Zolas Naturalismus: Kreuzwege der Rougon-Macquart 9783110605334, 9783110601459

This interpretation of Les Rougon-Macquart contends that Zola’s elaborately argued history of salvation skews between im

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German Pages 173 [174] Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Siglen
Am Schreibtisch
Le Ventre de Paris – Lost in digestion
Nana – Bordell in Abrahams Zelt
La Joie de vivre – Braut Christi und Menses
L’Oeuvre – Perspektiven
Ein Totenacker
Literatur
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Zolas Naturalismus: Kreuzwege der Rougon-Macquart
 9783110605334, 9783110601459

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Michael Rieser Zolas Naturalismus

Studien zur Internationalen Geschichte

 Herausgegeben von Eckart Conze, Julia Angster, Marc Frey, Wilfried Loth und Johannes Paulmann

Band 42

Michael Rieser

Zolas Naturalismus  Kreuzwege der Rougon-Macquart

Zugl. Diss. der Ludwig-Maximilians-Universität München 2018

ISBN 978-3-11-060145-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060533-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060303-3

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Rieser, Michael, 1988- author. Title: Zolas Naturalismus : Kreuzwege der Rougon-Macquart / Michael Rieser. Description: 1 | Boston : De Gruyter, 2018. | Includes bibliographical references and index. Identifiers: LCCN 2018020555 (print) | LCCN 2018025449 (ebook) | ISBN 9783110605334 (electronic Portable Document Format (pdf) | ISBN 9783110601459 (hardback) | ISBN 9783110603033 (e-book epub) | ISBN 9783110605334 (e-book pdf) Subjects: LCSH: Zola, ?Emile, 1840-1902. Rougon-Macquart. | Zola, Emile, 1840-1902–Criticism and interpretation. | BISAC: LITERARY CRITICISM / General. | LITERARY CRITICISM / European / French. Classification: LCC PQ2518.R54 2018 (ebook) | LCC PQ2518.R54 2018 (print) | DDC 843/.8–dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018020555 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

 videbunt in quem transfixerunt

Inhaltsverzeichnis Siglen  IX Am Schreibtisch  1 Chez Zola  1 Bric-à-brac  3 Saint-Julien aux puces  6 Naturalismus unterm Kreuz?  12 Le Ventre de Paris – Lost in digestion  23 Historisch?  23 Der revolutionäre Magen  28 In palmis  33 Fabula und farcimen  39 Ceci tuera cela  46 Nana – Bordell in Abrahams Zelt  53 Äpfel und Birnen  53 Repräsentation und Inszenierung  58 In und out  64 Fanum und profanum  70 Mythos und Logos  75 Translatio babylonis  81 La Joie de vivre – Braut Christi und Menses  89 Pauline, Paulus, Paul  89 Ein freudenreicher Rosenkranz  94 L’Œuvre – Perspektiven  111 Sans tête  111 Les ventres de Paris  121 Der Ursprung der Welt  129 Vulnus/vulva  138 Ein Totenacker  149 Literatur  159

Siglen Zitate nach der kommentierten Gesamtausgabe von Émile Zolas Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, hg. v. Armand Lanoux und Henri Mitterand, Paris: Gallimard 1961–1967 unter nachstehend aufgeführten Siglen. AS CU DP FR G JV N Œ PA VP

Émile Zola, L’Assommoir, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 2. Émile Zola, La Curée, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 1. Émile Zola, Le Docteur Pascal, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 5. Émile Zola, La Fortune des Rougon, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 1. Émile Zola, Germinal, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 3. Émile Zola, La Joie de vivre, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 3. Émile Zola, Nana, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 2. Émile Zola, L’Œuvre, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 4. Émile Zola, Une page d’amour, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 2. Émile Zola, Le Ventre de Paris, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 1.

Zitate nach der Heiligen Schrift folgen dem Siglenverzeichnis der DBG.

Am Schreibtisch Chez Zola Am Abend des dritten April 1878. Das Frühjahr, das im März zunächst mit einem Wintereinbruch begonnen hatte, ist nun nicht mehr aufzuhalten. Bereits am Vortag ist der letzte Frost über Paris gegangen. Ein regenreicher Mittwoch neigt sich bei leicht steigendem Luftdruck versöhnlich seinem Ende, als sich acht Herren, zwei mit Gattin, durchnässt im ersten Obergeschoß des eleganten Mietshäuschens in der rue de Boulogne zum Nachtmahl eingefunden haben mögen. Zehn Gäste und zwei Gastgeber. Acht Tage vor Gründonnerstag fehlt einer zur Dreizehnzahl der cène: Turgenew, sonst ein großer Esser, ist nicht da. Monsieur und Madame Émile Zola geben sich die Ehre und haben zur pendaison de crémaillère geladen. Sichtlich stolz auf die Erfolgsgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte, die den spätpubertären Bakkalaureatsabbrecher aus der Provence, ein neurasthenisches Muttersöhnchen, zum Mann von Format, Gabrielle Meley, die schmuddelige Wäscherin, zur Dame der Gesellschaft und Gattin eines veritablen Großschriftstellers gemacht haben. Vorbei die Zeit der ständig wechselnden möblierten Zimmer in Paris, die der junge Halbwaise mit seiner Mutter von 1858 an bezieht.1 Fast vergessen der Winter 1868, als an einem Montag im Dezember ein sichtlich angeschlagener Émile Zola wachsbleich und ziemlich larmoyant Edmond und Jules de Goncourt erstmals seine Aufwartung macht und die bereits seit Jahren be- und umworbenen Brüder mit eher gemischten Gefühlen zurücklässt.2 „Un peu taillé en toute sa personne comme ses personnages, […] et au morale même, laissant échapper une ressemblance avec ses créations d’âmes aux contrastes ambigus“3 bescheiden sie dem angehenden Schriftsteller von Anfang an eine auffallende Ungeschiedenheit von seinem fiktionalen Kosmos, lesen ihn als Schöpfung seiner eigenen Feder, als eine der Figuren, die er mit gleichermaßen Lust und Abscheu vor dem Leser ausrichtet. „Crevé“ und „chétif“, „maladif, souffrant, ultra-nerveux“, „douloureux, anxieux, trouble“ und voller Zweifel4 stellt sich den Goncourts im ausgezehrten 28-Jährigen ein geradezu prototypischer Charakter der Rougon-Macquart mit dem unerschütterlichen Vorhaben vor „de faire l’Histoire 1 Henri Mitterand, Zola, Bd. 1. Sous le regard d’Olympia. 1840–1871, Paris: Fayard 1999, S. 153– 163. 2 Edmond/Jules de Goncourt, Journal. Mémoires de la vie littéraire, hg. v. Robert Ricatte, Paris: Laffont 2014, Bd. 2, S. 186 f. 3 Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 186. 4 ebd. https://doi.org/10.1515/9783110605334-202

2  Am Schreibtisch

d’une famille, roman en dix volumes“5. Bis zu deren zwanzigstem, der die zehn ursprünglich veranschlagten Bände verdoppelnd den Zyklus 1893 zu Ende bringt, wird Zola diesen Eindruck auch ausdrücklich bestätigt haben. Ausgerechnet dem Roman, der das Verhältnis zum verbliebenen Goncourtbruder 1886 schließlich unrettbar belasten wird, schreibt er sein achtzehn Jahre jüngeres Ich aus dem Journal geradezu buchstäblich ein. Die den wohlhabenden Gastgebern 1868 ausgebreitete „difficulté de sa vie“ und der mit großer Sorge vorgetragene „besoin qu’il aurait d’un éditeur l’achetant pour six ans 30 000 francs, lui assurant […] le pain pour lui et sa mère“6, ist bald vom Tisch. Kaum zehn Jahre später sitzt dem nach dem Tode Jules’ verbliebenen Edmond de Goncourt in Gestalt George Charpentiers ein prächtiger Verleger ganz selbstverständlich gegenüber in der Runde, die Zola am Tag nach seinem 38. Geburtstag in der neu bezogenen Wohnung als gemachter Mann empfängt. Sein unermüdliches Schaffen, dem die Pariser Feuilletons gegen alle Einwände von Reaktion und Kirche bereitwillig stets größere Bühnen einräumen, finanziert dank des umtriebigen Charpentier, der fast jährlich einen Zola mit schweinsledernen Buchrücken vergoldet, längst mehr als Brot und unterhält neben der Mutter in Madame Zola, die sich passend zum Haus in der Nouvelle Athènes nun wieder Alexandrine rufen lässt, eine standesbewusste Ehefrau und deren zunehmend exklusive Haushaltsführung, die Jugendfreunde ahnungsvoll die Stirn runzeln lässt. Noch im selben Jahr wird Émile mit dem Elend des Assommoir ein reizendes Häuschen an der Seine nordwestlich von Paris erwerben und den bald für seine Soireen bekannten Landsitz in Medan rasch um wenig zurückhaltende Anbauten aus dem Goldregen von Nana erweitern. Zunächst aber soll eine komfortable Stadtwohnung die Gäste vom Wohlstand und Geschmack des Hausherrn überzeugen. Statt Brotes tischt er eine reichhaltige Mahlzeit auf. „[U]n vrai dîner de gourmet“7, wird Goncourt am nächsten Morgen loben, nicht ohne einen amüsierten Hinweis auf Alphonse Daudet, den die Anwesenheit seiner Gattin nicht davon abhält, das Fleisch der gélinottes mit dem einer „vieille courtisane marinée dans un bidet“8 zu vergleichen. Dies soll an diesem Abend nicht der einzige Kummer der Salonnière aus dem Marais sein. Noch Unfeineres verschwiegen poltert, schmatzt und schlürft sich der nicht nachgerade für Zurückhaltung bei Tisch bekannte Flaubert von Brot und Wein in Schwung gebracht um Kopf und Kragen und reiht unter Ausdrücken, die

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ebd. ebd. Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 773. ebd.

Bric-à-brac



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selbst der sonst nicht zimperliche Goncourt im Journal andeutungsweise bei „de m… et de f…“9 belässt, eine Deftigkeit gegen den bôrgeois an die andere, während eine zunehmend betretene Julia Daudet, wie ihr Tischnachbar bemerkt, angesichts dieser unsäglichen Entblößung der Natur die Augen niederschlägt.10 Ein Schauspiel.

Bric-à-brac Ohne biographistischen Kurzschluss weist bereits der erste Band der großen dreiteiligen Geschichte von Henri Mitterand auf die Bedeutung der Verflechtungen zwischen kritischem und fiktionalem Werk, Person und Inszenierung als Schlüssel zu Émile Zola hin. Seine so umfassende wie detaillierte Beschäftigung mit dem Großschriftsteller als Biograph, Herausgeber der Pléiade-Ausgabe der Rougon-Macquart, die dieser Studie als primäre Textgrundlage dient, vor allem aber als unvoreingenommener, genauer Leser, der vorsichtig und nah am Wort argumentierend bemerkenswerte Perspektiven eröffnet, ist maßgeblicher Faktor für das Gelingen dieser Arbeit. So beginnt diese wie die Zolas an seinem Hauptwerk und die Spurensuche Mitterands sous le regard d’Olympia: am Schreibtisch. Ausgehend vom bedeutungsvollen Durcheinander im Atelier Manets, in dem der Maler seinen Freund 1868 am Bureau festhält11, bestimmen über Nadar’sche Fotografien12 bis hin zum letzten Bildnis aus dem Todesjahr13, unter Bibelots begraben und zusammengesunken auf dem kolossalen Schreibtisch in der rue de Bruxelles, eine ganze Reihe von Schreibsituationen Zolas autorisiertes Außenbild. Dabei stellt ausgerechnet das in der Losung „nulla dies sine linea“14 selbstbewusst vertretene Selbstverständnis als Großschriftsteller auf dem Kamin im herrschaftlichen Arbeitszimmer von Medan in Stein gemeißelt klar, dass es mit dem Federstrich allein hier eben nicht getan ist. Schon das orientalisierende Bric-à-Brac des Porträts von ’68 scheint sich in einer Allegorie zu organisieren, die in der Ikonografie des Lukas am Pult – Evangelist, Maler und Arzt – 9 a.a.O., S 774. 10 ebd. 11 Édouard Manet, Emile Zola (1868), Öl auf Leinwand, Paris: Musée d’Orsay. 12 Atelier Nadar, M. Zola, écrivain (1893/4), Fotografie, Bibliothèque nationale de France, département estampes et photographie, BNF FT 4-NA-240 (14). 13 Félix Wylands, Émile Zola. Dernière photographie (1902), Postkarte, Fonds Dreyfus CPA" 1109. 14 Frederick Brown, „Zola and the Making of Nana“, in: The Hudson Review, 45/2 (1992), S. 191–217, hier S. 196.

4  Am Schreibtisch

Schrift und Bild, Anschauung und Bericht ins Verhältnis setzt und damit bereits die Schicksalsfrage des Naturalismus aufwirft. Tintenfass und Feder vor sich, blättert der angehende Schriftsteller in einem Band der bei Renouard seit 1865 erscheinenden Histoire des peintres de toutes les écoles von Charles Blanc. Anstelle der Kreuzesvision jenseits des geöffneten Butzenscheibenfensters, die der Meister im Titelbild des Lukasevangeliums der Biblia von 1545 seinen Evangelisten in der Gewissheit des alle Zweifel ausräumenden Tageslichts verschriftlichen lässt15, erscheint auf Manets Zolaporträt an gleicher Stelle neben einer Radierung nach Velázquez und einem japanischen Holzstich mit der Reproduktion von Manets Olympia das Werk, das seinen Urheber gemeinsam mit Zola den Kunstgeschichten einschreibt und in dem taubenblauen Heftchen, das sich bei näherer Betrachtung als Zolas 1867 einzeln publizierte Verteidigungsschrift für Manet aus der Revue du XXe siècle 1866 erweist, verschriftlicht ist. Dass, selbst wenn man an der Analogie als einem bemerkenswerten Zufall vorübergehen möchte, angesichts der unleugbaren Komponiertheit des Porträts von jener Eigentlichkeit16, wie sie der qua Manifest17 positive18, unrhetorische19 Naturalismus zumindest fordert, kaum die Rede sein kann, liegt auf der Hand. Die auffallenden Beleihungen des sitzenden Porträts im Halbprofil an der Johannesikonografie der Offenbarung, etwa Hans Burgkmairs des Älteren, dessen Flügelretabel20 den aufmerksamen Studenten von Charles Blancs mitverewigter Peintres ebenso bekannt sein hätte dürfen wie der frühneuzeitliche Bibelillustrator, mag in der erneuten Rekurrenz auf die Gleichzeitigkeit von Unmittelbarkeit und Verfassung im Moment der revelatio den Eindruck noch verstärken. Wie bereits bei der Text gewordenen Olympia fällt auch hier eine verbuchstäblichende Anschauung auf, wenn die exotische Schreibsituation des patmischen Johannes im Orientalismus des Ateliers, konkret in der Wiederaufnahme der Landschaft samt ornithologischem Inventar auf dem japanischen Wandschirm, wie die zur Reproduktion der Olympia verflachte Kreuzvision als Cliché erscheint. Die Inszenierung des Porträts lässt sich beliebig in die Realität der 1878 neu bezogenen Wohnung Émile Zolas erweitern, dessen Arbeitszimmer es nun schmückt und diesen vis-à-vis vom Platz des nun zehn Jahre Älteren spiegelt. Die bedeutungsvolle Unordnung in Manets Porträt setzt sich jenseits des Rah15 Meister M. S., ohne Titel (Lukas am Pult) (1532), Holzschnitt, in: Martin Luther, Biblia: das ist: Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch, Wittenberg: Luft 1545, f° 626 r. 16 Émile Zola, Le roman expérimental, Paris: Charpentier 1881, S. 11, 33. 17 Zola, „Le roman expérimental“, in: ders., Le roman expérimental, S. II. 18 a.a.O., S. 3 f. 19 a.a.O., S. 46, 51. 20 Hans Burgkmair der Ältere, Johannes auf Patmos (1518), Öl auf Holz, München: Alte Pinakothek.

