrung von Alltäglichkeit, darf allerdings nicht aus den Augen verloren werden. Die Vielschichtigkeit des Räumlichen kommt nämlich erst dann zum Tragen, wenn Text-
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Die Anlage des Bois de Boulogne selbst folgt ebenfalls diesem Schema der Schachtelung: Der See wird von Alleen gerahmt, auf dem Wasser befinden sich ein Boot und eine Insel, auf der wiederum eine Hütte steht (vgl. De Chalonge 1987: 59). Das Prinzip der Schachtelung von Räumen in La Curée erkennt ebenfalls Étienne Rabaté (1989: 118): »Des cabinets aux chambres, des chambres aux salons, des salons aux fiacres, Paris n’est qu’un emboîtement, un réseau de lieux clos et privés, d’où le thème de l’impudeur, du voyeurisme: la ville expose ce qui doit rester caché, en une gigantesque extériorisation de l’intimité.«
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
und Inhaltsebene zusammengedacht werden. Es soll im Folgenden im Detail nachvollzogen werden, wie in der Szene ein Sinn von Raum entsteht und wie hieraus nach und nach das Thema der Erfahrung von Alltag und Ennui erwächst. Dies ist damit zu rechtfertigen, dass Renées Verlangen der zentrale Ankerpunkt des Romans ist und alle Bausteine für die weitere Textproduktion bereits im ersten Kapitel gelegt werden. Die weitere Analyse verfolgt das Thema weniger kleinschrittig und konzentriert sich auf wichtige Stationen nicht-alltäglicher Erfahrung. Die Handlung des Romans beginnt ohne Umschweife. Aus unbestimmter Distanz umreißt ein Erzähler aperspektivisch die histoire: »Au retour, dans l’encombrement des voitures qui rentraient par le bord du lac, la calèche dut marcher au pas. Un moment, l’embarras devint tel, qu’il lui fallut même s’arrêter« (C: 319).14 Ohne die Kenntnis des Projekts Zolas ist es für den heutigen Leser nicht klar, dass der Teich im Pariser Bois de Boulogne zu verorten ist, es kann nur vermutet werden, dass der Außenraum ein Naturraum ist, durch den sich mehrere Kutschen fortzubewegen versuchen.15 Die Rede vom Rückweg lässt – zusammen mit der Verbform »rentraient« im Imperfekt – darauf schließen, dass eine Handlung dem aktuellen Geschehen vorangegangen sein muss. Dieser Auftakt scheint plötzlich aus einem Handlungsfluss herausgegriffen worden zu sein und erzeugt beim Leser eine antizipierende Erwartungshaltung. Es stellt sich die Frage, wohin die Fahrt führen wird und wer sich auf dem Rückweg befindet. Die fehlenden räumlichen und zeitlichen Marker eröffnen zahlreiche Möglichkeiten des Fortgangs der Geschichte. Die Kutsche dynamisiert die Szene als typisches Kennzeichen des Verkehrsraums. Das sich anschließende Innehalten des Gefährts widersetzt sich dem Ziel des effizienten Zirkulierens (»marcher« versus »s’arrêter«, »immobiles«, C: 319). Könnte durch das Innehalten ein Ereignis initiiert werden, liegt hierin vielmehr der Auftakt für die zeitliche Fixierung der Szene (»Le soleil se couchait dans un ciel d’octobre«, C: 319) und eine genauere Beschreibung der Umgebung. Die Isotopie Herbst wird anhand von Farb- und Lichtspielen ausdekliniert, Verben im Imperfekt dehnen die erzählte Zeit. Die Erzählgeschwindigkeit wird in der szenischen Darstellung gedrosselt, um die Erfahrung von Alltäglichkeit zu generieren (vgl. SolteGresser 2010: 65). Dies bedeutet nicht, dass die Beschreibung zweitranging ist. Mit
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Alle Angaben entstammen der von Armand Lanoux und Henri Mitterand herausgegebenen Reihe in der Pléiade-Ausgabe. La Curée und Le Ventre de Paris sind im ersten Band von 1960, Au Bonheur des Dames im dritten Band von 1964 zu finden. Die Titel werden im aktuellen und in den beiden folgenden Kapiteln jeweils wie folgt abgekürzt: La Curée (C), Le Ventre de Paris (VP) und Au Bonheur des Dames (ABD). Zur Zeit Zolas war die Darstellung von Kutschfahrten ein beliebtes Thema von Zeitungsartikeln der Populärpresse. Aus diesem Grund dürfte die Einordnung für den damaligen Leser ohne Schwierigkeiten erfolgt sein (vgl. Mitterand 1960a: 1570). Zum Motiv des Ausflugs im französischen Roman des 19. Jahrhunderts siehe Benhamou (2008).
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Mieke Bal (2006) ist vielmehr davon auszugehen, dass die hier gestreuten Informationen das später stattfindende Ereignis mit hervorbringen und den Ton für den weiteren Verlauf der Szene bzw. des gesamten Romans angeben. Obwohl die Wahrnehmung der Gegebenheiten weiterhin nicht konkret markiert wird, ändert sich die Position des Erzählers dergestalt, dass der beschriebene Raum wie der Raum seiner Wahrnehmung wirkt. Der Erzähler nähert sich dem Geschehen nach und nach, sodass sich Sprechbereich und Wahrnehmungsbereich überlappen; das diegetische Erzählen wechselt in den Modus der mimetischen Vermittlung. Sehr eindringlich entfaltet sich die Stimmung des Herbstabends in Kernlexemen und Attribuierungen (»gris clair«, »lumière rousse«, »lueurs d’or, »éclairs vifs«, C: 319). Nach der Öffnung der Perspektive gen Horizont scheint es der Blick des Erzählers zu sein, der dem Einfallsweg des letzten Lichtstrahls der Abendsonne folgt und auf der Reihe wartender Kutschen verweilt. Doch es handelt sich hier nur im Ansatz um eine romantisierende Landschaftsbeschreibung, in der Natur und Subjekt als sinnhafte Einheit verschmelzen. Der Fahrer der Kutsche zeigt sich unbeeindruckt von dem Schauspiel, für ihn ist der Ausflug in die Natur Teil des Arbeitsalltags. Der Übergang von einem konventionellen Bild des Naturraums zum Kulturraum, vom gelebten zum konzipierten, beherrschten Raum, ist fließend. Die Grenzenlosigkeit des Himmels verengt sich in der Linie des Horizonts und im Wegverlauf. Der Leser kommt nicht umhin, hierin bereits einen Verweis auf die Haussmannisierung zu sehen und eine gewisse Reglementierung von Natur durch den Menschen in der Anlage und dem Befahren der Straße in die »implizite Theorie des intraliterarischen Raums« aufzunehmen (vgl. Harrow 2000: 450). Dies ist umso bedeutsamer, als die Allee die räumliche und zeitliche Grundlage für den Ablauf der Szene, das heißt die spätere Weiterfahrt der Kutschen darstellt (vgl. De Chalonge 1987: 66). In diese Richtung weisen ebenso das Auftreten von Kutscher und Valet. Nachdem sich das Blickfeld zunächst weiter auf Details wie die Spiegelung des Lichts in den Rädern der Kutsche oder die Messingknöpfe an der Kleidung der Kutscher einschränkt, werden die Bediensteten in Gänze begutachtet. Sie halten sich »raides, graves et patients, comme des laquais de bonne maison«, ihre Hüte haben eine »grande dignité« (C: 319). Nur eine relative räumliche Nähe des Erzählers zu den Fahrzeugen erlaubt eine solch genaue Aufnahme der Umwelt. Obwohl die Beschreibung anfangs neutral wirkt, unterliegt sie einer Bewertung. Der Leser erhält durch die Präsentation des Gefährts Informationen über die soziale Stellung der Insassen. Erst die Selektion einzelner Details entlarvt dabei den Schein der Kulisse im Sinne einer Bartheʼschen Entmythologisierung. Kutscher und Valet sind nicht Angestellte eines noblen Hauses, sie muten nur als solche an (»comme des laquais«); genauso verhält es sich mit der Würde, die nicht ihnen, sondern einem Alltagsgegenstand, dem Hut, zugestanden wird. Schon aus den ersten Zeilen des Texts lässt sich folglich eine geistige Einstellung des Erzählers zur Umwelt herausfiltern, die
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
reine Vermittlung des Geschehens vermengt sich mit dem Erzählerdiskurs. Dieser stellt die Schönheit der Landschaft dem ironisierten Personal gegenüber. Mensch und Natur eint dagegen, dass sie der Domestizierung einer unterschwellig existenten Mannigfaltigkeit zum Opfer fallen. Erst die Sicht des Erzählers ist es jedoch, die die Bedeutung der Landschaft lenkt. Nicht der Raum ist per se begrenzt, sondern die sozialisierte Wahrnehmung des Menschen. Die Feststellung der geräuschvollen Ungeduld der Pferde (»les chevaux, un superbe attelage bai, soufflaient d’impatience«, C: 319), die ebenfalls räumliche Nähe voraussetzt, beendet die Darlegung der weltanschaulichen Sicht des Sprechers. An die Beobachtung des sich sukzessive zusammensetzenden Außenbereichs knüpft sich ein erster Dialog zwischen den Figuren Renée und Maxime an. Der Leser inferiert unter Berücksichtigung des Endpunkts der Beschreibung, dass sie sich im Inneren der Kutsche befinden, was wenige Zeilen weiter bestätigt wird (»Renée, penchée en avant, la main appuyée sur la portière basse de la calèche«, C: 319). Der Eintritt in den Innenraum der Kutsche bildet die nächste Stufe der Verengung des Wahrnehmungsbereichs des Erzählers. Dieser wird nun von den Charakteren absolut perspektiviert: »›Tiens, dit Maxime, Laure d’Aurigny, là-bas, dans ce coupé…Vois donc, Renée‹« (C: 319). Das Fenstermotiv ist ein beliebtes Mittel Zolas, um eine Figur in den »chaos du monde« jenseits der »hiérarchies rassurantes de la perspective classique« einzulassen (Carles 1989: 118).16 Mittels des Sehsinns wird während des Gesprächs die unmittelbare Umgebung der Kutsche erfasst und eine Verbindung zwischen Innen- und Außenraum hergestellt (vgl. De Chalonge 1987: 59). Das Gespräch exponiert daneben durch die Wahl der Themen und die Anrede Renées auch die Vertrautheit zwischen ihr und Maxime und gibt erste Hinweise auf die Moralvorstellungen der Gruppe. Dass Laure d’Aurigny einen neuen Liebhaber hat, stößt nicht auf Empörung. Im Gegenteil kann vorweggenommen werden, dass sich dies als ein normaler Zwischenfall in den Kreisen der Oberschicht herausstellen wird. Die Sätze »Renée se souleva légèrement, cligna les yeux, avec cette moue exquise que lui faisait faire la faiblesse de sa vue« und »Renée […] regarda« (C: 319) schließen vorerst das Gespräch ab und exponieren eine antizipierende Perspektivierung von Raum. Ganz offensichtlich ist das Thema der Beobachtung zentral für diese Szene. Bevor die Wahrnehmung jedoch mitgeteilt werden kann, setzt der Erzählerkommentar ein. Die Betonung des schlechten Sehvermögens Renées ist dabei nicht zu unterschätzen – inwieweit kann sie der Schönheit der Natur überhaupt
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Mit dem Fenster als Motiv des Rougon-Macquart-Zyklus und Symbol für die naturalistische Theorie hat sich Émilie Piton-Foucault exhaustiv auseinandergesetzt: Zola ou la fenêtre condamnée. La crise de la représentation dans Les Rougon-Macquart. Rennes: Presses universitaires de Rennes 2015 [2012].
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gewahr werden? Durch die interne Fokalisierung wird es möglich, den Gefühlszustand Renées zu erfahren: Sie ist »éveillée du rêve triste qui, depuis une heure, la tenait silencieuse, allongée au fond de la voiture, comme dans une chaise longue« (C: 319). Sofort binden sich rückwirkend die Bedeutungen von Traum, Traurigkeit, Ruhe und Komfort in einer metonymischen Kette an das kodierte Bild des Herbsts aus dem kollektiven räumlichen Haushalt (espace vécu1 ). Ist dieser semantische Konnex zu erwarten, hält der Erzähler den Grund für Renées Zustand in der Schwebe.17 Einzig die Verwendung des Wortes »convalescente« (C: 320) schlägt eine Interpretationsrichtung vor. Das Interesse des Lesers ist geweckt und wird zusätzlich durch die indirekten Kommentare in dem sich anschließenden aperspektivischen, mimetischen Erzählerdiskurs motiviert. Es bleibt unklar, wer genau die Vorgänge sieht, denn die Vergangenheitsform schließt aus, dass Sprecher und Figur gleichzeitig anwesend sind (vgl. Reidel-Schrewe 1992: 44). Nichtsdestotrotz hat es den Anschein, als befände sich der Erzähler in der Kutsche, um ein Privatgespräch und die mysteriöse Seite von Renée näher zu erkunden. Ähnlich unspezifisch wie die Wahrnehmungsinstanz und der melancholische Zustand Renées ist das farblich nicht eindeutig klassifizierbare, malvenfarbene Kleid Renées, das wie schon im Fall der Uniform der Bediensteten ein weiteres Element der Raumschachtelung auf der Mikroebene darstellt.18 Die Farbe ist aus zwei Gründen relevant: Erstens handelt es sich um einen der ersten synthetisch hergestellten Farbtöne. Mauve avancierte in der Zeit, zu der der Roman spielt, zur Modefarbe, die bei den betuchten Damen sehr beliebt war und den finanziellen Erfolg der chemischen Farbindustrie sicherte (vgl. Krätz 1991: 313; vgl. auch König 2000: 194ff.). Zweitens korrespondiert die gedeckte Farbe mit der Bedeutungsvielfalt des Herbsts. Auch die Isotopie des Reichtums, assoziativ eingeleitet durch die Bediensteten und die in goldenem Licht erstrahlende Landschaft, wird durch das opulente Kleid um einen Aspekt erweitert. Die Künstlichkeit der Farbe dagegen 17
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Dass La Curée ein dichtes semantisches Netz bereithält, wurde in der Forschung vielfach bemerkt (vgl. zum Beispiel Paissa 2010 und Rabaté 1989). Zusätzlich zur Feuermetaphorik sind Bilder der Vegetation, des Fließenden oder der Perversion beliebte Mittel der Herstellung von Kohärenz im Text (vgl. Rochecouste 1987 und van Buuren 1987). Roland Bourneuf fasst die Marker formaler Einheit in Motiven, zum Beispiel der Zigarre in der Kutsche, der Wiederholung von Szenen, so unter anderem die Szene im Park zu Beginn und am Ende des Romans, und in den gerade erwähnten Bildern des Feuers, des Wassers und der Vegetation (vgl. Bourneuf 1969). Brian Nelson versucht, in den eingesetzten Metaphern oder Motiven das Thema der Spekulation wiederzufinden. Zentrale Motive sind für ihn »the city, le regard, nudity, mirrors, childhood, fire, water, excess, madness and movement« (Nelson 1977: 11, Hervorh. i.O.). Der impressionistische Stil sorge zudem dafür, dass das Thema der Mobilität sprachlich zum Ausdruck käme (vgl. ebd.: 23). Für Jérôme Pourcelot wiederum ist die Figur Renée »le garant de la cohérence du roman« (2000: 243). Für Alain Corbin sind Kleidungsstücke ein Element der »boîtes anatomiques empilées« des sozialen Körpers, das heißt »la maison, le vêtement, la peau« (Corbin 2005: 176).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
kann der Isotopie des Scheins zugeordnet werden. Zola ist darauf bedacht, Alltagsobjekte als Symbole einer Epoche einzusetzen. In der Rolle des Ethnographen beherrscht er das technische Vokabular, um Stoffe und Farben korrekt wiederzugeben; gleichzeitig deutet sich schon hier an, dass Zola der Kleidung einen eigenen dramatischen und psychologischen Wert für den Handlungsverlauf und die semantische Kohärenz des Texts einschreibt (vgl. Becker 2003: 486, 492).19 Die Rätselhaftigkeit der Szene weitet sich in der Beschreibung des Sprechers auf die Frage des Geschlechts aus. Renées Gesichtsausdruck gleicht dem eines »garçon impertinent«, ihre Haare werden für »étranges« gehalten und auch ihr Fernglas als Indiz der Sehschwäche erinnert an das eines Mannes (C: 320). Genauso wie sich die (Un-)Fähigkeit des Sehens und der eindeutigen Geschlechterzuordnung in ein diskursives Motiv übersetzt, entpuppt sich die Beobachtung der anderen Kutschen durch Renée und Maxime als ein Motiv auf inhaltlicher Ebene. Das Thema Laure, aufgerufen durch die exponierte Perspektivierung, (»elle examina la grosse Laure d’Aurigny tout à son aise«, C: 320) bildet den Abschluss der Beschreibung aus dem Inneren der Kutsche. Noch immer wird jedoch die Wiedergabe der Eindrücke Renées hinausgezögert. Zunächst wird der Erzählstrang der verharrenden Wagen wieder aufgegriffen: »Les voitures n’avançaient toujours pas« (C: 320). Der Erzähler setzt an den Baustein »lac« den des »Bois«, die geographische Verortung präzisiert sich und wird schließlich topologisch mit der Positionierung der beteiligten Mitglieder des »tout Paris« (C: 320) vervollständigt. Da die höhere Gesellschaftsschicht die Grünflächen im Westen der Stadt als Ausflugsziel vorzog, kann geschlussfolgert werden, dass es sich um den Bois de Boulogne handelt. Die Aufzählung der Personen in ihren Kutschen scheint sich an deren Aneinanderreihung auf der Allee zu orientieren und 19
Colette Becker verwendet den von Edward T. Hall geprägten Begriff des »langage silencieux«, um auf den Wert von Alltagsgegenständen und -objekten im Roman aufmerksam zu machen. Er umfasst »des codes et rites qui régissent tout groupe, un langage qu’il faut savoir utiliser pour y pénétrer et s’y faire une place« (Becker 2003: 485). Becker analysiert die Funktion der verschiedenen Kleider in La Curée und kommt zu dem Schluss, dass Zola durch die Mode nicht nur das Second Empire und die Protagonistin Renée stigmatisiert, sondern diese ebenfalls als diskursives Mittel einsetzt, um einerseits die Stationen der Geschichte zu markieren und andererseits sein spielerisches Interesse an der Beschreibung von Farben, Stoffen oder Gerüchen auszuleben (vgl. ebd.: 492ff.). Die in den Dossiers in Form von Zeitungsartikeln gesammelten Informationen zum Habitus der Oberschicht liefern ihm hierfür die nötigen Informationen. Das Offenlegen eines zweiten Sinns hinter den Modestücken schlägt eine Brücke zu den semiotischen Untersuchungen Roland Barthes (vgl. Barthes 2010 [1957], 1967). Mit Vanessa Schwartz kann zusätzlich konstatiert werden, dass Renée über den spielerischen Umgang mit der Kleidung aktiv am Konsum partizipiert und diesem nicht passiv erlegen ist (vgl. Schwartz 1998: 10). Vgl. zur Rolle der Haute Couture und dem Schneider Worms im Roman auch Coste (2001) und Adam-Maillet (1995); vgl. allgemein zur Rolle der Kleidung im Naturalismus Zolas Thompson (2004).
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folgt auch sprachlich einem methodischen Muster: Männer und Frauen werden getrennt in den Kutschen platziert und anhand ihres Rangs in einer hierarchischen Ordnung erfasst (Name/Rang + Präposition + Fahrzeug): »[T]out Paris était là: la duchesse de Sternich, en huit-ressorts; […] la baronne de Meinhold, dans un ravissant cab bai-brun; […] M. le comte de Chilbray, en dog-cart« (C: 320; vgl. De Chalonge 1987: 65). Die räumliche Fixierung der Figuren und die Geradlinigkeit der Straße, das heißt Topographie und Topologie als explizite Marker von Raum, fließen ineinander; sie rufen für den Leser das Gefühl der Geschlossenheit in der »impliziten Theorie des intraliterarischen Raums« hervor (espace conçu1 ). Die schematische Darstellung der Personen steht nun aber im Kontrast zu den vor- und nachgeschalteten, lebendigen Beschreibungen des Parks (espace perçu1 ). Es liegt vor allem an der Streuung auditiver Wahrnehmung, dass die Begrenztheit des Raums durchbrochen wird. Eine unpersönliche Instanz nimmt inmitten der Ruhe Gespräche oder das Scharren der Pferdehufe in der Nähe wahr: »On entendait, au fond des voitures, les conversations des piétons. […] et personne ne causait plus, dans cette attente que coupaient seuls les craquements des harnais et le coup de sabot impatient« (C: 320). Daneben werden von der Position im Außenbereich aus auch die »voix confuses du Bois« (C: 320) in unbestimmter Entfernung registriert. Daran reiht sich kurz darauf die aperspektivische Wiedergabe fragmentierter, visueller Impressionen durch den Erzähler, was einen Gesamteindruck des Bois de Boulogne erschwert. Die letzten Sonnenstrahlen setzen einzelne Objekte gleich einem Scheinwerferlicht in Szene: Au milieu des taches unies, […] brillaient le coin d’une glace, le mors d’un cheval, la poignée argentée d’une lanterne, les galons d’un laquais haut placé sur son siège. Çà et là, dans un landau découvert, éclatait un bout d’étoffe, un bout de toilette de femme, soie ou velours (C: 320). Das Nebeneinander konkreter Substantive funktioniert nach dem Pars-pro-TotoPrinzip. Es hat einen synekdotischen Effekt, der dem impressionistischen Pointillismus nahesteht und dessen willkürlich gebrochene Perspektiven einzufangen versucht (vgl. Paissa 2010: 142). Die diskursive Versprachlichung der unsteten Eindrücke vom Außenraum korreliert mit der nun einsetzenden Bewegung der Kutschen auf inhaltlicher Ebene. Dieser Moment hebt sich umso prägnanter von der statischen Präsentation des »tout Paris« ab: »Les premières voitures se dégagèrent […]. Ce fut comme un réveil« (C: 321). Das Aufzählen der Einzelbeobachtungen wirkt rastlos; Zola versprachlicht die permanente Neuausrichtung von Auge und Ohr auf die von der Bewegung provozierte, changierende Gestalt der Landschaft: Mille clartés dansantes s’allumèrent, des éclairs rapides se croisèrent dans les roues, des étincelles jaillirent des harnais secoués par les chevaux. […] Ce pé-
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tillement des harnais et des roues, ce flamboiement des panneaux vernis dans lesquels brûlait la braise rouge du soleil couchant, ces notes vives que jetaient les livrées éclatantes perchées en plein ciel et les toilettes riches débordant des portières, se trouvèrent ainsi emportés dans un grondement sourd, continu, rythmé par le trot des attelages. Et le défilé alla, dans les mêmes bruits, dans les mêmes lueurs, sans cesse et d’un seul jet, comme si les premières voitures eussent tiré toutes les autres après elles (C: 321). Die einzelnen Wahrnehmungen prasseln auf den Beobachter ein; sie bilden isolierte Glieder in der Wahrnehmungskette. An die Stelle der geordneten Übersicht in der Anfangssequenz tritt hier eine dezentrierte Sicht auf die Umgebung in der Tradition impressionistischer Bilder. Diese Art der Beschreibung widersetzt sich der Idee eines homogenen Raums oder einer unveränderbaren Realität (vgl. Carles 1989: 117). Zusammen mit dem Nominalstil und der Position des Verbs am Satzende mündet dies in der écriture artiste, »[qui, J.K.] provoque un effet de mise en relief de la perception sensorielle, visant à donner l’illusion de la restituer comme une impression instantanée« (Paissa 2010: 142).20 Die Vorstellung von Bewegung wird durch Ausdrücke wie die »clartés dansantes«, das Registrieren der »éclairs rapides [qui, J.K.] se croisèrent«, des »pétillement« oder der »notes vives que jetaient les livrées éclatantes« (C: 321) produziert. Die gelöste Darstellung des Abfahrtsgeschehens überschattet die am Ende aufs Neue genannte, geordnete Reihung der Fahrzeuge (»d’un seul jet«, C: 321). Das unmittelbar Wahrgenommene (perçu) hat einen größeren Effekt auf den Leser als die Schlussbemerkung (conçu). Trotz der gewöhnlichen Alltagssituation, verschärft durch das Warten der Kutschen, durchbricht dieser Moment der erzähltechnischen Zeichnung der Umgebung die von Renée wahrgenommene Banalität und Monotonie des Alltags. Der Erzähler verknüpft durch die Reaktion Renées die Schilderung des Aufbruchs mit dem Geschehen im Innenraum der Kutsche: »Renée avait cédé à la secousse légère de la calèche se remettant en marche«, (C: 321). In ihrer Gleichgültigkeit gibt sie sich dem Treiben passiv hin, was durch den Einsatz von Partizipien betont wird: »Un moment, la jeune femme resta pelotonnée, retrouvant la chaleur de son coin, s’abandonnant au bercement voluptueux de toutes ces roues qui tournaient devant elle« (C: 321).21 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Beob20
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Philippe Hamon zählt die impressionistische Beschreibung zu den drei charakteristischen Darstellungsformen des naturalistischen Schreibens. Sie grenzt sich erstens von der hermeneutischen Form der Beschreibung (zum Beispiel von Körpern) ab, bei der ein versteckter Sinn hinter den Oberflächenerscheinungen entdeckt werden soll (vgl. Hamon 1992: 7). Zweitens ist sie von dem enzyklopädischen Typ der Vermittlung zu unterscheiden, in der ein Sachverhalt oder Objekt mithilfe eines meist technischen Vokabulars ergründet wird (vgl. ebd.). Jean-Louis Cabanès (1986) geht dem Einsatz des Körpers im fünften Kapitel von La Curée nach und zeigt, inwiefern ein »corps sensible« seit Flaubert verstärkt Einzug in die französische Literatur erhält. Während Renée auf der einen Seite als aktives, körperlich sensibles Wesen
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achtung des tout Paris und der Abfahrt, die erst einmal vom Sprecher auszugehen schien, nun durch die Bemerkung »laissant tomber son binocle« (C: 321) auch Renée zugeordnet werden kann. Bewusst wird an dieser Stelle offengehalten, wessen Wahrnehmung eigentlich die Entstehung von Raum motiviert. Auffällig ist in diesem Kontext die Kontrastierung von Naturraum und intimem Raum der Kutsche anhand unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen. Entsteht ein Sinn für die Umgebung in erster Linie durch das auditive und visuelle Material, stellt sich ein Gefühl von Intimität und Wärme in der Kutsche durch den Tastsinn ein. Mit der Berührung bzw. der Haut als Grenze zwischen innen und außen kommt die mikrostrukturelle, räumliche Schachtelung an ihr Ende. Die Haut grenzt den Körper als Objekt der Betrachtung nach außen ab, wirft ihn aber auch auf seinen Status als individuelles Subjekt zurück (vgl. Corbin 2005: 8). Zu achten ist im folgenden Zitat auf den Wechsel von Kälte und Wärme bzw. den fließenden Übergang von der Wahrnehmung der Figur zur distanzierteren Einschätzung durch den Erzähler: Renée attira frileusement à elle un coin de la peau d’ours qui emplissait l’intérieur de la voiture d’une nappe de neige soyeuse. Ses mains gantées se perdirent dans la douceur des longs poils frisés. Une brise se levait. Le tiède après-midi d’octobre qui […] avait fait sortir les grandes mondaines en voiture découverte, menaçait de se terminer par une soirée d’une fraîcheur aiguë (C: 321). Nachdem die taktile Wahrnehmung Renées exponiert wurde (»Renée attira frileusement«), kommentiert der Sprecher den lauen Nachmittag und antizipiert den kühlen Abend. Zum ersten Mal wird dabei das schon im Dossier bedeutsame Bärenfell eingesetzt. Neben der Funktion des wärmenden Schutzes wird ihm eine gefährliche Note zuteil. In der christlichen Mythologie ist der Bär ein Symbol für ungezügelte Gewalt und körperliches Verlangen (vgl. Rochecouste 1987: 44). Zola spielt mit dieser Konnotation. Dass Renée das Fell mit den Händen berührt und sich diese darin verlieren, ist von großer Bedeutung. Denn der Tastsinn gilt als ein rätselhafter Sinn, der zum einen für Animalität, Irrationalität und das Weibliche steht. Hieraus erwächst eine Idee von Bedrohung, die zusätzlich dadurch geschürt wird, dass der Mensch unweigerlich in ständigem Kontakt zur Umwelt steht. Es kann sich dem Taktilen nicht entzogen werden. In der Berührung als »mediation through flesh« fallen Aktivität und Passivität, Affizieren und Affiziert-Werden, innen und außen, Anziehung und Abstoßung zusammen (Kearney 2015: 103, vgl.
illustriert wird, kommt auf der anderen Seite aber auch ihre passive Seite zum Vorschein. Für Cabanès hat dies zur Folge, dass nicht mehr die Subjektivität der Figur, sondern der »corps comme événement« (Cabanès 1986: 144) im Vordergrund steht.
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ebd.).22 Das Taktile kann dann zum anderen auch einen Akt des hermeneutischen Interpretierens auslösen, der zur Erkenntnis führt.23 Zola gelingt es folglich, mit der Berührung (espace perçu1 ) und ihren Bedeutungsebenen das Geheimnisvolle und die Gefahr im Bild des Bären und der Frau zu unterstreichen (espace vécu1 ) – die Dimensionen der sinnlichen Wahrnehmung und der gelebten Bilder verschmelzen. Die Kutsche ist kein neutraler Aufenthaltsort während der Reise. Im Gegenteil deutet sich in Renées gedankenverlorenem Berühren des Fells das Ereignis von Szene und Roman, Renées inzestuöse Beziehung zu Maxime, an. Noch einmal überlagern sich Erzähler- und Figurenperspektive, wenn nach der Wiederaufnahme des Gesprächs über Laure d’Aurigny die äußere Umgebung inspiziert wird. Obwohl Renée eindeutig das deiktische Zentrum der Sequenz ist, verkompliziert sich die Zuordnung der Wahrnehmung dadurch, dass sie nicht wirklich sehen kann oder will: Renée avait reposé sa tête, les yeux demi-clos, regardant paresseusement des deux côtés de l’allée, sans voir. A droite, filaient doucement des taillis […]. A gauche, au bas des étroites pelouses qui descendent […] le lac dormait […]; et, de l’autre côté de ce miroir clair, les deux îles, entre lesquelles le pont qui les joint faisait une barre grise, dressaient leurs falaises aimables, alignaient sur le ciel pâle les lignes théâtrales de leurs sapins, de leurs arbres aux feuillages persistants dont l’eau reflétait les verdures noires, pareilles à des franges de
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Es sei erwähnt, dass es Aristoteles war, der die Unterscheidung in Sinne des direkten Kontakts zum Objekt der Wahrnehmung (Tast- und Geschmackssinn) und Distanz ermöglichende Fernsinne (Seh-, Hör- und Geruchssinn) für hinfällig erklärte (vgl. Kearney 2015: 107f.). Zwischen Sinnesorgan und Objekt besteht laut Aristoteles immer ein Moment der Mediation. Die Sicht auf das Taktile als Bedrohung propagieren seit dem 13. Jahrhundert all jene Theorien, die den Tastsinn mit Bezug auf die christliche Tradition dämonisieren. Demnach war es Eva, die mit der Berührung des Apfels die Verführung Adams einleitete (vgl. Jütte 2000: 83). Richard Kearney sieht in der griechischen Mythologie Beispiele für eine »carnal hermeneutics«, das heißt eine durch die Berührung provozierte Erkenntnis. Er führt zur Veranschaulichung unter anderem das Ringen Jakobs mit Gott an, an dessen Ende Jakob den Namen Israel erhält (vgl. Kearney 2015: 101f.). Trotzdem hielt sich eine Opposition von Erkenntnis und Sinneswahrnehmung seit Platon bis Kant und wurde erst mit Husserl und später unter anderem mit der Phänomenologie Merleau-Pontys aufgebrochen (ebd.: 109ff.). Hinsichtlich der auf Aristoteles zurückgehenden Sinneshierarchie kann mit Waltraud Naumann-Beyer von einer »optistisch-taktilistischen Doppelhierarchie« (2003: 206) gesprochen werden. Während der Tastsinn für Aristoteles lebenspraktischen Vorrang vor dem Sehen hatte, war der Sehsinn der oberste Sinn der Erkenntnis. Schließlich ist es im Rahmen der Analyse von La Curée auch von Belang, dass die Erkenntnis dem Mann vorbehalten blieb (vgl. Classen 2005: 70f.). An dieser Stelle kann die Entwicklung der Konnotationen des Tastsinns nicht weiter erschlossen werden, was zu komprimierten Aussagen führt. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass sich die Bedeutung des Taktilen trotz überdauernder Grundideen im Laufe der Zeit verändert.
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rideaux savamment drapés au bord de l’horizon. Ce coin de nature, ce décor qui semblait fraîchement peint, baignait dans une ombre légère, dans une vapeur bleuâtre qui achevait de donner aux lointains un charme exquis, un air d’adorable fausseté (C: 322). Renée ist für das Schauspiel vor ihren Augen wenig empfänglich. Die Landschaft, die zu Beginn des Romans bereits kurz romantisiert wurde, behält ihre märchenhaften Attribute bei, verwandelt sich jetzt aber in ein artifizielles Kunstwerk.24 Zum ersten Mal wird mithilfe der Theatermetapher der ideologische Zweck des Parks in den »lignes théâtrales«, dem »décor […] fraîchement peint« oder der »adorable fausseté« offen ausgesprochen: Espace conçu1 und espace vécu1 verschränken sich. Allerdings erschöpft sich die Beschreibung des Raums im Roman nicht darin, den ideologischen Zweck des Raums aufzuzeigen. Die Transformation des Bois de Boulogne war ein Projekt Haussmanns und seines Stadtplaners Alphand. Sie war Teil eines größeren Plans, der primär zwei Ziele hatte. Zum einen sollten die Grünflächen in der Stadt Orte der Erholung fern des Alltags sein, »a manufactured fantasy of release from the strains and tensions of modern city life« (Prendergast 1992: 165). Ihre Installation hatte das symbolische Ziel, der Entzauberung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Reauratisierung der Natur bzw. des Verhältnisses von Mensch und Natur entgegenzuwirken (vgl. ebd.; vgl. auch Buck-Morss 1991: 253f.). Aus diesem Grund wurden Parks bewusst mit arkadischen Elementen versehen, um ihnen einen »air féerique« zu geben (Alphand 1867-1873: lix, espace vécu). Hiermit hing zum anderen das Bestreben zusammen, soziale Grenzen zeitweise aufzulösen: Durch das Aufeinandertreffen verschiedener Bevölkerungsgruppen im idyllischen Park glaubte man, Spannungen in der Gesellschaft abbauen zu können. Dieses politische Desiderat wurde natürlich im Spiegel der Eskalation sozialer Konflikte in den Revolutionen von 1848 und 1871 besonders relevant (vgl. Prendergast 1992: 171f.). Es ist zu bezweifeln, dass es sich bei der Beschreibung der Gestalt des Parks allein um die Einschätzungen Renées handelt. Offensichtlich schleichen sich Kommentare des Erzählers in die Wahrnehmung ein. Durch die Vermengung beider Erzählinstanzen kommt es zu einer doppeldeutigen Bewertung der Raumideologie. Die Pläne Haussmanns und Alphands, ein Idyll zu schaffen, werden vordergründig
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Für Florence de Chalonge ergibt sich hieraus die »toposémie de l’espace du lac« (1987: 67f.). Sie spannt sich zwischen zwei Polen auf: Der natürlichen Landschaft auf der einen und der kulturellen oder künstlichen Landschaft auf der anderen Seite. An diese oppositionelle Struktur bindet sie in einem nächsten Schritt die sozialen Beziehungen und zwar die natürlichen, zugelassenen Verbindungen einerseits und die verbotenen, unnatürlichen Beziehungen andererseits (vgl. De Chalonge: 68f.). Die Bedeutung des Sees in dieser Passage erinnert an die Literatur der Romantik und hier besonders an Alphonse de Lamartines Gedicht »Le Lac« (1820).
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realisiert. Inseln und Brücken, sanfte Linien, feine Staubwolken, bläulicher Dunst – Wortgruppen und Attribuierungen verweisen eindeutig auf die positive Zeichnung der Landschaft. Allerdings bekommt das Idyll durch das Konstatieren der theatralen Täuschung des Betrachters – wird sie auch für »adorable« gehalten – einen Riss. Dies bestätigt sich in der Reaktion Renées. Sie ist »[a]ccoutumée aux grâces savantes de ces points de vue« (C: 322). Ohne Zweifel lässt sich hierin ein Element der »expliziten Theorie des intraliterarischen Raums«, das heißt eine explizite Bemerkung zum Straßenbild der Stadt lesen (espace conçu1 ). Die romantische Szenerie hält ihr Versprechen der Zerstreuung und der Wiederherstellung einer Einheit mit dem Subjekt vorerst nicht. Hatte sie vielleicht einmal den Reiz des Neuen, ist dieser für Renée längst zur Alltäglichkeit verkommen. Auch der Mythos der sozialen Einheit löst sich auf, ruft man sich in Erinnerung, dass in der Szene lediglich die »grandes mondaines« (C: 321) und Männer von Rang präsent sind. Die Annahme ist berechtigt, dass trotz der zauberhaften Landschaft eine Romantisierung Renées ausbleibt und innere Spannungen weiter schwelen. An diesem Punkt der Geschichte hat der Leser im Wegverlauf das strukturgebende, räumliche Merkmal der Szene erkannt (»implizite Theorie des intraliterarischen Raums«). Es wird einerseits anhand der wechselnden Perspektiven auf den Raum, andererseits durch die Streuung topographischen Materials durch den Erzähler verdeutlicht (»explizite Theorie des intraliterarischen Raums«). Die Orientierungspunkte werden der semantischen Aufladung des Raums (»Herbst« – »Melancholie«, espace vécu1 ) entgegengehalten. Blickachsen und Route versinnbildlichen die konzeptuelle Anlage der Stadt als Isotopie und den imaginären Rahmen, der sich in der Vorstellung des Lesers um Renée legt (»implizite Theorie des intraliterarischen Raums«, espace conçu1 ). Die subtilen Erzählerkommentare und die zuerst desinteressiert wirkenden Wahrnehmungen Renées konstruieren diesen Raum als typisches Ausflugsziel im Alltag der Oberschicht. Auf diese Weise wird ein Bereich des Alltäglichen kreiert, der eine Art Kontrastfolie für die heterotopen Momente des Nicht-Alltäglichen bereitstellt. In den Äußerungen und Beobachtungen von Erzähler und Figur setzt sich der topologische corps social zusammen. Dessen Statik wird im Halt der Kutschen und der Anordnung der Mitglieder ausgedrückt. Der dynamische Perspektivwechsel zwischen außen und innen konfiguriert dagegen einen Raum, der sich zum einen nach außen in die Weite öffnet, zum anderen aber auch perspektivisch schließt und in einen Nahraum sozialer oder intimer Beziehungen verwandelt. Dem Prinzip der Schachtelung (»espace-contenu« und »espace-contenant« [De Chalonge 1987: 59]) folgend, changiert die Betrachtung zwischen der Linie des Horizonts, dem Park, der Kutsche, dem Innenraum der Kutsche, den Insassen, der Kleidung, bis hin zum Körper Renées. Diese Raumelemente werden vor allem anhand visueller Wahrnehmungen miteinander verbunden – die Figuren als Objekte der Betrachtung stehen im Vordergrund. Neben dem Blick aus dem Fenster gelingt es durch den Einsatz
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auditiver Wahrnehmung, die Grenzen zwischen den Elementen bzw. zwischen innen und außen, privat und öffentlich, offen und geschlossen aufzuweichen. Wird hiermit ein Zwischenbereich erschlossen, verweisen ebenso Renées Zustand, ihr androgynes Aussehen und der Tastsinn auf das Enigmatische, das sich vor allem im Innenraum der Kutsche entfaltet. In Abhängigkeit von der (Nähe zur) Figur transformiert sich der konzipierte space des Alltags in einen phänomenologischen place des Außergewöhnlichen (espace perçu1 /vécu1 ).
5.1.2
Ennui erfahren und verstehen oder: der Ennui als außeralltägliches Ereignis und Mittel der relationalen Raumproduktion
Das Gespräch zwischen Renée und Maxime einige Zeilen weiter im Text erklärt retrospektiv und antizipativ das resignative Verhalten der Protagonistin. Entscheidend ist, dass die Aussagen durch die direkte Rede allein Renée zugeschrieben werden können. Sie berichtet Maxime von ihrer Trauer (»Non, vraiment, je suis triste, ne ris pas, c’est sérieux«, C: 323) und ringt nach Worten, um den Grund ihres Gefühlszustands zu erläutern: »›Oh! je voudrais bien… Mais non, je ne suis pas jalouse, pas jalouse du tout.‹ Elle s’arrêta, hésitante. ›Vois-tu, je m’ennuie‹, ditelle enfin d’une voix brusque« (C: 323). Die Aussage bleibt zuerst unkommentiert im Raum stehen, der nun in die »larges pelouses, en immenses tapis d’herbe« (C: 323) vor einem »agrandissement de l’horizon« (C: 324) übergeht. Anders als zuvor werden rückbezüglich auch die Beobachtungen eindeutig als Wahrnehmung Renées ausgezeichnet (»Renée regardait, les yeux fixes«, C: 324). Es ist wichtig, dass sich erst nach der Versprachlichung ihres Zustands der Charakter des Bois in der Wahrnehmung Renées ändert; erst durch den subjektiven Filter korrespondiert die Immensität des »vide se son être« (C: 324) mit den menschenleeren Flächen vor Renée. Der materielle Raum ist nicht statisch, er existiert nicht unabhängig von der Figur oder determiniert diese gar. Vielmehr bestimmt die Wahrnehmung der Figur die Gestalt und die Wirkung des Raums.25 Mit der sich anschließenden Intensivierung des Gefühls in Renées Bewusstsein entwickelt sich der Ennui zu einem relationalen Affekt zwischen Figur und Objekt. Er ist die körperliche und psychische Konsequenz des alltäglichen Daseins in der Großstadt. Der Ennui hat eine lange Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. War er hier als »tristesse profonde« oder »dégoût« angesichts einer für sinnlos gehaltenen Realität bekannt, galt er seit der Aufklärung als ein aristokratisches Gefühl
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Dem stimmt Florence De Chalonge zu: »Renée n’est pas un simple agent de la description zolienne, un des ›fonctionnaires de l’énonciation réaliste‹ dont le rôle d’observateur, de spécialiste ou de bavard est tout entier dévolu à la présentation du décor romanesque. Elle est, au contraire, l’héroïne de La Curée, sujet d’énonciation et d’énoncé privilégiés du roman« (1987: 64).
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der Malaise von Künstlern und Intellektuellen.26 Dies änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, auch wenn der Ennui weiterhin als Gefühl der Frustration, als Affekt und Problem des Bedeutungsverlusts verstanden wurde. Eine immer breitere Masse schien von dem Leiden befallen zu sein. Der bis dato idealisierte, ahistorische Ennui wurde zu einem zeitspezifischen Phänomen erklärt, welches seinen Ursprung in den materiellen Bedingungen der Modernisierung hatte (vgl. Goodstein 2005: 170f.).27 Genauer antwortete der Ennui aus soziologischer und philosophischer Sicht auf einen repetitiven Alltag bzw. sinnentleerte Rationalisierungsprozesse von Industrialisierung und Urbanisierung. Für die Medizin, speziell die Psychoanalyse, war das Gefühl von Leere ein Symptom für Erschöpfungszustände oder nervliche und psychische Krankheiten, darunter Neurasthenie und Depression. Politik und Wirtschaft wiederum sahen hierin ein bedrohliches Vorzeichen für den degenerativen Müßiggang der Gesellschaft (vgl. Pease 2012: 6). Implizit äußert sich in all diesen Erklärungen eine seit Kant und Descartes veränderte Sicht auf den Menschen als Zentrum der Erkenntnis und Produzent eines individuellen Selbst (vgl. ebd.). Der Ennui entwickelte sich zu einem Gradmesser für den Erfolg oder Misserfolg individueller Selbstverwirklichung und Produktivität. Der wissenschaftliche Diskurs bestätigte folglich die Existenz des Ennuis, der in erster Linie ein rhetorisch konstruiertes Phänomen darstellte. Stärker als Soziologie oder Medizin war die Literatur an der Implementierung eines »modern idiom of the reflection upon subjective experience« beteiligt (Goodstein 2005: 181) – und dies nicht erst seit dem Bovarysme Flauberts. Bekanntlich verhandelten schon Goethe und Chateaubriand das Thema der melancholischen Sensibilität.28 Eine zu26
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Diese Bedeutung wurde dem CNRTL online entnommen, Stichwort »ennui«, einzusehen unter: www.cnrtl.fr/etymologie/ennui (07.10.2020). Die Acedia beispielsweise war in der christlichen Tradition als spirituelles Laster von Mönchen bekannt. Es bezeichnete unter anderem das missglückte geistige Transzendieren des Diesseits in Richtung des göttlichen Jenseits (vgl. Forthomme 2000: 21); taedium vitae oder horror loci stammen aus der griechisch-römischen Philosophie (etwa von Seneca) und stehen für Lebensüberdruss. Die Melancholie war Indiz für ein homöostatisches Ungleichgewicht der Säfte in der Temperamentenlehre (vgl. Gardiner 2012: 40). Es wird deutlich, dass das Phänomen der Langeweile je nach Kontext andere Bedeutungen annahm. Der Gewinn von Elizabeth S. Goodsteins Untersuchung des Zusammenhangs von Boredom and Modernity (2005) für die vorliegende Arbeit ist, dass sie den Ennui eben nicht als ahistorische Kondition der menschlichen Existenz angeht, sondern zum einen die soziokulturellen Bedingungen für eine Veränderung der Erfahrung von Ennui analysiert und zum anderen den Diskurs über den Ennui als ein Element der rhetorischen Reflexion über die menschliche Erfahrung in der Moderne versteht. Wichtige Stationen sind für Goodstein die Schriften Baudelaires, Flauberts und Musils sowie die philosophischen und soziologischen Arbeiten Lepenies, Simmels, Heideggers und Eliasʼ. Relevant ist auch Alfred de Musset, der von Zola in der Jugend gelesen wurde. Er setzt sich in der Confession d’un Enfant du Siècle (1836) mit der Frage des Sinnverlusts in Folge der napoleonischen Ära auseinander (vgl. Goodstein 2005: 170). Weitere Schlaglichter der frühen Geschich-
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nehmende Alphabetisierung und erschwinglichere Buchpreise sorgten dafür, dass die Schilderungen des Ennuis einen immer größeren Leserkreis erreichten. In diesen Beschreibungen spielten die Stadt und die Rolle der Frau vermehrt eine Rolle (vgl. Goodstein 2005: 169ff.). Dies ist zentral. Der Ennui war nicht nur eine moderne »structure of feeling« (Williams 1977: 128), sondern vor allem auch eine geschlechtsspezifische.29 Anders als dem Mann, der durch seine Stellung im sozialen Raum den Status eines produktiven Subjekts erreichen konnte, war der Frau solch ein Handlungsspielraum versagt (vgl. Pease 2012: 3). Sie hatte einen doppelt schweren Stand. Erstens hatte sie keinen autonomen Platz in der patriarchalen Gesellschaft und zweitens konnte sie sich nur dann selbst verwirklichen, wenn die soziale Ordnung zuerst subvertiert wurde.30 Indem die Literatur die Stellung der Frau in der Gesellschaft des Second Empire diskutierte, machte sie auf diesen Umstand aufmerksam, verstärkte ihn möglicherweise aber auch. Renées Leere ist ein Beispiel für die Verarbeitung der weiblichen Erfahrung des modernen Großstadtalltags in der Literatur. Sie erhält durch die Bedeutungsvielfalt des Ennuis eine völlig neue Dimension. Die Fahrt durch den Bois ist in
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te der literarischen und philosophischen Diskussion des Ennuis waren von Aquin, Pascal und La Rochefoucauld. Im 19. Jahrhundert nahmen sich Hegel, Schopenhauer und Kierkegaard des Themas an. Doch erst im 20. Jahrhundert wurde der Ennui breitflächig untersucht. Adorno, Agamben, Barthes und Bloch widmeten sich ihm aus einem vorwiegend philosophischen Blickwinkel; neben den bereits erwähnten Arbeiten Simmels seien schließlich noch Benjamin und Kracauer aus der Tradition der deutschen Kulturwissenschaften genannt. Zola ist also auch in dieser Hinsicht modern. Unter Struktur versteht Raymond Williams »a set, with specific internal relations, at once interlocking and in tension, characteristic elements of impulse, restraint, and tone; […] specifically affective elements of consciousness and relationships: not feeling against thought, but thought as felt and feeling as thought: practical consciousness of a present kind, in a living and interrelating continuity. […] Methodologically, […] a ›structure of feeling‹ is a cultural hypothesis, actually derived from attempts to understand such elements and their connections in a generation or period […]. [S]tructures of feeling can be defined as social experiences in solution, as distinct from other social semantic formations which have been precipitated and are more evidently and more immediately available« (1977: 132ff., Hervorh. i.O.). Natürlich könnte hier noch weiter differenziert werden, denn die Situation der bourgeoisen Frau war eine andere als die der Arbeiterin oder Prostituierten. Auch der Unterschied zwischen Stadt und Land spielt eine wichtige Rolle. Die Diversität der Gruppe der Frauen und eine je nach Kontext andere Erfahrung der Modernisierung muss berücksichtigt werden, um eine breitflächige Genderideologie aufzudecken. Für die weitere Analyse ist ein solches Großprojekt jedoch nicht nötig. Es ist von der Situation der Frau der Oberschicht auszugehen, die in erster Linie repräsentative Aufgaben erfüllen musste und nur einen beschränkten, räumlichen Radius in der Stadt nutzen konnte. Für eine genauere Auseinandersetzung mit der Situation der weiblichen Bevölkerung im 19. Jahrhundert vgl. unter anderem den Band von Jean-Paul Aron (1984). In den Analysen der anderen beiden Romane wird entsprechend die Situation der Arbeiterin berücksichtigt.
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Bezug auf die Kategorien von Raum und Zeit ein wichtiges Element zur Veranschaulichung des Gefühls von Alltäglichkeit. Es konkretisiert sich rückblickend in einer zeitlichen Dehnung, welche durch räumliche Wahrnehmungen – und zwar die gleichbleibenden Geräusche und Perspektiven auf den Park – zum Ausdruck kommt (»Et le défilé alla, dans les mêmes bruits, dans les mêmes lueurs«, C: 321; »le trot régulier de la file de voitures«, C: 322; »La file […] passait toujours le long du lac, d’un trot égal«, C: 323). Hierzu zählen ebenso die Wiederholungen bestimmter Phrasen (»au bout d’un silence, elle répéta«, C: 324), Unterbrechungen von Dialogen (»Sa voix s’était ralentie«, C: 327) und die Verwendung von Ausdrücken wie »rêve triste« (C: 319), »lassitude« (C: 322) und »mélancolie noire« (C: 327), um das Verstreichen von Zeit und die Haltung Renées dem Alltag gegenüber zu signalisieren.31 Waren dies Begriffe, die für den Leser erst einmal nur für die Jahreszeit standen, beziehen sie sich nun auf ein andauerndes Gefühl der Trägheit. Das Hinauszögern eines letztlich nicht im traditionellen Sinn eintretenden Ereignisses auf der Ebene der histoire stimmt folglich überein mit der Zeichnung des Themas auf der Ebene des discours. Wichtig ist, dass Renée ihren Zustand selbst reflektiert. Ihre passive Haltung ist in Wahrheit vor allem eine nachdenkliche und Renée eine psychologisch höchst interessante Figur. Wütend betont sie erneut: »›Oh! je m’ennuie, je m’ennuie à mourir‹« und erklärt ihren Zustand zeitgemäß: »›Oui, j’ai mes nerfs‹« (C: 324). Der Versuch des Ergründens des Ennuis im weiteren Verlauf lässt jedoch auf weitreichendere Ursachen schließen. Auf Maximes Frage, was sie denn neben all den Verehrern und dem Reichtum noch wolle, findet sie zuerst keine Antwort, erklärt dann aber vage: »›Je veux autre chose‹« (C: 325). Der Moment der Reflexion wird durch die Wahrnehmung Renées der nun hinter ihr liegenden Landschaft vervollständigt: »[E]lle contemplait l’étrange tableau qui s’effaçait derrière elle« (C: 325): Ce grand morceau de ciel sur ce petit coin de nature, avait un frisson, une tristesse vague; et il tombait de ces hauteurs pâlissantes une telle mélancolie d’automne, une nuit si douce et si navrée, que le Bois, peu à peu enveloppé dans un linceul d’ombre, perdait ses grâces mondaines, agrandi, tout plein du charme puissant des forêts. […] Renée, dans ses satiétés, éprouva une singulière sensation de désirs inavouables, à voir ce paysage qu’elle ne reconnaissait plus, […] dont la grande nuit frissonnante faisait un bois sacré, une de ces clairières idéales au fond desquelles
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Allison Pease nach zu urteilen ist die Auseinandersetzung der Literatur mit dem weiblichen Ennui bzw. der Versuch der sprachlich korrekten Wiedergabe des Gefühls ein Merkmal moderner, (angloamerikanischer) Literatur. Sie nennt unter anderem Werke von T.S. Eliot, Nella Larsen, Virginia Woolf, D.H. Lawrence, Thomas Mann, Hendrik Ibsen, Jean-Paul Sartre und Samuel Beckett. Gustave Flaubert ist laut Pease einer der Vorläufer dieser Literatur. Zola wird hierbei allzu schnell ausgelassen (vgl. Pease 2012: 1).
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les anciens dieux cachaient leurs amours géantes, leurs adultères et leurs incestes divins (C: 326). Das von Renée als seltsam empfundene Bild der Natur ist analog zu ihrem ungenauen Gefühl des Ennuis. Die hereinbrechende Nacht hüllt die Landschaft metaphorisch in ein Leichentuch und verliert die Wärme der Eingangsbeschreibung des Erzählers. War die trostlose Stimmung bislang auf Renées Position im Innenraum der Kutsche beschränkt, überfällt sie im Blick Renées nun auch den Außenraum. Die Isotopie des Herbsts und der Melancholie schlägt um in die Isotopie des Todes, was einer unheilversprechenden Prophezeiung gleicht. Dieses metaphysische Element findet sich im mythischen Bild des »bois sacré« und der »anciens dieux« wieder. Unwillkürlich koppeln sich die »désirs inavouables« Renées in der Vorstellung des Lesers an die »adultères« und die »incestes divins«. So projizieren sich das aktuelle Verlangen Renées in der Kutsche und ein überzeitliches Gefühl von Liebe auf den Raum der Natur (espace vécu1 ). Die Vehemenz, mit der Renée ihren Zustand beschreibt (»une voix où il y avait des larmes de dépit«, C: 326; »Des ardeurs perçaient sous les mines aristocratiques de la grande mondaine«, C: 327), kontrastiert mit der Unbestimmtheit ihres Verlangens: »C’est à mourir. […] moi, je ne devine pas; mais autre chose, quelque chose qui n’arrivât à personne, qu’on ne rencontrât pas tous les jours, qui fût une jouissance rare, inconnue« (C: 327).32 In einer Zeit, in der das weibliche Begehren für dubios und gefährlich gehalten wurde, ist eine solche Aussage gewagt (vgl. Corbin 2005: 155f.).33 Dass Renée aktiv nach einer unbekannten Form der »jouissance« sucht, die in die Nähe einer anormalen Lust gestellt wird, muss in den Augen des damaligen Lesers umso anrüchiger gewirkt haben.
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In diesem Punkt knüpft Renées Ennui an romantische Muster an, zu denken ist unter anderem an die Beschreibung des »vague des passions« in Chateaubriands gleichnamigen neunten Kapitel aus Essai sur les révolutions. Le génie du christianisme (1978 [1880]: 714-716). Alain Corbin untersucht diachronisch die wissenschaftlichen und volkstümlichen Vorstellungen vom männlichen und weiblichen Verlangen. Nachdem im Laufe des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Idee, der Orgasmus der Frau sei für eine erfolgreiche Empfängnis notwendig, für obsolet erklärt wurde, wurde dieser von der klinischen Medizin und der Biologie als dubiose, da überflüssige sensation eingestuft (vgl. Corbin 2005: 155). Corbin geht jedoch davon aus, dass das Gros der Bevölkerung sein Wissen aus Wörterbüchern zog, die sich weiterhin auf alte Überzeugungen stützten. Demnach waren zum Beispiel die Vitalkräfte des Mannes ausgeprägter als die der Frau, weshalb der Mann für die Ausführung körperlich anstrengender Tätigkeiten angeführt wurde. Die Frau ergänzte dies durch ihre sensible, familiäre Art. Diese Autoren machten die genussvolle Verbindung zwischen den Partnern gegenüber der Abwertung des plaisir der Wissenschaft stark. Beide Repräsentationssysteme waren sich aber einig darin, dass ein Exzess des Vergnügens zu Krankheit oder sogar Tod führen konnte. Besonders gefährdet waren angeblich nervlich belastete Frauen, Menschen, die im Norden Frankreichs lebten, sowie intelligente, unausgelastete Personen (vgl. ebd.: 160ff.).
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Renée bezieht den Ennui an dieser Stelle eindeutig auf die Erfahrung des Alltags, aus dem sie ausbrechen will. Sie ergänzt: »›[J’]ai assez de bals, assez de soupers, assez de fêtes comme cela. C’est toujours la même chose. C’est mortel…Les hommes sont assommants, oh! oui, assommants…‹« (C: 327). Die Versprachlichung der emotionalen Situation und Renées aktive Suche nach einem neuen Verlangen sind das eigentliche Ereignis der Szene, denn in ihrer Ablehnung der sozialen Verpflichtungen ist die Ablehnung der sozialen Ordnung bzw. ihrer Position in der männlich geprägten Gesellschaft impliziert. Dass Renée diese auf die Situation der bourgeoisen Frau im Second Empire generell ausweitet, lässt sich aus folgender Aussage ablesen: »›Après tout, reprit-elle, ces dames doivent avoir leurs ennuis, elles aussi. Rien n’est drôle, décidément‹« (C: 327). Diese Ordnung stellt sich als Ordnung des Visuellen und der theatralen Ausstellung heraus. Durch die Blicke, die zwischen den Kutschen ausgetauscht werden, sowie die Benennung der einzelnen Figuren (»elle salua«) findet ein Prozess der Identifikation und der Reproduktion der hierarchischen Positionen im Raum statt. Die Straße, einst ein Ort der Zusammenkunft und chronotopischer Punkt des Romans, verkommt zu einer »allée déserte«, die Bürgersteige sind »toutes vides« (C: 327), es herrscht »un grand silence« (C: 320), ein Ereignis für den Fortgang der Handlung im traditionellen Sinn bleibt aus.34 Die Avenue steht metonymisch für die Raumideologie der Zeit und liefert the bond of illusion that secures relations between people and relations of individuals to their tasks fixed by the social structure. The street secures ideological normativity, and a silent or silenced crowd who submits readily to the machine of bourgeois domination (Ross 1996: 68). Im öffentlichen Raum werden die vom Menschen internalisierten Regeln der Ideologie unbewusst umgesetzt (vgl. ebd.), der abstrakte Raum ummantelt den Raum materieller Handlungen (espace conçu1 > perçu1 ). Der Ausflug in den Bois dient daher nicht der von den Stadtplanern angestrebten Erholung vom Alltag, sondern unterstreicht nur noch mehr, dass auch die Freizeit im Kapitalismus produktiv zu nutzen war. Renée emanzipiert sich durch die Reflexion ihrer eigenen Situation und möchte ihrer rein repräsentativen Funktion enthoben werden: »[J]e suis tellement lasse de vivre ma vie de femme riche, adorée, saluée, que je voudrais être […] une de ces dames qui vivent en garçon« (C: 326). Aus soziologischer Perspektive liegt hierin eine Kritik am System und seiner Verdinglichung des Menschen. Renée sehnt einen erfüllten emotionalen Zustand herbei, der die visuelle Ordnung aufbricht, was erklärt, warum sie schlecht sieht oder nicht sehen möchte. Ihr Wider34
Hier wird deutlich, inwiefern Zola traditionelle narrative Muster des Romans unterläuft und an eine moderne Tradition in der Folge Flauberts anknüpft. Bereits in Madame Bovary stehen schließlich solche Nicht-Ereignisse im Vordergrund.
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stand bleibt jedoch erst einmal auf diese kritischen Nuancen beschränkt. Maximes Vorschlag, eine verbotene Liebe auszuleben, kommentiert sie nicht. Sie verharrt in einem unbestimmten Zustand. Die Transformation des idyllischen Parks in einen Ort der Tristesse und der Sehnsucht fand ihren Ausgang in der Wahrnehmung Renées. Die hierdurch erzeugte räumliche Nähe zur Figur dynamisiert sich im Höhepunkt der Szene durch die integrierte Perspektivierung. Die Preisgabe der Gedanken Renées intensiviert das Gefühl des Ennuis, das nun atmosphärisch wieder vom Außenraum auf Renée übergeht: »Elle était mollement envahie par l’ombre du crépuscule; tout ce que cette ombre contenait d’indécise tristesse, de discrète volupté, d’espoir inavoué, la pénétrait, la baignait dans une sorte d’air alangui et morbide« (C: 328). Obwohl die Banalität des Alltags Renée langweilt, spendet ihr das Vertraute an dieser Stelle dennoch Trost. In dem Raum der Intimität und des Geheimnisses ist die im Außenraum durch die Phasen des Sonnenuntergangs rekonstruierte, zyklische Zeit ausgesetzt. Der Ennui dehnt sich als relationaler Affekt zwischen Person und Umwelt im Jetzt aus und widersetzt sich der standardisierten Zeit. Dies spiegelt sich auch im Raum wider. Obwohl Renée durch die Kutsche im Außenraum situiert zu sein scheint, befindet sie sich durch die affektive Verbindung zum Außen an einem Ort des Dazwischen. Sie ist körperlich anwesend, semantisiert den sie umgebenden Raum jedoch als imaginäres Anderswo. Genauso ist das Gefühl des Ennuis weder vollkommen privat noch vollkommen öffentlich, weder gänzlich unbegreiflich noch gänzlich fassbar. Für Renée wird der Ennui zum Ausdruck einer sowohl dystopischen als auch utopischen Erfahrung. So dystopisch ihr das gesellschaftliche Schauspiel erscheinen mag, so utopisch breitet sich das »autre chose« vor ihrem inneren Auge aus. Hier ist der Kern des Alltäglichen erreicht. In der Banalität des Alltags scheinen immer auch Momente der hoffnungsvollen Sehnsucht auf, denn bestimmte Bereiche des Alltagslebens bleiben laut Gardiner »hidden and obscure, beyond the grasp of the fully legible ›Cartesian space‹« (Gardiner 2012: 46; vgl. Lefebvre 2000 [1974]: 235). Für Lefebvre ist der Körper ein Brennglas für die »opacité cryptique« (ebd.) des Alltags. Löst die Erfahrung repetitiver Handlungen oder Bewegungen den Ennui aus, kann eine einzige veränderte Bewegung in der Wiederholung transgressives Potential erlangen. Nirgends wird dies so deutlich wie in den folgenden Zeilen der Szene bzw. in dem von Renée eroberten Raum des Dazwischen. Dieser ist ein opaker Raum, den Zola sprachlich vom lesbaren Raum der Stadt abzugrenzen weiß. [E]lle voyait sa vie passée, la monotonie écrasante […]. Puis, comme une espérance, se levait en elle, avec des frissons de désir, l’idée de cette ›autre chose‹ […]. Elle faisait effort, mais toujours le mot cherché se dérobait dans la nuit tombante, se perdait dans le roulement continu des voitures. Le bercement souple de la calèche était une hésitation de plus qui l’empêchait de formuler son envie. Et une ten-
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tation immense montait de ce vague, de ces taillis que l’ombre endormait aux deux bords de l’allée, de ce bruit des roues et de cette oscillation molle qui l’emplissait d’une torpeur délicieuse. Mille petits souffles lui passaient sur la chair: songeries inachevées, voluptés innommées, souhaits confus, tout ce qu’un retour du Bois, à l’heure où le ciel pâlit, peut mettre d’exquis et de monstrueux dans le cœur lassé d’une femme. Elle tenait ces deux mains enfouies dans la peau d’ours, elle avait très chaud sous son paletot de drap blanc, aux revers de velours mauve. Comme elle allongeait un pied, pour se détendre dans son bien-être, elle frôla de sa cheville la jambe tiède de Maxime […]. Une secousse la tira de son demi-sommeil. Elle leva la tête, regardant étrangement de ses yeux gris le jeune homme vautré en toute élégance (C: 329).35 Vergangenheit und Gegenwart fallen im Raum der Kutsche zusammen (»elle voyait sa vie passée«) und widersetzen sich dem linear-kausalen Erzählen. Der imaginierte Raum der Vergangenheit bleibt durch die taktile Wahrnehmung (»frissons«) an die materiellen Gegebenheiten der direkten Umgebung Renées gebunden, espace perçu1 und espace vécu1 bilden eine Einheit. Die Vorwärtsbewegung und das Wiegen der Kutsche sind Zeichen der alltäglichen Erfahrung von Monotonie und Auslöser von Lethargie (»torpeur«, espace conçu1 > perçu1 ). Sie verhindern, dass Renée ihre Wünsche artikulieren und sich wirklich emanzipieren kann. Wird die Erfahrung des Ennuis inhaltlich thematisiert, wird ebenso versucht, dem Affekt sprachlich eine Form zu geben. Die hypnotisierenden Wahrnehmungen bringen Renée in Versuchung, korrespondieren aber zugleich mit der gedanklichen Suche nach Klarheit – Renée ist Geist und Körper zugleich: Träume, Wollust und Wünsche materialisieren sich in den »mille petits souffles«, die anhand der Aufzählung verbalisiert werden. Hängt der erste Teil des Satzes noch von der Wahrnehmung Renées ab, bringt der Erzählerkommentar den Leser nach und nach vom Geschehen ab und verallgemeinert die weibliche Erfahrung (»tout ce qu’un retour du Bois […] peut mettre d’exquis et de monstrueux dans le cœur lassé d’une femme«). Doch schon im nächsten Satz wird eine exponierte Perspektivierung sprachlich markiert (»elle tenait ses deux mains enfouies«) und sie führt den Leser räumlich nah an die Figur heran. Wieder steht die Berührung des Bärenfells im Vordergrund, die bereits einige Zeilen zuvor das Kryptische des Ennuis antizipiert hatte. Das körperliche Verlangen wird in der empfundenen Wärme metonymisch intensiviert; es entlädt sich zenitartig in der Berührung zwischen beiden Körpern. Der Stoß, der Renée aus ihrem Tagtraum reißt, mag vielmehr durch diese Berührung als durch den Wagen getriggert 35
Der im Zitat genannte »vague« drängt erneut den Vergleich mit dem »vague des passions« Chateaubriands (1978 [1880]: 714-716) auf. Obwohl sicherlich ein romantischer Ennui in La Curée mitschwingt, ist Renées Gefühl der Leere Ausdruck einer ganz spezifischen Modernitätserfahrung.
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sein. Der Einsatz der Berührung löst eine weitere Konnotation des Taktilen beim modernen Leser aus, nämlich einen Erregungszustand stimulieren zu können (vgl. Corbin 2005: 162). Die unerwartete Berührung markiert das Potential alltäglicher Begegnungen. Sie ist das heterotope Element, das den Ort des Gleichen (Isotopie) angreift. Renée ist verändert: Sie schaut den ihr vertrauten Maxime befremdet an. Ihre Reflexion des eigenen Daseins kulminiert in einer Art rite de passage, wobei ungewiss ist, ob dieser in einer utopischen Identitätsfindung oder einem dystopischen Untergangsszenario münden wird. Der Moment wird in der Schwebe gehalten und klingt auch im Handlungsfortgang nach. Der Erzähler vermittelt nun wieder aperspektivisch die Ausfahrt der Kutsche aus dem Parkgelände auf die »avenue de l’Impératrice« (C: 329). Der Einsatz der 1854 angelegten, geradlinigen Straße (»toute droite«, C: 329) ist nun ein klares Symbol der Haussmannisierung und klassischen Perspektive (»avec les deux lignes vertes de ses barrières de bois peint, qui allaient se toucher à l’horizon«, C: 329). So wie die Berührung die Wahrnehmung der Protagonistin einnimmt, sticht für den Leser der Moment der Spannungsentladung in der Vorwärtsbewegung der Erzählung hervor (espace perçu1 > conçu1 ). Es handelt sich hier nicht um eine Grenzüberschreitung im traditionellen Sinne Lotmans, weil der zweite Teilbereich kein real existierender Raum ist. Mit Christiane Solte-Gresser kann aber von einer »Unterschreitung der Alltags-Grenzen« (2010: 383) gesprochen werden: Die sinnliche Wahrnehmung bzw. Berührung fungiert als ein Tor in einen Bereich jenseits des Alltags. Anders ausgedrückt erlaubt der intensive Kontakt den Eintritt in »andere Welten« und die Zusammenführung des »Entferntesten mit dem Nächstliegenden« (Solte-Gresser 2010: 383). Im zweiten Teil der Szene steht folglich das Raumerleben der Protagonistin angesichts des sozialen Alltags im Vordergrund. Bildeten anfangs die geschönte Beschreibung des Ausflugs am Herbstnachmittag in der Erzählerdarstellung und das scheinbar indifferente Verhalten Renées einen Kontrast, vereinen sie sich nun im Ennui: Renée sieht ihre Gefühlslage in der Natur gespiegelt, innen und außen verschmelzen. Interne Fokalisierung und exponierte Wahrnehmung führen den Leser dabei nah an die Figur heran. Der Rückzug ist ein Beispiel für die Introvertiertheit gegenüber einer Politik der verfremdenden Exposition im öffentlichen Raum. Renée ist nicht mehr nur das deiktische Zentrum der Szene, sondern wertende Instanz des Raums. Die Berührung kann als materialisierte Form des Widerstands gegen die visuelle Ordnung des Alltags und den Ausschluss der Frau von den Orten der Machtausübung verstanden werden. Der Körper wird zum »Medium der Aneignung des Alltags« (ebd.: 377); das bloße Betrachten von Körpern weicht dem Erleben der subjektiven, unmittelbar leiblichen Präsenz.36 Die Bestätigung des Status 36
Die körperliche Wahrnehmung ist die dritte, die Verbindung des wahrnehmenden Ich zu seiner unmittelbaren Umgebung die vierte Kategorie der Alltäglichkeit. Christiane Solte-
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quo im Blick der Figuren wird ersetzt durch eine von Renée angedeutete Transgression der Ordnung. Intimität und Zurückgezogenheit im Raum der Kutsche stellen sich als Prämisse der Reflexion und taktilen Wahrnehmung heraus. Diese entzieht sich aufgrund ihrer Rätselhaftigkeit dem Paradigma der Zurschaustellung der sozialen Ordnung in dem panoptisch organisierten Stadtraum.
5.2
Auf der Suche nach dem eigenen Raum im Alltag – Raumbesetzung und Entortung
Der erste Teil des ersten Kapitels handelte von Renées Ennui gegenüber einem unerfüllten Dasein im Alltag des Second Empire. Im Folgeteil sowie dem zweiten und dritten Kapitel wird der Leser eingehender mit der Gestalt und der Entstehung dieses Alltags konfrontiert. An den Bois de Boulogne als Symbol der Haussmannisierung reiht sich mit dem Anwesen der Saccard ein weiteres Ausstellungsobjekt im alltäglichen Raum der Stadt. Wie der Park, der nur vordergründig die Merkmale eines Naturraums hatte, ist auch der Wohnraum nur auf den ersten Blick ein Ort qualitativer Raumaneignung durch die Bewohner. Landschaft, Architektur und Mode werden in La Curée zu Trägern einer naturalisierten Raumideologie. Susan Harrow fasst sie mit Rückgriff auf Roland Barthes Mythologie als »imaginary visual supports for myth« (2000: 440; vgl. auch Barthes 2010 [1957]). Der Mythos des Second Empire besteht darin, die im Alltag manifeste sekundäre semiotische Bedeutungsebene des Glanzes der fête impériale natürlich wirken zu lassen. Verschleiert werden die Opfer, die für das Spektakel erbracht werden: Beziehungen und Objekte werden kommodifiziert und als symbolische Marker von Macht und Reichtum eingesetzt, der urbane Raum verkommt zu einer lukrativen Ware (vgl. Harrow 2000:
Gresser beschreibt einen Zustand in der Literatur des 20. Jahrhunderts, der bereits in La Curée beobachtet werden kann: »Immer wieder äußert sich die Erfahrung von Alltäglichkeit in einer plötzlichen Widerständigkeit des Leibes, in Augenblicken also, in denen die eigene Körperlichkeit nicht mehr selbstverständlich ist. […] Im Betrachten, Berühren oder Handhaben von Objekten des täglichen Gebrauchs, also im sinnlichen Kontakt mit der Außenwelt, inszeniert das erlebende Ich, […] seinen Alltag anhand einzelner Gegenstände, die die Grenzen zwischen Subjekt- und Objekthaftem zunehmend verschwimmen lassen und sich damit zu einer ganz eigenen Erkenntniskategorie entwickeln« (Solte-Gresser 2010: 377f.).
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440f.).37 So wird die materielle Gestalt der Stadt von einer imaginären Schicht ideologischer Diskursstränge überformt. Renées Alltag ist kein Zufallsprodukt, sondern Ergebnis einer Raumpolitik des Kalküls. Diese bewegt sich zwischen der kontrollierten Besetzung von Raum auf der einen Seite und der abstrakten Spekulation und Irrationalität auf der anderen Seite. Im Folgenden sind zuerst die Praktiken des Ausstellens zu analysieren, die an den Mythos der Stadt geknüpft sind. Sie fügen sich in den espace conçu1 bzw. die »implizite Theorie des intra- und extraliterarischen Raums« des Lesers. Vor diesem Hintergrund lässt sich anschließend Renées Suche nach Sinnhaftigkeit als Versuch der Raumeroberung lesen.
5.2.1
Die Produktion von Alltäglichkeit – exposer Paris
Hatte die Fahrt in den Bois den Zweck der organisierten Ausstellung der Mitglieder der höheren Gesellschaftsschicht, wird das Thema der Exposition im weiteren Verlauf des Romans in unterschiedlichen Facetten ausgespielt. In den Kapiteln zwei und drei wird mittels einer Analepse auf die Hintergründe der Stadtplanung und des damit verbundenen Aufstiegs von Aristide Saccard eingegangen. Das heißt, dass es um das Funktionieren der Stadt bzw. den Einfluss der globalen Ebene (l’ordre lointain) auf die Strukturen der alltäglichen Ebene menschlicher Beziehungen (l’ordre proche) geht (vgl. Kapitel 3.2). Im Pariser Alltag spielt das Bewohnen teurer Anwesen eine bedeutende Rolle. Sie sind eines der Elemente, mit denen die Macht der erstarkten Bourgeoisie im öffentlichen Raum zur Schau gestellt werden sollte (vgl. Kapitel 4.1.2.1). Philippe Hamon versteht dies mit Blick auf die Literatur wie folgt: »Habiter, c’est vivre ces ›distinctions‹, c’est habiter un système de valeurs, et ces distinctions sont, justement, celles dont la littérature du XIXème va faire son matériau privilégié« (Hamon 1989: 10). Hatte Zola in den Notizbüchern das Inventar des Anwesens des Chocolatiers Menier bereits genauestens festgehalten, wurde es hier noch nicht inszeniert. Erst
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Susan Harrow sieht die visualisierten Formen des Mythos – Architektur, Natur und Mode – durch die Faktoren der »fabrication«, »fetishization« und »territorialization« verbunden (Harrow 2000: 440): »Fabrication confirms Barthesʼs contention that the language of myth arises from matter that has been transformed or travestied in order to articulate a message. Fetishization is a symptom of the wholesale commodification of values that promotes overinvestment in part-objects and part-surfaces, material or erotic. Territorialization reflects the ideological inscription of space, the tendency to acquire, inscribe and exhibit the material spoils of speculative activity« (ebd.: 440f.). Für Harrow weist Zolas soziokulturelle Analyse von Alltagsobjekten und -räumen Parallelen zu der semiotischen Untersuchung der Mythen des Alltags bei Barthes auf. Sie zieht daraus die Schlussfolgerung, dass Zola dessen »Semioklastie« antizipiert (vgl. ebd.: 441).
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dessen Beschreibung im Verlauf der Geschichte und die Kommentare des Erzählers machen klar, in welchem Licht die Bestandteile des Alltags der Oberschicht gelesen werden sollen. Obwohl Zola primär daran gelegen ist, die Lesbarkeit der Stadt zu garantieren, führt er diese durch das Thema des Ennuis im Alltag und nicht-alltägliche Orte an ihre Grenzen. Die Repräsentation eines per se undurchsichtigen Gefühls ist schwierig. So widerständig die resignative Haltung inmitten einer Ideologie der Produktivität ist, so widerständig ist das Sich-Entziehende des Ennuis gegenüber dem Ziel der sprachlichen Klarheit. Die Wiedergabe der Wahrnehmung des Ennuis aus dem Innenraum der Kutsche hat dies unter Beweis gestellt. Bevor im Folgenden nun die Funktion der Architektur im Spiel zwischen der Transparenz und Undurchsichtigkeit des Alltags entschlüsselt wird, gilt es zunächst, Zolas Nachvollzug der Raumideologie deutlich zu machen. Sie ist die Grundlage der realisierten Eingriffe in den Stadtraum, und Saccard ihr Sprachrohr. Er ist einer der Drahtzieher einer Produktion von Raum, von der die Mehrheit der Bevölkerung bzw. die Stadt selbst ausgeschlossen ist.
5.2.1.1
Der Plan von der abwesenden Stadt
Das zweite Kapitel handelt vom strategischen Plan der Einnahme der Stadt durch Aristide Rougon. Die Parallele zur Machtübernahme Napoleons III. ist nicht zu übersehen: »[Il, J.K.] s’abattit sur Paris, au lendemain du 2 Décembre, avec ce flair des oiseaux de proie qui sentent de loin les champs de bataille« (C: 359).38 Auch im zweiten Kapitel ist von Beginn an klar, welches Bild aus dem räumlichen Haushalt fruchten soll (espace vécu1 ). Die einem militärischen Feldzug gleichende Inbesitznahme zuerst der armen, dann der reichen Viertel von Paris wird durch den Erzähler aus einer distanzierten Position nacherzählt. Immer wieder durchziehen jedoch auch die erlebte Rede und Dialoge die Schilderungen, um Nähe zur materiellen Umgebung zu suggerieren sowie die Gedanken der Figuren zu veranschaulichen. So auch im folgenden Zitat, in dem die Ankunft Saccards in Paris festgehalten wird: [I]l éprouva l’âpre besoin de courir Paris, de battre de ses gros souliers de provincial ce pavé brûlant d’où il comptait faire jaillir des millions. Il marcha pour marcher, allant le long des trottoirs, comme en pays conquis. Il avait la vision très nette de la bataille qu’il venait livrer (C: 359). Saccard zieht rastlos durch die Stadt (espace perçu1 ), die sich vor seinem inneren Auge in ein erobertes Land verwandelt (espace vécu1 ). Der Erzähler spielt hier den
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Saccards Vorgehen ist ähnlich brutal wie das Vorgehen Napoleons III. und verweist auf die Verschränkung politischer und wirtschaftlicher Interessen (vgl. Bell 1988: 64f.).
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Topos des Gegensatzes von Provinz und Großstadt im Bild des unbeholfenen Parvenüs aus (»gros souliers de provincial«). Der Abbau sozialer Grenzen erleichtert ihm den Weg in das Milieu der Oberschicht (vgl. Best 1989: 111). Kurz darauf wird das Parvenü-Schema erneut wirksam, wenn Saccard von ihm unbekannten Reizen herausgefordert wird: »L’air de Paris le grisait, il croyait entendre, dans le roulement des voitures, les voix de Macbeth, qui lui criaient: Tu seras riche!« (C: 360). Wahrgenommener und gelebter Raum gehen ineinander über – während des Gangs durch die Stadt beschwört der intertextuelle Bezug zum Werk Shakespeares dessen tragisches Ende herauf.39 Die skrupellosen Handlungen Saccards und seiner Schwester Sidonie ähneln denen Macbeths und seiner Frau. Macht über den sozialen Raum ausüben zu können, hat in La Curée die Konnotation männlicher Durchsetzungskraft und weiblichen Intrigierens. Nicht umsonst vereinen sowohl Saccard als auch Sidonie Attribute beider Geschlechter. Wie in Macbeth ist der Weg an die Macht rücksichtslos: Saccards erste Frau Angèle erfährt im Sterbebett von der arrangierten Ehe mit Renée. Letztere verliert in der Schwangerschaft ihr Kind und muss ihre Mitgift opfern, um Saccard den Eintritt in die Spekulation um Raum zu ermöglichen. Den größten Verlust hat allerdings Paris selbst zu verbuchen: »Et, dans la ville où le sang de décembre était à peine lavé, grandissait […] cette folie de jouissance qui devait jeter la patrie au cabanon des nations pourries et déshonorées« (C: 367). Die blutige Vergangenheit hängt wie ein Damoklesschwert über der zügellosen Raumpolitik. Für den Leser ist es ein Leichtes, die Ereignisse von 1852 und 1871 zusammenzuführen. Genauso unheilvoll wie die Zeit nach dem Staatsstreich droht die Zeit nach der Kommune für die aus der Taufe gehobene Dritte Republik zu werden. Die Karriere Saccards beginnt mit der physischen Raumbesetzung (espace perçu1 ) und wandelt sich mit der Spekulation in ein Spiel um fiktive Tauschwerte. Entsprechend entwickelt der Leser ein Verständnis von Raum, in dem dieser sowohl als physisch besetztes Territorium als auch als abstrakte Ressource für die Produktion, Zirkulation und Konsumption auftaucht (»implizite Theorie des intraund extraliterarischen Raums«, espace conçu1 ). In welcher Form auch immer, der städtische Raum ist für Saccard ein offenes Feld der Möglichkeiten. Er unterliegt keinem Raumdeterminismus, sondern gestaltet seine Umwelt nach seinen Vorstellungen. Im Gegensatz zu Renée hat Saccard einen Platz in der von Männern geleiteten Transformation der Stadt. Sukzessive erschließt er sich die prestigeträchtigen Quartiers von Paris: von der Ile Saint-Louis über die rue de Rivoli hin zum Parc Monceau. Diese Bewegung folgt einer ausgefeilten Taktik. Sie beruht
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Sharon Mouanda geht in ihrem Beitrag der Funktion der mise en abyme in La Curée nach. Die Anspielung auf Macbeth löse beim Leser eine antizipierende Erwartungshaltung aus (vgl. Mouanda 2008: 37). Daneben könne die mise en abyme Handlung generieren oder ein Element der Reflexivität einführen (vgl. ebd.: 35).
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auf Plänen, die die Quintessenz der verdinglichenden Raumideologie darstellen. Der Erzähler berichtet zuerst von Saccards Kenntnis der Karten Haussmanns (»explizite Theorie des intraliterarischen Raums«), de ces démolitions, de ces voies nouvelles et de ces quartiers improvisés, de cet agio formidable sur la vente des terrains et des immeubles, qui allumait, aux quatre coins de la ville, la bataille des intérêts, et le flamboiement du luxe à outrance. Dès lors, son activité avait un but (C: 368). Größer könnte die Diskrepanz zwischen der unbestimmten Sehnsucht Renées und dem klaren Ziel Saccards wohl nicht sein. Während der Einflussbereich von Renée weitgehend auf private oder zurückgezogene Räume beschränkt bleibt, handelt Saccard meist in den öffentlichen Bereichen der Stadt. Er wird zum Repräsentanten der Raumideologie, das bedeutet der rücksichtlosen Parzellierung der Stadt. Der distanzierte Erzähler betont diesen Eingriff, die Wahrnehmung wird nicht durch Verben markiert. Das Kommentieren der Verhältnisse (»la bataille des intérêts«, »le flamboiement du luxe à outrance«) erhebt den Raum in den Rang eines Denkobjekts, klammert die materiellen Konsequenzen für die Bewohner also aus. Die räumliche Distanz des Erzählers zum Geschehen ist unbestimmt, ohne jedoch neutral zu sein. Die Wertung fließt im Einsatz des militärischen Vokabulars ein, doch bleibt es dem Leser überlassen, die Schwere des Eingriffs in den Stadtraum zu beurteilen. Saccards Haltung seiner Umgebung gegenüber ist jedoch stets indifferent. Der Raum bleibt für ihn ein abstrakter space oder Mittel zum Zweck. Noch offensichtlicher wird diese Haltung in der Szene, in der Saccard vom Fenster des Restaurants auf dem Montmartre-Hügel aus die Stadt symbolisch zerstört. Im Laufe der Szene verliert die Stadt immer mehr an konkreter Form. Am Ende gleicht sie nur noch einer ausgebreiteten Karte. Dieser Prozess der Degradation verläuft in drei Stufen. Zuerst wird die Wahrnehmung des Häusermeers vor Saccards Augen, das heißt eine panoramatische Wahrnehmung vom erhöhten Standort aus, exponiert: »Ce spectacle des toits de Paris égaya Saccard. […] Il sourit à l’espace, […]. Et ses regards […] redescendaient toujours sur cette mer vivante et pullulante« (C: 387). Saccard befindet sich in Distanz zum Raum, die direkte Umgebung interessiert nicht. In dieser Passage realisiert sich das von De Certeau formulierte Prinzip der carte bzw. klaren Positionierung gegenüber einem statischen Raum (»il sourit à l’espace«). Sie versteht sich als Gegensatz zur mobilen tour, wie sie dem Leser auf der Kutschfahrt durch den Bois begegnet ist (vgl. Kapitel 3.3.2.3; vgl. de Certeau 1990 [1980]: 187). Paris verwandelt sich in ein Ausstellungsobjekt, das von Saccard begutachtet wird. Ganz klar verbindet sich für den Leser die Offenheit des Raums (»mer vivante«, l’immense horizon«, »océan de maisons«, C: 387) mit dem offenen Handlungsspielraum Saccards (»implizite Theorie des intraliterarischen Raums«).
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Das Loslösen vom materiellen Raum wird mit sprachlichen Mitteln rekonstruiert. Der Erzähler wechselt in einen aperspektivischen, diegetischen Erzählerdiskurs, sodass die szenische Darstellung hinter die Reflexion des Raums zurücktritt: On était à l’automne; la ville, sous le grand ciel pâle, s’alanguissait, d’un gris doux et tendre, piqué çà et là de verdures sombres, qui rassemblaient à de larges feuilles de nénuphars nageant sur un lac; […] les fonds s’emplissaient d’une brume légère, une poussière d’or […] tombait sur la rive droite de la ville, du côté de la Madeleine et des Tuileries […]. C’était comme le coin enchanté d’une cité des Mille et Une Nuits, aux arbres d’émeraude, aux toits de saphir, aux girouettes de rubis. Il vint un moment où le rayon qui glissait entre deux nuages, fut si resplendissant, que les maisons semblèrent flamber et se fondre comme un lingot d’or dans un creuset (C: 388, Hervorh. i.O.). Die Stadt wird zu einer unbestimmten, homogenen Masse, die sich unter dem Himmel ausbreitet (»la ville, sous le grand ciel«). Lediglich der Farbverlauf ins Grün der Blätter setzt Akzente auf dem einer Wasseroberfläche gleichenden Häusermeer (»nageant sur un lac«). Das Evozieren einer glatten Fläche, die erst mit Bedeutung angereichert werden muss, stellt sich erneut in den zu füllenden Tiefen ein (»les fonds s’emplissaient«; vgl. Piton-Foucault 2012: 1381). Der Erzähler legt im Anschluss das Bild der orientalischen Stadt mit ihrem exotischen Dekor über die konkreten Objekte von Paris, die sich im Licht aufzulösen drohen (»les maisons semblèrent flamber et se fondre«). Die Metaphern der kostbaren Steine und des goldenen Staubregens überdecken Zeichen im Text (»arbres«, »toits«, »girouettes«) und die materielle Form der Stadt, »les matériaux évoqués réduisant en effet tous les éléments sous un seul et même vocable désignant une texture lisse, un format régulier mais abstrait, et une couleur uniforme« (ebd.: 1382; espace vécu1 > espace perçu1 ). Einzig die metonymischen Teilreferenzen »Madeleine« und »Tuileries« verorten das Geschehen, bleiben aber unkommentiert. In ihrem konkreten Bezug zu Paris stehen sie im Kontrast zur Exotik der fiktiven Zauberstadt. Der zweite Schritt der Abstraktion ist das performative Kartographieren der Stadt anhand von Deiktika und Toponymen: »›C’est la colonne Vendôme, n’est-ce pas, qui brille là-bas?…Ici, plus à droite, voilà la Madeleine…‹« (C: 388). Der Dialog dynamisiert das Geschehen und veranschaulicht die Übersetzung der Stadt in das Modell der Karte. Sie folgt laut Piton-Foucault dem Prinzip der »communication d’un plan« (2012: 1385), in der ein Sprecher Orte auf einer Karte identifiziert. Obwohl die Stadt anhand von Monumenten aufgerufen wird, bleibt ihre Präsenz auf deren Namen beschränkt. An welchen Punkten der Stadt sich die Deiktika ausrichten, ist unklar. Der Leser erhält keinerlei Informationen zu den genannten Orten, die Figuren haben keine Beziehung zu ihnen. Entsprechend hält der Erzähler den Einbruch der Nacht mittels einer anonymen Wahrnehmungsinstanz fest: »[L]la nuit se fit, la ville devint confuse, on l’entendit respirer largement, comme une mer
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[…]; les flammes jaunes des becs de gaz piquèrent dans les ténèbres, pareilles à des étoiles« (C: 390). Anders als der relationale Affekt des Ennuis, der sich zwischen Renée und Landschaft entfaltet hatte, geht die Beeinflussung hier nur von Saccard aus. Er beachtet das Schauspiel nicht weiter. Paris ist für ihn wie jede andere Stadt – ein zu eroberndes Terrain: ›Oui, […] plus d’un quartier à fondre […]. Ce grand innocent de Paris! […] C’est bête, ces grandes villes! Il ne se doute guère de l’armée de pioche qui l’attaquera. […] On a déjà commencé […]. Regarde là-bas, du côté des Halles, on a coupé Paris en quatre.‹ Et de sa main étendue, ouverte et tranchante comme un coutelas, il fit signe de séparer la ville en quatre parts (C: 388f.). Das Zerschneiden der Stadtteile ist zum einen ein Nachzeichnen möglicher Linien auf der Karte. Sofern angenommen werden könnte, die Geste sei eine Praktik der Produktion von Raum (espace perçu), handelt es sich hier um eine symbolische Geste der Zerstörung des Raums. Und dies im zweifachen Sinne: Erstens ist hierin eine Anspielung auf die gewaltsame Veränderung der Stadt durch Haussmann zu sehen. Sie konkretisiert sich später in der Begehung des Boulevards durch die Kommission. Die Brutalität des Vorgehens äußert sich dort in den Ruinen, in denen noch Spuren des früheren Lebens der Bewohner zu finden sind.40 Es liegt nahe, in den Geistern der Bewohner auch eine Anspielung auf die Geister der Kommune zu sehen. Und auch der Beginn der Kommune wird durch den Bericht Saccards im Restaurant auf dem Montmartre-Hügel mitgedacht (»implizite Theorie des intraund extraliterarischen Raums«). Die Kommunarden nahmen die Stadt ein und rebellierten nicht zuletzt gegen die Folgen der Haussmannisierung. Aus einer stärker konzeptuellen Perspektive ergibt sich zweitens, dass die Repräsentation der Stadt in Form einer Karte den qualitativen Wert von Paris reduziert. Indem die Stadt im Entwurf lesbar gemacht wird, werden die Vielfalt des alten Paris und die Erinnerungen der Bewohner ausgemerzt. Schließlich ist erwähnenswert, dass Zola auf einer Metaebene auch die Möglichkeit der Literatur diskutiert, die Mittel der Kartographie einzusetzen, um einen Sinn für den espace conçu1 der Zeit herzustellen.
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Einprägsam ist in der Passage auch das physische Eindringen in die alten Wohnungen: »Il [l’ancien rémouleur, J.K.] examinait les ruines autour de lui, ne reconnaissant plus le quartier. […] [T]oute la commission quitta le boulevard pour aller visiter la ruine. Ils montèrent sur les décombres, entrèrent par les fenêtres dans les pièces« (C: 583; 585). Auguste Dezalay untersucht, inwiefern grundsätzlich Opfer und Zerstörung dem Roman zugrunde liegen. So wie das alte Paris dem neuen Paris geopfert wurde, werde der Phèdre-Mythos von Zola für die Geschichte des anormalen Verlangens ausgebeutet (vgl. Dezalay 1987: 197ff.). Colette Becker analysiert die Mechanismen der Eroberung von Raum im Roman und konstatiert, dass in der Spekulation als neuer Form des Kapitalismus das Geld die zentrale Rolle spielt (vgl. Becker 1983).
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Der Abstraktionsprozess erreicht in Saccards Antizipation der trois réseaux ihren Höhepunkt. Das aktuelle Paris wird von der virtuellen Stadt der Zukunft verdrängt und entzieht sich vollständig dem erzählten Raum (vgl. Piton-Foucault 2012: 1286). Im Laufe des Berichts fehlen selbst die metonymischen Teilreferenzen: »Du boulevard du Temple à la barrière du Trône, une entaille. […] et une troisième entaille dans ce sens, une autre dans celui-ci, une entaille là, une entaille plus loin, des entailles partout« (C: 389). Von der Stadt bleibt nichts außer einem linienförmigen Netz. Die Wiedergabe der Produktion eines abstrakten Kartenwissens bindet sich als mise en abyme zurück an die von Saccard betrachteten Karten der Haussmannisierung im Rathaus. Gleichzeitig ist in dem Eindringen des HaussmannParis in den Raum des alten Paris eine mise en abyme des übergeordneten Themas des Romans zu sehen. Die Szene macht laut Warning die nichtsujethafte Kollision, das heißt den »Einbruch des äußeren Raums in den inneren« (Warning 2009: 153) oder den Untergang einer kulturellen Ordnung sichtbar. So kann geschlussfolgert werden, dass die kontrollierte Handbewegung und der Stadtentwurf Saccards die Implementierung der Raumideologie des Panoptischen und der Überwachung widerspiegeln. Diese schlägt sich trotz ihrer Abstraktheit in materiellen Formen nieder. Gleichwohl kann in der Bewegung Saccards eine Bedrohung der Raumideologie gelesen werden. Die Geister der Spekulation um Raum, die Haussmann rief, wenden sich gegen die staatliche Kontrolle. Eine Ideologie des Geldes verdrängt den realen Wert der gebauten Umwelt und sprengt die Ordnung der Exposition. So durchdacht die Pläne des Umbaus der Stadt scheinen, so unkontrollierbar sind die Kräfte, die sie entfesseln. Diese sowohl transparente als auch opake Seite der Macht ist auf subtile Weise in Saccards Schilderungen eingewoben.
5.2.1.2
Transparenz und Undurchsichtigkeit im Anwesen der Saccard
Mit dem Wissen um die Dimensionen des espace conçu1 kann die Funktion der Architektur und speziell die Funktion von Renées Ennui im Alltag des Second Empire weiterverhandelt werden. Die Logik der Transparenz ist den Bauten der Zeit eingeschrieben, stößt aber in den nicht-alltäglichen Räumen auf Widerstand. Die weiteren Ausführungen basieren daher auf der Frage, wie sich die Raumideologie im Anwesen der Saccard manifestiert und wie diese entmythologisiert und durch Momente der Undurchsichtigkeit herausgefordert wird. Im zweiten Teil des ersten Kapitels kommt die Kutsche nach der Fahrt durch den Bois vor dem hôtel der Saccard zum Stehen. Der Erzähler nimmt dies zum Anlass, das Anwesen eingehender zu beschreiben. Die Schilderung der visuellen Eindrücke wird nicht perspektiviert, obwohl sich der Erzähler als deiktisches Zentrum vor bzw. hinter dem Anwesen befinden muss. Die Fassade des Hauses wird nämlich von unten nach oben abgescannt: »En haut du perron, la porte du vestibule avançait«; »De chaque côté, les étages avaient cinq fenêtres, régulièrement alignées
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sur leur façade«; »Le toit, mansardé, était taillé carrément« (C: 330f.). Ähnlich wird das Grundstück vom Park Monceau aus beschrieben. Ziel ist, die Funktion des Hauses im stadtplanerischen Projekt sprachlich zu spiegeln. Ist es einerseits ein Element der Ausstellung von Paris, exponiert es der Erzähler durch die detaillierte Beschreibung andererseits auch im Verlauf der Geschichte. In die mimetische Vermittlung mischen sich wertende Kommentare: »C’était un étalage, une profusion, un écrasement de richesse. L’hôtel disparaissait sous les sculptures« (C: 331). Bereits die Bemerkung über die regelmäßige Anordnung der Fenster (»cinq fenêtres, régulièrement alignées«) ist ein Hinweis auf die Umsetzung der Raumideologie der Zeit, wie Philippe Hamon sie versteht. Wenn Formen der Selektion, der Erneuerung und durchsichtigen Organisation von Raum den Alltag vollkommen einnehmen, führt dies laut Hamon zu einer »sur-sémiotisation du cadre quotidien bâti« (Hamon 1989: 129). Das Übermaß an Zeichen in der materiellen Umgebung (Bilder, Reklame, Beschriftung) mündet dann in einem Sinnverlust der Architektur (vgl. ebd.: 134). Je gewichtiger die Ausstellung wird, desto opaker oder nichtssagender wird sie. Hamon gibt zu bedenken: »L’Exposition […] est donc ambiguë: elle est à la fois le lieu (architectural et rhétorique) d’une rationalité, mais aussi d’un éclectisme, à la fois d’un bric à brac et d’une organisation« (Hamon 1989: 15, Hervorh. i.O.).41 Die Architektur wird damit zum bloßen Träger ephemerer Bedeutungsfragmente. Das Verschwinden des Anwesens der Saccard unter den zahlreichen Skulpturen weist eindeutig in diese Richtung. Anhand der Aufzählung der Güter wird auf die Vervielfältigung austauschbarer Objekte aufmerksam gemacht. Sie sabotieren den eigentlichen Nutzen des Hauses als Rückzugsort. Das Gebäude wird so zum Marker einer stillosen Epoche. Stillos insofern, als Elemente des Alltags in keinen übergeordneten Sinnzusammenhang mehr eingebettet werden können. Lefebvre diskutiert diesen Verlust von Stil im Zusammenhang mit der Entstehung von Alltäglichkeit in der Moderne. Er nennt als Merkmal des 19. Jahrhunderts »la fin des grands styles, des symboles et des mythes, des œuvres collectives: monuments et fêtes« (Lefebvre 1968: 76). Und dies scheint auch dem Erzähler in La Curée vorzuschweben, wenn er das Anwesen der Saccard wie folgt charakterisiert: [C]ette grande bâtisse, neuve encore et toute blafarde, avait la face blême, l’importance riche et sotte d’une parvenue, avec son lourd chapeau d’ardoises, ses rampes 41
Atsuko Nakais Interpretation der Architektur in La Curée zielt in die gleiche Richtung. Für ihn sind Gewächshaus und Hauptgebäude unterschiedlichen Baustilen zuzurechnen – Nüchternheit der Glas- und Eisenstruktur auf der einen, Exzentrik des Anwesens auf der anderen Seite –, die letztlich dem gleichen Zweck dienen: dem Ausstellen von Objekt und Mensch. Ist das Anwesen der Saccard selbst schon Exponat, fungiert das Gewächshaus als Mittel für die Exposition der Flora (vgl. Nakai 1996: 117). Organisation und Eklektizismus als Zeichen der Exposition sind also der Architektur direkt eingeschrieben.
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dorées, son ruissellement de sculptures. C’était une réduction du nouveau Louvre, un des échantillons les plus caractéristiques du style Napoléon III, ce bâtard opulent de tous les styles. Les soirs d’été, lorsque le soleil oblique allumait l’or des rampes sur la façade blanche, les promeneurs du parc s’arrêtaient, regardaient les rideaux de soie rouge drapés aux fenêtres […]; et, au travers des glaces si larges et si claires qu’elles semblaient, comme les glaces des grands magasins modernes, mises là pour étaler au-dehors le faste intérieur, ces familles de petits bourgeois apercevaient des coins de meubles, des bouts d’étoffes, des morceaux de plafonds d’une richesse éclatante, dont la vue les clouait d’admiration et d’envie au beau milieu des allées (C: 332). Zola verhandelt hier die Folgen der Raumideologie des Kapitalismus. Der Warencharakter des Raums leitet die Implementierung der Dauerausstellung in allen Lebensbereichen ein. Der Vergleich des Hauses mit dem Kaufhaus unterstreicht dies. Der Privatraum wird durch den Einsatz von Glas in einen öffentlichen Raum der Zurschaustellung von Produkten und Bewohnern verkehrt (»étaler au-dehors le faste intérieur«).42 Der Erzähler staffiert die Isotopie des Reichtums aus, ohne einen Mehrwert zu erzeugen. Die Glieder der Kette verweisen doch immer nur auf den Reichtum selbst. Genauso erzeugen die genormten Bauten in Paris ein homogenes Stadtbild. Die sprachliche Isotopie steht in Analogie zur städtebaulichen Isotopie im Sinne Lefebvres. Das Kennzeichen des »style Napoléon III« ist demnach sein Mangel an Stil. Die Notwendigkeit des ständigen Wandels und der Illusion von Innovation im Kapitalismus erzeugt transitorische Produkte; die Logik des Systems widersetzt sich einer überdauernden Organisationsstruktur. Aus diesem Grund entsteht ein Ersatz-Konglomerat, eine Art Pastiche vergangener Stile (»ce bâtard opulent de tous les styles«; vgl. Harrow 2000: 444f.). Der Mythos des Neuen auf der Oberfläche des hôtel wird vom Erzähler als Illusion entlarvt. Ziel der kapitalistischen Fortschrittsideologie im Second Empire ist es, die Konsumenten, im Zitat die kleinbürgerlichen Familien, mit dem Schein der Transparenz zu blenden und zu paralysieren (»clouer«). Vor dem Hintergrund der vielfach propagierten Trennung in einen öffentlichen Raum und einen privaten Wohnraum, der vor Blicken zu schützen ist, ist die freie Sicht der Kleinbürger auf
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Für David Harvey liegt der Erfolg Haussmanns genau darin begründet, öffentliche und private Bereiche der Stadt miteinander in Einklang gebracht zu haben. Sie stehen unter dem Banner des »spectacle of the commodity« (Harvey 2006: 27). Harvey führt aus: »It is the relational connectivity between public, quasi-public and private spaces which counts when it comes to politics in the public sphere. It was Haussmann’s genius to orchestrate this symbiosis on the ground while fortuitously facilitating the stronger presence of the commodity as spectacle in the new Paris that his works helped create. The bourgeois could thereby assert their hegemony in politics as well as in economy at the same time as they claimed privileged access to and control over the public spaces of their city« (ebd.: 31f.).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
Teile des Interieurs der Oberschicht umso wirkungsvoller (»ces familles […] apercevaient«; vgl. Kapitel 4.1.2.1). Der Verlust von Intimität wird später noch deutlicher: »L’éternel coup de vent qui entrait dans l’appartement […] en faisait battre les portes« (C: 426). Dass Saccard sich verschulden muss, um die Idee des Reichtums zu streuen und sein Gesicht nach außen zu wahren, dringt nicht an die Öffentlichkeit. Seine größte Errungenschaft ist Renée, die nicht als Person, sondern als Mittel zur Ausstellung des Luxus ins Rampenlicht gerückt wird. Die Mechanismen der Exposition sind nicht zu reflektieren. Das Gebäude wird daher auch nur aus der Distanz betrachtet. Der Einsatz des Sehsinns als Fernsinn ist kein Zufall – es besteht keine nähere Verbindung zwischen dem Habitat und den Bewohnern der Stadt. Die Haltung des Erzählers lässt sich aus den indirekten Kommentaren ableiten. Die Fassade des Anwesens ist trotz des Prunks farblos und nichtssagend (»face blême«); sie korreliert mit der Farblosigkeit des Ennuis. Ging der damalige Diskurs der Architektur von der Analogie zwischen äußerem und innerem Erscheinungsbild aus, verweist die Fassade auf einen ebenso gehaltlosen Innenraum (vgl. Marcus 1999: 164). Die Beschreibung gibt folglich nicht einfach das Dekor der Handlung preis, sondern den Anstoß für die Rekonstruktion des konzeptuellen Raums des Kaiserreichs (»implizite Theorie des intra- und extraliterarischen Raums«, espace conçu1 ). Während die Symmetrie der Gebäudeteile das Rationalitätsprinzip realisiert, schleicht sich durch die unterschiedlichen Perspektiven auf das Haus und die Ansammlung von Objekten diverser Epochen ebenso der von Hamon detektierte Eklektizismus in die Exposition ein. Wurde dieser zwar von prestigeträchtigen Architekten gepriesen, ist er hier ein Zeichen des Verlusts. Dieses Schema zieht sich durch das restliche erste Kapitel, in dem nach und nach der Innenraum des Hauses durchschritten wird. Hierbei orientiert der Ordnungsgedanke des euklidischen Grundrisses, den Zola im Dossier skizziert hatte, die Vorstellung des Lesers. Der Raum existiert trotz des abstrakten Schemas nicht unabhängig von einer Erzählinstanz. Erst Renées Bewegungen durch die einzelnen Bereiche des Hauses lassen einen Sinn für die Dimensionen des Raums entstehen: »Renée monta lentement l’escalier, en retirant ses gants. Le vestibule était d’un grand luxe« (C: 333). Die Mobilität der Figur im Prinzip der tour erlaubt es dem Erzähler, die nähere Umgebung zur Ereignisregion auszugestalten und die geladenen Gäste am Abend zu fokussieren (vgl. Becker 1987a: 83).43 Obwohl Renée also eine wichtige Funktion 43
Das Verfahren der tour zieht sich durch das restliche erste Kapitel, wobei sich Erzähler und Figur die Vermittlung des Raums teilen. In längeren deskriptiven Passagen balanciert meist eine verallgemeinernde Sicht die räumliche Nähe des Erzählers zum Geschehen aus (»On ne voyait pas le bois de ces meubles; le satin, le capiton couvrait tout«, C: 350). Der Ablauf des Diners strukturiert die Szene. Es folgt einer strengen Etikette und wird so als Teil des Alltags exponiert. Nach dem Eintreffen der Gäste begeben sich diese zu Tisch, was es dem Erzähler erlaubt, das Esszimmer zu beschreiben. Das exquisite Menü ist Zeichen für den Wohlstand
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auf erzähltechnischer Ebene hat, wird sie inhaltlich mit der Architektur und ihrer Funktion als Statussymbol gleichgeschaltet. Für Saccard ist sie ein Mittel für den wirtschaftlichen Zweck: »[I]l la regardait un peu comme une de ces belles maisons qui lui faisaient honneur et dont il espérait tirer de gros profits« (C: 420).44 Renée wird zum narrativierten und betrachteten Objekt par excellence – sie gibt Anlass zu Gesprächen und Bewunderung. Allerdings zeigt sie in ihren Privaträumen ein anderes Verhalten; diese Rückzugsorte entziehen sich der Kultur der Exposition und bringen eine andere Seite der Protagonistin zum Vorschein. Renées Beobachtung des dunklen Parks von ihrem Appartement aus kontrastiert nämlich mit ihrem Verhalten als Gastgeberin. Die Frage der Undurchsichtigkeit der Exposition, die bislang zwischen den Zeilen zu lesen war, zeigt sich jetzt explizit in der vordergründig ereignislosen Thematisierung des Raums. Diese ist in der Ankleideszene eindeutig Renée zuzuschreiben: »Lorsque la dernière épingle eut été posée, […] elle ouvrit une fenêtre, s’accouda, s’oublia« (C: 334). Die Eindrücke Renées drängen sich dem Leser wie ein Leitmotiv auf. Das »mer d’ombre« oder die »feuillages secoués par de brusques rafales« (C: 334) haften sich an den Schlüsselmoment im Halbdunkel der Kutsche. Die durch den Ennui Renées heraufbeschworene Atmosphäre legt sich wie ein Klangteppich über das Spektakel im Haus der Saccard. Die Protagonistin dringt dadurch in Gefühlswelten ein, die sich der Logik der Transparenz der Raumideologie widersetzen und den Gedankenprozess Renées vorantreiben. Schon auf der Fahrt durch den Bois überschritt Renée imaginär eine räumliche Grenze und ließ in den konzeptuellen Raum der Ordnung das unbestimmbare Verlangen der Melancholie ein. Sie ergibt sich diesem Gefühl in ihrem Zimmer und beschwört die Vergangenheit herauf: Elle se revit enfant dans la maison de son père, dans cet hôtel silencieux de l’île Saint-Louis, où depuis deux siècles les Béraud du Châtel mettaient leur gravité noire de magistrats. Puis elle songea au coup de baguette de son mariage […]; [Saccard] la prenait, il la jetait dans cette vie à outrance, où sa pauvre tête se détraquait un peu plus tous les jours. […] Ce fut comme un pressentiment rapide. Les arbres se lamentaient à voix plus haute. Renée, troublée par ces pensées de honte et de châtiment, céda aux instincts de vieille et honnête bourgeoisie qui
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der Saccard. Der Kaffee wiederum wird im großen Salon eingenommen, sodass wieder eine Bewegung einsetzt. Danach zerstreut sich die Gesellschaft. Während die Herren in den Rauchsalon umziehen, begeben sich die Frauen in den kleinen Salon. Beispiele für die Verdinglichung Renées sind unter anderem ihre »nudité de statue« (C: 475) und ihre statische Rolle als Nymphe Echo in den Tableaux vivants (vgl. Harrow 1997: 154f.). Ihr selbst fehlt es an Sehvermögen, was auf Irrationalität oder eine Unkenntnis der eigenen Person und der äußeren Umstände hindeutet. Körperliche Leiden wie Migräne oder Kurzsichtigkeit stellen sich immer dann ein, wenn sich Renée von der Außenwelt abschottet (»Son régal de femme curieuse tournait mal, et elle se désespérait de rentrer ainsi avec une illusion de moins et un commencement de migraine«, C: 446).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
dormaient au fond d’elle; elle promit à la nuit noire de s’amender […], de chercher quelque jeu innocent qui pût la distraire, comme aux jours heureux du pensionnat (C: 334). Die Erinnerung hat drei Funktionen. Es werden erstens die Hintergründe der Zusammenkunft von Renée und Aristide, die Eigenschaften Saccards sowie die Moral der Zeit thematisiert (»brutalité«, »spéculation«, »jouissance«). Die Identität einer Person ist frei verhandelbar; der Eigenname als zentrales Kennzeichen der Person wird nach Belieben gewechselt. Land und Gebäude werden zu fiktivem Kapital, um das spekuliert wird (vgl. Harvey 2003: 134).45 Zweitens wird die Familie Béraud du Châtel als traditioneller Bestandteil der Bourgeoisie zum Gegenpol der »vie à outrance« im Second Empire. Die gedeckte Würde der Béraud und das flammende Spektakel des Kaiserreichs könnten gegensätzlicher nicht dargestellt werden (vgl. 5.2.3.3). Drittens – dies ist besonders von Gewicht – erhält der Leser durch die integrierte Perspektivierung (»elle se revit«) Einblicke in Renées emotionalen Zustand. Sie ist melancholisch gestimmt. Sie erkennt, dass sie dem Glanz der Zeit erlegen ist und daran zu zerbrechen droht (»un pressentiment rapide«). Renée sucht nach einem Ausweg aus dieser Situation und besinnt sich auf die Werte ihres Elternhauses und der Jugend. Deren nostalgisches Potential (»jours heureux«) bindet sich an das utopische Gefühl der Flucht gegenüber den von Renée als dystopisch empfundenen raumzeitlichen Veränderungen. In dem Moment des Innehaltens wird der Ausstellungsraum entortet und dessen Transparenz durch die dunklen Räume des alten Paris sowie die verborgenen Sehnsüchte Renées unterlaufen – sie bleibt »la moins analysable des femmes« (C: 421). Die Szene im Privatzimmer kann als Verweis auf jene opaken Räume betrachtet werden, in denen die Subversion von Ordnung weiter vorangetrieben wird. Paradoxerweise sind diese nicht-alltäglichen Orte aber auch jene Orte, an denen Renée ihre Identität erkundet und Erkenntnis erlangt.46
5.2.2
Orte des Nicht-Alltäglichen – das Fremde im Vertrauten
Die Orte des Nicht-Alltäglichen lassen durch ihre Andersartigkeit die Alltäglichkeit des sozialen Raums der Exposition überhaupt erst hervortreten. Obwohl sie räum45
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David Harvey analysiert den Prozess des fließenden Kapitals und der gebauten Umwelt in seinem Buch Paris, Capital of Modernity (2003: 133ff.) und bezieht sich dabei auf Zolas L’Argent (1891). Zola schickt Saccard in diesem Werk an die Börse, wo dieser die spekulativen Geschäfte noch durchtriebener als in La Curée führt. Von einer Entwicklung Renées geht auch Yves Chevrel (1987) aus, er fasst sie als »éducation sentimentale et sensuelle« (1987: 87). Es ist Clayton Alcorn zuzustimmen, wenn er einen Unterschied zwischen der im Dossier entworfenen Figur und der Figur im Roman bemerkt. Sei Renée in den Entwürfen sehr oberflächlich, erhalte sie im Roman psychologische Tiefe (vgl. Alcorn 1977: 59ff.).
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lich in diesen eingelassen sind, grenzen sie sich in der Wahrnehmung Renées von diesem ab. Die Kutsche funktionierte als mobiler Raum des Dazwischen, in dem die Berührung eine erste Form der Resistenz gegen die gesellschaftliche Ordnung ankündigte. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Alltag stößt Renée auf Orte der Gegenwart und der Vergangenheit. In ihnen entlädt sich das utopische Potential, das im Ereignis der affektiven Beziehung zur Umwelt im Moment der Selbstreflexion in der Kutsche zu Beginn des ersten Kapitels angelegt wurde.
5.2.2.1
Das Gewächshaus – L’ailleurs
Das Gewächshaus erfüllt auf den ersten Blick die Kriterien der Raumideologie des Second Empire. Es gehörte zu den architektonischen Neuerungen der Zeit, welche durch den Einsatz neuer Baumaterialien angeregt werden konnten und schnell Einzug in die Häuser der Neureichen erhielten. Als Ausstellungsraum in Miniaturform beherbergte das Glashaus exotische Pflanzen aus den Kolonien. Es übernahm daher zwei Funktionen: Es exponierte erstens die eroberten Schätze und den Reichtum der Besitzer und bot zweitens einen Ort der Freizeit und der Erholung in der kultivierten Natur der Großstadt (vgl. Bolton 2012: 24f.). Neben diesen pragmatischen Zielen wurde das Treibhaus jedoch mit einer subtilen Zusatzbedeutung versehen: Aufgrund der Assoziation mit unbekannten, fernen Ländern trug es die Bedeutung des Exotischen, »dans le sens où les motifs suggérés par les serres appartiennent à l’imaginaire collectif« (Campmas 2003: 49). In anderen Worten evozierte das Gewächshaus Bilder des gelebten Raums, die der Transparenz des Baus durch ihre semantische Dichte widersprachen. Zola macht sich die Bedeutungsebenen des Gewächshauses zunutze und inszeniert dieses am Ende des ersten und im vierten Kapitel als einen Raum der Intimität zwischen Renée und Maxime innerhalb der normierten Welt der Exposition. Sie befinden sich hier »à mille lieux de Paris« (C: 400). Während Renée im Verlauf des Empfangs immer wieder als dessen deiktisches Zentrum ausgestellt wird (»Renée, au milieu de la table«, C: 336; »Elle se remit à marcher doucement au milieu des groupes, souriant, saluant«, C: 352), verschiebt sich der Fokus dann zunächst auf Maximes Bewegung durch den Raum und sein Gespräch mit Louise, seiner späteren Ehefrau (»[Maxime] fit le tour du grand salon«, C: 353). Kurz darauf stellt sich durch die exponierte, rückblickende Wahrnehmung heraus, dass es Renée ist, die die beiden ansieht: »Et tous deux de rire, se croyant seuls, sans même apercevoir Renée, debout au milieu de la serre, à demi cachée, qui les regardait de loin« (C: 354). Das heimliche Beobachten ist ein erstes Zeichen der Intransparenz der serre und der Ereignisse darin. Warum sich Renée im Gewächshaus befindet und wie sie dorthin gekommen ist, wird ausgespart. Sie entzieht sich den Blicken der Gäste, was erneut das Rätselhafte des sie umgebenden Raums markiert.
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
Die Beobachtungen dieser Pflanzenwelt waren in verkürzter Form im Notizbuch enthalten. Sie werden jetzt an den Erzähler übergeben und haben an dieser Stelle der Handlung eine besondere Funktion. Der Standort Renées wird verlassen, um die diversen Bereiche des Gewächshauses aperspektivisch zu untersuchen: »Autour d’elle, la serre chaude, pareille à une nef d’église, […] étalait ses végétations grasses, ses nappes de feuilles puissantes, ses fusées épanouis de verdure« (C: 354). Der Erzähler muss räumlich im Treibhaus verortet sein und lädt den Leser auf die Reise durch die Flora ein. Das Abschreiten folgt der Anlage des Baus: »Au milieu, […], au ras du col« (C: 354); »Et, au-delà de la grande allée circulaire, quatre énormes massifs allaient d’un élan vigoureux jusqu’au cintre« (C: 354); »Derrière les massifs, une seconde allée« (C: 355) etc. Die Eckdaten des Raums werden durch die Kategorisierung der Pflanzen erweitert. Diese folgt dem immer gleichen Muster: Zuerst wird der Name der Pflanze, dann werden deren Charakteristika genannt: Et, sous les arceaux, entre les massifs, […], s’étalaient des Orchidées, les plantes bizarres du plein ciel […]. Il y avait les Sabots de Vénus, dont la fleur ressemble à une pantoufle merveilleuse, garnie au talon d’ailes de libellules; les Aeridès, si tendrement parfumées; les Stanhopéa, aux fleurs pâles, tigrées, qui soufflent au loin, comme des gorges amères de convalescent, une haleine âcre et forte. Mais ce qui, de tous les détours des allées, frappait les regards, c’était un grand Hibiscus de la Chine, dont l’immense nappe de verdure et de fleurs couvrait tout le flanc de l’hôtel, auquel la serre était scellée. Les larges fleurs pourpres de cette mauve gigantesque, sans cesse renaissantes, ne vivent que quelques heures. On eût dit des bouches sensuelles de femmes qui s’ouvraient, les lèvres rouges, molles et humides, de quelque Messaline géante, que des baisers meurtrissaient, et qui toujours renaissaient avec leur sourire avide et saignant (C: 355f.). Die Nomenklatur der Pflanzen ist tiefgründiger, als es zuerst den Anschein macht. Sie ist ein wichtiges Mittel zur Erzeugung des Eindrucks der Undurchsichtigkeit. Botanische Artnamen (»Aeridès«, »Stanhopéa«) stehen neben Namen, die aus dem Lateinischen ins Französische entlehnt wurden (»Orchidée« statt Orchidaceae) und die Herkunft der Pflanze markieren (»Hibiscus de la Chine«). Die Sachkunde des Erzählers trägt zum einen dem Postulat der Wissenschaftlichkeit des Naturalismus Rechnung; sie zeigt zum anderen die Beherrschung oder »›européanisation‹« (Campmas 2012: 68) der exotischen Natur an; zum anderen aber schafft laut Aude Campmas die hybride Verwendung wissenschaftlicher und profaner Namen für einen unkundigen Leser »de l’indéchiffrable« (ebd.: 69).47 Zola versucht daher, die
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Aude Campmas zeigt, inwiefern sich Zola durch die Einführung der Botanik in La Curée der in der Zeit beliebten Gartenkunde verpflichtet. Sie führt das Wissen, welches in den Beschreibungen enthalten ist, im Vergleichsverfahren weniger auf wissenschaftliche Monographien, denn auf allgemeine Sachbücher zurück (vgl. Campmas 2003: 50f.).
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Opposition von Transparenz und Rätselhaftigkeit auch sprachlich zu inszenieren. Er spannt die Beschreibungen zwischen zwei Modi auf, die, wie in Kapitel 4.1.2.1 dargelegt, für das naturalistische Schreiben zentral sind: Auf der einen Seite bedient er sich der Idee der referentiellen Funktion einer vermeintlich transparenten Sprache; auf der anderen Seite manifestiert sich in der hybriden Nomenklatur, dem Einsatz der diffusen Sinneswahrnehmungen und dem Fehlen einer Handlungsführung im traditionellen Sinn die Tendenz moderner Literatur, die Möglichkeit sprachlicher Übersetzbarkeit der Realität zu problematisieren.48 Noch effektiver als die sprachliche Diversität ist allerdings der Gebrauch sinnlicher Wahrnehmung, um das Mythische des Treibhauses hervortreten zu lassen. Entscheidend ist, dass der bislang dominante Sehsinn an zahlreichen Stellen ausgeblendet wird. Der Einsatz des Tastsinns erinnert an die Berührung in der ersten Szene: »Là, sur des gradins, cachant à demi les tuyaux de chauffage, fleurissaient les Maranta, douces au toucher comme du velours« (C: 355). Das Aussehen der Marante interessiert nicht, wichtiger ist ihre Textur (vgl. Campmas 2012: 69). Genauso wird im Laufe der Szene mehrfach die Temperatur im Gewächshaus registriert. Die Hitze der »serre chaude« (C: 354) hüllt Renée ein, die Seerosen öffnen sich »dans la tiédeur de la nappe dormante doucement chauffée« (C: 354). Die facettenreichen Gerüche der Pflanzen wiederum – zarte und herbe Gerüche werden bemerkt – kreieren ein heterogenes Wahrnehmungsangebot, das die Sinne der Anwesenden herausfordert. Zusammen mit der Üppigkeit der Pflanzen (»végétation grasses, nappes de feuilles puissantes«, C: 354; »dessert gigantesque«, C: 355) entsteht durch den Geruchs- und Tastsinn eine alles einnehmende Atmosphäre. Obwohl die Natur domestiziert wird, fällt diese sinnbildlich über das Gewächshaus her. Anders als die theatrale Ausstellung der Natur im Bois de Boulogne handelt es sich hier um eine Pflanzenwelt, die ihrem natürlichen Nährboden entzogen wurde. Das Wachstum in der serre ist nur begrenzt kontrollierbar, was der Erzähler in Zeichen des
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Da kein wirkliches Ereignis stattfindet, fällt umso mehr Gewicht auf die Zeichnung des Affektiven. Für Rainer Warning kompensiert Zola die sujetlose Szene mit dem Entwurf des heterotopen Raums des Gewächshauses. Er definiert die Heterotopie in der Literatur unter anderem mit Rückgriff auf Foucault und Heidegger. Er sieht sie als Mittel der Repräsentation, des Bestreitens und der Inversion normaler Topien (vgl. Warning 2015: 181). Sie zeige sich in der Literatur in Form der ästhetischen Erfahrung bzw. eines Ereignisses, das nicht handelnd, sondern affektiv erfahren wird und sich von der Prämisse mimetischer Repräsentation löst (vgl. Warning 2009: 21ff.). Die Bilder, die entstehen, sind Bilder einer »wilden Sprachlichkeit« (ebd.: 162): »Nie bleibt es beim reinen transparenten Denotat. Das Denotat hat nur noch Trägerfunktion für Assoziationen, Konnotationen, Metonymien, Metaphern, Katachresen, nicht selten für alle diese Formen semantischer Opazität zugleich« (ebd.). Diese Sprache sei Zeichen der wilden Ontologie Zolas, die auf einer ins Todesphantasma gesteigerten Transgression von Normativität basiere (vgl. ebd.: 240).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
Enigmatischen wie der »vie mystérieuse« (C: 354), den »broussailles étranges« (C: 354), den »plantes bizarres« (C: 355) oder den »étranges rayons« (C: 356) ausdrückt. Die aus den Kolonien importierte Natur bleibt befremdlich und wird niemals vollkommen unterworfen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, indem der Erzähler die Abgeschiedenheit des Gewächshauses anklingen lässt. Das Pflanzengeäst und der Mangel an Licht erzeugen verborgene Ecken: »[D]es antres de verdures, des berceaux profonds, que recouvraient d’épais rideaux de lianes« (C: 355); »les berceaux […] se noyaient dans les ténèbres, ainsi que des nids de reptiles endormis« (C: 356). Der vordergründig allwissende Erzähler kommt nicht umhin, auf Vergleiche und Metaphern auszuweichen, um das Wesen dieser Natur einzufangen.49 Der Vergleich der Blüten des Hibiskus mit den sinnlichen Lippen einer Frau ist ein Beispiel für die erotisierte Verlebendigung der Flora und eine Anspielung auf das Klischee der animalischen Barbarei und Rückständigkeit indigener Völker. Dass dieses immer auch ein Moment der Bedrohung enthält, scheint in Vergleichen der Formen und Pflanzen mit Waffen, Krankheit und Monstrosität durch (»minces comme des épées, épineuses et dentelées comme des poignards malais«; »feuilles lépreuses«, C: 354; »des formes vagues […], pareilles à des ébauches de monstres«, C: 354). Die Referenz auf Messalina im längeren Zitat sowie die Statue der Sphinx fügen sich in diese Semantik ein. Das Bild der intriganten, grausamen Königsfrau und des rätselhaften Mischwesens stärken neben der imperialen Konnotation der Flora die mythologische Ebene der Beschreibung.50 Die Statue steht symbolisch für den Raum des Gewächshauses, welches die Form einer Hölle annimmt: »[C’]était comme l’Idole sombre, aux cuisses luisantes, de cette terre de feu« (C: 356; vgl. auch die »flammes de la serre« und das »mer de feu«, C: 357). Das anfangs weder gänzlich positive noch gänzlich negative Begehren Renées verkehrt sich in ein unheilvolles Laster: Et sous la lumière vive, Renée songeait, en regardant de loin Louise et Maxime. Ce n’était plus la rêverie flottante, la grise tentation du crépuscule, dans les allées fraîches du Bois. Ses pensées n’étaient plus bercées et endormies par le trot de ses chevaux, le long des gazons mondains, […]. Maintenant un désir net, aigu, l’emplissait (C: 356f.).
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Dass sich die Darstellung des Gewächshauses auch sprachlich vom restlichen Text absetzt, hat Sandy Petrey (1974) gezeigt. Allein in den Szenen in der serre würden die Anspielungen auf klassische oder mythische Quellen nicht mit einem ironischen Ton versehen. Auch fehle hier der sonst übliche Einsatz von Oxymora (vgl. Petrey 1974: 638f.). Dem stimmt Tullio Pagano zu und hebt zudem die dominante Position Renées im Treibhaus hervor (vgl. Pagano 1995: 170f.). Auf die »confusion entre réalité et mythe« in La Curée geht unter anderem Jean de Palacio (1987: 174) ein.
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Die bislang vom Erzähler registrierten Sinneswahrnehmungen verdichten sich jetzt in der Wahrnehmung Renées. Das Begehren, das sie seit einiger Zeit verspürt, trifft in dem bizarren, fast geisterhaften Raum auf eine zerstörerische Natur. Erst jetzt wird Renée ihrer Umgebung gewahr, die ungehindert auf sie eindringt: La jeune femme était prise dans ces noces puissantes de la terre; […] la masse d’eau chaude […] mettait à ses épaules un manteau de vapeurs lourdes, une bouée qui lui chauffait la peau, comme l’attouchement d’une main moite de volupté. Sur sa tête, elle sentait le jet des Palmiers […]. [C’]était surtout les odeurs qui la brisaient. Un parfum indéfinissable, fort, excitant, traînait, fait de mille parfums: sueurs humaines, haleines de femmes, senteurs de chevelures. […] Mais, dans cette musique étrange des odeurs, la phrase mélodique qui revenait toujours, dominant, étouffant les tendresses de la Vanille […], c’était l’odeur humaine, pénétrante, sensuelle, cette odeur d’amour qui s’échappe le matin de la chambre close de deux jeunes époux (C: 357). Im Gegensatz zur kontrollierten, visuellen Beschreibung Saccards auf dem öffentlichen Hügel erhält der im Geheimen zelebrierte Gefühlszustand Renées durch die sogenannten niederen Sinne eine gefährliche Note. Obwohl eine Atmosphäre des Unbändigen sprachlich bereits impliziert wurde, wird die wirkliche Gefahr erst in der Wahrnehmung Renées thematisiert. Sie ist den Erscheinungen im Treibhaus ausgeliefert, was zuerst taktil in der Wärme der Haut und im Vergleich des schweren Dunsts mit der Berührung einer erregten Hand ausformuliert wird. Doch erst die Gerüche überwältigen sie vollends. Dies ist nicht der Duft der Pflanzen, die der Erzähler notiert hatte. In Abgrenzung hierzu detektiert Renée den Geruch menschlicher Lust in seiner Unergründlichkeit (»un parfum indéfinissable, fort, excitant«). So fällt die Berührung, die in der Kutsche stattfand, im Gewächshaus auf einen fatalen Nährboden. Sie potenziert sich in den sexuell konnotierten Gerüchen, die in der sprachlichen Form der Synästhesie (»musique étrange des odeurs«) noch unergründlicher wirken. Renée verharrt in dem Zustand des abgerückten Nachsinnens. Sie bleibt weiterhin durch die olfaktorische und taktile Wahrnehmung mit dem materiellen Raum verbunden, doch überwiegt für die Figur der Anteil des imaginierten Anderswo (»le rêve de Renée«, »Renée, l’esprit perdu«, C: 357). Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Alltag gelangt Renée scheinbar zufällig in einen Raum des Nicht-Alltäglichen, der das durch den Ennui eröffnete, positive Potential zur Veränderung zu ersticken droht. Denn: Elle ne songeait plus aux fraîcheurs de la nuit qui l’avaient calmée, à ces ombres murmurantes du parc, dont les voix lui avaient conseillé la paix heureuse. Ses sens de femme ardente, ses caprices de femme blasée s’éveillaient (C: 357).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
Renée wird in einen nervlichen Zustand versetzt, den Simmel später als Folge der Reizüberflutung in der Großstadt als einen Zustand der Blasiertheit erkennen soll. Das Eintauchen in die Welt der serre rückt das »autre chose« in eine verhängnisvolle Richtung. Erst durch die einnehmende Atmosphäre (»sous la clarté crue, au milieu de ce jardin de feu«, C: 358) und eine Art Trancezustand sieht Renée nun in Maxime die Antwort auf ihr Verlangen, wobei es dem Leser überlassen bleibt, diesen Schluss zu ziehen. Die Lust nimmt kriminelle Züge an (»une jouissance inconnue, chaude de crime«, C: 358) und findet am Ende der Szene eine adäquate Materialisierung in Form der Giftpflanze, dem Tanghin aus Madagaskar. In Sachbüchern der Zeit wurde die Pflanze als Zeichen der Grausamkeit der Madegassen verurteilt. Angeklagte mussten in Strafprozessen das Gift einnehmen – überlebten sie, wurde die Unschuld ausgesprochen, der Tod stellte ihre Schuld fest (vgl. Campmas 2012: 70). Renée, die in den Augen des Erzählers selbst ein Teil des Gewächshauses wird (»[E]lle ressemblait à une grande fleur, rose et verte, à un des Nymphéa du bassin«, C: 357), beißt in ein Blatt der Pflanze, was einer symbolischen Kontamination mit dem Wahn der Moderne oder aber dem irrationalen Strafprozess gleicht (vgl. zum Beispiel: »Des statues […] blanchissaient au fond des massifs, avec des taches d’ombres qui tordaient leurs rires fous«, C: 356). Ihr Überleben erklärt sie für unschuldig. Sie wird zum Opfer alter Riten, die sich im bitteren Geschmack des Gifts konkretisieren (»une des feuilles amères«; espace perçu1 ∼ vécu1 ). Hierin kulminiert die mythische Seite des Treibhauses, die sich im Laufe der Szene bereits in verschiedenen Varianten des Enigmatischen ausdekliniert hatte. Die Darstellung des Gewächshauses lebt insgesamt von diesem Spiel mit den Raumebenen, die sich stärker dem Rätselhaften als der Logik der Transparenz verpflichten. Auch wenn die konzeptuelle Anlage des Baus als Orientierungspunkt dient (espace conçu1 ), nimmt die Engführung von gelebtem und wahrgenommenem Raum einen größeren Stellenwert ein (espace perçu1 /vécu1 > espace conçu1 ). Die konkrete Gestalt des Raums entwickelt sich in Abhängigkeit von der vom Erzähler eingeführten mythischen Dimension. Diese Hybridität von konkretem und abstraktem Raum entkräftet die Raumideologie der Transparenz und führt uns in Richtung der Transgression bürgerlicher Norm.
5.2.2.2
Suspekte Orte der Großstadt: Boulevard und Café Riche
Das Privatzimmer im Café Riche ist einer der »mauvais lieux de Paris« (C: 442), die Renée aufsucht, um dem Ennui zu entkommen und in denen sie sich nach und nach ihrer selbst gewahr wird. Doch bekommt primär der Boulevard – moderner Chronotopos im Sinne Bachtins – eine dynamisierende und dramatisierende Funktion (vgl. Warning 2009: 150). Das Treiben auf dem Boulevard des Italiens untermalt die Schlüsselszene im Café Riche. Renées Wahrnehmungen des Geschehens auf der Straße finden während der Kutschfahrt, zu Beginn der Szene im Café,
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während des Essens und nach dem Liebesakt statt und leiten die Transformation der Protagonistin ein (vgl. Leduc-Adine 1987: 197). Fast voyeuristisch verfolgt Renée während der Fahrt zum Restaurant die nächtliche Szene auf dem Boulevard: »Renée, la tête à la portière, resta silencieuse, regardant la foule, les cafés, les restaurants […]. [E]lle aperçut des ombres de femmes sur la blancheur des rideaux« (C: 446). Sie projiziert dabei ihr Verlangen auf das dynamische Schauspiel, das sich wiederum auf sie überträgt: »[C]ette asphalte grise où lui semblait passer le galop des plaisirs et des amours faciles, réveillaient ses désirs endormis« (C: 446). Keine Erzählerstimme mischt sich in die exponierte Wahrnehmung; scheinbar ungefiltert erlebt der Leser die Erkundung der neuen Pariser Landschaft mit. Diese ist für Renée fremd genug, um eine Beschreibung zu legitimieren und doch vertraut genug, um sich den Reizen nicht zu verschließen (»des familiarités particulières«, C: 446). Im deutlichen Kontrast zur ersten Szene des Romans, in der Renée den Park bzw. die einstudierte Choreographie der Kutschen resigniert betrachtete, sucht sie jetzt den direkten Kontakt zur Straße: Ce trottoir qu’elle sentait sous ses pieds lui chauffait les talons, lui donnait, à fleur de peau, un délicieux frisson de peur et de caprice contenté. Depuis que le fiacre roulait, elle avait une envie folle d’y sauter (C: 447). Die Handlung geht von dem öffentlichen Raum über in das semi-private Zimmer des Café Riche. Als Teil öffentlich zugänglicher Cafés funktionierte es sowohl als Rückzugsort für gesellige Zusammenkünfte als auch als Ort geheimer Liaisons (vgl. Ponnier-Bonnin 2000: 175ff.). Diese etwas anrüchige Note hing dem Raum unabhängig vom Zweck der Treffen an.51 Akzeptierte eine Frau die Einladung zu einem Treffen mit einem Mann, implizierte dies in der Regel die Zustimmung zur amourösen Intimität (vgl. ebd.: 176). Zahlreiche Beobachtungen Renées verweisen auf den wahren Charakter des Raums. Beim Eintritt in das Zimmer heißt es: »Le gaz était baissé, il sembla à Renée qu’elle pénétrait dans le demi-jour d’un lieu suspect et charmant« (C: 447). Sie durchschreitet den Raum und bemerkt eine vulgäre Kritzelei auf dem Spiegel,
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Joëlle Ponnier-Bonnin analysiert die Bedeutung der hospitalité in Maupassants Bel-Ami und Zolas Pot-Bouille und macht darauf aufmerksam, dass der Erzähler im Realismus und Naturalismus meist einen ironischen und moralisierenden Unterton anschlägt, um mithilfe des Treffens im Privatzimmer das Fehlschlagen der Etikette der Gastfreundschaft und die lüsterne Seite des Orts bzw. der Gesellschaft anzuprangern. Sie veranschaulicht die erotischen Anspielungen mithilfe der Szene in La Curée, Guy de Maupassants Novelle Imprudence und Céards Une belle journée. Die zweifelhafte Beschaffenheit des Zimmers zeigt auch die Szene in Nana, in der die gleichnamige Protagonistin das gemeinsame Abendessen zuhause im Salon und nicht im Café stattfinden lassen will, da dies sich nicht schicke (vgl. Ponnier-Bonnin 2000: 181f.).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
»une saleté« (C: 448); später liest sie auf der Oberfläche Liebesschwüre. Der Divan, »meuble ambigu, métonyme aussi bien du salon que de la chambre à coucher« (Ponnier-Bonnin 2000: 176), lässt sie einen »nouvel embarras« verspüren (C: 448). Renée wirkt an dem ihr unbekannten Ort befremdlich auf Maxime: »En voilà une que je ne connais pas encore« (C: 448). Maxime verhält sich dem informellen Code des Raums entsprechend: »[D]epuis qu’il était entré dans le cabinet, il la traitait instinctivement en femme à laquelle il faut plaire« (C: 449). Während die Signale der Passion im Gewächshaus durch den Erzähler vorwiegend explizit, das heißt durch klare Vergleiche gestreut wurden, liegen diese nun indirekt in den Wahrnehmungen Renées und Maximes begründet. Wie schon beim Anblick Maximes und Louises im Gewächshaus erlangt Renée nun wirkliche Erkenntnis. Der Spiegel nämlich reflektiert nicht mehr nur Oberflächlichkeiten, sondern gibt ihr Wahrheiten preis (vgl. Harrow 1997: 161f.). Der Leser des Texts muss durch sein kulturelles Wissen die Andeutungen verstehen und die Konnotation des Rollentauschs und des Begehrens inferieren (»implizite Theorie des intraliterarischen Raums«). Im rituellen Ablauf des Abends spitzt sich die Rolle Renées als Maitresse zu. Der Fortgang des Essens strukturiert die Handlung zeitlich. Der Eindruck der Völlerei stimmt mit der zunehmenden Spannung zwischen den Figuren überein. Dieses stetige Crescendo der Szene wird mit dem Treiben auf dem Boulevard vor dem Café gleichgeschaltet, das erneut von Renée wahrgenommen wird. Der Übergang in den Außenraum ist in der ersten Beschreibung fließend und wird mithilfe der Wahrnehmung auditiver Reize realisiert. Die Geräusche des Geschirrs leiten über in die Geräuschkulisse auf der Straße, die bereits zuvor den Klangteppich des têteà-tête gestaltete: »Un roulement continu entrait par la fenêtre grande ouverte (C: 447)«; »En bas, […], Paris grondait, prolongeait la journée ardente, avant de se décider à gagner son lit« (C: 449). Bei allen drei Beschreibungen ist die wahrnehmende Instanz eindeutig Renée, deren Gang zum Fenster von Neugier oder Ermüdung motiviert ist. Die erhöhte Position erlaubt es ihr, die Umgebung weitreichend zu erfassen: »[E]lle alla s’accouder à la rampe de la fenêtre (C: 449). Ihre innere Unruhe spiegelt sich in der Geschäftigkeit der Straße wider, die durch die Einrichtung des elektrischen Lichts künstlich verlängert wurde: Et le défilé repassait sans fin, avec une régularité fatigante, monde étrangement mêlé et toujours le même, au milieu des couleurs vives, des trous de ténèbres, dans le tohu-bohu féerique de ces mille flammes dansantes, sortant comme un flot des boutiques, colorant les transparents des croisées et des kiosques, courant sur les façades en baguettes, en lettres, en dessins de feu, piquant l’ombre d’étoiles, filant sur la chaussée, continuellement. Le bruit assourdissant qui montait avait une clameur, un ronflement prolongé, monotone, comme une note d’orgue accompagnant l’éternelle procession de petites poupées mécaniques (C: 450).
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Menschenmasse und Reklame werden an dieser Stelle als Marker des modernen Paris eingesetzt.52 Wie Jean-Pierre Leduc-Adine richtig feststellt, gelingt es Zola, diesen »nouvel espace de représentation« mit einer »nouvelle représentation de l’espace« (1987: 199, Hervorh. i.O.) in Einklang zu bringen. Und dies, obwohl er traditionelle Muster der Beschreibung einsetzt. Die Schilderungen orientieren sich an horizontalen und vertikalen Blickachsen, Distanzen werden evoziert (»sous la fenêtre«; »dans les lointains«, C: 450; »une longue file de carrés«, C: 453; »en bas«, »elle leva la tête«, C: 457; vgl. Leduc-Adine 1987: 206). Doch wie schon in der Darstellung des Parks verwendet Zola die écriture artiste, um die Kontingenz und Schnelllebigkeit der Eindrücke wiederzugeben. Die Wahrnehmung Renées ist detailliert, fragmentarisch und rastlos (»les faces blêmes, et les rires pâles«, C: 450).53 Die geordnete Sicht wird eingeschränkt, Formen zerfließen (»ligne confuse«; »bande obscure«; »les branches hautes des arbres les gênaient un peu«, C: 449; »elle ne voyait plus que les taches symétriques des kiosques«; »la ligne irrégulière«, C: 457). Statt eines vollständigen Bildes der Straße entsteht eine Idee der Reizüberflutung. In den Prozess der Wahrnehmung mischen sich daher nur an einzelnen Stellen die Realität übersteigende Erzählelemente (vgl. Leduc-Adine 1987: 200). Das Hauptaugenmerk liegt inhaltlich und diskurstheoretisch auf dem wahrgenommenen Raum, dem espace perçu1 . Diese fragmentarischen Bilder der Großstadt halten Renée ihre Orientierungslosigkeit in der Moderne vor Augen, die überreizte Stimmung auf der Straße antizipiert Renées Schicksal in Paris.
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Anders als die hohe Gesellschaft des Parks ist der Boulevard durch eine heterogene Menschenmenge gekennzeichnet (»monde étrangement mêlé«). Dennoch bleibt der Strom der Passanten, verglichen mit mechanisch betriebenen Puppen und Marionetten, ähnlich monoton wie die Kutschfahrt der Reichen (»régularité fatiguante«, »ronflement monotone«). Die Beobachtung des Geschehens am Omnibusstandplatz ahnt dabei gewissermaßen Sartres Begriff der Serialität voraus. Die wartenden Individuen eint nichts außer dem externen Element, dem Omnibus; sie kommunizieren nicht miteinander, geschweige denn, dass sie ein gemeinsames Ziel verfolgten (»il y avait beaucoup de monde sur le trottoir, debout, attendant, se précipitant dès qu’une voiture arrivait«, C: 450). Besonders prägnant ist in diesem Kontext das Bild der Prostituierten, die in Renées Wahrnehmung hervorsticht: »Renée en remarqua particulièrement une, seule à une table, […] d’un air d’attente lourde et résignée« (C: 450). Ihre einsame Beobachtung der Menge und ihr Warencharakter spiegeln das ortlose und ausgebeutete Dasein Renées wider. Das Auflösen klarer Perspektiven vermerkt Brian Nelson grundsätzlich als Merkmal des literarischen Impressionismus in Zolas Texten: »Effects of decomposition and dissolution correspond to the fact that impressionist descriptions become a series of fused images, a homogeneous blur, in which the general impression eclipses particular detail. The volatility of the phenomenal scene in Zola, made up of fragmented and mingled sense-perceptions, creates a sense of swarming multiplicity. The frequent use of abstract nouns renders the images even less concrete« (Nelson 1977: 23).
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
Boulevard und Protagonistin stehen demnach in einem relationalen Verhältnis, die Grenze zwischen öffentlichem Boulevard und dem Privatzimmer wird im Übergang zwischen zweiter und dritter Beobachtung fließend. Je stärker Renée in einen Zustand der Ekstase gerät, desto gedämpfter wird das Treiben draußen. Erzähltechnisch bedeutet dies, dass Wahrnehmungsbereich und Schauplatz im Bewusstsein Renées zusammenfallen: »Elle rapportait de la fenêtre un peu du vacarme et de l’animation du boulevard« (C: 451). Kurz darauf lautet es: »Le bruit diminuait sur le boulevard; mais elle l’entendait au contraire qui grandissait, et toutes ces roues, par instants, semblaient lui tourner dans la tête« (C: 453). Die Bewegung auf dem Boulevard löst einen entropischen Prozess aus, der auf einem Energieausgleich beruht. Es scheint, als würde die energetische Atmosphäre durch die semipermeable Wand des Cafés in den Innenraum eindringen und sich hier entladen bzw. Einfluss auf die Charaktere nehmen (vgl. Best 1989: 112). Der Bewegung des Crescendo entspricht das Diminuendo auf dem Boulevard: »[S]ur les côtés, le long des trottoirs, de grands trous d’ombre s’étaient creusés, devant les boutiques fermées. […] Il n’y avait plus de lumière épandue« (C: 453f.). Eine »ivresse«, ein »appel caressant à la volupté et au sommeil« (C: 454) überträgt sich auf Renée. Das Privatzimmer verwandelt sich in einen Raum des Exzessiven, während der Außenraum einem »corridor de quelque grande auberge« (C: 454) gleicht.54 Der Liebesakt ist der Höhepunkt der Szene. Mit dem Vordringen Renées in den Raum der anormalen Lust findet eine Transgression der bürgerlichen Norm statt. Die finale Beschreibung der Straße pendelt sich in einem Zustand der Balance zwischen innen und außen, Spannung und Entspannung ein. Das Verlangen versiegt und weicht einem Gefühl der Trauer, ebenso hinterlässt die leere Straße nur noch geisterhafte Spuren der Frivolität: »L’orchestre était morte; la faute s’était commise dans le dernier frisson des basses. […] Toutes ces roues grondantes de fiacres semblaient s’en être allées, en emportant les clartés et la foule« (C: 457). Die Stadt wird zur Mitwisserin des Inzests (»ville complice«, C: 458) und Renée endgültig zur tugendlosen Frau. Sie selbst spricht davon, eine »faute« begangen zu haben (C: 458). Dies erklärt, warum die registrierten Außenreize sprachlich um eine emotional-moralische Ebene erweitert werden (vgl. Leduc-Adine 1987: 204f.). Während also zu Beginn der Szene Renées Blick auf die Straße noch von einer unschuldigen Neugier gelenkt war, binden sich in der Wahrnehmung Renées zuletzt moralische Wertvorstellungen an den physischen Raum. 54
Solche Kontrastierungen in La Curée untersuchen unter anderem Anne Belgrand (1987) und Bernard Joly (1977). Neben gegensätzlichen Farbgebungen oder der Anlage offener und geschlossener Räume findet Belgrand die Technik auch in den Charakterzügen der Figuren wieder. Renée vereint Belgrand zufolge die meisten Widersprüchlichkeiten (vgl. Belgrand 1987: 34). Joly analysiert die Bedeutung von Hitze und Kälte für die Gegenüberstellung von Räumen, darunter zum Beispiel das Anwesen der Saccard (Hitze) und das der Familie Béraud (Kälte) (vgl. Joly 1977: 70ff.).
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5.2.2.3
Von der Utopie zur Dystopie – die illusionäre Transgression von Ordnung
Renée zehrt von der Erfahrung des Nicht-Alltäglichen. Café Riche und Gewächshaus sind Räume der Grenzerfahrung, in denen sie eine andere Identität lebt und sich der Logik der Exposition im Raum der männlich konnotierten Macht zu entziehen glaubt. Der Rollenwechsel hat jedoch nur solange ein utopisches Potential, bis die Logik des kapitalistischen Systems zutage tritt, Renée Klarheit über ihre Situation erlangt und erkennt, dass die Transgression von Ordnung lediglich eine Illusion ist. Dann schlägt die Utopie um in ein dystopisches Untergangsszenario. Wichtig ist dabei dennoch, dass Renées Schicksal als Vergrößerungsglas für die Instabilität und die potentiellen Risiken der Spekulationspolitik gelten kann. Renées Beziehung zu Maxime hat zu Beginn des fünften Kapitels einen befreienden Charakter. »Cet hiver fut pour Renée une longue joie […]. [Elle] ne s’était pas cloîtrée« (C: 493, 494), heißt es dort. Renée genießt die neu gewonnene Autonomie (»Cette liberté entière, cette impunité les enhardissaient encore«, C: 494), sei es in den Räumen des Anwesens (»elle promena son amour […] dans l’hôtel entier«, C: 494) oder an öffentlichen Orten der Stadt (»Une de leurs grandes parties fut de patiner […] au Bois de Boulogne«, C: 495). Paris wird zum Ankerpunkt der Affäre. Wie schon in der Szene des Café Riche findet der Zustand der Erregung der Figuren im Tumult der Stadt sein Pendant. Die Vertrautheit der Figuren mit der Umgebung ist dergestalt, dass sie die Boulevards mit offenen Privaträumen assoziieren, die ihnen unterstehen: »[I]l leur semblait que la voiture roulait sur des tapis, le long de cette chaussée droite et sans fin […]. Chaque boulevard devenait un couleur de leur hôtel« (C: 497). Exponierte Perspektivierungen (»Pendant que le coupé filait, ils suivaient, d’un regard d’ami […]«, C: 496) verdeutlichen die intime Beziehung der Figuren zur Stadt. Das Auskosten der Liebe materialisiert sich auf den Straßen und ändert die Nutzung und Wahrnehmung der Stadt. Aus Resignation im ersten Kapitel wird Faszination. Wahrgenommener und gelebter Raum übersteigen somit die Funktionalität des Haussmann-Paris (espace perçu1 , vécu1 > espace conçu1 ). Die neu gewonnene Macht konzentriert sich jedoch auf die serre: »Ce coin de l’hôtel, il est vrai, leur appartenait« (C: 483). Nicht mehr der Erzähler erfasst die Pflanzenwelt; Maxime und Renée erobern das Gewächshaus: »[D]e victimes passives de la serre, ils se métamorphosent en classificateurs aguerris de leur milieu« (Campmas 2003: 52).55 Doch ist die Macht nicht paritätisch verteilt und kann nur 55
Die Herrschaft über Personen nehmen Maxime und Renée symbolisch in der Klassifikation der Frauen im Portraitalbum ein, welches zugleich als Katalog der Exposition des Second Empire gelten kann. Bedeutung erhält das Gewächshaus, wie Brenda Bolton feststellt, in erster Linie durch die Figuren: »It is they, who […] have activated it by projecting into it their own desires. What they are attributing to the vegetation is actually their own reflected carnal passions« (Bolton 2012: 32). Auch Luigia Zilli geht davon aus, dass die Orientierung im Gewächshaus verloren geht: »Après l’avoir ouvert sous l’aspect d’une maîtrise complète de la
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
über einen Geschlechterwechsel erlangt werden – Renée beherrscht Maxime in der Rolle des Mannes: »Par moments, [Maxime] n’était plus bien sûr de son sexe; la grande ride qui traversait le front, l’avancement boudeur de ses lèvres, son air indécis de myope, en faisaient un grand jeune homme« (C: 455). Dies ist deswegen entscheidend, weil hierin der Grund für die Illusion der Transgression von Ordnung zu sehen ist. Renée kann die ihr zugänglichen Räume nur mithilfe männlichen Verhaltens dominieren. Sie glaubt den Regeln des Alltags zu entkommen und die Logik des sozialen Raums zu durchbrechen, schält diese aber im Gegenteil noch genauer heraus.56 Indem Saccard den Inzest akzeptiert, zeigt sich, dass keine klaren Regeln mehr gelten, die invertiert werden könnten. Die Rollenwechsel zeigen keine Wirkung – im Gegenteil ist die Flexibilität des Systems gegenüber traditioneller Identitätsmarker wie Geschlecht, Name oder Traditionen eine Voraussetzung für dessen Funktionieren. Wie Roddey Reid feststellt: »The deterritorialization of desire and identity – their drift from normative boundaries and teleologies – matches the flow of exchange value in Saccard’s real-estate speculation« (Reid 1993: 244). Saccards Spekulationsgeschäft verpflichtet sich einzig und allein der Maxime der Profitzunahme und ist in der Lage Diversität zu homogenisieren. In dieser Anpassungsfähigkeit des Systems liegt allerdings auch ein Risikofaktor, da entfesselte Energien in einen tatsächlichen Kontrollverlust umschlagen können. Obwohl die Prozesse in der Stadt nach außen kontrolliert wirken, verlieren sie sich in bodenlosen Abgründen. So ensteht innerhalb des pragmatischen Kalküls ein Zustand äußerster Unruhe, der in der Natur der Liaison zwischen Renée und Maxime bzw. dem Abdriften Renées in einen zerstörerischen Zustand reflektiert und antizipiert wird.57 Nach der Rolle des Mannes nimmt sie im Gewächshaus die
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spatialité, le narrateur en a fait le lieu mythique d’une métamorphose qui bouleverse les classifcations de la raison et dont la signification empiète par-delà son horizon structural« (Zilli 1987: 20). Für Zilli resultiert dies aus der Unvereinbarkeit vitaler Kräfte und geschichtlicher Abläufe. Die mythische Ebene lasse sich nur schwer in die Logik der Geschichte einpflegen (vgl. ebd.). Ähnlich stellt Rainer Warning später fest, dass es Zola nicht gelingt, histoire sociale und histoire naturelle in Einklang zu bringen, um ein Ereignis im Sinne Lotmans zu initiieren: »Die naturhafte Zyklik von Leben und Tod gibt nicht jene teleologische Emphatisierung des Endes her, nach der die Verfallsgeschichte verlangt« (Warning 2009: 161). Aus diesem Grund weiche er in heterotope Räume aus, in denen sich die Katastrophe entfalten könne (vgl. ebd.). Genauso fußt die Einnahme der Position des sehenden Subjekts auf dem Voyeurismus des Mannes (vgl. Harrow 1997: 158). Renée begutachtet die Damen während des Balls bei Blanche Müller wie folgt: »Ils restèrent là un instant, […] la jeune femme demandant les noms de ces dames, les déshabillant du regard« (C: 445). Die sich einstellende Unbestimmtheit des Geschlechts korreliert nach Paola Paissa mit der »écriture androgyne« in La Curée. Sie äußere sich im Gegensatz von äußeren und inneren Räumen sowie Authentizität und Artifizialität. Der Ort, an dem sich diese Gegensätze besonders gegeneinander ausspielen, ist laut Paissa das Treibhaus (vgl. Paissa 2010: 148ff.). Zur Transgression von Geschlechtergrenzen siehe auch Milner (1992).