Bric-à-brac



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mens in einem sagenhaften Durcheinander innenarchitektonischer Statements fort. Die Gäste der crémaillère sind vom Reichtum dieser Häuslichkeit erschlagen: nulla dies sine linea und kein Tag ohne neuen Einrichtungsgegenstand. Wie Frederick Brown in seinem Beitrag zu „Zola and the Making of Nana“ diagnostiziert, wird „an unwillingness to help her feather their nest“21 sicherlich keine der Sorgen gewesen sein, die ihr Gatte Madame Zola bereitet haben mag. Dabei versäumt er es nicht, dem Titel der Untersuchung die Ehre zu erweisen, Zolas „penchant for interior decoration“22 mit den deskriptiven Gewaltmärschen des Naturalismus zusammenzulesen und als Gegenstand der Untersuchung zumindest anzudenken. Tatsächlich steht die Wohnung den überbordenden Auslagen und Interieurs der Rougon-Macquart schon auf den ersten Blick in nichts nach. Die erste repräsentative Wohnung der Zolas zu Füßen des Montmartre ist in zahlreichen Quellen beschrieben. Dabei wird der unmittelbare Eindruck Edmonds de Goncourt im Journal ergänzt durch gelenktere Impressionen, etwa die Fernand Xaus beim Hausbesuch von 188023 und Paul Alexis’ in den Notes d’un ami von 188224. Jules Hoche trägt in den Parisiens chez eux von ’8325 ein kritisches Porträt bei, während die vor allem an Äußerlichkeiten interessierte Homestory des Pariskorrespondenten vom Philadelphia Bulletin26 ein umfangreiches Inventar der Wohnung liefert. Nicht zuletzt lässt Zola sich anlässlich seines 50. Geburtstags am 2. April 1890 von Henri Bryois27 für den Figaro nochmals selbst über seine Häuslichkeit befragen. Bei allen unterschiedlichen Stoßrichtungen: Die Schilderungen ergeben ein in sich stimmiges, wenn auch zunächst überraschend anmutendes Bild: Eine bequeme, praktische, mit nichts auffallende und vor allem kleine Bleibe, allein die Einrichtung hat Romanwert. [A]t one side an antique dresser, with fine specimens of faïence, engraved pewter pots and dishes; above them an aquarelle by Manet. A cupboard in one corner shows some fine old silverware, and a handsome Russian samovar ornaments the top of a porcelain stove […]28

Die Wohnung ist bis unter den Plafond möbliert und vollgerümpelt mit „meubles minuscules“ und „brimborions inutiles“29. Alle Hölzer und Metalle, die der 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 192. ebd. Fernand Xau, Émile Zola, Paris: Marpon & Flammarion 1880. Paul Alexis, Émile Zola. Notes d’un ami, Paris: Charpentier 1882. Jules Hoche, „Émile Zola“, in: ders., Les Parisiens chez eux, Paris: Dentu 1883, S. 399–413. o.V., „Zola’s Paris Home“, in: The Art Amateur, 6/5 (1882), S. 102–103. Henri Bryois, „Les trois derniers livres des Rougon-Macquart“, in: Le Figaro, 2.4.1890, S. 3. „Zola’s Paris Home“, S. 102. Xau, Émile Zola, S. 9.

6  Am Schreibtisch

Historismus kennt und Berge von Stoff lassen die vier Zimmer Fernand Xau als königliche Grabkammer erscheinen.30 Die Fenster, durch deren doppelte Vorhänge ohnehin kaum Licht dringt, verschwinden unter riesenhaften Querbehängen und zu Gardinen umgeschnittenen Messgewändern. Die Türen sind verborgen unter Persern oder dunkelroten Samtportieren und behängt mit orientalischer und venezianischer Stickware. Das Tageslicht, Kampfbegriff des Naturalismus, „n’arrive que difficilement.“31 Statt eleganter Wandbespannungen tapeziert sündteure Tapisserie mit Heiligendarstellungen Wände und Decke der Zola’schen chambre, in der als raumfüllende Schlafstatt ein riesiges Renaissancebett das nächste Statement setzt, behängt mit allem, was das Rokoko an textilem Kunsthandwerk zu bieten hat. Für die Volants des Himmelbetts werden aux puces als Mittelstücke Andachtsbilder aufgetrieben, dazu kommen in ganz Paris zusammengekaufte hochheilige Supraporten, die angestrahlt vom durch Vitraillen einfallenden Abendlicht dem Schlafzimmer bei Sonnenuntergang den Anschein einer Hauskapelle geben. Zola hält sich nicht mit Vermögensbildung auf, investiert sein stetig wachsendes Einkommen, wie er dem Figaro diktiert, lieber in die Häuslichkeit, „tapisseries, vieilles étoffes, tentures anciennes, draperies éclatantes“ und schwärmt von „robes, richement damassées, si superbes en couleurs, aux fines broderies […] des grandes dames de la cour de Louis XIV.“32 Und damit ist es nicht getan mit dem Ancien Régime. Mit großem Eifer zählen die Besucher Ramsch und Antiquitäten auf, die ein stilistisches Kontinuum von Henri II bis Louis XVI schaffen und mehr als einmal fragen lassen, ob dies wirklich derselbe ist, der Frankreich das Second Empire austreiben will.

Saint-Julien aux puces Diese Frage mag sich an jenem Abend des dritten April neben den Ehepaaren Daudet und Charpentier, Edmond de Goncourt, Henri Céard, Paul Alexis, JorisKarl Huysmans und Léon Hennique auch Gustave Flaubert gestellt haben. Die für das höchstens mittelgroße Appartement ohne eigentlichen Salon ambitionierte Gästeliste ergänzt das Personal der Dîners des Cinq Flauberts – abzüglich des unpässlichen Turgenev, dessen Pariser pied-à-terre in der rue Douai keine dreihundert Meter entfernt liegt – um das der in Gründung begriffenen

30 a.a.O., S. 6. 31 a.a.O., S. 5. 32 Bryois, „Les trois derniers livres des Rougon-Macquart“, S. 3.

Saint-Julien aux puces 

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Groupe de Medan sowie um den gemeinsamen Verleger Charpentier und bildet damit die Matrix ab, aus welcher sich Zolas Werk speist. Selbst die in den schummrigen Salons des Zweiten Kaiserreichs mit ihren üppigen Dekors einiges gewohnten Zeitgenossen sind geradezu erschlagen vom ins Monströse übersteigerten „bric-à-brac romantico-médiéval de ces nouveaux riches“33. In ihrer mit großem Interesse an den Details der Zola’schen Häuslichkeit verfassten Biographie der Madame Zola wählt Evelyne Bloch-Dano sehr elegant das Feld des Essens, um die fragwürdigen Goûts zu diskutieren. Einen starken Magen attestiert sie dabei Edmond de Goncourt. Im Journal des nächsten Morgens bescheidet er der Einrichtung mit ihren Altarstücken über den Türen, dem „trône de palissandre massif portugais“34, einem mit rotem Samt gepolsterten Bischofsstuhl aus dem späten 17. Jahrhundert im Arbeitszimmer, den Kirchenfenstern im Schlafzimmer und nicht zuletzt den „saintes verdâtres aux murs et aux plafonds“35, den grünlichen Heiligen der Wandbehänge, die – man ist versucht zu übersetzen etwas blass um die Nase – von der tourangeser Bildwirkerei blicken, nicht mehr als ein wenig Exzentrik. Im Anschluss an ein Lob der reichhaltigen Mahlzeit fasst er zusammen: „tout un mobilier d’antiquaillerie ecclésiastique“36. Das Schicksal der Neureichen, ihr unheilbar schlechter Geschmack, in diesem Fall gewürzt mit sonderbaren Andachtsstücken. Paul Alexis wird die Faiblesse für hoffnungslos aus der Mode gekommene Inventarstücke der romantischen Salons mit einem vagen Hinweis auf Balzac zu erklären versuchen: „Balzac dit quelque part que les parvenus se meublent toujours le salon qu’ils ont ambitionné autrefois, dans leurs souhaits de jeunes gens pauvres.“37 Edmond Lepelletier übernimmt den Passus in seiner Zolamonographie von 190838, erachtet es aber für angebracht, den Verweis gewissermaßen aufzulösen. In dieser Form findet sich die Episode weitgehend unverändert bis in die aktuellere Auseinandersetzung tradiert: Es handle sich um Balzacs ruinösen Parfümeur aus der Touraine, César Biroiteau von 1837 und den „salon blanc et or de l’architecte Grindot“.39 Zola dürfte Alexis auch so sehr gut verstanden haben. Möglicherweise ist es die große Zahl relativ früher und durch persönliche Autorität oder mittelbare Zeitzeugenschaft gedeckt einleuchtender wie belastbarer Erklärungen, die eine spätere, kritischere Auseinandersetzung mit der Episo33 34 35 36 37 38 39

Evelyne Bloch-Dano, Madame Zola, Paris: Grasset, 1997, S. 121. Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 773. ebd. ebd. Alexis, Émile Zola, S. 178. Edmond Lepelletier, Émile Zola. Sa vie, son œuvre, Paris: Mercure de France 1908. Lepelletier, Émile Zola, S. 160 f.

8  Am Schreibtisch

de müßig macht und damit gewissermaßen symptomatisch für die Zolaforschung wird. Ausgehend von Paul Alexis, Fernand Xau und Edmond Lepelletier ist sein Bild bis in die jüngste Zeit geprägt von den teils unkommentierten Verkürzungen persönlich eingefärbter Porträts und der vom Autor selbst in theoretischen Abhandlungen, Entwürfen, Briefwechseln und Lebenszeugnissen komponierten Inszenierung. So eint die Literatur vor allem ein Blick, der den mobilier der Wohnung wie der Rougon-Macquart einmütig als Cento erkennt: aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, die ihre ursprüngliche Bedeutung weitgehend verloren haben, leicht aufzulösen in der Überkompensation eines alten Minderwertigkeitskomplexes des jungen Künstlers. Die fromme Bildwirkerei aus Aubusson steht gleichberechtigt neben profaner Zinnware, Altarstücke neben einer niederländischen Kredenz. Noch am wichtigsten in der Liste der endlich erfüllten Jugendträume erscheint von Alexis bis Brown gar die Erwähnung eines Kochgeschirrs von 1830 und zeigt auf demselben Weg wie Alexis’ Balzac-Vergleich das diskursive Übergewicht der frühen Zola-Forschung, die, zum Teil mit von ihrem Gegenstand selbst autorisierten Erkenntnissen, in jedem Fall gelenkt und engagiert das Bild in kanonischen Versatzstücken dominiert. Erst 1997 wird Bloch-Dano in einer kleinen Anmerkung der „tonalité gothique et réligieuse“40 der Wohnung in der rue de Boulogne eine besondere Rolle einräumen. Weist sie doch mit der Bemerkung, dass „[c]ette religiosité participe à la fois d’un détournement un peu impie“41 auf einen Bruch hin, der Flaubert zum Abgrund wird. Der nämlich vermag in dem bizarren Sammelsurium dieser ersten repräsentativen Wohnung mehr zu erkennen als zusammengeworfene Residuen der Romantik „des premières années“ und die Erfüllung alter Träume „de notre naturaliste d’aujourd’hui“42. Stattdessen erblickt er ein zentrales Moment des Zola’schen Wirkens, die Triebfeder seines eigenen Werks, den ständig zwanghaft aktualisierten Subtext dieses 19. Jahrhunderts: Während Goncourt das gute Essen lobt, über das Daudet sich lustig macht, erscheint Flaubert in den Vitraux des Schlafzimmers der Albtraum seiner durchkreuzten Moderne. Im Angesicht der monströsen Bettstatt schweigt Goncourt, irritiert von so viel unbeholfenem Luxus und gut genug erzogen den Mund zu halten. Nicht so Flaubert. Alexis überliefert den Ausruf: „J’ai toujours rêvé de dormir dans un lit pareil … C’est la chambre de Saint Julien l’Hospitalier!“43 Goncourt wird dies vielleicht ein Anlass mehr sein, am nächsten Morgen zu vermerken, Flaubert sei ein wenig betrunken gewesen. Alexis belässt es bei dem ersten Teil der Aus40 Bloch-Dano, Madame Zola, S. 122. 41 ebd. 42 Alexis, Émile Zola, S. 178. 43 ebd.

Saint-Julien aux puces



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sage und sieht vor allem einen „pauvre Flaubert“, dem inmitten der „étranges et somptueuses vieilleries“44 das Herz des alten Romantikers blutet. Dass Flauberts Traum vom Königsbett, aus der Legende gerissen und in die Realität der Dritten Republik gestellt, wie die vor Jahresfrist veröffentlichte Julianslegende der Trois Contes zum Scheitern in der albtraumhaften Literalisierung drängt, erkennt er nicht. Glimmten auf dem Juliansfenster des jungen Flaubert zwischen Chorseitenschiff und letztem Seitenschiffjoch von Notre-Dame de l’Assomption in Rouen im fahlen Nordlicht nur ein paar rote Scherben wie ausgeglühte Kohle, so erfüllen die fast senkrecht einfallenden Strahlen der tiefstehenden Frühjahrsabendsonne die Chambre der Zolas „somptueuse comme l’oratoire d’un roi“45 nun mit Feuerzungen. Im Schein der Vitraux transzendiert das von historistischem Geschmeide und aus der Mode gekommenem Luxus überquellende Appartement zum ein Jahr zuvor veröffentlichten Herzstück des Flaubert’schen Spätwerks, der letzten vollständigen Publikation vor seinem Tod im Frühjahr 1880. Die oberflächlich naheliegende Ähnlichkeit der Raumausstattung mag dabei die Bedeutsamkeit der Refernz kaum auszuschöpfen: Flaubert dekoriert nicht. Das Schlafzimmer in der rue de Boulogne, so sehr oder so wenig es auch dem des heiligen Julian nachgebildet sein mag, erinnert, wie nun Lepelletier, Brown und Bloch-Dano übereinstimmen, vor allem an die Romane Zolas: „Quant à l’entassement et la profusion des détails, ils sont bien dans sa manière: qu’on songe à son goût de l’énumération déscriptive. La sobriété n’a jamais été sa qualité dominante.“46 Warum nun aber Sankt Julian und nicht Aristide Saccard, warum die Trois contes und nicht Les Rougon-Macquart? Stellen hätte es, um nur eine anzuführen, in ausreichender Zahl und überzeugender Eindringlichkeit gegeben: Sur le parquet, un tapis d’Aubusson étalait ses fleurs de pourpre. Le meuble de damas de soie rouge, les portières et les rideaux de même étoffe, l’énorme pendule rocaille de la cheminée, les vases de Chine posés sur les consoles, les pieds des deux tables longues ornées de mosaïques de Florence, jusqu’aux jardinières placées dans les embrasures des fenêtres, suaient l’or, égouttaient l’or. […] C’était comme un ruissellement de rayons adoucis, un coucher d’astre s’endormant sur une nappe de blés mûrs. À terre, la lumière se mourait sur un tapis d’Aubusson semé de feuilles sèches. Un piano d’ébène marqueté d’ivoire, deux petits meubles dont les glaces laissaient voir un monde de bibelots, une table Louis XVI, une console jardinière surmontée d’une énorme gerbe de fleurs, suffisaient à meubler la pièce. Les causeuses, les fauteuils, les poufs, étaient recouverts de satin bouton d’or capitonné, coupé par de larges bandes de satin noir brodé de tulipes

44 ebd. 45 Gustave Flaubert, La légende de Saint Julien l’Hospitalier, in: ders., Trois contes (Œuvres II), hg. v. A. Thibaudet/R. Dumesnil, Paris: Gallimard 1952, Bd. 2, S. 624. 46 Bloch-Dano, Madame Zola, S. 122.

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voyantes. Et il y avait encore des sièges bas, des sièges volants, toutes les variétés élégantes et bizarres du tabouret. (CU 348)

Eine Welt der bibelots. Der Kosmos der Rougon-Macquart kennt augenscheinlich mehr unterschiedliche Einrichtungsgegenstände als Flauberts Julianslegende Wörter und droht, wie Bloch-Dano ergänzt, spätestens in den bibelots „de tous les peuples et de tous les siècles“47 der repräsentativen Wohnung von Pierre und Henriette Sandoz in l’Œuvre 1885 endgültig mit der Lebenswirklichkeit in der rue de Boulogne zu verschwimmen. Le salon, qu’ils achevaient d’installer, s’encombrait de vieux meubles, de vieilles tapisseries, de bibelots de tous les peuples et de tous les siècles, un flot montant, débordant à cette heure, qui avait commencé aux Batignolles par le vieux pot de Rouen, qu’elle lui avait donné un jour de fête. Ils couraient ensemble les brocanteurs, ils avaient une rage joyeuse d’acheter; et lui contentait là d’anciens désirs de jeunesse, des ambitions romantiques, nées jadis de ses premières lectures; si bien que cet écrivain, si farouchement moderne, se logeait dans le Moyen Âge vermoulu qu’il rêvait d’habiter à quinze ans. Comme excuse, il disait en riant que les beaux meubles d’aujourd’hui coûtaient trop cher, tandis qu’on arrivait tout de suite à de l’allure et à de la couleur, avec des vieilleries, même communes. Il n’avait rien du collectionneur, il était tout pour le décor, pour les grands effets d’ensemble; et le salon, à la vérité, éclairé par deux lampes de vieux Delft, prenait des tons fanés très doux et très chauds, les ors éteints des dalmatiques réappliqués sur les sièges, les incrustations jaunies des cabinets italiens et des vitrines hollandaises, les teintes fondues des portières orientales, les cent petites notes des ivoires, des faïences, des émaux, pâlis par l’âge et se détachant contre la tenture neutre de la pièce, d’un rouge sombre. (Œ 323 f.)

In der Wiederaufnahme der crémaillère vom dritten April 1878 reiht sogar Zola selbst sich hinter Paul Alexis ein und übernimmt dessen Interpretation als Diagnose, die mit dieser Rückendeckung die Diskurshoheit erlangen wird. Warum nun aber stellt Flaubert nicht diesen naheliegenden und sich seit dem Porträt von ’68 anbahnenden Zusammenhang her, sondern wählt entgegen der Einschätzung, die fast alle Zeitgenossen eint, die Folie des Sankt Julian? Einen Hinweis gibt, wenn auch ohne näher darauf einzugehen, vielleicht wieder BlochDano, wenn sie nicht unhaltbar bemerkt, dass „après tout, un devant d’autel n’est pas fait pour se trouver dans une salle à manger.“48 Die Altarfront hat im Speisezimmer nichts verloren. Eine Beobachtung, die in ihrer schlichten Korrektheit keinesfalls zu unterschätzen ist. Der Altar, in der heiligen Messe Ort der Wandlung von Brot und Wein in die himmlische Speise, Leib und Blut Christi, der Altar als Zeuge der Gemeinschaft der Kirche im rituellen Mahl, wird hier sei-

47 Bloch-Dano, Madame Zola, S. 123. 48 a.a.O., S. 122.

Saint-Julien aux puces 

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ner mystisch-allegorischen Bedeutung entkleidet, zum Küchenbild über dem Esstisch. Brot bleibt Brot, Wein bleibt Wein und aus der Hammelkeule wird kein agnus Dei. Ähnlich gelagert ist die Situation im Schlafzimmer. Weder Rebekka am Brunnen, noch Barbara im Turm, die von den Fenstern blicken, täuschen darüber hinweg, dass dies nicht die Hauskapelle, dass dies trotz kostbarem prie-Dieu nicht Bet-, sondern Bettstatt ist. Wie das Herrenmahl zur Herrenrunde, die cène zum dîner verbuchstäblicht, so wird auch hier das Bild im Buchstaben affirmiert. Die allegorische Caritas zum gewissermaßen selbsterklärenden Eros, die romantisch-mittelalterlichen Liebeskonzepte der Aubussons zum – wenn seit 1870 auch gottlob endlich ehelichen – Sex. Diese körperliche Liebe wird, nur um Flauberts Unbehagen posthum noch recht zu geben, niemals legitime Früchte zeitigen: Zolas Erbe antreten werden in den Nachkommen Denise und Jacques Émile-Zola zwei uneheliche Kinder. In den vier Zimmern des Appartements vollzieht sich mehr als die Zurschaustellung des ausgewählt schlechten Geschmacks Emporgekommener. Bei allem dekorativen Chaos erblickt man in den raumgreifenden Schilderungen der Rougon-Macquart wie im Bric-à-brac der Wohnung, wohin man sieht, eine so klare wie beunruhigende Struktur, die Barbara Vinken nicht nur in der Légende de Saint Julien l’Hospitalier als zentrales Moment in Flauberts Kosmos identifiziert: Der unheilbare Bruch im einstigen Zusammenklang von Kirche und Welt, der, je deutlicher er im Fortgang des 19. Jahrhunderts zutage tritt, umso heftiger geleugnet wird. „Im Mittelpunkt der Geschichte des heiligen Julian steht das augustinische Problem der beiden Reiche: der civitas Dei und der civitas terrena. […] [Doch] anders als es die traditionelle Augustinusrezeption will, ist es die Illusion des Herrschers der civitas Dei auf Erden, die Flaubert auszutreiben sucht.“49 Das Nebeneinander von Kirchboden und römischem Bad, Heliotrop und Basilikum im elterlichen Schloss Sankt Julians spitzt sich im Zola’schen Hauhalt zu, der von einem ausgehölten Gottesstaat kohabitiert Flaubert in albtraumhafter Dissonanz erscheint. Ein Monument wie aus Flauberts Feder: Zolas „trône“50 aus massivem Palisander, den Goncourt für eindrucksvoll genug erachtet ihn als solchen zu benennen und den der Korrespondent des Philadelphia Bulletin zustimmend als „enormous“51 bedenkt. Evelyne Bloch-Dano wird den weltlichen Herrschersitz um die klerikale Komponente des „siège“52 ergänzen. Damit aber ist das augustinische Problem bereits genannt, das Barbara Vinken als zentrales Moment der Julianslegende ausweist: „Im Signifikanten49 Barbara Vinken, Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt/Main: Fischer 2009, S. 421. 50 Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 773. 51 „Zola’s Paris Home“, S. 102. 52 Bloch-Dano, Madame Zola, S. 121.

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material der Legende und auch im Bewusstsein der Protagonisten scheint die civitas Dei auf Erden wahr geworden. […] Kirche und Welt sind in schönster Eintracht. […] Und doch erscheinen alle drei Bereiche – Kirche, Haushalt, Ehe – bei Flaubert ausgehöhlt, nichts als stereotype Schalen bürgerlicher Ideologie.“53 Wenn auch nicht Schloss-, so zumindest Hausherr, trennt Zola wie Julians Vater dem bürgerlichen Stereotyp entsprechend erotische aventures mit der jungen Jeanne Rozerot vom repräsentativen Ehestand mit der mütterlichen Alexandrine, der Sitte des weit fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts gemäß in der Synchronität eines mehr oder minder offenen Doppellebens. Der Zola’sche Haushalt erscheint, wenn auch ungleich weniger sublim als das Elternschloss Julians, von derselben „sexuelle[n] Selbstverleugnung“54 gezeichnet, als gleichsam ungelenke Verbeugung vor Rousseau und Michelet, die das Heim zum Kloster ohne Gott machen. Weniger die Einrichtung, als die in ihr manifest gewordene Substruktur der Julianslegende lässt Flaubert im Schlafzimmer Zolas vor Schreck zusammenfahren. Wie Julians Taubenlampe ist auch die zusammengekaufte Heiligkeit der Wohnung in der rue de Boulogne nicht vom Geist beseelt, spricht nicht vom „Wahrwerden des Gottesstaates auf Erden“55, sondern in „auswendig, mechanisch, klischiert, [v]orformulierte[n]“56 Versatzstücken einer romantisch-historistischen Vision des Mittelalters von der „allen Geist verdinglichende[n] Welt der Bürgerlichkeit, […] gezeichnet von Warenfetischismus und toter Mechanik“, dem verbuchstäblichten Heil im Zeichen des Naturalismus.

Naturalismus unterm Kreuz? Zolas Naturalismus, seine Unmittelbarkeit, Bilderlosigkeit und Laizität, die er mit prophetischem Sendungsbewusstsein in die Welt trägt, scheint wie die Umgebung, in der dieser als Teil einer großen Inszenierung entsteht, von Anfang an gebrochen in der tonalité réligieuse, der antiquaillerie ecclésiastique, dem predigenden Ton und quasireligiösen Habitus, mit welchem der Autor seine Forderungen vorträgt, sein Wirken inszeniert. Damit bringt er den Exegeten regelmäßig in Nöte, der sich gezwungen sieht, bei der Betrachtung des Zola’schen Œuvres nicht zu genau hinzusehen, es nicht zu streng auf die ihm vorausgegangenen Ankündigungen abzuklopfen, ihn eben nicht wörtlich zu lesen, sondern sich auf die gelenkten Vorlagen der 1880er-Jahre zu berufen, die der Allgegen53 54 55 56

Vinken, Flaubert, S. 422 f. Vinken, Flaubert, S. 423. Vinken, Flaubert, S. 424 f. Vinken, Flaubert, S. 425.

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wart des Heilsinventars nicht mehr als dekorative Funktion beimessen, oder den Autor, seine Person und Perspektive schlicht zu doppeln. Winfried Engler bedenkt den Zola’schen Naturalismus schon im ersten Satz seiner Hinführung zu 100 Jahre[n] Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte als „strengen, wenngleich nicht in allen Aspekten kohärenten […] Erkenntnishorizont“57, der, „an der positivistischen Soziologie, den Evolutionstheorien und der experimentellen Pathologie“ ausgerichtet, dennoch immer wieder in den Ruch kommt, „mit den einfachen mythischen Kontrasten von Jung und Alt, Licht und Dunkelheit, Beute und Verlust, Belohnung und Bestrafung, Begierde und Frustration, Fortschritt und Rückschritt, Neugeburt und Opfertod“58 zu operieren. Der mythische, wahlweise mythologische Zola ist seit frühesten Besprechungen etwa Gustave Lansons, durch prominente Exegeten – darunter Gustave Flaubert und Thomas Mann – und seit Hellmuth Petriconi kanonischer Zugang, der von Köhler über Gumbrecht bis in die jüngste Auseinandersetzung wie Auguste Dezalay ebenso wie Friedrich Wolfzettel zeigen59 in beeindruckender Vielfalt gewählt wird. So scheint Zolas Erzählweise als alternatives „Anschauungsmuster der […] die Anthropologie physiologisch vermessenden Wissenschaftstheorien“, während „bei Victor Hugo in Les misérables und Quatrevingt-treize das heilsgeschichtlich ausgelegte Erzählen kulminiert“, diesem als maximal entgegengesetztem mindestens in ihrer „monumentalen Sinnbildlichkeit“60 durchaus vergleichbar: „Zolas Roman bewahrt, in der Phase epistemologischer Zersplitterung der wissenschaftlichen Disziplinen, als anders denn in der Phantasie des Erzählers Vernetzungen des partiell Erkannten und Erfahrenen nicht mehr möglich zu sein scheinen, einen Rest von zeitgeschichtlicher Übersicht“61 und lässt in seinem von Lukács zum hundertsten Geburtstag des Autors als eindimensional verkürzt und fiktional entschärft bedachten62, nun als „Fabeln“ explizit wieder dem traditionellen Erzählen zugeschlagenen Werk die naturalistischen „Brennpunkte der Evolutions- und Milieutheirie“ als ihrem Wesen nach ferne „Fixsterne“ lediglich „flackern“.63 57 Winfried Engler, „Nach Zola den Naturalismus denken“, in: ders. und Rita Schober (Hg.), 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte, Tübingen: Narr 1995, S. 9–13, hier S. 9. 58 ebd. 59 Auguste Dezalay, „Le Mythe de Zola et la réception des Rougon-Macquart“, in: Engler/Schober, 100 Jahre Rougon-Macquart, S. 53–63; Friedrich Wolfzettel, „Zur Geschichte und Vorgeschichte des Mythenbegriffs in der Zola-Kritik“, a.a.O., S. 65–79. 60 Engler, „Nach Zola den Naturalismus denken“, S. 10. 61 ebd. 62 Georg Lukács, Zum hundertsten Geburtstag Zolas, in: ders., Balzac und der französische Realismus, Berlin: Aufbau 1952, S. 88–100. 63 Engler, „Nach Zola den Naturalismus denken“, S. 10.