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Gestalt der Sphinx an, deren entfesselte Kräfte bedrohlich wirken: »Renée avait la pose et le sourire du monstre à tête de femme, et, dans ses jupons dénoués, elle semblait la sœur blanche de ce dieu noir« (C: 485). Die ausgeglichene, wenn auch aufgeladene Atmosphäre im Café Riche steigert sich im Treibhaus in eine überhitzte Stimmung. Sie löst die »dépravation des sens« (C: 488) aus, die Zola schon im Dossier angelegt hatte: »Maxime et Renée, les sens faussés, se sentaient emportés dans ces noces puissantes de la terre. Le sol, à travers la peau d’ours, leur brûlait le dos« (C: 487). Das Bärenfell taucht erneut auf und forciert symbolisch die Gefahr des überhitzten Treibhauses und der Weiblichkeit.58 Hieraus resultiert, dass sich der Sehsinn als verlässliches Messinstrument der Außenwelt der Intensität taktiler Reize beugen muss. Dieser Ausnahmezustand ist Zeichen der thermodynamischen Verschwendung von Energie, welche mit Renées kultureller Entartung korrespondiert. Zola schildert den Prozess der Degeneration mithilfe der Tiermetaphorik, das heißt Bildern des räumlichen Haushalts der Gesellschaft. Er versetzt Renée in einen Urzustand des Animalischen zurück, den sie körperlich nachempfindet (espace vécu1 ∼ espace perçu1 ). Sie befindet sich in einem regellosen Raum, in dem sie ständig davon bedroht ist, an ihrem Verlangen zu zerbrechen. Hieraus ist zu schließen, dass Zola die Verhältnisse im Treibhaus per mise en abyme mit der »vie à outrance« im Second Empire gleichschaltet. So beständig die Raumideologie des Spektakels auch scheint – die Praktiken der Raumbeherrschung bergen ein anarchistisches Moment. Dies ist dann der Fall, wenn der Staat (l’ordre lointain) seinen Einfluss auf wirtschaftliche Institutionen und den privaten Sektor (l’ordre proche) einbüßt. Noch ist der Moment der Deregulierung der Spekulation allerdings nicht erreicht. Noch steht die Ordnung männlicher Homosozialität (vgl. Reid 1993: 273). Das utopische Potential, das das Gefühl des Ennuis hatte, geht in dem Moment verloren, in dem Renée die männliche Gier nach Macht überkommt. Ihr gelingt es nicht, den Moment der äußersten Unruhe im Kaiserreich für sich zu nutzen und ihr deterritorialisiertes Verlangen in einer emanzipierten Ordnung zu reterritorialisieren. Saccard nimmt den letzten Rückzugsort, ihre Privaträume, ein, und die Gäste des Balls entblößen sie. Auch eine Rückkehr in die Vergangenheit, in das Elternhaus auf der Ile Saint-Louis, ist ausgeschlossen. Das Elternhaus gehört einer vergangenen Zeit an und verkümmert zu einem Erinnerungsort der Stadt. Es bleibt die Nostalgie für die patriarchale, integre Gesellschaft.59 Die Utopie wird 58
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Im Bild der Sphinx schlägt die Kontrolliertheit des Mannes um in die Gefahr, die von der Frau ausgeht. Sie wird zu einem Geschöpf, das kontrolliert werden muss. Zola veranschaulicht mit der Figur den in der Literatur verbreiteten Mythos von Paris, zugleich weibliche Reize und männliche Rationalität zu besitzen (vgl. Parkhust-Ferguson 1993: 79). Je entfernter die Figuren von familiärer Regelhaftigkeit handeln, desto vehementer tritt dieses Bedürfnis zutage. Retrospektive wird Herr Béraud du Châtel dann auch zu einem »garant de la morale […], intègre, sévère, mais juste« (Rabaté 1989: 119). Hierzu Reid: »La Curée unfolds
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
zur Dystopie. Hatte Renée dies im Café Riche bereits geahnt, wird ihr die Fatalität ihrer Situation im Laufe des Romans immer klarer. Der Anblick Phèdres während des Theaterbesuchs führt Renée den Unterschied zwischen der tragischen, tugendhaften Heldin und ihrem eigenen lasterhaften Dasein vor Augen (vgl. Harrow 1997: 162). Das Abgleichen des inzestuösen Verhaltens von Selbst und Bild glückt, doch wird eins klar: »Phèdre is the sublime original, Renée a second-rate, Second Empire copy« (ebd.). Analog hierzu ist das Second Empire eine schlechte Kopie einer einst besseren, wenn auch tragischen Zeit. Renée erreicht die letzte Stufe der Erkenntnis während des Kostümballs.60 Nun sieht sie im Spiegelbild mehr als nur ihre Schönheit: »Elle s’approcha, étonnée de se voir […]. Elle savait maintenant. C’étaient ces gens qui l’avaient mise nue. […] Elle était finie. Elle se vit morte« (C: 572, 575, 576; vgl. Harrow 1997: 163f.). Die Entschleierung des Mythos, der Moment der Erkenntnis des Selbst ist gleichzeitig die Erkenntnis des eigenen Verlusts. Die Etappen des Untergangs werden im Roman somit anhand der Bilder aus dem räumlichen Haushalt der Zeit markiert: Renée ist Mann, Sphinx und Phèdre zugleich (espace vécu1 ). Die Tragik des Moments liegt darin begründet, dass Renée in vollem Bewusstsein ihrer Situation ist, »becoming the agent of her own construction, the guardian
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a tale of incest, hysteria, and ›perverse‹ desire and in so doing produces the desire for the Law, or rather […] the inscription of the Law of the Father at the heart of social desire« (Reid 1993: 246). Miranda Gill erkennt in diesem widersprüchlichen Bedürfnis nach Ordnung und Transgression von Ordnung ein zeitspezifisches Phänomen, das sich in Formen von Exzentrizität auflöst: »In the one instance, the bourgeoisie desired order and conformism in the prolonged period of political instability which succeeded the 1789 Revolution; in the other, it sought to dismantle rules and constraints in the name of progress. This ambiguity at the heart of bourgeois identity […] generated a cultural need for ›margins‹ such as Bohemia, as well as for satire in which bourgeois conformism was mocked« (Gill 2009: 6). Hiermit korrespondiert die Ambiguität der Darstellung der Bourgeoisie in La Curée. Zola begrüßt die Werte des familiären Zusammenlebens, verurteilt aber gleichzeitig den ungezügelten Größenwahn der Neureichen (vgl. Borie 2003 [1971]: 36; vgl. auch Nelson 1983: 66f.). Renée als Verkörperung der Stadt zu betrachten, ist naheliegend. Eine genauere Analyse ergibt, dass ihr Schicksal mit einer historischen Situation übereinstimmt, die mit Karl Marxʼ Analyse der Revolutionen von 1789 und 1848 korreliert. Beide Revolutionen kopierten laut Marx Vorbilder. Während die Akteure von 1789 in Bildern des alten Rom eine Heroik wiederbelebten, parodierten die Vorgänge von 1848 die große Revolution und degradierten sie zur Farce (vgl. Marx 1972 [1852]: 115ff.). In diesem Lichte können zahlreiche Anspielungen auf die Antike (»colonnes de l’Empire«, C: 475; »petit temple grec«, ebd.: 330 etc.) sowie der Kostümball gelesen werden (vgl. Nelson 1983: 68). Die Funktion des Karnevals ist es für Michail M. Bachtin, Hierarchien subvertieren zu können (vgl. Bachtin 1990: 50ff.). Dieses Potential hat der Ball nicht. Im Gegenteil verhärtet sich die Logik der Ordnung in den Tableaux. Véronique Cnockaert kommt zu einem ähnlichen Schluss. Der Roman beinhalte zwar die Sprache des Karnevalesken, das typische Ritual setze aber nie ein (vgl. Cnockaert 2010: 29). Vgl. hierzu auch Carles (1993).
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of her exclusivity and enigma« (Harrow 1997: 157), sich aber dennoch nicht emanzipieren kann. Ihre dystopische Erfahrung ahnt das Schicksal des Second Empire voraus. Es wird zu einer Epoche des Übergangs zwischen zwei Ordnungen, »a space and time outside of the imagined community of middle-class Republican France« (ebd.). Dies macht vor dem Hintergrund der Entstehung des Romans umso mehr Sinn. Nicht nur befindet sich Paris im Jahr 1871 erneut am Scheideweg; die zügellose Spekulation in La Curée macht dem Leser darüber hinaus schmerzlich bewusst, welche Hintergründe der Bürgerkrieg hatte. Die im Roman antizipierte Katastrophe ist eingetreten und das neue Paris zerstört. Die extradiegetische Ebene der Zukunft hängt sich intradiegetisch an Renées Erinnerung an vergangene Zeiten. Auf diese Weise überlagern sich in der Stadt als Erinnerungsort die gelebten Momente fiktiver und zeitgenössischer Geschichte.
5.3
Zusammenfassung
In den Worten Lefebvres beschreibt Zola in den literarischen Inszenierungen der Großstadtwirklichkeit des 19. Jahrhunderts den Vorrang von espace conçu gegenüber espace perçu und espace vécu. Er untersucht die Anfänge der Kultur der Akkumulation und betrachtet in den Wirren der Kommune, das heißt in einer nicht-alltäglichen Situation rückblickend den Alltag des Second Empire. Auf der Makroebene diskutiert er die Raumideologie des Spektakels und der Kontrolle (espace conçu1 ). Er setzt Vertreter von Stadt und Politik ein, die die globale Ordnung repräsentieren und die Haussmannisierung begrüßen (»explizite Theorie des intraliterarischen Raums«). Die Abstraktion vom gelebten Raum wird in der Rede Saccards auf dem Montmartre-Hügel offensichtlich. Und auch die Haltung der Kommission angesichts der Zerstörung ist ein direkter Verweis auf die Skrupellosigkeit der Stadtplaner. Beide Szenen stellen unter Beweis, dass die Raumpolitik von ambiger Natur ist: Sie basiert auf dem Prinzip von Zerstörung und Wiederaufbau, auf Materialität und Abstraktion (espace conçu ∼ espace perçu). Saccard vertritt das rein wirtschaftlich motivierte Spekulationsgeschäft. Im Roman wird jener historische Moment festgehalten, in dem die Interessen der Bourgeoisie und die des Staates kollidierten. Je mehr die Liberalisierung des Marktes ins Stocken geriet, desto stärker machte die Bourgeoisie ihr erkauftes Recht auf Stadt geltend und deregulierte die kontrollierte Raumproduktion. Zola zeigt die Folgen dieser Machtkämpfe in der Mikrogeographie des Alltags. Er fokussiert dabei die Erfahrungswelt der gutbürgerlichen Frau und zwar anhand von Chronotopoi, die charakteristisch für das Paris Haussmanns sind: Park, Café, Salon oder Boulevard. Während Saccard in Paris ein offenes und produktives Feld der Möglichkeiten findet, wird Renée zum Inventar privater Räume degradiert. Zola spielt mit den Antinomien von öffentlich und privat, weiblich und männlich,
5. Alltagsdarstellung zwischen Utopie und Dystopie – Zolas Paris in La Curée
transparent und opak. Geldfluss, Mobilität und Flüchtigkeit in der modernen Stadt werden zu Strukturmerkmalen des Raums im Roman. In La Curée geht es daher nicht um die Wiedergabe a priori fixer Kategorien, sondern um die Konstruktion und Dekonstruktion von Reglementierungen. Zola bewältigt dies narrativ, indem er die Entwicklung von Renées Ennui im Detail nachvollzieht. Der Ennui ist kein transhistorisches Gefühl mehr, sondern wird zum Zeichen weiblicher Großstadterfahrung. An den Orten des Nicht-Alltäglichen verräumlicht sich der Ennui, hier entlädt sich auch dessen utopisches Potential. Sie sind die Bedingung der Erkenntnis Renées, die für eine gewisse Zeit autonom wird und ihren Körper neu erfährt (espace perçu1 > espace conçu1 ). Anstatt also die Verdrängung des Subjekts durch das Milieu anzunehmen, ist mit Reid zu sagen, dass die Subjektivität an diesen Orten exponiert wird: »[S]ubjectivity is […] foregrounded in its isolation and dispersion across manifold objects and bodies which elicit and articulate subjectsʼ desire« (Reid 1993: 259). Die Räume sind Fixpunkte für die Interdependenz von Transparenz und Undurchsichtigkeit, Norm und Anomalie, die das Konzept der stabilen Identität in Frage stellen.61 Es ist gerade die Abwesenheit von Norm, die die Norm auf den Plan ruft, was sich auch auf erzähltechnischer Ebene zeigt. Der Roman wird größtenteils durch die Stimme des Erzählers bzw. Zolas in der Rolle des Wissenschaftlers geleitet. Das Prinzip der Schachtelung von Räumen sorgt für Orientierung, die auktoriale Perspektive für die Kontrolle der beschriebenen Anomalien (espace conçu1 ). Dies verkompliziert sich allerdings durch zahlreiche Faktoren. Auf der Ebene des espace perçu1 kommt es zu einem »komplexen Widerspiel von Erzähler- und Figurenperspektive« (Warning 2009: 159). So verliert der ordnende Blick des Erzählers in der unklaren Sicht Renées an Rationalität. Der Einsatz der écriture artiste und mythischer Bilder (espace vécu1 ) übersteigt zudem die Ebene realer Gegebenheiten. Im Roman sind Raum und Zeit laut Mitterand »à la fois baroques, grotesques et tragiques – comme l’époque« (1987: 157). Die sprachliche Faszination für die nichtalltäglichen Räume nimmt der Anomalie ihre Schärfe und untergräbt die Geradlinigkeit des Autors. Es ist aber besonders die Schilderung des Ennuis, die die Produktion von Raum durch Figur und Leser initiiert. Der Nicht-Alltag wird mithilfe einer veränderten Zeit-, Körper- und Dinglichkeit dargestellt. Renées Wahrnehmung der Gegenwart verbindet sich mit Vergangenem und Zukünftigem, sodass das lineare Zeitmodell
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Dies verbindet Zola mit aktuelleren (literaturwissenschaftlichen) Untersuchungen zu Fragen postmoderner Subjektivität. Maryse Adam-Maillet und Adolfo Fernandez-Zoïla arbeiten die gespaltene Persönlichkeit Renées heraus. Letzterer sieht in der Abwesenheit des identitätsspendenden Anderen Vorzeichen der Psychoanalyse (vgl. Fernandez-Zoïla 1987: 192; vgl. zum Thema des Narzissmus im Roman Allan 1981). Adam-Meillet spricht von Renées problematischer Identität und ihrem zerrissenen Dasein als »poupée« (vgl. Adam-Meillet 1995: 62ff.).
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unterlaufen wird. Ihr Körper wird widerständig und entzieht sich seiner Rolle als Exponat. Die Berührung von Maxime bzw. den Objekten des Alltags hat sich dabei als zentral erwiesen. Renée muss sich immer wieder neu zur Dingwelt positionieren und hinterfragen (vgl. Solte-Gresser 2010: 378). So werden in der Zunahme des Affektiven gegenüber der Teleologie der Handlung sowohl das naturalistische TextExperiment als auch die Raumideologie des Visuellen instabil. Die Qualitäten des gelebten und wahrgenommenen Raums überwiegen im Verständnis des Lesers. Dieser entschlüsselt die Momente der Transgression in einer retrospektiven Lesrichtung (vgl. Reid 1993: 249). Die Suche des Rezipienten nach Zeichen des Inzests ist ein Akt der spielerischen Wiederholung, wie er aus dem postmodernen Roman bekannt ist. Statt durchgehend einer zeitlichen Chronologie zu folgen, setzt Zola Reprise und Analepse ein, um mit dem Leser eine Räumlichkeit auf Textebene zu kreieren. So entsteht ein zugleich überschaubarer und opaker Raum in der Geschichte, aber auch im Text selbst. Diese In-/Transparenz in La Curée spiegelt Zolas Verständnis von Raum wider, das sowohl durch den Stadtdiskurs, aber auch die raumideologischen Metaphern der Zeit geprägt wird (vgl. Kapitel 4.1.2). Zola ist in seinem Glauben an eine patriarchale Ordnung wenig innovativ. Seine Innovation liegt darin, eine neue Pathologie des Sozialen literarisch erschlossen zu haben (vgl. Reid 1993: 248f.). Das Scheitern Renées ändert nichts daran, dass utopische Momente der Emanzipation das dystopische Narrativ herausfordern. La Curée stellt die Frage nach den Möglichkeiten des Ausbruchs aus dem Determinismus, und zwar auf inhaltlicher und erzähltechnischer Ebene. Um es mit Raymond Williams zu sagen: »[T]he experience of defeat does not diminish the value of the fight« (1981: 63).62 Renées Schicksal steht damit nicht mehr nur stellvertretend für das Second Empire, sondern auch für die Pariser Kommune. La Curée wird Teil einer Erinnerungskultur, die auch heute noch nachklingt.
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Raymond Williams äußert sich in einem Interview zum Stellenwert der Dramen Ibsens für sein Werk Modern Tragedy (1966): »This is why it was important to argue in the analysis of Ibsen that he is not a dramatist of original sin or disenchantment […]. In his plays, the experience of defeat does not diminish the value of the fight« (Williams 1981: 63). Im Hinblick auf die Verbindung von Utopie und Dystopie erinnert La Curée an jene dystopischen Romane feministischer Herkunft der letzten 20-30 Jahre, in denen die Utopie als ein konstitutives Element der Transgression wiederbelebt wird (vgl. Mohr 2007).
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Ein Jahr nach La Curée erscheint Le Ventre de Paris zwischen Januar und März 1873 zuerst im Feuilleton von L’État, im April dann in Buchform bei dem Verleger Charpentier. Unklar ist, wann Zola genau mit den Vorbereitungen des Romans beginnt. Mitterand vermutet, dass die Idee zum Hallenroman bereits im Frühjahr 1871 entsteht. Er verweist auf diverse Artikel Zolas, die sich bereits Ende der 1860er Jahre mit dem weiteren Thema des Romans, spätestens ab Anfang 1872 konkret mit den Hallen befassen (vgl. Mitterand 1960b: 1613f.). Zu diesem Zeitpunkt entwickelt Zola auch die Ébauche und schreibt die ersten Seiten des Ventre. Zwischen Mai und Juni 1872 folgt dann der detaillierte Plan, im Herbst schließlich die Niederschrift der Feuilletonversion (vgl. ebd.: 1618f.). Le Ventre de Paris verkauft sich besser als La Curée und stößt nun auch auf öffentliches Interesse. Die Kritik ist geteilter Meinung. Die Revue des Deux Mondes verurteilt die »exagérations malsaines« Zolas, da sie den Geschmack des Publikums korrumpierten; Edmond de Goncourt missfällt die Akzentuierung des Populären (vgl. Carles/Desgranges 2003: 241); Barbey d’Aurevilly kommentiert mit ironischem Unterton, das Werk sei fortschrittlich, aber »dans le sens de vulgarité et de matière« und Zola »qu’un rapin, tout au plus enragé« (D’Aurevilly 1873: 3). Vor allem die deskriptiven Passagen polarisieren. Während Paul Bourget ihnen keinen künstlerischen Wert abgewinnen kann, vergleicht Joris-Karl Huysmans sie mit Stillleben, »peintes avec la fougue et la couleur forcenée d’un Rubens« (Huysmans 1998 [1876]: 93; vgl. Mitterand 1960b: 1621). Guy de Maupassant schließlich rühmt die sinnlichen Qualitäten des Romans: »Ce livre sent la marée comme les bateaux pêcheurs qui rentrent au port, et les plantes potagères avec leur saveur de terre, leurs parfums fades et champêtres« (Maupassant 1883: 290f.). Genese und Kritik des Romans legen die Fährte für die Lektüre. Deutlicher als in La Curée werden in Le Ventre de Paris Kommune und Second Empire zusammengeführt (vgl. Carles/Desgranges 2003: 240). Zola pflegt die Ebene der histoire sociale in die histoire naturelle, das heißt den Gegensatz von »Gras« und »Maigres«, ein: Die Familie Quenu ist dem Kaiserreich treu und labt sich an den Früchten des wirtschaftlichen Erfolgs; der Republikaner Florent dagegen, unschuldig auf die Teufels-
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insel verbannt und in einem desolaten Zustand, hofft nach seiner Rückkehr nach Paris auf eine Revolution. Damit beschreibt Zola sehr plastisch eine Entwicklung, die in La Fortune des Rougon angestoßen wurde und im Hallenroman ihr vorläufiges Ende findet. Geht es im ersten Roman der Reihe um die wachsende Gier nach Macht, die die Rougon auf die Seite Napoleons treibt, handelt La Curée vom entfesselten Appetit der aufstrebenden Bourgeoisie im Anschluss an den Staatsstreich von 1851. Nach dem Roman des Strebens nach Macht geht es im Ventre de Paris um existentielle Grundbedürfnisse. Der Roman zeigt ein gesättigtes Empire, welches ein opportunistisches Kleinbürgertum vor der mageren Arbeiterklasse zu schützen gedenkt (vgl. Gural-Migdal 1991: 167). Zola schaltet die Ereignisse von 1848/51 und 1871 gleich und zeigt, dass die Bewahrung des Status quo genauso wie die Jagd nach Ruhm in der Curée ihre Opfer fordert. Die syntagmatische Verkettung der Romantitel wird hierbei durch das Bild des Bauches hergestellt, symbolisiert es doch den Prozess der Verdauung der Beute der Curée (vgl. ebd.: 168). Zugleich interessiert nicht nur die semantische Verweisfunktion des Bildes, sondern vor allem auch die ihm inhärente Materialität. Und dies in zweierlei Hinsicht: erstens als Indiz für die Thematisierung des KörperlichSinnlichen im Roman. Die Sinneswahrnehmung wird zum Gradmesser für Florents Erfahrung des neuen Paris. In einer Epoche, in der die Beziehung zum Körper distanziert und privat wurde, sorgte die Schilderung niederer, körperlicher Bedürfnisse in der Literatur für Empörung – zumal Zola diese Schilderung an einfachen Menschen der unteren Gesellschaftsschichten exemplifizierte (vgl. Scarpa 2000: 15f.). Nur in ihrer ästhetischen Funktion ist die sinnliche Darstellung akzeptabel, was der Kommentar Maupassants erkennen lässt. Zweitens kann die Betonung der Materialität als ein Signal für die weltanschauliche Sicht und die Frage der Einordnung Zolas in die literarische Tradition gelesen werden. Der Titel des Romans führt den Bezug zu Hugos Notre-Dame de Paris ein. In Abgrenzung zu Hugos romantischem Idealismus setzt Zola in der Romantheorie auf einen materiellen, an Fakten und Gesetzmäßigkeiten orientierten Realismus (vgl. ebd.: 17). Obwohl der Autor seiner Theorie in der Praxis nicht stringent folgt, ergänzt er mittels verschiedener Schreibverfahren das organische Thema des Romans um einen »effetmatérialité« (ebd.: 19). Der Leser erkennt, dass sich Zola mit dem dritten Roman der Reihe auf die Suche nach einer eigenen Handschrift macht. Zweiter und dritter Roman des Zyklus stehen für Béatrice Desgranges in einem kausalen Zusammenhang. Sie bilden eine Art »diptyque théâtral: sur la scène, la représentation dont le spectacle […] est l’emblème; en coulisse, la froide politique d’un Saccard organisant le quadrillage répressif dont Florent sera la victime« (Carles/Degranges 1993: 34). Die Entwicklungsstufen der politischen Situation spiegeln sich in der Natur der Räume wider. Die von Saccard auf dem MontmartreHügel geplante, homogene Struktur der Stadt wird in den Hallen realisiert und
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
in Form einer mise en abyme abgebildet.1 Ergebnis der Spekulation ist ein streng kontrolliertes Territorium der Unterdrückung und des Panoptischen. Dessen Gesetzmäßigkeiten und Ausschlussmechanismen wurden im Schicksal Renées bereits angedeutet – im Ventre de Paris werden die Mittel der Homogenisierung nun zum zentralen Thema. Unter dem Deckmantel der Einheitlichkeit verbirgt sich allerdings eine lebendige Vielfalt. Wie im vierten Kapitel dargelegt, sind Zolas konkrete Beobachtungen der Hallen zahlreich und seine journalistischen Äußerungen zu Kommune und Dritter Republik ambig. Er bewältigt die Menge an Informationen und seine politischen Kommentare narrativ, indem er verschiedene Figuren bzw. Perspektiven auf die Hallen einsetzt. So repräsentiert der Maler Claude Lantier Elemente aus Zolas Schriften zur Kunst und seine Befürwortung moderner Malerei und Architektur; Lisa dagegen bringt seine Angst vor Revolutionären aus den »classes laborieuses et classes dangereuses« zum Ausdruck (Chevalier 2007 [1958]); Florent wiederum verkörpert Zolas Glauben an eine gerechte Republik, seine Ablehnung des brutalen Vorgehens der Regierung gegen die Kommunarden sowie seine Hoffnung auf eine friedvolle Veränderung der Gesellschaft durch Reformen. Jede dieser Stimmen ist ein Satz oder ein Instrument aus der »vaste symphonie«, die Zola vorschwebt (Corr, II: 304f., 08.11.1871; vgl. Etkind 1968: 219). Der Vergleich mit der Symphonie ist im Falle des Ventre de Paris mehr als ein rhetorischer Marker; anders als es die Statik der Pläne in den Dossiers vermuten lässt, folgt die interne Organisation der Kapitel einem dynamischen Rhythmus, der an die klassische Symphonie erinnert.2 Deren Satzstruktur besteht aus fünf Elementen: Die 1
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Auf die Anachronismen zwischen dem realen Fortschritt des Baus der Hallen und der Darstellung im Roman geht Woollen ein. Er vermerkt, dass 1857 erst drei, 1872 neun der geplanten Pavillons operabel waren. Zola sei im Bilde gewesen, hätte den Raum der Hallen in der Fiktion aus narrativen Gründen aber trotzdem vor seiner Zeit vervollständigt (vgl. Woollen 2000: 21ff.). Zola hat die Entwicklungen im Bereich der Musik seiner Zeit mit Interesse verfolgt und kommentiert die Werke Offenbachs, Berliozʼ oder auch Wagners. Er verfügt zwar – anders als im Fall des Theaters – über kein ausgeprägtes musikalisches Verständnis, diskutiert aber den soziokulturellen Gehalt von Oper oder théâtre lyrique. Er kritisiert, dass die Oper im Second Empire nur ein Instrument der leichten Unterhaltungskultur ist und möchte zusammen mit dem Komponisten Alfred Bruneau die Prinzipien des Naturalismus auf die Musik übertragen. Zola ist ein starker Befürworter des Gesamtkunstwerks Wagners und äußert bezüglich der Entlehnung musikalischer Elemente in seinen Romanen: »J’ai procédé comme Wagner […]. J’utilise les harmonies obtenues par le retour des phrases et n’est-ce pas le meilleur moyen de donner un son à la signification muette des choses?« (Zola im Gespräch mit dem Journalisten Charles Morice, veröffentlicht in Le Journal vom 20.08.1894, zitiert in Speirs/Signori (1990: 138f.)); vgl. auch Sauvage (2009), Zola (2013) und Robert (2001); vgl. zur Verbindung Wagner–Zola Fantin-Epstein (1992), Sauvage (2016), Brown (1956) sowie zur Zusammenarbeit von Zola und Bruneau/Busnach Kanes (1962) und Bruneau (1932). Efim Etkind hat zuerst in einem Aufsatz die Struktur des Symphonischen in Le Ventre de Paris nachzuweisen versucht.
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Exposition gliedert sich in der Regel in zwei gegensätzliche Themen, die die Dynamik der Symphonie ausmachen. Fakultativ kann der Exposition eine Einführung vorangehen, die meist in einem langsamen Tempo gehalten wird. Der Auftakt endet mit der Schlussgruppe, das bedeutet einer Wiederholung des vorgestellten thematischen Materials. Es schließt sich die Durchführung an. Sie setzt sich kreativ mit den Themen auseinander oder bringt ein neues Motiv ins Spiel. In der Reprise wird die Exposition wiederholt, doch soll der verarbeitete Konflikt dafür sorgen, dass die Themen von einem veränderten Standpunkt aus betrachtet werden. Gegen Ende der Reprise kann eine Kadenz – ein virtuoser Solopart – eingeschoben werden. Das Stück endet mit der Schlussformel, der Coda, die Merkmale einer weiteren Verarbeitung des Themas tragen kann (vgl. Haider 2000: 423ff.).
Abbildung 16
Symphonische Struktur des Romans
Er untermauert diese Herangehensweise mit Kommentaren von Paul Alexis und Zola. Ersterer habe den Roman wie eine Symphonie gelesen. Etkinds Ausgangspunkt ist folgender: »Das Symphonische in Le Ventre de Paris besteht […] darin, daß dieses Werk ganz und gar auf dem Widerstreit selbständiger Themen aufbaut, deren grundlegendes in der Sammelgestalt des gigantischen Marktes verkörpert ist« (Etkind 1968: 207). Er versteht die Figuren als Träger musikalischer Themen, die in Widerstreit geraten, und findet diesen Kampf verschiedener Register auch im Stil Zolas. Auguste Dezalay bezeichnet die Form der Romanreihe als Opéra (1983) und untersucht unter anderem die Rhythmen der »expansion« und des »éternel retour« auf Textebene (vgl. ebd.: 11). Die eigene Analyse denkt die Beobachtungen Etkinds weiter und korrigiert diese leicht, indem sie weitere Strukturelemente der Symphonie im Roman aufdeckt.
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Das übergeordnete, homophone Thema des Ventre de Paris ist der Kampf zwischen den »Gras« (Lisa) und den »Maigres« (Florent), dem sich die anderen Stimmen unterzuordnen haben. Abbildung 16 trägt die symphonische Struktur des gesamten Romans und zugleich die des ersten Kapitels in sich (vgl. Kapitel 6.1). Sie hilft, die Konstitution des Raums der Hallen mit der zeitlichen Ebene zusammen zu denken und sukzessive nachzuvollziehen. Übertragen auf das Vokabular der Raumtheorie und die Raumideologie der Zeit lässt sich sagen, dass der Ventre de Paris die Auseinandersetzung einer Vielzahl subjektiv aufgeladener places in einem abstrakten space inszeniert, in dem sich Elemente des alten und des neuen Paris überlagern (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Diese sich ihren eigenen place aneignenden Stimmen brechen inhaltlich und erzähltechnisch immer wieder aus dem Muster aus und beanspruchen ihren polyphonen Eigenwert. Verschiedene Verfahren drücken die Stimmen der Figuren narrativ aus – von impressionistischen über klassisch-naturalistische hin zu romantisch-grotesken Erzählweisen (vgl. Zarifopol-Johnston 1989: 363ff.). Zola testet mit dieser Hybridität der Form die Grenzen des naturalistischen Romans aus. Der Autor versucht, sein Territorium im Bereich der Literatur abzustecken. So verbindet der geschilderte Kampf um Raum die nationale Geschichte mit Zolas persönlicher Situation im literarischen Feld der Zeit. Die Lage Frankreichs ist zum Zeitpunkt der Entstehung des Ventre instabil, woraus Zolas unentschlossene Haltung gegenüber dem ordre moral resultiert (vgl. Johnson 2002: 54). Der historische Moment des Übergangs zwischen den Regierungsformen, den Zola bereits in La Curée einfließen lässt, wird im Hallenroman direkter verhandelt. Es geht um die Zukunft des Landes, die nicht mehr nur in einer Figur, sondern in einer Vielzahl von Charakteren zur Sprache kommt. Es ist das Ziel der folgenden Analyse, die Momente der Polyphonie innerhalb eines scheinbar homophonen Rahmens auf inhaltlicher und formaler Ebene nachvollziehbar zu machen.
6.1
Einleitung: monter vers Paris
Anders als in La Curée sind die Hallen der einzige Schauplatz der Handlung, mit Ausnahme des Zugs der Wagen aus den umliegenden Gemeinden, Florents Ausflug nach Nanterre und der Erwähnung von Cayenne. Die Makrostruktur des Romans spiegelt die Organisation der Pavillons Baltards, die Zola in seiner Zeichnung rekonstruiert hatte. Ihre räumliche Verteilung nach dem Prinzip des Schachbrettmusters entspricht der logischen Abfolge der in sich geschlossenen Kapitel im Roman. Das heißt, dass eine strukturelle Homologie zwischen der konkreten Anlage der Hallen und der Verteilung räumlicher Informationen im Text existiert (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Das erste Kapitel dient dazu, dem Leser die Anlage des Raums zu verdeutlichen. Die Handlung führt sukzessive vom Raum außerhalb der Stadt ins
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Paris (re)konstruieren
Stadtzentrum. Das Kapitel ist formal in Einführung und Exposition zu unterteilen (vgl. Abb. 16). Es bringt prozessual die beiden Gegenspieler »Gras« und »Maigres« hervor und zwar zeitlich durch die natürliche Chronologie des Tagesablaufs und räumlich durch den Konflikt zwischen dem alten und dem neuen Paris (vgl. Abb. 16). Das Kontrastpaar »Sättigung/Nahrung« versus »Hunger/Mangel« kann semantisch an den Hauptkonflikt angeschlossen werden, während die Gegenüberstellung von Stadt und Land sowie Kunst der Romantik und Kunst des Naturalismus mit der Modernisierung von Paris Hand in Hand geht (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Der Auftakt des Ventre beschreibt eine typische Station im Tagesablauf der Gemüsebauern. Er hat insofern die Funktion einer Einleitung, als in langsamem Tempo der nächtliche Zug der Wagen nach Paris wiedergegeben und das eigentliche Ereignis des Romans antizipiert wird. Die Erzählzeit deckt sich bisweilen mit der erzählten Zeit oder dehnt diese anhand detaillierter Beschreibungen der Umwelt. Der Weg als konventioneller Chronotopos ist der geeignete Ort für das Zusammentreffen von Madame François und Florent. Bewusst wählt Zola einen potentiell offenen Raum außerhalb der Stadt, um ein positives Bild der ländlichen Umgebung zu schaffen, das dem späteren Treiben in den Hallen gegenübersteht. Hier liegt der Ausgangspunkt für eine scheinbar natürlich zunehmende Aktivität, die einen Spannungsbogen erzeugt: So wie der Weg scheinbar unausweichlich nach Paris bzw. in die Dynamik der Stadt führt, bereitet die sprachliche Melodie konsequent die Wiedergabe des Hauptthemas vor. Sie ist nicht nur Indikator für das Verhältnis von Stadt und Land, sondern auch für eine Etappe in Florents Biographie. Der Vergleich von der ersten Passage aus dem Roman mit der Version im Dossier verdeutlicht, wie Zola zeitliche und räumliche Elemente einsetzt, um den Grundton des Romans anzustimmen. Im Notizbuch heißt es: Avenue de Neuilly. Je ferai tomber Florent après le pont, à la hauteur de la rue Longchamp au bord d’un trottoir […], avec Paris monstrueux deviné dans le silence, dans le désert, devant lui tout en haut, au bout de la file régulière des lumières (l’idée de monter, d’aller au bout de cette ligne de feu). Vers 2 heures du matin, très noir […]. Paysage très plat, avec grand ciel. Avant la route, la Seine, avec les lumières au loin reflétant, la lanterne rouge sur l’eau. Les voitures de maraîchers, carrés, bords à claire-voie, à deux roues, avec un seul cheval, train assez lent. […] L’homme couché ou contre planchettes. […] A la barrière, encombrement, les gabelous sondant. Le bruit des cahots, dans le grand silence, avec échos contre les maisons, sur la bande de pavés (N.a.f. 10338, Ventre: fo 245). Alle Eckpunkte der Raumdarstellung werden genannt: Der Leser erfährt anhand der metonymischen Teilreferenzen, wo sich das Geschehen abspielt, die topologische Struktur des Aufstiegs entlang des Wegs bzw. der Linie gibt Hinweise auf die semantische Bedeutung der Szene. Hierzu Philippe Jousset: »[I]l est frappant de voir comment l’espace semble créer la fonction, ou la faciliter: décider de l’action,
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
de l’intrigue presque, comme si la chute s’inscrivait dans le paysage, que celui-ci y conspirait« (2011: 109). Der Raum wird nicht nur geographisch, sondern auch in seiner mythischen Dimension erschlossen (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Die Verknüpfung zwischen beiden Ebenen erfolgt mit dem für Zola typischen, präpositionalen Anschluss »avec x« (vgl. ebd.: 112). Der Autor setzt mit minimalem Aufwand zwei Satzteile in Beziehung, ohne die Natur dieser Beziehung genauer zu bestimmen oder die Autonomie der Elemente zu unterbinden. Ergebnis ist ein idiosynkratisches Gerüst, das zur Entfaltung der Stimmung beiträgt (vgl. ebd.: 113). Hyperbel (»dans le grand silence«), symbolisches Bild des Aufstiegs (»aller au bout de cette ligne de feu«), kontrastiver Spannungsaufbau (»tomber« versus »monter«) und erste Zeichen der Malerei (»Paysage très plat, avec grand ciel«) tragen dazu bei, den Fokus auf die Struktur des Texts selbst zu lenken. Dass diese Elemente allesamt das Bild der Wegstrecke unterstützen, ist kein Zufall. Sie sind Glieder in der stenographisch notierten Prosa-Kette, die den Stationen auf dem Weg nach Paris gleichen. Laut Jousset haben sie einen dramatisierenden Effekt und lösen eine »sensibilité sur le mode vibrato« aus (Jousset 2011: 114, Hervorh. i.O.), die in der Symphonie des Romans einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des erzähltechnischen Leitmotivs leistet. Letzteres tritt in Konkurrenz zur jeweiligen narrativen Instanz. Zwar sind auch die Notizen vermittelt; allerdings sorgt der Bericht in der ersten Person, zusammen mit der insgesamt simplen Satzkonstruktion, für eine gleichbleibende Einstellung des Lesers zum Text. Erst der Wechsel der Perspektiven und Distanzen zum Raum der Handlung erschweren die Position des Rezipienten und verkomplizieren das Thema inhaltlich und diskursiv. Anstatt wie in La Curée eine überschaubare Anzahl von Vermittlern einzusetzen, konfrontiert Zola den Leser im Ventre mit einem Corps von vielen verschiedenen Figuren. Betrachten wir nun im Vergleich zur Passage im Dossier den fertigen Text im Roman. Ein aperspektivischer Erzählvorgang erfasst den Raum zu Beginn des Romans aus relativer Nähe, doch ist dieses Erzählen von untergeordneter Rolle: Au milieu du grand silence [1], et dans le désert de l’avenue [2], les voitures de maraîchers montaient vers Paris [3], avec les cahots rythmés de leurs roues [4], dont les échos battaient les façades des maisons [5], endormies aux deux bords [6], derrière les lignes confuses des ornes [7] (VP: 603). Im Vordergrund steht die sich geisterhaft ausbreitende Stille (»grand silence«, »désert«), die die Gemüsewagen und das rhythmische Rattern der Räder einhüllt. Zola setzt zu diesem Zweck die Präposition »au milieu« ein, die der immateriellen Stille Substanz verleiht und in der Wahrnehmung des Lesers einen per se offenen Raum begrenzt. Der Autor ist anders als im Dossier darauf bedacht, zuerst eine kondensierte Atmosphäre zu schaffen, bevor das »Wer« und das »Wo« der Handlung genannt werden. Das Verb »montaient« richtet die Wagen auf ein Ziel aus. Wie von allein ziehen sie nach Paris, das aufgrund der erhöhten Position symbolisch
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an Prestige gewinnt. Noch werden Bewegung und Avenue nur im Verhältnis zur Hauptstadt verortet. Anzunehmen ist, dass sich der Erzähler selbst auf der Strecke befindet. Von diesem Standpunkt aus wird eine räumliche Tiefe aufgespannt: Im »Raum der Stille« rahmen nur schemenhaft erkennbare Ulmen die Straße, hinter denen wiederum Häuser liegen. Der Leser inferiert aus der Stille, dem Adjektiv »confuses« sowie dem Partizip »endormies«, dass die Fahrt bei Nacht stattfinden muss. Werden unter diesen Konditionen schon die Bäume nicht richtig wahrgenommen, ist zu bezweifeln, dass die Häuser erkennbar sind. Lediglich der Widerhall des Ratterns kann ihre Präsenz preisgeben und reproduziert die Raumwahrnehmung bei Nacht, das heißt die Dominanz der anderen Sinne vor dem Sehsinn. Die räumlichen Dimensionen der Ausgangssituation werden primär mit Hilfe der auditiven Wahrnehmung erschlossen oder erspürt, anstatt klar definiert zu werden (espace perçu1 – espace conçu1 ). Die Stille fungiert als eine Kontrastfolie, vor der sich die Melodie – »les cahots rythmés«, »les échos« – absetzt (vgl. Jousset 2011: 117). Daneben strukturiert die Aufwärtsbewegung die Satzmelodie: »[A]insi vectorisée, enchaînée, [la thématique] acquiert une qualité d’agencement, de construction (comme un ›accord‹ musical: ›harmonisée‹, au troisième élément, sonore-saillant« (ebd.). Und dies gilt gleichfalls für den intraliterarischen Text-Raum. Die écriture trägt die Beschreibung der Umgebung, die noch keiner figuralen Perspektive zugeschrieben werden kann. Die interne Dynamik des Satzes entspricht dem Thema des Auf- und Absteigens. Wie der Rhythmus der Räder folgt die Satzmelodie einem Takt: Die Satzteile 1-5 nehmen graduell an Länge zu und zwar von fünf auf acht Wörter, bevor sie in den Teilen 6 und 7 wieder kürzer werden.3 Die Abwärtsbewegung wird in der Handlung weitergeführt, verbindet also Text-Raum und Geschichte: »Un tombereau de choux et un tombereau de pois, au pont de Neuilly, s’étaient joints aux huits voitures de navets et de carottes qui descendaient de Nanterre« (VP: 603).4 Das Verb »descendaient« verweist auf die Struktur der Landschaft und verortet Nanterre im Verhältnis zur Reihe der Gemüsewagen, die in ihrer Bewegung den »pont de Neuilly« erreicht hat. Die Art der Wagen wird spezifiziert, allerdings fehlt weiterhin der Verweis auf die Fahrer. Sukzessive fügt Zola die fehlenden Elemente hinzu. Nach der rhythmischen Bewegung der Wagen fällt der kontinuierliche Gang der Pferde ins Auge: »[L]es chevaux allaient tout seuls, la tête basse, de leur allure continue et paresseuse, que la montée ralentissait encore« (VP: 603). Das sich anschließende »en haut« bezieht sich nicht, wie vermutet werden könnte, auf den Gipfel des Hügels, sondern auf 3 4
Zu achten ist auf die gleiche Länge der Satzteile 3 und 4, die anscheinend über die bekannte Formel »avec x« hinaus parallel geschaltet werden sollten. Für Philippe Jousset konkurriert die sprachliche Dynamik mit der Bewegung der Handlung und gewinnt schließlich die Oberhand (vgl. Jousset 2011: 117). Auch wenn ihm zuzustimmen ist, dass der Text seine internen Mechanismen diskutiert, geht die eigene Analyse von einer spielerischen Auseinandersetzung zwischen écriture und Inhalt aus.
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
den erneuten Wechsel der Wahrnehmung: Nun endlich begutachtet der Erzähler Fahrer und Waren. Die namenlosen Führer machen aufgrund ihrer Passivität den Anschein von Transportgütern: »En haut, sur la charge des légumes, allongés à plat ventre, couverts de leur limousine à petites raies noires et grises, les charretiers sommeillaient, les guides aux poignets« (VP: 603). Die Isotopie der Nacht und des Schlafs, die schon in der »allure continue et paresseuse« der Tiere anklang, wird um das Bett aus Gemüse bzw. das Verb »sommeillaient« erweitert. Stimmung und Haltung der Fahrer und Pferde zeigen an, dass es sich bei dem Zug Richtung Paris um eine typische Situation aus dem Alltag der Arbeiterschaft handelt. Dass Zola diesen Abläufen eine ästhetische Seite abgewinnt, ist bereits aus den Notizen bekannt. Er wiederholt die Detailaufnahmen der Eingangsszene aus La Curée, um aus direkter Nähe die malerischen Elemente des Bildes einzufangen. Die »clous d’un soulier, la manche bleue d’une blouse, le bout d’une casquette« tauchen dank des Lichts der Straßenlampe inmitten der »floraison énorme des bouquets rouges des carottes, des bouquets blancs des navets, des verdures débordantes des pois et des choux« (VP: 603) auf. Die einfache Kleidung signalisiert den sozialen Stand der Fahrer und unterscheidet sich von der edlen Kleidung der Bediensteten Saccards. Statt der Luxusgüter ist hier das Gemüse Grund zur Bewunderung. Zola notiert lexikalisch dessen Wandlungsfähigkeit, da er das neutrale Wort »légumes« in Spezifika wie »choux« und »carottes« übersetzt und am Ende mit dem Bild der »floraison énorme des bouquets« konnotiert. Das Gemüse ist sowohl Nahrung als auch Fest für die Augen (vgl. Jousset 2011: 118). Es hat ein ebenso großes ästhetisches Potential wie die Reichtümer der Oberschicht. Zola nivelliert folglich Hierarchien und demokratisiert die Wahl literarischer Anschauungsobjekte. Die Passage endet mit einer Wiederholung des Themas. Es findet ein Wechsel von dem Bereich aus nächster Nähe zu einem panoramatischen Blick in die Ferne statt: Et, sur la route, sur les routes voisines, en avant et en arrière, des ronflements lointains de charrois annonçaient des convois pareils, tout un arrivage traversant les ténèbres et le gros sommeil de deux heures du matin, berçant la ville noire du bruit de cette nourriture qui passait (VP: 603). Die Anzahl der Wörter in den Satzteilen nimmt stetig zu, welche von dem Spiel uvularer, alveolarer [t, s] und labiodentaler [v] Konsonanten (»tout un arrivage traversant les ténèbres«) leben. Die Artikulationsorte spiegeln in gewisser Hinsicht den Blick auf die hinter und vor der Vermittlungsinstanz vermuteten Wagen. Das auditive Signal – »les ronflements lointains« – überwindet den Raum und gibt einen Eindruck von dessen Dimensionen. Es bindet sich metonymisch an den Anfangssatz, sodass beide Sätze eine Klammer um die Detailbeobachtungen bilden, die sich damit wie die Wagen im Raum, das heißt »au milieu«, befinden. Anders als im ersten Satz werden die Geräusche nun aber von einem schier grenzenlosen
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Strom an Wagen ausgelöst, die alle nach Paris ziehen. Die Stadt interessiert nicht als geographische Größe, genauso wenig wie die Zeitangabe, »deux heures du matin«, von entscheidender Bedeutung ist; wichtig ist, dass Paris nun symbolisch als »ville noire« erfasst und im geräuschvollen Rhythmus des Konvois gewogen wird. Zola variiert die anfängliche Schilderung des Zugs der Wagen und schiebt auf den denotativen Wort-Raum einen konnotativen Wert, wodurch das Bild der schlafenden Stadt zwischen Traum und Albtraum hin- und herschwankt. Die Gestaltung dieses konzeptuellen Text-Raums ist so raffiniert, dass gelebter und wahrgenommener Raum die Topographie des Weges in den Hintergrund rücken. Thema und Form des Auftakts bestimmen den weiteren Verlauf der Einleitung. Die zielgerichtete, ruhige Fahrt der Wagen strukturiert wie die Rückfahrt aus dem Park in La Curée die folgenden Passagen. Eine weitere Parallele ist der Übergang von der globalen zur personalisierten Beschreibung der Situation. Der Erzähler wendet sich dem Gefährt am Kopf der Reihe zu, nähert sich räumlich also wieder dem Geschehen. Stellvertretend für die anderen Wagen werden zuerst das schlummernde Pferd Balthazar, anschließend dessen Besitzerin, Mme François, eingeführt. Die Vermittlung des Erzählers endet mit dem Halt der Wagen. Die exponierte Perspektivierung, »Mme François […] regardait, ne voyait rien, dans la maigre lueur« (VP: 603), rechtfertigt die sich anschließende Suchbewegung der Fahrerin: »Elle s’était penchée, elle avait aperçu, à droite, presque sous les pieds du cheval, une masse noire qui barrait la route« (VP: 604). In den darauffolgenden Zeilen wird das Thema der Fahrt aufrechterhalten und gleichzeitig den Stimmen Mme Françoisʼ und Florents Aufmerksamkeit geschenkt. Der Ruf des Mannes, dessen Umgangssprache auf einen niederen, sozialen Stand hindeuten soll (»›Eh! la mère, avançons!‹ cria un des hommes […]… ›C’est quelque cochon d’ivrogne‹«, VP: 604), drückt die Ungeduld und Gleichgültigkeit der Händler gegenüber der auch räumlich unterlegenen Person aus. Es liegt nahe, in dem steten Zug der Wagen, der Ergebnisorientierung der Händler und der Wortwahl bereits Hinweise auf die automatisierten Prozesse der Versorgungsindustrie der Großstadt und die Rolle der Menschen hierin zu sehen. Die Bemerkungen des Fahrers begleiten die Beobachtungen von Mme François: »C’était un homme vautré tout de son long, les bras étendus, tombé la face dans la poussière. Il paraissait d’une longueur extraordinaire, maigre comme une branche sèche« (VP: 604). Der Erzähler versetzt sich vor allem deshalb in die Lage der Frau, damit deren Unkenntnis ein umso größeres Geheimnis um die anonyme Figur spinnt. Ihre dünne Statur kontrastiert mit der vorher erwähnten, fetten Gestalt des Pferdes und stimmt beiläufig den ersten Akkord des Hauptthemas an. Die Berührung beweist, dass der Mann lebendig ist, und leitet in das szenische Erzählen über. Das Gespräch zwischen Florent und Mme François hat zwei Funktionen: Erstens charakterisiert es die Art von Beziehung zwischen beiden Figuren, die sich wegen der Empathie der Gemüsehändlerin von der Indifferenz der übrigen Wa-
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genführer abhebt. Entscheidend ist aber zweitens, dass die Ansprache der anonymen Gestalt der Situation der Interpellation im Sinne Althussers gleicht. Sie hat den Zweck, den Mann anhand verschiedener Elemente als Person zu kennzeichnen und für das System zu kategorisieren.5 Dies bedeutet, dass Zola im Ventre die historischen Bedingungen der Subjektwerdung und der Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse diskutiert. Den Ausgang nimmt die Interpellation mit dem Status Florents als »masse noire« (VP: 604). Die Fahrer reagieren wenig empathisch: »›Il en a plein son sac, le sacré porc! Poussez-moi ça dans le ruisseau!‹« (VP: 604). Madame François spricht mit sanfter Stimme und zeigt Anstand, indem sie verlauten lässt, man dürfe doch nicht einfach Menschen überfahren (vgl. VP: 604). Auch diese Aussagen sind als Einleitung zum Roman zu verstehen, da sie das Schicksal Florents und die Mechanismen der Hallen antizipieren. Seine Position auf dem Weg behindert den Transport der Ware und damit symbolisch auch die kapitalistische Wirtschaft (vgl. Besse 1996: 40f.). Die Ansprache »›Eh! l’homme!‹« (VP: 604) ist der erste, räumlich verankerte Moment der Konfrontation mit dem Körper bzw. der »masse noire« und ähnelt dem »Hé, vous, là-bas!« bei Althusser (1995 [1970]: 306). Der Mann reagiert, indem er die Augen öffnet und sich dadurch als Adressat der Ansprache kennzeichnet. Die Verwirrung und der Fall Florents (»J’allais à Paris, je suis tombé, je ne sais pas…«, VP: 604) sind weitere Verstöße gegen das effiziente Zirkulieren und Indikatoren für ein wichtiges Thema des Romans: das Vergessen oder Verdrängen der Vergangenheit. Mithilfe der Wahrnehmungen und Fragen Mme Françoisʼ erhält Florent zunehmend den Status einer Person, da sie zum Beispiel sein schäbiges Aussehen und vor allem sein Gesicht bemerkt: »Sa casquette […] découvrait deux grands yeux bruns, d’une singulière douceur, dans un visage dur et tourmenté« (VP: 604). Seine Abwehrhaltung deutet darauf hin, dass er ein Geheimnis birgt. Er hat einen »regard inquiet« (VP: 604) und empfindet das Gespräch als Verhör – ein weiteres Signal für den ideologischen Zweck der Situation. Er gibt das Ziel seiner Reise preis (»›Par là, du côté des Halles‹«, VP: 604) und setzt sich damit Mme François aus, die zu eben diesem Ort der weiteren Handlung fährt. Florent wird Teil der Ware, als sie ihn auf das Gemüse hisst und kommentiert: »›Je vous déballerai avec mes légumes‹« (VP: 604). Ihre Aussage, »›À la fin, voulez-vous nous ficher la paix! Vous m’embêtez, 5
Natürlich ist ein wichtiger Unterschied, dass Madame François keine Repräsentantin der Behörden ist. Die klassische Ansprache in Althussers Beispiel erfolgt durch einen Polizisten, der den Status quo der Gesellschaft sichert. Dass Mme François allerdings eine widersprüchliche Rolle spielt, deutet allein ihr Name bzw. ihre Rolle als mère an. Ihre Geschlechtszugehörigkeit ist genauso fragwürdig wie ihre Haltung gegenüber Florent in der ersten Szene. Obwohl sie ihn rettet und geduldig ist, möchte sie dennoch den reibungslosen Transport der Ware nach Paris nicht unnötig aufhalten. Es wird noch zu zeigen sein, inwiefern Mme François eine Art Mittlerrolle zwischen der Akzeptanz und Ablehnung des Systems einnimmt (vgl. Althusser 1995 [1970]).
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mon brave‹« (VP: 604), grenzt sie von ihm ab und betont ihre Einordnung in die Gruppe. Nach dem Intermezzo wird das Thema der Fahrt als Reprise mit fast identischen Formulierungen wieder aufgenommen: Elle remonta […] tenant les guides de Balthazar, qui se remit en marche, se rendormant, dodelinant des oreilles. […] [L]a file reprit son allure lente dans le noir, battant de nouveau du cahot des roues les façades endormies. Les charretiers recommencèrent leur somme sous leurs limousines. […] Les voitures roulaient, les chevaux allaient tout seuls, la tête basse (VP: 604). Nun sind es allerdings Florents exponierte Wahrnehmungen, die eine Vorstellung vom Raum geben und das Thema um die nächste Stimme erweitern. Von seiner Position auf dem Gemüse aus (»L’homme […] couché sur le ventre, avait ses longues jambes perdues dans le tas des navets […]; sa face s’enfonçait au beau milieu des carottes«, VP: 605), erfasst Florent perspektivisch die Fluchtlinien: »[I]l regardait, devant lui, les deux lignes interminables des becs de gaz qui se rapprochaient et se confondaient, tout là-haut, dans un pullulement d’autres lumières« (VP: 605). Er setzt sich in Beziehung zur entfernten Stadt. Die »ville noire« des Erzählers taucht nun inmitten einer »fumée blanche« (VP: 605) auf, ohne aber an konkreter Form zu gewinnen. Sein Status als wahrnehmendes Zentrum korreliert mit dem letzten Schritt der Konstitution seiner Person bzw. Emanzipation von den Objekten auf den Wagen: »›Je me nomme Florent, je viens de loin‹« (VP: 605), sagt er und gibt sich geheimnisvoll. Der Name individualisiert die Person. Die gleiche Funktion hat die anschließende Schilderung der Lebensgeschichte. Die exponierte Perspektivierung und das Bild des flammenden Paris (»Florent, les yeux sur l’immense lueur de Paris, songeait à cette histoire qu’il cachait«, VP: 606) leiten über in den geschützten Raum der Introspektion. Nur der Leser folgt anschließend den Gedanken Florents. Der Bericht setzt in unbestimmter, zeitlicher Entfernung zum Geschehen an, konkretisiert sich aber in räumlicher Hinsicht. Florent durchläuft die Stationen auf seinem Weg nach Paris, das zur materialisierten Projektionsfläche seiner Hoffnungen und Ängste wird (espace vécu1 ). Der Leser inferiert aus den Informationen zu Cayenne, Guyana und dem zweiten Dezember, dass Florent nach dem Staatsstreich auf die Strafinsel verbannt wurde. Vor diesem Hintergrund bekommt die Verortung des Anfangsgeschehens auf den Straßen von Neuilly und Courbevoie einen symbolischen Wert. Sie repräsentieren aus mindestens zwei Gründen die lieux de mémoire der Kommune: Erstens handelt es sich bei Neuilly und Courbevoie um Orte, an denen die kämpferischen Konflikte zwischen Versailles und Paris ausbrachen; beide Gemeinden wurden zuvor während des deutsch-französischen Kriegs zerstört, was Abbildungen in der Pariser Presse dokumentierten; zweitens rief einer der Anführer der Kommune, Gustave Flourens, die Bewohner von Neuilly 1870 dazu auf, nach Pa-
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ris zu ziehen und sich der Kommune anzuschließen (vgl. Wilson 2005: 78ff.).6 Zola führt die Ereignisse von 1851 und 1871 erzähltechnisch also so zusammen, dass sich im Roman auf der Wegstrecke Zeiten überlagern. Der Leser rekonstruiert die »embodied experience of the traveller« (Ryan 2014: 20) anhand seines Berichts. Florents Heimkehr unterscheidet sich deutlich von der Fahrt der Wagen: Dem Überschuss an Gemüse steht der Mangel an Nahrungsmitteln und der Hunger Florents gegenüber; die Ruhe der Fahrer kontrastiert mit seiner Angst vor der »police impériale« (VP: 606) bzw. dem Gendarmen, dem er seine Papiere vorlegen muss – offensichtlich projiziert Zola hier die Ansprache von Mme François auf das offizielle Verhör durch die Behörden. Allerdings verbindet Händler und Florent die Anstrengung der Reise (»›[J]e vais tous les matins aux Halles. C’est dur, allez!‹«, VP: 605) – beide leiden unter den Strapazen der Eingliederung in die Stadt. Florents Reise wird zur Odyssee: Ihre Dauer drückt sich in dem schleichenden Prozess der körperlichen und geistigen Verrohung aus. Er scheint zu halluzinieren: »Il croyait avoir dormi plusieurs heures dans un fossé. […] Tout cela dansait dans sa tête« (VP: 606): [E]t il continuait à marcher, pris de crampes et de douleurs, le ventre plié, la vue troublée, les pieds comme tirés, sans qu’il en eût conscience, par cette image de Paris, au loin, très loin, derrière l’horizon, qui l’appelait, l’attendait. […] En traversant le pont de Neuilly, il s’appuyait au parapet, il se penchait sur la Seine roulant des flots d’encre […]; un fanal rouge, sur l’eau, le suivait d’un œil saignant. Maintenant, il lui fallait monter, atteindre Paris, tout en haut. […] L’avenue plate s’étendait, avec ses lignes de grands arbres et de maisons basses, […] tout son silence et toutes ses ténèbres; et les becs de gaz, droits, espacés régulièrement, mettaient seuls la vie de leurs courtes flammes jaunes dans ce désert de mort (VP: 606f.). Eindrücklich wird Florents körperlicher Zustand wiedergegeben und an das Bild von Paris geknüpft (espace perçu1 ∼ espace vécu1 ). Selbst unter größten Schmerzen und bei eingeschränkter Sehfähigkeit treibt ihn die Vorstellung der Stadt an. Nicht die reale Gestalt von Paris interessiert, sie befindet sich außer Sichtweite, »très loin, derrière l’horizon«, sondern die gelebte Erfahrung der Stadt. Noch erfährt der Leser den Grund für die Verurteilung Florents nicht. Klar ist nur, dass er magisch von Paris angezogen wird und sich diese Faszination in die fremdgesteuerte Vorwärtsbzw. Aufwärtsbewegung übersetzt. Sie schlägt um in ein Gefühl der Bedrohung, als Florent das Bild der Seine, ihre »flots d’encre« und den »fanal rouge« als »œil sai-
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Angeblich wurde Zola während der Kommune selbst auf einem Gemüsewagen von Versailles nach Paris transportiert, wodurch die Strecke als ein Bild aus dem persönlichen räumlichen Haushalt gelten könnte (vgl. Wilson 2005: 82).
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gnant« entwirft. Die »lanterne rouge« und die »Seine« der Passage aus dem Dossier haben sich nun in Signale für die blutigen Kämpfe an diesem Ort verwandelt.7 Florent kehrt am Ende der Einleitung auf dem Gemüsewagen zurück nach Paris: »Puis Florent entra dans Paris, évanoui, les dents serrées, sur les carottes« (VP: 607). Indem Zola den Protagonisten einem Gemüse gleichstellt und ironisiert, variiert er das Motiv der heroischen Heimkehr des Protagonisten in der Literatur (vgl. Prendergast 1993: 67). Er führt den Zustand äußerster Individualisierung und Entindividualisierung in einem Satz zusammen und resümiert so die Einleitung. Florent trägt zwar einen Namen, besitzt Papiere und hat eine Lebensgeschichte, wird aber durch den Ausschluss aus Paris depersonalisiert, das heißt zu einem sinnlich strapazierten Körper und zur Ware. Sein weiterer Weg ist daher der Versuch, den Status einer Person zurückzugewinnen. In diesem Kontext ist es zentral, dass nur der Leser in die Vergangenheit Florents eingeweiht wird. Das Wissensgefälle zwischen Rezipient und Figuren wird zum narrativen Motor für die Entwicklung der anderen Stimmen im Kampf der »Maigres« gegen die »Gras«. Sie nehmen unterschiedliche Haltungen gegenüber Florent ein, der einmal als Person, einmal als Objekt eingestuft wird. Interessant ist, dass er als Charakter auf erzähltechnischer Ebene über eine Autonomie verfügt, die ihm als Person in der Geschichte versagt bleibt. Denn Florents Eindrücke lösen sich in der Wahrnehmung des Lesers von der Stimme des Erzählers und personalisieren den Weg der Wagen nach Paris. Ähnlich uneindeutig wie der Zustand Florents sind die Makrostrukturen des Raumentwurfs. Konzeptuell wird eine Opposition zwischen friedvollem Landleben und gefährlicher Stadt entwickelt, die durch die Erfahrungen von Mme François und Florent hinterfragt wird. Die tägliche Fahrt bei Nacht ist für die Arbeiter beschwerlich, Florent bezahlt seinen Heimweg fast mit dem Tod. Die »idée de monter« aus den Notizen wird aus zwei Perspektiven erzählt – die Fahrt der Wagen wird von Florent reinterpretiert: Aus dem »désert« des Auftakts wird ein »désert de mort«, den Florent am Ende zu Fuß durchqueren muss. Die räumlichen Gegebenheiten bringen folglich automatisch den Fortgang und die Bedeutung von histoire und discours hervor. Anders ausgedrückt rekonstruiert Zola ausgehend von der Strecke nach Paris den Prozess der Verstädterung nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Dabei changiert der intraliterarische Raum in der Wahrneh7
Philippe Jousset hat sich eingehender mit der Narrativierung der Notizen des Ventre auseinandergesetzt und die Vertextungsstrategien am Beispiel des Romanauftakts und der Fischauslage erläutert (vgl. Jousset 2011 und 2010). Er nennt die Merkmale »intégration et montage«, »finition«, »emphase«, »développement et amplification« für die Ausrichtung der Passagen aus dem Dossier (Jousset 2011: 120; vgl. auch Jousset 2010: 139f.). Der »fanal rouge« als »œil saignant« ist ein fast surrealistisches Element, wie es zum Beispiel von dem Motiv der Feuerhand aus Bretons Nadja bekannt ist. Hier sieht die gleichnamige Protagonistin während eines Spaziergangs die »main de feu« über der Seine, die ebenso bedrohlich auf sie wirkt wie das Bild des blutenden Auges auf Florent (vgl. Breton 2007 [1964]: 69, 80).
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mung des Lesers zwischen Verortung und Entortung. Dieser Eindruck entsteht durch das komplexe Zusammenspiel von espace perçu1 , espace vécu1 und espace conçu1 , wobei auf der konzeptuellen Ebene besonders die formale Räumlichkeit des Texts selbst ins Auge springt. Protagonist und Gemüsebauern nehmen zeitversetzt den Weg und stoßen schließlich auf der avenue de Neuilly zusammen. Erzähltechnisch kann die Eingangssequenz mit der Bewegung Florents simultan gelesen werden. Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, dass der Bericht Florents die Schilderung des Erzählers resümiert und anders kommentiert: Auch er nimmt die Häuser und Bäume, die Stille und die Dunkelheit wahr. Allerdings sind die Baumreihen jetzt nicht mehr verschwommen; anstatt der einzelnen Laterne sieht Florent »les becs de gaz, droits, espacés régulièrement« und ahnt die geordnete Anlage der Stadt voraus. Auch wenn die Reise in der Chronologie der Geschichte als Analepse hinter der Eingangssequenz steht, ist es also möglich, an den Anfang des Romans zurückzukehren und beide Passagen parallel zu lesen. Dies bedeutet einen spielerischen Umgang mit dem Material der Erzählung, der den Text-Raum des Ventre entstehen lässt und ein wichtiges Prinzip im modernen Roman werden wird. Noch ist unklar, wie die topologische Struktur des Aufstiegs, die sich zeitlich an den Tagesanbruch bindet, auszudeuten ist bzw. ob hiermit ein sozialer Aufstieg Florents zusammenhängt (vgl. Abb. 16). Die räumlichen Informationen des Dossier werden im Roman orchestriert und somit Teil einer ambigen Raumsemantik.
6.2
Exposition – les Halles als moderner Chronotopos: die Erkundung der Arena des Kampfes zwischen »Maigres« und »Gras«
In der Exposition dynamisieren miteinander konkurrierende Gruppen den Raum der Hallen. Zola nimmt den realen Ort in Paris zum Vorbild, der Arbeits- und Lebensraum für eine heterogene Bevölkerung zugezogener Arbeiter ist. Diese Heterogenität wird allerdings eingeschränkt: Die Hallen sind Teil der modernen Versorgungsindustrie der Stadt und unterliegen dem Ziel der Reproduktion der Gesellschaft. Um ein reibungsloses Zirkulieren in dem Quartier zu garantieren sowie neue Sicherheits- und Hygienestandards zu gewährleisten, errichtet Baltard im Stadtzentrum zwischen 1852-1870 zehn neue Pavillons aus Glas und Stahl. Die moderne Architektur war Ausdruck der Angst vor Gesundheitsschäden, die in zahlreichen Berichten aus den 1830er-1850er Jahren auf den Konnex von räumlicher Enge und Unreinheit zurückgeführt wurden (vgl. Johnson 2004: 227f.). Eine ideologische Implikation war, dass die Bewohner der desolaten Behausungen für moralisch verwerflich und für Träger der Krankheiten gehalten wurden. Zola macht sich diese Diskurse zunutze und überträgt sie auf die Figuren aus Le Ventre de Paris bzw. die »Maigres« und »Gras«. Wie schon in La Curée verarbeitet er folglich die Erfahrungen der Haussmannisierung in der Literatur. Er entwirft einen modernen
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Chronotopos der Hallen im Sinne Bachtins. In ihm verdichten sich historische und mythische Zeit in einem Raum der Homophonie und Polyphonie. Homophon insofern, als hier die Rationalität, Paranoia und Klaustrophobie geschlossener Systeme zum Tragen kommt; polyphon insofern, als dieser geordnete Raum unter anderem durch die Stimmen Florents und Claudes unterminiert wird (vgl. Mitterand 2006: 315ff.). Zola diskutiert in der Exposition den schmerzhaften Erinnerungsprozess im Raum der Hallen am Beispiel Florents, bevor er dessen Position mit den Stimmen Claudes und Lisas konfrontiert. Während Florent und Claude die Polyphonie in der Symphonie der Hallen darstellen, unterstreicht Lisas Auftreten deren homophone Natur. Der Rhythmus der weiteren Seiten des ersten Kapitels passt sich der Handlung an und ergibt sich quasi natürlich aus dem Geschehen in den Hallen bei Tagesanbruch. Der zunehmenden Aktivität im Raum des Handels entspricht ein schnellerer Rhythmus auf Ebene der écriture.
6.2.1
Florents Eintritt in die Pariser Hallen: zur Verräumlichung kollektiver Erinnerung
Per zentripetaler Bewegung wird Florent dem Raum der Hallen einverleibt (vgl. Scarpa 2000: 114f.). Zola nutzt den ihm bekannten Ablauf der Ankunft der Waren am Morgen, um den Eintritt des Protagonisten in den Stadtraum zu strukturieren und die Raummuster der Händler zu präsentieren. Er übernimmt beinahe wörtlich das (auditive) Material, das er im Carnet des Arbeitsbuchs zu dem Zöllner – »gros, grand paletot, chapeau mou, favoris, une canne« (Car, Ventre: 364) – erfasst hatte: »›Allons donc, allons donc, plus vite que ça! Faites avancer la voiture…Combien avec-vous de mètres? Quatre, n’est-ce pas?‹« (VP: 607f.). Interpunktion und Intonation der Frage sind nur zwei der literarischen Techniken, um die Qualitäten mündlicher Kommunikation der Arbeiterklasse auszudrücken (vgl. Katner 2003: 48ff.).8 Sie trägt zur Authentifizierung der documents humains nach dem Postulat des Naturalismus bei (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Im vorliegenden Fall hat die absolute Perspektivierung in der Form des Dialogs zusätzlich den Effekt der Polyphonie, da sie den Bericht des Erzählers ablöst und sich selbstständig entfaltet (vgl. ebd.: 59). Das von Mme François koordinierte Abladen der Waren ist ein standardisiertes Verhalten in den Hallen: [E]lle [Mme François, J.K.] pria Florent de lui passer les légumes, bottes par bottes. Elle les rangea méthodiquement sur le carreau, […] dressant avec une singulière 8
Linda B. Katner untersucht in ihrem Artikel weitere Techniken zur Wiedergabe von Mündlichkeit: »The surprising orality of the text is achieved through punctuation, intonation, and phrasing, as well as the extensive and inspired use of popular language and the style indirect libre« (2003: 60, Hervorh. i.O.).
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promptitude tout un étalage, qui ressemblait, dans l’ombre, à une tapisserie aux couleurs symétriques (VP: 608). Florent wird auf diesen Seiten zum zentralen Ankerpunkt für die Produktion von Raum. Er folgt mechanisch dem Muster der Frau, ohne seine Umgebung identifizieren zu können: »Sa tête lui paraissait toute vide, et il ne s’expliquait pas nettement où il se trouvait. […] Il était au bord d’une large rue, qu’il ne reconnaissait pas« (VP: 608). Dass er den Umbau der Hallen nicht miterlebt hat, macht ihn zum perfekten »fonctionnaire« Zolas (Hamon 2011 [1983]: 22). Es ist so möglich, seine Befremdung sowie sein variables Verhalten angesichts der standardisierten Muster der Verräumlichung zu exponieren. Mehr noch: Der Protagonist wird zum Träger kollektiver Erinnerung an das alte Paris, das in seiner Wahrnehmung mit den neuen Formen der Hallen kollidiert. Zola zeichnet den Prozess räumlicher Simultaneität von Gegenwart und Vergangenheit kleinschrittig nach, wodurch der Leser Einsichten in die psychologische Dimension der Erfahrung von Stadt nach 1852 erhält. Florent versucht, von seinem Standpunkt aus die Umgebung zu überschauen. Er ist das deiktische Zentrum der Beschreibung, was durch Präpositionen und exponierte Perspektivierung angegeben wird: »Des lanternes, autour de lui, filaient doucement, s’arrêtaient dans les ténèbres […]. Florent, en tournant la tête, aperçut, de l’autre côté de ses choux, un homme qui ronflait« (VP: 608f.).9 Der Übergang vom ländlichen in den unbekannten Raum ist fließend, da er weiterhin über die gedämpfte Geräuschkulisse abgesteckt wird. Doch finden sich erste Anzeichen für die Besonderheiten der Stadt: »Des appels […], mettaient dans l’air encore endormi le murmure doux de quelque retentissant et formidable réveil, dont on sentait l’approche, au fond de toute cette ombre frémissante« (VP: 609). Trotz der Ruhe kündigt sich taktil und auditiv das bevorstehende Erwachen an. Die anonyme Wahrnehmungsinstanz (»on sentait«) löst die Erfahrung von Florent und bindet sich an den gesamten Ort – »gens et légumes en tas, attendant le jour« (VP: 609). Das Warten potenziert für den Leser das Ausmaß der sich ankündigenden Aktivität und löst eine angespannte Erwartungshaltung aus. Das Hyperbolische der Situation entspricht den »gigantesques pavillons, dont les toits superposés lui semblaient grandir, s’étendre, se perdre, au fond d’un poudroiement de lueurs« (VP: 609). Hier ist die Quelle des Lichts gefunden, das Florent auf dem Weg Richtung Stadt angezogen hatte. Da es ihm nicht möglich ist, den Ort zu benennen oder topographisch zu fassen, schweifen seine Wahrnehmungen in metaphorische Traum-Bilder ab:
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Weiter heißt es im Text: »Plus près, à gauche, il reconnut un enfant d’une dizaine d’années, assoupi avec un sourire d’ange, dans le creux de deux montagnes de chicorées« (VP: 609).
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Il rêvait, l’esprit affaibli, à une suite de palais, énormes et réguliers, d’une légèreté de cristal, allumant sur leurs façades les mille raies de flammes de persiennes continues et sans fin. Entre les arêtes fines des piliers, ces minces barres jaunes mettaient des échelles de lumière, qui montaient jusqu’à la ligne sombre des premiers toits, qui gravissaient l’entassement des toits supérieurs, posant dans leur carrure les grandes carcasses à jour de salles immenses, où traînaient, sous le jaunissement du gaz, le pêle-mêle de formes grises, effacées et dormantes. Il tourna la tête, fâché d’ignorer où il était, inquiété par cette vision colossale et fragile; et comme il levait les yeux, il aperçut le cadran lumineux de Saint-Eustache, avec la masse grise de l’église. Cela l’étonna profondément. Il était à la pointe SaintEustache (VP: 609). Florent bemerkt nur am Rande die konzeptuelle Anlage der Hallen. Sie sind »énormes et réguliers« und nehmen den gesamten Straßenabschnitt ein. Sein Interesse gilt vielmehr der lichtdurchlässigen Architektur, die mithilfe moderner Baumaterialen erzielt wird. In einer vertikalen Bewegung folgt sein Blick zuerst dem Verlauf des Lichts bis in das Dachgerüst, bevor die spärlich beleuchtete Stahlkonstruktion und das Innere der Gebäude betrachtet werden. Die geometrische Verteilung der Pavillons kontrastiert mit ihrer verschwommenen Form. Im Tagtraum Florents verflüchtigt sich die wahrnehmbare, materielle Gestalt der Hallen, sodass der Raum nur noch als Denkobjekt bzw. ein Palast aus Tausend und einer Nacht gegenwärtig ist. Trotz seiner Platzierung fühlt sich Florent entortet. Der Prozess der zunehmenden Abstraktion wird sprachlich reflektiert. Nach der Beschreibung der ländlichen Umgebung geht Zola über zur Beschreibung der städtischen Landschaft. Der »pêle-mêle de formes grises« gleicht der verschachtelten Satzkonstruktion. Die durch Partizipien und Relativpronomen eingeleiteten Nebensätze sind ähnlich wie die »minces barres jaunes« zwischen den Pfeilern im Verlauf des Satzes eingeflochten. Sprache und Stadtlandschaft beeinflussen sich gegenseitig. Oder um es mit Marin zu sagen: »[C]e n’est pas seulement le discours qui construit le paysage, mais celui-ci informe et révèle […] le lieu d’un travail de l’auteur sur le langage« (Marin 2003: 59). Florents Zustand zwischen Traum und Albtraum veranschaulicht nicht nur Zolas gespaltene Haltung gegenüber dem industriellen Fortschritt; in der Bemühung um eine angemessene Versprachlichung der Großstadterfahrung verschränkt der Autor reale und sprachliche Form. Es zeigt sich, dass der Naturalismus nicht nur mimetisch abbildet, sondern Realität literarisch verfügbar macht. Der Orientierungsverlust des Lesers in der verschachtelten Passage entspricht der Verwirrung Florents gegenüber der neuen Architektur. Die »vision colossale et fragile« und das Entgleiten realer Gegebenheiten kommen mit der Neuausrichtung im Raum (»Il tourna la tête«) abrupt an ihr Ende. An die Stelle von Traumbild und Metapher treten die metonymische Teilreferenz »Saint Eustache« und die Turmuhr
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
als zeitlicher Marker. Die Kirche ist ein Zeichen des alten Paris, das von den strahlenden Hallen symbolisch einverleibt wird (vgl. Zarifopol-Johnston 1989: 356).10 Das Wiedererkennen dieser Örtlichkeiten gibt Florent dann auch keine Sicherheit, sondern fungiert als Trigger für die Erinnerung an sein früheres Leben in der Stadt, wodurch konzeptueller und gelebter Raum eine Einheit bilden. In Proustʼscher Manier ruft die Sicht der rue Montorgueil, die Mme François erwähnt, die Ereignisse von 1851 per Analepse ins Gedächtnis. Sie komplettieren für den Leser die impliziten Andeutungen zum Bürgerkrieg während der Fahrt nach Paris und verbinden sich mit dem Schicksal Florents. Das Bild der Laterne als blutendes Auge, das Florent auf seinem Weg begleitet hatte, wird retrospektiv zum Indikator eines Traumas. Zola setzt das Erlebnis in Szene, indem er die Brutalität der Kämpfe zwischen Zivilbevölkerung und Soldaten schildert. Florents ruhige Bewegung durch die Menschenmenge nach dem Staatsstreich (»Il suivait le boulevard Montmartre, vers deux heures, marchant doucement au milieu de la foule«, VP: 610) hat ein folgenschweres Ende: Seine körperlichen Schäden, die ihm im Kontakt mit der »foule affolée […] avec l’horreur affreuse des coups de feu« (VP: 610) zugefügt werden, verblassen vor seinen seelischen Schäden. Das Gewicht des Körpers der Frau und das aus den zwei Einschusslöchern auf seine Hände fließende Blut brennen Florent das Bild der Toten sprichwörtlich ein (»et il avait celui-là, pour la vie, dans sa mémoire et dans son cœur«, VP: 611). Getrieben von diesem Anblick zieht Florent kopf- und ziellos durch die Stadt. Immer wieder taucht das Bild vor seinem inneren Auge auf, das Zola durch leicht variierte Formulierungen auch sprachlich vervielfältigt (»Jusqu’au soir, il rôda, la tête perdue, voyant toujours la jeune femme«, VP: 610; »Le soir, sans savoir comment, encore dans l’ébranlement des scènes horribles […]; il voyait les deux trous de la guimpe blanche«, VP: 610, 611). Die Erinnerung an das Blut hallt im Moment der Rückbindung an die Gegenwart weiter nach (»C’était le sang de la jeune femme«, VP: 611). Nur kurz wird die Melodie im Hintergrund angespielt – ein typisches Gespräch zwischen Mme François und der mère Chantemesse –, um Florents Verweilen in einem Zwischenraum zwischen Hier und Dort anzudeuten: »Florent, plein de ces souvenirs, levait les yeux sur le cadran lumineux de Saint-Eustache, sans même voir les aiguilles. [Il] se rappelait qu’on avait manqué le fusiller là« (VP: 611). Wieder ist es der Ort, hier Saint-Eustache, der Florent in die Vergangenheit überführt. Die zu Beginn des Romans initiierte Isotopie des Todes wird mit dem Blut 10
Ilianca M. Zarifopol-Johnston hält einerseits fest, dass die Kirche kein wirklicher Gegenpol der Hallen ist, sondern in die Strukturen des Markts integriert wird; sie betont aber andererseits, dass die Kirche als Zeichen für Florents Vergangenheit einen subversiven Eigenwert beibehält (vgl. Zarifopol-Johnston 1989: 356, 360f.). Agnès Peysson-Zeiss ist der Meinung, die Industrialisierung habe die Struktur und das Konzept der Architektur der Kirche grundsätzlich in Frage gestellt; die im Bild der Kirche materialisierte Form von Erinnerung gehe aber trotzdem nicht verloren (vgl. Peysson-Zeiss 1998: 104, 109ff.).
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der jungen Frau und der Todesdrohung weitergesponnen und überträgt sich in der Folge auf Florents Wahrnehmung der Hallen.11 Die Stationen der Deportation Florents, die Zola aus Büchern kennt, werden im Zeitraffer und in kurzen Sätzen mit wenigen Satzgliedern festgehalten. Die räumliche Enge (»un géolier le réveilla, une nuit, l’enferma dans une cour, avec quatre cents et quelques autres prisonniers«, VP: 612) und die leiblich spürbare Freiheitsberaubung (»menottes aux poignets, entre deux files de gendarmes«, VP: 612) sind nur zwei der vielen Strapazen der Reise. Die Beobachtung des Karnevals während der Ausreise ist an dieser Stelle aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen wirkt die Erwähnung der ausgelassenen Stimmung angesichts der tragischen Situation Florents zynisch (»C’était une nuit heureuse de carnaval«, VP: 612). Zum anderen verleiht das Fest der »Mi-Carême« dem Thema des Romans darüber hinaus Tiefe. Als Teil der Populärkultur zelebriert es die Pause in der Fastenzeit sowie die Subversion sozialer Ordnung und wurde seit dem Mittelalter bis Ende des 19. Jahrhunderts oft in den Markthallen abgehalten (vgl. Scarpa 2004: 103ff.). Der Zusammenhang von Fastenzeit und andauerndem Hungergefühl Florents ist offensichtlich. Die eigentliche Tortur der Reise potenziert Florents erlittenes Trauma zuerst rein körperlich und schließlich psychosomatisch. Hierdurch wird das materielle Hauptthema des Romans leitmotivisch fortgeführt und psychologisiert. Auch die Funktion des Fests kann auf die Rolle des »rois des Maigres« (VP: 805) in den Hallen übertragen werden, weshalb Marie Scarpa von der »carnavalisation du chronotope des Halles« spricht (Scarpa 2004: 103).12 Hatte Renée in La Curée das Thema des Ennui initiiert, entsteht auch das Thema des Ventre in der Wahrnehmung und den Kommentaren Florents. Er rückt die Einleitung des Romans durch die Erinnerung an das Fest in ein neues Licht und stattet die Analepse mit einer weiteren zeitlichen Ebene aus der näheren Vergangenheit aus: 11
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Die Tragik der Situation verstärkt sich durch die Erinnerung an die fünf getöteten Männer. Sie fallen räumlich auf die »radis roses« (VP: 611), die zwar die Farbe des Bluts tragen mögen, in ihrer Banalität aber die Brutalität der Szene konterkarieren. Dem Blut, das an Florents Händen klebt, kommt dabei eine besondere Bedeutung zuteil. Es ist einerseits ein visuelles und taktiles Zeichen des Todes und taucht deshalb neben der Farbe Rot mehrfach im Text auf. Andererseits bekommt es als Information auf dem Stück Papier einen juristischen Wert und wird zur Grundlage der Festnahme und Verurteilung Florents (»Jusqu’au matin, il fut traîné de poste en poste. Le chiffon de papier l’accompagnait«, VP: 611). Schon früh spricht Zola daher den Einfluss zirkulierenden Wissens im Raum an, das im Laufe des Romans zu einem wichtigen Thema werden wird. Marie Scarpa unterzieht den Roman Le Ventre de Paris einer ethnokritischen Analyse. Sie versteht darunter »une critique littéraire qui tente d’articuler une analyse interprétative de la littérature et les problématiques de la pensée ethnologique contemporaine« (Scarpa 2000: 9, 11). Sie interessiert sich besonders für die Struktur der Hallen und ihre Bevölkerung und liest den Kampf zwischen den Mageren und den Fetten als Kampf zwischen Carnaval und Carême (vgl. ebd.: 93ff.).
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Il fouillait ses souvenirs, ne se rappelait pas une heure de plénitude. […] Et il retrouvait Paris, gras, superbe, débordant de nourriture […]; La nuit heureuse du carnaval avait donc continué pendant sept ans. [E]t il lui semblait que tout cela avait grandi, s’était épanoui dans cette énormité des Halles, dont il commençait à entendre le souffle colossal, épais encore de l’indigestion de la veille (VP: 612). Zweifelsohne haben die Hallen ihre anfängliche Faszination eingebüßt. Der Bericht Florents führt das pejorative Adjektiv »gras« ein und vergleicht das Funktionieren des Marktes mit einem Verdauungsapparat. Dessen räumliche Ausmaße werden durch das Partizip »épanoui«, die »énormité« der Hallen und den »souffle colossal« bestimmt, wobei hierdurch auch eine mythische Note in die »implizite Theorie des intraliterarischen Raums« eindringt. Schon an dieser Stelle verbinden sich für den Leser die Opfer des Staatsstreichs der Vergangenheit mit der »indigestion de la veille«. Die Verbannung Florents aus dem Raum der Hallen gleicht damit der Verdauung von Nahrung (vgl. Scarpa 2004: 104).13 Durch das Eindringen der Vergangenheit in den Raum der Gegenwart verquicken sich zwei Erfahrungen, die – anders als die nostalgische Erinnerung Renées an ihre Kindheit – von Angst geprägt sind. Während Florents Unbehagen in den Hallen stetig zunimmt und mit seiner kontemplativ-immobilen Position am Boden korreliert, ist die traumatische Erfahrung in eine Bewegung und als Zeitraffer in die Haupthandlung eingebunden. Das Hungergefühl wirkt auf beiden Ebenen wie ein körperlich empfundenes Signal für Gefahr. Diese Wahrnehmung des Raums breitet sich in der Erinnerung Florents aus und fließt in die hieraus abgeleiteten, bedrohlichen Bilder des »persönlichen und gesellschaftlichen Haushalts« ein (espace perçu1 ∼ espace vécu1 ). Der Körper wird zum Brennglas der pathologischen Dimension des geschlossenen Raums der Hallen (vgl. Mitterand 2006: 324). Letztere fehlt in dem Dossier zum Roman und steigert sich bis zum Ende des ersten Kapitels. Und auch der ideologische Zweck der Hallen offenbart sich erst nach und nach und wird je nach Perspektive der Figuren unterlaufen oder bestätigt. Florent widersetzt sich den Hallen bereits durch sein Aussehen und seine unproduktive Haltung. Ihre geometrische Anlage verschwimmt in seiner introvertierten Wahrnehmung zu einem
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Obwohl nur noch wenige Zeichen an die Zeit vor der Konstruktion der Hallen erinnern, sieht Florent diese überall geschrieben, was seine Angst erklärt. Es verwundert nicht, dass Florent ein Misstrauen gegenüber Mme François hegt. Sie kennt sein Geheimnis nicht und liefert ihn dem Markt schließlich aus. Ihre Anklage des »diable de Paris« und ihr Erscheinen allerdings, das heißt ihre »grande figure calme« und ihre »yeux noirs d’une tendresse charitable« (VP: 613), beruhigen Florent. Für den Leser bestätigt sich die Vermutung, dass Mme François Florent wohlgesonnen ist und die Rolle einer Verbündeten einnimmt. Wie noch zu diskutieren sein wird, ist sie das Bindeglied zwischen Stadt und Land und der Ordnung der Hallen nur teilweise unterlegen.
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fast surrealen Raum (vgl. Mitterand 2006: 315).14 Er ist die lebende Erinnerung an eine Zeit, die Second Empire und Dritte Republik gern in Vergessenheit geraten ließen. Sein Eintritt in die Hallen verwandelt diese in einen Erinnerungsort und ruft heftige Reaktionen der Bewohner hervor, weshalb von einer Grenzüberschreitung die Rede sein kann.15
6.2.2
Die Hallen als gigantisches Stillleben und moderner Erlebnisraum
In Florents Wahrnehmung stehen die Hallen ganz im Zeichen der Funktionalität des konzeptuellen Raums nach Haussmann. Der Maler Claude verhält sich zwar ähnlich resistent gegenüber dem rationalen Prinzip der Stadtplaner, doch nimmt er die Hallen anders wahr. Der Fokus des Großteils des ersten Kapitels liegt daher auf der Wiedergabe einer Vielzahl individualisierter Sinneseindrücke, die im Verfahren der Montage eingefangen werden. Diese sorgt für die Modulation von Raum und Zeit im Roman. Sie basiert auf dem Einsatz von Leitmotiven bzw. optischen Dispositiven, die eine interne Kohäsion entstehen lassen, ohne die Dynamik der Wahrnehmung zu unterdrücken (vgl. Gural-Migdal 1997: 183). Die Leitmotive werden metonymisch verkettet, wirken aber niemals statisch. Zola nutzt verschiedene Techniken wie die Vervielfältigung von Bildern oder die Juxtaposition, was zu einem Eindruck großer Variabilität führt.16 Im Vordergrund stehen also nicht die Objekte im Raum, sondern ihre Inszenierung im Blick des Betrachters bzw. die »exploration physique sous forme de flânerie et de voyeurisme« (ebd.: 184). Dies ist auch im Ventre de Paris der Fall. Hier nimmt Claude die Rolle des Flaneurs in der Großstadt ein (»un flâneur habitué à toutes les rencontres de hasard«, VP: 618), der sich durch eine ganz spezifische Wahrnehmungsdisposition auszeichnet (vgl. Neumeyer 1999: 12f.). Inmitten der Menschenmenge ist sein Sehen dynamisch, seine Aufmerksamkeit für die Reize der Außenwelt gesteigert. Seine Bewegung in den 14
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Mitterand stellt in diesem Zusammenhang einen Vergleich zwischen »espace moderniste« und »espace postmoderne« bzw. »surréaliste« an (Mitterand 2006: 315). Die Funktionalität des modernen Raums werde im postmodernen Raum durch ein Gefühl des »flottement«, der »dispersion« und des Fließens ersetzt. Zola kündige insofern eine Entwicklung zu einer postmodernen Raumerfahrung an, als er Florents Wahrnehmung der Hallen mit träumerischen, surrealen Elementen unterlege (vgl. ebd.: 326). Florents Abschiebung auf die Teufelsinsel kann im erweiterten Sinn auch als eine räumliche Grenzüberschreitung gelten. Florents Distanz zum sozialen Raum der Hallen ist ein wichtiger Unterschied zu Renées Situation in La Curée, da die Protagonistin in die Gesellschaft voll integriert ist. Zola setzt die Technik der Vervielfältigung von Beginn des Romans an ein und zwar in den wiederkehrenden Blicken auf die Hallen. Der geschlossene Raum der Hallen öffnet sich durch die Serialität der Bilder, denn »l’image éclose n’a rien de figé ni de singulier, car elle est sérielle, toujours appelée à être multipliée, amplifiée, sa propagation [est, J.K.] infinie« (Gural-Migdal 1997: 186).
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Hallen ist ziellos, seine Nutzung der Zeit wenig effektiv. Aus diesem Grund gilt er als Müßiggänger, der sich der Betriebsamkeit des Marktes widersetzt (vgl. Neumeyer 1999: 12f.). Die Erkundung des Quartiers durch Florent und Claude erfolgt im Verfahren der tour. Sie kontrastiert mit der vorherigen Immobilität Florents. Zunehmende Mobilität und gesteigerte Sinneseindrücke sorgen für den Eindruck des Erwachens der Hallen. Aus dem dezenten Klangteppich der Nacht entwickelt sich peu à peu der akustische Höhepunkt der Exposition am Morgen. Zola montiert in einer wiederkehrenden Abfolge eine Vielzahl von Blicken auf die Hallen: Allgemeine visuelle und auditive Wahrnehmungen der Umwelt umschließen die Blicke des Erzählers oder Florents auf die Architektur der Hallen (vgl. Abb. 17). Sie werden mit den Beschreibungen der Nahrungsmittel komplettiert. Sinnliche Atmosphäre, Hallen und Waren sind somit die Leitmotive der Szene. Die Intensität der Außenreize nimmt in der Wahrnehmung Florents graduell zu – ein Verfahren, das Zola in der Szene im Café Riche aus La Curée bereits eingesetzt hatte. Der materielle Raum wird so ständig neu hervorgebracht. Im Moment der Klimax erreicht Florent das Herz der Hallen, die Metzgerei und seine Gegenspielerin Lisa, was deren Funktion als pivot aus dem Dossier einlöst.
Abbildung 17
Handlungsverlauf mit Sinneseindrücken und Gefühlen
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Claude darf inmitten der Menge, anders als es von einem typischen Flaneur bekannt ist, keine blasierte Attitüde einnehmen, da er Florent in Kontakt mit den verschiedenen Mitspielern im Raum bringen muss. Auf dem Gang durch das Quartier, das durch die Pavillons und die Straßennamen topographisch abgesteckt wird, werden so sukzessive Mlle Saget, die Fischverkäuferinnen Méhudins, der Weinhändler Lebigre, Lacaille, Alexandre, Marjolin und Cadine, Mme Lecœur, La Sarriette, Gavard und schließlich die Familie Quenu vorgestellt. Da Florent noch keine mentale Karte der Hallen verinnerlicht hat, folgt er dem Weg des Malers (»Il dut le suivre«, VP: 618; »Claude entra, traînant Florent à sa suite«, VP: 620; »Florent le suivait, s’abandonnait«, VP: 621). Die implizierte Kameraderie zwischen Florent und Claude täuscht jedoch nicht über eine unterschiedliche, subjektive Aneignung des Raums hinweg. Schon die ersten Bemerkungen Claudes machen seine Sicht auf die Hallen deutlich. Für den Maler sind sie kein Ort der Arbeit, sondern ein Anschauungsraum. »›Hein! les beaux légumes, ce matin! Je suis descendu de bonne heure, me doutant qu’il y aurait un lever de soleil superbe sur ces gredins de choux!‹; […] ›La nuit, elle est d’une couleur‹« (VP: 617, 618), äußert er sich. Der Erzähler mischt sich in die Wahrnehmung des Gemüses ein. Er hält die »régularité surprenante« des aufgereihten Blumenkohls fest und bemerkt die ästhetische Form des Gemüses, indem er es mit Brautsträußen vergleicht (»et les tas ressemblaient à des bouquets de marié«, VP: 618). Oder ist es doch Claude, der beobachtet? Im Anschluss heißt es nämlich: »Claude s’était arrêté, en poussant de petits cris d’admiration« (VP: 618).17 Auf jeden Fall ist es der Blick des Malers, in dem sich dann auch die materielle Gestalt der Häuser in der rue Pirouette verändert. Er personifiziert die Gebäude und erfasst sie spielerisch als »ventres de femme grosse« (VP: 618), deren »débandade de couleurs et d’attitudes« (VP: 619) ihn amüsieren. Florent lässt sich nicht auf das Assoziationsspiel ein. Im Gegenteil überkommt ihn beim Anblick des Ladenlokals Godebœuf ein Gefühl der Entwurzelung, da er diese nicht wiedererkennt (»[I]l examinait les pâtés d’épinards, de l’air désespéré d’un homme auquel il arrive quelque malheur suprême«, VP: 619). Die Wahrnehmung ein und desselben Ortes löst folglich bei den beiden Figuren vollkommen unterschiedliche Reaktionen aus. Während der Maler von den Waren in den Hallen inspiriert ist, ruft die Umgebung bei Florent ein Unwohlsein hervor.
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Die Unbeständigkeit der Erzählinstanz zieht sich durch die weiteren Passagen. Obwohl Claude anfangs die Wahrnehmung der Häuser vermittelt (»il montra, expliqua chaque maison«, VP: 618), fehlt in den folgenden Sätzen ein solcher Vermerk. Lediglich die Wortwahl bindet die Beschreibungen an den Maler, die aber genauso gut vom Erzähler ausgehen könnten: »Le bec de gaz en éclairait une, […] avec sa taille de vieille femme cassée et avachie, toute poudrée à blanc, peinturlurée comme une jeunesse« (VP: 618).
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Beide Reaktionen intensivieren sich in der Folge. Dies liegt weniger an der Beeinflussung durch den Raum der Hallen als an der Projektion der Gefühle der beiden Figuren auf die Gegebenheiten im Raum. Die Kluft zwischen Florent und den Hallen, die sich zuerst visuell im Nichterkennen des Raums aufgetan hatte, wird in einem zweiten Schritt durch taktile und gustatorische Wahrnehmungen vergrößert. In der Weinstube Lebigres trinkt Florent ein Glas Punsch »qui tombait dans son estomac vide, comme un filet de plomb fondu« (VP: 620f.). Dass der Erzähler die abgestandene Luft in dem Keller wahrnimmt (»l’odeur chaude et renfermée du vin«, VP: 620), verstärkt die Vorstellung des Geschlossenen in der »impliziten Theorie des intraliterarischen Raums«. Doch weitet der Wechsel von der figuralen zur aperspektivischen Vermittlung des Erzählers den Blick auf den Raum der Hallen direkt im Anschluss wieder (»Une lueur claire […] annonçait le jour«, VP: 621; vgl. Abb. 17). Die zunehmende Aktivität wird erneut auf drei Ebenen registriert: Nachdem erstens die Geräuschkulisse (»cette clameur roulante et montante«, VP: 621) wahrgenommen wird, fallen zweitens wieder die Konstruktion der Pavillons und drittens die Warenwelt ins Auge. Im Unterschied zur ersten Stufe ist die Betrachtung der Architektur zuerst allein Florent zuzuschreiben: Florent levait les yeux, regardait la haute voûte, dont les boiseries intérieures luisaient […]. [I]l songea à quelque ville étrange, avec ses quartiers distincts, ses faubourgs, ses villages, ses promenades et ses routes, ses places et ses carrefours, mise tout entière sous un hangar, un jour de pluie, par quelque caprice gigantesque. L’ombre, sommeillant dans les creux des toitures, multipliait la forêt des piliers, élargissait à l’infini les nervures délicates, les galeries découpées, les persiennes transparentes; et c’était, au-dessus de la ville, jusqu’au fond des ténèbres, toute une végétation, toute une floraison, monstrueux épanouissement de métal (VP: 621). Das intensivere Licht ist ein Zeichen für das diachrone Fortschreiten der Zeit am Morgen. Obwohl die Denotation der architektonischen Beschreibung vergleichbar ist mit dem »pêle-mêle de formes grises, effacées et dormantes« (VP: 609), den Florent beim Eintritt in die Hallen beobachtet hatte, ändert sich die konnotative Bedeutung. Aus dem Palast der Pavillons wird die »ville étrange« – die Welt der Hallen als konzeptuelle Miniaturform einer Stadt – und ein »Wald aus Pfeilern«. Im erweiterten Sinn kann in der Präposition »au-dessus« ein Hinweis für das Zusammenfließen der drei Raumebenen gesehen werden. Zola repräsentiert sprachlich die Überlagerung des materiell-konzeptuellen vom gelebten Raum: Die strukturelle Aufteilung der Stadt in Quartiers, Vororte etc. verliert sich unter der semantischen Decke, hier der dichten Vegetation. Der Leser erkennt hierin das Konkurrieren zwischen dem Plan der transparenten Stadt und der Opazität subjektiver Bedeutungszuschreibungen.
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Obwohl die Hallen weiter als Anschauungsobjekt fungieren, ändern sie sich im Übergang von der ersten zur zweiten Begegnung auf dem Gang durch das Viertel. Auch die Schilderung der Warenwelt läuft nach einem leicht variierten Prinzip ab: Florent befindet sich nun mitten auf der Straße (»rue couverte«, VP: 621; vgl. Abb. 17). Anstatt sich lediglich auf die Wahrnehmung einer Häuserreihe oder der Weinstube einzustellen, ist Florent jetzt mit einer Vielzahl von Impressionen konfrontiert. Das Durcheinander an Fahrzeugen, Menschen und Waren engt ihn körperlich ein (»Florent, pour passer, dut s’appuyer contre un des sacs grisâtres«, VP: 622) und entspricht der Unordnung des Wahrnehmungsvorgangs. Wieder ist nicht eindeutig, ob Florent oder der Erzähler den aus dem Sack strömenden Geruch von Seegras registriert (»une odeur fraîche d’algues marines«, VP: 622). Der Geruch hat die Funktion der Orientierung im Raum. Während der Seegeruch auf den Fisch-Pavillon hinweist, hüllt die »odeur exquise« (VP: 622) die Figuren ein, noch bevor der Ort als Blumenmarkt erkannt wird. Der Erzähler folgt der Wahrnehmung des Malers »[qui, J.K.] était ravi de ce tumulte« (VP: 622) und vergleicht den Anblick der bunten Blütenblätter im Licht der Kerze synästhetisch mit dem »chanson aiguë de couleur« (VP: 622). Er erweitert diese Atmosphäre der verschwommenen Sinnesreize taktil und olfaktorisch um die »tendresses de ce parfum« (VP: 622) und stellt ihr die »souffles âpres de la marée et […] la senteur pestilentielle des beurres et des fromages« (VP: 622) entgegen. So werden der Blumenmarkt und seine Verkäufer positiv, die Fisch-, Butter- und Käseabteilung negativ konnotiert. Dass Berührung und Geruch fast nie von Claude registriert werden, ist kein Zufall. Dem Auge des Malers obliegt das Festhalten visueller Reize: »Claude était ravi de ce tumulte; il s’oubliait à un effet de lumière, à un groupe de blouses, au déchargement d’une voiture« (VP: 622). Er sieht nicht die Nahrungsmittel, sondern »des natures mortes colossales« (VP: 623). Der Raum der Hallen wird in ein ästhetisches Laboratorium umfunktioniert, das zur Realisierung der »tableaux extraordinaires« (VP: 623) in den Formen moderner Kunst beitragen soll. Aus diesem Grund interessieren den Künstler in erster Linie die Perspektiven auf die Waren sowie ihre Anordnungen, nicht aber die ihm zur Gewohnheit gewordenen Gerüche (»Et le peintre ravi, clignait les yeux, cherchait le point de vue, afin de composer le tableau dans un bon ensemble«, VP: 624). Für ihn sind die Hallen ein offener Raum der künstlerischen Möglichkeiten – seine Blicke führen in die Höhe oder in die Weite: »Claude […] regardait en l’air maintenant, entre les hauts piliers, cherchant sur les toits bleuis, au bord du ciel clair« (VP: 625). Sie verschaffen ihm einen gesicherten Überblick über den Raum. Florent dagegen fühlt sich von den ungewohnten Reizen übermannt. Der Verlust der Vergangenheit, die Claude für obsolet erklärt, wird ihm schmerzlich bewusst und körperlich eingebrannt: »Florent écoutait, le ventre serré, cet enthousiasme d’artiste« (VP: 625). Er verweigert sich der Aufnahme der Außenreize: »Cette diablesse de soupe aux choux avait une odeur terrible […]. Florent tournait la tête,
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
gêné par ces tasses pleines« (VP: 624f.). Erst die Rückkehr zum Platz Saint-Eustache und die Anspielung auf das Gefühl von Geborgenheit in der »odeur balsamique« (VP: 626) der Natur wähnen Florent für kurze Zeit in Sicherheit. Die statische Position auf der Bank erlaubt die wiederholte Begutachtung des »cadran lumineux de Saint-Eustache« sowie den nächsten Akkord in der Symphonie der Hallen (vgl. Abb. 17). Das stärker werdende Licht verflüchtigt Florents Traum der Stahlkonstruktion als dichtem Wald und verfestigt dagegen die »masses géométriques, […] carrées, uniformes« (VP: 626) der Hallen. Diese homogene Struktur gibt Florent jedoch keinen Halt. Er erkennt in ihr das Prinzip einer machine moderne, quelque machine à vapeur, quelque chaudière destinée à la digestion d’un peuple, gigantesque ventre de métal […] d’une puissance de moteur mécanique, fonctionnant là, avec la chaleur du chauffage, l’étourdissement, le branle furieux (VP: 626). Wie schon in der vorherigen Begutachtung der Hallen bleibt Florent nicht bei deren äußerer Form stehen. Aus der Vegetation schält sich eine moderne Maschine hervor – Zeichen für die Verdrängung der Natur durch die Industrie im 19. Jahrhundert. Er geht nun einen Schritt weiter und versucht, das Funktionieren des »ventre« zu entschlüsseln. Die zu Beginn des Romans heraufbeschworenen Bilder des Todes und der Vergänglichkeit verdichten sich an dieser Stelle im Bild der zerstörerischen Maschine. Dass sich diese am Ende gegen sich selbst richtet, deutet das entropische Prinzip des Energieverlusts an (vgl. Tunstall 2004: 179f.).18 Es ist zu vermuten, dass der Erzähler die nötigen Schlüsse zieht und in der »digestion d’un peuple« das Schicksal des Protagonisten und des Second Empire antizipiert. Claudes Reaktion auf das vor ihm ausgebreitete Meer an Nahrungsmitteln könnte gegensätzlicher nicht sein (»Mais Claude était monté debout sur le banc, d’enthousiasme«, VP: 626). In die Beschreibung des Gemüses mischen sich einerseits explizit Begriffe der Malerei, so zum Beispiel in folgendem Satz: »Le jour se levait lentement, d’un gris très doux, lavant toutes choses d’une teinte claire d’aquarelle« (VP: 626); andererseits entlehnt Zola auch implizit die Mittel der Malerei für sein Schreiben (vgl. Prendergast 1993: 66). Ganz klar dominieren 18
Kate E. Tunstall vergleicht die Tableaux im Ventre mit Stillleben und kommt zu dem Schluss, dass diese den moralisch kodifizierten, holländischen Stillleben aus dem 17. Jahrhundert näherstehen als jenen aus dem 19. Jahrhundert, denen diese Ebene fehle (vgl. Tunstall 2004: 178). Sie erkennt außerdem in der ersten Beschreibung der Metzgerei eine Rokoko-Ästhetik, durch die eine Verbindung zwischen Ancien Régime und Second Empire gezogen werde, und findet in Florents Blick auf die Hallen Vanitas- und Memento-Mori-Elemente der Fäulnis und der Zerstörung (vgl. ebd.). Hierauf ist noch einzugehen. Auf den Konnex von Naturalismus und Malerei im Ventre verweisen zudem Matthews (1961), Barrett (1988), Dziurzynski (2000), Hopkins Butlin (1992) und Jousset (2010, 2011). Die Maschine ist ein üblicher Topos in der Literatur Zolas (vgl. Noiray 1981).
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besonders in zahlreichen Farbadjektiven visuelle Eindrücke, die sich über die ganze Passage erstrecken und von der teleskopischen auf die mikroskopische Ebene wechseln: Les salades, les laitues, les scaroles, les chicorées […] chantaient toute la gamme du vert […]. Mais les notes aiguës, ce qui chantait plus haut, c’étaient toujours les taches vives des carottes, les taches pures de navets, semées en quantité prodigieuse le long du marché, l’éclairant du bariolage de leurs deux couleurs. […] Et le vernis mordoré d’un panier d’oignons, le rouge saignant d’un tas de tomates, l’effacement jaunâtre d’un lot de concombres, le violet sombre d’une grappe d’aubergines, çà et là, s’allumaient (VP: 627). Die intuitiv festgehaltenen Impressionen aus den Carnets (»Le soleil sur les légumes. Flamboiement«, N.a.f. 10338, Ventre: fo 16) werden im Roman zum seitenlangen Thema, das auch die ersten, kurzen Schilderungen der Nahrungsmittel übersteigt. Es bietet Zola Raum für die Diskussion des Verhältnisses von Kunst und Literatur. So entsteht vor den Augen des Rezipienten ein literarisch produziertes Gemälde, in dem topographische Anhaltspunkte von visuellen Effekten ausgehebelt werden. Es mischt sich jedoch erstens eine Art »Farbsymphonie« in den Text, die hörbar zu werden scheint (»chantaient toute la gamme du vert«; »les notes aiguës«); zweitens kann die Nahrung entweder visuell oder gustatorisch registriert werden, was zu der Konfusion der Erzählperspektive passt.19 Die Schilderung sinnlicher Wahrnehmung strukturiert aber nicht mehr nur den konzeptuellen Raum auf der Ebene des Inhalts; die Sinne werden vielmehr zu einer stilistischen Größe auf der Ebene des Text-Raums. So verweisen die Informationen für den Leser mal mehr auf das reale Paris (extraliterarische Ebene), mal mehr auf die Besonderheiten auf formaler Ebene (intraliterarisch). Der Leser schwelgt in dem sich verselbstständigenden Text-Raum poetischer Intuition, der dann aber doch durch den logischen Aufbau der Tableaux an die Realität rückgekoppelt wird.20 Dies bildet den Übergang zu der nun intensivsten Reaktion Florents auf Hallen und Nahrung: »Florent souffrait. Il croyait à quelque tentation surhumaine. Il ne
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Christopher Prendergast gibt in diesem Kontext zu bedenken, dass Claude die verschiedenen Waren auf den Straßen von der Bank aus nicht erfassen könne und sich der Erzähler in die Beschreibungen schleicht. Ebenso verweist er auf den Gebrauch der erlebten Rede in dem Satz »C’était une mer« (VP: 626), der folglich sowohl Claude als auch dem Erzähler zugerechnet werden könne (vgl. Prendergast 1993: 68). Zola vermengt in diesen Beschreibungen denotative und konnotative Bedeutungen. Obwohl Objekte des Alltags inszeniert werden, verlieren sie durch die konnotative Aufladung ihre Alltäglichkeit. Robert Lethbridge schlussfolgert, dass Zola den Impressionisten nur bis zu einem gewissen Punkt folgt: Er durchbricht mithilfe von Detailaufnahmen die Gesamtschau des Bildes, rehabilitiert aber ebenso geometrische Perspektiven sowie die Materialität der Dingwelt (vgl. Lethbridge 2007: 83; vgl. auch Kröger [i. Ersch.]).
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
voulait plus voir, il regardait Saint-Eustache, posé de biais, comme lavé à la sépia sur le bleu du ciel« (VP: 628). Die sichere Betrachtung des Geschehens aus der Ferne geht erneut über in die von Widersprüchen durchzogene »vue immanente, du vécu de la ville, la véritable expérience d’habiter la ville et d’y souffrir« (Prendergast 1993: 67). Florents Leiden potenziert sich, wird unerträglich (»C’était l’agonie«, VP: 632). Er verweigert nun vollständig die Wahrnehmung und ergreift die Flucht, nachdem ihn Claude verlassen hat. Sein Irrgang durch den Raum spiegelt den Höhepunkt der Symphonie in den Hallen (vgl. Abb. 17). Sie verwandeln sich für Florent in einen Raum der Überwachung, der komplett ausgeleuchtet und von Gendarmen kontrolliert wird: »Le jour grandissait, on pouvait le voir maintenant« (VP: 629). Florent fühlt sich nun dauerhaft interpelliert, das heißt unter ständiger Beobachtung: »Et les coups réguliers des sergents de ville, cet examen long et froid de la police, le mettait au supplice« (VP: 629). Er hat Angst davor »de sentir les mains rudes des sergents de ville le prendre« (VP: 630). Hinzu kommt die sinnlich intensive Atmosphäre, die sich Florents Wunsch nach Introspektion widersetzt. Sei es in den »enseignes violentes […] aux grosses majuscules rouges ou noires« (VP: 628), den »trois rues du carrefour […] encombrées de voitures de toutes sortes« (VP: 630), dem »pêle-mêle des marchandises« (VP: 630) oder der »odeur fade de la boucherie« (VP: 630) und der »odeur puissante des feuilles écrasées« (VP: 632). Florents Reflexion wird zugunsten der evokativen Wahrnehmung außer Kraft gesetzt. Seine Sinne werden überstrapaziert: »Aveuglé, noyé, les oreilles sonnantes, l’estomac écrasé par tout ce qu’il avait vu […] Florent se heurtait à mille obstacles, […] il étouffait dans l’odeur« (VP: 633). Er ist nicht mehr in der Lage, die Außenreize kognitiv zu verarbeiten. Die nautische Lexik (»le flot«, »ce fleuve«, »la marée«, VP: 631, 632) überträgt sich auf die moderne Großstadt: »La mer continuait à monter. Il l’avait sentie à ses chevilles, puis à son ventre; elle menaçait […] de passer par-dessus sa tête« (VP: 633). Sie droht Florent wie eine Naturgewalt zu überfallen. Die Geräuschkulisse tritt in den Vordergrund und wird zum eigenständigen Thema, das nicht nur den aufsteigenden Rhythmus des Kapitels, sondern des gesamten Romans reflektiert. Florent knüpft an seine Beobachtung der »machine moderne« an und dekliniert diese weiter aus: »Maintenant il entendait le long roulement qui partait des Halles. Paris mâchait les bouchées à ses deux millions d’habitants. […] Bruit de mâchoires colossales, vacarme fait du tapage de l’approvisionnement« (VP: 633). Der Zustand der brennenden Stadt ist gleichzeitig der ekstatische Höhepunkt des Liedes der Hallen und Grenzpunkt der sprachlichen Benennbarkeit der Entropie: Ce fut alors une cité tumultueuse dans une poussière d’or volante. […] [L]a ville entière repliait ses grilles; les carreaux bourdonnaient, les pavillons grondaient; toutes les voix donnaient, et l’on eût dit l’épanouissement magistral de cette phrase que Florent, depuis quatre heures du matin, entendait se traîner et se
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grossir dans l’ombre. A droite, à gauche, de tous les côtés, des glapissements de criée mettaient des notes aiguës de petite flûte, au milieu des basses sourdes de la foule. C’était la marée, c’étaient les beurres, c’était la volaille, c’était la viande (VP: 633). Florents zentrale Position im Raum entspricht seiner Funktion als zentrale Instanz der Wahrnehmung – die verschiedenen Stimmen der Hallen und die gleißende Helligkeit des Lichts dringen auf ihn ein. Auf ähnliche Weise fordert Zola den Leser heraus. Dynamik und Komplexität der Beschreibungen der Waren nehmen bis zum Lied der Hallen zu, sodass sich auch eine Entropie der écriture einstellt (vgl. Prendergast 1993: 70). Die überzeichnete Sprache findet ihr Pendant im gesättigten Zustand Florents. Zola führt am Beispiel Florents eindrucksvoll die Bedingungen der Wahrnehmung im Haussmann-Paris vor. Nur das geschulte Auge des Malers Claude ist in der Lage, die Mannigfaltigkeit der Reize perspektivisch zu ordnen. In diesem Sinne könnte mit Walter Benjamin gesagt werden, dass Zola die mangelhafte Überführung einer Vielzahl von »Schocks« in eine sinnhafte und mitteilbare Form nachvollzieht. Verändertes Tempo und veränderter Raum in der Stadt beeinflussen den »winzige[n], gebrechliche[n] Menschenkörper« (Benjamin 1969: 386) derart, dass dieser sein Bewusstsein als Schutzschild gegen die zahlreichen Impressionen einsetzt. So reduzieren sich ehemals bedeutungsvolle und kollektiv geteilte »Erfahrungen« zu kurzweiligen »Erlebnissen« (vgl. Highmore 2002: 66ff.). Florent bleibt einer Vergangenheit verhaftet, die – wie die Kirche Saint-Eustache – im Schatten der Moderne steht und nur noch schwer in die Gegenwart übersetzt werden kann oder soll. Anders als bei den zahlreichen Bewohnern der Hallen ist sein Bewusstsein beim Eintritt in die Hallen noch nicht abgestumpft. Er versucht, aus den Eindrücken des Marktes Bedeutung zu ziehen, muss sich am Ende aber der Erlebnishaftigkeit beugen. Allerdings kann von einer Determinierung im üblichen Sinne keine Rede sein. Florent und Claude positionieren sich außerhalb der sozialen Praxis in den Hallen und unterwerfen sich den Konzeptionen des Raums nicht. Florent stillt seinen Hunger genauso wenig an der Überfülle wie Claude, der sich hier nur visuell sättigt (»Puis, je déjeune ici, par les yeux au moins, […] les gredins de bourgeois mangent tout ça«, VP: 623f.). Die Hallen sind mehr als ein unbelebtes Produkt der Industrialisierung – sie sind »un discours vivant, […] un modèle offert non seulement aux concepteurs des espaces sociaux […], mais aussi aux artistes: la nouvelle idée esthétique par excellence« (Mitterand 2006: 320). Die Interpretation des Raums durch die Figuren findet sich ebenso auf der Ebene des Text-Raums. Es ist interessant, dass Zola dabei auf Verfahren zurückgreift, die Baudelaire vor ihm und Benjamin nach ihm als geeignete Mittel der Produktion von Erfahrung bezeichnen: die Filmmontage und das Prosagedicht (vgl. Highmore 2002: 68ff.). Die Serialität
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der Leitmotive sorgt bei Zola für eine Balance zwischen Kontinuität und Transformation, das Bild des Meeres verbindet sich laut Christopher Prendergast »aux rythmes et tonalités d’un grand poème en prose« (1993: 69). Wenn Benjamin dann noch den Einsatz von Haptik im Film nennt, um die körperliche Erfahrung in der Stadt zu repräsentieren, kommt der Leser nicht umhin, diese Idee bereits in Zolas Ventre in der ganz bewussten Thematisierung sinnlicher Wahrnehmung bzw. des beanspruchten Körpers Florents realisiert zu sehen (vgl. Benjamin 1969: 171).
6.2.3
Die Mechanismen des panoptischen Raums
Bislang lag der Schwerpunkt der Raumdarstellung auf der Topographie und Materialität der Hallen sowie auf der Metapher des Bauchs und der Maschine, die den Markt als ein prototypisches Symbol der modernen Stadt kennzeichnete. Im Folgeteil wird diese Makrogeographie mit der Mikrogeographie des Alltags in den Hallen in Einklang gebracht und das Thema der Symphonie, der Kampf zwischen »Maigres« und »Gras« ausgebaut, um die Kontrollmechanismen im Raum zu analysieren. Die Stimmen der beiden Außenseiter, Florent und Claude, treffen auf Gegenspieler, die trotz unterschiedlicher Nutzung der Hallen eine geschlossene Gemeinschaft bilden und das kollektive Ziel der Prosperität anstreben. Interessant ist, dass Zola Diskurse der Zeit nutzt und unterminiert, um diese Gemeinschaft zu charakterisieren. Die Hallen galten als von Frauen dominierter Raum und so sind es im Roman auch die Händlerinnen, Lisa an der Spitze, die Macht über Florent und den Markt ausüben (vgl. Johnson 2002: 35). Immer wieder kommt es dabei allerdings zu internen Machtkämpfen um die Kontrolle des Raums. Zola bringt den Leser damit stärker in Kontakt mit dem Funktionieren der Raumpolitik und ihren ideologischen Implikationen. Er verdeutlicht, inwiefern Strategien der Inklusion und Exklusion die Reproduktion homophoner, räumlicher Ordnung sichern sollen. Das Verhalten der Bewohner produziert auf diese Weise einen intraliterarischen, konzeptuellen Raum, der zahlreiche Züge eines panoptisch organisierten Territoriums trägt. Nicht nur die topographischen Grenzen der Hallen, auch die Zentralisierung der Macht, die hegemoniale Vorstellung der Universalität der eigenen kulturellen und politischen Werte sowie der Einsatz von Gewalt und Überwachung zur Sicherung des Status quo legitimieren diese Herleitung (vgl. Dufour/Mozet 2004: 8ff.). Zola greift für die Inszenierung des Territoriums auf drei topologische Muster aus dem Dossier zurück und richtet sie an der Metzgerei als chronotopischem Ort der Begegnung aus: Die Funktion Lisas als pivot der Handlung, die Rivalität zwischen den Frauen des Quartiers und die Zirkulation von Wissen zwischen den Figuren. Florent wird in diesem Szenario zum Gradmesser der Machtverhältnisse, da sein Auftreten die Logik des Panoptischen überhaupt erst sichtbar macht und herausfordert. Hieraus resultiert eine inhaltli-
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che Spannung zwischen Ordnung und Unordnung, Homophonie und Polyphonie, die Zola formal vor allem mit den Beschreibungen verschmelzen lässt. Dass sich Florent unrechtmäßig in Paris aufhält und eine falsche Identität annimmt, macht ihn zur Gefahr für die transparente Administration der Stadt. Selbst sein alter Freund Gavard – Gegner des Second Empire – reagiert misstrauisch auf ihn: »[Q]uand il sut qu’il était rentré en France avec de faux papiers, il prit toutes sortes d’airs mystérieux et graves. Il voulut marcher devant lui, […] pour ne pas éveiller l’attention« (VP: 635). Hinzu kommt sein mageres Aussehen, das die Aufmerksamkeit der Bevölkerung bzw. der Familie Quenu auf ihn zieht. Sein Körper wird zum Zeichen der Andersartigkeit und sozialen Armut. Zola nutzt die Diskurse über den Konnex von Hygiene und moralischer Integrität und projiziert die Ängste der Bourgeoisie vor Degeneration und Aufruhr der Unterschicht auf Florent. Die vor Gesundheit strotzenden Quenu (»Ils suaient la santé«, VP: 639) betrachten ihren Verwandten mit Argwohn: »[I]ls le regardaient avec l’étonnement de gens très gras pris d’une vague inquiétude en face d’un maigre. Et le chat lui-même, dont la peau pétait de graisse, […] l’examinait d’un air défiant« (VP: 639). Sie setzen unbewusst die Überwachung fort, der sie durch die Präsenz der Gendarme im Alltag selbst ausgesetzt sind. Lisa wird zur Inkarnation der Vorstellung von Reinheit und Anstand – sie erscheint Florent »très propre [et, J.K.] de grande honnêteté« (VP: 637, 638). In einer Analepse werden der räumlich fixierte Aufstieg Lisas und der simultane Abstieg Florents wiedergegeben. Nachdem letzterer durch sein revolutionäres Ideengut in die Hände der Polizei fällt, begibt sich Quenu in die Obhut seines Onkels, des Metzgers Gradelle. Dieser stellt die adrette Lisa ein, um sein Geschäft aufzuwerten. Sie gewinnt zuerst den Laden, später den gesamten Markt für sich: »[L]a maison lui appartenait. Gradelle, Quenu, jusqu’au dernier des marmitons« (VP: 647). Nach dem Tod des Onkels wird sie zur treibenden Kraft des Umzugs der Metzgerei in eine der neuen Straßen der Hallen. Der Grund hierfür ist ihre Abneigung gegenüber dem alten Paris und seiner Bewohner: »La rue Pirouette blessait ses idées de propreté, son besoin d’air, de lumière, de santé robuste« (VP: 652). Ihr Plan, den Raum von einem strategisch günstigen Standort des Ladens an der rue Rambuteau aus zu steuern, geht später auf (»[Lisa] en avait trouvé une, à deux pas, rue Rambuteau, située merveilleusement«, VP: 652). Die Nähe zur Raumideologie der Stadtplaner unter dem Motto von circulation, assainissement und embellissement ist unverkennbar. Stehen die Hallen metonymisch für Paris, ist die Installation der neuen Metzgerei als Umsetzung der Pläne Haussmanns bzw. Nachvollzug der Geschichte der Stadt zu bewerten. Die Beobachtungen Florents und des Erzählers liefern ein detailliertes Bild des Ladens und ihrer Besitzerin. Sie haben einerseits die Funktion, in verdichteter Form die Reichhaltigkeit des Marktes und die reibungslosen Bewegungen der Händler in ihrem Milieu zu spiegeln. Andererseits scheint die dichte Sprache ihren
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kompositorischen Rahmen zu übermannen, was zu der Idee des Überfließens der Hallen passt (»Les Halles débordaient«, VP: 630). Die Metzgerei wird im Höhepunkt der Szene zuerst durch Florent perspektiviert: »[Il] n’avait d’attention que pour la grande charcuterie, ouverte et flambante au soleil levant« (VP: 636; vgl. Abb. 17). Die folgende Wahrnehmung ist unmarkiert, sodass unklar bleibt, wer die visuellen Eindrücke schildert. Der Blick fällt auf die »grosses lettres d’or« (VP: 636), deren visuelle Form typographisch durch Großbuchstaben wiedergegeben wird. Danach werden die Malereien auf den Seitentafeln betrachtet. Die wahrnehmende Instanz erkennt in ihnen Stillleben, die die Form der Warenauslage »dans ce cadre aimable« (VP: 636) vorweggreifen. Alles deutet auf eine klassische Komposition hin – die Auslage wird konsequent von unten nach oben und von vorn nach hinten abgeschritten: D’abord, tout en bas, contre la glace, il y avait une rangée de pots de rillettes […]; Les jambonneaux désossés venaient au-dessus (VP: 636); Ensuite arrivaient les grands plats (VP: 636); Enfin, tout en haut, […] des colliers de saucisses […] pendaient, symétriques […]; tandis que, derrière, des lambeaux de crépine mettaient leur dentelle (VP: 637). Schnell wird allerdings klar, dass die Ordnung der Auslage durch die Fülle an Dingen herausgefordert wird: »C’était un monde de bonnes choses, de choses fondantes, de choses grasses« (VP: 637). Ständig wechselt die kontrollierte Materialität der Nahrungsmittel mit dem Exzess ihrer Konnotationen – »rien ne se perd, tout signifie ou symbolise« (Dufour 1998: 299; vgl. Scarpa 2000: 51). Der Farn dekoriert die Schüsseln wie das Grün von Blumensträußen, die zusammen mit den Kränzen aus Würstchen die »chapelle du ventre« schmücken (VP: 637).21 Die Denotate der Ware hören allerdings im Laufe der Beschreibung auf, ihre realen Vorbilder zu evozieren; es entsteht ein Mehrwert, der erst noch symbolisch funktionalisiert wird, sich im letzten Satz der Passage aber gegen den mimetischen Wert der Sprache richtet. Im Text heißt es: »Et là, sur le dernier gradin de cette chapelle du ventre, […] le reposoir se couronnait d’un aquarium carré, garni de rocailles, où deux poissons rouges nageaient, continuellement« (VP: 637). Die Wurstwaren können noch als Symbol für die Überfülle und den Reichtum des Kleinbürgertums gelesen werden und schaffen in der Funktion des effet de réel einen direkten Zugang zur Realität. Obwohl die Aufzählung ad infinitum weitergeführt werden könnte, liefert die Warenauslage im Fenster fast organisch den Vergleich mit dem Gemälde, das die Be-
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Kate E. Tunstall erinnern diese Elemente an die Ästhetik des Rokokos aus dem 18. Jahrhundert, die Florents Nostalgie für vergangene, bessere Zeiten zum Ausdruck bringen und den Impressionismus Claudes unterlaufen soll (vgl. Tunstall 2004: 183).
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schreibung begrenzt.22 Die Detailaufnahme der lebendigen Fische wirkt in diesem Stillleben jedoch deplatziert. Nur schwer lässt sie sich in das künstlerische Ideal eines kohärenten Ganzen einordnen. Die Vielzahl bedeutsamer Details verliert im Bild der Fische ihren Tiefgang, ihr simples Dasein gerät mit der ausschmückenden Form des Satzes in Konflikt.23 In der »impliziten Theorie des intraliterarischen Raums« treibt sich daher ein Spalt in die Einheit von sinnlicher Existenz der Fische im Aquarium und konzeptuellem Begreifen. So bewegt sich der Satz für den Leser »continuellement« (VP: 637) – und zwar wie die Bewegung der Fische – zwischen der bloß visuellen Wahrnehmung der Tiere und ihrer Semantisierung im Text. Selbst wenn die materielle Dingwelt in die Bedeutungsebene der Passage assimiliert wird, erschließt Zola keine neue Bedeutung, sondern wiederholt Bekanntes. Fische und Aquarium stigmatisieren die prahlerische Zurschaustellung des Wohlstands, die Tiere im Gefäß stehen für Florents Situation in den Hallen.24 Die Metzgerei wird erzähltechnisch und inhaltlich doppelt konnotiert. Auf der einen Seite ist sie das moralische und geographische Zentrum des Quartiers. Sie lädt zur Einkehr und Betrachtung ein: »Elle était une joie pour le regard. Elle riait, toute claire, avec des pointes de couleurs vives qui chantaient au milieu de la blancheur de ses marbres« (VP: 636). Das rote Fleisch, die Schweineköpfe und Blutwürste verleihen ihr auf der anderen Seite aber einen bedrohlichen Unterton (vgl. Scarpa 2003: 66; vgl. auch Tunstall 2004: 179). Der Laden birgt trotz seiner Transparenz eine unkontrollierbare Fülle und Dichte, die zunehmend sinnentleert wirkt. Florent durchschaut dies. Er reagiert stark auf den Anblick Lisas und des Ladens: »Florent sentit un frisson à fleur de peau; et il aperçut une femme, sur le seuil de
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Für Mihaela Marin konstituiert die Zola’sche Beschreibung daher »un terrain où la subjectivité créatrice et la force structurante de la pensée rencontrent, à travers l’écran de la méthode, à mi-distance, le matériau non-structuré de la réalité« (Marin 2003: 67). Philippe Dufour leitet hieraus ab, dass das Detail einem »excès de réel« gleichkommt– »il dit l’insignifiance, c’est sa provocation. Absurde, […] [i]l est inassimilable. [L]e réel ne peut plus être sublimé en une signification. Le détail, c’est la matière, l’apparence au premier plan« (Dufour 1998: 296). Indem Zola die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt sowie Materialität und Bedeutung thematisiert, begibt er sich in die Nähe moderner Literatur, die diese Kluft fokussieren und vergrößern wird (vgl. Eagleton 2009: 127). Terry Eagleton diskutiert in einem Aufsatz Fredric Jamesons Modernist Papers (2007) und erkennt, dass sich Jameson mit dem »rift between being and meaning, existence and signification« befasst »which the book rightly sees as characterizing modernism as a whole« (Eagleton 2009: 127). Er führt aus: »That usual suspect, the commodity, at once a fetishized bit of material and a purely immaterial form of exchange, can be discovered lurking at the root of this great schism. […] The market is composed of both appetite and abstraction – of that which cannot rise above the brutally sensual and specific, and that which can tolerate no particle of matter in its make-up« (ebd.). Diese sowohl sehr materielle als auch sehr abstrakte Seite der Ware übersetzt bereits Zola in die Spannung von Form und Inhalt.
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la boutique, dans le soleil« (VP: 637). Es ist seine »vision déstructurant« (Mitterand 2006: 326), die sich sukzessive verengt – von den Hallen auf die Metzgerei und schließlich die Ladenbesitzerin – und hinter die hübsche Fassade schaut. Die erste Beschreibung Lisas folgt direkt auf die der Metzgerei, die zweite Beschreibung etwas später in der Analepse. Sie gleichen einander in Aufbau, Sprache und Inhalt derart, dass sie für einen Gesamteffekt simultan gelesen werden müss(t)en. Dass Lisa die Drahtzieherin der Macht im räumlichen Knotenpunkt der Hallen ist, zeigt schon ihre anfängliche Position auf der Türschwelle. Wie bei der Betrachtung der Metzgerei wird sie erst in der Gänze, dann im Detail betrachtet: »Elle mettait un bonheur de plus, une plénitude solide et heureuse, au milieu de toutes ces gaietés grasses. C’était une belle femme« (VP: 637). In der zweiten Beschreibung lautet es: »La belle Lisa resta debout dans son comptoir, la tête un peu tournée du côté des Halles; et Florent la contemplait, muet, étonné de la trouver si belle« (VP: 666). Lisa wird zur metonymischen Erweiterung der Hallen, des schönen Ladens und rosafarbenen Wurstware: Aus den »tons roses de confitures« (VP: 636), den »plats de porcelaine blanche« (VP: 666) und den »choses grasses« (VP: 637) wird Lisas »chair paisible [qui, J.K.] avait cette blancheur transparente, cette peau fine et rosée des personnes qui vivent d’ordinaire dans les graisses et les viandes crues« (VP: 637). Mehr noch: In der Wahrnehmung des Lesers stellt sich eine ständige Metamorphose von Körper und Nahrung ein, die der Text-Raum wie Umkehrbilder aus der Kunst produziert.25 In einem nur leicht veränderten, syntaktischen Rahmen taucht nicht nur die fast identische Lexik zum Aussehen sowie der Art der Ware und der Figur auf, sondern auch deren symbiotisches Verhältnis auf semantischer Ebene (vgl. Steinhauser 2006: 55, 64). Auf diese Weise scheint Lisa im Raum der Hallen vervielfacht und omnipräsent zu sein. Florent sieht Lisa in der zweiten Passage »au-dessus des viandes du comptoir« (VP: 666). Vor ihr breiten sich wie im Hause Renées die Reichtümer aus, »sous sa main« befindet sich die Ware (VP: 666). Sie erfüllt die Norm von Reinheit und Anstand – »Lisa avait l’air comme il faut« (VP: 656), »[lʼ]honnêteté de Lisa était un des actes de foi du quartier« (VP: 678) heißt es an anderer Stelle – und beobachtet unablässig den Raum der Hallen: »[E]lle tourna la tête de nouveau, elle se re25
Weiter sind auch die »carreaux blancs et roses« (VP: 653) in Einklang mit der »chair blanche et rosée« (VP: 653) Lisas (vgl. Etkind 1968: 211). Efim Etkind beobachtet die stilistische Verquickung von Milieu und Figur, geht aber nicht auf die Tradition der Umkehrbilder ein. Steinhauser analysiert außerdem die Beschreibung der Sarriette und ihres Früchtestands und entdeckt hier ebenso multifunktionale Umkehrungen (vgl. Steinhauser 2006: 58, 62, 65). Der Einsatz der Umkehrbilder resultiert in einer semantischen Polyvalenz, da der Leser die Metamorphosen permanent entschlüsseln muss: »En somme, ce qui résulte de la superposition linguistique de deux descriptions parallèles est un ›tableau‹ oscillant en métamorphose continuelle, jamais achevée, une devinette dont la solution définitive reste toujours en suspens« (ebd.: 69).
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mit à regarder au fond des Halles« (VP: 667). Die Verkettung von Figur und Raum soll einen Eindruck von Harmonie erzeugen. Nachdem in La Curée der Gewinn der Haussmannisierung noch ausstand, ist für Lisa die Utopie der transparenten Stadt Realität geworden. Sie selbst wird zum Sprachrohr der Ideologie der Bourgeoisie und verteidigt in ihrem Territorium die für universell gehaltenen Werte: [T]out le monde doit travailler pour manger; […] chacun est chargé de son propre bonheur; […] on fait le mal en encourageant la paresse; enfin, […] s’il y a des malheureux, c’est tant pis pour les fainéants (VP: 647). [L]a meilleure façon de s’endormir dans une tiédeur heureuse est encore de se faire soi-même un lit de béatitude (VP: 648). Ganz klar kommen hier individualistische Tendenzen zum Vorschein, die sich erst im 19. Jahrhundert durchsetzen. Gemäß diesem Denken mangelte es Renée für eine wirkliche Selbstentfaltung an Produktivität; Lisa dagegen nimmt ihr Schicksal sprichwörtlich selbst in die Hand. Die abstrakte Vorstellung von Wohlstand wird in der konventionalisierten Metapher des Nests relevant und körperlich konkretisiert (vgl. Borsò 1985: 80). Zola beschreibt anhand der Figuren Renée und Lisa einen Wandel normativer Muster der Lebensführung. An die Stelle eines exzessiven, an feudale Zeiten erinnernden Lebensstils tritt die Maxime eines sorglosen Lebens in Komfort (vgl. Moretti 2013: 44ff.). Hierzu Max Weber: »Dem Flitter und Schein chevaleresken Prunkes, der, auf unsolider ökonomischer Basis ruhend, die schäbige Eleganz der nüchternen Einfachheit vorzieht, setzen sie die saubere und solide Bequemlichkeit des bürgerlichen ›home‹ als Ideal entgegen« (Weber 1975: 179f.; vgl. Moretti 2013: 45). Lisa ersetzt die kopflosen Ausgaben Renées und die unsichere Spekulation Saccards durch kalkulierte Berechnungen und schafft sich ein komfortables Leben, das die Ausgewogenheit von Produktivität und Genuss predigt (vgl. Moretti 2013: 51). Dies klingt nicht erst in der »tiédeur heureuse« und dem »lit de béatitude« der Eheleute Quenu an, sondern begleitet Lisa auch schon auf ihrem sozialen Aufstieg. Die Annäherung zwischen Quenu und Lisa in der Anfangszeit ist taktil, wenn auch nicht passioniert. Es gilt, seine Ziele kühlen Kopfes zu erreichen. Eine Routine stellt sich ein: »[L]eurs mains se rencontraient au milieu des hachis […], [Quenu, J.K.] avait sa forte gorge dans le dos« (VP: 649).26 Nach dem Tod Gradelles findet Lisa sein Geld und vermählt sich inmitten der Münzen mit Quenu: »[L]eurs mains fouillaient l’argent, elles s’y étaient rencontrées, s’oubliant l’une dans l’autre, au milieu des pièces de cent sous« (VP: 651). Ihr Leben nimmt einen »luxe bourgeois net
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Die Wiederholungen dieses Vorgangs sowie der abendlichen Verabschiedung im Text (»›Bonsoir, mademoiselle Lisa‹, ›Bonsoir, monsieur Quenu‹«, VP: 648, 649) heben den routinierten, friedlichen Fortgang des Lebens der Kleinbürger hervor.
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et solide« (VP: 656) in dem neuen Laden an, mit welchem Lisa mehr und mehr verschmilzt. Wurde ihre Ähnlichkeit mit der Nahrung lexikalisch über mehrere Zeilen hinweg erzeugt, produziert nun schon ein einzelner Satz die semantische Symbiose zwischen Figur und Ware: »[L]a blancheur de son tablier […] continuait la blancheur des plats, jusqu’à son cou gras, à ses joues rosées, où revivaient les tons tendres des jambons et les pâleurs graisses transparentes« (VP: 667). Das Fleisch »su[e] la santé, une santé grasse« (VP: 895) und überträgt diese auf die Quenu (»Ils suaient la santé«, VP: 639). Die Gesundheit der Quenu ist allerdings oberflächlich. Das Fett ist ungesund und Lisa genauso leblos wie das tote Fleisch. Das Bild der über die Ware herrschenden Lisa kehrt sich in der zweiten Beschreibung der Figur um. Die Verkäuferin ist »prise […] par l’odeur des truffes« (VP: 667); sie wird von der Nahrung eingeengt und zu einem einfachen Detail im Stillleben (vgl. Etkind 1968: 212). Florent fürchtet sich vor ihrem Spiegelbild, das Zola wie im Film aus verschiedenen Perspektiven im Raum zusammenmontiert (vgl. Gural-Migdal 1997: 187): Elle s’y reflétait de dos, de face, de côté; même au plafond, il la retrouvait, la tête en bas […]. C’était toute une foule de Lisa, montrant la largeur des épaules, l’emmanchement puissant des bras, la poitrine arrondie (VP: 667).27 Lisa wird in ihre fülligen Körperteile, ihre rein materielle Form, zerlegt und den fragmentierten Tierkörpern im Laden gleichgestellt. Auch sprachlich bewegen sich die menschlichen und animalischen Körperteile auf einer figuralen Ebene, das heißt, dass Zola nicht auf das abstraktere Niveau der Metapher abhebt, um den Vergleich herzustellen.28 Obwohl die Vervielfältigung der »reine empâtée« (VP: 667) auch als optisches Dispositiv zur potenzierten Überwachung Florents und der Hallen gelesen werden kann, führt es eher die Entpersonalisierung Lisas vor Augen. Die verinnerlichte Raumideologie nimmt zwanghafte Züge an und entmächtigt die Figur. Die Bedrohung, die von außen auf die Ladenbesitzerin einwirkt, ist an dieser Stelle noch gering. Sie bildet die Spitze eines Netzwerks von Frauen, deren wichtigster Mechanismus zur Sicherung des homophonen Territoriums und der Gemeinschaft die Mundpropaganda ist. Das Gerede ist Teil der übergeordneten Klangkulisse in den Hallen und taucht weiterhin im Zusammenhang mit der Nahrung auf (vgl. Wahl Willis 2001: 65). Im Unterschied zu den alltäglichen Geräu27
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Anna Gural-Migdal sieht in dieser Passage eine mise en abyme der Montagetechnik. Der Spiegel sei eine Art Leinwand, auf die die verschiedenen Fragmente projiziert würden (vgl. Gural-Migdal 1997: 187f.). Beate Steinhauser erkennt in dieser Textstelle ein Beispiel der Umkehrung, da Lisas Körper gespiegelt wird (»la tête en bas«) und so mit dem abgehängten Fleisch korrespondiert: »[U]n de ces profils« befindet sich »entre deux moitiés de porcs« (VP: 667; vgl. Steinhauser 2006: 60).
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schen haben die Gespräche jedoch eine andere Qualität und steigern sich im Laufe des Romans. Gavard beispielsweise ist von der Atmosphäre in den Hallen angezogen: »Les Halles le séduisirent, avec leur vacarme, leurs commérages énormes« (VP: 662).29 Der Austausch hat primär den Zweck, Informationen weiterzugeben und den Eindruck zu stärken, es handele sich bei den Bewohnern der Hallen um eine geschlossene Gruppe; so im Fall Claudes, der Florent die Händler vorstellt, oder den vertrauten Gesprächen zwischen Lisa und Quenu (»L’après-midi, lorsque la boutique se vidait, ils causaient tranquillement, […] ils parlaient de tout, le plus ordinairement de cuisine […] et encore du quartier«, VP: 649); nicht zuletzt zählt auch die Streuung der Hintergründe von Florents Aufenthalt in Paris dazu (vgl. Wahl Willis 2001: 68). Besonders die Geschichten zum Tod des Onkels, die Gerüchte Mlle Sagets und die Spekulationen um Florents Vergangenheit haben einen entscheidenden Einfluss auf den Fortgang der Handlung. »[Ils] font du quartier […] le principal protagoniste de l’action«, argumentiert Yvonne Bargues Rollins (2001: 94). Die Nachricht vom Tod Gradelles in der Küche des alten Ladens verbreitet sich schnell und sorgt für die Vorstellung der Unreinheit des Geschäfts. Die positive Wahrnehmung der Metzgerei ist für den Erfolg der Quenu jedoch zentral. Dies motiviert den Umzug der Familie, der von der Wertschätzung der neuen Metzgerei in der Gemeinschaft gekrönt wird – »la propreté de Lisa fut proverbiale dans le quartier« (VP: 648). Später wird sich herausstellen, dass Mlle Saget die Hintergründe des Todes in der Küche weitergegeben hat. Sie wirkt wie eine Spionin »en robe déteinte, […] coiffée du chapeau de paille noire« (VP: 667) und verbreitet Unruhe: »Sa langue était redoutée […]. Tout le long du jour, elle s’en allait avec son cabas vide, sous le prétexte de faire des provisions, n’achetant rien, colportant des nouvelles« (VP: 668). Ihre Position am Fenster der Wohnung entspricht der Position des Aufsehers im Turm des Panoptikums: »Elle s’y installait, à chaque heure de la journée, comme à un observatoire, d’où elle guettait le quartier entier« (VP: 856, vgl. Carles 1993: 39). Sie initiiert die Zirkulation von Wissen und ergänzt mit Mme Lecœur und der Obsthändlerin, La Sarriette, die Symphonie der Hallen um eine polyphone Interpretation des Raums.30
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Yvonne Bargues Rollins macht noch auf die versteckten Bedeutungen in den Namen »Gavard« und »Saget« aufmerksam. Der Leser höre im Namen des Mannes das Adjektiv »bavard«, in dem der Frau das Adjektiv »sage« heraus (vgl. Bargues Rollins 2001: 93). In diesem Sinn fungiert auch der »cabinet vitré« Lebigres als ein Ort der Beobachtung – »un coin de la boutique que séparait une cloison aux vitres blanchies par un dessin à petits carreaux; pendant le jour, une fenêtre qui s’ouvrait sur la rue Pirouette l’éclairait d’une clarté louche; le soir, un bec de gaz y brûlait« (VP: 706; vgl. Carles 1993: 39). Anna Gural-Migdal findet in dieser Passage den Einsatz eines optischen Dispositivs, die Camera obscura, durch die die Geschehnisse in den Hallen abgelichtet werden (vgl. Gural-Migdal 1997: 188).
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Dass das Gerede den Zusammenhalt der Gemeinschaft permanent angreift und einen zerstörerischen Charakter annimmt, wird schnell klar. Die drei Frauen positionieren sich im zweiten Kapitel vor und in der Metzgerei, um das Gespräch zwischen Florent und Lisa mitzuhören. Der Laden wird zur Quelle des Wissens, von der aus den halb privaten, halb öffentlichen Informationen zur Gruppe der Frauen übermittelt werden. Sie schicken sogar die »belle Normande« in den Laden, wohlweislich, dass sie Lisas Konkurrentin ist. Hieraus erwächst eine ständige Rivalität zwischen den Frauen. Sie boykottieren Lisa, »inventant des histoires sur la saleté de la cuisine des Quenu, trouvant des accusations vraiment prodigieuses« (VP: 677), wettern aber auch gegeneinander.31 Nur Mlle Saget geht geschickt vor und hält sich aus den Streitigkeiten heraus (»[Elle fut, J.K.] enchantée d’avoir soufflé sur l’ardente bataille qu’elle flairait, sans s’être fâchée avec personne«, VP: 679; vgl. Bargues Rollins 2001: 101). Sie hofft darauf, selbst die Machtposition Lisas einnehmen zu können. Obwohl sich die Frauen aufgrund ihrer Intrigen der Norm der Gastfreundschaft widersetzen und verrucht wirken, ist ihr Ziel aber auch, die Hallen zu schützen.32 Aus diesem Grund reagieren die drei Damen mit Misstrauen auf Florent. Sie bilden räumlich eine geschlossene Gruppe (»[l]es trois femmes se rapprochèrent«, VP: 677) und diskutieren über den Neuankömmling: »Il me fait peur, ce garçon-là« (VP: 677), meint Mme Lecœur. Natürlich bemerken sie, dass Florent durch sein Aussehen die Norm der Hallen unterläuft. »Les hommes maigres sont de rudes hommes« (VP: 678), lässt La Sarriette verlauten.33 Nicht nur die Quenu, auch die drei Frauen grenzen sich auf diese Weise von Florent ab. Doch erst Mlle Saget gibt der weiteren Handlung Antrieb: »›Je cherche depuis quinze jours, je donne ma langue aux chiens […]. J’ai dû le rencontrer quelque part‹« (VP: 677). Es ist diese Erinnerungslücke, der die Saget motiviert und zum Motor der Detektivarbeit und der späteren Ereignisse werden wird. Mit Mlle Sagets Plänen endet die Exposition. Im Sinne der Wiederholung der wesentlichen Inhalte des Auftakts lässt Florent seine Ankunft in Paris Revue passieren: »Florent revit sa nuit terrible, son arrivée dans les légumes, son agonie au
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Zum Beispiel: »La Sarriette acheva d’aigrir Mme Lecœur, qui la traitait avec une furie de paroles ordurières« (VP: 664). Mme Lecœur wiederum hegt einen Groll gegen Gavard, der sie nach dem Tod seiner Frau nicht heiraten möchte: »Son beau-frère fut l’ennemi dont elle occupa toutes ses heures« (VP: 664). Zola arbeitet an diesen Figuren Gender-Diskurse der Zeit ab. Er konstruiert Lisa als Ideal der bourgeoisen Frau – hart arbeitend, zielstrebig und verheiratet. Entsprechend ist es ihr unbegreiflich, warum Florent den Posten des Inspektors der Hallen nicht annehmen möchte, denn oberstes Ziel ist »de gagner son pain« (VP: 671). Gavard teilt diese Meinung in Bezug auf dünne Frauen: »Gavard détestait les femmes maigres; il disait que cela lui faisait de la peine de sentir les os sous la peau; il ne caressait jamais que les chats et les chiens très gras, goûtant une satisfaction personnelle aux échines rondes et nourries« (VP: 664).
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milieu des Halles, cet éboulement continu de nourriture« (VP: 639). Die zwei Hauptstimmen des homophonen Themas, »Maigres« und »Gras«, sind nun voll entfaltet und um eine Nebenstimme reicher. Mlle Saget und ihre Verbündeten nutzen die Hallen als einen Raum der Überwachung und des Spektakels und ordnen sich nur widerwillig der Macht Lisas unter. Florent befindet sich im tête-à-tête mit den Quenu und den Nebenfiguren. Obwohl er räumlich in der Metzgerei Unterschlupf findet, hat er keinen Platz in den Hallen. Denn sein Eindringen in den Raum fordert die von Frauen geführte Gemeinschaft heraus. Er greift die Universalität bürgerlicher Werte an und legt die Illusion eines funktionalen, panoptischen Raums frei. Das Konzept des selbstbestimmten Individuums wird dabei in seiner Wahrnehmung ähnlich brüchig wie die Utopie der kontrollierbaren Stadt. Schnell spitzt sich der Angriff Florents auf die Ideologie Lisas in der Durchführung zu und leitet über in die Verdauung des Protagonisten im Bauch der Stadt.
6.3
Durchführung: Florent im Kampf gegen den Markt
Florents schleichende Rebellion gegen die Hallen hatte sich bis zu diesem Punkt in seinen körperlichen Reaktionen auf die Umwelt bemerkbar gemacht. In der Durchführung reflektiert und versprachlicht er nun zusätzlich seine Rolle gegenüber den »Maigres« (vgl. Abb. 16): Pour la première fois, Florent se sentait importun; il avait conscience de la façon malapprise dont il était tombé au milieu de ce monde gras, en maigre naïf; il s’avouait nettement qu’il dérangeait tout le quartier, qu’il devenait une gêne pour les Quenu (VP: 679). Florent ist nicht klar, welches Ausmaß die Feindseligkeit bereits angenommen hat, ahnt aber, dass er im Begriff ist, von den Hallen einverleibt zu werden. Dieser Prozess folgt dem Muster der Einleitung, in der eine zunehmende Anzahl sinnlicher Eindrücke die Handlung untermalte. Standen hierbei visuelle und auditive Außenreize im Vordergrund, die auf Lisa ausgerichtet waren, sind es nun besonders olfaktorische und taktile Wahrnehmungen, die den Fortschritt der Beeinflussung Florents anzeigen und für die Normande stehen.34 Hier zeigt sich der enorme Ein34
Florent irritiert der Geruch der Normande: »Florent souffrait; il ne la désirait point, les sens révoltés par les après-midi de la poissonnerie; il la trouvait irritante, trop salée, trop amère« (VP: 739). Er fühlt sich unwohl in ihrer Gegenwart: »Elle lui semblait colossale, très lourde, presque inquiétante, avec sa gorge de géante; il reculait ses coudes aigus, ses épaules sèches, pris de la peur vague d’enfoncer dans cette chair (VP: 738; vgl. zur passiven Rolle Florents im Verhältnis zur Frau Johnson 2002: 40, Gural-Migdal 2000: 149 und Martin 1992: 26). Während Laurence Besse die Bedeutung des Erotischen für Florent niedrig einstuft, erkennt Susie Hennessy in der Nahrung ein Moment der Erotik, das zum Beispiel in der Szene der Blutwursther-
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fluss des espace conçu auf den espace perçu. Denn Gerüche und Taktilität werden zu Waffen der Kleinbürger gegen den Widerstand Florents. Er fühlt sich der »senteur grasse de la charcuterie« (VP: 680) und der »odeur des viandes du comptoir« ausgesetzt, welche ihn in eine »lâcheté molle et repue« (VP: 679) versetzen. Das Haus der Quenu übt eine solch wohltuende Wirkung auf ihn aus, dass er im nächsten Schritt von einem »sentiment d’honnêteté« eingenommen wird »qui troublait ses idées du faux et du vrai« (VP: 682; vgl. Etkind 1968: 217f.). Die körperliche Beeinflussung hat Folgen für seine geistige Einschätzung der Situation. Noch bleibt Florent seinen Prinzipien aber treu und lehnt den Posten des Inspektors ab. Der Konflikt kulminiert während der Blutwurstproduktion in der Küche der Quenu. Das heißt, dass der Höhepunkt der formalen Verarbeitung des Themas in dem Moment erreicht ist, in dem auch inhaltlich ein Verarbeitungsprozess abläuft. Dass beide Ebenen mit der symbolischen Verarbeitung Florents interagieren, ist sicher kein Zufall. Es kommt zum Showdown der ideologischen Positionen bzw. der konkurrierenden Konzeptionen von Raum. Die außeralltägliche Geschichte der Deportation und des Hungers steht der alltäglichen und gesättigten Atmosphäre in der Küche gegenüber (vgl. Borsò 1985: 62): »Le gaz brûlait tranquille, la chaleur du fourneau était très douce, toute la graisse de la cuisine luisait dans un bien-être de digestion large« (VP: 685). Erst in dem geschlossenen Raum, in dem sich die Außenreize verdichten, hält Florent dem Druck nicht mehr stand. Die Stimmung umhüllt ihn und steht sinnbildlich für das ruhige Leben, das ihm mit einer Integration in die Gemeinschaft bevorstehen würde. Hier gibt er seine Erfahrung auf der Strafinsel preis und wird somit intradiegetisch zum homodiegetischen Erzähler, gibt aber vor, kein Teil der Geschichte zu sein. Diese spezifische Erzählsituation (énonciation) fiktionalisiert seine Erfahrung und macht unterschiedliche Bewertungen des Inhalts (énoncé) der Geschichte möglich (vgl. Shryock 1992: 48f.). Florent konstruiert die Erzählung für Pauline als abenteuerliches Märchen. Der Zweck der Erzählung ist darin zu sehen, dass Florent Lisa implizit dazu auffordert, der ideologischen Botschaft, das heißt der Kritik an seiner unrechtmäßigen Verurteilung und den erbärmlichen Zuständen auf der Teufelsinsel, zuzustimmen. Dass ein Ansprachewechsel erfolgt, lässt sich aus der Streuung abstrakter Nomen folgern, die für ein erwachsenes Publikum bestimmt sind: »›Ce n’était pas un lieu de délice‹, reprit-il, oubliant la petite Pauline […]. Chaque jour des vexations nouvelles, un écrasement continu, une violation de toute justice, un mépris de la charité humaine« (VP: 687; vgl. Shryock 1992: 50). Sie ergänzen die sehr konkreten Beschreibungen der verdorbenen Nahrung der Gefangenen, welche den Raum der zweiten mit dem der ersten Fiktionsebene verbindet. Das faule Fleisch leitet stellung bzw. der Verführung Florents durch Lisa durchscheine (vgl. Hennessy 2013: 655ff. und Besse 1996: 37). Florents Malaise gegenüber der Normande ist analog zu seinem Unwohlsein gegenüber Lisa.