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Deutlicher weist bereits Erich Köhler den die „doppelgleisige und sich in Widersprüche verstrickende“64 Natur- und Sozialgeschichte einer Familie und des Zweiten Kaiserreichs strukturierenden „Mythos des Untergangs“65 für Nana ebenso nach wie Petriconi zuvor schon für La Débâcle66. Nana ist im Beinamen der Ischtar67 auslösende Metapher einer Übersetzungshandlung, die Paris zum Babel macht und in der Geschichte einer Kurtisane am Ende des Second Empire die „alte mythologische Motivtradition“ zugleich allegorisch inszeniert und dem Buchstaben nach abwickelt, mit der „von alters her das Thema Weltuntergang bestritten wird.“68 Das „einheitliche Grundthema der Rougon-MacquartSerie“ ist denn auch bald nicht mehr in den Sternen, bei Taine, Bernard und Prosper Lucas zu suchen, sondern im „Verfall und Untergang des Zweiten Kaiserreichs.“ Nach Petriconis Untersuchung bleibt für Köhler gar „kein Zweifel mehr darüber möglich, daß Zola dieses Thema mit mythologischen Weltuntergangsmotiven instrumentiert hat“, die in „mal andeutenden, mal breit ausgeführten Bildern und Symbolen“69 erscheinen. Bemerkenswerterweise holt Köhler den „homerische[n]“ Naturalismus des Petriconi’schen Zola, „der sich ins Symbolische steigert und ins Mythische wächst“70 im Rahmen seiner Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur recht unsanft zurück in einen oberflächlich, aufgestuckten Obskurantismus, dessen Identifikation als Instrument (Köhler) oder mit Rita Schober „gestalterisches Verfahren“71 allein Gumbrecht als „Selbstgenügsamkeit“72 der Einzelinterpretationen rügt. So macht sich Schober daran, in ihrem Beitrag zur Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte abseits der großen mythologischen Tableaus aus der Lateinstunde in „Bilderketten, rekurrente[n] Metaphern und leitmotivisch gebrauchte[n] Fahnenwörter[n] das mythische Substrat der Rougon-Macquart freizulegen: ein vor allem auf der Ebene der Beschreibungsmetaphorik […] den ganzen Zyklus durchwirkendes mythisches System“73, das sich 64 ebd. 65 Erich Köhler, Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert II, hg. v. Henning Krauß u. Dietmar Rieger, Stuttgart: Kohlhammer 1987, S. 166. 66 Hellmuth Petriconi, Das Reich des Untergangs. Bemerkungen über ein mythologisches Thema, Hamburg: Hoffmann und Campe 1958, S. 37–66. 67 Köhler, Vorlesungen/19.Jh. II, S. 167; Petriconi, Das Reich des Untergangs, S. 38. 68 Köhler, Vorlesungen/19.Jh. II, S. 167. 69 ebd. 70 Petriconi, Das Reich des Untergangs, S. 37. 71 Rita Schober, „Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte“, in: Engler/Schober, 100 Jahre Rougon-Macquart, S. 17–52, hier S. 39. 72 Hans Ulrich Gumbrecht, Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des RougonMacquart-Zyklus, München: Fink 1978, S. 37. 73 Schober, „Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte“, S. 39.

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eben nicht auf „poetische[s] Beiwerk“74 reduzieren lässt, sondern als „Manifestation epochenspezifischer Erfahrungsschemata“75 das Werk codiert. Umso bemerkenswerter arbeitet sich die Forschung einhellig, gleichwohl von Gleichnissen, Fabeln und Legenden mit den Reizwörtern und in der Sprache einer bis in vorchristliche Zeit christlich-allegorisch überprägten Lesetradition sprechend, am paganen Mythos ab, ohne die Heilsgeschichte als Vorlage der großen Transformationen Flauberts, Baudelaires und Michelets, wie ebenfalls gnadenlos verkürzt in einer unheimlichen Konjunktur der Volksfrömmigkeit als durchaus epochenspezifisches Erfahrungsschema im historischen Kontext näher zu betrachten. Geradezu exemplarisch arbeitet Erich Auerbach im Goncourtkapitel der Mimesis den in literaler Heilserwartung gebrochenen Naturalismus detailliert heraus, ohne ihn als solchen zu bennen. „Émile Zola ist zwanzig Jahre jünger als die Generation Flauberts und der Goncourts; er hängt mit jenen zusammen, wird von ihnen beeinflußt und getragen, hat vieles mit ihnen gemeinsam“76, bescheinigt Erich Auerbach im türkischen Exil dem Hundertjährigen und behält es sich im selben Federstrich vor, ihn sogleich wieder aus diesem Pantheon zu lösen. Zwar scheint auch Zola „nicht frei gewesen zu sein von Neurasthenie“ als für die Kunst des späten 19. Jahrhunderts obligatorisch aufgefasste pathologische Wehleidigkeit, jedoch „von Haus aus ärmer an Geld, an Familientradition, an Überfeinerung des Empfindens […] hebt [er] sich energisch heraus aus der Gruppe der ästhetischen Realisten“77, sucht seinen Platz in der abendländischen Tradition eben nicht zwischen Aristoteles und Augustinus. Auerbach unterscheidet im kontrovers diskutierten Zola’schen Œuvre zwei ästhetische Sphären. Vordergründig eine topische Ästhetik, „die literarische Form jenes groben Naturalismus, den man schon aus der flämischen und vor allem aus der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts kennt“ und à propos der Arbeiterkirmes in Germinal von 1888 „nichts als eine Trink- und Tanzorgie in den niederen Schichten des Volkes, wie man sie etwa auch bei Rubens oder Jordaens, bei Brouwer oder Ostade finden oder sich vorstellen kann.“78 Eine bunte Bauernorgie im aktualisierten Lumpenkleid des vierten Stands. Die starke Bindung Zolas an die bildende Kunst, wie sie bereits im Manet-Porträt zutage tritt und angesichts seines umfangreichen Schaffens als Urheber und Kritiker nicht all zu sehr verwundern sollte, findet mit Auerbach expliziten Niederschlag 74 Gumbrecht, Zola im historischen Kontext, S. 37. 75 ebd. 76 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/Basel: Francke 2001, S. 472. 77 ebd. 78 a.a.O., S. 473.

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im Prozess des Schreibens, wenn er präzisiert, „daß Zola augenscheinlich auf das rein Sinnliche des «literarischen Gemäldes» […] großen Wert gelegt hat, daß sein Talent […] entschieden malerisch inspirierte Züge verrät, zum Beispiel in der Fleischmalerei“79, in der das Inkarnat der zu „mamelles“ (G 1271) naturalisierten Frauenbrust das Blond von Hafersäcken annimmt, die chair „dorée dans l’épaisse fumée des pipes“ (ebd.) als viande zum Räucherschinken wird. „[K]urzum, man könnte einen Augenblick meinen, es entfalte sich vor uns nichts anderes als ein besonders kräftiger Vorgang niedersten Stils, […] [z]umal der Schluß des Absatzes, das wütende Blasen und wilde Tanzen, das den Fall eines Paares übertönt und verschlingt, […] die grotesk-orgiastische Note [gibt], die zu solchen farcenhaften Gebilden gehört.“80 Dem unterlegt findet Auerbach jedoch – und macht darin nicht weniger als die eigentliche Sprengkraft der Zola’schen Texte aus – eine geradezu heilige Ernsthaftigkeit, die sich in ihrer buchstäblichen Strenge der Leichtigkeit der Genremalerei entzieht. „Was sie mit Erregung erfüllte, war vielmehr der Umstand, daß Zola seine Kunst keineswegs als «niederen Stils» oder gar als komisch ausgab; fast jede Zeile von ihm verriet, daß das alles höchst ernst und moralisch gemeint sei; daß das Ganze nicht etwa eine Belustigung oder ein künstlerisches Spiel, sondern das wahre Bild der zeitgenössischen Gesellschaft sei,“ das in der „fast protokollarischen Sachlichkeit des Vortrags […] bei aller sinnlichen Vergegenwärtigung etwas Trockenes, Überdeutliches und fast Grausames enthält.“81 Der Topos der Genremalerei wird umgebildet zur Figur, in der die Motive des Textes, „[ä]rmliche und rohe Freuden; frühe Verderbnis und schneller Verschleiß des Menschenmaterials; Verwilderung des Geschlechtslebens und […] übermäßige Kindererzeugung“ vor einem Hintergrund aus „revolutionäre[m] Haß, der zum Ausbruch drängt“, „rückhaltlos versinnlicht“82 werden. Auerbach zeigt einen Naturalismus, dessen „Kunst des Stils […] es ganz aufgegeben [hat], in dem herkömmlichen Sinne angenehme Wirkungen zu erstreben; sie dient der unerfreulichen, bedrückenden, trostlosen Wahrheit.“83 Im gleichen Moment aber findet er die Wahrheit um der Wahrheit willen schon wieder instrumentalisiert „als Aufruf zum Handeln im Sinne einer sozialen Reform“84 vor, „den sinnlichen Reiz des Häßlichen“ umgebildet zum „Kern des sozialen

79 ebd. 80 a.a.O., S. 474. 81 ebd. 82 a.a.O., S. 475. 83 a.a.O., S. 475 f. 84 a.a.O., S. 476.

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Problems der Zeit“.85 „L’art pour l’art hat ausgespielt“86, allein: das Religiöse ist geblieben. Aus dem Hohepriester des Ästhetizismus wird ein Evangelist des neuen Menschen und der Arbeit, der „die sinnliche Suggestion des Häßlichen und Widerwärtigen“ ausnutzt, um in den mehr an deftige altfranzösische Farcen denn die komplexen Bildkompositionen des Réalisme erinnernden „Übertreibungen“ und „brutalen Vereinfachungen“ seiner „grobkörnige[n] und gewaltsame[n] Fantasie“ einer „materialistischen Psychologie“ den Weg zu bereiten, mit welcher er den „bloß ästhetischen Realismus der ihm vorausgehenden Generation“ hinter sich lässt und „aus den großen Problemen der Zeit“ sein Werk schafft.87 So steht der grobe Naturalismus der Niederländer und Flamen in dem Moment, da Zola ihn seiner topischen Genrehaftigkeit entkleidet, nicht etwa unverstellt und nackt da, sondern in ausgerechnet dem heiligen Rock, den abgestreift zu haben eine nicht unwesentliche Errungenschaft der neuzeitlichen Genremalerei darstellt. „Wenn Zola übertrieben hat, so hat er doch in der Richtung übertrieben, auf die es ankam, und wenn er eine Vorliebe für das Häßliche besaß, so hat er von ihr den fruchtbarsten Gebrauch gemacht.“88 In einer noch am ehesten volks-augustinischen Allegorese wird das Hässliche, Todgeweihte fruchtbar gemacht und gedoppelt in der Heilsperspektive eines aus eschatologischer Ferne in eine erwartbare Zukunft naturalisieten, revolutionären sensus anagogicus, der die von Auerbach jovial eingeräumten „Irrtümer von Zolas anthropologischer Konzeption“ und die allenthalben „klar zutage“ liegenden „Grenzen seines Genies“ im Nimbus „seiner künstlerischen, moralischen und vor allem geschichtlichen Bedeutung“ mit wachsender Distanz „zu seiner Zeit und ihren Problemen“89 heilt. Diese Studie unternimmt es, das Hauptwerk Émile Zolas, die Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire unvoreingenommen beim Wort zu nehmen und das Bild des Naturalismus um eine Perspektive zu erweitern, die sich so überraschend wie zwingend dem Buchstaben nach offenbart: Anhand der Betrachtung vierer Romane aus dem Zyklus der Rougon-Macquart soll, jeweils unter einem Aspekt seiner Agenda verdichtet, exemplarisch aufgezeigt werden, wie der Zola’sche Naturalismus von den Formen, die er zu überwinden antritt, heimgesucht und letztlich inhibiert wird. Dabei vollzieht sich dieser Rückfall stets auf die gleiche Weise: Im Modus einer kurzschlüssigen Vereinseitigung des Schriftsinns. In der Verschweigung, Verdrängung, Verstümme-

85 86 87 88 89

ebd. ebd. ebd. ebd. a.a.O., S. 478.