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über in die »gras [de lard qui, J.K.] fondaient [dans la marmite]. Une vapeur plus épaisse monta du fourneau« (VP: 687). Die Simultaneität von Vergangenheit und Zukunft im Raum der Küche ist schließlich im Höhepunkt der Geschichte, dem grausamen Tod des Mithäftlings, erreicht: »Ce ventre, plein d’un grouillement de crabes, s’étalait étrangement au milieu de la cuisine, mêlait des odeurs suspectes aux parfums du lard et de l’oignon« (VP: 689). Es sind die olfaktorischen Eindrücke, die sich Florent eingebrannt haben und an den Raum der Küche binden. Lisa reagiert nicht wie erhofft mit Empathie und Verständnis auf die Erfahrungen Florents. Sie hält ihn für »hypocrite« (VP: 688) und kann ihren Abscheu gegenüber dem schlechten Essen und dem Toten auf der Insel nicht verbergen. Die Zustände sind für sie Angriffe auf die moralische Integrität Florents (vgl. Borsò 1985: 62f.). Das frühere Opfer wird in ihren Augen zu einem potentiellen Täter. Indirekt stehen die »saletés à peine croyables« (VP: 687) und die Hungersnot aber auch für negative Bilder des exotischen Fremden. Die Strafkolonie ist ein Ort im Nirgendwo, »très loin, très loin, de l’autre côté de la mer« (VP: 685): »[U]n pays de forêts, coupé de fleuves et de marécages« (VP: 691). Die »moustiques« (VP: 687), die »grands oiseaux« mit ihren »cris […] de mort« (VP: 691), die »singes« und »serpents« (VP: 691), der »pullulement de reptiles noirs« (VP: 691) und die »arômes rudes de bois odorants et des fleurs puantes« (VP: 691) sollen die Verhältnisse in der Gefangenschaft veranschaulichen. Für Lisa jedoch verstärken sie die Konnotation des Wilden und Barbarischen in den Kolonien. Sie verdrängt dieses Bild aus dem »gesellschaftlichen, räumlichen Haushalt« und schließt die Augen vor den Bedingungen der Prosperität im Land. Da der Leser die Haltung Lisas kennt, rechnet er mit ihrer Ablehnung. Überraschender ist die Reaktion des Katers Mouton. Denn der Ekel des Tiers gilt, anders als der Abscheu Lisas vor Florent, dem Fleisch in der Küche: Mouton […] se trouvait probablement incommodé et dégoûté par toute cette viande. Il s’était levé, grattant la table de la patte, comme pour couvrir le plat, avec la hâte des chats qui veulent enterrer leurs ordures (VP: 690). Das erste Mal wird das Zentrum der Hallen nicht nur von den Außenseitern, sondern von einem Mitglied der Gemeinschaft, sei es auch ein Tier, negativ wahrgenommen. Die Haltung des Katers verbindet die beiden Räume der Erzählungen nicht nur materiell, sondern auch semantisch miteinander (espace perçu1 ∼ espace vécu1 ). Laut Vittoria Borsò überlässt es Zola dem Leser, in der Schmutzmetapher »die skatologischen Strukturen in der Tätigkeit des Metzgers« zu entdecken (Borsò 1985: 63). Der Überschuss an Nahrung ruft beim Kater die gleiche Reaktion hervor wie die Unterernährung Florents bei Lisa. Wichtig ist an dieser Stelle aber, dass der Unterschied zwischen Tier und Mensch bestehen bleibt. Während Lisa und Quenu die Phantasmagorien eines bourgeoisen Lebens so sehr verinnerlicht haben, dass
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sie das abstoßende Milieu nicht mehr registrieren, ist das Tier der Ideologie des sozialen Raums gegenüber immun.35 Anders verhält es sich mit Florent. Der Protagonist verfügt nicht über ausreichend Autorität, um die Quenu zu desillusionieren. Er ist geschlagen und gibt seine Schutzhaltung auf. Und dies genau in dem Moment, in dem die Gerüche und Dampfschwaden am intensivsten sind: »Le flot gras avait monté depuis le commencement de la veillée; maintenant il noyait le gaz, emplissait la pièce, coulait partout« (VP: 693). Zola veranschaulicht mit der Atmosphäre in der Küche den Einfluss der Ideologie. Sie nimmt materielle Form an und hat an dieser Stelle einen einschläfernden Effekt: »Tous soufflaient comme s’ils venaient de trop manger« (VP: 694). Lisa nutzt die Schwäche Florents aus und manipuliert ihn durch eine rhetorisch geschickte Aufarbeitung des »savoir idéologique« (Lefebvre 2000 [1974]: 55; vgl. Kapitel 3.1.1): »[E]lle continua, abondamment, le gourmandant comme un petit garçon […]. Elle était très maternelle, elle trouvait des raisons très convaincantes […]. Elle devenait caressante« (VP: 695). In der vollen Ausschöpfung ihrer sowohl materiellen als auch konzeptuellen Elemente erreicht die Raumpolitik ihre maximale Wirkkraft. Florents Abgleiten in den Raum der Kleinbürger ist ein körperlicher Prozess. Der Leser vollzieht diesen durch die exponierte Perspektivierung sukzessive mit: Une plénitude emplissait Florent; il était comme pénétré par cette odeur de la cuisine, qui le nourissait de toute la nourriture dont l’air était chargé; il glissait à la lâcheté heureuse de cette digestion continue du milieu gras où il vivait depuis quinze jours. C’était, à fleur de peau, mille chatouillements de graisse naissante, un lent envahissement de l’être entier, une douceur molle et boutiquière. A cette heure avancée de la nuit, dans la chaleur de cette pièce, ses âpretés, ses volontés se fondaient en lui; il se sentait si alangui par cette soirée calme, par les parfums du boudin et du saindoux […] qu’il se surprit à vouloir passer d’autres soirées semblables, des soirées sans fin, qui l’engraisseraient (VP: 695). Die Reize sind so ausfüllend, dass sie den Willen Florents brechen. Die Verben im Imperfekt deuten den Übergang früh an (»pénétrer«, »glisser«) und aktivieren den »lent envahissement de l’être entier« (vgl. Borsò 1985: 65). Es scheint, als würde Florent ein Mittel einverleibt, das auf der Haut mit der »graisse naissante«
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Die verschiedenen Positionen korrelieren subtil mit der Geschichte Frankreichs. Lisa verteidigt die imperiale Politik Napoleons, Florent sieht die Hallen als Zentrum eines zukünftig republikanischen Frankreichs. Die Rezeption der Geschichte auf zweiter Ebene reflektiert die Rezeption des Romans auf erster Ebene und provoziert eine Stellungnahme des Lesers (vgl. Shryock 1992: 52). Er hat die nötigen Informationen, um die Metaebene des Konflikts zu evaluieren, und erkennt die dramatische Situation Florents.
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reagiert. Die »douceur molle« wiederum ruft Lisas Wunsch nach einem bequemen Leben ins Gedächtnis, und bindet sich an die Hitze und Ruhe im Raum. Dass eine Transformation Florents stattfindet, zeigt auch die Positivwendung des Geruchs der Wurst und des Fetts als »parfum«. Er akzeptiert den instrumentalisierten Raum der Wahrnehmung und lässt die Reize ungefiltert in sich eindringen. Wenn er am Ende auf die Wiederkehr solcher Abende hofft, macht dies die Sehnsucht nach seinem Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft sichtbar. Vittoria Borsò liegt richtig in der Annahme, dass »in den Grenzen dieser Szene von einer Milieumetaphorik [gesprochen werden kann, J.K.], als durch die metaphorischen Prozesse dieser Passage das Milieu in seinem Wirken anschaulich […] wird« (Borsò 1985: 65). Florent nimmt den Posten als Inspektor an und verkörpert nun paradoxerweise gerade jene interpellierende Instanz, die in der Vergangenheit seine Deportation verschuldete. Lisa weiß um ihren Sieg und betrachtet Florent »d’un air satisfait« (VP: 695). Auch im Außenraum sieht sich Florent Gegnern gegenüber. Die Fischverkäuferinnen sind für das Funktionieren der »microphysique du pouvoir« (Carles 1993: 40) zuständig und übernehmen die schmutzige Arbeit für Lisa. Zola spielt mit der negativen Konnotation des Geruchs und des Lärms, um die »unruly nature of the Pre-Haussmannian Halles« (Johnson 2002: 41) im Fischpavillon auszudrücken. Nicht umsonst leben die Méhudin in einer der Straßen des alten Paris. Florents Furcht vor der Frau, die ihn schon beim Anblick Lisas überkam, nimmt hier eine neue Dimension an: »Les faces rouges le dévisageaient« (VP: 718), heißt es. Er empfindet die »inflexions canailles des voix, […] les hanches hautes, les cous gonflés, les dandinements des cuisses, les abandons des mains« (VP: 718) als Angriff auf seine Person.36 Und tatsächlich begegnen sie Florent mit offener Hostilität und streuen Gerüchte um seine Person. Mlle Saget sagt ihm nicht nur ein Verhältnis mit der Normande nach, sondern plaudert vor Lisa von den politischen Gesprächen der Gruppe um Florent, die sie in der Gaststätte Lebigres belauscht hat. Die Metzgerin ist alarmiert und rügt ihren Mann: »›Mademoiselle Saget t’a entendu. Tout le quartier, à cette heure, sait que tu es un rouge‹« (VP: 756). Lisa macht sich die Angst der Bourgeoisie vor dem Sozialismus und der Polizei zunutze, um »la politique des 36
Die fragmentierten Marker von Weiblichkeit, »hanches« und »cuisses«, erinnern an jene Diskurse der Zeit, die die alleinstehende Arbeiterfrau mit Prostitution in Verbindung brachten (vgl. Johnson 2002: 43). Sharon P. Johnson deckt auf, inwiefern Zola die reale Situation der Verkäuferinnen in den Hallen missachtet. Er entwerfe autonome Frauen, was für die Zeit vor Haussmann zutreffend gewesen sei, durch die neuen Verordnungen des Präfekten aber nicht mehr der Realität entsprochen hätte (vgl. Johnson 2002: 47). Genauso macht sie klar, dass sich die Händlerinnen damals durch Professionalität und politische Aktivität ausgezeichnet haben. Ihre Vorschläge zum Umbau des Markts im Zuge der Haussmannisierung seien ernst genommen worden. Zola verzerrt das Bild der Frauen, weshalb Johnson festhält: »Zola domesticates the politics of this working class« (ebd.: 53).
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honnêtes gens« (VP: 757) zu verteidigen und die Hallen zu regulieren: »›On ne sait pas ce qui peut arriver; si la police venait…‹« (VP: 756).37 Die in der Küche getroffene Übereinkunft mit Florent ist hinfällig. Sein Schicksal ist besiegelt – »Florent était condamné« (VP: 761).38 Insgesamt wird das Thema des Konflikts in der Durchführung mithilfe von zwei neuen Elementen dynamisiert. Zola setzt erstens die Frauen der Hallen als die eigentlichen Gegenspielerinnen Florents ein. Der Protagonist kämpft im Privatraum gegen Lisa. Sie verkörpert das Ideal der rechtschaffenen Arbeiterin und strebt die Utopie des bourgeoisen Fortschritts an. Im Moment der maximalen Verdichtung der Sinnesreize verführt sie Florent mit dem Gefühl des Komforts. Er kann sie argumentativ nicht von der Inhumanität des sozialen Raums überzeugen und wird selbst Teil des Mechanismus der Hallen. Vieles an dem Prozess der Einverleibung Florents erinnert an einen rite de passage: Die Ablösung von dem Dasein als Außenseiter, das vage Zwischenstadium, das für die Empfänglichkeit negativer Einflüsse steht, und die Integration in das Kleinbürgertum. Doch kann es sich nicht um einen traditionellen Übergangsritus handeln, da Florents Identität nicht verändert wird. Zola führt das zweite Element in die Durchführung ein, indem er neben die materielle Utopie Lisas die romantisierte Utopie Florents stellt (vgl. GuralMigdal 2000: 148). Lisas strategisches Kalkül sichert ihr den Sieg über die Hallen und Florent. Allerdings ist ihre Macht begrenzt und Florent nicht vollkommen hilflos. Schließlich willigt er aus freien Stücken ein, seine Geschichte zu erzählen (vgl. Viti 2009: 79). Auch im Fischpavillon zeigen sich in der Rolle der Verkäuferinnen Momente der Transgression von Ordnung. Die polyphonen Stimmen (der Händlerinnen) lassen sich ebenso wenig verdrängen wie die Vergangenheit Florents und die Erinnerung an das frühere Paris. Die Reprise legt davon ein Zeugnis ab.
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Die Frauen verschaffen sich im Fischpavillon zwar Gehör, doch nutzen sie ihre kollektive Stimme nicht, um ihr Recht auf Stadt geltend zu machen. Sie ordnen sich der Raumpolitik unter und lassen sich bändigen (»les poissonnières domptées«, VP: 723). Dies ist nur ein Beispiel der Selbstregulierung der Bevölkerung. Lisas Reaktion auf Florents Rolle in der Gruppe um Charvet ist ein weiteres Element der automatisierten Implementierung der Raumideologie. Die Gaststätte Lebigres ist der topologische Knotenpunkt der politischen Zusammenkünfte der Gruppe und Nährboden für Florents Idealisierung der Republik. Für Friedrich Wolfzettel verkörpert Florent einerseits die Entfremdung des Menschen in der Moderne; andererseits steht er für den einsamen Intellektuellen, der in Konflikt zu seiner Welt gerät, bereits bei Balzac anzutreffen war und ein wichtiges Motiv im Roman des 20. Jahrhunderts werden wird. Neu sei bei Zola, dass der Held seine Position als Außenseiter hinterfragt und den Sinn in der Gemeinschaft sucht (vgl. Wolfzettel 1971: 39ff.).
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6.4
Reprise: Spiel und Trieb – das Unbewusste der Hallen
Das vierte Kapitel fungiert in zweifacher Hinsicht als Reprise (vgl. Abb. 16). Einerseits werden die Pavillons der Hallen wie in der Exposition durch eine Bewegung der Figuren im Raum präsentiert. Erneut tritt auch der Maler Claude auf den Plan und führt seine Erörterungen zur Kunst fort. Andererseits gelingt es Zola, das Thema des Konflikts leicht zu variieren und somit anders zu durchleuchten. Erstens scheint der Kampf zwischen den Mageren und den Fetten angehalten, doch nur, um von Zola im interliterarischen Text-Raum ausgefochten zu werden. Er sucht seinen Platz im Feld der Literatur und stellt sich seinem Vorbild Hugo. Es finden sich im Roman zahlreiche Verweise auf Notre-Dame de Paris. Nicht nur gleicht Marjolin Quasimodo, auch die Kirche Saint-Eustache hat die Kathedrale als Modell. Neben diesen offensichtlichen Entlehnungen findet sich besonders im aktuellen Kapitel die Verwendung eines romantisch-grotesken Stils à la Hugo. Zola löst sich jedoch symbolisch von seinem Vorbild und verkündet in der Stimme Claudes die Vormacht des Naturalismus. Er greift auf Claude Frollos berühmten Satz, »Ceci tuera cela. Le livre tuera l’édifice« zurück und prophezeit: »Ceci tuera cela, le fer tuera la pierre« (VP: 799). Die Ankündigung des Endes der »architecture bâtarde« (VP: 799) ist nun aber auch als Ankündigung Zolas zu lesen: Es gilt, sich von der romantischen Literatur eines Hugo abzusetzen (vgl. Zarifopol- Johnston 1989: 357).39 Zu dieser metaliterarischen Ebene passt zweitens die psychologische Dimension, mit der Zola die Reprise ausstattet. Marjolin und Cadine sind die lebende Erinnerung an das unterdrückte Begehren im Unterbewusstsein der Bourgeoisie (vgl. Besse 1996: 39ff.; vgl. auch Baguley 1968: 91). Ihr Lebensweg strukturiert die Handlung und deutet im Falle Cadines die Transformation der Mageren in die Fetten an. Die Entwicklung zur Bourgeoise ist von Verlusten gezeichnet. Zum einen schwindet ein zentrales Element des espace perçu, die körperliche Sinnlichkeit, und wird durch eine pragmatische Rationalität im Dienste des Profitdenkens auf der Ebene des espace conçu ersetzt. Dies führt zum anderen zu einer veränderten Sicht auf den Raum. Im Laufe des Kapitels werden die Hallen einmal als Ort der Natur und des Spiels, einmal als Ort des Wettbewerbs konkurrierender Stimmen wahrgenommen.40 39
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Die Hybridität des Stils im Ventre erklärt sich aber auch aus dem Abarbeiten an der künstlerischen Tradition. Zola positioniert sich im aktuellen Kapitel gegenüber der Kunst, indem er mit literarischen Mitteln das Tableau der Kinder fertigstellt, das der Maler Claude nicht zeichnen kann (vgl. Tunstall 2007: 177f.). Es gibt weitere Arbeiten, die sich am Rande mit dem Verhältnis von Zola und Hugo im Ventre de Paris beschäftigt haben, darunter Dezalay (1984), Baguley (1968) und Etkind (1968). Die Entwicklung der Kinder in den Hallen und das erwachende, körperliche Verlangen wird in gewisser Hinsicht in der Entwicklung Serges im Paradou in La Faute de l’Abbé Mouret (1875) nachempfunden.
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Zuerst bewegen sich Marjolin und Cadine in einem Abenteuerraum fern der Norm des sozialen Raums. Sie können aufgrund fehlender Identitätsmarker und Bindungen nicht in die administrative Ordnung der Hallen eingegliedert werden. Sie landen eines Tages wie zufällig im Treiben auf dem Markt und tragen keine Namen. Zola beschreibt das Auftauchen Marjolins in dem Haufen aus Blumenkohl als unpersönlichen Akt: »Marjolin fut trouvé au Marché des Innocents«; »On ignora toujours quelle main misérable l’avait posé là« (VP: 762). Cadine dagegen wird von der mère Chantemesse gefunden. Sie hat ein gutes Herz und nimmt die Kinder bei sich auf. Beide schlafen in einer großen Wiege aus Gemüse, in der sie viele »objets étranges« (VP: 763) ansammeln – »[cʼ]était un jeu« (VP: 772).41 Die Hallen verwandeln sich im Zugriff der Kinder in ein Idyll, das zum Schauplatz ihrer Liebesgeschichte wird. Das Ausweichen an einen fernen Ort in der Natur ist nicht nötig. Marjolin und Cadine eignen sich einen Raum an, der parallel zum funktionalen Ort der Reproduktion in den Hallen existiert. Sie finden überall »de nouveaux trous charmants, des cachettes, où il s’oubliaient dans l’odeur des fruits secs, des oranges« (VP: 764f.). Ihre Bewegungen im Raum sind wenig zielgerichtet – sie spielen Versteck, klettern auf Wagen und erkunden die Hallen in die Höhe und in die Tiefe: La construction des Halles centrales fut pour eux un continuel sujet d’escapades. Ils pénétraient au beau milieu des chantiers, par quelque fente des clôtures de planches; ils descendaient dans les fondations, grimpaient aux premières colonnes de fonte (VP: 771). Sie bleiben nicht in kontemplativer Distanz zum Anschauungsobjekt wie Claude und scheuen sich nicht wie Florent vor dem Eindringen in den Bauch der Hallen. Mit unbedachter Naivität dringen sie auch in die dunklen, unterirdischen Gänge des Marktes vor. In den Kellern der Geflügelpavillons lassen sich die nun jugendlichen Verliebten in dem »duvet du canard« nieder »qui les chatouillaient aux oreilles« (VP: 771). Die »chaleurs du nid« (VP: 772) unter der Federdecke erinnern an den »duvet chaud« (VP: 704), mit dem Lisa Florent zu Beginn umgibt. Während aber hier die Geborgenheit Florents aus einem Zustand der Sättigung resultierte, stehen im Fall des Paars die taktilen Reize im Vordergrund und erzeugen Intimität (vgl. Borsò 1985: 80). Die Nest-Metapher wird aus einer konkreten Erfahrung abgeleitet und redramatisiert die konventionelle Metapher aus dem Habitus der Kleinbürger. Zola kritisiert also die körperliche Verarmung ex negativo mithilfe isotopisch verketteter Sinnesempfindungen, die die konkreten Beziehungen beto-
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Alles an dieser Einleitung wirkt wie eine Legende im Stil von Daphnis und Chloe, die auch im 19. Jahrhundert populär war (vgl. Etkind 1968: 214 und Tunstall 2007: 179f.).
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nen, welche einst den Ursprung sprachlicher Repräsentation bildeten (vgl. Borsò 1985: 81).42 Dies ist im Fall Marjolins und Cadines anders (vgl. Borsò 1985: 81). Sie erschließen sich neben dem Versteck im Keller weitere Rückzugsorte auf den Straßen der Hallen, an denen sie ihre (Ess-)Lust ausleben. Sei es in den »fêtes intimes dans le trou aux paniers« oder der »mansarde […] de bois« (VP: 773). Sie verkörpern eine Urform des espace perçu, »vivant par les sens« (VP: 772), und sind noch vollkommen unbeeinflusst von der Ideologie des espace conçu. Sie orientieren sich allein anhand der Sinnesreize im Raum, das bedeutet »les yeux fermés, rien qu’aux haleines liquoreuses sortant des marchands de vin, aux souffles chauds des boulangeries et des pâtisseries, aux étalages fades des fruitières« (VP: 776).43 Gemeinsam mit Claude streifen sie durch die Hallen und werden ihres Anblickes nicht überdrüssig. »[I]ls apercevaient […] des architectures imprévues, le même horizon s’offrant sans cesse sous des aspects divers« (VP: 781). Dies ist ein metasprachlicher Verweis auf die Serialität der Bilder der Hallen, die im ersten Kapitel das Verstreichen von Zeit darstellten. Der flüchtige Charakter der Hallen zieht die Figuren an und sorgt dafür, dass sie sich selbst nicht aus der Stadt fortbewegen (»sans pouvoir la quitter de plus de cent pas«, VP: 781). Anders als Claude, der die neuen Teile des Quartiers vorzieht, bleiben die Kinder in den »tronçons du vieux Paris restés debout, les rues de la Poterie et de la Lingerie, avec leurs maisons ventrues, leurs boutiques de beurre, d’œufs et de fromages« (VP: 777). Zola beschwört wieder das Bild eines mittelalterlichen Paris aus dem »gesellschaftlichen Haushalt« der Zeit herauf. Die rue Pirouette und der Marché des Innocents sind Orte aus dem kollektiven Gedächtnis, »où résonne encore l’écho des turbulences populaires« (Carles 1993: 37). Sie wecken die Angst der Bourgeoise vor Unruhe und Kriminalität. Marjolin und seine »bohémienne noire« (VP: 772) stehen über dem Gesetz. Sie stehlen und entkommen dem Moment der Interpellation, »flair[ant] les sergents de ville à cent 42
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Lisa ist das Beispiel par excellence für die unterdrückte Sinnlichkeit. Ihr Verhältnis zu Quenu ist frei von jeglicher Erotik. Die Andeutungen auf ihre körperlichen Reize sind ironisch untermalt und führen am Ende die Üppigkeit Lisas doch nur mit dem Zuwachs von Profit zusammen. Anstatt die Gier der Kleinbürger bei Tisch in der Einnahme von Nahrung zu versinnbildlichen, zeigt Zola die Quenu nur im Zustand der Verdauung (»C’était une longue digestion, coupée des histoires du quartier«, VP: 704). Dies sieht der Leser auch in der Szene, in der sie dem Pfarrer Roustan von ihrem Dilemma berichtet. Sie denkt rein pragmatisch und entbehrt jeglicher Empathie gegenüber Florent. Sie nimmt in der Kirche eine »attitude décente« (VP: 808) bzw. eine »tenue officielle« (VP: 808) an und wünscht keinen religiösen Austausch, sondern eine »consultation« (VP: 810): »Elle posa les questions avec des ménagements si bien choisis, que l’abbé put disserter sur la matière sans entrer dans les personnalités« (VP: 808). Die Harmonie zwischen Figur und Milieu geht soweit, dass das Paar selbst zur »végétation de ce pavé gras du quartier« (VP: 785) wird. Cadine hat einen »haleine de jasmin« und wandelt sich in einen »bouquet tiède et vivant« (VP: 768), Marjolin hat »la chair fine des dindes superbes et la rondeur de ventre des oies grasses« (VP: 790).
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pas« (VP: 767). Claude ist von den jungen Wilden fasziniert, »il éprouvait, malgré lui, comme une admiration pour ces bêtes« (VP: 767) und sehnt damit einen Zustand der Unangepasstheit herbei.44 Mit zunehmendem Alter verändert sich das Verhältnis der Heranwachsenden zu ihrem Raum. Die anziehende Seite der Hallen täuscht nicht über ihre Abgründigkeit hinweg. Denn »même par les beaux temps, la boue reste noire et poissante« (VP: 785) – der Markt ist und bleibt ein unmoralischer Ort. Der Leser inferiert die Beeinflussung der Figuren durch ihr Milieu aus Cadines »rêveries inquiètes« (VP: 785) und Marjolins »malaise qu’il ne s’expliquait pas« (VP: 785). Das junge Mädchen beginnt, sich zu den anderen Frauen ins Verhältnis zu setzen. Sie schämt sich ihrer Kleidung und betrachtet voller Faszination die Textilien und den Schmuck in den Geschäften der rue Montmartre: Cette terrible rue l’assourdissait de ses files interminables de voitures, la coudoyait de son flot continu de foule, sans qu’elle quittât la place, les yeux emplis de cette splendeur flambante, sous la ligne des réverbères accrochés en dehors à la devanture du magasin (VP: 779). Die Warenwelt beginnt auf den unschuldigen Blick Cadines einzuwirken. Zum ersten Mal nimmt sie die funktionale Seite der Moderne in den Wagen und der Menschenmenge wahr.45 Während der Leser im Laufe des Kapitels oftmals Einblicke in die Gedanken Cadines erhält, bleibt die Stimme Marjolins stumm. Beide sind Auswüchse der Hallen, »des belles brutes« (VP: 776), doch ist das Mädchen Marjolin geistig überlegen. Cadine ist sich dessen bewusst und manipuliert ihre »grosse bête« (VP: 763). Im Fall Marjolins ändert sich sein Verlangen nach den »amours […] insouciants« (VP: 772) in eine triebhafte Lust, die Lisa entfacht: »[I]l rêva, en la voyant, d’allonger les mains sur sa forte taille, sur ses gros bras, ainsi qu’il les enfonçait dans […] les caisses de pommes tapées« (VP: 785). Er ist nicht in der Lage, seinen Zustand zu reflektieren oder seine erwachende Manneskraft zu kontrollieren. Entsprechend lösen die räumliche Nähe zu Lisa und die Atmosphäre im Geflügelpavillon eine
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Natürlich ist besonders in Ausdrücken wie der »fadeur des légumes« und der »rudesse pestilentielle des fromages« (VP: 774), denen sich Marjolin und Cadine unberührt aussetzen, eine Bewertung des Erzählers zu lesen. Das raue Milieu lässt die Kinder verrohen. Es ist Borsò zwar zuzustimmen, dass der Erzähler Claude seine Bedenken vortragen lässt, doch verkürzt sein Urteil die Vielstimmigkeit der Szene nicht zwingend. Borsò übersieht, dass seine Einschätzung der »brutes« immer mit positiven Attributen versehen ist, so die gerade genannte »admiration« oder eben die »amour des belles brutes« (VP: 776, Hervorh. J.K.). Auf diese Weise schwächt die Stimme des Erzählers die Zweideutigkeit der Oxymora, mit denen Zola die Kinder beschreibt, nur geringfügig ab. Diese Elemente antizipieren unverkennbar die Wünsche und das Verhalten der Frauen in Au Bonheur des Dames.
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Anspannung aus. Die Position des Kellers unter der Erde wird semantisch wertvoll – »›[i]l y a, sous ces Halles, des choses qu’on ne soupçonnerait jamais‹« (VP: 792) meint Lisa und spricht damit indirekt die Tiefenstrukturen ihres eigenen Charakters an. Zola schöpft aus seinen Notizen, wenn er Lisa den Raum wahrnehmen lässt: »[L’]air noire de la cave suffoqua la belle charcutière« (VP: 791); besonders die »odeur chaude, pénétrante, une exhalaison de bêtes vivantes, dont les alcalis la piquaient au nez et à la gorge« (VP: 791) setzt ihr zu. Durch die exponierte Perspektivierung wird Lisas Reaktion auf den Raum für den Leser spürbar. Der Keller ist kein Ort der unschuldigen Liebe mehr, sondern Ort des unterdrückten Verlangens. Die sonst so kalte Lisa lässt sich zur Berührung des »menton […] si délicat à toucher« (VP: 795) Marjolins hinreißen. In dem jungen Mann bricht das Animalische aus: »[C]ette chaleur de bêtes vivantes le grisait. Maintenant, il n’avait plus de timidité, il était plein du rut qui chauffait le fumier des poulaillers« (VP: 794f.). Es kommt zum Angriff auf Lisa, den sie aber abwehren kann. Die Fette siegt symbolisch über den Mageren, der konzeptuelle Raum siegt über den wahrgenommenen Raum, die Homophonie über die Polyphonie.46
6.5
Kadenz: Rückzugsorte von der pathologischen Großstadterfahrung
Die Mechanismen des sozialen Raums pferchen das Idyll der jungen Wilden ein und hinterfragen auch die Form der Legende als mögliche Form der Repräsentation der Erfahrung in der Großstadt. Zola bleibt allerdings beim Bild des Bukolischen und versucht nun in der Kadenz am Ende der Reprise, ein traditionelles Idyll außerhalb der Stadt zu entwerfen (vgl. Abb. 16).47 Obwohl Florent auch in seinem Büro und Zimmer Rückzugsorte findet, bringt ihm erst der Ausflug in die Natur eine wirkliche Erholung von der Großstadt. Während im Falle der jungen Wilden das Natürliche einen Hang zur Perversion hatte, sucht Florent die Utopie einer reinen Natur in einem prämodernen Leben. Nur mithilfe von Mme François erreicht der Protagonist diesen Raum. Wie schon in der Einleitung transportiert sie Florent über die sich zunehmend verflüchtigenden Grenzen an einen Ort im Nirgendwo: »C’était au bout du monde« (VP: 801). Mme François ist die Mittlerin zwischen einer Zeit vor und nach Haussmann. Wenn Claude gegen Ende der Kadenz die »bataille des Gras et des Maigres« (VP: 804) für den Leser rekapituliert 46
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Laurence Besse erkennt in dem Fausthieb Lisas eine symbolische Schlachtung bzw. Kastration Marjolins. Nicht nur der Ort der Szene und die Art der Darstellung (»Elle leva le bras, comme elle avait vu faire aux abattoirs, […] assomma Marjolin d’un seul coup«, VP: 795) deuten hierauf hin; auch Lisas grundsätzliches Verhältnis zu Männern legitimiert diese Interpretation. Sie bricht Quenus Willen und zerteilt immer dann Fleisch, wenn sie entweder mit Marjolin spricht oder aber an die Szene im Keller denkt (vgl. Besse 1996: 38). Zum bukolischen Motiv im vierten Kapitel siehe Marin (1999).
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
und die verschiedenen Figuren in eine Typologie der Hallen einordnet, steht Mme François außen vor: »›Non, je ne sais pas, je n’ai jamais songé à la classer…C’est une brave femme, madame François, voilà tout…Elle n’est ni dans les Gras ni dans les Maigres, parbleu!‹« (VP: 806). Sie verharrt in einem Zwischenzustand, der die Situation der ländlichen Vororte in der Moderne reflektiert. Sie teilen viele der konzeptuellen Merkmale der Stadt, rufen aber durch veränderte Sinnesreize einen anderen gelebten Raum in Erinnerung. Florent folgt dem Klischee der unberührten Natur aus dem kollektiven Haushalt. Die langsame Fahrt aus der Stadt markiert den fließenden Übergang von der Überreizung in die Erholung der Sinneswahrnehmung. Zola arbeitet mit Kontrastierungen, um den Zustand Florents auszudrücken. Die ruhige Fahrt steht dem stockenden Verkehr in der Stadt gegenüber; der Gestank in der Stadt findet seinen Gegenpart in der »bonne senteur« (VP: 798) der Kräuter und dem »air pur« (VP: 800); die ständige Bewegung Florents in der Stadt wird durch die Immobilität auf dem »lit épais de verdure« (VP: 798) ersetzt; der »ciel pâle« (VP: 798), in dem Claude und Florent die Sterne sehen, kontrastiert mit der »rue couverte des Halles« (VP: 799); die Stille in der Natur beseitigt den Lärm in der Stadt. Kurz: Florent entdeckt auf dem Land genau jene Merkmale, die Haussmanns Raumpolitik auch in der Stadt realisieren wollte: Reinheit, freies Zirkulieren und Schönheit. Hier herrscht ein Frieden und eine Lebendigkeit, die Paris fehlt (»il semblait qu’on entendît naître et pousser les légumes«, VP: 802). Florents Urteil zur Stadt fällt wie folgt aus: Er metaphorisiert sie als einen »vaste ossuaire, un lieu de mort où ne traînait que le cadavre des êtres, un charnier de puanteur et de composition« (VP: 803). In der Natur ist er zum ersten Mal »profondément heureux« (VP: 803) und empfindet ein »bien-être absolu« (VP: 804). Der Verzehr der Speise ist nur eines der Zeichen seiner Wiederbelebung (»il renaissait à l’air pur«, VP: 803). So kommt Florent – oder vielleicht auch der Erzähler – zu dem pathetischen Schluss: »La terre était la vie, l’éternel berceau, la santé du monde« (VP: 803). Nur wenige Hinweise im Text klären jedoch, dass es sich bei dem Anwesen von Mme François um keine Gegenwelt zum Raum der Stadt handelt. Natürlich nimmt sie mit der Belieferung des Markts und der Entsorgung des Abfalls der Hallen an der Reproduktion existierender Beziehungen teil (»[E]lle emportait […] une charrette de feuilles, prises […] dans les tas d’ordures qui encombrent le carreau«, VP: 798). Ihr Verhältnis zum Land ist daher wenig idyllisch, sondern von harter Arbeit geprägt, was das Auf- und Abladen des Gemüses und die nächtliche Fahrt nach Paris konkretisierten. Sie muss ebenso pragmatisch wie die Verkäuferinnen auf dem Markt agieren. Nur im Blick des Städters kann daher die Utopie einer behüteten Natur weiterbestehen. Denn die Natur außerhalb der Stadt ist nicht weniger künstlich als die Natur in der Stadt. Florents Wahrnehmung des Gemüsegartens gibt selbst den Trugschluss von der Unberührtheit der Natur preis, ohne dass sich der Protagonist dessen bewusst ist:
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Le potager formait une longue bande de terrain, séparée au milieu par une allée étroite. […] Des haies vives le séparaient d’autres pièces de terre; ces murs d’aubépines, très élevés, bornaient l’horizon d’un rideau vert […]. Les carrés d’épinards et d’oseille, les bandes de radis, de navets, de carottes, les grands plants de pommes de terre et de choux étalaient leurs nappes régulières, leur terreau noir, verdi par les panaches des feuilles. […] Pas une mauvaise herbe ne traînait. On aurait pris le potager pour deux tapis parallèles aux dessins réguliers, vert sur fond rougeâtre, qu’on brossait soigneusement chaque matin (VP: 803). Das Zitat macht die Spannungen zwischen Naturbeherrschung und Naturerleben sichtbar. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging der Trend in der Garten- und Parkgestaltung von einer Ideologie der Beherrschung zu einer Ideologie des Erlebens über. Im Kontext der Industrialisierung wurde die Sehnsucht nach der Rückkehr in authentische Landschaften größer. Diese Sehnsucht musste mit künstlichen Mitteln in den Parkanlagen der Stadt erzeugt werden, der Park Monceau ist nur ein Beispiel hierfür, und überschattete die anhaltende Ausbeutung natürlicher Ressourcen für Industrie und Bevölkerung (vgl. Schüle 2003: 197). Florent stillt seinen Durst nach dem Idyll in einer geordneten Natur. Der Gemüsegarten folgt mit seinen parzellierten, parallellaufenden Feldern und den »nappes régulières« des Gemüses einem geometrischen Muster. Hier herrscht der gleiche »besoin de l’alignement« (VP: 799), den Claude nur in der Stadt sieht. Der entlegene Ort kann sich genauso wenig wie Florent dem Einfluss der Raumkonzeption bzw. der Politik des Profits entziehen und findet seine Existenzberechtigung nur in der Kooperation mit der Stadt.
6.6
Coda: Die Konspiration der Hallen oder: das Ausscheiden Florents
Die Spannung in der Coda wird nicht durch den überraschenden Ausgang der Geschichte erzeugt (vgl. Abb. 16). An diesem Punkt der Handlung rechnet der Leser mit dem Fall des Protagonisten. Es ist die Art der Inszenierung des Schlussakkords, die das Interesse weckt. Zola greift Merkmale der Durchführung auf und haftet sie an drei Erzählstränge. Lisas Intrigieren gegen Florent bildet den ersten Erzählstrang. Zweitens wird mit Mlle Saget das Zirkulieren kompromittierenden Wissens sowie der schlechten Gerüche aus dem dritten Kapitel weitergeführt. Der Leser folgt drittens dem Weg Florents, seinen Plänen von der Revolution und seiner Fehleinschätzung der Situation. Die Erzählstränge verstricken sich nach und nach, bis die Geschichte am Ende mit dem Blick auf das gesamte Quartier endet. Lisa überschreitet bereits im vierten Kapitel die Grenze zu Florents Zimmer und inspiziert seine Notizen. Das Wort »révolution« (VP: 796) auf einem Blatt Papier schürt ihre Angst, doch hält sie ihre Idee von Rechtschaffenheit von weiteren
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Untersuchungen ab. Der Erzähler diskutiert in den Handlungen Lisas die Moralvorstellungen der Bourgeoise, indem er den Leser nah an die Figur heranführt. Neben exponierten Perspektivierungen (»Elle fit lentement le tour, examina le lit, la cheminée, les quatre coins«, VP: 796), die an das Vorgehen eines Ermittlers erinnern, setzt er das Verfahren der erlebten Rede ein, um den Standpunkt von Figur, Erzähler und Leser abzugleichen: »C’était très mal ce qu’elle allait faire là« (VP: 797). Die Uneindeutigkeit der Aussageinstanz drückt die moralischen Zweifel Lisas aus.48 Zola führt seinen Angriff auf die bourgeoise Leserschaft im fünften Kapitel weiter, indem gerade der Pfarrer als Symbolfigur der Moral Lisas Eindringen in Florents Raum gutheißt.49 Die Handlangerin des Panoptischen durchleuchtet auch noch den letzten privaten Bereich. Sie findet, was sie sucht, »des notes très compromettantes« (VP: 812). Wie schon in der ersten Szene vermeidet sie die Berührung der Notizen, »avec la peur de les voir éclater entre ses mains comme des armes chargées« (VP: 813). Zola nutzt das Gefühl der Angst der Bevölkerung nach der Kommune, um es auf die Kleinbürger in den Hallen zu projizieren. Er lässt Bilder der Gewalt und der Zerstörung wiederaufleben, um an die Zeit der Aufstände zu erinnern: »Elle vit ces hommes, […] passer devant sa charcuterie, envoyer des balles dans les glaces et les marbres, voler les saucisses et les andouilles de l’étalage« (VP: 814). Es schwingt eine Kritik mit, wenn der Erzähler bemerkt, dass Lisa den Inhalt der Schrift nicht versteht. Einzelne Wörter aus der Rhetorik des Kriegs genügen, um Lisas reale Wahrnehmung des Raums mit Schreckensbildern zu überlagern und verzerren. Lisas Inspektion des Zimmers leitet über in die Untersuchungen von Mlle Saget. Sie versucht Pauline Informationen über Florent zu entlocken und diszipliniert das Kind, indem sie ihm Angst macht: »Voyons, ne pleure plus, les sergents de ville te prendraient« (VP: 820). Sie erfährt Florents Geheimnis und weiß um die Macht dieses Wissens: »[E]lle possédait Florent, tout entier, tout d’un coup. […] Maintenant, le quartier des Halles lui appartenait!« (VP: 821f.). Ihre Strategie zur Raumbeherrschung beginnt damit, das Wissen in Umlauf zu bringen. Um den Moment des Triumphs hinauszuzögern und Spannung aufzubauen, werden Beschreibungen der Sarriette und ihres Früchtestands sowie von Mme Lecœur bei der Butterherstellung eingeschoben (vgl. Bargues Rollins 2001: 101). Erst dann kommen die Komplizinnen zusammen. Hatte der Erzähler schon zuvor auf die »saletés de 48
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Laut Philippe Hamon führt die Unbestimmbarkeit der Wahrnehmungsinstanz zu einer Schwächung der Lesbarkeit der Texte Zolas und der Aufwertung einer »ambiguïté qui rapproche[nt] Zola de cette ›polyphonie‹ que […] le roman ironique moderne systématisera« (Hamon 2011 [1983]: 320; vgl. Scarpa 2000: 108). Erneut findet sich demnach auf der erzähltechnischen Ebene eine Polyphonie. Dass Zola eine harsche Kritik an der Institution Kirche übt, ist bekannt. Eine Dissertation aus jüngerer Zeit, die sich näher mit dem Thema der Beichte auseinandersetzt, ist von Sophie Ménard (2011) vorgelegt worden.
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médisance« (VP: 819) aufmerksam gemacht, denen die Saget auf dem Square des Innocents täglich lauscht, unterlegt er die Gespräche zwischen den drei Intrigantinnen im Folgenden mit schlechten Gerüchen. In der Szene der Blutwurstherstellung war es Florent, der die olfaktorischen Reize registrierte. Nun werden die Gerüche aperspektivisch notiert, um den Leser stärker einzubinden und die negativen Konnotationen des Geruchsinns inferieren zu lassen. Mlle Saget gibt Florents Geheimnis preis: »›Il vient du bagne‹, dit-elle enfin, en assourdissant terriblement sa voix« (VP: 826). Der Erzähler lässt die Aussage im Raum stehen und geht über zum Gestank des Käses, der die Frauen umgibt: »Autour d’elles les fromages puaient« (VP: 826). Sie sitzen beengt, weshalb der Geruch umso intensiver sein muss: »Elles y étaient les unes sur les autres, se parlant le nez dans la face« (VP: 826). Figuren und Objekte werden in bekannter Manier parallelisiert, denn auch die verschiedenen Käse liegen auf den Auslagen dicht nebeneinander: Sur les deux étagères de la boutique, au fond, s’alignaient des mottes de beurre énormes; […]. [C’]était surtout sur la table que les fromages s’empilaient. Là, à côté des pains de beurre à la livre, dans des feuilles de poirée, s’élargissait un cantal géant, comme fendu à coups de hache; puis venaient […] des hollandes, ronds comme des têtes coupées, barbouillées de sang séché, avec cette dureté de crâne vide qui les fait nommer têtes-de-mort (VP: 826.f.). Obwohl Florent die Bilder der Vergänglichkeit schon in früheren Beschreibungen bemerkt, ist die Isotopie des Todes in der Käsesymphonie sehr ausgeprägt (vgl. Tunstall 2004: 185). Die »coups de hache«, die »têtes coupées«, das Blut und die Totenköpfe tragen wie die in der Hitze zerfließenden Käse und offenen Wunden eine Todesbotschaft: »La chaude après-midi avait amolli les fromages; les moisissures des croûtes fondaient, se vernissaient avec des tons riches de cuivre rouge et de vert-de-gris, semblables à des blessures mal fermées« (VP: 828). Sie kann sich sowohl auf Florent als auch die Opfer der Aufstände beziehen. Und selbst die Komplizinnen werden nicht verschont. Die »fétidité de cave humide« (VP: 827) evoziert den Keller, in dem Mme Lecœur gerade noch gearbeitet hat. Die scheinbar durch den Käsegeruch ausgelöste »infection« (VP: 828) korrespondiert mit folgender Aussage: »Mme Lecœur en fut malade« (VP: 830).50 Der Geruch wird zum expliziten Marker des schlechten Charakters der Frauen; sie selbst nehmen die Fäulnis wahr, erkennen ihre eigene Abgründigkeit jedoch nicht.
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Beate Steinhauser gibt weitere Beispiele für die lexikalische und semantische Verbindung zwischen Mensch und Käse. Beide verfügen über einen »souffle« (VP: 828; vgl. »elles soufflaient un peu, VP: 830), die »commérages tournèrent« (VP: 830) wie der Wind, der den Geruch trägt (»Puis, le vent paraissait tourner; brusquement, les râles de limbourg arrivèrent entre les trois femmes«, VP: 829; vgl. Steinhauser 2006: 65f.).
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Zu den Stimmen der Frauen passt vor allem die »note aiguë et particulière dans cette phrase rude« (VP: 828) der Geruchsvariationen. Der Leser kennt die Formulierung aus den Beschreibungen des Gemüses und der Blumen. Wurde der Eindruck von Synästhesie hier durch das Zusammenspiel visueller und auditiver Impressionen erreicht, sind es an dieser Stelle Gerüche, die musikalische Akzente setzen. Letztere werden zusätzlich durch das Aufzählen der Käsesorten sowie Partizipien und Adjektive pointiert: Alors, commençaient les puanteurs: les mont-d’or, jaune clair, puant une odeur douceâtre; les troyes, très épais, meurtris sur les bords, d’âpreté déjà plus forte, ajoutant une fétidité de cave humide; les camemberts, d’un fumet de gibier trop faisandé; les neufchâtels, les limbourg, les marolles, les pont-l’évêque, carrés (VP: 827). Die Saget wiederholt nach der ersten Beschreibung des Käses ihre Aussage, »›Oui, répéta-t-elle avec une grimace de dégoût, il vient du bagne‹« (VP: 828), wobei unklar ist, ob der Ekel Florent oder dem Käse gilt (vgl. Steinhauser 2006: 68). Die Diskussion wird spekulativ und lebhafter, was durch den ständigen Wechsel zwischen direkter, indirekter und erlebter Rede angezeigt wird (»Qu’avait-il donc commis pour aller au bagne?«, VP: 828). Zola verbindet die Erzählstränge von Lisa und Mlle Saget zum ersten Mal semantisch und zwar anhand der Bilder der Kommune: »Mme Lecœur en fut malade; elle voyait les Halles flamber« (VP: 830). Die Angst der Frauen vor Florent und dem Kontrollverlust führt zum verbalen Angriff auf den Protagonisten.51 Die Wiederholung des Satzes und die zunehmende Ereiferung der Frauen gleichen der Intensivierung und wiederholten Verwendung von Sätzen aus der Beschreibung des Käsegeruchs: »[L]es fromages puaient plus fort« (VP: 829), heißt es während des Gesprächs. Nachdem das Aus- und Einatmen im nächsten Satz auf die Nähe von Frauen und Nahrung verweist, wird explizit die Symphonie des Käses genannt:52 Et, comme elles soufflaient un peu, ce fut le camembert qu’elles sentirent surtout. […] Cependant, au milieu de cette phrase vigoureuse, le parmesan jetait par 51
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Ausdrücklich bringt Zola dann auch die »paroles mauvaises« (VP: 833) und die »mauvaises haleines« (VP: 827) des Käses zusammen. Yvonne Bargues Rollins Kommentar zur Darstellung des Verbunds von Gerüchen und Gerüchten ist erhellend: »[C]ette rumeur […] prend une ampleur prodigieuse sur un fond symbolique de pestilence dont la description évolue rapidement du réalisme le plus sensuel au fantastique le plus délirant« (Bargues Rollins 2001: 100). Ironisch ist, dass der Angriff der Frauen auf Florent nicht weniger bedrohlich ist: »Elles en revinrent à Florent. Elles le déchirèrent avec plus de fureur encore« (VP: 832). Beate Steinhauser ist der Meinung, dass die Verwendung zweier gegensätzlicher Verben, hier »souffler« und »sentir«, ebenfalls den Effekt der Reziprozität zwischen Frauen und Käse erzeuge (vgl. Steinhauser 2006: 65).
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moments un filet mince de flûte champêtre; tandis que les bries y mettaient des douceurs fades de tambourins humides. Il y eut une reprise suffocante du livarot. Et cette symphonie se tint un moment sur une note aiguë du géromé anisé (VP: 830). Die »phrase vigoureuse« könnte genauso gut für die Aussagen der Frauen stehen – nicht zufällig betont der Erzähler die »voix pointue« Mlle Sagets (VP: 826). Die Geruchsnoten verräumlichen die Gespräche der Intrigantinnen, deren Stimmen für den Leser eine ebenso abstoßende Symphonie ergeben. Die dumpfe Stimme der Saget passt zu der »douceur fade de tambourins humides«, die »exclamations d’étonnement« (VP: 828) von La Sarriette und Mme Lecœur können sich in dem »filet mince de flûte champêtre« wiederfinden. Nachdem die Frauen die Situation Gavards besprochen haben – »elles calculèrent où ces mauvaises histoires pouvaient les mener, lui et Gavard« (VP: 832) –, kommt das Gespräch in dem Käsegeschäft zum Abschluss.53 Die Beschreibung der Symphonie erreicht in einer mise en abyme des Themas der Homo- und Polyphonie einen grotesken Höhepunkt: »Elles restaient debout, se saluant, dans le bouquet final des fromages. Tous, à cette heure, donnaient à la fois. C’était une cacophonie de souffles infects« (VP: 832). Die Gerüche sind nicht mehr distinkt, sondern verschwimmen zu einer homophonen Note, »épanouis en une seule explosion de puanteurs. Cela s’épandait, se soutenait, au milieu du vibrement général, […], d’un vertige continu de nausée et d’une force terrible d’asphyxie« (VP: 833). Während die Vermittlungsinstanz den Gestank im Laden als erdrückend empfindet, sind die drei Frauen unberührt von den Gerüchen, zu sehr entspricht dieses Milieu ihrer Natur. Sie treffen die Übereinkunft, die Hallen unter ihre Kontrolle zu bringen, und leiten eine Hetzjagd auf Florent ein. Es gilt, Halbwahrheiten in dem personalen Netz der Hallen zirkulieren zu lassen. Die Gerüchte verlieren ihre Urheber und werden anfällig für Fehlinformationen (vgl. VP: 841f.): »Ce fut d’abord un récit écourté, de simples mots qui se colportaient tout bas; puis […] les épisodes s’allongèrent, une légende se forma« (VP: 835). Florent wird zur Zielscheibe eines anwachsenden Hasses: »Le quartier entier se ruait sur lui. […] C’était un torrent d’injures« (VP: 841). Eine Anspannung entsteht, die sich räumlich und symbolisch niederschlägt. Die Metzgerei verliert ihren Glanz, die Rivalität zwischen Lisa und Louise nimmt zu, Quenu verweigert das Essen. »Tout le monde est malade dans le quartier« (VP: 854), fasst Lisa zusammen. Florent ist ein Fremdkörper im Raum der Hallen, der die Ordnung angreift. Die Mächtige droht, ihre Kontrolle über den Raum zu verlieren. In diesem Moment laufen die beiden Erzählstränge der Frauen zusammen. Mlle Saget gibt sich 53
Das Verb calculer ist ein versteckter Hinweis auf das Verhalten der Frauen nach der Verurteilung Gavards. Sie nehmen später seinen Besitz an sich und teilen das Vermögen unter sich auf.
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
als Vertraute Lisas und manipuliert ihre Entscheidungen, indem sie erneut die Angst vor der Obrigkeit als Waffe gegen die Verkäuferin einsetzt: »[S]i la police descendait ici, elle pourrait très bien prendre aussi M. Quenu« (VP: 856). Als Lisa ein letztes Mal Florents Zimmer betritt, sieht sie in der »décoration révolutionnaire« (VP: 861) Zeichen eines möglichen Angriffs auf die Hallen und beschließt zu handeln. Sie liefert Florent der Polizei aus, stellt aber fest, dass bereits zahlreiche Denunziationen eingegangen sind. Die Konspiration gegen Florent läuft seit geraumer Zeit und materialisiert sich in den Schriftstücken, die so wie in der früheren Verurteilung Florents zu einem Element der Exklusion werden. Die Überleitung zum Erzählstrang um den Protagonisten ist direkt. Florent wird als naiver Idealist entworfen, der lange in Unkenntnis der Bedrohung lebt. Er zieht sich in die Utopie der Revolution zurück. Dies führt so weit, dass er auf seinem Gang durch die Straßen im sechsten Kapitel nicht mehr die materiellen, sondern nur imaginäre Orte eines späteren Kampfes sieht (»une vision vite de bataille«, VP: 873). Charvet und der Erzähler werden zu Sprachrohren eines kritischen Publikums, wenn sie das Auftreten Florents und seiner Truppe beschreiben. Er wirkt mit seiner »crédulité d’enfant et [sa] confiance de héros« (VP: 845) laut Charvet wie ein »curé« (VP: 847). Das Land brauche keine »poètes humanitaires« (VP: 845) mehr, womit er die Situation in Frankreich bzw. den Verdruss der Bevölkerung nach der Kommune anspricht. Die Idee des Aufstands verkehrt sich zur Farce (vgl. Gural-Migdal 2000: 159 und Johnson 2002: 51). Erst als Florent Claude nicht auf seine Seite ziehen kann, begreift er die Situation: »Cela le chagrina; car, malgré son bel aveuglement de fanatique, il finissait par sentir autour de lui l’hostilité qui grandissait à chaque heure« (VP: 850). Er fühlt einen »malaise[s] nerveux« (VP: 866) und begibt sich ein letztes Mal auf die Terrasse. Florents Blick streift über die Hallen, was zuerst ein Nachsinnen über seinen Werdegang und ein Psychologisieren seines Konflikts mit den Bewohnern des Quartiers provoziert (vgl. Martin 1992: 19): Accoudé à la rampe de fer, Florent songeait qu’il serait puni tôt ou tard d’avoir consenti à prendre cette place d’inspecteur. C’était comme une tache dans sa vie. Il avait émargé au budget de la préfecture, se parjurant, servant l’Empire, malgré les serments faits tant de fois en exil. […] Et il revit l’année mauvaise qu’il venait de passer, […] il [l’]acceptait en châtiment (VP: 867). Zola wechselt in den Anfangssätzen zwischen indirekter und erlebter Rede, um mit der Distanz zwischen Erzähler und Figur zu spielen (vgl. Martin 1992: 19). Nur Florent fällt ein eindeutiges Urteil über seine Situation und sucht Absolution (vgl. Brunet 2002: 80). Denn der Blick aus dem Fenster bringt ihm keine Erlösung mehr. Der »horizon changeant« (VP: 867) der Hallen ist nicht mehr der Einstieg in einen »pays féerique des contes« (VP: 867); die Öffnung nach Paris wird durch den »marais nauséabond« (VP: 868) und die Dächer der Pavillons verhindert: »Elles lui bar-
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raient Paris, lui imposaient leur énormité, entraient dans sa vie de chaque heure. Elles lui soufflaient à la face toutes leurs mauvaises haleines« (VP: 868). Die Bilder des gelebten Raums der Hallen unterdrücken Florents persönliche Sicht. Es ist abschließend der Erzähler, der das Ende Florents ausmalt: »C’étaient les Halles crevant dans leur ceinture de fonte trop étroite, et chauffant du trop-plein de leur indigestion du soir le sommeil de la ville gorgée« (VP: 868). An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Die Erzählstränge um Mlle Saget, Lisa und Florent interagieren im Text-Raum. Das enge Gehäuse der Hallen ruft Lisas zu enges Korsett ins Gedächtnis, die »mauvaises haleines« nehmen Bezug auf die drei Frauen und den Gestank des Käses. Die verschiedenen Stimmen der Hallen reduzieren sich auf den Raum der Macht, der nur noch die Funktion hat, Florent auszuscheiden. Lisa positioniert sich wie zu Beginn des Romans demonstrativ auf der Türschwelle ihres Ladens, um den Raum symbolisch unter ihre Kontrolle zu bringen. Es kommt zur Festnahme Gavards und Florents.54 Am Ende sind die alten Verhältnisse wiederhergestellt.
6.7
Zusammenfassung
Der Sieg der Fetten über den Mageren hat einen faden Beigeschmack. Obwohl Florents Utopie von der Revolution ins Lächerliche gezogen wird, hat auch Lisas Utopie eines homogenen, von kleinbürgerlicher Norm bestimmten Raums keinen Halt. Auf den ersten Blick scheint die Ideologie des espace conçu unumstößlich. Die Raumpolitik aus La Curée hat sich in der Mikrogeographie des Alltags im Ventre materialisiert. Die Architektur der Hallen begünstigt ein System der Überwachung und bürokratischen Ordnung, das mithilfe der Polizei, der Figur Mlle Saget bzw. der Selbstregulierung der Bürger in Kraft tritt. Lisa ist das Zentrum der totalitären Kontrolle, die am Ende die Mechanismen der Exklusion verstärkt. Es sind aber allgemein die Körper der Personen und speziell ihre Sinneswahrnehmungen im espace perçu, an denen die politische Einwirkung erkennbar wird. Der Körper ist Mittel der sozialen Kategorisierung und Zeichen des Habitus; die Bewegungen der Verkäufer sind routiniert, das Durchlaufen des Raums zielgerichtet und die Sinneswahrnehmungen abgestumpft. Die Symbiose zwischen Figur und Milieu ist so ausgeprägt, dass die Intrigantinnen mit dem Käse, Lisa mit dem Fleisch, die Sarriette und Cadine mit den Früchten und Marjolin mit dem Geflügel eins werden. 54
Laurence Besse vergleicht den Prozess der Auslieferung der Figur zu Recht mit einem Opferritus (vgl. Besse 1996: 38ff.). Von Beginn an sucht Florent in den Hallen spirituellen Beistand, sei es in der Kirche Saint-Eustache oder in der Gruppe. Er nimmt zuletzt sein Schicksal ergeben an und wird in der chapelle du ventre geopfert und öffentlich abtransportiert. Die Opferthematik in Le Ventre de Paris hat zuerst auf sehr eindrückliche Weise Naomi Schor untersucht (vgl. Schor 1978).
6. Die Symphonie des Ventre – Homophonie und Polyphonie in den Hallen von Paris
Unter dieser Oberfläche, die sich als homophone Gemeinschaft versteht, zeigen sich im Durchlauf der Pavillons dennoch polyphone Stimmen und Wahrnehmungen der Individuen. Der abstrakte Raum der Macht wandelt sich in einen diversen gelebten Raum, der von Mlle Saget und ihren Freundinnen in einen Raum des überwachten Spektakels, von Marjolin und Cadine in einen Raum des Spiels und (unterdrückter) Triebe, von Claude in einen Raum der Kunst und von Florent in einen Raum der Paranoia übersetzt wird. Sie alle fordern die Autorität Lisas in gewisser Hinsicht heraus (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Doch ist die Einteilung nicht ganz richtig. Florent nimmt in dem Szenario über seinen mageren Körper hinaus eine besondere Rolle ein. Er ist in der Lage, verschiedene Positionen einzunehmen oder neue Wahrnehmungsweisen einzuführen, so zum Beispiel, wenn er den Posten des Inspektors annimmt, die Natur in Nanterre oder aber die Ästhetik der Hallen bewundert. Diese Polyphonie der Rollen erlaubt es Zola, verschiedene ideologische Positionen zur Diskussion zu stellen. Er reflektiert so nicht nur die instabile Situation zur Zeit des ordre moral der Dritten Republik, sondern verhandelt zudem Gender-, Hygiene-, Natur- sowie Literatur- und Kunst-Diskurse. Immer wieder werden Urteile hinterfragt, sei es in der Haltung von Mme François, dem Kater Mouton oder dem Maler Claude. Dieser ständigen Kollision von Meinungen gilt dann auch Zolas Suche nach einem Platz im literarischen Feld. Er testet verschiedene Verfahren und Stile, ohne das Ziel einer kohärenten Komposition aus den Augen zu verlieren. Orientierung bieten der reale Plan des Quartiers und die Architektur der Hallen, die die Kapitel räumlich strukturieren. Die Tagesabläufe und Nahrungsmittel wiederum regeln im Verfahren von Panorama und Diorama die zeitliche Abfolge und das enzyklopädische Erzählen in den Beschreibungen (vgl. Kröger [i. Ersch.]). Zola dynamisiert diesen Rahmen mithilfe der Struktur der Symphonie, das heißt mit ihrem konfliktreichen Thema, der kreativen Verarbeitung von Elementen, der Reprise und ihrem markanten Abschluss. Diese Elemente finden sich im Roman sowohl inhaltlich als auch erzähltechnisch wieder. Leitmotive (Hallen, Lisa, Claude, Mlle Saget, La Normande) werden mithilfe von Sinneseindrücken und der Montagetechnik wiederholt, die zyklische Struktur des Romans mit stufenartigen Steigerungen in Spannung gesetzt, welche nun explizit Verfahren der Musik entlehnt. Von Beginn an liegt der Handlung eine Geräuschkulisse zugrunde. In der Exposition korreliert sie mit visuellen Wahrnehmungen der Hallen und der Nahrung (Claude), kulminiert in der Metzgerei und entwickelt sich zum eigenen Thema, dem Gerede (Saget), das in der Denunziation Florents endet. Ähnlich verfährt Zola mit den olfaktorischen und taktilen Reizen (Lisa, Normande, Saget, Marjolin). Sie werden zuerst am Ende der Exposition, in der Küche der Quenu, wirksam, steigern sich im Fischpavillon sowie im Keller und münden mit der Käseauslage in der synästhetischen Symphonie. So entsteht parallel zum geographischen Raum der Hallen eine sinnliche Karte des Quartiers.
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Die Sinneswahrnehmungen haben folglich eine inhaltliche und stilistische Funktion. Mit Ausnahme von Florent, der die Überreizung aller Sinne erfährt, wird an jede Figur hauptsächlich ein Sinn gekoppelt. Figur- und Milieubeschreibungen verdichten sich in den Tableaux der Hallen, das heißt der Blumen-, Wurst-, Fisch-, und Käseauslagen, in denen Zola jeweils die chanson aiguë entwirft. Ein hybrider Stil aus realistischen und impressionistischen Elementen führt teilweise an die Grenzen des Bedeutsamen. Die entropischen Tendenzen der Sprache korrelieren mit dem Verfall des Second Empire und betonen eine moderne Seite Zolas, die sich auch im Rückgriff auf Techniken des Films zeigt (vgl. Gural-Migdal 1997: 192). Der Text-Raum ist dynamisch und »tout sauf univoque« (Scarpa 2004: 105). Auf diese Weise reflektiert der Autor das Thema der Polyphonie auch erzähltechnisch und fordert die Eindimensionalität oder Homophonie der Theorie des Naturalismus heraus. Übertragen auf die homogenisierende Logik der Raumpolitik verdeutlicht dies, dass die Stadtbewohner zu jedem Zeitpunkt die Macht haben, die verkümmerte Agora in den Hallen in einen Raum der politischen Polyphonie zu verwandeln.
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
Au Bonheur des Dames ist ein Roman des Übergangs. Er ist Zeugnis einer Zeit des Innehaltens und der Reflexion im Leben und Schaffen Zolas. Der Erfolg von L’Assommoir (1877) und Nana (1880) festigt seine Position im literarischen Feld – der Naturalismus etabliert sich als Schule und erreicht nach und nach internationale Anerkennung. Ein Beweis hierfür ist zum einen die Gruppe junger Schriftsteller um Zola, darunter Huysmans und Maupassant, die sich seit 1877 zusammenfindet und das naturalistische Gedankengut weiterträgt.1 Gemeinsam veröffentlichen die Autoren 1880 den Band Les Soirées de Médan, dessen Titel auf die Treffen der Gruppe im Anwesen Zolas anspielt. Der Eindruck vom Naturalismus als Schule wird jedoch zum anderen besonders durch die Publikation von Zolas »Lettre à la jeunesse« (1879) sowie des Roman expérimental im September 1880 geschürt. Zola plädiert in dem Brief für eine Reformierung der französischen Gesellschaft, im Experimentalroman für die Erneuerung der Literatur auf Basis der Wissenschaften, wodurch er sich dem Vorwurf der Indoktrination aussetzt (vgl. Mitterand 2001a: 502ff.). Zola stellt sich seinen Kritikern und betont unter Rückgriff auf die experimentelle Medizin Claude Bernards, der Naturalismus sei eine Methode und keine Doktrin. Nach einer regen Kampagne verabschiedet er sich 1881 von der Presse. Er ist 1
Paul Alexis, Henri Céard und Léon Hennique zählen außerdem zu der Gruppe, die sich um Zola, Flaubert und Goncourt schart. Es muss einschränkend angemerkt werden, dass Zola sich gegen die Idee des Naturalismus als Schule ausgesprochen hat (vgl. Baguley 1993: 110). Yves Chevrel teilt die Geschichte des Naturalismus in fünf Phasen ein. Die Anfänge liegen bei wichtigen Werken realistischer Provenienz wie Flauberts Madame Bovary (1855-1858). Die zweite Phase schließt sich 1864-1869 an und zwar mit Veröffentlichungen wie Germinie Lacerteux der Goncourt-Brüder, Zolas Thérèse Raquin und den Schriften Dostojewskis und Tolstois. In der dritten Phase (1879-1881) setzt sich die naturalistische Literatur vermehrt im Ausland durch und nimmt Einfluss auf das Theater – zu denken ist an Ibsen oder Daudet. Der Höhepunkt des Naturalismus liegt in den Jahren 1885-1889, doch kündigt sich mit dem Manifest des Symbolismus Moréasʼ und dem Manifeste des cinq von 1887 eine Weichenstellung an. Yves Chevrel sieht in der Fertigstellung der Rougon-Macquart 1892 ein Zeichen des Niedergangs des Naturalismus in Frankreich. Zwischen 1892-1895 verlagere sich die Produktion eher nach Deutschland und in die USA (vgl. Chevrel 1993 [1982]: 38ff.).
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der Debatten überdrüssig (vgl. Becker 1996b: 83).2 Viel Zeit ist seit der ersten Kampagne bzw. der Veröffentlichung von Mes Haines (1866) vergangen – der Tenor der Kritik Zolas ist jedoch unverändert. So schreibt er selbst im Vorwort zu Une campagne (1881): En quittant la critique, j’ai voulu mettre sous les yeux du public les faits, c’est-àdire les études de toutes sortes que j’ai écrites depuis 1865 […]. Ce sont là les seuls documents sur lesquels on devra juger un jour le polémiste en moi, l’homme de croyance et de combat. […] On ne trouvera, dans mes sept volumes de critique, que le développement continu, et seulement de plus en plus appuyé, de la même idée (CDLP, XIV: 431f.). Zola blickt im Moment des Verfassens von Pot-Bouille (1882) und der Vorbereitungen für Au Bonheur des Dames auf seine Karriere zurück. Trotz öffentlicher Anerkennung durchlebt er eine Sinnkrise, die 1880 durch das Ableben seines langjährigen Freunds Edmond Duranty, außerdem Flauberts und vor allem seiner Mutter verschärft wird (vgl. Sacquin/Cabannes 2002: 53). Der Tod des großen Vorbilds wirkt wie ein schlechtes Omen für die Zukunft der Gruppe der Naturalisten. Zola bespricht in der campagne die jungen Autoren und erkennt, dass die einstigen Verbündeten zunehmend mit seinem Literaturverständnis in Konflikt geraten (vgl. Baguley 1993: 107f.).3 Die Zukunft des Naturalismus ist ungewiss. Statt zu resignieren zieht sich Zola nach Médan zurück und führt seine Kampagne in den Romanen weiter (vgl. ebd.: 111). Er lässt sich von der Stimmung der Euphorie und des Aufbruchs im Land anstecken: Die Zuwanderung nach Frankreich und speziell nach Paris steigt, die Pressefreiheit wird erweitert, die Kommunarden erhalten die Amnestie, Jules Ferry reformiert das Schulwesen, fördert den Laizismus und stärkt durch die Einnahme von Kolonien Frankreichs internationale Position (vgl. Gaillard 1983: 57ff. und Rivoal 2013: 240f.). Die Geschichte liefert ein Kontrastprogramm zu den Erfahrungen des verlorenen Krieges und der Kommune, wodurch sich Zola für kurze Zeit vom Schopenhauerʼschen Pessimismus aus
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Colette Becker erkennt in den Jahren 1864-1868 die erste, in den Jahren 1876-1881 die zweite Kampagne Zolas in der Presse, in der er seine Ideen von Literatur, Kunst und Politik propagiert (vgl. Becker 1996b: 83). Anders als Yves Chevrel (1993 [1982]) nimmt David Baguley an, dass die Gruppe der Naturalisten schon um 1882 an Zusammenhalt verloren hatte, und führt dies zum einen auf das Vorwort zu Les Frères Zemganno zurück, in dem Goncourt eine Literatur nach dem Naturalismus insinuiert, zum anderen auf den Hang zur Dekadenz in Huysmans A Rebours (vgl. Baguley 1993: 108). Zola sieht hierin einen Rückschlag für den Fortgang seines naturalistischen Projekts und distanziert sich zunehmend von der Konzeption des Naturalismus der ehemaligen Verbündeten (vgl. ebd.).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
Pot-Bouille abwendet (vgl. Cambron 1992: 25).4 Er findet in der Erfolgsgeschichte Octave Mourets das Bindeglied zwischen den beiden Werken und wählt das Kaufhaus als Symbol der Nation – es wird zum Zeichen des Fortschritts und der imperialistischen Bestrebungen und soll Frankreich einen Ausweg aus der traumatischen Vergangenheit weisen (vgl. Cambron 1992: 25, Deming 1992: 35 und Nelson 1993). Die Ébauche zum Buch bringt dies auf den Punkt und klingt wie ein Appell, den Zola an sich selbst wie an den Leser zu richten scheint: [C]hangement complet de philosophie: plus de pessimisme […], ne pas conclure […] à la mélancolie de la vie, conclure au contraire à son continuel labeur, à la puissance et à la gaieté de son enfantement. En un mot, aller avec le siècle, exprimer le siècle, qui est un siècle d’action et de conquête, montrer la joie de l’action et le plaisir de l’existence (N.a.f. 10277, Bonheur: f° 2). Ein Jahr lang, von Februar 1881 bis Februar 1882, beschäftigt sich Zola mit PotBouille, doch finden sich im Dossier zu Au Bonheur des Dames Hinweise darauf, dass Zola bereits im März 1881 die Arbeit am Folgeroman aufgenommen hat. Er resümiert zu diesem Zeitpunkt Zeitungsartikel, in denen es um den Niedergang des Kleinhandels, das hysterische Kaufverhalten der Frau sowie die Arbeitsbedingungen und das Leben der Verkäuferinnen im Kaufhaus geht (vgl. Mitterand 1964: 1678f.).5 Der erste Plan zum Roman ist sehr wahrscheinlich verfasst, als Zola im Frühjahr 1882 die Feldforschung in den grands magasins beginnt. Die Feuilletonversion von Au Bonheur des Dames entsteht zwischen Mai 1882 und Januar 1883 und erscheint bis Anfang März im Gil Blas, bevor der Roman am 17. März 1883 beim Verlag Charpentier veröffentlicht wird (vgl. Sacquin/Cabannes 2002: 53).
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Micheline Cambron fragt sich zu Recht, ob der Optimismus in Au Bonheur des Dames nicht bereits den utopischen Ton der Quatre Évangiles vorweggreift (vgl. Cambron 1992: 26). Zola verfasst als Feuilletonist zahlreiche Artikel zum modernen Großstadtleben, die er im Roman verarbeitet. Hier tauchen Themen wie die »calicots«, die »Types de femmes en France« oder auch die »Femmes honnêtes« auf, die er für den Messager de l’Europe im Juni 1878 und den Figaro im April 1881 untersucht. Ohne Zweifel gilt Zolas Interesse nicht nur den männlichen Eroberern, sondern auch der wachsenden Zahl von Frauen in der Textilindustrie und den hieraus resultierenden, veränderten Geschlechterrollen. Madeleine Rebérioux schätzt, dass 1847 die Hälfte, 1866 circa 30 % der Berufstätigen in den neuen Industrieberufen Frauen waren (vgl. Rebérioux 1984: 62); vgl. zur Rolle der Frau im 19. Jahrhundert den Band von Aron (1984), speziell zur Frauenbewegung und den Arbeitsbedingungen der Frauen im 19. Jahrhundert vgl. unter anderem Roux (1989) und McBride (1978).
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7.1
Das Theater als Modell der Roman- und Raumproduktion Zolas
Für die Produktion des Raums im Roman orientiert sich Zola am Theater bzw. Drama.6 Der Autor schreibt zu einer Zeit, in der das Theater zu einem wichtigen sozialen Treffpunkt verschiedener Klassen avanciert und die Theatralisierung der Öffentlichkeit zunimmt. Man zeigt sich nicht nur wie Renée im Bois de Boulogne, sondern will auch im Theater gesehen werden (vgl. Becker 2002: 168).7 Er beginnt früh, seine Romane für die Bühne zu adaptieren und Theaterstücke zu schreiben, arbeitet mit namhaften Librettisten und Komponisten wie Louis Gallet, William Busnach und Alfred Bruneau und bespricht zudem ab 1876 in den Theaterrubriken diverser Zeitungen aktuelle Autoren und Aufführungen (vgl. Clark 1973: 52).8 Allerdings bemängelt Zola die Durchschnittlichkeit des klassischen und romanti-
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Es ist Colette Becker zuzustimmen, wenn sie notiert: »La tentation du théâtre est – malgré des échecs – une des plus fortes et des plus tenaces de Zola« (Becker 2002: 168; vgl. auch Best 1986: 20-42). Janice Best hat sich mit dem theoretischen Verhältnis von Roman und Adaption beschäftigt. Neben Veröffentlichungen zum »théâtre lyrique« Zolas (vgl. Guieu 1983, Frichet 1971, Macke 2000) und der Diskussion von Adaptionen (vgl. unter anderem Sauvage 2009, Griffith 2009 und Sanders 1978) finden sich weiterhin Artikel zur Reflexion der Nähe von Zolas Theatertheorie und dem Theater der Avantgarde (vgl. Disegni 2005, Féral 1982, Guieu 1983, Sanders 1971) und der Verbindung Ibsen–Zola (Davenport 1989). Einzelne Untersuchungen thematisieren das Verhältnis von Theater und Roman, darunter zum Beispiel Dezalay (1983, besonders das 3. Kapitel aus dem zweiten Teil der Arbeit), Becker (1996a), Baugé (1996) und Roloff (2002). Obwohl in vielen Arbeiten zu Au Bonheur des Dames die Theatermetapher en passant verwendet wird, findet sich mit Ausnahme des Artikels von Gertrud Lehnert (2008) keine nähere thematische Analyse und besonders keine Analyse der dramatischen Elemente im nicht-dramatischen Text. Für Kim Solga et al. stellt die Performanz ein »defining feature of urban life« dar (2009: 2), Miranda Gill spricht von der »eccentricity« des Pariser Lebens und dem »scripting of social life« (2009: 45) und Joel H. Kaplan und Sheila Stowell sehen eine Verbindung zwischen Theater und Leben in dem »voyeuristic triangle between stage, stalls, and gallery that echoed the arrangement of semi-public society events« (1994: 2). Besonders die Soziologie hat es sich im 20. Jahrhundert zur Aufgabe gemacht, die gesellschaftlichen Interaktionsformen anhand des Rollenspiels zu untersuchen, zu denken ist vor allem an die Arbeiten Erving Goffmans. Einen guten Überblick zur Arbeit der Soziologie auf diesem Gebiet geben die von Herbert Willems herausgegebenen Bände zur Theatralisierung der Gesellschaft (2009); vgl. hier vor allem den Beitrag von Hellmann zur Inszenierung des Shoppings bzw. zum Vergleich von Theater und Kaufhaus. Mit Ausnahme von L’Assommoir (1879) bleibt der große Erfolg jedoch aus. Zola schreibt vor der Aufnahme der Arbeit an Pot-Bouille und Au Bonheur des Dames das Szenario für La Curée. Erst 1887 findet sich ein Theater, das bereit ist, das Stück mit dem Titel Renée aufzuführen. Nach 38 Abenden wird die Aufführung jedoch eingestellt. Auch Le Ventre de Paris wird im gleichen Jahr ohne wirkliche Resonanz inszeniert (vgl. Matthews 1966: 84).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
schen Dramas sowie die Theatralik des Populärtheaters.9 Die »sentiments, décors, personnages, gestes [et] effets faux« (CDLP, XI: 313, 330, 359) seien obsolet, da sie die Realität verschleierten. Sie müssten durch den Wahrheitsanspruch, der für den naturalistischen Roman erhoben wird, ersetzt werden.10 Zola erkennt zwar klare Unterschiede zwischen Roman und Theater, sieht Genregrenzen in seinem Großprojekt jedoch verblassen: [J’]aime me battre, je me bats dans le champ voisin […]. Autrefois, ça a été la peinture qui m’a servi de champ de manœuvres. Aujourd’hui, j’ai choisi le théâtre, parce qu’il est plus près; d’ailleurs, peinture, théâtre, roman, le terrain est le même, lorsqu’on y étudie le mouvement de l’intelligence humaine (CDLP, XI: 382f.).11 Die Haltung Zolas ist in einer Zeit, in der Drama und Roman in regem Austausch stehen, nicht verwunderlich.12 Trotz seiner Kritik nutzt er das Theater als meta9
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Zola kritisiert zum Beispiel die seiner Meinung nach artifiziellen und pathetischen Inszenierungen von Vaudeville und Melodrama. Der Feerie gegenüber ist er weniger streng, da sie ihre Künstlichkeit nicht verschleiere (vgl. CDLP, XI: 498f.). Jörg Dünne behandelt in diesem Kontext die Haltung Zolas zur Beziehung von Feerie und Katastrophismus im 19. Jahrhundert (vgl. Dünne 2016). Obwohl Zola seine Qualitäten als Dramaturg anzweifelt, weitet er seine Kampagne daher auf die Reformierung des Theaters aus: »Il faudra bien que nous nous occupions du théâtre; c’est là que nous devrons un jour frapper le coup décisif« (Corr, III: 114), schreibt er Léon Hennique 1877. Zola versucht, dem Theater seinen illusorischen Rahmen zu nehmen, um Kunst und Leben einander anzunähern. Für Josette Féral rückt dieses Ziel Zola trotz divergierender Umsetzungsstrategien in die Nähe des experimentellen Theaters eines Artaud (Féral 1982: 115). Auch Colette Becker resümiert die Produktion Zolas wie folgt: »Théâtre ou roman, la ›formule‹ est la même« (Becker 1990: 55). Zola ist sich der Schwierigkeiten der Adaption von Romanen für die Bühne aber durchaus bewusst, wenn er schreibt: »[O]n dit avec raison que les conditions de chaque genre sont particulières et qu’il est toujours dangereux de mettre à la scène un sujet que l’on a d’abord conçu pour le livre« (CDLP, XI: 659). Weiterhin hält er den Handlungsspielraum der Autoren im Theater für zunehmend beschränkt: »Le théâtre devient de plus en plus un cadre bâtard qui décourage le génie; le roman ouvre, au contraire, son cadre libre, son cadre universel, aussi large que les connaissances humaines, et appelle à lui tous les créateurs« (CDLP, XI: 680). Etwas später heißt es: »Le théâtre n’a pas la liberté du roman; il faut y adoucir certains tableaux, pour les y faire accepter. Eh bien, dans ce cas, c’est le théâtre qui a tort; il devient un genre inférieur« (CDLP, XI: 693). Pratima Prasad und Susan McCready betonen den »intellectual and theoretical debt that the novel owed to theatre« (2007: 33) und verweisen auf die romantische Literatur Mme de Staëls und Victor Hugos. Im Vorwort zu Cromwell (1827) beispielsweise lobe Hugo den Wirklichkeitsbezug des Dramas, der sich zu einem wesentlichen Merkmal realistischer Literatur ausweiten sollte (vgl. ebd: 33). In diesem Zusammenhang analysiert Brooks den Einfluss des Melodrams auf den Roman und konstatiert: »Melodrama is a necessary mode of ethical and emotional conceptualization and dramatization […] for these writers [Balzac, Dickens, Dostoevsky, Hen-
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phorische Klammer und das technische und rhetorische Programm von Drama und Melodrama für die Organisation und das Verstehen von Raum in Au Bonheur des Dames (vgl. Mitterand 1964: 1682 und Becker 2002: 171ff.).13 Erste Hinweise darauf, welche weiteren Elemente konkret zum Tragen kommen, gibt Zola in den Erinnerungen an seine Theaterbesuche während der Schulzeit: Le théâtre jouait trois fois par semaine, et j’en avais la passion. […] J’y ai appris comment un personnage doit entrer et sortir; j’y ai appris la symétrie des coups de scène, la nécessité des rôles sympathiques et moraux, tous les escamotages de la vérité, grâce à un geste ou à une tirade; j’y ai appris ce code compliqué de la convention (CDLP, XI: 300). Zola stellt in diesem Zitat ein besonderes Interesse an der Komposition der Stücke unter Beweis, an Auf- und Abgängen von Figuren, dem didaktischen und moralischen Wert des Theaters sowie der Bedeutung nonverbaler Kommunikation unter Beweis.14 Ein Blick in folgende Passage aus der Besprechung Hugos ergänzt dies um die Faszination für die Aufführung selbst: Au sortir de nos leçons, la mémoire glacée par les tirades classiques que nous devions apprendre par cœur, c’était pour nous une débauche pleine de frissons et
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ry James, J.K.]« (Brooks 1995 [1976]: 55). Die Reihe der Autoren ließe sich problemlos um Zola erweitern. Auch das Theater zehrt vom Roman als unerschöpflichem Quell der Inspiration für neue Produktionen. Zola selbst erkennt die zunehmende Kooperation: »C’est une véritable invasion du théâtre par les romanciers, ces romanciers que les critiques dramatiques ont méprisés si longtemps« (CDLP, XI: 728). Oder um es mit Jean-Pierre Leduc-Adine zu sagen: »[I]l actualise, à la fois dans son propos et son projet, un schéma romanesque, de son aveu même, très proche de celui du drame, assez mélodramatique« (1996: 74). Der Autor untersucht in diesem Artikel die melodramatischen Elemente in L’Assommoir; vgl. hierzu auch Becker (1990: 53-66) und Best (1986: 149-184). Bereits in La Curée geht es natürlich um die Theatralität des Lebens der Oberschicht, das heißt die Inszenierung von Reichtum und die Performativität von Geschlecht innerhalb der rigiden Raumordnung der Exposition. Auch Son Excellence Eugène Rougon thematisiert die Bühne der Macht in Paris, auf der Eugène und seine Kollegen zu Ruhm gelangen. Der Theaterroman par excellence bleibt jedoch Nana. Wichtige Szenen des Romans finden im Theater statt und reflektieren die Selbstinszenierung der Protagonistin und das Verhältnis von Theater und Gesellschaft. Es ist entscheidend, dass Wilson die Grundlagen von Au Bonheur des Dames in Nana findet. Die Themen des sexuellen Verlangens, der Prostitution, des Exzesses und der Transgression von Ordnung seien dem früheren Werk entlehnt (vgl. Wilson 2012: 87). Dem ist zuzustimmen, doch wird sich zeigen, dass Zola darüber hinaus auch die dramatische Grundsituation von Spiel und Zuschauen in das Paradies der Damen überträgt. In seiner Kritik zum Theater von Dumas fils formuliert Zola die erzieherische Aufgabe des Theaters: »Au théâtre, le rôle de l’auteur dramatique est précisément de transformer le public, de faire son éducation littéraire et sociale, non pas brutalement, mais avec toutes les lenteurs que réclament les longues évolutions d’un peuple« (CDLP, XI: 667).
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d’extases que de nous réchauffer, en logeant dans nos cervelles des scènes d’Hernani et de Ruy Blas. [N]ous avons joué à deux ou à trois des actes entiers. Puis nous faisions un rêve: voir cela au théâtre; et il nous semblait que le lustre devait crouler dans l’enthousiasme de la salle (CDLP, XI: 585). Das Bild des haltlosen Publikums bringt den Hang zum Spektakel von Theaterformen wie dem Melodrama oder dem Vaudeville auf den Plan.15 Zola wird den emotionalen Einbezug des Lesers durch Pathos, Hyperbel und Überraschungseffekte als ein wichtiges Prinzip in sein literarisches Wirken aufnehmen (vgl. Becker 2002: 179). In den späteren Theaterkritiken geht er dann den Besonderheiten der Inszenierung genauer nach und betont den Körpereinsatz der Akteure, die Bedeutung des Dekors, die Rolle von Bühnen- und Kostümbildnern oder den Einsatz von Licht, Farbe und Musik (vgl. ebd.: 173).16 Kurz, er untersucht die Theatralität der Aufführung, die auf der performativen Bedeutungserzeugung durch die Kombination von Zeichensystemen und der leiblichen Ko-Präsenz von Schauspieler und Zuschauer basiert.17 Die Interaktionsform im Theater, das heißt die Beobachtung von Beobachtungen auf der Bühne, liefert ein Metamodell der Selbstreflexion, das Zola in ein dramatisches Erzählprinzip im Roman überführt.18 15
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Zola ist sich bewusst, dass sich der Naturalismus den Strategien des Populärtheaters nicht gänzlich entziehen kann. Er schreibt: »Le public ira toujours fatalement à des spectacles pareils, comme il va voir guillotiner, […]. Le plaisir est tout physique. La chair est prise, les nerfs sont secoués, les larmes coulent […]. C’est un effet sûr et violent, contre lequel les raisonnements littéraires, les questions de goût n’ont aucune prise« (CDLP, XI: 754). Zola thematisiert hier eine den Zuschauer fesselnde Körperlichkeit des Spektakels, die zu einem wichtigen Erzählprinzip von Au Bonheur des Dames werden wird. So zum Beispiel in der Besprechung des Stücks Les Enfants du capitaine Grant von Jules Verne und Adolphe d’Ennery. Zola bemängelt die schmückende Funktion der Wissenschaft im Stück und bemerkt für den konsequenten Einsatz der Wissenschaften im Theater: »Les décorateurs, les machinistes et les costumiers, ont a en tenir compte, car ce sont eux qui peignent les horizons réels, qui établissent les machines, qui coupent et qui cousent les costumes des peuples lointains« (CDLP, XI: 757). Er lobt zudem Hugos frühere Dramen und kommt zu dem Schluss: »Oui, musique, lumière, couleur, parfum, tout est là« (CDLP, XI: 594). Zola kann im Roman die Theatersituation natürlich nur imitieren. Kai Mertens kennzeichnet den Text in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Siegfried Schmidt als »situationsabstrakt« (2014: 14). Der Text sei »produktionsseitig stabil«, das Theater hingegen »situationskonkret« und die Aufführung unberechenbarer (ebd.). Trotz der offensichtlichen Differenzen zwischen Lektüre und Theaterbesuch muss eingewendet werden, dass traditionelle Textformen nur in ihrer äußeren Form abgeschlossene Produkte sind; ihr Sinn ist offen und erschließt sich in der Rezeption ebenso performativ. Martin Huber definiert dieses Metamodell als »szenische Bündelung und […] gleichzeitige Darstellung von Beobachtungsvorgängen und Körperwahrnehmungen in Figuren- und Erzählerperspektive« (2003: 9). Seit einiger Zeit wird in den Literaturwissenschaften verstärkt mit dem aus der Soziologie und besonders den Theaterwissenschaften entlehnten Begriff der Theatralität gearbeitet, das heißt, dass nach Schnittstellen zwischen Theater und Li-
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In Au Bonheur des Dames aktualisiert Zola in der Geschichte der tugendhaften und unschuldigen Denise ein melodramatisches Muster. Die junge Frau bleibt den Avancen des skrupellosen Mouret gegenüber resistent, trotzt den Anfeindungen der Kolleginnen und erringt am Ende den Sieg über das Kaufhaus (vgl. Brooks 1995 [1976]). Im Folgenden soll genauer nachvollzogen werden, inwiefern Zola das Theatermodell für die Raumproduktion aktualisiert (vgl. hierzu auch 4.2.2.1). Der erste Anhaltspunkt ist der topographische Raum, der in Publikums- und Bühnenbereich eingeteilt werden kann: Die Kleinhändler nehmen die Rolle passiver Zuschauer vor dem Schauspiel auf der Bühne des Kaufhauses ein. Octave Mouret kreiert Traumwelten innerhalb einer bereits theatralisierten Großstadt, in denen der Einkauf zum Erlebnis für die Frau in der Rolle der Kundin wird, was Achim Schröder als »Kolonisierung der menschlichen Sinnlichkeit« fasst (Schröder 2000: 421). Anders ausgedrückt kommt es zur Instrumentalisierung des gelebten und wahrgenommenen Raums durch den konzipierten Raum, um die Illusion einer neuen Raumordnung zu schaffen. Gemäß dem Metamodell von Theater wird dem Leser der Blick hinter die Kulissen ermöglicht, was eine Diskussion der Mechanismen der Inszenierung bzw. der rigiden Raumordnung auslöst. So bestätigt das Verhalten von Kunden und Mitarbeitern auf der Ebene der Raumpraxis die Logik des Raums zwar, hat aber ebenso das Potential für das Hinterfragen dieser Ordnung. Denn auch die Frau hat durch ihre Kaufkraft eine neue Macht in dem öffentlichen, von männlicher Hand geführten Leben der Stadt (vgl. Schößler 2009: 275 und Felski 1995: 61ff.). Schnell bestätigt
teratur und dem spezifisch Theatralen (nicht-)dramatischer Texte gefragt wird. Der Band Szenographien bereitet das Thema theoretisch auf und findet erste Überlegungen zur Theatralität in der Literatur bei Roland Barthes, bezieht sich aber auch auf Stéphane Mallarmé, Jacques Derrida und Wolfgang Iser (vgl. Neumann et al. 2000). Besonders das semiotische Modell Erika Fischer-Lichtes ist verbreitet. Sie fasst Theatralität unter den Kategorien »Inszenierung«, »Körperlichkeit«, »Wahrnehmung« und »Performanz« (vgl. Fischer-Lichte 2001: 291ff.; vgl. auch Huber 2003: 76). Im vorliegenden Kapitel sollen diese Kategorien bei der Inszenierung von Raum in Au Bonheur des Dames mitgedacht werden. Was die Beziehung von Roman und Theater im Schaffen Zolas grundsätzlich angeht, kann mit dem Anglisten Kai Merten von »intermedialen Bezügen« zwischen den Genres gesprochen werden (vgl. Merten 2014: 19ff.). Das bedeutet, dass Zolas Roman über die bloße Thematisierung hinaus das Medium Theater auch formal imitiert. Zudem werden die Überlegungen von Kirsten Kramer und Jörg Dünne aus der Einleitung zum Band Theatralität und Räumlichkeit (2009) aufgegriffen. Ihre Definition von Theater als »komplexe[m] Mediendispositiv, [in dem, J.K.] das mediale Zusammenspiel von Ordnungsraum und körperlichem Praxisraum besonders deutlich hervortritt« (Kramer/Dünne 2009: 20), ist anschlussfähig für das Verhältnis von geordnetem Raum des Kaufhauses und den oftmals subversiven Interaktionen in diesem Raum. Vgl. zur Verschränkung von Roman und Theater sowie für einen Überblick über bestehende Arbeiten unter anderem Hauthal (2009), Palmer (2011), Sivetidu/Litsardaki (2011), Prasad/McCready (2007), Chardin (2002), Robert (2000) und Larue (1996).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
sich der Verdacht, dass es in diesem Roman keine fixen Rollenzuschreibungen gibt, sondern dass Kategorien wie Geschlecht und Identität oder Zuschauer und Schauspieler im Moment der Performance neu ausgehandelt werden (vgl. Salotto 2001: 109f.).19 Der Leser wird Teil dieser Inszenierung. In Momenten des dramatischen Erzählens sind es vor allem kinesische Zeichen wie Gestik, Mimik, Berührungen oder Bewegungen und Wahrnehmungen im Bereich des espace perçu1 , die den Leser emotional-körperlich affizieren und zur (Selbst-)Reflexion einladen.
7.2
Setting the scene – das Börsenviertel als Theaterraum
Wie in Le Ventre de Paris konzentriert sich die Handlung von Au Bonheur des Dames auf ein Quartier, hier genauer auf einen Straßenabschnitt im 2. Arrondissement, Ecke rue de la Michodière und rue Neuve-Saint-Augustin. Der Stadtteil wird zur Bühne für den öffentlich ausgetragenen Kampf zwischen Klein- und Großhandel. Octave Mourets Gewinnstrategie besteht darin, die aus La Curée bekannte Kultur des Spektakels in Paris zu beliefern, indem er das Bonheur in den Hauptschauplatz für die Inszenierung des Konsums verwandelt. Das Kaufhaus ist letztlich aber nicht mehr nur ein Akteur im Kampf um wirtschaftlichen Erfolg und Mittel für die potenzierte Theatralisierung der Stadt, sondern wird zum Sprungbrett für den sozialen Aufstieg der Protagonistin Denise. Der Einfluss des Kaufhauses zeigt sich auf kompositorischer Ebene an der Mehrzahl an Kapiteln, die im Kaufhaus spielen und somit auch formal den Platz der Kleinhändler einnehmen: Neun der vierzehn Kapitel finden in den Abteilungen des Geschäfts statt, während nur drei Kapitel an die Orte des Kleinhandels verlagert werden. Unter diesen Nebenschauplätzen nimmt das Geschäft der Baudu eine Sonderstellung ein, da hier die Folgen des Hauptkonflikts zwischen altem und neuem Handel dramatisiert werden. Und auch das Appartement von Henriette Desforges ist ein wichtiger Nebenschauplatz, der in enger Verbindung zum Kaufhaus als topologischem Knotenpunkt steht (vgl. Cambron 1992: 28). Es hat strategische Zwecke, zum Beispiel um Treffen zwischen den Geschäftsleuten zu arrangieren, treibt aber auch die Liebesgeschichte zwischen Denise und Octave voran. Zusammen mit der Erzählung des Siegeszugs des Kaufhauses und des sozialen Aufstiegs der Protagonistin entfaltet sich dieser Handlungsstrang während des Spaziergangs durch den Jardin des Tuileries. Die Romanze spitzt sich zu, bindet sich stärker an die
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Eleanor Salotto notiert entsprechend zu den weiblichen Figuren: »[W]omen’s identity in the novel figures as a maze, not reducible to a notion of closure or completeness« (Salotto 2001: 108). Später wird zu zeigen sein, inwiefern auch Mouret über keine feste Identität verfügt, sich diese also ständig de- und rekonstruiert.
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Erzählung der Vergrößerung des Kaufhauses und wird zunehmend zum öffentlichen Schauspiel für die Mitarbeiter (vgl. Salotto 2001: 124ff.). Obwohl der Roman durch die Konzentration auf das Kaufhaus der aristotelischen Einheit des Ortes Rechnung trägt, ist die Komposition des Raums folglich komplexer, als es zuerst den Anschein macht. Dies ist nicht nur in Bezug auf die Außenräume zu vermerken. Betrachtet der Leser die Anlage des Kaufhauses selbst, fällt das Verhältnis von Orten im Off zur Hauptbühne auf. Auf- und Abgänge zwischen dem Speisesaal, den Unterkünften der Mitarbeiter und den Abteilungen, Bewegungen durch den oftmals labyrinthischen Raum, rasche Perspektivwechsel in den Verkaufsszenen sowie die Interpretation neuer Rollenmuster im Kaufhaus erschweren die Orientierung im Text.20 Der Leser untersucht Verhalten und räumliche Arrangements auf Spuren von Authentizität und Inszenierung, was ihn unweigerlich in ein Spiel aus Sein und Schein verstrickt. Denn die Handlung entfaltet sich zwischen Szenen intensiver Theatralisierung, darunter besonders die drei Verkaufstage, und Enttheatralisierung, das heißt Szenen des Rückzugs aus der Kultur des Spektakels.
7.2.1
Zuschauer vor den Toren zum Paradies
7.2.1.1
Die Geschwister Baudu im Bann des Theatralen
Anders als in La Curée und Le Ventre de Paris werden die miteinander verwobenen Themen des Romans erst im Laufe der ersten drei Kapitel und dem Durchlaufen der drei zentralen Orte der Erzählung – dem Geschäft des Onkels Baudu, dem Kaufhaus und dem Appartement Mme Desforgesʼ – skizziert. Die Ankunft der Provinzlerin Denise und ihrer Brüder in Paris zu Beginn des Romans ermöglicht die Erkundung des Raums, ihre Rolle besteht wie im Falle Florents im Ventre darin, den Leser in das Quartier einzuführen: Denise était venue à pied de la gare Saint-Lazare, où un train de Cherbourg l’avait débarquée avec ses deux frères, après une nuit passée sur la dure banquette d’un wagon de troisième classe. Elle tenait par la main Pépé, et Jean la suivait, tous les trois brisés du voyage, effarés et perdus au milieu du vaste Paris, le nez levé sur les maisons, demandant à chaque carrefour la rue de la Michodière, dans laquelle leur oncle Baudu demeurait (Bonheur (ABD): 390). Die Anreise mit dem Zug, die direkte Nennung »Paris« sowie die metonymischen Teilreferenzen »gare Saint-Lazare« und »rue de la Michodière« stecken den räumli-
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Laut Robert Niess ist Au Bonheur des Dames der bewegungsreichste Roman Zolas (vgl. Niess 1978: 135).
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chen und historisch-kulturellen Rahmen der Handlung ab.21 Die Bewegung durch den Raum wird durch das Plus-que-parfait zeitlich unbestimmt gedehnt und dynamisiert die eher en passant gestreuten topographischen Angaben. Dass die Familie in der dritten Klasse übernachtet, markiert ihren niederen sozialen Stand, was kurze Zeilen später mit dem Adjektiv »pauvre« in der Beschreibung des Aussehens der Figuren noch einmal bestätigt wird (ABD: 390). Der Erzähler betont das Ausgeliefertsein und die Passivität von Denise (»un train […] l’avait débarquée«) im Irrgang durch das Quartier, wobei sie gleichzeitig die führende Kraft der Gruppe ist – sie nimmt Pépé bei der Hand und führt Jean an. Die Familie droht sich in dem labyrinthischen Paris, dessen Ausmaße durch die Attribuierung »vaste« erahnt werden, zu verlieren.22 Denise bleibt auf der place Gaillon stehen, »net de surprise«, und weist Jean an: »›Oh! dit-elle, regarde un peu, Jean!‹« (ABD: 390). Zwei Dinge sind an dem Appell zu betonen. Erstens klingt das für den Roman zentrale Thema der Beobachtung oder des Zuschauens an; zweitens kommt das melodramatische Mittel des Überraschungseffekts zum Einsatz und zwar einerseits in der Reaktion der Protagonistin auf die Umwelt und andererseits in dem retardierenden Spannungselement in der Erzählung. Noch bleibt dem Rezipienten die Wahrnehmung der Figuren vorenthalten. Es scheint, als fühle sich der Erzähler von Denises Appell angesprochen, ohne jedoch ihrem Blick zu folgen. Stattdessen betrachtet er die Figuren selbst: »Et ils restèrent plantés, serrés les uns contre les autres, tout en noir, achevant les vieux vêtements du deuil de leur père« (ABD: 389). Das Innehalten der Protagonistin auf inhaltlicher Ebene entspricht der hinausgezögerten Darstellung der Wahrnehmung auf diskursiver Ebene. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf das Objekt der Faszination, welches im nächsten Satz in der Figurenrede benannt wird: »›Ah bien! reprit-elle après un silence, en voilà un magasin!‹« (ABD: 390). Das Kaufhaus wird zum Ausstellungsstück in der urbanen Expositionskultur. Wie der Heimkehrer Florent sehen die Neuankömmlinge das moderne Paris zum ersten Mal, was ihre Faszination erklärt und eine genauere Betrachtung des Gebäudes legitimiert. Die Frage der Autorität des Wahrnehmungsprozesses bleibt jedoch wegen der unmarkierten Perspektivierung offen. Das Vorgehen ist aus Le Ventre de Paris und La Curée bekannt. Wie im Hallenroman wird das Erwachen des Quartiers, »le Paris matinal«, (ABD: 390) aus räumlicher Nähe und im weiteren
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Die Erweiterung des Streckennetzes und der Bau von Bahnhöfen waren Prämissen für die Entstehung des Kaufhauses, da sie den Transport von Waren und Menschen in die Stadt sicherten (vgl. Nelson 1993: 233). Trotz des bedrohlichen Charakters der Stadt zeigt Denise aber auch Interesse an der unbekannten Umgebung. Indirekt wird also bereits an dieser Stelle auf ihre zwiespältige Rolle im Roman verwiesen, welche zwischen der der passiven Zuschauerin und der der Macherin schwankt.
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Verlauf des Kapitels aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Der Glockenschlag, »[h]uit heures sonnaient« (ABD: 390), setzt zusätzlich den zeitlichen Rahmen und bindet sich an die »notes vives, dans la douce et pâle journée d’octobre« (ABD: 389). Statt der Farben des Gemüses im Ventre werden nun die visuellen Merkmale der Ware vor dem Kaufhaus von Denise wahrgenommen: Mais Denise demeurait absorbée, devant l’étalage de la porte centrale. Il y avait là, au plein air de la rue, sur le trottoir même, un éboulement de marchandises à bon marché, la tentation de la porte, les occasions qui arrêtaient les clientes au passage. Cela partait de haut, des pièces de lainage et de draperie […] flottantes comme des drapeaux, et dont les tons neutres, gris ardoise, bleu marine, vert olive, étaient coupés par les pancartes blanches des étiquettes. A côté, encadrant le seuil, pendaient également des lanières de fourrure, […], la neige pure des ventres de cygne […]. Puis, en bas, dans des casiers, sur des tables, au milieu d’un empilement de coupons, débordaient des articles de bonneteries vendus pour rien (ABD: 390f.). Der Aufbau der Passage weist weitere Parallelen zu den Beschreibungen der Objektwelt in den beiden anderen Romanen auf. Denise wird zum deiktischen Zentrum, ihr Blick schreitet die Auslage von oben nach unten ab. Dieser ordnende Blick steht im Kontrast zu dem »éboulement de marchandises«, der Überfülle an Waren auf der Straße, deren Farbtöne festgehalten werden. Und auch die Art der Ware bildet eine Brücke zu den früheren Romanen. Die Kleidung erinnert an die Luxusgüter Renées, die nun im Kaufhaus in großer Zahl vertrieben werden – neue Produktionsweisen sorgen dafür, dass die Ware einer breiten Masse günstig zur Verfügung gestellt werden kann. Es ist die Art des Vertriebs, die den wesentlichen Unterschied zum Konsum in den ersten Romanen darstellt. Obwohl auch die Kleidung Renées zu Zwecken der Exposition eingesetzt wurde und Lisa ein Bewusstsein für das Arrangement der Waren im Fenster hatte, erreichen Ausstellung und Verkauf der Güter im Kaufhaus eine neue Qualität.23 Der Vergleich von Modegeschäft und Theater scheint bereits im Zitat durch und zwar in der Ware, die den Eingangsbereich wie mit einem Vorhang versieht (»A côté, encadrant le seuil, pendaient«). Denise, Pépé und Jean werden von dieser Inszenierung angezogen, worauf das Wort »tentation« anspielt; passiv folgen sie den visuellen Reizen: »L’oncle Baudu était oublié. [M]achinalement, ils prirent la rue Neuve-Saint-Augustin, ils suivirent les vitrines, s’arrêtant de nouveau devant chaque étalage« (ABD: 391). Die
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Der Erwerb der Kleidung, der in La Curée im privaten Atelier des Schneiders Worms stattfand, wird in der Kaufhauskultur zum öffentlichen Schauspiel. Der Satzanfang »Il y avait là, au plein air de la rue, sur le trottoir même« drückt durch die kurzen, verortenden Einschübe ein Erstaunen darüber aus, dass die Ware leicht zugänglich und im Freien ausgestellt wird.
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
Geschwister schreiten sukzessive die Auslagen ab und zwar so, als betrachteten sie verschiedene Stationen einer Simultanbühne. In den weiteren Beobachtungen werden drei Mittel der Theatralisierung und der Beeinflussung der Kunden genauer vorgestellt, das heißt die räumliche Inszenierung der Ware, darunter der Einsatz von Licht und Spiegeln, das Evozieren von Körperlichkeit oder Intimität und eine Wahrnehmungssituation, die eine Relation zwischen Bühne und Zuschauerraum herstellt. Zuerst heißt es: »D’abord, ils furent séduits par un arrangement compliqué« (ABD: 391). Die Artikel wirken verlebendigt, wie Akteure im Programm für den Zuschauer. So sagt der Erzähler selbst, die Seidenstoffe seien »devenues vivantes sous les doigts savants des commis« (ABD: 391). Die Strümpfe wiederum zeigen ihre »profils arrondis de mollets« sowie die »chairs dont le grain satiné avait la douceur d’une peau de blonde« (ABD: 391). Auch die Handschuhe muten grazil an – »avec leurs doigts allongés, leur paume étroite de vierge byzantine, cette grâce raidie et comme adolescente des chiffons de femme« (ABD: 391). Besonders die Stoffe scheinen Teil einer Geschichte, die musikalisch erfasst und versprachlicht wird. Sie stellen Motive im Arrangement dar, welches durch die neuen Seidenstoffe strukturiert wird: »[E]ntre chaque motif, entre chaque phrase colorée de l’étalage, courait un accompagnement discret, un léger cordon bouillonné de foulard crème« (ABD: 391). Anders als die Nahrungsmittel auf dem Markt, die Claude an Stillleben erinnerten, zwingt die Anordnung der Artikel des Kaufhauses dem Zuschauer gewissermaßen sinnliche Bilder aus dem räumlichen Haushalt auf. Sehnsüchte und kulturelle Tabus werden geweckt, um die Ware zu vermarkten. Eine Hauptstrategie besteht darin, die Exposition der Damenmode zu erotisieren, was in einer Zeit der Privatisierung des Körperlichen umso prägnanter war (vgl. Schößler 2009: 275). Bereits die visuellen Beschreibungen der bestrumpften Waden und der seidigen Stoffe rufen Sinnlichkeit und Taktilität hervor, doch wird die Kopplung von Seh- und Tastsinn in der Wahrnehmung der Statuen am Eingang und besonders der Schaufensterpuppen expliziter. Denise betrachtet zuerst die »figures allégoriques, deux femmes riantes, la gorge nue et renversée« (ABD: 390) und scheint auch die Gestalt der Puppen zu untersuchen: »La gorge ronde des mannequins gonflait l’étoffe, les hanches fortes exagéraient la finesse de la taille, la tête absente était remplacée par une grande étiquette, piquée avec une épingle dans le molleton rouge du col« (ABD: 392). Die Bewegung des Auges erhält eine haptische Qualität, indem es über die Körperteile bzw. den Körper der Puppe streift. Trotz der Distanz zu den Puppen entsteht so eine räumliche Nähe des Zuschauers zum Schauspiel.24 Diese löst bei Denise einen Zustand der Erregung aus – »cette 24
Die Handschuhe sind neben der Schaufensterpuppe ein Beispiel für den Einsatz enigmatischer Objekte im Surrealismus. Sie sind ein beliebtes Objekt des Malers De Chirico und tauchen bei Zola sowohl in Nana als auch vermehrt in Au Bonheur des Dames auf: »D’abord, des
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maison énorme pour elle, lui gonflait le cœur, la retenait, émue, intéressée, oublieuse du reste.« Es folgt Erstaunen – »jamais elle n’avait vu cela, une admiration la clouait sur le trottoir« (ABD: 392) –, welches von kontrollierten Blicken auf das Kaufhaus abgerundet wird: »C’était un développement qui lui semblait sans fin, dans la fuite de la perspective« (ABD: 390). Während Denise ihre Wahrnehmungen zu analysieren versucht, reagieren ihre Brüder rein körperlich-affektiv auf die Konfektionsartikel und Schaufensterpuppen. Jean empfindet letzteren gegenüber einen vagen »plaisir« (ABD: 393), Pépé ist von ihnen irritiert: »[Il] se serrait davantage contre elle, comme pris d’un besoin inquiet de caresses, troublé et ravi par les belles dames de la vitrine« (ABD: 393).25 Die männlichen Figuren durchschauen das Schauspiel nicht, wohingegen Denise ein Verständnis für die Inszenierung der Ware entwickelt. Der Leser ahnt, dass der Eintritt der Protagonistin in das Kaufhaus bevorsteht, wird aber erst an einen Nebenschauplatz, den Raum des Kleinhandels, geführt, um mit dem Hauptkonflikt der Geschichte und der Kehrseite des wirtschaftlichen Fortschritts konfrontiert zu werden.
7.2.1.2
Zuschauer wider Willen – der Bedeutungsverlust des Kleinhandels
Im Laufe des Romans wird die Situation der Kleinhändler immer wieder in Kontrast zur Entwicklung des Kaufhauses gesetzt. Proportional zur Vergrößerung des Bonheur, die mit der Gewinnzunahme während der drei großen Verkaufstage zusammenhängt, dramatisiert sich die Situation der Kleinhändler Baudu, Bourras
25
gants noirs établissaient le rez-de-chaussée; puis, venaient des gants paille, réséda, sang de bœuf, distribués dans la décoration« (ABD: 621). Da die Handschuhe als Motiv im Dossier noch nicht enthalten sind, sieht Kamm hierin ein Beispiel für die »spontaneous revelation of the poetic« (Kamm 1983: 328), nach der die Surrealisten trachteten. Das Fragmentieren des Körpers wird wiederholt thematisiert, so in den enthaupteten Schaufensterpuppen und den Köpfen in der Menschenmenge. Der Leser begegnet bereits am Ende des ersten Kapitels einer »femme sans tête, qui courait par l’averse à quelque fête, dans l’inconnu des ténèbres de Paris« (ABD: 414) und erfährt im sechsten Kapitel von Deloches Beobachtung des Treibens auf dem Bürgersteig: »[S]a récréation, tous les jours, après le déjeuner, était de regarder ainsi les pieds des passants qui filaient vite au ras du trottoir, des pieds coupés aux chevilles, gros souliers, bottes élégantes, fines bottines de femme, un va-et-vient continu de pieds vivants, sans corps et sans tête« (ABD: 550). Vgl. hierzu auch Borderie (2005). Die enthaupteten und etikettierten Körper sind Zeichen einer gewaltsamen Entmächtigung der Frau (vgl. Hartog 1996: 62). Die Spiegel dienen dazu, die Körper der Puppen visuell zu vervielfältigen und deren Bild auf die Straße zu projizieren: »[L]es glaces, […] par un jeu calculé, les reflétaient et les multipliaient sans fin, peuplaient la rue de ces belles femmes à vendre« (ABD: 392). Laut Lewis Kamm ist hierin eine Parallele zur Faszination der Surrealisten für Deplatzierungen, Erotik und Spiegelungen zu sehen (vgl. Kamm 1983: 329). Die Kaufhauskultur befördert die Dissoziation des weiblichen Körpers, um die Phantasie der Betrachter anzuregen (vgl. Schößler 2009: 283). Die Macht der Erotik lässt einen Kult entstehen, der symbolisch den Platz der Religion einnimmt (vgl. Cnockaert 1997: 40f.). Daher ist auch die Rede vom Kaufhaus als »chapelle élevée au culte des grâces de la femme« (ABD: 392).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
und Robineau in den Kapiteln sieben, acht und dreizehn. Das Kaufhaus zwingt den Händlern eine neue Raumordnung auf, in der ihr Handlungsspielraum im sozialen Raum zunehmend begrenzt wird. Sie werden aufgrund der fehlenden Klientel zu Zuschauern des Siegeszugs des Bonheur degradiert und ihre Geschäfte, einst Orte der Interaktion und des Handels, in einen Zuschauerraum umfunktioniert. Der Onkel Baudu beobachtet ebenso wie die Passanten das Auftreten der Geschwister Baudu vor dem Kaufhaus, da es mit dem normierten Verhalten der Fußgänger auf der Straße kontrastiert: Ils étaient si singuliers et si charmants, sur le pavé, ces trois blonds vêtus pauvrement de noir […] que les passants se retournaient avec des sourires. […] Depuis un instant, un gros homme à cheveux blancs et à grande face jaune, debout sur le seuil d’une boutique, de l’autre côté de la rue, les regardait. Il était là, le sang aux yeux, la bouche contractée, mis hors de lui par les étalages du Bonheur des Dames […]. Que faisaient-ils, ces trois nigauds, à bâiller ainsi devant des parades de charlatan? (ABD: 393) Zum ersten Mal kommt die Beobachtung von Beobachtungen zum Einsatz, um eine Reflexionsinstanz zwischen Erzähler und Figur zu schalten. Im Gegensatz zu der Beobachtung der Passanten wird die Wahrnehmung Baudus markiert, weshalb die Inhalte der erlebten Rede allein dem Onkel und nicht dem Erzähler zugesprochen werden. Nachdem der Leser aus der Schilderung der Mimik die ablehnende Haltung Baudus schlussfolgert, wird sein Hass gegenüber dem Kaufhaus bzw. die Ungläubigkeit gegenüber der Faszination der Geschwister offen formuliert. Der Leser folgt der Bewegung vom Außenraum in die Innerlichkeit der Figur und geht damit gleichzeitig den Weg von der Hauptbühne des Kaufhauses zum Nebenschauplatz des Kleinhandels. Die Straße bildet die metaphorische Grenze zwischen beiden Räumen, das heißt traditionellen und neuen Handelsformen, die durch den Konkurrenzkampf aber unweigerlich auch miteinander verbunden sind (vgl. Coudert 1997: 189). Denise ist in der Lage, die Grenze zu übertreten und den Kontrast zwischen altem und neuem Handel auf den Plan zu rufen, indem sie nach den Inszenierungen der Ware im Bonheur den Laden des Onkels erkundet.26 Auffällig ist, dass die Schilderung der Wohn- und Arbeitsräume der Kleinhändler im Laufe des Romans nur leicht variiert. Denises Eintritt in das Geschäft Baudus im ersten Kapitel 26
Auf ähnliche Weise erlaubt ihre spätere Einstellung bei Bourras und der Familie Robineau im siebten Kapitel, die Geschäfte der Kleinhändler näher zu untersuchen. Sie nimmt unter den Figuren eine Sonderstellung ein, da sie die einzige Figur ist, die in beide Räume vordringen, diese wahrnehmen oder erleben und zueinander ins Verhältnis setzen kann. So notieren Colette Becker und Jeanne Gaillard bezüglich ihres späteren Eintritts in das Kaufhaus: »En traversant la rue pour passer du Vieil Elbeuf au Bonheur, elle apporte avec elle l’amour et la beauté qui vont justifier l’efficacité du Grand Magasin« (Becker/Gaillard 1982: 77).
299
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gleicht ihrem zweiten Besuch und ist ebenfalls kongruent mit ihrem Einzug in das Haus Bourrasʼ, was an den folgenden beiden Textpassagen aus dem ersten und dem siebten Kapitel erkennbar wird: Mais, dans cette nudité, ce qui frappa surtout Denise, dont les yeux restaient pleins des clairs étalages du Bonheur des Dames, ce fut la boutique du rez-dechaussée, écrasée de plafond, surmontée d’un entresol très bas, aux baies de prison, en demi-lune. Une boiserie, de la couleur de l’enseigne, d’un vert bouteille que le temps avait nuancé d’ocre et de bitume, ménageait, à droite et à gauche, deux vitrines profondes, noires, poussiéreuses, où l’on distinguait vaguement des pièces d’étoffes entassées. La porte, ouverte, semblait donner sur les ténèbres humides d’une cave (ABD: 393f.). Dans l’étroite boutique […] elle dit son départ du magasin et son désir de ne pas gêner l’oncle. Le vieillard finit par aller chercher une clef sur une planche de l’arrière-boutique, une pièce obscure […]; au-delà, derrière un vitrage poussiéreux, on apercevait le jour verdâtre d’une cour intérieure, large de deux mètres à peine. […] Denise, dans une obscurité complète, ne distinguait rien, sentait seulement la fraîcheur des vieux plâtres mouillés (ABD: 562f.). Die Läden, die dem Blick der Passanten verschlossen bleiben, wirken im Vergleich zu den Auslagen des Kaufhauses wenig anziehend auf Denise. Dem großen, strahlenden Raum des Kaufhauses stehen in beiden Fällen räumliche Enge (»écrasée«, »étroite«), Dunkelheit (»vitrines noires«, »ténèbres«, »obscurité«) und Schmutz gegenüber (»vitrines poussiéreuses«, »vitrage poussiéreux«). Auch das Adjektiv »verdâtre« und dessen substantivierte Form »vert bouteille« werden mit Zersetzung und Krankheit konnotiert. Nur für einen Moment bleibt Denises Blick auf der Ware haften, die im Dunkel der Läden versteckt ist. Die schlechten Lichtverhältnisse haben zur Folge, dass die Raumwahrnehmung und das Herstellen einer Relation zwischen Figur und Ware oder Umwelt eingeschränkt werden (»on distinguait vaguement«, »Denise ne distinguait rien«). Dies weckt umso mehr den Eindruck, dass es sich hier um abgedunkelte Zuschauerräume handelt. Neben den visuellen Impressionen birgt jeweils die taktile Wahrnehmung von Feuchtigkeit ein Unwohlsein, das in den negativ behafteten Nomen »cave« und »prison« gebündelt wird und nichts von der Erotik der Auslage des Kaufhauses hat. Die Taktilität wird etwas später an die »odeur âpre de chimie« der Stoffe und die »odeur de vieux« (ABD: 396) des Ladens gekoppelt. Diese Eindrücke lassen Denise beim Eintritt in den Laden der Baudu Angst verspüren: »[I]ls faisaient leur entrée avec une grâce souriante et inquiète. La clarté matinale découpait la noire silhouette de leurs vêtements de deuil« (ABD: 396) – zu achten ist auch auf den Vergleich mit dem Aufgang auf eine Bühne und das Schattenspiel, welche Denises
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spätere Rolle als Akteurin andeuten.27 Kurz: Die Protagonistin bemerkt das Fehlen genau jener dramatischen Mittel, die die Ware in der »artificial nature of space« (Amann 2004: 473) des Bonheur in Szene setzen und dem Betrachter ein Glücksgefühl bereiten. Den Kleinhändlern fehlt das Innovationspotential des Kaufhauses. Es gelingt ihnen nicht, den Raum zu dynamisieren, was der zweite Besuch von Denise im Laden des Onkels verdeutlicht. Wieder befindet er sich auf der Türschwelle und beäugt das Bonheur misstrauisch. Und auch die Sinneswahrnehmungen der Protagonistin folgen dem Muster der ersten Begehung, um den Stillstand im Geschäft des Onkels offenzulegen. Hier lassen sich keine Neuerungen registrieren: Debout sur le seuil de sa boutique, l’oncle regardait, d’un œil morne [le grand magasin, J.K.]. La jeune fille trouvait les vitrines plus noires, plus écrasées sous l’entresol bas, aux baies rondes de prison; l’humidité avait encore déteint la vieille enseigne verte, […]. Dans la boutique, Denise éprouva le même serrement de cœur. Elle la revoyait assombrie, gagnée davantage par la somnolence de la ruine; des angles vides creusaient des trous de ténèbres, la poussière envahissait les comptoirs et les casiers; tandis qu’une odeur de cave salpêtrée montait des ballots de drap, qu’on ne remuait plus. […] Elle retrouva la table ronde, […] la fenêtre prenant l’air et la lumière au fond du boyau empesté de la petite cour (ABD: 588f.). Obwohl seit ihrem letzten Besuch einige Zeit vergangen ist, sind die Haltung des Onkels und Denises Unwohlsein unverändert – der Verfall des Ladens schreitet weiter fort, was durch den Einsatz des Komparativs und die Bezeichnung »ruine« markiert wird. Nun sind nicht mehr nur Auslagen und Fenster, sondern auch Ladentheke und Staufächer verstaubt (»la poussière envahissait«). Dass daneben der Kellergeruch intensiver geworden ist, gibt das Partizip »salpêtrée« an. Die Artikel verkümmern und gelangen anders als im Kaufhaus nicht mehr in die Hände der Kunden (»qu’on ne remuait plus«). Im Kleinhandel ist es daher nicht die Ware, die die Aufmerksamkeit weckt. Die Funktionalität und Geschlossenheit der Räume stehen dem anregenden Arrangement der Ware im weiten Raum des Kaufhauses entgegen. Die Artikel werden auch nicht von den Mitarbeitern angepriesen; aufgrund der fehlenden Kundschaft und dem Unverständnis der Händler für die Wünsche der Kundinnen kommt es erst gar nicht zum performativen Spiel zwischen Käufer und Verkäufer.28 Im Gegen27
28
Die Angst wird die Protagonistin auch nach näherer Betrachtung des Ladens nicht verlassen. Etwas später im ersten Kapitel heißt es: »Mais la salle obscure l’inquiétait; elle la regardait, elle se sentait le cœur serré, elle qui était habituée aux larges pièces, nues et claires, de sa province« (ABD: 399). Denise scheint aufgrund ihrer Erfahrungen aus der Kindheit eine Vorliebe für die großen Räume des Kaufhauses zu verspüren. Im Text lautet es: »Pas un client n’était venu déranger cette explication de famille. La boutique restait noire et vide« (ABD: 398).
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teil: Robineau beginnt eine Diskussion um die Qualität der Stoffe mit Mme Bourdelais und redet sich in Rage. Bourras wiederum schreckt mit seinem Aussehen und Verhalten, das heißt »sa crinière de vieux lion, son nez crochu et ses yeux perçants, […] la voix dure, les gestes fous, […] sa colère de maniaque« (ABD: 567), nicht nur Denise, sondern auch die Klientel im Viertel ab. Die Verkaufsphilosophie der Kleinhändler ist inkongruent mit jenen Marketingstrategien, die mit Mitteln der urbanen Kultur der Exposition ein Waren-Image herzustellen suchen. Denise gewinnt an Autorität, indem sie zum Sprachrohr des neuen Verkaufssystems wird und die Innovationen gegenüber den Kleinhändlern verteidigt. Obwohl letztere die Mechanismen des Verkaufs begreifen – Baudu fasst die Traumwelten um die Ware explizit als »fantasmagories« (ABD: 590) – können sie als Zuschauer oder Zuhörer auf die Entwicklung immer nur reagieren, anstatt aktiv in sie einzugreifen.29 Das Bonheur wird zum Spiegel des eigenen Bankrotts und steht für eine Konsumkultur, in der der Kleinhandel keinen Platz mehr hat. Aus diesem Grund teilen die Kleinhändler beim Anblick des Kaufhauses nicht die Faszination der Geschwister. Vor dem Eintritt in den Laden im ersten Kapitel heißt es in Bezug auf den Onkel Baudu: »Et, après avoir adressé aux étalages d’en face une dernière moue de colère, il livra passage aux enfants« (ABD: 395). Etwas später wird die Beziehung zwischen Figur und Kaufhaus durch Gesten und Worte hergestellt. Auf die Frage, wo Denise eine Anstellung bekommen könnte, antwortet er – »le bras tendu vers le Bonheur des Dames, dans un geste de mépris […]: ›Tiens! Là-dedans!‹« (ABD: 407). Als sie ihm im achten Kapitel von der Arbeit im Kaufhaus berichtet, reagiert der Onkel wie folgt: »[I]l fut si saisi, qu’il leva seulement vers le ciel ses vieilles mains
29
Der Begriff der Phantasmagorie ist bei Walter Benjamin ein Teil der Traumdeutung und beschreibt den Prozess, in dem die Ware zum Trugbild wird und deren Tauschwert vor den Gebrauchswert tritt, was Marx als Fetischcharakter der Ware fasst. Achim Schröder geht den Spuren des »Gebrauchswertversprechens« in Au Bonheur des Dames nach und argumentiert gegen Lukács, dass Zola dem Leser durchaus das veränderte Verhältnis von Geld, Ware und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdeutliche und die Ausbeutungsstrukturen von einzelnen Figuren überwunden werden. Die soziologische Erkenntnis liege in den Bildern der Warenwelt (vgl. Schröder 2000: 420ff.). Alexander Gerschenkron kann hier insofern anknüpfen, als er gegen Lukácsʼ Kritik an Zola und dessen Präferenz für Balzac vorgeht und zeigt, dass die Darstellung wirtschaftlicher Prozesse in Au Bonheur des Dames präziser ist als in den Werken Balzacs. Der »time horizon«, das heißt das Abgleichen von aktueller und zukünftiger wirtschaftlicher Lage, werde lediglich in den Plänen Mourets umgesetzt und sei mit der marxistischen Idee der progressiven Arbeiterbewegung kompatibler (vgl. Gerschenkron 1978: 84ff.). Vgl. zum Fetisch im Bonheur des Dames auch Hetrick (2007).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
tremblantes. L’émotion l’avait fait tomber sur une chaise« (ABD: 605).30 Ihm fehlen sogar die Worte, was seine Ohnmacht unterstreichen soll. Der Zustand aller Kleinhändler verschlechtert sich mit dem wachsenden Einfluss des Kaufhauses. Während sie diesen erst nur visuell wahrnehmen, drängt sich ihnen die Macht des Bonheur später auch taktil und auditiv auf. Das Haus von Bourras zum Beispiel wird durch Gebäude eingepfercht und während der Vergrößerung des Bonheur angegriffen. Wie bereits im Dossier vorgesehen, ist es »serrée contre le Bonheur des Dames [et] semblait devoir être écrasée« (ABD: 580). Dadurch, dass die Gefahr fast ausschließlich durch Geräusche kenntlich gemacht und aus Sicht von Bourras wiedergegeben wird, wirkt diese umso bedrohlicher: »Bourras sentait bien l’étreinte dont craquait sa boutique. […] ›Hein! les-entendez-vous? […] Et, dans ma cave, dans mon grenier, partout c’est le même bruit de scie mordant le plâtre‹« (ABD: 580).31 Der Lärm überwindet räumliche Grenzen und stellt eine Nähe zwischen Geräuschquelle und Zuhörer her, der sich dem Einfluss des Kaufhauses nicht mehr entziehen kann. Trotz oder gerade wegen dieser Eingriffe in den Raum der Kleinhändler entwickeln diese ein masochistisches Verlangen danach, das Geschehen im Bonheur zu beobachten. Nur mit Mühe wendet sich Baudu von dem Spektakel im Kaufhaus ab: »Enfin, le drapier fit un effort, se détourna pour s’arracher au spectacle de la vente d’en face« (ABD: 403). Die gleiche Haltung sehen die Baudu bei Bourras, der das schmerzhafte Bedürfnis verspürt, sich dem Triumph des Bonheur auszusetzen: »Le grand vieillard s’était glissé dans l’ombre, pour s’emplir les yeux de cet étalage triomphal; et, la face douloureuse, il ne sentait pas même la pluie qui battait sa tête nue« (ABD: 415). Die Beobachtung der Beobachtung löst an dieser Stelle keine Reflexion der eigenen Situation aus; die Baudu verkennen, dass Bourrasʼ Haltung ihr Dasein spiegelt: »Malgré eux, comme Bourras qu’ils trouvaient bête, ils revenaient toujours là, devant ce spectacle qui leur crevait le cœur« (ABD: 415).32 Je weiter die 30
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Die Topologie des Raums wird an keiner Stelle durch die offene Konfrontation zwischen Baudu, den anderen Kleinhändlern und Mouret hergestellt. Immer verbinden Gesten, böse Schwüre oder Sinneswahrnehmungen der Händler Haupt- und Nebenschauplatz, was deren Bedeutsamkeit unterstreicht. Ähnlich ergeht es Denise, die ein Zimmer bei Bourras bezieht: »Un simple mur séparait sa chambre de son ancien rayon; […] elle sentait monter la foule […]. Les moindres bruits ébranlaient la vieille masure collée au flanc du colosse« (ABD: 566). Die permanente Begutachtung des Kaufhauses nimmt am Ende krankhafte Züge an: »[D]e nouveau, il [Baudu, J.K.] revint au Bonheur des Dames ; tout l’y ramenait, c’était une obsession maladive« (ABD: 591). Dass Baudu den Abriss seines Hauses mitverfolgt, basiert auf demselben selbstzerstörerischen Trieb. Denise nimmt folgende Beobachtung Bourrasʼ wahr: »[S]es yeux de flamme dévoraient les démolisseurs, dont la pioche entamait la façade de la masure« (ABD: 759). Kurz darauf werden dessen Gedanken preisgegeben: »Il demeurait béant, jamais il n’aurait cru que ce serait fini si vite. Et il regardait l’entaille ouverte, le creux libre enfin dans le flanc du Bonheur des Dames, débarrassé de la verrue qui le déshonorait« (ABD: 759). Auch
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Vergrößerung des Kaufhauses voranschreitet, desto schwerwiegender sind nämlich die Konsequenzen für die Gesundheit der Baudu. Dies zeigt die Szene, in der die Familie die nächtlichen Bauarbeiten für die Erweiterung des Kaufhauses mitverfolgen muss: De puissantes lampes électriques furent établies, et le branle ne cessa plus: [L]es machines sifflaient continuellement, la clameur toujours aussi haute semblait soulever et semer le plâtre. Alors, les Baudu, exaspérés, durent même renoncer à fermer les yeux; ils étaient secoués dans leur alcôve, les bruits se changeaient en cauchemars, dès que la fatigue les engourdissait. Puis, […] ils venaient soulever un rideau, ils restaient effrayés devant la vision du Bonheur des Dames flambant au fond des ténèbres, comme une forge colossale, où se forgeait leur ruine. […] Et, dans le sommeil pénible du quartier, le chantier agrandi par cette clarté lunaire, devenu colossal et fantastique, grouillait d’ombres noires, d’ouvriers retentissants, dont les profils gesticulaient, sur la blancheur crue des murailles neuves (ABD: 597). Der Einsatz von elektrischem Licht und Maschinen ist ein direkter Verweis auf die Folgen technischer Errungenschaften. Die Strahler verlängern die Arbeitsstunden, stören also den Tagesrhythmus der Baudu. Sie hören (»les machines sifflaient continuellement«, »la clameur toujours aussi haute«), fühlen (»secouer«) und sehen gezwungenermaßen den Vormarsch des Bonheur (»renoncer à fermer les yeux«). Der Schlafentzug versetzt die Familie in einen Zustand der fieberhaften Trance, in dem sie sich den Vorgängen auf der Baustelle wie bei einer Aufführung aussetzen. Die Gardinen können als Vorhang verstanden werden, den die Baudu beiseiteschieben, um das Schattenspiel vor sich als eine fantastisch-schauderhafte Vision des eigenen Untergangs auszulegen (»forge colossale«, »chantier devenu colossal et fantastique«). Dies bedeutet, dass die Wahrnehmung des Eingriffs in die Raumordnung bei den Baudu ein apokalyptisches Bild aus dem gelebten Raum evoziert. Das Bild des Fantastischen taucht erneut in Mme Baudus Wahrnehmung auf, die zunehmend geisterhaft wirkt: »Mme Baudu était debout, […], ses yeux blancs fixés sur le monstre« (ABD: 403). Denise dagegen nimmt die Aktivität im Kaufhaus vollkommen anders wahr: »Mais, de l’autre côté de la rue, […] le grand magasin s’animait, en pleine vente. Alors Denise eut la sensation d’une machine, fonctionnant à haute pression« (ABD: 402). Für die Kleinhändler sind Straße und Hauswand Grenzlinien, auf deren anderer Seite sich der Feind befindet. In ihren Beobachtungen der Geschehnisse im Bonheur und seiner Sympathisanten schwingen daher immer auch kalkuliertes Abwiegen und Überwachen mit. Baudu möchte den Raum Denise kann sich dem Eingriff in den Raum der Kleinhändler nicht entziehen: »Elle n’osait plus parler, […] ne pouvant elle-même détacher les yeux des pierres moisies qui tombaient« (ABD: 757).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
des Kleinhandels schützen und versucht herauszufinden, auf wessen Seite Denise steht: »Il avait posé les coudes sur la table, il la fatiguait du regard« (ABD: 410). Wenige Seiten später bedrängt er seine Nichte weiter: »Il la pressait du regard, il attendait une réponse décisive« (ABD: 413). Beim Gang durch das Viertel, der wie zu Beginn des Ventre die verschiedenen Händler vorstellt und den Raum dynamisiert, fasst der Erzähler in Bourrasʼ explizitem Aufruf zum Widerstand die Pläne der Kleinhändler wie folgt zusammen: »C’était une déclaration de guerre. Bourras se tournait vers le Bonheur des Dames que ni l’un ni l’autre n’avait nommé« (ABD: 407). Anders als im Ventre, in dem Florents utopische Pläne auf die Raumordnung Lisas bzw. des Second Empire treffen, handelt es sich hier um zwei materiell etablierte Ordnungen, die für die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen [in der Moderne, J.K.] stehen« (Bloch 1973: 104). Es kommt zum Kampf zweier Raumordnungen, die für eine gewisse Zeit parallel existieren. Das Thema des Kampfes wird in der Folge mehrfach aufgegriffen und besonders im siebten Kapitel ausgestaltet. Die Händler versuchen, Mouret mit den eigenen Waffen zu schlagen und in das Spiel der Inszenierung einzusteigen. Robineau senkt seine Preise, verschönert seine Schaufenster und schaltet Werbeanzeigen; Bourras lässt seine Fassade neu streichen. Für kurze Zeit befreien sich die Männer aus der Rolle der Zuschauer und werden zu Akteuren in einem Schauspiel für die Bewohner: »[La lutte] fut célèbre, elle occupa un instant tout le marché parisien. […] Les clientes riaient, enchantées de ce duel, émues des coups terribles que se portaient les deux maisons, pour leur plaire« (ABD: 576f.). Der finanzielle Bedeutungsverlust ist jedoch nicht umzukehren und erhält durch den Tod Madame Baudus und Genevièves zusätzlich eine melodramatische Tragweite. Noch bevor Denise klärende Gespräche mit Colomban und Geneviève führt, ahnt sie das Schicksal des Paares voraus. Sie interpretiert das nonverbale Verhalten der jungen Leute, was dem Leser Informationen zu deren Verhältnis liefert: »Denise examinait Colomban et Geneviève. Ils étaient à table l’un à côté de l’autre; mais ils y restaient bien tranquilles, sans une rougeur, sans un sourire« (ABD: 400). Obwohl diese in der übergeordneten Struktur des Romans Zuschauer wider Willen sind, entpuppen sie sich im Raum des Kleinhandels kurzzeitig als Teil einer Aufführung.33 33
Die Wahrnehmungen der Figuren gelten also nicht nur den materiellen Gegebenheiten in Groß- und Kleinhandel, sondern auch dem Entschlüsseln topologischer Beziehungsstrukturen im Raum. Die Verkettung von Wahrnehmungsakten im weiteren Verlauf der Szene räumt dann jeden Zweifel über die Art von Beziehung zwischen den jungen Leuten aus. Denise beobachtet, wie Geneviève Colomban besorgt anschaut – »[elle] avait cru remarquer une inquiétude naissante, dans le regard jeté par Geneviève sur Colomban« (ABD: 401). Denn die Augen des jungen Mannes wiederum wandern stets zu den Verkäuferinnen des Bonheur: »Geneviève, très pâle, avait constaté que Colomban regardait, à l’entresol, les ombres des vendeuses passer sur les glaces« (ABD: 415). Sie lässt Denise im achten Kapitel wissen: »›Tenez! il ne peut s’en empêcher, il regarde là-haut…Je sais bien qu’ils me l’ont volé‹« (ABD: 609).
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Das Schicksal der Mutter führt dem Leser den Bedeutungsverlust des Kleinhandels am deutlichsten vor Augen. In der Sterbeszene kulminiert die körperliche Degeneration, die das Dasein als Zuschauer des Spektakels im Kaufhaus mit sich bringt. Bis zum Ende verlangt Mme Baudu der Exposition im Bonheur beizuwohnen: »Baudu […] voulait parfois tirer les grands rideaux. Mais, d’un geste suppliant, elle l’arrêtait, elle s’entêtait à voir […]. Mme Baudu demeurait les regards fixes, emplis de cette vision de monument triomphal« (ABD: 755). Die Gardinen können hier erneut als Vorhänge einer Bühne gelten, die die Frau selbst im Tod noch betrachtet: »[S]es yeux restèrent grands ouverts, regardant toujours, noyés de grosses larmes« (ABD: 755).34 Nur ein einziges Mal wird während des Gangs zum Begräbnis Genevièves das Verhältnis von Klein- und Großhandel in der Ordnung des Raums ansatzweise umgekehrt. Im Text heißt es: Lentement, le convoi s’ébranla, […], dans le silence des fiacres et des omnibus brusquement arrêtés. Lorsque le corps drapé de blanc traversa la place Gaillon, les regards sombres du cortège plongèrent une fois encore derrière les glaces du grand magasin, où seules deux vendeuses accourues regardaient, heureuses de cette distraction (ABD: 741). Dass das Personal in der Prozession eine Inszenierung im öffentlichen Raum sieht und der Tod der Frauen kein Mitleid hervorruft, wirkt makaber. Das übertriebene Pathos der Szene sowie der Kampf von Gut und Böse erinnern dabei insofern an eine abgewandelte Form des Melodrams, als das Monster oder der »colosse [qui,
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Bereits durch die Beobachtung Colombans decken Denise und Geneviève auf, dass er einer Verkäuferin verfallen ist. Sein Blick in den Außenraum trägt eine größere Intimität als die räumliche Nähe zu Geneviève und drückt ein Verlangen nach dem Austritt aus dem beengten Dasein aus. Der Fall Genevièves und Colombans ist ein Beispiel für die aus der Tragödie bekannte Liebeskette: Geneviève (A) liebt Colomban (B), der wiederum Clara (C) liebt, welche ihn nach einer kurzen Affäre verlässt. Einer Inszenierung gleicht später im Roman die Beerdigung der jungen Frau: »C’était une obsession, ce pauvre corps de jeune fille était promené autour du grand magasin, comme la première victime tombée sous les balles, en temps de révolution« (ABD: 742). Auf weitere Elemente, die auf das Thema der Revolution im Roman anspielen, ist später noch einzugehen. Am Ende resigniert der Onkel und lehnt selbst die Rolle des Zuschauers ab: »Ses yeux ne se levaient même pas sur la façade triomphante du Bonheur des Dames« (ABD: 759f.).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
J.K.] gardait son indifférence de machine lancée à toute vapeur« (ABD: 740) über die Unschuld siegt.35 Die Händler bleiben Zuschauer wider Willen, die nur kurz Akteure im Kampf um den Raum der Stadt werden. Sie sind Relikte einer Zeit vor der Transformation von Paris, in deren Folge sich das raumideologische Motto von Verschönerung, Sauberkeit und Zirkulation nun auch im Handel und Konsumverhalten implementiert. Das Kaufhaus ist die materielle Manifestation dieses Mottos und inszeniert seine Ware in den Auslagen. Die Kleinhändler dagegen leben in einem enttheatralisierten Raum, der unter anderem durch seine räumlichen Gegebenheiten und die Wortwahl in den Beschreibungen (»rideau«, »spectacle«, »coups«) als Zuschauerraum erkennbar wird. Doch sind es vor allem die Wahrnehmungen oder körperlichen Reaktionen der Figuren auf das Bonheur, welche dieses als Bühne und die Läden der Kleinhändler als Zuschauerraum ausweisen. Sie sind als subjektive Reaktionen auf die Simultaneität unterschiedlicher Raumordnungen in der Moderne zu verstehen. Während Denises Blick von Faszination geleitet wird und die Blicke der jungen Männer Jean und Colomban lusterfüllt sind, begegnen die Händler dem Kaufhaus mit Hass. Neben dem Konflikt zwischen altem und neuem Handel zeigen die Wahrnehmungen also auch geschlechtsspezifische Unterschiede auf, die im weiteren Verlauf stärker thematisiert werden.
7.2.2
Denises Debüt im Ensemble Mourets oder: der Aufgang auf die Bühne als Eingriff in die totalitäre Raumordnung des Bonheur
Zu Beginn des Romans ist noch unklar, welches Schicksal Denise ereilen wird. Aus diesem Grund ist es richtig, mit Susan Harrow zu sagen, dass ihre Ankunft in Paris den »point of departure for the pressured, unpredictable trajectory of the modernizing self« (Harrow 2008: 222) darstellt. Ihr Verhalten im Laden des Onkels lässt offen, ob sie wie Geneviève dem Kaufhaus zum Opfer fallen wird. Denn der Einfluss des Bonheur auf die Protagonistin nimmt im ersten Kapitel stetig zu, was auf einen Prozess der Entmündigung hindeuten könnte. Sie nimmt zuerst auch die Position der Zuschauerin ein, indem sie vom Vieil Elbeuf aus das Geschehen im Kaufhaus hinter dem Regenschleier oder wörtlich dem »Vorhang aus Regen« – »derrière le rideau de pluie qui tombait« (ABD: 414) – wahrnimmt. Sie erliegt der
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Denise wird zur wertenden Instanz der Implementierung der neuen Raumordnung. Zola schildert ihre Zerrissenheit durch den Einsatz der Introspektion bzw. der erlebten Rede: »[S]on âme de femme s’emplissait d’une bonté en pleurs, d’une tendresse fraternelle, à l’idée de l’humanité souffrante. […] N’avait-elle pas saigné? ne l’avait-on pas meurtrie, chassée, traînée dans l’injure?« (ABD: 760f.). Sie referiert hier auf ihre schwierige Anfangszeit im Kaufhaus, akzeptiert schließlich aber die Opfer im Namen der Darwin’schen »loi de la lutte« (ABD: 760).
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Versuchung, die sie beim Anblick der Auslage verspürt hatte, und entscheidet sich für die Zukunft im Bonheur: À cette heure de nuit, avec son éclat de fournaise, le Bonheur des Dames achevait de la prendre tout entière. Dans la grande ville, noire et muette, sous la pluie, dans ce Paris qu’elle ignorait, il flambait comme un phare, il semblait à lui seul la lumière et la vie de la cité. Elle y rêvait son avenir, […], elle ne savait quoi, des choses lointaines dont le désir et la crainte la faisaient trembler; […] une espérance lui montait au cœur, toute une certitude de joie; tandis que la poussière d’eau volante lui refroidissait les mains et calmait en elle la fièvre du voyage (ABD: 414). Dadurch, dass die ersten beiden Sätze mit adverbialen Bestimmungen eingeleitet werden, gibt Zola insgeheim zu verstehen, dass es das zeitliche und räumliche Arrangement des Kaufhauses ist, das Denise in den Bann zieht. Die kurzen Satzelemente erwecken einerseits den Eindruck der Rastlosigkeit, die sich in Denises erregtem Zustand (»fièvre du voyage«, »trembler«) spiegelt, und vermitteln dem Leser andererseits ein Gefühl des Hier-und-Jetzt und der unwiderruflichen Weichenstellung im Leben der jungen Frau. Ihre Konzentration auf die nächtliche Atmosphäre der Stille und des Verborgenen hebt ex negativo den Glanz und die Aktivität im Kaufhaus hervor. So scheint Denise ihre Wünsche und Sehnsüchte auf das Bonheur zu projizieren. Die Wahrnehmung des Geschäfts mündet scheinbar unausweichlich im Bild des Leuchtturms und dem metonymischen Vergleich mit der Stadt. Der Mikrokosmos des Geschäfts ersetzt den Makrokosmos der Stadt und rettet auf diese Weise über Denises Unkenntnis von Paris hinweg. Es genügt, das Kaufhaus zu kennen, um die Stadt zu kennen. Der Anblick des Bonheur gibt der Protagonistin Orientierung und lässt eine relationale Beziehung zwischen Figur und Objekt entstehen, in der sowohl reflektierte Passivität als auch freudige und hoffnungsvolle Entschlossenheit (»espérance«, »certitude de joie«) liegen. Anders als Renée in La Curée, die planlos auf der Suche nach dem Objekt ihrer Sehnsucht war, ist sich Denise der einzuschlagenden Richtung gewiss. Sie bleibt trotz der Träumerei geerdet, was die taktile Wahrnehmung des Regens und dessen beruhigende Wirkung am Ende der Passage deutlich machen sollen. Antizipiert dieser Zustand zwar das glückliche Ende des Romans, kann die Wahrnehmung gleichzeitig als Symbol für die Ernüchterung stehen, die Denise beim Eintritt in das Kaufhaus verspüren wird. Denn der Blick hinter die Kulissen deckt die Mechanismen der Produktion von Traumwelten im Kapitalismus auf.36
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Indem Zola die Arbeitsbedingungen thematisiert, grenzt er sich von seinem Vorgänger Balzac ab. Er ist der erste Autor, der die körperlichen und seelischen Strapazen der Arbeit schonungslos schildert, und zwar in Au Bonheur des Dames noch stärker als in Le Ventre de Paris (vgl. Niess 1976: 41ff.). Natürlich zählt auch L’Assommoir zu jenen Romanen, in denen das
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Denises Aufstieg auf die Bühne des Bonheur beginnt mit der Habitualisierung der Raumpraxis im Kaufhaus, das heißt, dass sie in einem Prozess des Einübens und der Anpassung an die Regeln das Spiel der Maskerade erlernen muss, bevor sie diese später humaner gestalten kann (vgl. Cnockaert 2009: 209). Der Leser begleitet sie im zweiten Kapitel in den ihr unbekannten Raum, folgt aber auch Mouret bei der Routineinspektion durch die Abteilungen. Der Einsatz parallellaufender Handlungsstränge und diverser Orte im Kaufhaus hat drei Funktionen im Roman. Erstens trägt er zur Kontrastierung von Klein- und Großhandel bei. Denn während die Kapitel im Raum der Kleinhändler bewegungsarm sind, sind die Kapitel im Bonheur fast ausschließlich von Bewegungen geprägt.37 Zweitens werden die konträren Positionen von Denise und Octave an den Extremen der Hierarchiekette des Kaufhauses deutlich, wobei auch erste Zeichen der Zuneigung zwischen den Figuren verzeichnet werden können. Entscheidender ist aber drittens, dass Denises variables Verhalten und Aussehen die standardisierte Raumpraxis im Kaufhaus als Rollenspiel und damit die Raumordnung des Bonheur als rigide organisierte Bühnenform sichtbar machen. Da zuvor das Verhalten und der Raum der Baudu porträtiert wurden, wirken die Mitarbeiter umso mehr wie kostümierte Schauspieler und das Kaufhaus wie ein Ort der Selbstinszenierung. Die Verkäufer kämpfen um ihre Position im Kaufhaus und setzen Strategien der Maskerade ein, um ihre Absichten zu verschleiern – nicht nur vor den Kunden, sondern auch voreinander werden Rollen gespielt, die nur an Rückzugsorten im Off abgelegt werden. Dabei treten Unterschiede zwischen männlich und weiblich geprägter Raumpraxis bzw. geschlechtsspezifischer Handlungsmöglichkeiten im Kaufhaus auf. Während die Frauen primär auf ihr Aussehen und den Verkauf reduziert werden, haben die Männer eine größere Handlungsbefugnis (vgl. Schor 1995: 154). Denises Auftreten wird diese Festschreibungen jedoch herausfordern. Der dramatische Erzählmodus in den Selbstwahrnehmungen und dem Körpergefühl der Protagonistin vermittelt das Erleben und Bewusstsein von Denise im Raum des Kaufhauses besonders eindrücklich. Dass das Verhalten der Protagonistin von dem der Mitarbeiter abweicht, wird schon vor ihrem Eintritt in das Kaufhaus deutlich. Sie verharrt im Gegensatz zu den Männern, die Richtung Eingang eilen, auf der place Gaillon vor dem Bonheur, womit sie die Blicke auf sich zieht: »Denise s’aperçut que plusieurs de ces mes-
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Thema der Arbeit behandelt wird, doch steht die körperliche Tätigkeit hier nicht im Vordergrund; erst Germinal und La Terre schildern diese wieder eindringlich (vgl. Niess 1976: 41). Susan Harrow kommentiert daher, dass Zola mehr als den erotischen Körper aktualisiert und zwar »the body at work, at war, at play; the tired body; the injured or abused body; the transformed body or dehumanized body« (Harrow 2010: 14). Wie im Ventre wird die Topologie des Raums im Verfahren der tour erschlossen, sodass der Leser die verschiedenen Orte mit den einzelnen Figuren verbindet.
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sieurs la dévisageaient en passant« (ABD: 416).38 Das Spiel der Beobachtung und des Wechsels zwischen Betrachter und Betrachtetem im Raum des Kleinhandels ist also auch im Kaufhaus ein Thema; wie zuvor verhält sich Denise unabhängig von ihrer jeweiligen Rolle niemals passiv, da in ihrem Fall auch die Beobachtung von außen zu einer gesteigerten Selbstwahrnehmung führt. Obwohl sie dem »défilé« vor dem Kaufhaus zuschaut und das vereinheitlichte, automatisierte Verhalten der Mitarbeiter registriert (»La plupart filaient seuls, […] sans adresser ni une parole ni même un regard à leurs collègues; et tous, du même geste, avant d’entrer, jetaient dans le ruisseau leur cigarette«, ABD: 416), fühlt sie sich gleichzeitig zum Objekt männlichen Interesses verdammt: »Son embarras grandissait d’être ainsi en spectacle« (ABD: 417).39 Dieser Moment des gefühlten Machtverlusts wird direkt im Anschluss durch die von Denise motivierte Beobachtung aufgewogen: »[L]a vue d’un jeune homme, qui arrivait rapidement par la rue Port-Mahon, l’arrêta une minute encore. […] [I]l avait des yeux couleur de vieil or […] qu’il fixa un instant sur elle« (ABD: 417). Noch wissen Leser und Figur nicht, dass es sich bei dem Mann um Mouret handelt; er bekommt aber bereits an dieser Stelle eine besondere Stellung, da er Denise unter den vorbeiziehenden Männern auffällt, ihren Blick erwidert und bei der jungen Frau eine »émotion singulière« (ABD: 417) auslöst. Das Muster der Liebe auf den ersten Blick geht dennoch nicht ganz auf, da Denise »plus de malaise que de charme« (ABD: 417) empfindet und sich Mouret wie der Rest der Menge »indifférent« (ABD: 417) verhält. Aus der integrierten Perspektivierung wechselt die Erzählung in den distanzierteren Modus der aperspektivischen Vermittlung. Der Erzähler streut Informationen zum Lebensstil Mourets, sodass ein Wissensgefälle zwischen Denise und Rezipient entsteht. Die Nähe zur Figur nimmt erneut zu, als der Leser Mouret in sein Büro folgt und am Ende der Passage wie bei Denise die integrierte Perspektivierung in Form der erlebten Rede aufgerufen wird. Sie kennzeichnet neben Mourets draufgängerischer Art dessen Loyalität gegenüber seiner verstorbenen Frau, das heißt die Diskrepanz zwischen Außenwirkung und dem authentischen Charakter des Geschäftsführers: »N’était-ce pas toujours devant elle qu’il revenait travailler, après ses échappés de jeune veuf, au sortir des alcôves où le besoin du
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Für Susie Hennessy ist die Begutachtung der Frau durch den Mann ein wiederkehrendes Motiv bei Zola, so zum Beispiel auch im Fall von Mme Josserand und ihren Töchtern in Pot-Bouille, da die jungen Frauen zur Heirat angeboten und vorgeführt werden. Hennessy unterstreicht die Bedeutung des Blicks der Mutter, deren Beobachtungen relevante Informationen einbringen (vgl. Hennessy 1999: 22f., 26). Denise beobachtet an dieser Stelle jene Art von Entfremdung, die Marx in der kapitalistischen Wirtschaft vorfindet. Der Arbeiter kann nur noch seine Arbeitszeit verkaufen, er verfügt weder über Produktionsmittel noch stellt er Produkte her. Der Gang in das Kaufhaus zeigt zudem, inwiefern die Kollegen einander fremd sind (vgl. Harrow 2008: 223f.).