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lung des sensus allegoricus, wird das mit großem Aufwand davonargumentierte Inventar der Heilsgeschichte als wichtigste Quelle traditionellen Erzählens dem gnadenlosen Literalsinn auf der Buchstabenebene wiedereingeschrieben, der durchkreuzt, kohabitiert von bilderloser Eigentlichkeit und literalisiertem Gnadenwort, in Schräglage gerät. Bedenken, die Arbeit operiere mit einem Allegoriebegriff, ohne diesem eine systematisch ausgeformte Theorie zugrundegelegt, oder die vergleichsweise stumpfe Definition zumindest an einem einschlägig vorexerzierten Tagungsband geschärft zu haben, sei vorauseilend entgegengehalten, dass die reflexartige Typologie des Romanzyklus um Auerbachs Jordaensvergleich mit Zolas eigenen Worten weiterzudenken den plakativen Allegorien Pieter Bruegels des Älteren gewissermaßen näher steht als den rhetorischen Finessen der Marzipanvenera Cabanels, der ihrem Wesen nach essenziell stumpfen Volksfrömmigkeit eines nach wie vor katholischen Frankreichs näher als den rhetorisch-ästhetischen Grabenkämpfen des späten 19. Jahrhunderts, dem von Katechismusunterricht und im Schlaf beherrschten Evangelien der Hochfeste regierten Alltag derer, die der Natur nach darzustellen Zola sich für sein Vorhaben als Gegenstand explizit wählt, zu jedem Zeitpunkt näher als Aurelius Augustinus. So scheint gerade die Herangehensweise vielversprechend, die den Text nicht aus musealem Ehrgeiz mit feinerem Besteck angreift als dem Federstrich, in welchem er verfasst ist. Anders als das hochreflektierte Ringen etwa Flauberts mit den bis in die Moderne reichenden Zwängen und Strukturen der Soteriologie wird die christliche Lehre in Zolas Kulturkampf unter katastrophaler Unterschätzung ihrer das Denken nach wie vor strukturierenden Persistenz explizit als tumbes, eindimensionales Herrschaftsinstrument verleugnet und kehrt im mythischen Substrat verständlicherweise nicht plötzlich ungemein viel raffinierter wieder. Die Antworten sind dort zu finden, wo der Text sie dem Buchstaben nach offenbart. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Baudelaires forêts de symboles und noch größerer, persönlicherer zu Gustave Flauberts durchkreuzter Moderne scheint die große abendländische Auseinandersetzung um die uneigentliche Rede – von Aristoteles bis Benjamin – um Haaresbreite an Zola vorbeizuführen, der sich nur der Eigentlichkeit verpflichtet als außerhalb der Tradition stehend davon nicht Betroffener begreift. Geradezu symptomatisch wird es der Balzac-Vergleich von Paul Alexis anlässlich der crémaillère zu einiger Bekanntheit bringen, während Flauberts Juliansoffenbarung bei allen Anwesenden ebenso symptomatisch auf Unverständnis stößt wie in der für diesen Aspekt bisher unzugänglichen Zolaforschung. Walter Benjamin nimmt – um von ihm nun doch nicht ganz zu schweigen, ihn gleichwohl aber mit seinen eigenen Worten weitgehend aus der diskursiven Mitverantwortung für die vorgelegte Studie zu entlassen – die Frage nach dem

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„Unterschied von Allegorie und Gleichnis“90 im 43. Zentralparkfragment zum Anlass, das vorgelegte Begriffspaar engzuführen mit den Autorpersönlichkeiten Baudelaires und Juvenals, die Dekadenz des Zweiten Kaiserreichs mit der seines Prototyps: Rom. „Das Entscheidende ist: wenn Baudelaire die Verworfenheit und das Laster schildert, so begreift er sich immer mit ein. Er kennt nicht die Geste des Satirikers.“91 Hier liegt das Problem des qua Definition jede Uneigentlichkeit leugnenden Naturalismus. Begreifen sich Baudelaire wie Flaubert am Ende einer Tradition stehend im Ringen um eine Moderne, die sich mit den auf sie gekommenen Verfahren nicht mehr greifen lässt, versucht sich der nachgeborene Émile Zola, über den Dingen und jenseits des Second Empire stehend – in Nana sogar ausdrücklich in der Tradition Juvenalis – an einem Neuanfang, der wie Baudelaires Juvenalzitat lassata, sed non satiata eingeholt vom eigenen Gegenstand letztlich zurückfällt in den Automatismus, den er zu bekämpfen antritt. Lukács ergänzt kongenial: „Einen künstlerischen Ausweg aus diesem Dilemma gab es jedoch für Zola nicht. Im Gegenteil. Je energischer seine Teilnahme an Parteikämpfen wurde, desto rhetorischer wurde seine Schreibweise.“92 So schreibt Zola mit seinem Evangelium der Rougon-Macquart predigend und fabulierend, Gleichnis für Gleichnis, Bild für Bild, die Heilsgeschichte neu: als gnadenloses Testament. Gedoppelt in der städtebaulichen Erneuerung eines zentralen Gedächtnisortes von Altparis durch Napoleon III. und seine Seinepräfekten gerät die Auseinandersetzung mit Hugo und dem historischen Roman unter der Losung des „faire du moderne“ ausgebreitet in sich überlagernden Folien der modernen und der mittelalterlichen Stadt im Ventre de Paris zum Versuch die überkommenen Erzählformen und narrativen Muster der Romantik mit aller Gewalt durch neue zu ersetzen. Deren zerstückelte und halbverdaute Restbestände jedoch, die in untilgbaren Denkmälern und Wegmarken auch die Blickachsen des neuen Stadtbilds dominieren, suchen den Naturalismus der erneuerten Erzählung heim und geben ihm eine Struktur, vor der die aufgestuckte impressionistische Fassade nicht überzeugen kann. Im Signifikantenkarussell der Nana, die jeden Versuch sich ihr beschreibend zu nähern als lächerlich entkleidet, fährt mit der translatio imperii des Zweiten Kaiserreichs die klassische Allegorese gegen die Wand. Jenseits aller Traditionen zugleich Venus und Muttergottes, Sünderin und Heilige, Katze und Hund, Apfel und Birne werden die Grenzen von innen und außen, Heiligem 90 Walter Benjamin, Zentralpark, in: ders., Gesammelte Schriften I/2, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 689. 91 ebd. 92 Lukács, Zum hundertsten Geburtstag Zolas, S. 97.

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und Infamem, Gestaltung und Entstaltung in der schlichten Formlosigkeit der Hauptfigur so gründlich beseitigt, dass die zweitausendjährige metaphorische Erzähltradition, ob Ovids formae mutatae93 oder Vergils translatio Troiae94 in der großen historistischen Gleichzeitigkeit aller Formen, Zeiten und Völker als translatio babylonis des Second Empire zum Stillstand kommt. Was bleibt, ist der nackte, entstaltende Buchstabe des Naturalismus, der im bordel in Nanas Klosterzelle das Tabernakel wörtlich zum bordello literalisiert, die Stiftshütte des alten Bundes als σκηνή zum Bühnenhaus auf dem Boulevard, der seine Grenzfunktion verloren hat und zwischen Repräsentation und Inszenierung nicht mehr unterscheidet. Dabei jedoch bleibt die Entschleierung der Nana revelatio, Paris erscheint als Babylon in ausgerechnet der petrischen Travestie des dekadenten Roms, das jenseits oberflächlicher Orientalismen schon auf dispositiver Ebene vor allem in biblischer Begriffsverwirrung deutlich wird. Als mit dem Tod der Nana in einer apokalyptischen Vanitasvision auch die Fassade des Second Empire einstürzt, ist klar, dass noch das Ende der translatio als Allegorie organisiert ist, allegorisch bleibt. Im explizit ausformulierten Kurzschluss des „remplacer le mot « médecins » par le mot « romancier »“95, der das Schöpfungsnarrativ der Genesis durch Claude Bernard und den physiologischen Diskurs ersetzen und das Schreiben zur Naturwissenschaft erheben soll, führt La Joie de vivre den Versuch des Literaten vor, zu den bahnbrechenden Erkenntnissen der Empirie im 19. Jahrhundert aufzuschließen und der eigenen Disziplin eine neue Grundlage zu geben. Zola bewegt sich als Romancier „sur le terrain de la physiologie et de l’histoire naturelle“96 und ist dabei mit Michelet und Taine in bester Gesellschaft. Während dem einen der von Pouchet entdeckte Eisprung kurzschlüssig als „suprême mystère d’amour et de douleur“ offenbar wird in der stigmatisierten Frau97, will der andere „en naturaliste“ die Geschichte Frankreichs wie die „métamorphose d’un insecte“98 betrachten, um am Ende doch wieder die göttliche Provenienz Napoleons „composé d’un autre métal“99 und nicht von dieser 93 Publius Ovidius Naso, Met. I, 1, in: ders., Metamorphoseon Libri XV., hg. v. Hugo Magnus, Berlin: Weidmann 1914, S. 5. 94 Markus Schauer, Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit, München: Beck 2007, S. 44. 95 Zola, Le roman expérimental, S. 2. 96 Hoche, „Émile Zola“, S. 400. 97 Jules Michelet, L’amour, Paris: Hachette 1870, S. 15 f. 98 Hippolyte Taine, Les origines de la France contemporaine. L’ancien régime (I) (= Bd. 1), Paris: Hachette 1902, S. VIII. 99 Taine, Les origines de la France contemporaine. Le régime moderne (I) (= Bd. 9), Paris: Hachette 1904, S. 5.

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Welt zu beweisen. Wie diese bleibt Zolas roman expérimental letztlich in den Begriffen und Strukturen der Heilsgeschichte hängen. Die paulinische joie wird in Bildern des Heils zur Tragödie des Naturalismus, dessen wissenschaftliche Methode scheiternd zurückfällt in die Mystik und sich als nichts herausstellt, „qu’une méthode de pure convention et de fantaisie.“100 In L’Œuvre schließlich als viertem, abschließendem Gegenstand der Untersuchung tritt Zolas Naturalismus ein in seine Spätphase, wenn der Autor im vorgeschützten Paragone nicht nur sich, sondern auch den immer nervöser geführten Kampf um die Erneuerung der Perspektive mit Claude und Sandoz seinem Werk gleich doppelt einschreibt, das nun endgültig zu schielen beginnt. Die bislang einzeln betrachteten Aspekte von im Halse steckengebliebener Romantik, remystifizierter Physiologie des Frauenkörpers und Abgesang auf eine untilgbare Bildlichkeit fügen sich unter dem Leitmotiv der vulnus/vulva – Trophäe des Naturalismus und Ikone der Christologie – zum Bild eines Naturalismus unterm Kreuz. Der Roman über die Kunst gerät zum Versuch über die Origine du monde, deren Metanaturalismus sich in unheilbarer Doppelsichtigkeit aufreibt. Der Maler wird, noch unfähig zum die allegorische Gleichzeitigkeit ersetzenden Paradigmenwechsel hin zur polyvalenten Perspektive von Kubismus und Surrealismus, am verbuchstäblichten sensus allegoricus des Symbolismus zugrunde gehen, während der Großschriftsteller im Triumph dem Fetischismus affirmierter Eigentlichkeit erliegt, im literalisierten Heilsbegriff seiner Manifeste den faschistischen Kurzschluss des 20. Jahrhunderts bereits antizipiert und so den Grund bereitet für die späten Evangelien, mit denen Zola sich endlich auch ausdrücklich das Versprechen zu erfüllen anschickt, das er auf Manets Porträt von 1868 einst gegeben hat.

100 Hoche, „Émile Zola“, S. 400.

Le Ventre de Paris – Lost in digestion Historisch? Zwischen Regalmetern generischer Nachttischunterhaltung erscheint im Jahr 2000 Émile Zolas Le Ventre de Paris in neuer deutscher Übersetzung und legt im Lübbe’schen Basteiverlag einen bemerkenswerten Auftritt hin. Frei aus der Reihe gegriffen erwählt der bergische Großverleger ausgerechnet in diesem den Roman Zolas, der einzig in sein illustres Programm zu passen scheint. Kein Wort über die skandalösen Erfolge von L’Assommoir und Nana. Ausgerechnet im vergleichsweise unscheinbaren dritten Teilband der Rougon-Macquart benennt der salbungsvolle Ankündigungstext das „wohl berühmteste Werk“ des Meisters, vertraut die Neuübersetzung jedoch – nicht ohne den Hinweis „die wichtigsten Ergebnisse der internationalen Zola-Forschung“ berücksichtigt zu haben – in Karin Meddekis gewissermaßen einer Überraschungskandidatin an. Dass diese in der internationalen Zola-Forschung einen Ruf durchaus nicht zu verlieren hat und vornehmlich mit Übersetzungen im Unterhaltungssegment auffällt, scheint dem Verlag keine Verlegenheiten zu bereiten. So kehrt Zola mit dem Bauch von Paris bald 130 Jahre nach Erstdruck auf den Feuilletonblättern des État ins Groschensortiment seiner Anfänge als Werber bei Hachette zurück. Das Bild wäre perfekt, der Kreis geschlossen, der Autor aus der Sternenferne der Pléiade-Ausgaben heimgeholt auf die unter Millionen Schritten widerhallenden Steinböden der Kopfbahnhöfe, die zeitgleich mit Louis Hachettes Bibliothèques des chemins de fer zur Hälfte des Jahrhunderts jene Kultur der Massen begründen, in der Zolas Erfolg als Großschriftsteller seinen Ausgang nimmt. Allein Meddekis belässt es nicht dabei, ergänzt den Bauch von Paris um einen denkwürdigen Titelzusatz und zwingt ihm unwillkürlich eine Lesart auf, die diesen rettungslos gegen sein eigenes Programm zu wenden droht: Émile Zola, Der Bauch von Paris, Historischer Roman1

Seine Agenda in den Bahnhofsbuchhandlungen noch ein Jahrhundert nach dem Tode vor den Turbae ausgebreitet zu erblicken würde ihm durchaus gefallen haben. Im Missbegriff jedoch, der das Paris der Moderne einhüllt in den Naphthalindunst schweinslederner Historienschinken, erscheint auf der Soft-

1 Émile Zola: Der Bauch von Paris. Historischer Roman, aus dem Französischen von Karin Meddekis, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 2000. Zitate aus dem Ankündigungstext nach http:// www.amazon.de/Der-Bauch-Paris-Historischer-Roman/dp/3404144147, 27.11.2015. https://doi.org/10.1515/9783110605334-001

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pappe des bunt bedruckten Buchdeckels ein Menetekel, das dem Urheber mit aller Bildgewalt zu übertünchen nicht gelingt. Ausgerechnet in seinem vielleicht impressionistischsten Roman, den Mihaela Marin als nichts weniger als „l’œuvre la plus « naturaliste » de l’époque“2 lesen möchte, stellt Émile Zola den Naturalismus vor einige Probleme. Les amples taxinomies descriptives, l’ordre structurel imposé par le déploiement de la nomenclature et de la liste encyclopédique constituent autant d’indices d’une perspective fragmentée du savoir, autant d’éléments de composition qui mettent en question l’unité de l’œuvre. De même que, de façon générale, un amoncellement de connaissances n’arrive pas à créer le système, la succession de détails […] constituant les vastes surfaces descriptives du roman, ne pourrait non plus assurer la cohésion du récit.3

In ausgedehnten Schilderungen, die zum Selbstzweck geworden die Gattungsgrenzen überwuchern, droht sich der roman naturaliste zu Tode zu siegen. Umso erstaunlicher, dass der Erzähler statt in der Bilderflut zumindest zu versuchen die Fliehkräfte des Naturalismus zusammenzuhalten, eine überraschend schwache Handlung vorstellt. Henri Mitterand identifiziert in den umfangreichen Vorarbeiten zum Roman eine „rédaction primitive“, die in unzähligen Reprisen „détruite“ und „par collage“ (VP 1609) von einer anderen ersetzt wird, ohne die Trümmer der vorherigen hinreichend zu beseitigen. In der disparaten Abfolge teils kaum zusammenhängender Ereignisse versagt diese Kollage als Strukturgarant. Der Roman versinkt im Durcheinander. Bereits sein Eintritt in die Reihe nimmt sich vergleichsweise chaotisch aus. In der ersten Titelliste der Rougon-Macquart von 1869 Lacroix gegenüber noch mit keinem Wort erwähnt, fällt die Idee zum Ventre wie Henri Mitterand vorschlägt „par correspondance de thèmes“ (VP 1610) mit dem Millionenhunger Saccards in La Curée und zugleich unter dem Eindruck des „charnier de Sedan“4 aus der Kulisse. Der erste Band der Histoire naturelle et sociale d’une famille war tatsächlich noch in weiten Teilen sous le Second Empire entstanden, der zweite da zumindest bereits „en chantier“5. So legt die Planänderung ausgerechnet 1871 nahe, den Ventre de Paris als Reaktion auf Krise und politischen Umbruch zu lesen: als erstes Kind der Dritten Republik wie diese eine Sturzgeburt. Eingedenk des Pariser Hungers während Commune und Belagerung wählt Zola im unter Napoleon III. fett gewordenen Bürgertum den größtmöglichen 2 Mihaela Marin, Le livre enterré. Zola et la hantise de l’archaïque, Grenoble: ELLUG 2007, S. 142. 3 Marin, Le livre enterré, S. 138. 4 Émile Zola, Dossier préparatoire du Ventre de Paris, B.N.F, Ms, NAF 10.338, f° 47r. 5 Émile Zola an Émile Laborde, 6. März 1871, B.N.F, Ms, NAF 28522 (1), f° 76r; vgl. überdies Mitterand zu La Fortune des Rougon, FR 1532 und La Curée, CU 1568 f.

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Kontrast zum Gegenstand seiner ersten im engeren Sinne historischen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Kaiserreich. In der Kopplung des Ventre mit dem Debakel von Sedan jedoch erscheint nur scheinbar eine Aktualisierung des Second Empire im Moment seines Untergangs, firmiert dieser doch unter dem Gedächtniswort charnier und weist damit statt voraus vielmehr zurück. Schon in den ersten Überlegungen zum Ventre wird das moderne Hallenviertel historisiert auf sein Fundament zurückgebeugt. Der Zeitstrahl der Histoire naturelle et sociale wird umgekehrt, wenn die „bedaine pleine et heureuse“6 der Bourgeoisie plötzlich nicht mehr dem Ende des Kaiserreichs entgegeneilt, sondern den Beinhäusern des cimetière des Innocents, auf die das Lemma „charnier“ von der ersten Edition des Dictionnaire an bis über die 1870er-Jahre hinaus pars pro toto referiert.7 Im Bild des weltberühmten Totentanzes aber erscheint eine andere Welt als die des naturalistischen Romans. Marin schlägt in ihrer geradezu archäologischen Durchsicht des Zola’schen Œuvres vor, dass dessen Text „réutilise graduellement, en les incorporant dans son tissu, les éléments fantastiques et mythiques des contes populaires racontés pendant les veillées.“8 À propos du ventre wird sie sogar noch deutlicher, identifiziert in der Volksmärchenstruktur das Ordnungssystem, das den Beschreibungswüsten des Naturalismus anstelle einer stringenten Handlung Struktur verleihen soll: „Car c’est la forme primitive du conte populaire que Zola adopte pour mettre en récit l’observation exacte et la perception fragmentaire du réel.“9 So ungeheuerlich die Vorstellung für den Naturalisten sein mag, die Einheit seines Werks nur mithilfe eingestreuten Märchenstoffs gewährleisten zu können, sie hat in der Rezeptionsgeschichte des Romans doch einige Tradition, der bald in den Ruch seines falschen Untertitels kommt. Seit David Baguleys À propos von 196810 ist Zolas Le Ventre de Paris, wie Elizabeth Emery am Rande ihrer Vergleichsstudie zu Zolas und Théophile Gautiers Mediävalismus zeigt, tatsächlich mit einiger Regelmäßigkeit zum Gegenstand von Untersuchungen geworden, die die impressionistischen Tableaus in der sagenhaften Vorstellungswelt des historischen Romans wenigstens spie-

6 Zola, Dossier préparatoire du Ventre de Paris, f° 47r. 7 siehe „CHAIR“, in: Dictionnaire de l’Académie françoise, 1ère édition, Paris: Coignard 1694, Bd. 1, S. 158; auch spätere Editionen werden diesen Verweis nicht tilgen, Littré in einem Voltairezitat auf die „charniers Saint-Innocent hinweisen“, siehe „CHARNIER“, in: Émile Littré, Dictionnaire de la langue française, Paris: Hachette 1872–77, Bd. 1, S. 567. 8 Marin, Le livre enterré, S. 45. 9 Marin, Le livre enterré, S. 142. 10 David Baguley, „Le Supplice de Florent: à propos du Ventre de Paris“, in: Europe 46/4–5 (1968), S. 91–96.

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geln. Pars pro toto in dem historischen Roman des 19. Jahrhunderts, Victor Hugos Notre-Dame de Paris. Zola’s lifelong admiration and hatred for Hugo and Romanticism have been treated in a number of articles examining the relationships between Notre-Dame de Paris and Le Ventre de Paris, in which Zola implies that Naturalism has killed Romanticism11

Marie-Sophie Armstrong arbeitet in einer minutiösen Gegenüberstellung Zolas und Hugos bis auf Morphemebene12 wie zuvor schon Baguley und Auguste Dezalay13 und eine ganze Reihe anderer heraus, was Zola im Dossier préparatoire bereits ausdrücklich benennt: „Il me faudrait dans l’œuvre un personnage épisodique, qui fût le Quasimodo de mes Halles“14. Was Marin als narrative Notwendigkeit ausweist, wird hier zum Selbstzweck. So erscheint der Ventre bald als reécriture15 des Hugo’schen Jahrhundertwerks von 1831: ob mit Ilinca Zarifopol-Johnston als Bachtin’sches „interplay“ zwischen der Romanoberfläche und Hugos Notre-Dame de Paris als „incorporated text“16 oder pessimistischer als Manifest einer Bloom’schen anxiety of influence, die den Autor „unable to come to terms with the overbearing figure of Hugo, the precursor“17 zeigt. Der Ventre schreibt den epochemachenden historischen Roman auf dem freien Feld des Naturalismus neu, durchbricht die mittelalterlichen Stadtbefestigungen und rückt den unter der 1482 bereits im Titel eingeschriebenen Anachronismus zurecht in die literarische Moderne. Dabei aber droht die diskursive Schwerkraft des übergroßen Victor Hugo, der von Guernsey heimgekehrt als fleischgewordene „royauté littéraire“18 das weit vorangeschrittene Jahrhundert nach wie vor zur Geisel hält, alle wissenschaftliche Beschäftigung auf dieselbe Bahn zu lenken. Zola selbst bietet in den mangels einer Bühne in Paris19 beleidigt-larmoyanten Briefen nach dem Petersburger Messager de l’Europe ausreichend Evidenz: „Les pieds […] au seuil du 11 Elizabeth Emery, „‚A l’ombre d’une vieille cathédrale romane‘: The Medievalism of Gautier and Zola“, in: The French Review 73/2 (1999), S. 290–300, hier S. 299 f. 12 Marie-Sophie Armstrong, „Hugo’s égouts and Le Ventre de Paris“, in: The French Review 69/ 3 (1996), S. 394–408. 13 Auguste Dezalay, „Ceci dira cela: remarques sur les antecedents du Ventre de Paris“, in: Les Cahiers Naturalistes 58 (1984), S. 33–42. 14 Zola, Dossier préparatoire du Ventre de Paris, f° 62r. 15 Dezalay, „Ceci dira cela“, s. 39. 16 Ilinca Zarifopol-Johnston, „’Ceci Tuera Cela’: The Cathedral in the Marketplace“, in: Nineteenth-Century French Studies 17/3–4 (1989). 17 Armstrong, „Hugo’s égouts“, S. 394. 18 Émile Zola, „Victor Hugo“, in: Messager de l’Europe (Vestnik Evropy) 12/4 (1877), zitiert nach ders., Documents littéraires. Études et portraits, Paris: Charpentier 1881, S. 43. 19 Zola, Le roman expérimental, S. I.

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siècle“20 und mit der Nase bald schon im nächsten sieht er den hoffnungslos aus seiner Zeit gefallenen, steinalten Hugo zur Juliausgabe 1877 nach wie vor auf seinem Thron. Ein halbes Jahrhundert nach der Bataille um Hernani ist es nun er selbst, „[qui] bouche actuellement l’avenir“, ist es Hugo, der dem „jeune poète“ nichts lässt „qu’à se courber et à se dire un simple disciple“.21 Es mag kaum verwundern, auf Basis solcher Aussagen aus erster Hand den jungen, neurasthenischen Zola geradezu besessen vom gehasst-bewunderten Vorgänger gelesen vorzufinden.22 Eine Befreiungsbewegung konstruierend stellt die Forschung den Ventre mit Blick auf Roger Ripolls einflussreichen Aufsatz von 1979 „Zola juge de Victor Hugo“23 als besonders beeinflusst vor, übergeht dabei jedoch die Tatsache, dass Zolas antihugolianische Polemik zu einer Zeit einsetzt, da der Autor den Unsicherheiten der frühen Jahre längst entwachsen sein sollte. So schreibt Bernadette Murphy bereits 1988 in „Zola critique de Hugo“24 Ripolls Analyse im Gegenteil fort als Geschichte der Radikalisierung: von Hugos Rückkehr aus dem Exil bis zu dessen Heimgang, von ästhetischen und politischen Divergenzen am Vorabend der Commune bis hin zum quasireligiösen Eifer, in der der Naturalist „exorciste et iconoclaste“25 den Götzen zu zertrümmern, Frankreich den Teufel auszutreiben trachtet, den es am 1. Juni 1885 unter den Augen Millionen Trauernder zu Grabe trägt. Den Umschlag von Opposition in Feindschaft markiert Murphy im Zusammenhang mit Zolas zunächst recht auswegloser „bataille littéraire“26 um das Jahr 1877 und damit in der Werkgenese der Rougon-Macquart vier Bände später. Im offen aggressiven Verhalten, das spätestens mit dem Porträt im Vestnik zutage tritt, droht die ästhetische Agenda fast vollständig unterzugehen, doch finden sich im vom „maître vénéré“27 Victor Hugo geradezu inkubierten, ätzenden Porträt Théophile Gautiers noch zwei Jahre später Spuren einer nicht in erster Linie persönlichen Auseinandersetzung mit dem Historismus der Romantik. Inmitten des posthumen Gifts, das Zola über den 1872 in der Abschlussphase des Ventre verstorbenen, letzten Cénaclisten im Rahmen seines unterkühlten Grabbesuchs ausgießt, erscheint die Gautierkritik mit einem Mal wie ein Zitat aus 20 Zola, „Victor Hugo“, S. 43. 21 a.a.O., S. 43 f. 22 Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 186 u. 514. 23 Roger Ripoll, „Zola juge de Victor Hugo“, in: Les Cahiers Naturalistes 46 (1973), S. 182–204. 24 Bernadette L. Murphy, „Zola critique de Hugo. Les enjeux d’une polémique“, in: The French Review, 61/4 (1988), S. 531–554. 25 Murphy, „Zola critique de Victor Hugo“, s. 531. 26 Zola, Le roman expérimental, S. I. 27 Émile Zola, „Théophile Gautier“, in: Messager de l’Europe 14/7 (1879), zitiert nach ders., Documents littéraires, s. 145.

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dem sieben Jahre zurückliegenden Romanvorhaben: „[Il] nous promenait en Orient et nous enfermait dans les villes du moyen âge.“28

Der revolutionäre Magen Im Widerstand gegen die Mauern und Straßen von Altparis ist Zolas ästhetisches Programm dem Ventre in Text und Stadtraum eingeschrieben. Er sagt Hugo den Kampf an, ist Marin folgend auf diesen, auf die krummen Wege und alten Steine als Strukturgeber jedoch weiter angewiesen. Neben die contes tritt die Stadt nun selbst als große, einheitsstiftende Erzählung. So wählt sich der Erzähler im neuen quartier des Halles, dem Zentrum des modernen Paris auf historisch schwerstbelastetem Boden eine symptomatische Bühne. Programmatisch erscheint ein Satz, den er noch in der Exposition seiner Identifikationsfigur, dem Freiluftmaler Claude Lantier, in den Mund legt: „On devait flanquer les vieilles cambuses par terre et faire du moderne.“ (VP 624) Durch die Augen des Malers erblickt Zola sein literarisches Anliegen im Stadtraum ausgebreitet. Angesichts einer vergleichsweise konventionellen Vedute hin- und hergerissen zwischen „eau-forte pas trop mauvaise“ (VP 618) und „faiblesse“ (VP 624) bekräftigt sich der sehr wohl vom Altpariser Zauber affizierte Claude in seiner Déblatérage „contre le romantisme“ vor allem selbst und beteuert für die frühen 1850er-Jahre recht avantgardistisch „[qu’]il préférait ses tas de choux aux guenilles du Moyen Âge“ (VP 624). Dass Kohl allein als Kunstform dauerhaft nicht trägt, mag man bereits vermutet haben, wenn nur Zeilen später die „soupe aux choux“ als „diablesse“ (VP 624) buchstäblich zum Himmel stinkt. Zehn Bände später in der Reihe, in L’Œuvre, wird man den Verdacht schließlich bestätigt finden. So erscheint noch in diesem Manifest des Naturalismus bereits eine zentrale Unsicherheit. Zola weist diese vordergründig in das für ihn ungefährliche Feld der Malerei aus und antizipiert den Paragone, in welchem er den unterlegenen Maler 1885 dem Triumph des Großschriftstellers opfern wird. Allein diese Kulisse will nicht halten, wenn im Kernsatz der Episode die schwerwiegenden Einwände Flauberts gegen die Moderne nur allzu deutlich durchscheinen und das Manifest des Naturalismus verdeckt zitiert durchkreuzen: Am 15. Juli 1861 schreibt der andere Übervater Émile Zolas und eines literarischen Jahrhunderts verzweifelt über das dreizehnte Kapitel seiner Salammbô und gleichsam selbst belagert von den Heeren der Antike an Ernest Feydeau. Trotz aller Zweifel und Verbitterung über diesen Abgesang auf den historischen Roman kann er nicht davon lassen. 28 Zola, „Théophile Gautier“, S. 157.