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plaisir l’égarait?« (ABD: 417).40 Octave Mourets Eskapaden sind Teil der Mechanismen der Traumfabrik, die auf den weiteren Seiten dargelegt werden und mit Denises empathischer Art kontrastieren. Das Verhalten des Chefs gilt nicht als verwerflich – im Gegenteil: »[S]es coups de cœur étaient comme une réclame à sa vente, on eût dit qu’il enveloppait tout le sexe de la même caresse, pour mieux l’étourdir et le garder à sa merci« (ABD: 419). Seine Strategie besteht darin, vor den Kundinnen die Rolle des Charmeurs zu spielen und seine Absichten zu verschleiern, um die Damen zum Kauf zu motivieren: »Mouret […] affectait des extases, restait devant les femmes ravi et câlin« (ABD: 418). Denn kurz darauf zeigt er im Gespräch mit dem Aufsichtschef Bourdoncle sein wahres Gesicht: »[I]l laissa percer le fond de sa brutalité, sous son air d’adoration sensuelle« (ABD: 419). Auf die Aussage, eine Frau – es wird natürlich auf Denise angespielt – werde sich für die Ausbeutung der Kundinnen rächen, antwortet er nur mit einer Geste: »Il avait levé son porteplume, […] il le pointa dans le vide, comme s’il eût voulu percer d’un couteau un cœur invisible« (ABD: 419). Die Gewalt evozierende Metapher deutet bereits das Arbeitsklima im Kaufhaus an.41 Bourdoncle ist Teil des »conseil de ministres sous un roi absolu [dont, J.K.] chacun veillait sur une province« (ABD: 418), gemeint sind die einzelnen Abteilungen. Mouret ist nicht nur der »premier étalagiste de Paris, un étalagiste révolutionnaire« (ABD: 434), sondern auch ein Patriarch im Haushalt der Kundinnen, der »absolute Herrscher« und ein »génie de la mécanique administrative« (ABD: 422; vgl. Schor 1995: 151). Dies hebt räumlich bereits seine strategische Platzierung im Kaufhaus hervor: Sein Büro befindet sich oberhalb der Abteilungen; während der Sonderverkäufe überblickt er den Raum von der Treppe aus.42 Und auch die Routineinspektionen von Mouret bzw. seine »quatre inspecteurs, chargés de la surveillance du
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Dass dem Leser nacheinander die Gedanken von Denise und Mouret preisgegeben werden, markiert die paritätische Stellung der beiden Charaktere auf erzähltechnischer und später auch inhaltlicher Ebene. Alfred Kahanoz untersucht das Porträt von Mme Hédouin als Zeichen religiösen Kults und sieht in dem goldenen Rahmen des Bilds und dessen spiritueller Ratgeberfunktion Parallelen zur Ikone (vgl. Kahanoz 1995: 128ff.). Pierre-Emmanuel Coudert untersucht die mythischen Elemente des Romans und interpretiert das Kaufhaus als einen urbanen Hades, dem die Baudu und Mme Hédouin zum Opfer fallen (vgl. Coudert 1997: 190ff.). Zola setzt häufig Gewalt evozierende Metaphern oder einen Militärwortschatz ein, um die Atmosphäre in der »école du brutal et du colossal« (ABD: 434) zu erfassen, sei es in der »armée de mannequins sans tête et sans jambes« (ABD: 780), dem Handel, den er als »bataille engagée« (ABD: 422) begreift, oder seinen ihm hörigen Angestellten. Dies ist schon aus dem Dossier bekannt. Rosemary Lloyd spricht von der Inszenierung Mourets als gottgleiche Figur, was unter anderem durch die Opferung seiner Frau und die Lage des Büros über dem Geschehen verdeutlicht werde (vgl. Lloyd 2002: 159).
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magasin« (ABD: 432) tragen dazu bei, die Präsenz der Autorität im Raum zu erhöhen und die Mitarbeiter einzuschüchtern. Zusammen mit Bourdoncle und Mouret erkundet der Leser die Räume im Off des Theaters, die Zola im Dossier skizziert hatte. Sie durchlaufen sukzessive die »arrivée de la marchandise«, den »service de départ«, den »service des expéditions« sowie die »caisse centrale« (ABD: 422ff.), um schließlich bei seinen Mitarbeitern Lhomme und Jouve, dem »ancien capitaine« (ABD: 432), Informationen zu den Mitarbeitern einzuholen.43 Nur ein Netzwerk der absoluten Überwachung und Kontrolle garantiert Mouret die Aufrechterhaltung des Status quo. Die Ordnung wird durch die Taktung des Tages bzw. standardisierte Abläufe und vorhersehbare Bewegungen im Kaufhaus hergestellt. Ein Signalton läutet zum Beispiel die Mittagspause für die einzelnen Abteilungen ein: »Il était dix heures moins un quart, la première table venait d’être sonnée« (ABD: 540).44 Während der ruhigen Sommermonate versetzt der Geschäftsmann dem Personal in der expliziten Rolle des »grand exécuteur« (ABD: 431) einen dramatischen »coup de terreur« (ABD: 534). Bourdoncle führt öffentlich Entlassungen mit dem Satz »Passez à la caisse« durch »qui tombait comme un coup de hache« (ABD: 534). Ein »drame« (ABD: 535) findet zudem statt, als eine Mitarbeiterin aufgrund der Beschwerde einer Kundin ohne Anhörung entlassen wird: »La direction se montrait impitoyable […], l’employé avait toujours tort, devait disparaître ainsi qu’un instrument défectueux, nuisant au bon mécanisme de la vente« (ABD: 535).45 Diese ständige Bedrohung wirkt sich auf die Psyche der Belegschaft aus: »Et les braves eux-mêmes tremblaient, devant le massacre« (ABD: 534). Sie verspüren einen »coup de fièvre perpétuel« (ABD: 428). Unbezahlter Urlaub, schlechte Ernährung und gesundheitliche Ausfälle beschreiben abschließend die »situation précaire« (ABD: 535) des Personals, das im Bonheur keine Rechte hat (vgl. Niess 1976: 58). All dies sind Elemente eines totalitären Systems, das sich vertikal von der Führungsebene in die Abteilungen und von dort horizontal in den Reihen der Mitarbeiter ausbreitet.
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In einem »cahier à souche« (ABD: 421) und einem »registre« (ABD: 432) werden Notizen zu den Verkäufern wie Regieanweisungen geführt, welche unter anderem für das Zirkulieren von Wissen im Raum verantwortlich sind: »Chaque jour, de nouvelles histoires circulaient. On nommait les vendeurs congédiés, comme en temps d’épidémie, on compte les morts« (ABD: 535). Besonders die mechanischen Bewegungen des Kochs fallen auf: »[L]e chef avait repris sa place devant le guichet, […] prêt à remplir de nouveau les assiettes, de son mouvement rythmique d’horloge bien réglée« (ABD: 550). Die reglementierten Vorgänge im Kaufhaus sind nur ein Beispiel für den Eingriff in die Freiheiten des Personals und ein Grund für die angespannte Atmosphäre im Bonheur (vgl. Erbeznik 2015). Es ist aber besonders das Verbot der Heirat von Kollegen und die Entlassung im Fall der Schwangerschaft, welche in das Leben der Mitarbeiter eingreifen (vgl. Viti 1991: 295).
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Mouret schürt durch die Einführung der Provision und die Belohnung der Fehlerdetektion in der Buchhaltung der Kollegen die Konkurrenz unter den Verkäufern. Er projiziert auf diese Weise den auf Makroebene geführten Kampf des Großhandels gegen den Kleinhandel auf die Mikroebene der sozialen Beziehungen im Raum des Kaufhauses: »Cette lutte devenait […] le principe d’organisation […]. Il lâchait les passions, mettait les forces en présence, laissait les gros manger les petits, et s’engraissait de cette bataille des intérêts« (ABD: 421).46 Die Opfer werden zu Tätern, die das Verhalten Mourets imitieren und böse Absichten hinter der Maske der Nettigkeit kaschieren. So zum Beispiel der Verkäufer Hutin: »Hutin […] avait su […] devenir un des premiers vendeurs, par une souplesse de nature, une continuelle caresse de flatterie, qui cachait un appétit furieux, mangeant tout, dévorant le monde […] pour le plaisir« (ABD: 432). Die Solidarität unter den Verkäufern hält nur so lange, bis günstigere Bedingungen oder persönliche Interessen verwirklicht werden können.47 Während des Urlaubs Robineaus beginnt die Intrige Hutins gegen seinen Vorgesetzten, die stellvertretend für die »lutte des appétits, cette poussée des uns sur les autres […] pour monter d’un échelon« (ABD: 542) steht. Zola veranschaulicht die Obsession des Aufstiegs im typisierten, räumlichen Bild der Karriereleiter und erinnert mit der darwinistischen Macht des Stärkeren über den Schwächeren an den Konflikt der »Maigres« gegen die »Gros« aus dem Ventre. Nach den allgemeinen Informationen zum Funktionieren des Kaufhauses, die durch Beobachtungen Mourets sowie Dialoge komplettiert werden, fokussiert der Roman auf den nächsten Seiten des zweiten Kapitels stärker Denises subjektive Erfahrung des Raums. Geschickt kreuzen sich beide Handlungsstränge in dem Moment, als Mouret nach der Runde durch das Kaufhaus die verunsicherte junge Frau bemerkt: »Mouret, tout en affectant d’écouter Bourdoncle et Robineau, était flatté au fond du saisissement de cette fille pauvre« (ABD: 435). Es ist entscheidend, dass der Chef weniger über Denise weiß als der Leser, da die Unkenntnis der beiden Figuren und die Fehlinterpretation des Verhaltens des jeweils anderen das Spiel der Maskerade zwischen ihnen befördern und das Ende der Liebesgeschichte unvorhersehbarer machen. Denise spürt, dass sie beobachtet wird, deutet Mourets
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Wichtig ist in diesen Kontext, dass es sich hierbei um Einzelkämpfer handelt; die Arbeiter im Kaufhaus haben kein Klassenbewusstsein (vgl. Niess 1976: 51). So vereinbaren sie zwar Signale, um die Ankunft der Inspekteure im Raum anzukündigen, doch treffen sie diese Übereinkunft nicht uneigennützig. Im zweiten Kapitel meldet Hutin den Auftritt Mourets und Bourdoncles wie folgt: »›Chut! dix-sept!‹ dit-il vivement à son collègue, pour le prévenir par ce cri consacré de l’approche de Mouret et de Bourdoncle« (ABD: 433). Und auch während der Mittagspause wird in der Küche die Ankunft der Vorgesetzten sowohl auditiv als auch durch Gesten angekündigt: »Mais un léger sifflement les fit taire. On signalait la présence de Mouret et de Bourdoncle dans le couloir« (ABD: 546); »Soudain, la lingère eut un geste de fuite: elle venait d’apercevoir la cravate blanche d’un inspecteur« (ABD: 539).
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Ausdruck aber anders als intendiert: »[E]lle se troubla […] quand elle reconnut le jeune homme […]. Elle s’imagina qu’il la regardait avec sévérité« (ABD: 435). Die Wege durch das Bonheur, die Mouret zuvor souverän zurückgelegt hatte und auch von den Mitarbeitern zielstrebig durchquert werden, sind für Denise labyrinthisch: [D]epuis dix minutes, elle battait le rez-de-chaussée, […] au milieu de la curiosité méchante et de l’indifférence maussade des vendeurs. C’était à la fois, en elle, une envie de se sauver et un besoin d’admiration qui la retenait. Elle se sentait perdue, toute petite dans le monstre, dans la machine encore au repos, tremblant d’être prise par le branle dont les murs frémissaient déjà. Et la pensée de la boutique du Vieil Elbeuf, noire et étroite, agrandissait encore pour elle le vaste magasin, le lui montrait doré de lumière, pareil à une ville, avec ses monuments, ses places, ses rues, où il lui semblait impossible qu’elle trouvât jamais sa route (ABD: 434). Denises Unkenntnis der Anlage des Kaufhauses sorgt für ihr Unwohlsein. Sie fühlt sich im Raum verloren, was ihre innere Zerrissenheit spiegelt. Denn indem sie sich zum Bonheur ins Verhältnis setzt, sieht sie nicht mehr nur die faszinierende »machine« aus dem ersten Kapitel, sondern zum ersten Mal auch das Monster, das die Familie Baudu verängstigte. Das Gefühl der Bedrängnis stellt sich durch Denises Position im Raum ein und hebt zusammen mit der Erinnerung an den beengten Raum der Kleinhändler den Eindruck der Monumentalität des Bonheur hervor: Sie wird von den Verkäufern umringt und spürt die Wogen der Aktivität von den Wänden des Gebäudes auf sich übergehen. Dessen Übermacht wird zuletzt auch im Vergleich mit der Stadt deutlich. Während das Kaufhaus von außen betrachtet ein Orientierungspunkt im unbekannten Paris war, führt die Innenansicht Denise noch einmal mehr vor Augen, dass Stadt und Kaufhaus strukturelle Analogien aufweisen (»monuments«, »places«, »rues«) und sie hier genauso verloren ist. Ihr variables Verhalten macht die Regularien der Raumpraxis, die »curiosité méchante« und die »indifférence maussade« der Verkäufer sichtbar. Denise ist sich aufs Neue besonders der Blicke der Mitarbeiter bewusst: »[Elle, J.K.] avait hâte de n’être plus sous les regards de tous ces hommes« (ABD: 435).48 Die Verkäufer sind auch deshalb an Denise interessiert, da ihre Rolle im Kaufhaus noch nicht feststeht. Ihr Verhalten weist auf die grundsätzliche Schwierigkeit hin, das Dasein der Frauen in der Stadt unter den veränderten ökonomischen und kulturellen Bedingungen zu kategorisieren. Dass sich dieses Problem nicht nur für die Männer, 48
Ihre Reaktion deckt eine Geschlechterideologie auf, die ihren Ursprung in der zunehmenden Trennung von weiblich und männlich geprägten Räumen im Zuge von industrieller Revolution und bourgeoisem Aufstieg nahm (vgl. Schor 1995: 154). Ein weiterer Unterschied zwischen Klein- und Großhandel ist nämlich, dass die Verkäuferinnen im Bonheur im Gegensatz zu Mme Baudu und Geneviève bezahlte Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor sind. Da sich ihr Wirken nicht mehr nur auf das Heim und die soziale Reproduktion begrenzt, treten sie in Konkurrenz zum Mann.
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sondern auch für Denise stellt, zeigt im nächsten Schritt ihre Reaktion auf die Mitarbeiterinnen in der Konfektionsabteilung. Sie passt sich weder dem gekünstelten Verhalten Hutins an noch stimmt sie dem Rollenspiel der Damen zu. Die Gründe hierfür klären sich etwas später im Roman: [C’] étaient justement ces allures de dame qui intimidaient la jeune fille. Presque toutes les vendeuses, dans leur frottement quotidien avec la clientèle riche, prenaient des grâces, finissaient par être d’une classe vague, flottant entre l’ouvrière et la bourgeoise; et sous leur art de s’habiller, sous les manières et les phrases apprises, il n’y avait souvent qu’une instruction fausse, la lecture des petits journaux, des tirades de drame, toutes les sottises courantes du pavé de Paris (ABD: 535f.). Denise findet im Erzeugen von Illusionen um die Klassenzugehörigkeit der Frauen den Grund ihrer Irritation. Wie Saccard in La Curée spielen die Verkäuferinnen mit den Konventionen der Oberschicht, um eine andere Identität anzunehmen. Dies umfasst eine Adaptation an Verhalten und Kommunikationsformen (»allures«, »grâces«, »manières et phrases apprises«) sowie einen bestimmten Kleidungsstil (»art de s’habiller«), wobei diese Konventionen selbst auf konstruierten Bildern des gelebten Raums beruhen (»instruction fausse«, »petits journaux«). Die Damen werden durch eine Uniform, die »robe de soie réglementaire« (ABD: 473), vereinheitlicht und in den Schein des Luxus gekleidet. Einzig ihre Haarfrisur ist Zeichen der Individualität: »[M]ais leur coquetterie, le luxe dont elles luttaient, dans l’uniformité imposée de leur toilette, était leurs cheveux nus« (ABD: 473).49 Denise verstößt gegen die Regeln des Rollenspiels, da sie nicht nur durch ihre Orientierungslosigkeit im Raum, sondern auch aufgrund ihres abweichenden Aussehens auffällt. Ihre »robe de laine noire« und ihr »visage triste« (ABD: 440) widersprechen den Aufnahmekriterien der Vorgesetzten, denn: »[O]n les voulait agréables, pour la vente« (ABD: 440). Eine Verkäuferin betrachtet sie »d’un air de dédain pour sa mise pauvre […] avec une mine innocente et dégoûtée« (ABD: 436). Erneut ist es die nonverbale Kommunikation, das heißt die Mimik im Spiel vor Denise, die die Feindseligkeit trägt. Die Protagonistin weiß die Nachricht der Botschaft in den Blicken zu decodieren und sich zu reflektieren: »Évidemment, ces demoiselles avaient flairé la vendeuse […], elles la dévisageaient, elles la déshabillaient du coin de l’œil, sans bienveillance […]. Denise se sentait mangée. Mais elle restait sans colère« (ABD:
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Der Erfolg im Kaufhaus hängt von der Performance ab, weshalb Danielle Bishop von der Dekonstruktion mythischer Weiblichkeit im Roman spricht (vgl. Bishop 2008: 247). Die Quintessenz der Maskerade stellt die Abteilungsleiterin Mme Aurélie dar, deren »masque empâté de César« (ABD: 437), »masque d’empereur« (ABD: 439) oder »masque de cire« (ABD: 714) sich wie ein dramatisches Leitmotiv durch den Roman zieht.
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437).50 In der wachsenden Antipathie der Frauen gegen Denise bleibt ihr einzig Mouret wohlgesonnen. Der Meister der Maskerade ist in der Lage, Denises wahren Charakter hinter ihrer schüchternen Art wahrzunehmen: [L]e sourire […] était comme un épanouissement du visage entier. Ses yeux gris prirent une flamme tendre, ses joues se creusèrent d’adorables fossettes, ses pâles cheveux eux-mêmes semblèrent voler, dans la gaieté bonne et courageuse de tout son être (ABD: 441). Ihr Lächeln wird als »transfiguration« beschrieben und antizipiert zusammen mit dem Verweis auf die »gaieté bonne et courageuse« erste Zeichen der Integrität und des Erfolgs der Protagonistin.51 Denn auch Denise ist in der Lage, Mouret zu durchschauen: »Et, derrière sa jolie tête, à la barbe soignée, aux yeux couleur de vieil or, elle voyait la femme morte, cette Mme Hédouin, dont le sang avait scellé les pierres de la maison« (ABD: 442; vgl. Schor 1995: 154). Ihr Eintritt in das Kaufhaus triggert nicht nur die materialistische und sexistische Raumordnung und -praxis, sondern präsentiert die Protagonistin als einzige Figur, die die Mechanismen im Kaufhaus versteht. Doch obwohl beide Figuren die geschäftlichen Intentionen und Fähigkeiten des anderen offenlegen und auch die Absichten der Mitarbeiter lesen können, sind sie nicht in der Lage, die eigenen und fremden Gefühle zu deuten. Nur der Leser erkennt in den wiederholten Zusammentreffen, den gegenseitigen Beobachtungen sowie den geschilderten Emotionen und Gedanken der Figuren Muster eines Liebesromans, die mit Elementen des Melodrams verbunden werden. Die integre, unschuldige Frau stellt sich dem Monster bzw. den unmenschlichen Bedingungen im Bonheur und verharrt nicht wie Geneviève passiv im Raum des Kleinhandels.52 Obwohl sie die Inszenierung der Ware und die Innovationen
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Im Vorstellungsgespräch mit Mme Aurélie und Mouret stellt sich außerdem ihre fehlende Berufserfahrung in Paris heraus, womit der Unterschied zwischen den Gepflogenheiten in der Provinz und der Großstadt aufgerufen wird. Nach dem Gespräch trifft Denise Deloche auf der Straße vor dem Kaufhaus und betont die herablassende Art der Mitarbeiter, die in Blicken und Gesprächen mitschwingt: »›Ils ont une manière de vous regarder et de vous parler, là-dedans!‹« (ABD: 443). Sie grenzt das Verhalten des Personals durch die adverbiale Bestimmung von dem Außenraum ab und verbrüdert sich auf diese Weise mit Deloche. Dass Denise am Ende der Befragung Mouret ebenfalls zu interpretieren versucht, hebt die Frau auf die gleiche Stufe wie den Chef und beide Figuren wiederum von der oberflächlichen Begutachtung der anderen Frauen ab. Das Aschenputtel-Schema im Stil der Romanze wird demnach nicht vollständig aktiviert, da Denise Initiative ergreift, entgegen dem Konzept von Verliebtheit handelt und Mouret trotz ihrer Unsicherheit ebenbürtig ist (vgl. Jullien 1993). Die Forschung ist sich darin einig, dass der Roman eine Vielzahl von Genres bedient, weshalb Amann von der »literary bricolage« spricht, »in which many conventions, forms and genres are brought together« (2004: 460). Während Dominique Jullien Elemente des Aschenputtel-Schemas entdeckt, findet Naomi Schor Anleihen aus dem »female Bildungsroman« und der »gothic novel« (Schor 1995: 149f.;
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auf der Bühne des Kaufhauses gutheißt, verwirft sie das scheinheilige Rollenspiel und das unsolidarische Verhalten der Mitarbeiter. Das Kaufhaus wird daher in der Folge zum Aufführungsort der Aushandlung von Geschlechterrollen, in der Denise und Mouret zunehmend in den Vordergrund rücken.
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Showtime – zur Aufführung von Geschichte(n) im Theaterraum
Der Leser leitet aus den ersten Kapiteln des Romans die topologischen und topographischen Grundlagen des Ordnungsraums ab und erkennt im Börsenviertel einen Theaterraum. Der Kleinhandel in der Rolle des Publikums ist räumlich von der Bühne des Großhandels getrennt und nicht Teil der Konsuminszenierung. Im Gegensatz dazu geht es während der Aufführungen auf den Haupt- und Nebenbühnen um die Interaktionen zwischen Mouret, den Kundinnen und den Mitarbeitern. Im Sonderverkauf, aber auch bei den Zusammenkünften im Appartement von Madame Desforges verwischt die Grenze zwischen Zuschauer- und Bühnenraum, was dazu führt, dass die Figuren zwischen der Rolle des Schauspielers und Zuschauers bzw. typischen Klassen- und Geschlechterrollen wechseln. Erst das Spiel macht also deutlich, dass Machtverhältnisse im Raum nicht überdauern, sondern dass räumliche und soziale Grenzen in performativen Akten entweder bespielt, das heißt reproduziert und stabilisiert, oder überspielt, das heißt herausgefordert werden. Anders ausgedrückt geht es um das Spannungsverhältnis von Raumordnung und Raumpraxis im Moment der Aufführung von Geschichte(n). Denn »Theatralität […] entsteht erst, wenn Praxis des Spiels und ein raumsetzender Rahmen zusammenkommen, der das theatrale Spiel […] als solches markiert« (Dünne/Krämer 2009: 20). Zu denken ist im Bereich der Raumordnung einerseits an die Gestaltung des Bühnenraums und andererseits an die Organisation der leiblichen Ko-Präsenz von Zuschauern und Schauspielern. Die Schwierigkeit besteht für Octave Mouret im Kaufhaus darin, trotz des offenen Arrangements oder Verschwindens der Vierten Wand die Ordnung des sozialen Raums zu bewahren. Denn das Kaufhaus charakterisiert sich durch das Zusammenspiel von Kontinuität und Innovation (vgl. Lehnert
vgl. Jullien 1993). Sie interpretiert das Kaufhaus als ein angsteinflößendes Schloss, das die häusliche Sphäre ersetzt, und erkennt in Denises Weg die Entwicklung zur idealisierten Frau (vgl. Schor 1995: 151ff.). Elizabeth Amann unterstützt diese Interpretation und sieht in den Themen der Prostitution, der Promiskuität und der Gewalt einen Schauerraum, wobei die Liebesgeschichte eine abgewandelte Form der »sentimental novel« darstelle (vgl. Amann 2004: 460ff.). Susanna Lee wiederum vergleicht den Roman mit dem Format der Série noire (vgl. Lee 2003). Jurate D. Kaminskas unterstützt die Idee, dass das Schema des Märchens subvertiert wird, und folgert, der Roman sei »au-delà du concept du genre« (Kaminskas 1995: 141).
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2011: 151 und Bowlby 1985: 67f.). Und es ist diese Unbestimmbarkeit des Raums, die bei den Kunden ein Gefühl von Fremdheit und Vertrautheit hervorruft. Der Charakter des Dazwischen des Raumes zeigt sich zudem in der permeablen Wand zwischen Außen- und Innenraum, da die Baumaterialien Eisen und Glas wie im Anwesen der Saccard das Eindringen des Blicks ins Innere des Kaufhauses ermöglichen.53 Und auch die Organisation des Innenraums widersetzt sich einer klaren Zuordnung. Die Bewegungen der anonymen Menschenmenge lassen den Eindruck eines öffentlichen Durchgangsorts entstehen, wobei Orte wie der Lesesaal oder die Umkleidekabinen andererseits an Privaträume erinnern und zum Verweilen einladen.54 Ähnlich ist das Appartement von Henriette Desforges einzustufen. Obwohl es einen Rückzugsort der Frau darstellt, ist es gleichzeitig ein wichtiger Ort der Verhandlung öffentlicher Interessen. Sowohl die Pariser Bevölkerung und die Kunden als auch die Leser sehen sich folglich mit Ungereimtheiten im Stadtbild konfrontiert – »[t]hey confront an ambiguous cartography, which distorts and disrupts their everyday practice and notion of space« (Kamal 2013: 119). Es ist besonders diese permanente Veränderung des Raums, die das Potential für die Angreifbarkeit der Ordnung und festen Rollenzuschreibungen birgt. Dem komplexen Bühnenarrangement wird auf Ebene des Textraums durch die ebenso komplexe Verflechtung von vier Geschichten begegnet. Der Leser refiguriert neben der Erzählung des Niedergangs des Kleinhandels die Handlungsstränge im Kaufhaus anhand von Thema, Raum und Zeit – »des récits divergents tout prêts à échapper au syncrétisme romanesque« (Cambron 1992: 26). Die erste Inszenierung zeigt den Siegeszug des Kaufhauses, der unter Führung Mourets vonstattengeht. Nach dem Probedurchlauf bei Mme Desforges ist Mouret darauf bedacht, seine Übermacht an den drei Tagen des Sonderverkaufs zur Schau zu stellen. Die Strategie des Geschäftsführers besteht in der Manipulation von wahrgenommenem und gelebtem Raum durch den konzipierten Raum. Mouret findet sowohl im Bereich der Raumordnung als auch der Raumpraxis Mittel, um das potentielle Chaos im Kaufhaus unter Kontrolle zu bringen. Der Einkauf als Erlebnis basiert auf der strategischen Positionierung und Zugänglichkeit der Ware. Gehwege werden gelenkt, Blicke und Berührungen der Kunden im erstmals barrierefreien Zugang 53
54
Das symbiotische Verhältnis von Stadt oder Boulevard und Kaufhaus wird Michel de Certeau später wie folgt fassen: »Les Galeries Lafayette – […] il faut entendre par là tous les grands magasins – sont insérés dans un environnement urbain […] avec lequel elles sont en parfaite osmose. Cette porosité les rend indéfiniment traversables; elles sont une continuité de la rue, on s’y promène comme au milieu des étals des trottoirs« (de Certeau 1994: 147). Haude Rivoal kommentiert diese Neuerungen im Kaufhaus wie folgt: »Ces perspectives sont aussi celles d’un nouvel espace, où les femmes peuvent conserver, écrire leur correspondance, se promener librement et affirmer du même coup la force de pouvoir d’achat« (Rivoal 2013: 244). Cnockaert hält das Kaufhaus entsprechend für einen »immense espace de transgression entre espace public et privé« (2009: 206).
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zum Produkt planbar (vgl. Erbeznik 2015: 132). Das Arrangement greift im Bonheur jeweils auf ein spezifisches, kulturell kodiertes Thema zurück – auf das Thema des Orients folgt am Ende das Thema der Hochzeit, das jeweils in typischen Objekten der Kolonialländer und Festivitäten inszeniert wird (vgl. Schößler 2009: 290). Dies kommt einer Exposition von Geschichte mit hohem symbolischen und musealen Wert gleich, da die Objekte Bilder des räumlichen Haushalts der Gesellschaft evozieren und in die Pariser Welt integriert werden. Die Gestaltung soll ganz bestimmte Reaktionen wie Erstaunen oder Bewunderung auslösen – Lehnert spricht berechtigterweise von der »Inszenierung von Emotionen und von kommunikativen Ereignissen« (2011: 153) im Warenhaus – und über eine sinnliche Affizierung die Kaufbereitschaft der Kundinnen erhöhen (vgl. Lindemann 2008: 200). Auf der Ebene der Raumpraxis setzt ein Rollenspiel der Mitarbeiter ein, die im Kontakt mit den Damen ein ästhetisches Erlebnis rauschhafter Sinnlichkeit herbeiführen sollen.55 Die zweite Geschichte, die im Kaufhaus und seinen Nebenbühnen inszeniert wird, handelt von den neuen Rollenangeboten für die Frau in der Moderne. Die Kaufkraft der Shopperinnen verleiht ihnen Macht und so buhlen die Verkäufer um die Gunst der Frauen. Das Kaufhaus entpuppt sich für die Kundschaft als zweites luxuriöses, von Fesseln befreites Heim, in dem öffentlich flaniert und ungeniert das eigene Verlangen gezeigt werden darf. Einen entscheidenden Platz nimmt in dieser Geschichte der Aufstieg von Denise ein. Der dritte Handlungsstrang ist eng mit dem Siegeszug Mourets verbunden, folgt aber nicht den gleichen Regeln. Denise verfügt über die Mittel, in die Inszenierung einzugreifen und Rollenbilder zu hinterfragen. Für die Protagonistin initiiert das Agieren im Kaufhaus einen Reifeprozess – sie findet hier zu ihrer Weiblichkeit und professionellen Expertise. Ihr Einfluss auf die totalitäre Führung des Patriarchen wächst, je offener ihr Charakter hinter der Maskerade zum Vorschein tritt und je mehr sich Mouret seiner Gefühle bewusst wird und sein Rollenspiel aufgibt. So tritt am Ende die Inszenierung des Siegeszugs des Kaufhauses hinter die vierte Inszenierung, die Liebesgeschichte, zurück. Denise und Mme Desforges werden zu Regisseurinnen des Spektakels, das immer offener zur Schau gestellt wird. Am Ende führt die Heirat zwischen den Figuren zur symbolischen Auflösung der konfliktreichen Geschichte(n) im Kauf-
55
Mouret unterschätzt allerdings die Konsequenzen des Eintritts der Frauen in den öffentlichen Raum. Zola stellt dem Leser eine wiederkehrende Gruppe von Kundinnen, die »bande« (Schor 1978: 141ff., 153ff.) an die Seite, um in der Textvielfalt bzw. dem Raum des Kaufhauses den Überblick zu bewahren. Wie noch zu zeigen sein wird, ufert die Menge an sinnlich-affektiven Informationen in der Beschreibung der Weißware trotz der Vorkehrungen aus und auch Mouret hat Schwierigkeiten, das Wilde des Orients bzw. des Weiblichen, das sich im Herzen der Stadt ausbreitet und die Utopie der patriarchalen Raumordnung angreift, einzudämmen.
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haus, das heißt sowohl der Eroberungen Mourets als Symbol der Imperialpolitik Frankreichs als auch des Kampfes der Geschlechter.56
7.3.1
Die Generalprobe im Appartement von Henriette Desforges: Mouret als Patriarch und Eroberer – ein Meister der Selbstinszenierung
Die Generalprobe, in der Octave Mouret in die Rolle des Patriarchen und Eroberers schlüpft und somit seine Macht im Raum festigt, findet sich im dritten Kapitel in Mme Desforges Appartement am Jardin des Tuileries. Der Leser wird an einen wichtigen Nebenschauplatz der Handlung geführt und wird Zeuge des raffinierten Spiels der Verführung des Geschäftsmanns. Mourets falsche Höflichkeit zeigt sich zu Beginn dieser Szene in der übertriebenen Begrüßung der Hausdame: »[I]l entra par là [l’antichambre, J.K.], il la salua d’un air de cérémonie« (ABD: 443f.). Sein anschließender Eintritt in den kleinen Salon, in dem die bourgeoisen Damen auf ihn warten, erfolgt nach ähnlichem Zeremoniell und wird durch das Öffnen der Türen dramatisiert: »[Mme Desforges] poussa la porte, dont elle laissa les deux battants ouverts […]. ›Entrez donc, monsieur Mouret.‹ Mouret salua ces dames« (ABD: 445). Obwohl die Vorstellung der Frauen eher durch den Erzähler als durch Mouret geleitet wird, gibt ihm der Verweis auf die Kenntnis der Damen eine gewisse narrative Autorität in der Wiedergabe der Informationen zum sozialen Stand, Aussehen und Charakter der Anwesenden. Er scheint es zu sein, der dem Leser während des Zirkulierens des Fächers Regieanweisungen für das spätere Auftreten der Damen im Kaufhaus mitteilt. Geschickt wird ihre jeweilige Rolle als Kundin durch die Begutachtung des Fächers in die Erzählung eingebaut: Mme Bourdelais »menait son ménage […] avec une activité, […] d’un flair de bourgeoise sage et pratique« (ABD: 445). Mme de Bove ist »toute remuée par la délicatesse du chiffre, comme envahie d’un désir […], torturée d’une envie trop grosse« (ABD: 446), wohingegen Mme Marty von einer »fièvre nerveuse« und »rage de dépense« befallen ist (ABD: 446, 447). Mme Guibal ist mit einem »simple régal à ses yeux« (ABD: 463) zufrieden und auch Mme Desforges »achetait seulement certains articles« (ABD: 464).57 Unter Rückgriff auf eine bourgeoise Genderideologie erfüllt Zola den Kult der Häuslichkeit 56
57
Die Suche im Text nach der symbolischen Auflösung extraliterarischer Krisen oder Konflikte leitet die Literatur- und Kulturanalyse Fredric Jamesons. Er schreibt in The Political Unconscious: »[R]eal social contradictions, insurmountable in their own terms, find a purely formal resolution in the aesthetic realm. […] The production of aesthetic or narrative form is to be seen as an ideological act in its own right, with the function of inventing imaginary or formal ›solutions‹ to unresolvable social contradictions« (Jameson 1981: 79). Zola erstellt eine Art Typologie der Kundin, was laut Shoshana-Rose Marzel dem Anliegen des Naturalismus, die Realität vollständig zu erfassen, nachkommt (vgl. Marzel 2008: 16).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
mit Mme Bourdelais, während er die anderen Damen mit den Stereotypen von Luxus und Hysterie in Verbindung bringt. Die wirkliche Inszenierung der Eroberung der Frauen findet erst etwas später in Anwesenheit des Barons Hartmann statt. Die beiden Männer unterhalten sich über die Geschäfte Mourets und die Vergrößerung des Bonheur, die Hartmann finanziell unterstützen soll. Um ihn von seinen Plänen zu überzeugen, spielt Mouret den »rôle d’un bon jeune homme« (ABD: 456) und erläutert ihm versiert die Mechanismen des Kaufhauses. Seine Taktik besteht darin, den Erläuterungen zur Verführung der Frauen eine performative Dimension zu geben, indem er Hartmann eben jene Verführung präsentiert und anschließend noch einmal zusammenfasst: ›La clientèle, mais la voilà!‹ […] Le baron Hartmann, qui avait suivi le geste de Mouret, regardait ces dames, par la porte restée grande ouverte. Et il les écoutait d’une oreille [discuter les étoffes, J.K.], pendant que le jeune homme, enflammé du désir de le convaincre, se livrait davantage […]. N’était-ce pas une création étonnante? Elle bouleversait le marché, elle transformait Paris, car elle était faite de la chair et du sang de la femme (ABD: 457, 460). Dass Hartmann Zuschauer einer Aufführung ist, wird auch durch die Schilderung des Arrangements im Raum und den Einsatz des Lichts deutlich: Le soleil pâlissait, la poussière d’or rouge n’était plus qu’une lueur blonde […]. A cette approche du crépuscule, une intimité noyait la grande pièce d’une tiède douceur. [C]es dames s’étaient rapprochées, faisaient là, au milieu, un étroit cercle de jupe, d’où montaient des rires, des paroles chuchotées, des questions et des réponses ardentes, toute la passion de la femme pour la dépense et le chiffon (ABD: 458). Die kreisförmige Anordnung der Damen bzw. der Röcke in der Mitte des Salons wirkt einstudiert und verstärkt die Atmosphäre der Intimität, die durch die untergehende Sonne, das rötliche Halbdunkel und die gedämpften Stimmen im Raum hergestellt wird. In diesem gestimmten Raum spielen nicht mehr Größenbeziehungen, sondern sinnliche Qualitäten die Hauptrolle. Die Wahrnehmung der visuellen und auditiven Reize löst das taktile Empfinden der »tiède douceur« aus, die die weiblich konnotierte Diskussion und Leidenschaft für die Ware untermalt. Die Grundstimmung verleiht dem »étroit cercle« der Frauen, welcher durch das Verb »montaient« räumliche Tiefe erhält, eine geheimnisvolle Note. Mouret präsentiert Hartmann eine geschlossene Gesellschaft, die dem Kult des Konsums frönt. Die Strategie des Kaufhausbesitzers geht auf, doch müssen letzte Zweifel des Barons ausgelöscht werden: »Le baron, à demi conquis, hésitait pourtant à s’enColette Becker und Jeanne Gaillard ordnen die Kundinnen auf einer Skala von »Vernunft« (Mme Bourdelais) bis »Wahn« (Mme Marty) ein (vgl. Becker/Gaillard 1982: 43).
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gager de la sorte. Un doute restait au fond du charme […]. Il allait répondre […], lorsqu’un appel pressant de ces dames lui évita cette peine« (ABD: 462). Mouret wird Teil der Inszenierung, um seine Verführungskünste in Aktion vorzuführen und den Baron von sich zu überzeugen: »Alors, il [Mouret, J.K.] se décida, et avec une bonne grâce apparente, un air de ravissement, dont le baron fut émerveillé« (ABD: 462). Die Eroberung der Frauen verläuft in Einklang mit der zunehmend erotisierten Stimmung in den Phasen des Sonnenuntergangs. Die Abdunkelung des Raums mit gleichzeitigen Lichteffekten im Kreis der Damen fungiert als dramatischer Marker und teilt den Raum gleichzeitig in einen Zuschauer- und einen Bühnenbereich. Mouret nimmt den Platz inmitten der Frauen ein und wird zum symbolischen Zentrum der Verschwörung in der »heure attendrie du crépuscule, cette minute de discrète volupté, […] entre la clarté de la rue qui se meurt et les lampes qu’on allume« (ABD: 462). Er nutzt den Moment diskreter Lust, der die Frauen empfänglicher zu machen scheint, und setzt seine »voix d’acteur« (ABD: 462) ein, um die Kundinnen von dem bevorstehenden Verkauf zu begeistern.58 Der Erfolg Mourets zeigt sich in den körperlichen Reaktionen der Damen, die sich enger um ihn drängen: »[T]outes se rapprochèrent, l’emprisonnèrent du cercle étroit de leurs jupes. La tête levée, les regards luisants, elles lui souriaient« (ABD: 463). Je weiter die Aufzählung der Artikel führt, desto mehr verfallen sie Mouret: »[E]lles resserraient encore leur cercle, la bouche entr’ouverte par un vague sourire, […] comme dans un élancement de tout leur être vers le tentateur« (ABD: 464). Dieser behält trotz der Nähe zu den Frauen und ihren »odeurs troublantes« seinen »calme de conquérant« (ABD: 464) bei. Hartmann wird retrospektiv als wahrnehmende Instanz der Szene kenntlich und in seiner Rolle des Zuschauers bestätigt: »[L]e baron Hartmann, qui ne le quittait pas du regard, sentait son admiration grandir« (ABD: 464). Er wird Zeuge des »dernier coup porté à ces dames« (ABD: 465), des Versprechens der Niedrigpreise im Bonheur. Es potenziert ihre »jouissance d’acheteuse« (ABD: 465), führt also symbolisch den sexuellen Höhepunkt im verschleierten Liebesspiel herbei. Nur noch die Präsenz der Ware und die Berührung der Stoffe und ihres Besitzers fehlen, um die ekstatische Verführung der Frauen zu vollenden: Les pièces se déroulaient, allaient et revenaient de l’une à l’autre […]. C’était, sur leurs genoux, la caresse d’un tissu miraculeux de finesse, où leurs mains coupables s’attardaient. Et elles emprisonnaient Mouret plus étroitement […]. Comme le jour continuait de baisser, il devait par moments pencher la tête, effleurer de sa barbe leurs chevelures, […]. Mais, dans cette volupté molle du crépuscule, au milieu de 58
Zola spielt mit dem Muster der verbalen Verführung, das heißt dem mündlichen Versprechen physischer Lusterfüllung, und setzt es mit dem Versprechen preiswerter und qualitativ hochwertiger Ware gleich.
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
l’odeur échauffée de leurs épaules, il demeurait quand même leur maître, sous le ravissement qu’il affectait. Il était femme, elles se sentaient pénétrées et possédées par ce sens délicat qu’il avait de leur être secret, et elles s’abandonnaient, séduites; tandis que lui, […] apparaissait, trônant brutalement au-dessus d’elles, comme le roi despotique du chiffon (ABD: 467f.). Der taktile Reiz löst ein Verlangen aus, das nicht mehr an die Zweckgebundenheit der biologischen Reproduktion gebunden ist. Das Lustempfinden im symbolischen Liebesakt wird außerhalb der Ehe und dem Privatraum an einem halb öffentlichen, erotisierten Ort entfacht, was den »mains coupables« über die Lust auf Konsum hinaus einen moralischen Wert verleiht. Die gutbürgerlichen Frauen begehen in der Berührung der Ware als metonymischer Erweiterung von Körpern Ehebruch.59 Es stellt sich eine Vertrautheit zwischen Mouret und den Damen ein, die aber nicht auf dem physischen Kontakt, sondern auf dem emotionalen Band zwischen Kundin und Verkäufer beruht. Ob es allerdings tatsächlich der »sens délicat« ist, von dem sie sich durchdrungen fühlen, oder dies nur ein schicklicher Platzhalter für den Akt der Penetration ist, wird bewusst offen gehalten. Genauso offen bleibt die Geschlechtszugehörigkeit Mourets, der aufgrund seines Verständnisses für die Sehnsüchte der Frauen selbst als Frau gekennzeichnet wird (»Il était femme«), gleichzeitig aber die Rolle des kalkulierten »maître« bedient (vgl. Schößler 2009: 293 und Kaminskas 1995: 139f.). Der Verrat an den Damen wird umso größer, je mehr sich Mouret ihr Vertrauen durch ein affektiertes Spiel erkauft (»le ravissement qu’il affectait«). Er gibt die Illusion von Gleichberechtigung hinter der Maske des weiblichen Geschlechts vor, um die patriarchalen Maßnahmen durch die Hintertür wieder einzuführen. In diesem Sinne ist dann auch die erhöhte Position des »roi despotique« innerhalb der Gruppe zu verstehen, dem die Frauen am Ende des Schauspiels vollkommen verfallen sind (»elles s’abandonnaient, séduites«).
7.3.2
»Der Widerspenstigen Zähmung«: Die Inszenierung der siegreichen Nation
Im vierten Kapitel findet der Verkauf der neuen Winterware statt, das neunte Kapitel inszeniert den Verkauf der Sommerware, bevor zuletzt die Weißwarenausstellung im Fokus steht. Mourets Ziel ist, den erfolgreichen Auftritt während der Generalprobe zu wiederholen und seine Macht im Kaufhaus bzw. in Paris durch die Eroberung von Raum zur Schau zu stellen. Im Folgenden wird daher besonders der erste Sonderverkauf in den Blick genommen, da hier die Inszenierung der
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Fraglich ist, ob dieser Ehebruch mit Mouret oder einer Frau begangen wird. Hannah Thompson erkennt in dem Befühlen der Kleidung ein »female web of intimacy« (1998: 83), wodurch die Bedeutung der Kostümierung in der lesbischen Subkultur angedeutet würde (vgl. ebd.).
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siegreichen Nation bzw. die Unterwerfung der Frau noch eindeutig von Mouret orchestriert und umgesetzt wird. Er spielt einerseits mit dem visuellen Bühnenbild und andererseits mit seinem Verhalten im Raum, um die Kundinnen in den Bann zu ziehen (vgl. Scott 2014: 260f.).60 Der Triumph des Kaufhauses zeigt sich bereits vor dem Betreten der Abteilungen. Das Gebäude wird zuerst aus Sicht des Erzählers in positiven Wendungen beschrieben, ohne dass die Wahrnehmung im Außen markiert wird: »Aussi, le Bonheur des Dames, dès huit heures, flambait-il aux rayons de ce clair soleil, dans la gloire de sa grande mise en vente des nouveautés d’hiver« (ABD: 469). Weitere Ausdrücke wie die »symphonies d’étalages«, die »netteté des glaces«, die »débauche de couleurs« (ABD: 469) differenzieren das semantische Feld der »gloire« und der »joie de la rue« (ABD: 469) im flammenden Morgenlicht aus. Im neunten Kapitel geht es dann um die erste Vergrößerung des Bonheur. Die Architektur der neuen Gebäude basiert auf modernster Technik: »On avait vitré les cours […]; et les escaliers de fer s’élevaient du rez-de-chaussée, de ponts de fer étaient jetés d’un bout à l’autre« (ABD: 611). Glas und Eisen der »cathédrale du commerce moderne« (ABD: 612) passen sich den neuen Gebäuden im Stadtbild an (vgl. Penrod 2003: 26): »Partout on avait gagné de l’espace, l’air et la lumière entraient librement, le public circulait à l’aise« (ABD: 612). Alles erinnert hier an das Motto Haussmanns zur Hygiene, Zirkulation und Verschönerung der Stadt. Der Leser folgt zu Beginn der Kapitel der Bewegung der Kunden von der Straße in das Bonheur, das heißt, dass sich die Perspektive von den Dimensionen im Außenraum zunehmend auf das Interieur einschränkt. Das Eintauchen in die Welt des Bonheur wird zum dramatischen Ereignis, was bereits in der ersten Interaktion sichtbar wird. Die Damen werden während des ersten Verkaufs wie im Theater am Eingang in Empfang genommen und von Jouve in die Abteilungen gewiesen. Es ist der »ancien capitaine retraité«, der den Grundstein der Machtinszenierung legt: »Et l’inspecteur Jouve […] était là, en redingote et en cravate blanche, avec sa décoration, comme une enseigne de vieille probité, accueillant les dames d’un air gravement poli« (ABD: 470). Kleidung und Haltung sind die ersten Kennzeichen des Schauspiels einer königlichen Etikette, welche die Übermacht Mourets zur Schau stellen soll. Die Unterwerfung der Frau unter die Regie des Kaufhauses wird in den anderen Sonderverkäufen noch deutlicher. Hier wird zuerst der anonyme »flot« oder
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Dass besonders die Manipulation des räumlichen Arrangements bis zum Ende des Romans aufrechterhalten bleibt, zeigt der Vergleich mit den beiden anderen Kapiteln. Sie ähneln einander stark im Aufbau, wobei die Autorität Mourets auf narrativer Ebene sukzessive abnimmt. Die Reaktionen der Damen als Gradmesser des Erfolgs der Raumgestaltung und des Rollenspiels der Verkäufer variieren nur wenig, weshalb der Einkauf als ästhetisches Erlebnis gebündelt dargestellt wird.
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
die »foule« (ABD: 617), dort der »fleuve humain« sowie die »masse profonde« (ABD: 765) vor dem Bonheur beschrieben, bevor die Perspektive von Mme de Boves, Mme Marty und Mme Guibal eingenommen wird. Sie werden an beiden Tagen von der Menschenmenge über die Schwelle in das Geschäft getragen: »[E]lles étaient prises et emportées dans le vent de la foule« (ABD: 618).61 In diesem Zustand der Trance haben die Installation des orientalischen Salons im Vorraum, der Einsatz der fernöstlichen Dekoration sowie die Ausstellung der Weißware im Kaufhaus eine umso größere Wirkung. Der primäre Zweck des Bühnenbilds ist, die Damen zu überraschen: »Dès la porte, c’était ainsi un émerveillement, une surprise qui, toutes, les ravissait« (ABD: 470f.). Wie in der Feerie und ihren spektakulären Tableaux wird ein »spectacle for dramatic punctuation« (McGrath 2014: 643) geschaffen. Dies ist auch während des Sonderverkaufs der Sommer- und Weißware der Fall. Mouret ändert im zweiten Verkauf absichtlich die Ordnung der Auslagen und widersetzt sich seiner »idée de géomètre« (ABD: 615), indem er die Produkte einer Abteilung an verschiedenen Orten im Kaufhaus verteilt.62 Neben den visuellen Reizen registrieren die Damen am zweiten und dritten Verkaufstag olfaktorische und taktile Eindrücke: »Sous les galeries couvertes, il faisait très chaud, une chaleur de serre, moite et enfermée« (ABD: 620). Zusätzlich betört im letzten Kapitel der Duft der Blumensträuße die Klientel: »Et, peu à peu, la clientèle se trouvait fleurie, les magasins s’emplissaient de ces noces blanches, toutes les femmes promenaient un parfum pénétrant de fleur« (ABD: 770). Aus La Curée ist bekannt, dass diese aufgeheizte Atmosphäre einen verstörenden Effekt haben kann. Sie verfehlt auch im Bonheur nicht ihre Wirkung. Denise, die im neunten Kapitel zuerst die Neuerungen sieht, »ouvrait de grands yeux, dépaysée par les aménagements nouveaux« (ABD: 615), was Mouret zufriedenstellt: »Cette surprise parut amuser Mouret, qui adorait ces coups de théâtre […]. [P]artout, il exigeait du bruit, de la foule, de la vie« (ABD: 616).63 Das Prinzip des Überforderns der sinnlichen Wahrnehmung ist das Erfolgsrezept des Regisseurs,
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Während sie allerdings im Sommer dem Geschehen bewusst folgen, lassen sie sich am Ende unbewusst treiben, was einen schleichenden Prozess der Unterwerfung markiert: »[L]e flot les prenait; et elles n’eurent qu’à s’abandonner, sans en avoir conscience« (ABD: 767). Er ist der »maître de l’espace« (Serres 1975: 293), der das Kunstwerk vollendet, das dem Maler Claude misslingt (vgl. Niess 1978: 140). Vgl. hierzu auch Reverzy (2007: 205ff). Die Reaktion von Mme de Boves beim Anblick des mit Sonnenschirmen dekorierten Raums fällt genauso aus: »›Regardez donc!‹ cria Mme de Boves, immobilisée, les yeux en l’air« (ABD: 619), woraufhin Mme Marty Zolas Reaktion aus dem Dossier versprachlicht: »›C’est féerique‹« (ABD: 619). Der Ausruf macht vor dem Hintergrund des Einsatzes der Mittel der Feerie noch mehr Sinn. Überrascht sind die Frauen auch über die Weißwarenausstellung: »Une surprise immobilisa ces dames. Devant elles, s’étendaient les magasins les plus vastes du monde, comme disaient les réclames« (ABD: 767).
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den der Erzähler als »maître sans rival […] dans l’aménagement intérieur des magasins« (ABD: 613) begreift. Er fordert einen visuellen »écrasement« von Produkten, einen »vacarme« (ABD: 613, 614) sowie eine überhitzte Stimmung durch die große Zahl an Kunden (vgl. Castro 1998: 23). Die Auswirkungen zeigen sich bei Mme Desforges, die während des Sommerverkaufs von den visuellen, taktilen und auditiven Reizen übermannt wird: Mais ce qui la surprenait surtout, dans la fatigue de ses yeux aveuglés par le pêlemêle éclatant des couleurs, c’était […] de sentir davantage la foule, à son bruit sourd de marée montante et à la chaleur humaine qu’elle exhalait (ABD: 631). Hier ist eine Störung der Informationsverarbeitung zu erkennen, die typisch für die Erfahrung der modernen Stadt gewesen sein soll und Caitlin McGrath zufolge mit einer Form der Agnosie verglichen werden kann (vgl. McGrath 2014: 643ff.). Die Überforderung der Wahrnehmung gilt im 19. Jahrhundert jedoch als typisch weibliche Schwäche und kulminiert in der Hysterie Mme Martys am Ende des neunten Kapitels: Maintenant, Mme Marty avait la face animée et nerveuse d’une enfant qui a bu du vin pur. Entrée les yeux clairs, la peau fraîche du froid de la rue, elle s’était lentement brûlé la vue et le teint, au spectacle de ce luxe, de ces couleurs violentes, dont le galop continu irritait sa passion. […] Puis, sur le trottoir, […] elle frissonna à l’air vif, elle demeura effarée, dans le détraquement de cette névrose des grands bazars (ABD: 644).64 Mourets Hauptanliegen, »de vaincre la femme« (ABD: 612), geht folglich auf, indem er die Leidenschaft der Frau entfacht. Doch versteckt Zola in dem Ziel der Unterwerfung der Frau eine nationale Sehnsucht, die aus der Wahl der Themen der drei Ausstellungen abgeleitet werden kann. 64
Wissenschaftliche Diskurse der Zeit führen die psychologischen und physiologischen Reaktionen auf die Farbenpracht und den Luxus, das heißt die bis zur Neurose gesteigerte Aufregung, auf biologische Ursachen wie Menstruation, Schwangerschaft oder Menopause zurück (vgl. Marzel 2008: 12ff.). Dass diese Diskurse ein Schutzmechanismus der patriarchalen Gesellschaft gegen die wachsende Bedeutung der Frau im Wirtschaftssektor waren, steht außer Frage (vgl. ebd.: 16ff. und Rivoal 2013: 247). Im Gespräch mit seinem Schulfreund Vallagnosc erläutert Mouret die Frauentypen im Kaufhaus: »D’abord il citait les voleuses de profession, celles qui faisaient le moins de mal, car la police les connaissait presque toutes. Puis, venaient les voleuses par manie, une perversion du désir, une névrose nouvelle qu’un aliéniste avait classée, en y constatant le résultat aigu de la tentation exercée par les grands magasins. Enfin il y avait les femmes enceintes, dont les vols se spécialisaient« (ABD: 632). Es liegt auf der Hand, dass sich Zola in den Visionen Mourets wiederfindet und die Figur Vallagnosc einsetzt, um seine Kritiker zu attackieren. Er prangert in den Diskussionen zwischen den Jugendfreunden das Verharren auf Konventionen an, was aus Zolas Kommentaren zum Theater und der Literatur der Zeit bekannt ist.
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Im Fall der Winter- und Sommerware nutzt Mouret die Vorliebe des Publikums für die Exotik der Kolonien, aus denen zum Beispiel in den Pariser Weltausstellungen Kapital geschlagen wird. Das Interesse an fremden Ländern war natürlich nicht nur Zeichen des Bedürfnisses nach Eskapismus, sondern Ausdruck des imperialen Wettstreits unter den Großmächten. Nach Jahren der innen- und außenpolitischen Konflikte und der steten Transformation des urbanen Raums konnte der Gewinn von Kolonien die Stabilität und Stärke Frankreichs auf nationaler und internationaler Ebene unter Beweis stellen. Es galt, als führende Kraft aus dem Kampf um die Hegemonie in Europa hervorzutreten und den patriarchalen Traum der Unterwerfung fernöstlicher, weiblicher Sinnlichkeit unter die männliche Ratio des Westens zu realisieren (vgl. Kamal 2013: 158). Genau in diesem Lichte ist dann auch die Behauptung männlichen Terrains gegenüber der unbändigen Weiblichkeit im Kaufhaus zu lesen. Die »création étonnante« Mourets »[qui, J.K.] était faite de la chair et du sang de la femme« (ABD: 460) erinnert an den Raub der Ressourcen der Kolonien, wovon der orientalische Salon und die Seidenausstellung im Bonheur Zeugnis ablegen. Im vierten Kapitel ist der Übergang von der Reaktion der Frauen hin zur Beschreibung des räumlichen Arrangements entscheidend. Die direkte Abfolge der Wörter »ravissait« und »Mouret« bindet die Bewunderung und das Entzücken der Kundinnen implizit an den Chef, der auch sofort als Urheber der Inszenierung ausgewiesen wird. Er ist der Experte des Orients, da er die Produkte und ihren finanziellen wie symbolischen Wert in der Gesellschaft kennt. Er lässt diese so geschickt anordnen – zu achten ist auf die Bemerkung »sous ses ordres« (ABD: 471) –, dass nicht nur Schaulustige und Käuferinnen, sondern auch die »haute clientèle de l’art« (ABD: 471) angelockt werden. Dass der Innenraum vom Außen aus einsehbar ist, ist dem Zweck des Kundengewinns und der Exposition der Eroberungen einmal mehr zuträglich: »Du milieu de la place Gaillon, on apercevait ce salon oriental, fait uniquement de tapis et de portières« (ABD: 471). Das Kaufhaus verwandelt sich in einen Ausstellungsraum für die Pariser Bevölkerung, in dem die Siegestrophäen Mourets zu bewundern sind. Bewusst wird nach der Perspektive der Kundinnen der anonyme Blick der Menge auf dem Platz eingenommen, um den Einflussbereich Mourets auf das Viertel auszuweiten. Aufgrund der Anonymität der Wahrnehmung klärt sich erst mit der Wiedergabe der Gerüche sowie dem Empfinden von Hitze im Raum gegen Ende der Passage, dass die Beschreibung der Teppiche im orientalischen Salon aus dem Innenraum erfolgt. Obwohl Zola nach bekannter Manier vorgeht und die Objekte deiktisch an einen Betrachter im Raum knüpft, hat das geordnete Vorgehen an dieser Stelle eine besondere Funktion. Das Benennen und Verorten der Teppiche an der Decke, den Seitenwänden und dem Boden des Raums gleicht einer symbolischen Einnahme der Herkunftsorte der Produkte:
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D’abord, au plafond, étaient tendus des tapis de Smyrne […]. Puis, des quatre côtés, pendaient des portières: les portières de Karamanie et de Syrie […]; les portières de Diarbékir, plus communes, rudes à la main […]. A terre, les tapis recommençaient, une jonchée de toisons grasses: il y avait, au centre, un tapis d’Agra, une pièce extraordinaire (ABD: 471). Gleichzeitig kann die Verortung der Artikel im Raum mit dem Markieren dieser Orte auf einer Karte verglichen werden, das heißt dass sich vor den Kunden und Lesern im Zentrum der Hauptstadt mithilfe dieses Tableaus eine imaginäre, geographische Karte des Orients ausbreitet. Die männliche Stimme des Erzählers fungiert in diesem Kontext noch als zusätzlicher Verstärker der Macht Mourets im Kaufhaus.65 Dass diese Karte der Kolonien jedoch nicht nur Ausdruck der Übermacht, sondern auch Zeichen der Angst vor dem Raumgewinn des angeblich wilden Orients ist, zeigen Details in der Beschreibung. Im Anschluss an die Ordnung der Artikel wird die weitere Gestaltung des Raums nicht mehr gerahmt: »[P]artout, ensuite, s’étalaient des merveilles, les tapis de la Mecque aux reflets de velours, les tapis de prière du Daghestan à la pointe symbolique« (ABD: 471, Hervorh. J.K.). Die Qualitäten der Teppiche werden weniger präzise erfasst – »l’or fauve dominait, dans l’effacement des tapis anciens« (ABD: 471). Die Mischfarbe steht symbolisch für die Unordnung, die Mouret wissentlich in den Raum gebracht hat: »[I]l allait en inonder le marché« (ABD: 471). Anstatt seine Macht in einem Vorstoß gen Osten zu implementieren, schafft Mouret durch die Integration östlicher Kultur einen Unruheherd im Stadtzentrum (vgl. Kamal 2013: 129). Diese Bedrohung geben die letzten Sätze der Beschreibung preis. Die »chaleur sombre« (ABD: 471) der Teppiche bindet sich mit dem Geruch an die halluzinativen Bilder des Orients, die sich im Kaufhaus ausbreiten: »Et des visions d’Orient flottaient sous le luxe de cet art barbare, au milieu de l’odeur forte que les vieilles laines avaient gardée du pays de la vermine du soleil« (ABD: 471). Die materiellen Qualitäten des wahrgenommenen Raums sind dem Betrachter fremd; sie haben keinen konkreten Ursprung mehr (»pays de la vermine du soleil«) und transportieren im gelebten Raum die Bilder eines »art barbare« (ABD: 471), der droht, Paris zu überfluten. Auf ähnliche Weise regen die Seidenstoffe im zweiten Verkauf die Imagination an: »Et il y avait encore les pongés du Japon, les tussores et les corahs des 65
Nadyne Stritzke macht darauf aufmerksam, dass die Geschlechteridentität in literarischen Texten nicht nur inhaltlich interessiert, im vorliegenden Fall wäre dies zum Beispiel die Frage der Geschlechtszugehörigkeit Mourets, sondern auch erzähltechnisch ausgehandelt wird: »Erzählinstanzen sind geschlechtlich markiert«, schreibt Stritzke (2006: 106). Nimmt der Leser an, ein männlicher Erzähler führe ihn durch den Roman Au Bonheur des Dames, hat dies besondere Auswirkungen auf die Rezeption der Schilderung des Verhaltens weiblicher Figuren wie der hysterischen Kundinnen.
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
Indes, […] tous les dessins de la fantaisie, qui faisaient songer à des dames en falbalas« (ABD: 629f.).66 Das schimärische Kaufhaus zeigt hier seine wahre Natur. Das Monster, das die Baudu wahrnehmen, ist ein Mischwesen oder um es mit Kamal zu sagen: »[T]he Orientalized store expresses a moment of crisis vis-à-vis an emerging French modernity concocted from dissonant elements« (Kamal 2013: 129). Zola inszeniert folglich in den Ausstellungen einen Moment der Krise, der sowohl die Rolle Frankreichs in den Kolonien als auch die Rolle von Frau und Mann in der Nation hinterfragt.67 Er löst diese Konflikte symbolisch auf, indem er den Sieg Mourets über die Frau bzw. den weiblich konnotierten Orient als Sieg der Ratio und Disziplin über die Sinnlichkeit aufführt.68 Im letzten Kapitel findet die Siegesparade Mourets statt. Ein Farbspiel setzt in den höheren Auslagen »[d]es tons éclatants« ein; eine »floraison ardente« (ABD: 762) schmückt zusammen mit Girlanden und Fahnen der »principales villes de France« und den »peuples étrangers« das Bonheur. Die Eingliederung östlicher Kultur in die zivilisierte Pariser Welt ist gelungen, was nicht nur in den Fahnen, sondern auch in der Weißwarenausstellung zum Ausdruck kommt. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung im Roman soll eine etwas längere Passage zitiert werden: Ce qui arrêtait ces dames, c’était le spectacle prodigieux de la grande exposition de blanc. Autour d’elles, d’abord, il y avait le vestibule, un hall aux glaces claires, pavé de mosaïques, où les étalages à bas prix retenaient la foule vorace. Ensuite, sous les galeries s’enfonçaient, dans une blancheur éclatante, une échappée boréale, toute une contrée de neige, déroulant l’infini des steppes tendues d’hermine, l’entassement des glaciers allumés sous le soleil. On retrouvait le blanc des vitrines du dehors, mais avivé, colossal, brûlant d’un bout à l’autre de l’énorme vaisseau, avec 66
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Kurz darauf werden weitere Objekte aus China und Japan ausgestellt: »Et, là, [Mouret, J.K.] avait autorisé un de ses vendeurs à exposer, sur une petite table, des curiosités de la Chine et du Japon, quelques bibelots à bas prix, que les clientes s’arrachaient« (ABD: 637). Die männliche Bürgerpflicht umfasste Produktion im Sinne von kapitalistischer Profitsteigerung und Kriegsführung, während soziale Reproduktion und Konsum in den Aufgabenbereich der Frau fielen. Dass diese aufgrund von Kaufkraft, Arbeitstätigkeit und Repräsentativfunktion grundsätzlich aber auch zur Produktionsseite zählte, forderte traditionelle Geschlechterbilder heraus (vgl. Ramazani 2007: 130 und Roux 1989). Hinzu kam, dass Frankreichs Niederlage gegen Deutschland die Effizienz der männlichen Führung der Nation in Frage stellte – das Land galt als verweiblicht und undiszipliniert, worin der Grund für die Niederlage gesehen wurde (vgl. Ramazani 2007: 128). Er erobert den Raum des Konsums in einem militärischen Vorstoß und ringt der Frau in der »Geburt des modernen Konsums« die Aufgabe der Reproduktion ab. Vaheed K. Ramazani spricht in diesem Kontext von einem »fetishistic reversal«: »a ›male‹ incursion into ›female‹ territory; an appropriation of consumption and of biological reproduction by the ›virile‹ vocabularies of production and war« (Ramazani 2007: 131). Laut Ramazani gedenkt Zola mit der Präsentation des triumphierenden Kaufhauses als Symbol der Nation seine wenig patriotische Darstellung des Kriegs in La Débâcle auszugleichen (vgl. Ramazani 2007: 131).
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la flambée blanche d’un incendie en plein feu. Rien que du blanc, tous les articles blancs de chaque rayon, une débauche de blanc, un astre blanc dont le rayonnement fixe aveuglait d’abord, sans qu’on pût distinguer les détails, au milieu de cette blancheur unique. […] Les comptoirs disparaissaient sous le blanc des soies et des rubans, des gants et des fichus. Autour des colonnettes de fer, s’élevaient des bouillonnées de mousseline blanche, noués de place en place par des foulards blancs. […] Et la merveille, l’autel de cette religion de blanc, était, au-dessus du comptoir des soieries, dans le grand hall, une tente faite de rideaux blancs, qui descendaient du vitrage […]. On aurait dit un grand lit blanc, dont l’énormité virginale attendait, comme dans les légendes, la princesse blanche, celle qui devait venir un jour, toute-puissante, avec le voile blanc des épousées (ABD: 768f.). ›Oh! extraordinaire!‹ répétaient ces dames. ›Inouï!‹ Elles ne se lassaient pas de cette chanson du blanc, que chantaient les étoffes de la maison entière (ABD: 769).69 Der Versuch der synästhetischen Verbindung von auditivem und visuellem Sinn im »chanson du blanc« ist aus den beiden anderen Romanen bekannt. Es untermalt den Konsum als Ersatzreligion in strahlendem Weiß, welches die bunte Farbpalette des orientalischen Salons ersetzt. Die märchenhafte Heirat der Jungfrau im Kaufhaus als Domizil des Brautpaars wird zum Symbol westlicher, hegemonialer Werte – die Vereinigung zwischen Denise und Mouret versöhnt den Kampf der Geschlechter und der Kulturen (vgl. Kamal 2013: 169). Die symbolische Auflösung der Konflikte tritt im Bild der Eheschließung in den gelebten Raum der Gesellschaft. Allerdings bergen die Ambitionen Mourets eine Gefahr für die konzeptuelle Ordnung Frankreichs. Auf dem Höhepunkt der Macht Mourets, die Zola sprachlich durch die Kontrolle seines Materials imitiert, ist gerade der Verlust von Macht auf Textebene in der Ausstellung der Weißware besonders prägnant. Die zitierte Passage ist Zeichen für die Loslösung des sinnlichen Materials von einer spezifischen Wahrnehmungsinstanz und der Handlung des Romans (vgl. Jameson 2013: 56): »[T]he gradual autonomization of the various affects slowly begins to release them from their relationship to plot as such and suggests whole new forms of temporal organization« (ebd.: 65). Diese affektive Momenthaftigkeit läuft ein in eine »immense collection of distinct phenomenological spaces« (Jameson 2013: 76), in
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Zola wiederholt diese Formulierung »rien que du blanc«, die aus dem Dossier bekannt ist, mehrfach, um die Überwältigung des Betrachters und die Wiederkehr des Immergleichen zu verdeutlichen: »[L’]exposition du blanc prenait, au fond des vitrines, une intensité de ton aveuglante. Rien que du blanc, […] des rideaux en chapelle et des pyramides de mouchoirs à droite, fatiguaient le regard« (ABD: 764); »Rien que du blanc, tous les articles blancs de chaque rayon, une débauche de blanc, un astre blanc dont le rayonnement fixe aveuglait d’abord, sans qu’on pût distinguer les détails, au milieu de cette blancheur unique« (ABD: 768); »Rien que du blanc, et jamais le même blanc, tous les blancs, s’enlevant les uns sur les autres, s’opposant, se complétant, arrivant à l’éclat même de la lumière« (ABD: 769).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
der Charaktere nur noch als empfindende Körper agieren. In der Passage geht die Perspektive von den Damen über zum anonymen »on«, bevor sie sich kurzzeitig ganz verliert. Der Sinnesrausch im wahrgenommenen Raum steigert sich also auch erzähltechnisch zum Exzess.70 Das Kaufhaus entwickelt sich so zu einem Ort jenseits des von der Verkaufslogik dominierten Raum-Zeit-Gefüges (vgl. Warning 2009: 21ff.). Es erhält eine affektive Qualität, die Mourets Konzeption von Raum und in letzter Instanz auch Zolas Kontrolle des Textmaterials übersteigt. Dieser Eindruck stellt sich auch durch den Gesamtblick auf das Kaufhaus ein. Es ist der Stadt nicht mehr nur gleichgestellt, sondern übertrumpft diese noch: »Le palais était construit, le temple élevé à la folie dépensière de la mode. Il dominait, il couvrait un quartier de son ombre« (ABD: 762). Zola überzeichnet die Vorstellung der Vereinnahmung von Paris durch das alles verschlingende Monster, indem das Kaufhaus auf einem Reklameposter ins Verhältnis zur Stadt gesetzt wird: D’abord, au premier plan de cette gravure, […] les rues de la Michodière et Monsigny […] s’élargissaient démesurément, comme pour donner passage à la clientèle du monde entier. [V]u[s] à vol d’oiseau […], Paris s’étendait, mais un Paris rapetissé, mangé par le monstre: les maisons […] s’éparpillaient ensuite en une poussière de cheminées indistinctes; les monuments semblaient fondre, à gauche deux traits pour Notre-Dame, à droite un accent circonflexe pour les Invalides, au fond le Panthéon, honteux et perdu, moins gros qu’une lentille. L’horizon tombait en poudre, n’était plus qu’un cadre dédaigné, […] jusqu’à la vaste campagne, dont les lointains noyés indiquaient l’esclavage (ABD: 763). Das Kaufhaus wird aufgrund der überproportionalen Dimensionierung zum räumlichen Orientierungspunkt in der Stadt, die nur noch in Ansätzen existiert. Die Häuser zerfallen in eine unförmige Masse, der Horizont gibt dem Blick keinen Halt mehr. Doch nicht nur die materielle Gestalt von Paris fällt dem Kaufhaus zum Opfer. Wichtiger ist, dass das Kaufhaus als Zeichen der Moderne das kulturelle Gedächtnis der Stadt angreift – Notre-Dame, Invalidendom und Pantheon sind wichtige Stätten der Geschichte Frankreichs und verlieren hier ihre identitätsstiftende Wirkung (vgl. Kamal 2013: 126f.). Trotz der Reglementierungen 70
Es könnte gesagt werden, dass Zola hier eine neue Form der impersonnalité erfindet, die Gustave Flauberts Konzept des unpersönlichen Autors ergänzt. Interessant ist zudem, dass Robert J. Niess die späteren Beschreibungen als unvollständig und halluzinativ einstuft, welche Rosemary Lloyd als kubistisch wahrnimmt (vgl. Niess 1978: 146ff. und Lloyd 2002: 162). Sie haben nichts mehr von dem geschlossenen Arrangement der Stillleben aus dem Ventre (vgl. Lloyd 2002: 160). Hannah Scott kann hier anschließen, da sie darauf aufmerksam macht, dass trotz der strahlenden Auslagen bestimmte Bereiche im Kaufhaus im Dunkeln liegen, was bei den Betrachtern zu Frustration führt. Letztere entspreche der Frustration des Lesers angesichts der Unmöglichkeit, den Detailreichtum in den Beschreibungen in ein Gesamtbild zusammenfügen zu können (vgl. Scott 2014: 161).
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Mourets schwingt in der Beschreibung des Verlusts kartographischer Orientierung erneut eine Angst vor den Konsequenzen des Fortschritts mit. Letzterer verändert nicht nur den wahrgenommenen, materiellen Raum, sondern schränkt auch die Konzeptualisierung und die Bilder der Stadt ein. Die Versöhnung zwischen den Geschlechtern und Kulturen ist daher nicht mehr als das Thema eines Theaterstücks, die Illusion von Glück.
7.3.3
»Die Rache der Frauen« – Akteurinnen im öffentlichen Raum
Der Eindruck der illusorischen Macht Mourets wird allerdings nicht nur durch die Gestaltung der Bühne, sondern auch das variable Verhalten von Mitarbeitern, Kundinnen und Mouret selbst hergestellt. Die Rollen der Kundinnen, die im Appartement von Mme Desforges benannt wurden, werden zwar unter Anleitung des Geschäftsführers ausgespielt, zeigen aber trotzdem eine gewisse Resistenz gegenüber den Regularien der Aufführung. Sie widersetzen sich den Geschlechterdiskursen, da nicht alle Damen verführt werden oder eine unersättliche Gier nach Luxus haben. Die Darstellung weiblicher Lust, die Véronique Cnockaert frei nach Étienne Bonnot de Condillac in der Formel »Je sens, donc je suis« (Cnockaert 2009: 210) fasst, ist vor diesem Hintergrund auch deswegen fortschrittlich, weil immer noch die Vorstellung herrschte, die Frau empfinde keine sexuellen Gefühle (vgl. Laqueur 1987: 35). Im Kaufhaus findet sie einen Raum, in dem sie im Kontakt mit Verkäufern und Ware neue Rollen austesten kann. Aktiv beobachtend und imaginierend bewegt sich die Frau im öffentlichen Raum, ohne selbst zum Objekt der Betrachtung degradiert zu werden (vgl. Hennessy 1999: 22 und Hohnsträter 2015: 62). Sie wird – wie einige Verkäuferinnen auch – Teil des schöpferischen Handelns im Kaufhaus.71 Der Leser wird auf diese Frauentypen aufmerksam, da sie in den Schilderungen der Verkaufstage immer wieder aus der anonymen Menschenmenge herausstechen und in den Beschreibungen als Orientierungspunkt fungieren. Zola aktualisiert vor allem in diesen Passagen den dramatischen Modus durch die Nähe zu den
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Auch Verkäuferinnen wie Denise gelingt es, sich vom Patriarchat des Mannes zu emanzipieren und finanziell unabhängig zu werden. In einem Dasein zwischen Unter- und Mittelschicht findet sich unter den Mitarbeiterinnen die grisette, die neben dem geringen Verdienst im Warenhaus ein Einkommen durch das Posieren für Künstler bezieht. Nicht selten entstehen hieraus Affären, was der bourgeoisen Vorstellung von körperlicher Unschuld vor der Ehe entgegenläuft. Daneben gibt es Mädchen wie Clara, die sich durch verschiedene Liebhaber eine finanzielle Sicherheit schafft. Letztlich ist die von Zola respektierte Kategorie der zuverlässigen Arbeiterin, der »femme comme il faut« Balzacs, zu nennen, die zwar einen sexuellen Charme versprüht, diesen aber unschuldig einsetzt, um einen Ehemann zu finden. Obwohl Zola also zum Ideal der Heirat zurückkehrt, wird das Kaufhaus zu einem Laboratorium verschiedener Lebensentwürfe der Frau in der Moderne.
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
Figuren. Der Leser hat das Gefühl, unmittelbar am Geschehen und den Dialogen teilzunehmen und die Sinnesreize im Kaufhaus selbst wahrzunehmen. Die Kundinnen retten so die Frau symbolisch vor dem endgültigen Abdriften in den Status austauschbarer Produkte. In einer Welt, in der Partikularitäten des individuellen Bewusstseins von der Wiederkehr der immer gleichen Ware und Masse herausgefordert werden, schaffen Innovation und gesteigertes Vergnügen der Kundinnen ein Bollwerk gegen die Abstumpfung der Erfahrung zum Erlebnis im Sinne Walter Benjamins (vgl. Rennie 1996: 404). Zola inszeniert für den Leser demnach das Wechselverhältnis von Individualität und Kommodifizierung im Kaufhaus, in dem die fünf Kundinnen, die Angestellte Denise und Madame Desforges eine bedeutende Rolle spielen.