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Quant à suivre les conseils du père Sainte-Beuve, « ménager la chèvre et le chou, mettre de l’eau dans son vin, s’arranger en un mot pour réussir près du public », c’est trop difficile et trop chanceux. Tu sais qu’il me prêche, de mon côté, pour faire du moderne. Eh bien! sais-tu ce que je rêve, maintenant? Une histoire de Cambyse.29

Statt auf den Rat Sainte-Beuves zu hören, der ihm die Moderne predigt, träumt er, noch im karthaginensischen Albtraum gefangen, bereits vom nächsten: Alexander und Kambyses. Zehn Jahre später sieht Zola Sainte-Beuves Programm des faire du moderne durch die Augen des Impressionisten manifest verwirklicht in der Hauptstadt Napoleons III., wo Haussmann sich mit Nachdruck daran macht die letzten mittelalterlichen Mauern zu beseitigen, in die Gautier den Leser einzusperren jener beklagt. Wie zum Hohn erst unter einem neuerlichen Kaiser schickt sich der seit dem Vernunftregime der Revolution erste Arrondissement nun endlich an die Kathedrale der alten cité städtebaulich zu beerben und das Zentrum zu werden, als das er auf dem Papier seit der Stadtstrukturreform von 1795 firmiert. Der noch in der Gotik konservative Bau von Notre-Dame wird in seiner reécriture buchstäblich zur Seite geschoben und ersetzt durch die kühnen Bögen der noch nicht einmal fünf Jahre (VP 609 f.) alten Eisen- und Glaspaläste Victor Baltards. Allein der Erfolg dieser Methode beginnt bereits zu bröckeln, wenn die im Dossier préparatoire zentral angelegte Mitübersetzung des ikonischen Glöckners, mit dem Hugo die Kathedrale 1831 für alle Zeiten zwangsbeglückt hat, grandios scheitert. De tous les autres personnages, il ne dessina tout d’abord que le plus symbolique: ce jeune garçon dont il voulait faire « le dieu de la Halle » . (VP 1616)

Auf den Blättern des Dossiers mag man, wie Henri Mitterand in seiner Studie zum Roman zusammenträgt, die Bedeutung des „jeune garçon réaliste“30, der als „création tombée des voûtes de la Halle“31 geradezu prototypisch vorstellt, was Mihaela Marin als „éléments fantastiques et mythiques des contes populaires racontés pendant les veillées“32 identifiziert, kaum groß genug erachtet haben. Doch meldet Mitterand, wenn dieser Junge es letztlich als Marjolin in den definitiven Text schafft, mit einigem Recht Bedenken an dessen Natur als Gott der Halle an, der den Roman zusammenhalten soll. So ist er sehr präsent, stolpert aus jedem Kellerloch, turnt allenthalben hinter einem Eisenträger her29 Gustave Flaubert an Ernest Feydeau, 15 Juli 1861, in: ders., Œuvres complètes. Correspondance, hg. v. René Dumesnil, Jean Pommier u. Claude Digeon, mit einem Vorwort von Caroline Grout, Paris: Conard 1926–1930, Bd. 4, S. 442 f. 30 Zola, Dossier préparatoire du Ventre de Paris, f° 62r. 31 Zola, Dossier préparatoire du Ventre de Paris, f° 75r. 32 Marin, Le livre enterré, S. 45.

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vor, wird im Moment, da er in ernsthafte Interaktion mit der Agentin des Romans, der Metzgerin Lisa Macquart, tritt und der Handlung zur Hälfte eine Wende geben könnte, von dieser eiskalt mutiliert und intradiegetisch ruhiggestellt zum „idiot“ (VP 1617). Zum Romanfortgang hat er anders als der Glöckner außer Episodischem nichts beizutragen. „Florent lui demanda ce qu’il voyait là-haut. – C’est ce diable de Marjolin“ (VP 625)

Mehr Schatten als Inkorporation Quasimodos und „détach[é] en pleine fantaisie sur les autres figures réelles“33, von gänzlich anderem Stoff als die übrigen Statisten des Zola’schen Theaters, deren Realität er nur so beiläufig streift, dass diese selbst ihn nur im Augenwinkel wahrzunehmen scheinen, gerät im dieu de la Halle der eingeschriebene Victor Hugo zum Schachtelteufel. Mitterand drückt es vorsichtig aus, wenn er von einer Modifikation der Proportionen spricht, in der Zola „les thèmes, les personnages et les structures de son roman“ (VP 1617) solange überarbeitet, die Intrige um die schöne Metzgerin und den im Fleische auferstandenen Florent so lange bereichert, bis außer wenigen aus dem Text ragenden Handlungsrümpfen von der reécriture Hugos nichts bleibt als ein Hintergrundprozess, der notorisch alles Überkommene zu aktualisieren versucht. Der vor allem Bedeutungslosigkeit produzierenden „machine naturaliste zolienne“34 entgegen steht Marins Elementen des traditionellen Erzählens im übersetzten Stadtraum ein Bedeutungsgenerator zur Seite, der die raumgreifenden Schilderungen in ein kaum durchschaubares diachrones Referenzsystem einpflegt und den Naturalismus so von innen heraus strukturiert. Während die Glöcknerhandlung spätestens zur Hälfte des Romans im Sand verläuft, erweist sich das quartier des Halles mit seinen unzähligen historischen Brechungen als wirkmächtiges Narrativ. Zola wählt als Paradigma für diesen Prozess die Verdauung. Das Herz Altfrankreichs wird ersetzt durch einen revolutionären Magen, der die Vergangenheit verdauend die primäre Vitalfunktion der Stadt übernimmt: „Paris machâit les bouchées à ses deux millions d’habitants. C’était comme un grand organe central battant furieusement, jetant le sang de la vie dans toutes veines.“ (VP 631) An manchem Brocken aber scheint sich selbst dieser kolossale Magen zu verschlucken. So überträgt Zola mit dem verdeckten Flaubertzitat auch die Zweifel an einer vor allem affirmierten Moderne in den Text. Im neuen Quartier des Halles bewegt sich der Erzähler auf einer dünnen Decke des Naturalismus, aus der Zeugen abgebrochener Geschichte überall hindurchzubrechen drohen. 33 Zola, Dossier préparatoire du Ventre de Paris, f° 75r. 34 Marin, Le livre enterré, S. 142.

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Der Knotenpunkt der Handlungsstränge wird im pavillon de la marée gerade dort markiert, wo die Magistralen der Seinepräfekten Berger und Rambuteau durchkreuzt werden von der rue Pierre Lescot, dem Baumeister des Ritterkönigs. Die schwerelosen Glashimmel der Hallen ruhen bei genauerer Betrachtung auf Fundamenten, die es in sich haben. Wie zum Spott firmiert das Hauptschiff in Marie-Antoine Carême zugleich unter dem Namen des Hochzeitskochs Napoleons mit Marie-Louisen und der Fastenzeit. Der „carnaval de l’ancien marché des Innocents“ ist abgeräumt und „enterré“ (VP 624), spukt aber nicht zuletzt in Marjolin, der eben dort in einer Kohlfuhre das Licht der Welt erblickt (VP 762), auch weiter durch Zolas Naturalismus. Aux deux bords, les marchands forains venaient d’installer leurs étalages, des planches posées sur de hauts paniers, et le déluge de choux, de carottes, de navets, recommençait. (VP 630)

Der leichenfette Boden des an Allerheiligen 1780 aufgelassenen und aus dem Stadtbild sorgfältig getilgten cimetière des Innocents bleibt nicht nur in der Lescot zugeschriebenen fontaine präsent, die anstelle der charniers nun Marktstände umgeben, in denen sich statt Schädeln und Gebein nun Kohl und knochenweiße Rüben stapeln. Nach sieben Jahren des faire du moderne unter Napoleon III. aus der Verbannung nach Paris zurückgekehrt, folgt Florent als Index einer unbewältigten Vergangenheit auch im Paris der Haussmann’schen Umgestaltungen noch den alten Wegen und nimmt bald die Rolle ein, die Zola in den Ébauches noch seinem dieu de la Halle zugeschrieben hatte. Von typologischen Zwängen befreit, wandert die neue Figur scheinbar ziellos durch das Hallenviertel, wird im Chaos des morgendlichen Anlieferungsverkehrs aber von der Moderne selbst auf eine bemerkenswerte Bahn gelenkt. Les trois rues du carrefour, la rue Montmartre, la rue Montorgueil, la rue Turbigo, l’inquiétèrent […]. Alors, il alla devant lui, jusqu’à la rue Pierre-Lescot […]. Il préféra suivre la rue Rambuteau. Mais, au boulevard Sébastopol, il se heurta contre un tel embarras […], qu’il revint prendre la rue Saint-Denis. […] Les Halles débordaient. Il essaya de sortir de ce flot qui l’atteignait dans sa fuite; il tenta la rue de la Cossonnerie, la rue Berger, le square des Innocents, la rue de la Ferronnerie, la rue des Halles. (VP 630)

Vom Dreiweg traditionell beunruhigt zieht er Rambuteau, den großen Kanalisator von Paris, der die vom Tod durchnässten hauptstädtischen Friedhofsböden trockenlegt, „de l’eau, de l’air, de l’ombre“35 einfordert und als Seinepräfekt 35 Claude-Philibert Barthelot Rambuteau, Mémoires du comte de Rambuteau, publiés par son petit-fils, Paris: Calmann-Lévy 1905, S. 269.

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auch umsetzt, Lescot, dem Domherrn von Notre-Dame aus dem 16. Jahrhundert vor. Spätestens am boulevard Sébastopol, der wichtigen Verkehrsader von den großen nördlichen Kopfbahnhöfen aus den 1840er-Jahren nach den Brücken und in den Süden der Stadt, geht es jedoch nicht weiter. Florent wählt die erste Querstraße und bewegt sich im engen Durchlass zwischen den hoch aufragenden Häuserzeilen des ersten Arrondissements im Schatten der Doppeltürme von Saint-Leu-Saint-Gilles, dit Le Sépulcre, Kapitelkirche der Ritter vom Heiligen Grab, auf den im Stadtbild ausradierten Haupteingang des cimetière des Innocents zu. Hier liegt der Brocken, an dem sich das Modernemachen nun endgültig zu verschlucken droht. „Il essaya de sortir“ (VP 630), doch wohin soll er fliehen? Über den Umweg der rues de la Cossonnerie und Berger gelangt er doch wieder auf den Gedächtnisort von Altparis, flieht durch die das Geviert des alten Friedhofs nach Süden hin abschließende rue de la Ferronnerie, vorbei am Gedenkstein für den hier ermordeten Henri IV., zurück und findet sich wieder bei den Hallen. In albtraumwandlerischer Sicherheit zeichnet sein Weg durch den „colosse de fonte, à cette ville nouvelle, si originale“ (VP 624) die unter größten städtebaulichen Anstrengungen verwischten Grundrisse des dem Viertel zugrundeliegenden Fundaments aus bald einem Jahrtausend von Verwesung und Verfall nach und weist weiter zurück als es Hugo im explizit historischen Roman vermag. Et il s’arrêta, découragé, effaré, ne pouvant se dégager de cette infernale ronde d’herbes qui finissaient par tourner autour de lui en le liant aux jambes de leurs minces verdures. (VP 630)

Das Zentrum der Moderne wird heimgesucht von einer, wenn nicht der Vision des Mittelalters. Vor den Augen des fassungslosen Betrachters ersteht im infernalen Rund der Kräuter, die sich im Reigen einander zuneigend den Auferstandenen wieder in die Reihen ihrer ausgesogenen Glieder einzureihen trachten, jener Totentanz, der, obzwar bereits im 17. Jahrhundert mit den charniers des Innocents abgebrochen, im ikonischen Holzschnittzyklus Guyot Marchants zum Bild mittelalterlicher Vanitas geworden ist. Statt in den traditionellen Erzähltechniken eine Stütze vorzufinden, wimmelt der überbordende Naturalismus bald von Bildern und Verweisen, die seine Agenda pervertieren. Ins Vakuum der in maintes reprises (VP 1609) verlorengegangen Handlung sticht die Heilsgeschichte als Bedeutungsmaschine und unterwirft sich den Naturalismus. Flauberts Kambyses-Albtraum liegt in den planierten cambuses der Curée dem Ventre de Paris assonant steingeworden als Fundament zugrunde, während seine Unheilsgeschichte sich auf dem Kirchhof des Bauchs von Altparis entlang der planierten Mauern des soteriologischen

In palmis



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Überbaus auf Irrwegen einer in Schräglage geratenen Moderne entrollt als Kreuzweg.

In palmis Davon aber ist zunächst nichts zu spüren. Ließ Victor Hugo den Morgen seines 6. Januar 1482 im „bruit de toutes les cloches“36 anbrechen, das schlafende Paris im Heilsgetöse von Epiphanias geradewegs aufstürmen und den Leser keinesfalls im Zweifel darüber, welche Geschichte sich hier zu entrollen anschickt, beginnt der Ventre de Paris bald vierhundert Jahre später demonstrativ „au milieu du grand silence“ (VP 603). Im „gros sommeil“ zieht in den programmatischen „tombereaux de choux“ Zolas naturalistisches Programm an den „maisons […] endormies“ (ebd.) zu beiden Seiten der Straße von Nanterre herab vorüber. Der Lärm der Wagenräder vermag niemanden aufzuschrecken. Die schlafende Stadt nimmt keinerlei Notiz vom „bruit“, nun „de cette nourriture qui passait.“ (ebd.) Im Anschein größtmöglicher Alltäglichkeit ziehen statt des Herzogs der Frommen und geistiger Labsal in „choux“ und „navets“ (ebd.) buchstäblich Kraut und Rüben nach der Hauptstadt. Im „désert“ der die Ankunft des Herrn noch im Namen führenden „avenue“ (ebd.) wird das Programm der Säkularisierung Hugos bereits im ersten Satz im Kleinsten offenbar. Die den Weihnachtsfestkreis beschließende Karawane der Magi wird aus orientalischer Ferne, in die Gautier den Leser zu entführen Zola beklagen wird, heimgeholt in die holzgeschnittenen Profile der Bauern, die ohne Gloria in excelsis in Paris vor leeren Futterkrippe stehen werden. Im Reizwort Wüste aber, das zum Pays de France so gar nicht passen will, umso bemerkenswerter jedoch immer wieder aufgerufen wird (VP 603, 607), scheint sehr wohl noch soteriologischer Sand zu knirschen. So wird in ihm nicht allein die temptatio Christi aufgerufen, die, bis zuletzt als „tentation surhumaine“ (VP 628) buchstäblich in den Romantext eingeschrieben, Nadine Boulanouar ihrer durandianischen Lektüre des Bauchs als zentrales Bild zugrundelegt.37 Vielmehr erscheint mit der Wiederaufnahme von Notre-Dame de Paris als roman expérimental im vierzigsten Jahr nach Erstausgabe auch das typologische Pendant: die Literaturgeschichte Frankreichs wird vorgestellt als Wüstenwande-

36 zitiert nach der Hachette’schen nouvelle édition, mit der Émile Zola als Werber zwangsläufig und ausgiebig zu tun hatte: Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, Paris: Hachette 1858, Bd.1, S. 9. 37 Nadine Boulanouar, „La tentation de Florent. Lecture durandienne du Ventre de Paris d’Émile Zola“, in: Recherches sur l’imaginaire 24 (1993), S. 179–191.