7.3.3.1
Die Emanzipation der Kundin
Während des ersten Sonderverkaufs ist der Kontrast zwischen Octave Mouret und den Kundinnen besonders prägnant. Er wohnt dem Schauspiel des Verkaufs aus der Distanz bei. Die mehrfache Fokussierung auf die Position Mourets strukturiert zuerst noch die Inszenierung des Verkaufs, steuert dem Ausufern der Beschreibung der Ware entgegen und verleiht dem Kaufhauschef auf erzähltechnischer Ebene Autorität. Alles weist also vordergründig erneut auf die Dominanz des Geschäftsführers hin, doch scheint auf den zweiten Blick die Emanzipation der Kundin im Verlauf des Kapitels durch. Denn Mourets Macht beschränkt sich besonders im vierten Kapitel auf die Steuerung der anonymen Menschenmenge. Sein Einfluss auf die individuellen Käuferinnen manifestiert sich während der Sonderverkäufe nur selten. Mouret wird zu Beginn als »capitaine« beschrieben, der, seines Sieges noch unsicher, den Raum inspiziert und dann auf der Treppe Position bezieht, um zum »spectateur du spectacle« (Hartog 1996: 63) zu werden. Die Architektur verleiht dem Raum eine theatrale Monumentalität und stärkt die Inszenierung Mourets: »De là, il dominait le magasin, ayant autour de lui les rayons de l’entresol, plongeant sur les rayons du rez-de-chaussée« (ABD: 478).72 Er weiß jedoch, dass die Inszenierung ohne die Teilnahme der Kunden nicht aufgeht, was die integrierte Perspektivierung ausdrückt: »Mouret, indigné d’avoir peur, croyait sentir sa grande machine se refroidir sous lui« (ABD: 479).73 An drei Stellen kehrt die Beschreibung zurück
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Heidi Brevik-Zender geht der Bedeutung der Treppe im Kaufhaus auf den Grund. Sie stuft sie erstens als dramatisches Element und Symbol des Fortschritts ein, das aber auch interne Konflikte sichtbar macht. So sei das Treppennetz Ausdruck der Unordnung und der traumatischen Vergangenheit Frankreichs. Zweitens erkennt sie in der Position auf der Treppe berechtigterweise eine »key narrative location« (Brevik-Zender 2015: 46). Im Laufe des Kapitels werden Außen- und Innentopologie immer wieder durch den Einsatz von Fern- und Nahsinnen ins Verhältnis gesetzt. Die Geräusche der Menschen im Außenraum
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zu seiner Position auf der Treppe. Auch am Nachmittag nimmt er das Geschehen im Raum bzw. den Erfolg seines Geschäftsmodells wahr: Une houle compacte de têtes roulait sous les galeries […]. L’heure était venue du branle formidable de l’après-midi […]. Henriette, suffoquée, ayant levé les yeux, aperçut en haut de l’escalier Mouret, qui revenait toujours à cette place, d’où il voyait la victoire. [L]a trépidation intérieure étouffait les bruits du dehors; on n’entendait plus ni le roulement des fiacres, ni le battement des portières; il ne restait, au-delà du grand murmure de la vente, que le sentiment de Paris immense, d’une immensité qui toujours fournirait des acheteuses. […] Et sous la fine poussière, tout arrivait à se confondre, on ne reconnaissait pas la division des rayons (ABD: 491f.).74 Wie aus der Café-Szene in La Curée und dem ersten Kapitel des Ventre de Paris bekannt, steigert sich die Aktivität im Kaufhaus, bevor sie gen Ende wieder abflacht.75 Der Höhepunkt ist erreicht, als sowohl die Kapazitäten des Raums ausgeschöpft sind als auch die Geräusche im Innenraum die auditiven Reize im Außenraum übertönen. Dennoch wirkt die Macht Mourets bedroht, da einerseits die Reizüberflutung (»tout arrivait à se confondre«) und andererseits der Ansturm aus dem weiten Raum der Stadt (»Paris immense«) die Ordnung im Kaufhaus herausfordern. Noch versichert allerdings Henriette den Erfolg Mourets, da sie seine Inszenierung anerkennt und in ihrer Reaktion bestätigt, wobei gerade in diesem Perspektivwechsel die Emanzipation der Frau zu sehen ist. Mme Desforges ist zwar einerseits Zuschauerin des Spektakels, wird aber wie Mme Marty oder Mme de Boves an den Verkaufstagen auch zur aktiven Wahrnehmungsinstanz. Der Leser
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werden mit den Geräuschen im Innenraum abgeglichen und binden sich an die von Mouret taktil empfundene Bewegung. Nach der anfänglichen Leere im Raum füllt sich das Kaufhaus zunehmend, sodass es im zweiten Blick auf Mouret heißt: »Il dominait encore la maison entière. Son visage se colorait, la foi renaissait et le grandissait, devant le flot du monde […]. Et il ne se trompait plus aux bruits qui lui arrivaient du dehors, roulement de fiacres, claquement de portières, brouhaha grandissant de foule. Il sentait à ses pieds, la machine se mettre en branle, s’échauffer et revivre« (ABD: 482). Der Ausgang des Kampfes auf dem »champ de bataille encore chaud du massacre des tissus« (ABD: 500) ist am Ende entschieden: »Lentement, la foule diminuait. […] Du dehors, ne venaient plus que les roulements des derniers fiacres, au milieu de la voix empâtée de Paris, un ronflement d’ogre repu, digérant les toiles et les draps […]. [Mouret] était revenu à son poste favori, en haut de l’escalier de l’entresol, contre la rampe« (ABD: 499, 500). Schor hat zuerst die Entwicklung der Menschenmenge in Bonheur, Nana und L’Œuvre untersucht und findet eine zirkuläre Struktur von »emptiness, swelling, saturation, discharge, emptiness« vor (Schor 1978: 84ff.).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
folgt den Kundinnen durch das Kaufhaus und erhält Einblicke in das Raumerleben der einzelnen Figuren, das einprägsamer ist als die distanzierte Perspektive Mourets. Erst in der Interaktion mit den Artikeln und Verkäufern realisiert sich nämlich das mit erotischen Tönen unterlegte Rollenspiel des Konsums. Die Gespräche zwischen Mitarbeitern und Kunden sind auf die Verführung ausgelegt. Mehr noch stellen sie Verlangen erst her, was bereits die Anrede »Que désire Madame?« andeutet (vgl. Beizer 2002: 394f.). Mignot zum Beispiel empfängt Mme Desforges mit seiner »voix grasseyante de Parisien« (ABD: 484) und sucht die Berührung: À demi couché sur le comptoir, il lui tenait la main, prenait les doigts un à un, faisant glisser le gant d’une caresse longue, reprise et appuyée; et il la regardait, comme s’il eût attendu, sur son visage, la défaillance d’une joie voluptueuse (ABD: 484). Die Dame der Oberschicht reagiert jedoch nicht auf seine Avancen, da sie weder seinen Blick erwidert noch von dem Duft der Handschuhe betört wird: »Mais, devant ce comptoir banal, elle ne sentait pas les gants, ils ne mettaient aucune chaleur sensuelle entre elle et ce vendeur quelconque faisant son métier« (ABD: 484). Das Schauspiel hat auf Mme Desforges keine Wirkung, da die Aufmerksamkeiten ein gewöhnlicher Teil ihres Lebens sind. Sie entscheidet autonom, wann sie ihrem Verlangen nachgeht. In der Abteilung der Wollstoffe betastet sie die Ware: »Ensuite, ce furent […] toutes les variétés de la laine, qu’elle eût la curiosité de toucher, pour le plaisir, décidée au fond à prendre n’importe quoi [pour sa cuisinière, J.K.]« (ABD: 486). Ihr willkürliches Konsumverhalten wird als Ausdruck ihrer Klassenzugehörigkeit ausgelegt. Nach dem Zusammentreffen mit Mme Marty, Mme Guibal und Mme de Boves durchlaufen die Frauen gemeinsam das Kaufhaus. Sie verwandeln sich in Flâneuses, die ziellos durch das Bonheur streifen und sich der effektiven Zeit- und Raumnutzung Mourets und seiner Mitarbeiter widersetzen: »[D]epuis une heure, [Mme Guibal] marchait dans le magasin, d’un pas de promenade, donnant à ses yeux la joie des richesses entassées, sans acheter seulement un mètre de calicot« (ABD: 490; vgl. Viti 1991: 295f.). Mme Guibal lässt sich nicht in Kaufrausch versetzen und auch Mme Bourdelais »gardait son sang-froid de ménagère pratique. Elle examinait avec soin une pièce de Paris-Bonheur, car elle était uniquement venue pour profiter du bon marché exceptionnel de cette soie« (ABD: 488). Im späteren Sommerverkauf bringt sie ihre Überlegenheit auf den Punkt: »Elle ne voulait pas être exploitée par eux, c’était elle qui profitait de leurs véritables occasions. Même elle y portait une lutte de malice« (ABD: 622). Mme de Boves wiederum nutzt ganz bewusst das Spiel der Verkäufer, um ihr Verlangen zu stillen: En effet, Mme de Boves, n’ayant guère dans son porte-monnaie que l’argent de sa voiture, faisait sortir des cartons toutes sortes de dentelles, pour le plaisir de
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les voir et de les toucher. Elle avait senti chez Deloche le vendeur débutant, d’une gaucherie lente, qui n’ose résister aux caprices des dames; et elle abusait de sa complaisance effarée […]. [E]lle plongeait les mains dans ce flot montant de guipures, de malines, de valenciennes, les doigts tremblants de désir, le visage peu à peu chauffé d’une joie sensuelle, tandis que Blanche, près d’elle, travaillée de la même passion, était très pâle, la chair soufflée et molle (ABD: 493).76 Das Berühren der Stoffe scheint bei den Frauen ein Verlangen auszulösen. Die Strategie der Erotisierung der Ware zum Zwecke des Profits hat hier den Effekt, dass sich die Frauen sexuell emanzipieren. Mme de Boves gewinnt die Oberhand über den Mann und drängt Deloche in die passive Rolle. Dies wird in der Szene des Diebstahls im letzten Kapitel am deutlichsten. Durch das Verstauen der Ware unter der Kleidung gewinnt Mme de Boves die Macht über ihren Körper zurück und widersetzt sich der männlichen Ordnung des Verkaufs (vgl. Thompson 1998: 88f.; vgl. auch Peters Crick 2003).77 Das Delikt ist als logischer Endpunkt des erotischen Exzesses zu verstehen, den die Damen bis zu einem gewissen Punkt kontrollieren können. Schnelle Perspektivwechsel zwischen den Mitarbeitern und den Kundinnen spiegeln auf Textebene die fragmentierte Erfahrung des Konsums wider und werden wie bei der mobilen Kameratechnik eingefangen (vgl. Becker/Gaillard 1982: 61; vgl. Salotto 2001: 120f.). Dabei erhält der Leser sowohl in der Innenperspektive als auch in Dialogen Einblicke in die Gedanken von Verkäufern und Kunden, was zu einem Wissensvorsprung gegenüber den jeweiligen Gesprächspartnern führt. Dadurch kann der Leser die Maskerade im Verkauf und den wahren Charakter der Figuren im Off nachvollziehen. In wertenden Kommentaren und Gefühlen zeigt sich die herablassende Art der Mitarbeiter, durch die sie den Prozess der Unterwerfung unter die Kundin bewältigen und Macht über sie zurückgewinnen. Hutin geleitet die Frauen durch den Raum und verbirgt seine Frustration über den misslungenen Verlauf: »Une rage d’homme dépouillé, mangé par les autres, s’aigrissait sous la correction aimable de ses manières. […] ›À gauche, mesdames‹, dit Hutin, de sa voix prévenante malgré son exaspération qui grandissait« (ABD: 491). Die Angst um die eigene Existenz schürt den Argwohn gegenüber den Damen und die Konkurrenz zwischen den Verkäufern: »C’était une lutte sourde […]; et
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Auch im letzten Kapitel wird das Motiv der lustvollen Berührung aufgegriffen: »Mme de Boves […] ayant le besoin sensuel d’enfoncer les mains dans les tissus, venait de se décider à se faire montrer du point d’Alençon par Deloche« (ABD: 790). Zuletzt findet die Frau im visuellen Arrangement nun auch Mittel der Selbstinszenierung. Die Betrachtung in den Spiegeln fungiert als ein »advertisement of her (new) self to herself. It may promote a fresh identity that she both purchases and consumes« (Scott 2014: 262; vgl. auch Bowlby 1993: 16).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
dans leur fatigue commune, toujours sur pied, la chair morte, les sexes disparaissaient, il ne restait plus face à face que des intérêts contraires« (ABD: 495). Die Geschlechtszugehörigkeit wird im Buhlen um die Kunden irrelevant. Doch auch die Kundinnen unterziehen ihre Umgebung einer Bewertung. Neben den bereits zitierten Ausrufen des Entzückens sei exemplarisch Mme Desforgesʼ Reaktion auf die Blumenpräsente genannt: »›Oui, murmura Mme Desforges […], l’idée est bonne‹« (ABD: 770).78 Dass die Kundinnen im Kaufhaus folglich nicht nur Mittel zum Zweck sind, sondern phasenweise frei und selbstbestimmt handeln, resümiert folgende Passage aus Kapitel neun: Et, à cette heure dernière, au milieu de cet air surchauffé, les femmes régnaient. Elles avaient pris d’assaut les magasins, elles y campaient comme en pays conquis, ainsi qu’une horde envahissante, installé dans la débâcle des marchandises. Les vendeurs, assourdis, brisés, n’étaient plus que leurs choses, dont elles disposaient avec une tyrannie de souveraines (ABD: 642). Anstatt lediglich Interaktionspartner im Schauspiel des Konsums zu sein, übernehmen die Damen nun Mourets Rolle des Eroberers im öffentlichen Raum (vgl. Schor 1995: 152). Sie bekämpfen die männliche Okkupation im Kaufhaus, was die Verwendung von »assaut«, »pays conquis«, »horde envahissante« sowie »débâcle« verbildlicht. Dass die Verkäufer zudem »assourdis« sind, bestätigt die Macht der Frauen über die auditive Atmosphäre im Raum.79 Auf erzähltechnischer Ebene wiederum 78
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Hannah Scott begreift in den verschiedenen auditiven Kommentaren eine Strategie der »auralization« (Scott 2014: 264), die gegenüber den von männlicher Hand arrangierten, visuellen Reizen dominiere und das wahre Glück der Damen darstelle. Elizabeth Amann vergleicht sie wie Heidi Brevik-Zender mit den Revolutionärinnen oder »pétroleuses« der Kommune, was Nicholas Rennie dadurch unterstützt, dass er die immer größeren Auslagen an den drei Verkaufstagen mit den Barrikaden von 1830, 1848 und 1871 in Verbindung bringt (vgl. Amann 2004: 457, Brevik-Zender 2015: 58 und Rennie 1996: 409). Brevik-Zender findet diese Barrikaden im Text bzw. im Innenraum des Bonheur selbst wieder. Die Galerien sind überladen von Produkten, was das Ziel der Zirkulation behindert: »[I]l fallait enjamber, à la ganterie, une barricade de cartons, entassés autour de Mignot; aux lainages, on ne passait plus du tout« (ABD: 500). So werden im Kaufhaus Bühnen für die Aufführung der Revolution geschaffen, deren Theatralität unter anderem schon Maxime Du Camp und später Henri Lefebvre betont haben (vgl. Brevik-Zender 2015: 58f.). Du Camp greift in Les Convulsions de Paris auf die Theatersemantik zurück und beschreibt die Kommune als »spectacle« und das Verhalten der Akteure als »mascarade« (Du Camp 1910 [1881]: 183, 51). Lefebvre thematisiert in La proclamation de la Commune die »fête«, den »spectacle« und die »tragédie« der Kommune (Lefebvre 1965: 21; vgl. auch Brevik-Zender 2015: 58). Brevik-Zender findet in der Aufreihung, Kostümierung und den blutenden Wunden der Puppen aus folgender Passage Verweise auf die Revolution: »A chaque marche, un mannequin, solidement fixé, plantait un vêtement immobile, costumes, paletots, robes de chambre; et on l’eût dit une double haie de soldats pour quelque défilé triomphal, avec le petit manche de bois pareil au manche d’un poignard, enfoncé dans le molleton rouge, qui saignait à la section fraîche du cou« (ABD:
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ist es die Verteilung der Raumwahrnehmung, die auf den Kampf verweist. Während der erste Sonderverkauf stärker durch die Position und Perspektive Mourets strukturiert wurde, treten in den Schilderungen der beiden anderen Verkaufstage die Wahrnehmungen der Kundinnen in den Vordergrund. War es zudem der Kaufhausbesitzer, der im vierten Kapitel die Abteilungen durchlief und kontrollierte, ist es am Ende des neunten Kapitels Mme Marty, die diese Aufgabe übernimmt: »[E]lle traversait une fois de plus le rez-de-chaussée, le blanc, la soie, la ganterie, les lainages; puis elle remontait, […] retournait aux confections, à la lingerie, aux dentelles, poussait jusqu’au second étage, dans les hauteurs de la literie et des meubles« (ABD: 643). So sind die Machtverhältnisse im Kaufhaus durch die Emanzipation der Frauen, sei sie auch nur episodisch, nicht so rigide, wie es die Inszenierungen Mourets glauben lassen wollen.
7.3.3.2
Die Unterwerfung Mourets: Denise – a star is born
Die Umverteilung der Macht wird im Laufe von Denises Karriere immer deutlicher. Neben Mouret ist sie die einzige Figur, die einen emotionalen und professionellen Reifeprozess durchläuft, der eng mit dem Raum des Kaufhauses verknüpft ist. Von Beginn an wird Denise zur Hauptfigur einer zweiten Aufführung inmitten des Spektakels des Konsums. Sie hat im Laufe des Romans die meisten Rollenwechsel zu verzeichnen, wobei Anfangs- und Endposition konträrer nicht sein könnten. Fällt Denise zu Beginn durch ihr abweichendes Verhalten im Raum auf, wandelt sich dieses kurzzeitig in ein standardisiertes und schließlich in ein innovatives Verhalten. Bevor sie zur Autoritätsperson im Kaufhaus aufsteigt, wird sie zu Beginn erniedrigt und auf den Status eines entpersonalisierten Objekts reduziert. Sie wird während des Sonderverkaufs im Sommer von Mme Aurélie begutachtet und vor einen Spiegel geführt, was von den Mitarbeiterinnen beobachtet wird: »Elles la regardèrent, puis se sourirent. Pouvait-on se fagoter de la sorte!« (ABD: 473). Ihr Kleid ist zu groß, ihr Haar nicht ordentlich zusammengebunden. Anders als die Verkäuferinnen fühlt sich Denise in ihrer Kleidung unwohl: »Quand elle redescendit, mal à l’aise, elle regardait luire la jupe, elle éprouvait une honte aux bruissement tapageurs de l’étoffe« (ABD: 472). Noch ist sie nicht in der Lage, hinter die Maske der Scheinheiligkeit der Mitarbeiter, unter ihnen besonders Hutin, zu schauen.80 Im Laufe der Erzählung ist Denise dann zuerst Teil einer Aufführung, als sie die Rolle der passiven Statistin einnimmt, um einen Mantel vorzuführen (»Redressez-
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630f.). Den Schrecken, den Denise und ihr Bruder Jean in der Verfolgung durch den Aufseher Jouve im Keller des Kaufhauses empfinden, führt sie auf das Trauma Zolas angesichts der Ereignisse der Kommune zurück (vgl. Brevik-Zender 2015: 52, 54). Sie erkennt zum Beispiel nicht Hutins wahre Absicht hinter der Aufforderung, Mme Desforges und Mme Marty zu bedienen: »Son sourire revenait, et il y avait, dans ce sourire, la secrète méchanceté d’un vendeur d’expérience, se doutant de l’embarras où il allait jeter ces dames et la jeune fille« (ABD: 495).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
vous donc, mademoiselle, donnez-lui toute son importance«, ABD: 497). Sie lernt jedoch, das Auftreten der Mitarbeiter zu imitieren und ihren Platz im Kaufhaus zu behaupten: »[P]uis, imitant les autres, […] elle s’exhortait au courage, il fallait qu’elle conquît sa place. [E]lle devait se montrer travailleuse et forte, ne pas se chagriner des mauvaises volontés autour d’elle« (ABD: 474).81 Wie im Falle Florents im Hallenroman löst ihr Verhalten im Raum Abwehrmechanismen der Mitarbeiter, hier Intrigen aus. Ihr wird eine Affäre nachgesagt, woraufhin sie entlassen, das heißt des Raumes verwiesen wird. Der Satz »Passez à la caisse!« (ABD: 534) ist Teil der Aufführung der Entlassung, in der Denise ungewollt die Hauptrolle spielt: »Tout le rayon attendait, flairant une catastrophe« (ABD: 558). Zola steigert die Tragik der Situation, indem er in der erlebten Rede die Loyalität zwischen Denise und Mouret zum Ausdruck bringt, ohne die Figuren für ein klärendes Gespräch zusammenzuführen.82 Die Gefühle der beiden Protagonisten bleiben ihnen weiterhin verborgen, heben die Figuren emotional aber auf eine Stufe. Erste Zeichen des Rollentauschs deuten sich während des Spaziergangs durch den Jardin des Tuileries an. Gemäß dem Prozess des »cognitive mapping« (Jameson 1988b) wird sich Denise ihrer Position in und gegenüber dem kapitalistischen Verkaufssystem bewusst und legt vor Mouret Zeugnis ihres Verständnisses für den Großhandel ab: »[E]lle s’animait, citait des exemples, se montrait au courant de la question, remplie même d’idées larges et nouvelles« (ABD: 583). Sie schlüpft in die Rolle der Geschäftsfrau, woraufhin Mouret wiederum seine professionelle Rolle für kurze Zeit ablegt: Lui, ravi, l’écoutait avec surprise. Il se tournait, tâchait de distinguer ses traits, dans la nuit grandissante. Elle semblait toujours la même, vêtue d’une robe simple, le visage doux; mais, de cet effacement modeste, montait un parfum pénétrant dont il subissait la puissance. Sans doute, cette petite s’était faite à l’air de Paris, la
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Neben den Auswirkungen auf die Psyche schildert Zola eindrücklich den »martyre physique« (ABD: 504), den Denise erleidet. Sie versucht den »rôle de fille bien mise« (ABD: 507) zu spielen und in der homogenen Arbeiterschaft unterzutauchen. Denise ist empört: »Non! elle ne pouvait pas accepter un pareil renvoi. Peut-être croirait-il cette vilaine histoire« (ABD: 559). Mouret wiederum meint: »Elle ne mentait pas, cette pauvre fille […]. Alors, pourquoi la renvoyer?« (ABD: 560f.). Im fünften Kapitel können Denise und Mouret die eigenen und fremden Reaktionen nicht lesen. Als Mouret das Haar der Verkäuferin richtet, bemerkt er ihre Verlegenheit nicht: »Quand il la vit si tremblante sous ses mains qui lui effleuraient la nuque, il eut regret de ce mouvement d’obligeance, car il craignait surtout de perdre son autorité« (ABD: 503). Das vierte Kapitel hat insofern eine gegensätzliche Struktur, als das Thema der Demütigung von Denise und der Triumph Mourets einander diametral entgegengesetzt sind (vgl. Becker/Gaillard 1982: 60ff.). Es zeichnet sich ab, dass das Zusammentreffen zwischen Mouret, Mme Desforges und Denise nicht nur der Veranschaulichung des Verhältnisses der Kundin zur Angestellten dient, sondern den Anfang eines zunehmend öffentlich ausgetragenen Liebesschauspiels darstellt.
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voilà qui devenait femme, et elle était troublante, si raisonnable, avec ses beaux cheveux, lourds de tendresse (ABD: 584). Die Überraschung, die Denise angesichts der Auslagen empfunden hatte, wird bei Mouret nun durch das veränderte Auftreten der jungen Frau hervorgerufen. Er nimmt in den olfaktorischen Reizen den Ausdruck ihrer Weiblichkeit wahr und führt ihre Entwicklung auf das Leben in der Stadt zurück. Sie unterscheidet sich aufgrund ihrer Sachkenntnis und bescheidenen Art aber weiterhin von den anderen Verkäuferinnen und übt eine »puissance« auf den Kaufhausbesitzer aus. Er übernimmt immer mehr den weiblich konnotierten Part des Verführten, sodass stereotype Geschlechterbilder zur Diskussion gestellt werden (vgl. Lloyd 2002: 162). Die nächtliche Begegnung zwischen den Figuren gibt den Anstoß für den Ausbau der neuen Rollen sowie die Entwicklung der Liebesgeschichte. Nachdem Denise zuerst in die Rolle der Außenseiterin, dann in die der Liebhaberin gedrängt wurde, spielt sie zuletzt wider Willen die Rolle der Auserwählten Mourets. Nach ihrer Wiedereinstellung spinnt Zola die melodramatische Romanze folglich weiter, indem er Denises Tugend auf die Probe stellt und das Liebesdrama im Kaufhaus zuspitzt. Zunächst wird ein Moment der Selbstreflexion im Off geschildert, der als eine weitere Station auf Denises Reifeprozess verstanden werden kann. Sie kommt in ihrem Zimmer, das wie die Privaträume und das Kinderzimmer Renées in La Curée sowie das Zimmer und Büro Florents in Le Ventre de Paris als Rückzugsort fungiert, zu vollem Bewusstsein über ihren emotionalen Zustand und lässt ihren Werdegang Revue passieren: »[T]out le passé revivait, se déroulait dans la clarté de la fenêtre. […] Elle ne raisonnait pas, elle sentait seulement qu’elle l’avait toujours aimé« (ABD: 647f.).83 Obwohl sich Denise der Gefühle Mourets sicher ist, bleibt sie tugendhaft, was ihr schließlich die Macht über den Kaufhausbesitzer verleiht. Die Szene in Mourets Büro im Off am Tag der Inventur im zehnten Kapitel bildet den Höhepunkt der Aufführung, in dem der Rollentausch besiegelt wird.
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Weitere Momente des Rückzugs aus dem Kampf im Kaufhaus finden zum einen während des Ausflugs in die Natur nach Joinville, zum anderen im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter statt. Denise und Deloche fühlen sich inmitten der Großstadt in die Heimat versetzt, sodass es zur Vermengung von wahrgenommenem und imaginiertem Raum kommt: »Et leurs voix défaillaient, ils demeuraient les yeux fixés et perdus sur le lac ensoleillé des vitres. Un mirage se levait pour eux de cette eau aveuglante, ils voyaient des pâturages à l’infini, le Cotentin trempé par les haleines de l’océan, baigné d’une vapeur lumineuse, qui fondait l’horizon dans un gris délicat d’aquarelle. En bas, sous la colossale charpente de fer, dans le hall des soieries, ronflait la vente, la trépidation de la machine en travail; toute la maison vibrait du piétinement de la foule, de la hâte des vendeurs, de la vie des trente mille personnes qui s’écrasaient là; et eux, emportés par leur rêve, à sentir ainsi cette profonde et sourde clameur dont les toits frémissaient, croyaient entendre le vent du large passer sur les herbes, en secouant les grands arbres« (ABD: 718).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
Das Geschehen im Zimmer wird von den Abteilungen mitverfolgt: »La porte demeurait ouverte, et elle sentait bien cependant le magasin entier qui la poussait« (ABD: 673). Obwohl Mouret Denise seine Liebe erklärt, bleibt sie resistent. Dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle hat, beweist, dass in Wirklichkeit Denise die Meisterin der Maskerade ist.84 Mourets Verlust der Macht wird symbolisch besiegelt, als er sich auf die Treppe begibt. Diese Position dient nicht mehr der Demonstration seiner Stärke: »Ces demoiselles allèrent le voir. Il était seul, debout, le visage sombre […]. [Elles] se regardèrent avec surprise. […] Elle n’avait donc pas cédé?« (ABD: 676). Mouret bestätigt: »Tout avait disparu, les victoires bruyantes d’hier, la fortune colossale de demain« (ABD: 677f.). Erste Zeichen der Unterwerfung treten zutage, doch obliegt es Mme Desforges und Denise, die Niederlage Mourets vor einem Publikum aufzuführen. Dabei ist einzuwenden, dass die Dame der Oberschicht Mourets Ausfall aus der Rolle des Eroberers bewusst inszeniert, während Denise das Ende der Maskerade unwissentlich provoziert. Sie begibt sich von dem »highly theatrical space« des Bonheur (Kamal 2013: 165), in dem Klassenverhältnisse verwischen, in einen Raum rigider Zugehörigkeiten und duelliert sich mit Mme Desforges.
7.3.3.3
Der spectacle de l’amour unter der Regie der Frauen
Mme Desforges versucht, Mourets Rollenspiel zu beenden und seine wahren Gefühle offenzulegen, indem sie ihre Position der »cliente impérieuse« (ABD: 638) ausreizt und Denise schikaniert. Mehrfach lässt sie sich während des Sonderverkaufs durch die Abteilungen des Kaufhauses begleiten, wodurch Raum und Beziehung zwischen Mouret, Denise und Henriette erschlossen werden. Es entwickelt sich ein Machtspiel, das vom Publikum mitverfolgt werden kann: »On les revit de nouveau dans tous les rayons. Il n’y avait plus qu’elles sur les marches des escaliers et le long des galeries« (ABD: 639). Mme Desforges gelingt es auf diese Weise, das nonverbale Verhalten Mourets zu kontrollieren und zu decodieren. Zola lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers schon früh auf die Reaktionen Mourets, der die Bewegung der Frauen beobachtet: Depuis qu’il avait vu Denise et Mme Desforges monter le grand escalier, il parlait plus haut, gesticulait sans le vouloir; et, tout en affectant de ne pas tourner la tête vers elles, il s’animait ainsi davantage, à mesure qu’il les sentait approcher. Son visage se colorait, ses yeux avaient un peu du ravissement éperdu dont vacillaient à la longue les yeux des acheteuses (ABD: 632). 84
Dem Leser wird die Zerrissenheit der Figuren im tête-à-tête erneut durch den Einsatz der erlebten Rede vermittelt, was die Dramatik der Situation steigert: »Son désir, contenu depuis longtemps, fouetté par la résistance, s’exaspérait. […] Que disait-elle donc et que voulaitelle?«, fragt sich Mouret (ABD: 675). »Mon Dieu! comme elle l’aimait, et quelle douceur elle aurait goûtée à se pendre à son cou, pour rester sur sa poitrine!« (ABD: 675), sinniert Denise.
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Das Thema der Körperlichkeit ist in Au Bonheur des Dames subtiler, als es die Forschung bislang dargestellt hat. Neben der offensichtlichen Erotik des Arrangements und der Handlungen der Kundinnen liegt in der Gestik und Mimik der Figuren ein wichtiges dramatisches Mittel zur Entschlüsselung der Gefühle der Charaktere. Mouret verliert im Raum der Macht die Contenance, was aus Mme Desforgesʼ Perspektive geschildert wird: »[I]l se tourna, il salua sa cliente du salut discret d’un ami […]. Seulement, celle-ci, mise en éveil, s’était très bien aperçue du regard dont il avait d’abord enveloppé Denise« (ABD: 633). Die zweite Begegnung und das Ausweichen Mourets bestätigen ihren Verdacht: »Denise […] tournait le dos, Mouret lui-même affectait de ne pas la voir. Dès lors, Mme Desforges, avec son flair délicat de femme jalouse, ne douta plus« (ABD: 640). Sie nimmt dies zum Anlass, am Nebenschauplatz, in ihrem Appartement, eine Szene zu inszenieren und ihren Einfluss im Raum auf die Probe zu stellen. Die Wohnung hat im elften Kapitel neben der Funktion der Bühne erneut die Funktion als Verhandlungsort für das Treffen zwischen Hartmann und Mouret. Schnell wird klar, dass die Gespräche zwischen den Anwesenden nur ein Vorwand sind, um das eigentliche Geschehen im Salon pointierter darzustellen. Lichteinsatz, Bühnenaufbau, Körpereinsatz und besonders die visuellen Wahrnehmungen weisen auf den Charakter der Inszenierung hin. Das Vorzimmer, in dem Denise wartet, grenzt an den Salon an, welcher erneut der Aufführungsort der Selbstinszenierung Mourets ist. Das Hinterzimmer wiederum wird zur Bühne des Liebesdramas bzw. des Duells zwischen den Frauen umfunktioniert, dem der Baron Hartmann als Zuschauer beiwohnt. Atmosphäre und Gestaltung von Salon und Vorzimmer veranschaulichen das hierarchische Verhältnis zwischen Denise und der feinen Gesellschaft: Dans le vaste salon, une lumière vive, adoucie par les plantes vertes, allumait les cuivres, baignait d’une joie tendre la soie des meubles; et, chaque fois que la porte s’ouvrait, on apercevait un coin obscur de l’antichambre, éclairée seulement par des vitres dépolies. Là, dans le noir, une forme sombre apparaissait, immobile et patiente. Denise se tenait debout. […] Elle sentait l’injure; […] ces dames et le baron l’avaient dévisagée au passage; maintenant, les voix du salon lui arrivaient par bouffées légères, tout ce luxe aimable la souffletait de son indifférence (ABD: 685). Denise befindet sich im Off, was durch den abgedunkelten Raum und die leisen Geräusche angezeigt wird, die aus dem Salon zu ihr vordringen. Im großen Saal setzt das Licht wie im Fall von Scheinwerfern Akzente und stellt die Objekte als wichtige Indikatoren des reichen Interieurs des Appartements aus. Der Kontrast zwischen der Beschreibung des Luxus als »aimable« und der Indifferenz, die nicht nur von den Objekten, sondern von den Gästen und Henriette ausgestrahlt wird, hat einen stark ironischen Unterton. Denise wird zurück in die Rolle des Ausstellungsobjekts gedrängt, was durch die »forme sombre« und das Partizip »dévisagée«
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
ausgedrückt wird. Der Wechsel in die integrierte Perspektivierung ruft dagegen allerdings sofort wieder ihren Status als reflektierte Person auf den Plan. Sie ist »the critic of her own objectification« (Harrow 2008: 224). Es besteht demnach ein klares Missverhältnis zwischen der Rolle, die Henriette Denise zuweisen will, und der tatsächlichen Rolle der ihr überlegenen, jungen Frau. Im Verlauf der Szene spielen wie zuvor im Kaufhaus die Blicke, die zwischen den Hauptfiguren ausgetauscht werden, eine wichtige Rolle.85 Sie geben Auskunft über die wahren Gefühle der Figuren. Der Baron Hartmann fungiert als Zuschauer und Kommentator der Szene: »Il avait suivi le duel d’Henriette et de Mouret […]; et il sentait bien que la crise était venue, il devinait le drame, au courant de l’histoire de cette Denise« (ABD: 690). Obwohl Mouret wie im dritten Kapitel inmitten der Damen Position bezieht und seine Maske der »bonne grâce« (ABD: 701) aufsetzt, hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen. Mouret wird im Gespräch mit Hartmann abgelenkt, seine Strategie der Selbstinszenierung geht nicht mehr auf: »[Hartmann] le vit tourner les yeux vers la porte de la chambre voisine, repris de la sourde inquiétude qu’il cachait« (ABD: 689). Doch erst im Hinterzimmer besiegelt sich sein Austreten aus der Rolle des Eroberers. Er antizipiert das Ende seines Rollenspiels sowie den bevorstehenden Eklat: »Il hésitait, combattu, reculant devant la scène qu’il prévoyait. […] D’ailleurs, il était à bout de courage. […] Et tout son amour, cet amour qui le surprenait encore, allait à la jeune fille« (ABD: 691). Denise wird exponiert, »au milieu de la vive lumière« (ABD: 692), und zeigt beim Anblick Mourets einen »léger tremblement« (ABD: 692). Dieser liest in ihrer Mimik die »honte« und den »malaise« (ABD: 693), als sie von Mme Desforges bei der Anprobe des Mantels erniedrigt wird. Das Pathos der Szene gipfelt in dem Augenblick der offenen Konfrontation zwischen Denise und Mme Desforges sowie der symbolischen Liebeserklärung. Die Verkäuferin, »poussée à bout« (ABD: 694), tritt aus ihrer demütigen Rolle heraus und kritisiert die Kundin. Es kommt zum Showdown: Toutes deux, face à face, frémissantes, se contemplaient. Il n’y avait désormais ni dame, ni demoiselle de magasin. Elles n’étaient plus que femmes, comme égalées dans leur rivalité. L’une avait violemment retiré le manteau pour le jeter sur une chaise; tandis que l’autre lançait au hasard sur la toilette les quelques épingles qui lui restaient entre les doigts (ABD: 694)
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Von Beginn an verfolgt Henriette Mourets Bewegungen im Raum: »[T]out en écoutant Vallagnosc […], elle ne quittait pas des yeux Mouret« (ABD: 682). Als die ankommenden Gäste auf das Fräulein im Vorzimmer verweisen, weicht Mme Desforges aus, was Mouret misstrauisch macht: »Mouret la regarda fixement, effleuré d’un soupçon« (ABD: 683).
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Klassenunterschiede verwischen während der Konfrontation im Vorzimmer, an deren Ende Mourets Liebe für Denise offenbart wird.86 Zola verleiht der Szene einen melodramatischen Anstrich, als Mouret aufgrund der »deux grosses larmes [qui, J.K.] jaillirent des yeux de Denise« (ABD: 695) die Hände der jungen Frau ergreift.87 Obwohl die Niederlage von Mme Desforges bereits an dieser Stelle besiegelt wird, läuft der Handlungsstrang um das Liebesdrama weiter und kommt erst mit der Erfolgsgeschichte des Kaufhauses im letzten Kapitel zum Abschluss. Denises Einfluss auf die Raumordnung manifestiert sich in der Einführung der Reformen sowie der Einrichtung und Leitung der Kinderabteilung. Sie befindet sich »au milieu de son peuple de bambins« (ABD: 726) und realisiert mit den verbesserten Arbeitsbedingungen im Kaufhaus die Utopie eines sozialen »phalanstère«, »l’embryon des vastes sociétés ouvrières du vingtième siècle« (ABD: 728) für die Stadt Paris (vgl. Niess 1978: 142). Zola arbeitet nun symbolisch den Widerspruch zwischen Fortschritt und Ausbeutung der Arbeiter auf, den Florent im Ventre zu lösen suchte. Anders als Florent verfügt Denise über die nötigen Ressourcen, um eine neue Raumlogik zu etablieren. Entsprechend heißt es: »Le règne de Denise commençait. […] Lorsque Denise faisait acte de force, sans élever le ton, pas une ne résistait. Elle avait conquis une autorité absolue, par sa douceur même« (ABD: 703). Das Thema des Rollenspiels zieht sich weiter durch die Szene und kommt erst im Büro Mourets an sein Ende, als dieser die Maskerade fallen lässt und in Denise seine verstorbene Frau, Mme Hédouin, erkennt: »Et, bouleversé, sortant de son rôle de directeur […] retrouvait chez Denise le bon sens, le juste équilibre de celle
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Heidi Brevik-Zender interpretiert die Szene als »climatic disruption to power dynamics between upper and lower classes« (Brevik-Zender 2015: 12). Die Gleichstellung zwischen Denise und Mme Desforges wird sprachlich dadurch hergestellt, dass die Indefinitpronomen »l’une« und »l’autre« bis zu einem gewissen Grad verschleiern, um welche der beiden Frauen es sich handelt (vgl. ebd.). Zola setzt erneut Baron Hartmann als Zuschauer ein, der hinter die Maskerade Henriettes blickt: »[E]lle trouvait la force de cacher sa torture, sous le masque de bonne grâce mondaine. […] Le baron seul, qui la connaissait bien, remarqua la légère contraction de ses lèvres et le feu sombre qu’elle n’avait pas pu éteindre au fond de ses yeux. Il devina toute la scène. [L]e duel était fini, Henriette restait par terre« (ABD: 698f.).
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
qu’il avait perdue« (ABD: 724; vgl. Beizer 2002: 396).88 Denise nimmt zuletzt also symbolisch die Rolle der Ehefrau an. Denise und Mouret sind am Ende des Rollenwechsels angelangt. Ihre Karriere ist vollendet. Dies wird erzähltechnisch dadurch unterstrichen, dass weite Teile des Verkaufs nun durch die Bewegung und Wahrnehmung der jungen Frau geleitet werden. So stellt sich die Frequenz der Fokussierung auf eine Figur noch einmal als Indikator für deren Machtposition im Raum heraus. Der Gang durch die einzelnen Abteilungen des für die Hochzeit hergerichteten Kaufhauses erinnert an die religiösen bzw. konventionellen Etappen im Leben der Frau zu Zeiten Zolas – Erstkommunion, Heirat und schließlich die Geburt eines Kindes, die durch die Kinderabteilung evoziert wird. Denise wird von Zola zur perfekten Ehefrau stilisiert (vgl. Takaï 2011: 216f. und Hartog 1996: 69).89 Ihre Macht zeigt zuletzt dann der explizit als »dénouement« gefasste Ausgang des Liebesdramas zwischen Henriette, Denise und Mouret: Henriette réprima le tressaillement dont toute sa chair avait frémi. Elle regarda Mouret, elle regarda Denise. Eux-mêmes l’avaient regardée, ce fut le dénouement muet, la fin commune des gros drames du cœur, un coup d’œil échangé dans la bousculade d’une foule (ABD: 784). 88
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Die Wiederholung der Szene hat einen spielerischen Charakter, Janet Beizer spricht von der »textual pleasure« des »return system« Zolas (Beizer 2002: 396, 400), welches mit dem Wiederaufgreifen des Porträts von Mme Hédouin und der Legende um die Frau aktiviert wird. Denise versucht die Geschichte mehrfach zu entziffern, nimmt also die Position des Lesers ein, und empfindet sie in manchen Momenten als leserlich, in anderen als rätselhaft. Beizer fasst unter dieser narrativen Technik »a pattern of textual repetition, characteristic of the Zolian text, whose complex purposes might variously be discussed as phatic, didactic, authoritarian, readerly, discursively constraining, and/or compulsive« (ebd.: 398). Sie vergleicht die Leserlichkeit und die Rätselhaftigkeit der Geschichte mit Deleuzes Vorschlag einer ikonischen, mimetischen und enigmatischen Lektüre von Welt (vgl. ebd.: 401). Beide Lesarten würden in Au Bonheur des Dames auftauchen und am Ende kombiniert – Denises Angst und Ruhe vor dem Kaufhaus koexistieren, sodass von einer weiteren symbolischen Auflösung gesprochen werden kann. Bishop fasst die narrative Technik der Wiederbelebung der fortschrittlichen Figuren Lisa, Denise und Mme Hédouin als intertextuellen Bezug zwischen Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames (vgl. Bishop 2008: 243f.). Der Übergang von der Religiosität zum sexuellen Erwachen ist fließend und tritt subtil in den Unterwäscheartikeln zutage, die Jean betrachtet. Dass Zola mit diesem Kult der Reinheit auf die heuchlerische Prüderie der Bourgeoisie anspielt, ist eindeutig. Denn obwohl Denise für die Erfüllung des christlichen Glaubens und die ewige Weiblichkeit steht, durch die Mouret seine Blutlinie fortsetzen kann, weist sie zerstörerische Qualitäten auf (vgl. Hennessy 1993: 107, Schor 1995: 151ff. und Nelson 1993: 239). Diese rufen unweigerlich den Vergleich mit Nana auf den Plan. Nicht nur ihr unbändiges Haar, auch ihr Dasein als »mangeuse d’homme« tauchen in Denises Aussehen und Charakter auf, weshalb Véronique Cnockaert sie als »Vénus cachée« fasst (1997: 41; vgl. auch Viti 1991: 298). Denise kontrolliert Mouret und herrscht wie Nana über das (Kaufhaus-)Theater.
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Im Gegensatz zu der vereinzelten Position Henriettes treten Denise und Mouret nun geschlossen auf, was das unverbundene Personalpronomen »eux-mêmes« andeutet. Noch einmal werden die Bedeutung der ausgetauschten Blicke und die darin enthaltene Erkenntnis unterstrichen. Und als Denise Mouret am Ende ihre Liebe gesteht, geschieht dies aus der Position der »toute-puissante« (ABD: 803). Zola führt am Beispiel der Protagonistin demnach vor, inwiefern nur charakterliche Integrität die Raumordnung einer Zeit verändern bzw. die Gesellschaft verbessern kann.
7.4
Zusammenfassung
Au Bonheur des Dames wirkt wie ein fernes Echo der Zerrissenheit Zolas zur Zeit der Niederschrift des Romans. Der Autor versucht mit dem elften Band der RougonMacquart-Reihe, persönliche und nationale Traumata zu überwinden und seine Position gegenüber dem Modernisierungsprozess in Frankreich aufzuarbeiten. Die vier miteinander verknüpften Handlungsstränge im Roman, der Siegeszug des Kaufhauses, der Niedergang des Kleinhandels, der soziale Aufstieg Denises und die Romanze zwischen der Verkäuferin und dem Besitzer, sind Ausdruck der ambigen Haltung Zolas. Denn nichts ist im Kaufhaus(-roman), wie es auf den ersten Blick scheint. Die Liebesgeschichte verbirgt einen Schauerroman, Opfer werden zu Tätern, Verlierer zu Siegern und umgekehrt. Zola benötigt daher einen flexiblen, konzeptuellen Rahmen, um die internen Widersprüche des Werks zu ordnen und zur Diskussion zu stellen. Der Rückgriff auf das Theatermodell bzw. das per se theatrale Kaufhaus erlaubt es ihm, den Raum zu organisieren, die sozialen Belange im dramatischen Modus zu erfassen und auf der Bühne zu problematisieren. Dies äußert sich narrativ in Elementen, die Zolas Kindheitserinnerungen an das Theater und seine dramatische Ausbildung einlösen: die manichäische Figurenwahl, ein symmetrischer Szenenaufbau, eine packende Geschichte, der gesteigerte Fokus auf die Wiedergabe der sinnlichen Inszenierung von Raum, auf Körpersprache, Performance und Wahrnehmungsvorgänge bzw. die Bedeutung des Sehens für das Erkennen von Wahrheit. Zola inszeniert anhand des Geschehens im Außenraum des Viertels die Zerstörung und Produktion von Raum im Kapitalismus als melodramatischen Kampf ums Dasein nach Darwin. Mit Klein- und Großhandel stehen sich zwei divergierende raumzeitliche Systeme gegenüber. Die Einzelhändler sind die Hauptfiguren des Degenerationsprozesses, der auf Raumverlust und Stagnation beruht und die logische Konsequenz der linearen Progression und räumlichen Vergrößerung des Kaufhauses ist. Sie repräsentieren eine authentische Form des Handels, die durch die Theatralität des Massenkonsums ersetzt wird. Nach der anfänglichen Phase der Koexistenz beider Geschäftsmodelle, in der die Kleinhändler zu Zuschauern des
7. Auf der Bühne des Bonheur – die narrative Inszenierung der Kaufhauskultur
Siegeszugs des Bonheur abgewertet werden, nimmt Mouret sukzessive den materiellen Raum ein und zerstört die Existenzen der Einzelunternehmen. Baudu verliert nicht nur sein finanzielles Kapital, sondern auch Frau und Tochter, was das Ende seiner Familienlinie bedeutet. Der Einfluss des Theaters äußert sich hier also besonders im Einsatz melodramatischer, inhaltlicher Elemente. Zola schildert den Niedergang weniger szenisch, sodass der Leser dem Geschehen gegenüber distanzierter bleibt. Der brutale Überlebenskampf wird auf der Bühne des Kaufhauses im Binnenraum der Geschichte fortgesetzt und dramatisiert. Durch die Überwachung befördert Mouret im Bereich des konzeptuellen Raums die Konkurrenz und das Misstrauen unter den Mitarbeitern. Sie spielen in der Raumpraxis bzw. Verkaufssituation nach Skript – nur wenn die Performance gelingt, ist die Weiterbeschäftigung gesichert. Natürlich hängt auch der Erfolgt Mourets von seinem verbalen wie nonverbalen Schauspiel in den arrangierten Traumwelten des gelebten Raums ab. Er spielt die Rolle des Patriarchen und des modernen Napoleon, Eroberer fremder Länder. Inszenierungstechniken und dramatische Effekte bringen trotz wiederkehrender Motive immer neue Bühnenbilder des gelebten Raums hervor, das heißt, dass der materielle Raum unter Rückgriff auf Bilder des gelebten Raums einer ständigen Veränderung oder Illusionsbildung unterliegt, der die Zuschauer sowohl passiv als auch aktiv begegnen. Im Verlauf des Romans wird jedoch klar, dass die Inszenierung, die Mouret an das Kaufhaus bindet, größer ist als seine tatsächliche Macht. In keinem der untersuchten Romane wird die Notwendigkeit der Partizipation an der Produktion von Raum nämlich so deutlich wie in Au Bonheur des Dames. Nur durch die Interaktion zwischen den Akteuren auf Ebene des wahrgenommenen Raums aktualisieren sich Strukturen, was an Strategien postdramatischer Theatergruppen erinnert. Je nach Rollenübernahme ändert sich das Skript, was Auswirkungen auf die Raumordnung im Bonheur hat. Frauen besetzen im Kaufhaus unterschiedliche Positionen, darunter die der Verkäuferin, der Kundin bzw. der Zuschauerin, Schauspielerin oder Regisseurin. Zola präsentiert eine neue Arbeitswelt jenseits von Klassengrenzen, in der nicht Herkunft, sondern Wertvorstellungen und Produktivität der Mitarbeiter über Erfolg entscheiden (vgl. Birden 2001: 94f.). Die Kundin wiederum profitiert von dem demokratisierten Konsum und taucht ein in das Reich der erotischen Verführung. Obwohl die Warenauslagen die Sinnlichkeit der Damen usurpieren und diese zu Objekten dekonstruiert werden, finden sie trotzdem zu einem befreiten Umgang mit der eigenen Sexualität und gestalten den Raum mit. Der Leser wird durch den Einsatz dramatischen Erzählens Teil dieser Aufführung. Er wird geradezu zur Refiguration von Raum aufgefordert: Multiple Innenperspektiven auf den Raum, die Entsprechung von Erzählzeit und erzählter Zeit in den Dialogen sowie die Schilderung direkten Kontakts zur Ware haben die Funkti-
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on, den Leser an den sinnlichen Exzessen der Verkaufstage zu beteiligen (vgl. Huber 2003: 249). Diese Beschreibungen des Konsums erreichen eine so hohe affektive Qualität, dass sich im Roman eine dritte raumzeitliche Ebene des Präsentischen im Hier-und-Jetzt öffnet. Das Kaufhaus löst sich vom Zukunftstelos des Fortschrittsdiskurses und der Rückwärtsgewandtheit obsoleter Verkaufsformen und nimmt trotz seiner Einlassung in den urbanen Raum eine insulare Stellung in Paris ein, die mit dem heterotopen Charakter des Theaters vergleichbar ist. Der utopische Aufstieg der Provinzlerin Denise korrespondiert mit diesem Raum-Zeit-Schema. Der Roman verbindet das melodramatische Potential der Geschichte der Kleinhändler mit der Theatralität des Konsumerlebnisses. Zola setzt zahlreiche Momente der Selbst- und Fremdbeobachtung auf der Bühne des Bonheur und im Off ein, um Reflexionsprozesse für Denise und den Leser anzustoßen. Zusammen mit Mouret macht sie die größte Entwicklung im Roman durch, wenn die klare Rollenzuschreibung von Geschäftsführer und Verkäuferin aufgehoben wird. Die Aufführung der professionellen und emotionalen Reifung verdeutlicht »that identity is something that one moves towards« (Salotto 2001: 110) und bringt in raumbildenden und identitätsstiftenden Prozessen das moderne Selbstbewusstsein zutage. Ergebnis ist die Inszenierung des Texts als Bühne für nationale und persönliche Traumata, durch deren symbolische Auflösung Zola im Kaufhaus für kurze Zeit die Utopie einer konfliktfreien, liberalen Gesellschaft leben kann.
8. Fazit
Der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war die Feststellung, dass der vielseitigen Produktion von Raum im Werk Zolas in der Forschung bislang nicht ausreichend Rechnung getragen wurde. Es konnten drei Gründe für dieses Versäumnis genannt werden. Erstens die Überbetonung eines verkürzten Milieudeterminismus und damit zusammenhängend die Konzentration auf den Positivismus und die »thèse des deux Zola«; zweitens die Einordnung Zolas an das Ende einer literarischen Tradition und damit die Vernachlässigung moderner Anteile im Schaffen des Autors sowie drittens ein unzureichendes methodisches Handwerkszeug. Die Arbeit machte es sich folglich zur Aufgabe, die bestehenden Perspektiven und Ansätze zu ergänzen, indem ein Raummodell entwickelt wurde, das es erlaubt, die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Raum in den Vordergrund zu stellen, den Blick auf das Werk des Autors zu erweitern und die Entstehung von Raum als einen dynamischen Prozess zu verstehen. Hierzu wurden in einem ersten Schritt zentrale Publikationen gesichtet, die primär in der Zola-Forschung zur Untersuchung des Raums in den Romanen und den Arbeitsbüchern des Autors vorliegen. Es stellte sich heraus, dass das Gros der Forschung ausgehend von der Prämisse der einseitigen Beeinflussung des Menschen durch das Milieu in den Romanen Zolas geschlossene Raumordnungen vorfindet und die Funktion des Raums auf die eines Containers reduziert. Der Mensch ist dieser Lesart zufolge nicht in der Lage, Einfluss auf seine Umwelt zu nehmen. Nur vereinzelte Untersuchungen nehmen die Nuancen in der Theorie des Naturalismus wahr, erkennen die Figur als Teil der Raumproduktion im Roman anhand des Einsatzes der sinnlichen Wahrnehmung oder des Erlebens von Raum und berücksichtigen die Feldforschung Zolas in der Phase der Vorbereitung der Romane. Als Grundannahme hat sich ergeben, dass Zolas Raumkonzeption von einer Opposition geschlossener und offener Räume lebt. Die bestehenden Arbeiten konnten abschließend in vier spezifische Forschungsrichtungen eingeteilt werden, welche repräsentativ für die allgemeine literaturwissenschaftliche Analyse von Raum sind: Untersuchungen zur Semantik, zur Topographie und Topologie, zur Raumgenese und zur formalen Gestalt des Raums in der Literatur. Mithilfe der vorgeschlagenen Elemente der Raumkritik – »Raumideologien«, »Raumideologie der Literaturkri-
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tik« und »Raum in der Literatur« – konnte geklärt werden, dass nur wenige der Untersuchungen die extra- und intraliterarischen Bedingungen der Produktion literarischen Raums im Allgemeinen und des Milieudeterminismus im Speziellen berücksichtigen. Die Raumtheorie Henri Lefebvres stellte sich im Anschluss als diejenige Theorie heraus, die in Kombination mit Paul Ricœurs kommunikativem Modell des Erzählens alle genannten Elemente der Raumkritik erfüllt. Es wurde möglich, die Produktion von Raum als einen Kommunikationsprozess zwischen Autor, Werk und Leser zu verstehen und mithilfe der Ebenen des wahrgenommenen, gelebten und konzipierten Raums zu beschreiben. Die Raumtrias war einer der Gründe für die Wahl der Theorie Lefebvres. Sie half dabei, den Blick auf das Raumverständnis und die Methodik Zolas zu weiten und die »thèse des deux Zola« zu überwinden. Auch die anderen Problemfelder in der Forschung konnten mit Rückgriff auf Lefebvre angegangen werden. Seine Vorstellung von Raum als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt revidierte die Idee eines einseitigen Milieudeterminismus; sein Verständnis von Stadt als einer vermittelnden Größe zwischen der fernen Ordnung des Staates und der Alltagsebene klärte die Implikationen der Paris-Darstellung in den Romanen Zolas; die Ebene des wahrgenommenen Raums bzw. der Raumpraxis erlaubte es, die Materialität von Raum in der Literatur Zolas als einen »effet-matérialité« (Scarpa 2000: 19) von Sinneswahrnehmung, topographischen Strukturen und Körpereinsatz bzw. routinierter Bewegungen im Alltag zu begreifen; Lefebvres Versuch, die verschiedenen Dimensionen des sozialen Raums der Moderne zu theoretisieren, lenkte die Aufmerksamkeit auf Zolas fortschrittliches Verständnis von Raum sowie seinen Anspruch auf die Vermittlung der Modernitätserfahrung; schließlich eignete sich die integrative Theorie für den Einbezug von Ansätzen zur Erforschung des Raums aus dem spatial turn. Insgesamt trug das Raummodell Lefebvres demnach dazu bei, die intra- und extraliterarische Produktion von Raum bei Zola nuancierter und umfassender als bisher zu begreifen. Die drei Vermittlungsschritte zwischen realer Praxis und Erzählung bei Paul Ricœur, das heißt Präfiguration (Mimèsis I), Konfiguration (Mimèsis II) und Refiguration (Mimèsis III), ergaben in der Übertragung auf die Produktion von Raum im Schaffen Zolas folgende Stufen. Die Grundlage bildete der soziale Raum nach Henri Lefebvre.
1.
Präfiguration/Mimèsis I
Auf der ersten Stufe sollte die Präfiguration von Raum im Verständnis Zolas erfasst werden, die die Raumwahrnehmung und -erfahrung des Autors beeinflusst und aus zentralen Passagen der Arbeitsbücher, aber auch aus der Korrespondenz und den theoretischen Schriften des Autors abgeleitet werden kann. Dieser »per-
8. Fazit
sönliche räumliche Haushalt« steht dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« der Zeit gegenüber.
2.
Konfiguration/Mimèsis II
Zwischenstufe der Konfiguration – Vorbereitung Das Modell Ricœurs musste auf der Stufe der Konfiguration um eine Zwischenstufe erweitert werden, damit Zolas Arbeitsbücher in der Phase der Vorbereitung der Romane berücksichtigt werden konnten. Das gewonnene Material wurde als »Textrepertoire« bezeichnet und in die Ebenen des konzipierten, wahrgenommenen und gelebten Raums aufgefächert. Textimmanente Konfiguration I – Narrative Paradigmen Die eigentliche Konfiguration des Materials im Text beginnt mit der Auseinandersetzung des Autors mit den Formen, Gattungen und Typen der Literatur seiner Zeit. Ricœurs Versäumnis, die Spannung zwischen Tradition und Innovation als einen oftmals konfliktreichen und politischen Prozess zu verstehen, konnte mit Blick auf Zolas Situation im literarischen Feld seiner Zeit erläutert werden. Textimmanente Konfiguration II – Narrative Techniken In Bezug auf die narrativen Techniken konnten den Verfahren zur Versprachlichung von Zeit, die Ricœur bereitstellt, aktuelle Erkenntnisse zur Vermittlung von Raum in der Literatur an die Seite gestellt werden. In den Bereich des espace conçu1 fielen einerseits explizite Erklärungen des Autors zum Raum, andererseits topographische und topologische Angaben, die der Autor im Text anlegt und der Leser erschließt (»explizite Theorie des intraliterarischen und des extraliterarischen Raums«). Sie werden durch Vermittlungs- und Wahrnehmungsinstanzen und ihre Mobilität auf der Ebene des espace perçu1 dynamisiert. In den meisten Fällen fließen in die Raumdarstellung zudem das Erleben und die Bedeutungen von Raum im Bereich des espace vécu1 ein. Wichtig war die Erkenntnis, dass es letztlich der Leser ist, der ausgehend von den Informationen im Text geschlossene oder offene Räume aktualisiert. Er begreift die Architektur des Texts auf der Ebene des espace conçu1 in der »impliziten Theorie des intraliterarischen Raums« und mag darüber hinaus in der Lage sein, intertextuelle Bezüge zu anderen Werken aufzudecken (»implizite Theorie des interliterarischen Raums«).
3.
Refiguration/Mimèsis III
Auf der Stufe der Mimèsis III wird die Literatur an den sozialen Raum der Gesellschaft rückgebunden. Sie ist ein Produkt auf dem Wirtschaftsmarkt, also Teil der räumlichen Praxis, hat darüber hinaus aber einen bedeutsamen Eigenwert. Sie kann alternative Raumkonzeptionen zur Diskussion stellen und fließt in den Bild-
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haushalt einer Gesellschaft ein. Wieder obliegt es dem Leser, den hermeneutischen Interpretationsvorgang auf einer globaleren Ebene abzuschließen und den Raum in der Literatur an den realen Raum zu koppeln (»implizite Theorie des extraliterarischen Raums«). Im vierten Kapitel stand Zolas Erforschung des sozialen Raums von Paris auf der Zwischenstufe der Konfiguration im Fokus. Es musste zuerst ein Abgleich des »persönlichen räumlichen Haushalts« mit dem »gesellschaftlichen räumlichen Haushalt« des Second Empire stattfinden. Durch die Biographie des Autors und die Stadtpolitik sowie Wissensdiskurse der Zeit konnten Rückschlüsse auf Zolas Raumverständnis, -erfahrung und -wahrnehmung gezogen werden. Sie zeichnen das Bild eines Mannes, der seit seiner Kindheit einen ausgeprägten Sinn für den Natur- und den Stadtraum und deren Wechselwirkung hatte. Die Beschreibungen von Landschaften, aber auch die Schilderungen zum kulturellen und politischen Leben in Paris weisen Zola als einen reflektierten Beobachter der räumlichen Aushandlungsprozesse der Zeit aus. Seine Kommentare zu Kommune und Haussmannisierung geben wichtige Einblicke in das Großstadtleben, die erst im 20. Jahrhundert theoretisiert wurden. Hierzu zählten Segregationsprozesse, Spekulationen um Raum, die klassenspezifische Nutzung und politische Überwachung des Raums sowie die soziokulturellen Veränderungen im modernen Alltag. Der »persönliche räumliche Haushalt« Zolas ließ dabei Ambiguitäten durchscheinen, die auf Zolas Auseinandersetzung mit einem ebenso ambigen raumideologischen Haushalt basieren. Es wurde dargelegt, dass die Betonung des Visuellen und der Transparenz im Stadtdiskurs und in den Wissenschaften an ein Zukunftspathos gebunden ist, das sich primär in den räumlichen Figuren von Linie und Zeitstrahl niederschlägt und in dieser Form in Zolas mentalen räumlichen Bildhaushalt eingeht. Hier tauchen allerdings auch topologische Netzwerkstrukturen und die Vorstellung von Opazität auf, welche sich unter anderem aus dem degenerativen Denken nach Bénédict Augustin Morel, dem Prinzip der Kontingenz im Darwinismus und dem Sinnesdiskurs der Zeit ableiten. Der Vergleich der Arbeiten Zolas mit der Geographie konnte eine neue Verbindung offenlegen und bestätigen, dass Zola sowohl in methodischer als auch in erkenntnisleitender Hinsicht Parallelen zu Élisée Reclusʼ sozialer Geographie aufweist. Hieraus ergab sich insgesamt die Feststellung, dass das widersprüchliche Menschenbild bei Zola in einem widersprüchlichen raumideologischen Haushalt zum Ausdruck kommt und sich der Kontrast von Transparenz und Opazität an die Idee offener und geschlossener Räume knüpft. Dabei war interessant, dass der Versuch des Durchleuchtens von Raum oftmals in geschlossenen Systemen endet und der Zustand der Opazität die Öffnung des Raums einleiten kann.
8. Fazit
Die Orientierung an den drei Raumebenen in der Analyse der Arbeitsbücher Zolas ermöglichte es, die Vorarbeiten in einem neuen Licht zu sehen. Während der Zola-compositeur scientifique (espace conçu) und der Zola-rêveur symboliste (espace vécu) in Abwandlungen in der »thèse des deux Zola« auftauchen, öffnet der Zola-enquêteur affectif (espace perçu) die Dualität und schaltet sich vermittelnd zwischen die Ebenen. Dies ist entscheidend, weil Zolas Schaffen in der Praxis nicht nur auf der Basis der Opposition diskutiert werden kann. Erst ein triadischer Ansatz ist in der Lage, die dialektische Bewegung zwischen den Ebenen zu erfassen. Die Analyse ergab entsprechend, dass der gelebte Bildhaushalt und die Sinneseindrücke in den Dossiers die Konzeptionen von Raum mit hervorbringen, was deren Übergewicht einschränkt. Es wurde deutlich, dass der Autor die topographischen Großstrukturen und einen cadre für die Handlung in Form einer begrenzten Anzahl von Außenund Innenräumen, privaten und öffentlichen Räumen anlegt und die Mikrostruktur der topologischen Beziehungen im Raum besonders in La Curée und Le Ventre de Paris ausgehend von den Metaphern des Bauches und der Beute organisiert. Darüber hinaus konnte die Untersuchung der Feldforschung beweisen, dass Zola im direkten Kontakt zur Umgebung die sinnliche Atmosphäre und das Raumerleben in der Stadt registriert, welche den Ton der späteren Romane gestalten und den Leser körperlich affizieren sollen. Insgesamt hat sich bereits in den Arbeitsbüchern eine Räumlichkeit erschlossen, die aus dem Zusammenspiel der Ebenen des Wahrgenommenen, Konzeptuellen und Gelebten erwächst. Die bisherigen Ergebnisse der Arbeit verdichteten sich in den Romananalysen und konnten weiter ausdifferenziert werden. In La Curée, Le Ventre de Paris und Au Bonheur des Dames stellte es sich in einem ersten Schritt als hilfreich heraus, von offenen und geschlossenen Räumen auf der Ebene des espace conçu1 auszugehen, um das Verhältnis von Raumordnung und dem Angriff auf diese Ordnung auszuloten. In La Curée, so wurde gezeigt, wird die Einrichtung der Logik des HaussmannParis geschildert, die sowohl von Renée als auch von Aristide Saccard herausgefordert wird. Obwohl letzterer die Pläne Napoleons unterstützt, fordert er das ordnungsgemäße Funktionieren in der Stadt durch die Spekulation heraus. Im Vordergrund der Analyse stand jedoch der von Renée empfundene Ennui angesichts ihres Raum- und Identitätsverlusts. Ihr Versuch, die Raumordnung zu subvertieren, konnte als eine Suche nach Regelhaftigkeit verstanden werden. Die inzestuöse Beziehung zu Maxime entpuppte sich als illusorische Utopie, da in einer von Regeln befreiten Gesellschaft keine Transgression von Ordnung mehr möglich ist. Die moderne Seite von Zola offenbarte sich im ersten Roman in der Zeichnung des Ennuis als zeitspezifisches, weibliches Gefühl, das sich der Transparenz widersetzt, sowie in dem Erkunden des Mythos der Stadt und in der Präsentation von NichtEreignissen. Die Grundannahme der Analyse des zweiten Romans, Le Ventre de Paris, war, dass Zola hier ein von der Curée gesättigtes und homophones Second Empire in den
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Hallen mit Lisa Quenu an der Spitze präsentiert. Obwohl auch in der Curée Formen der Transparenz in der Architektur auftauchen, konnte festgestellt werden, dass die Durchleuchtung des Viertels durch Lisa und Mlle Saget nun die Funktion der Überwachung und der Aufrechterhaltung des Status quo der homophonen Ordnung hatte. Florents Rückkehr nach Paris war demnach als Angriff auf die Homophonie und sein Bestreben, eine Revolution anzuzetteln, als Versuch der Implementierung von Polyphonie in den Hallen zu werten, woraufhin die Ausschlussmechanismen der Gemeinschaft der Hallen in Kraft traten und Florent des Raumes verwiesen wurde. Insgesamt stellte sich heraus, dass Zola das Quartier als ein panoptisches Territorium konzipiert, in dem nur einigen Bewohnern das »Recht auf Stadt« nach Lefebvre eingeräumt wird. Au Bonheur des Dames zeugte insofern von einer Entwicklung im Schreiben Zolas, als hier die Veränderung der Raumordnung im Kaufhaus unter Regie von Denise möglich und Zolas Utopie einer durch Reformen eingeleiteten, liberalen Gesellschaft gelebt wird. Allerdings zeigte sich in der Inszenierung der Konsumwelt nach dem Modell des Theaters eine bewusste Idealisierung des Raums auf konzeptueller Ebene, die die Manipulation der Kundin, die Zerstörung des Kleinhandels und die Illusion der Utopie verschleierte. In der Analyse der drei Sonderverkäufe wurde die Instrumentalisierung und Einverleibung fernöstlicher Kultur als Teil der imperialistischen Pläne Frankreichs diskutiert. Dass im Kaufhaus ein großes Konfliktpotential besteht, bewies nicht nur der Blick hinter die Kulisse, durch den die Regularien des Kaufhauses sichtbar wurden; auch auf der Bühne des Bonheur zeichneten sich im subversiven Verhalten der Kundinnen Angriffe auf die Raumordnung ab. Die Fortschrittlichkeit Zolas ließ sich zum einen aus seinem Verständnis für die neue Konsumkultur, das heißt die sowohl sehr materielle als auch abstrakte Seite des Konsums, und zum anderen aus seiner Thematisierung der Etablierung von Geschlechterrollen im performativen Spiel ableiten. Insgesamt haben die Romananalysen dargelegt, dass die Wirkkraft der Personen auf ihre Umwelt immer spürbar ist – sie alle versuchen, einen Platz im Raum zu finden oder zu verteidigen. Anstatt also den Raum inhaltlich als fixe Kategorie anzusetzen, stehen in den Romanen Veränderungsprozesse von Raum im Vordergrund, die anhand der Konzeptionen von Raum, der gelebten Räume und der Raumpraxis präziser beschrieben werden können. Dies ist auch auf erzähltechnischer Ebene der Fall. Die vorliegende Arbeit konnte durch den Nachvollzug der Genese des Raums akzentuieren, dass der erzählte Raum der Literatur per se produziert und im Roman mithilfe narrativer Formen konstruiert werden muss. Es wurde deutlich, dass Zola (zu Beginn der Romane) den materiellen Raum primär in Beschreibungen mithilfe der topographischen und topologischen Referenzen absteckt, die real existierende Orte in der Stadt aufrufen und die mentale Karte des Lesers aktivieren (espace conçu1 ). Auffällig war der Einsatz kontrastiver Gruppierungen sowie chronotopischer Knotenpunkte im Raum. Als zentral erwies sich,
8. Fazit
dass diese konzeptuellen Makro- und Mikrostrukturen, die für die Lesbarkeit und Transparenz des Texts sorgen sollen, erst im Verhältnis zur Vermittlungsinstanz und deren Raumerleben hervorgebracht (espace perçu1 ) und in semantisch aufgeladenen Bildern bedeutsam werden (espace vécu1 ), was für Momente der Unordnung auf der Textebene sorgt. Es ließ sich schlussfolgern, dass die Konzeption von Raum bei Zola durch die Ebenen des wahrgenommenen und gelebten Raums dynamisiert und problematisiert wird und die Figur erzähltechnisch eine Macht erhält, die ihr inhaltlich versagt bleibt. Dies konnte in den Romanen an verschiedenen Beispielen veranschaulicht werden. Die polyphonen Stimmen im Ventre haben gezeigt, dass durch unterschiedliche Raumwahrnehmungen der Figuren an einem Ort multiple places entstehen können. Verweigert eine Figur die Wahrnehmung, zum Beispiel aufgrund zu intensiver Außenreize, tritt explizit das Raumerleben und nicht das Kartieren der Außenwelt in den Vordergrund. Dies ist auch dann zutreffend, wenn sich eine Stimmung wie im Fall der Betrachtung des Parks durch Renée von der Figur auf die Umwelt überträgt und in intensivierter Form auf die Figur zurückstrahlt. Hier wurde das symbiotische Verhältnis zwischen Figur und Raum betont, das meist über Metonymie und Metapher hergestellt wird. Zudem führten die dynamischen Beschreibungen im Verfahren der tour in Kaufhaus- und Hallenroman, die Farbsymphonien und seriellen Bilder von Figuren oder Waren, die musikalischen und dramatischen Formelemente der Texte, die Unbestimmbarkeit der Wahrnehmungsinstanz, schnelle Perspektivwechsel, das Spiel mit den Positionen im Raum, besonders dem Verhältnis von Distanz und Nähe, sowie die nur begrenzt mögliche Versprachlichung der körperlichen Reaktionen und (taktilen) Sinneswahrnehmungen zu Momenten der Opazität im Text. Hieraus folgte, dass dieser nicht immer leserlich, sondern in Ansätzen auch spielerisch ist, und der Leser dazu gezwungen wird, sich permanent neu auf den Text einzustellen und diesen nach Hinweisen zur Entschlüsselung abzusuchen. Abschließend ist die zentrale Erkenntnis der Analysen, dass die Untersuchung des Raums im Werk Zolas nicht bei der Opposition von offen und geschlossen stehen bleiben darf. Das subtile Spiel von Öffnung und Schließung, Transparenz und Opazität ist in jedem Moment des Texts durch die Triplizität von wahrgenommenem, konzipiertem und gelebtem Raum anzustoßen und zu dynamisieren. Die vorliegende Arbeit konnte der zu Beginn geschilderten Problemlage in der Forschung mit Lösungsansätzen und neuen Perspektiven auf das Zolaʼsche Œuvre begegnen. Erstens wurde die »thèse des deux Zola« durch die Berücksichtigung des Zola enquêteur-affectif (espace perçu) um eine Dimension, der theoretische Blick durch die Berücksichtigung von Arbeitsbüchern, Sinnesdiskurs und sozialer Geographie erweitert; zweitens führte das Hinzuziehen einer modernen Raumtheorie dazu, die fortschrittliche Seite Zolas in Bezug auf räumliche Fragen sowohl auf inhaltlicher als auch auf erzähltechnischer Ebene nachzuweisen – Zola kann durchaus als
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ein Raumdenker im modernen Sinn bezeichnet werden; drittens konnte ein Beitrag für die literaturwissenschaftliche Erforschung des Raums geleistet werden, indem ein Raummodell entwickelt wurde, das an die Stelle eines unhinterfragten Milieudeterminismus die Wechselseitigkeit von Mensch und Raum stellt. Diese Erkenntnisse können inhaltlich und methodisch vertieft werden. Erstens wäre es angebracht, die Analyse von Raum mithilfe des entwickelten Modells auf weitere Romane der Rougon-Macquart-Reihe sowie die anderen Zyklen im Werk Zolas auszuweiten, um größere Entwicklungslinien nachzeichnen zu können; zweitens wäre es denkbar, die formale Komposition der Romane Zolas in ihrer Verbindung zum Theater oder zur Musik genauer zu durchleuchten, um möglicherweise eine moderne Seite des Autors in Bezug auf die im 20. Jahrhundert wichtig gewordene Architektur des Texts aufzudecken; drittens könnte das entwickelte Raummodell in anderen literarischen Kontexten eingesetzt und weiterentwickelt werden. Es bietet sich zum Beispiel an, Zola im Rahmen komparatistischer Arbeiten wie denen des WReC einzuordnen und seine Vermittlung der Erfahrung der modernen Großstadt mit den Schilderungen von Autoren aus anderen Epochen und geographischen Regionen des Weltsystems zu vergleichen; viertens scheint es sinnvoll, Zolas Werk im Rahmen einer Erinnerungskultur, das heißt hinsichtlich evozierter lieux de mémoire und Formen des kulturellen Gedächtnisses zu deuten. Es gilt, Zola auch in Zukunft in neue Kontexte einzubetten, denn selbst nach mehr als einhundert Jahren erweist sich das Werk des Autors aktueller denn je.
Anhang
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Abbildung 1
Anhang
Abbildung 2
Bibliothèque nationale de France, N.a.f. 10278, Bonheur: fo 274
Abbildung 3
BnF, N.a.f. 10278, Bonheur: fo 67, Le Louvre
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Abbildung 4
BnF, N.a.f. 10278, Bonheur: fo 2, Bon Marché
Abbildung 5
BnF, N.a.f. 10278, Bonheur: fo 255
Anhang
Abbildung 6
BnF, N.a.f. 10282, Curée: fo 270
Abbildung 7
BnF, N.a.f. 10282, Curée: fo 272
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Abbildung 8
BnF, N.a.f. 10282, Curée: fo 273
Abbildung 9
BnF, N.a.f. 10282, Curée: fo 274
Anhang
Abbildung 10
BnF, N.a.f. 10338, Ventre: fo 135
Abbildung 11
BnF, N.a.f. 10338, Ventre: fo 267
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Abbildung 12
BnF, N.a.f. 10338, Ventre: fo 269
Abbildung 13
BnF, N.a.f. 10338, Ventre: fo 271
Anhang
Abbildung 14
BnF, N.a.f. 10278, Bonheur: fo 323
Abbildung 15
BnF, N.a.f. 10278, Bonheur: fo 324
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Bibliographie
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