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rung über den tumben Boden eines falschen Kults, des Historismus, der Romantik und des Orientalismus, im Schatten eines pharaonischen Victor Hugo, aus dem Zola sein Volk, wie Murphy vorschlägt, in einer „vaste entreprise de conjuration de la tentation romantique“38 im Lichte der Moderne in das gelobte Land der Kohlfuhren und des Naturalismus zu führen anstrengt. Allein das fette Kaltblut der Madame François am Kopf des Zuges, das, im Roman vor allen anderen eingeführt, ausgerechnet den volkstümlichen Namen des roi mage „Balthazar“ (VP 603) und damit Hugos Dreikönigsmorgen als Frohe Botschaft vor sich herträgt, lässt sich von seiner Heilsbahn, deren jeden Pflasterstein es noch schlafend zu kennen scheint, nur schwerlich abbringen. Viel weiter als ins besetzte Jerusalem dreißig Jahre nach der Zeitenwende wird der Erzähler es nicht bringen. So entkleidet er den Epiphaniasmorgen seiner heilsgeschichtlichen Implikationen scheinbar nur, um ihn sogleich in den nächsten heiligen Rock zu stecken. Die Heilsbotschaft von Weihnachten wird nicht ausgelöscht, sondern säkularisiert und umbesetzt in einen anderen Festkreis. Der Romanauftakt des Ventre de Paris lässt sich 40 Jahre nach Hugos Jahrhundertwerk, im Jahreskreis kaum jenseits der Quadragesima, mit paschalem Inventar nur so vollgerümpelt an. En haut, sur la charge des légumes, allongés à plat ventre, couverts de leur limousine à petites raies noires et grises, les charretiers sommeillaient, les guides aux poignets. Un bec de gaz, au sortir d’une nappe d’ombre, éclairait les clous d’un soulier, la manche bleue d’une blouse, le bout d’une casquette, entrevus dans cette floraison énorme des bouquets rouges des carottes, des bouquets blancs des navets, des verdures débordantes des pois et des choux. (VP 603)

Der Heilszug erscheint nicht im Nimbus des triumphal anbrechenden Tages, bleibt vielmehr in große Dunkelheit gehüllt, aus der nur einzelne Gegenstände „[d]urchschimmern“ und durch „synekdochische Angabe“ eine Wirklichkeit konstituieren, der Vittoria Borsò jenseits des aristotelischen Begriffs zunächst keinen metaphorischen Erkenntniswert zuspricht.39 Dass im epiphanieträchtigen éclair der Gaslaternen auf dem schweren Schuhwerk ausgerechnet Kreuzesnägel hervorglänzen, zwischen den Schößen grober ziegenwollener Limousinen überraschend das exquisite blaue Tuch der Marien von Fouquet und van der Weyden sichtbar wird, mag man noch als spitzfindig abgetan haben. Blühten zwischen Kohl und Erbsen in „bouquets rouges des carottes“ und „bouquets blancs des navets“, in Steckrüben und Möhren nicht Reinheit und Passion, 38 Murphy, „Zola critique de Victor Hugo“, S. 531. 39 Vittoria Borsò-Borgarello, Metapher. Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die metaphorische Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des XIX. Jahrhunderts, Tübingen: Narr 1985, S. 56.

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Rosen und Lilien. Angesichts der „floraison énorme“ wird nun auch Borsò stutzig. Die „Rekonstruktion der Wahrnehmung der Szene“ scheint ihr „infolge des Widerspruchs zwischen den dargestellten Lichtverhältnissen und der Benennung der einzelnen Farben der Gemüse schwer vollziehbar.“40 Allerdings begnügt sie sich damit die Spannung zu benennen, der sie der literalen Doktrin des Naturalismus verbunden „keine Funktion“41 zuerkennt. Dabei fügen sich die vermeintlich funktionslos überbelichteten Gegenstände bald zu einer allegorischen Vorahnung, die sich in ihrer Eindeutigkeit und syntagmatischen Folgerichtigkeit gegen alle Einwände des Naturalisten nicht wegdiskutieren lässt. Bis zum Morgen spricht die Romanexposition in roten Bouquets, rotglühenden Eisen (VP 607), roten Türen und Schildern (VP 615, 619), nicht zuletzt blutroten Dahlien (VP 622) vor dem „bleuissement des violettes“ (VP 622) der Fastenzeit noch in der größten Dunkelheit allenthalben vom Leiden und Sterben Christi. Bis zuletzt werden sogar die Kohlköpfe als Kronzeugen des Naturalismus „pareilles à d’énormes roses“ (VP 618) erblühen. Als „choux rouge, que l’aube changeait en des floraisons superbes, lie de vin, avec des meurtrissures de carmin et de pourpre sombre“ (VP 627) erstrahlen sie, von Weinstein und Martermalen als Indizes des neuen Testaments markiert, karmin- und purpurrot in den liturgischen Farben der Passion. „Les bottes s’assombrissaient, pareilles à des taches de sang.“ (VP 622) Die in Blut und Wunden Jesu blühenden Gnadenrosen Fra Angelicos, die Himmelsschlüsselblumen des Picander werden zurückgebeugt als Stigmata im Blumentopf verbuchstäblicht. Um die eingangs affirmierte Stille scheint es nicht viel weiter als um das Dunkel, welches das Heil nicht zu verbergen mag. Das „fanal rouge“ (VP 606), ein flackerndes Windlicht, wird auf den spiegelnden „flots d’encre“ (VP 606) der Seine wahrhaftig zum Fanal. Mit großer Mühe verhindert der Erzähler das Hosanna auf dem pont de Neuilly, während der Buchstabe der Schrift unter der Brücke in Tintenfluten ungehindert fortdringt. Das Schweigen spricht, das ausgefallene Geläut kündet nur umso lauter vom Glockenschweigen auf Ostern, das im Rasseln, Schnarren, Schnarchen und Klappern der Wagenräder (VP 603, 605) von den crécelles der Karwoche nur so widerhallt. Geradezu nervös zum Schweigen gebracht erfüllt sich das bei Lukas überlieferte Jesuswort der schreienden Steine beim Einzug in Jerusalem „si hi tacuerint, lapides clamabunt“ (Lk 19,40): Was der naturalistische Erzähler bemüht verschweigt, schreit dem Leser buchstäblich von jedem Pflasterstein entgegen.

40 ebd. 41 ebd.

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Im Messgewand beginnt der Roman, der nicht mehr Epiphanias promovieren will, als Palmsonntagsgottesdienst. Der nächtliche Zug der Händler nach Paris erscheint als schlaftrunkene Prozession. Das dreimalige Anklopfen mit dem Schaft des Prozessionskreuzes am Kirchenportal hallt wider im auffälligen Trikolon aus dem Paradigma von battre, „battaient“, „rabattue“ und „battant de nouveau“ (VP 603–605). Das mit der geheimen Wiederkehr aus der Verbannung gleichsam vor Wochenfrist an Judica in Nacht gehüllte Kreuz des Dissidenten wird offenbar, wenn Madame François – irgendwo zwischen Schmerzensmutter und verbitterter republikanischer Marianne – den „lamentable[n]“ (VP 604) Florent als gallisiertes Partizip der flos de radice Jesse (Jes 11,1) „avec son pantalon noir, sa redingote noire, tout effiloqués, montrant les sécheresses des os“ (VP 604) im toile de la Passion aus dem Straßenkot aufliest. Die Lichtverhältnisse mögen es wieder nicht zugelassen haben, nichtsdestoweniger entdeckt, dekuvriert (VP 604) die bodenständige Bäuerin im milden Licht der Gnade in „deux grands yeux bruns, d’une singulière douceur, dans un visage dur et tourmenté“ (VP 604) den Schmerzensmann buchstäblich in das Hungertuch der Fastenzeit gehüllt. Mit einer unfreiwilligen Prostratio (VP 604, 607) buchstäblich in die Palmsonntagsliturgie gestolpert und damit mehr dem Buchstaben des missale romanum verbunden denn dem Geiste der imitatio Christi hat sein Auftritt wenig Messianisches. Statt sich ein Eselsfüllen für den Einzug nach der Hauptstadt aufsatteln zu lassen, muss der Zögernde sich von der Bäuerin, der er zuerst als Christusfigur erschien, auf das Heilsvehikel des Naturalismus geradezu nötigen lassen. Die lukanische Steigbügelhilfe der impositio (Lk 19,35) wird fast zum Gewaltakt, wenn die zupackende Madame François „le hissa presque, de ses gros bras, le jeta sur les carottes et les navets“, um dem unfreiwilligen agnus Dei sogleich recht barsch das dona nobis pacem abzuverlangen: „À la fin, voulez-vous nous ficher la paix!“ (VP 605) Die zunächst scheinbar unvermittelt die Exposition durchkreuzenden Analepsen erweisen sich bei genauerem Hinsehen bald planvoll eingewoben, wenn sie den Gottesdienst suspendieren, nur um dem eingeschriebenen Ordinarium folgend das Evangelium einzurücken, für das das Messbuch in palmis im Bericht von der Gefangennahme, Vorführung, Anklage und unschuldiger Verurteilung Florents die Passionsgeschichte vorsieht. Diente die zur Kathedrale verknöcherte Heilsgeschichte Hugo weitgehend als verhältnismäßig frei bespielbare romantische Kulisse, aktualisiert sich in Florent der biblische Heilsbericht am Buchstaben der Liturgie und zwingt der impressionistischen Schilderung des neuen Hallenviertels die Ordnung auf, in der sich die schnell erzählte Fabel

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um Florents doppeltes Opfer organisiert, die Josef Theisen gnadenlos als nicht nur „manchmal ins Kitschige abgleitend“42 bedenkt. Die erste Schilderung der Stadt durch Florents Augen nach seiner Rückkehr aus Cayenne soll an der Hand des Freiluftmalers Claude Lantier, Spiegelfigur Cézannes, zum Triumphzug des Naturalismus werden, erscheint am Ende jedoch vor allem als „tentation surhumaine“ (VP 628). Hier auf den Säuberungsschauplätzen der Curée wird Claude die Losung ausgeben „[qu’]il préférait ses tas de choux aux guenilles du Moyen Âge.“ (VP 624) und tatsächlich lässt der Erzähler sich nicht wie Gautier in mittelalterliche Mauern einsperren. Den schräg in die orthogonale Aufgeräumtheit des Hallenviertels ragenden Riesenbau von Saint-Eustache „posé de biais, comme lavé à la sépia sur le bleu du ciel“ (VP 628) und „tout doré dans la poussière du soleil, comme une immense châsse“ (VP 636) weist er in eine wenn auch eindrucksvolle Künstlichkeit zurück. Florent hat nur Augen für die Metzgerei als von Gold und Marmor glänzende Monstranz des Kaiserreichs, in der sich der Ort der ersten Teilhabe Ludwigs XIV. an Leib und Blut Christi naturalisiert zur „grande charcuterie, ouverte et flambante au soleil levant.“ (VP 636). Das impressionistische Eingangstableau will über jeden Symbolismusverdacht erhaben sein, erscheint der Hauptfigur aber bald selbst „sollicité par d’autres enseignes“ (VP 628). Die mittelalterlichen Mauern mag er planieren, nicht aber den untilgbaren Buchstaben der Prachthandschriften. „[A]ux grosses majuscules rouges ou noires, sur des fonds déteints“ (VP 628) wird der Naturalismus in zweifarbiger Tinte formuliert in der Terminologie des Heils. Cette vue clouait Florent de surprise; il devait ne pas reconnaître la boutique; il lut le nom du marchand, Godebœuf, sur une enseigne rouge, et resta consterné. Les bras ballants, il examinait les pâtés d’épinards, de l’air désespéré d’un homme auquel il arrive quelque malheur suprême. (VP 619)

Die Schilderung des im Hungerdelirium durch die Stadt Irrenden beginnt unter dem roten Ladenschild des Händlers Godebœuf als Abendmahlsvision, wenn der taumelnde Florent mit ausgebreiteten Armen buchstäblich festgenagelt stehen bleibt, um in Kreuzesahnung als Christus am Ölberg über die Spinatpasteten auf Gründonnerstag mehr an der liturgischen Korrektheit denn an seiner Gottverlassenheit zu zweifeln und verzweifeln. So setzt sich in der „tour dans les Halles“ unter den „volées de cloche“ (VP 621), die der Erzähler nun nicht mehr zum Schweigen bringt, sondern zu Auktionsglocken verweltlicht, die Palmsonntagsprozession fort. Die Fischver42 Josef Theisen, „Le ventre de Paris“, in: Walter Jens (Hg.), Kindlers Neues Literaturlexikon, München 1992, Bd. 17, S. 1080.

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käuferin „[qui] ressemblait à une vierge“ vermag der Naturalist unter Verweis auf „Murillo [qui] peignait comme un polisson“ (VP 619) mit einer Zote gerade noch abzuwenden. Unter dem Einfluss des Glühweins der Lebigre’schen Restauration aber – hoc est sanguis, das eucharistische Brot in „petits pains au beurre“ obligatorisch auf dem comptoir nebenan (VP 620) – erscheint beim Eintritt in den pavillon de la marée die Markthalle alsbald als Kathedrale. Florent levait les yeux, regardait la haute voûte, dont les boiseries intérieures luisaient, entre les dentelles noires des charpentes de fonte. Quand il déboucha dans la grande rue du milieu, il songea à quelque ville étrange, avec ses quartiers distincts, ses faubourgs, ses villages, ses promenades et ses routes, ses places et ses carrefours, mise tout entière sous un hangar, un jour de pluie, par quelque caprice gigantesque. (VP 621)

„Levavi oculos meos in montes, unde veniet auxilium mihi“ (Ps 120). Den Psalm der Pilger buchstäblich auf der Zunge werden die kühnen Bögen zum gotischen Gewölbe, die Eisenkonstruktion zum Maßwerk, gedeckte Gänge zu Kirchenschiffen, die Gesamtanlage aber, mit ihren zwölf orthogonalen Glaspavillons als Kristallstadt in der Stadt zum himmlischen Jerusalem (Offb 21,11–15). Als Claude und Florent die rue Carême im Rücken zwischen Blumen, Fisch und Eiern ins österlich geschmückte Hauptschiff der mittleren Pavillongruppe eintreten, statt in palmis unter Farn und Weinlaub einherschreiten, machen sie schließlich unter Schritten, die „comme sous la voûte d’une église“ (VP 623) schallen, eine Entdeckung, die auch den letzten Zweifel daran ausräumt, welches Stück hier gegeben wird. Ils y trouvèrent, attelé à une voiture grande comme une brouette, un tout petit âne qui s’ennuyait sans doute, et qui se mit à braire en les voyant, d’un ronflement si fort et si prolongé, que les vastes toitures des Halles en tremblaient. (VP 623)

Im die ganze Reihe an Wüsten beschließenden, letzten „désert“ (ebd.) des menschenleeren Seitengangs abgeschoben, langweilt sich das Eselsfüllen der vier Evangelien (Joh 12,14, Mt 21,2 Lk 19,30, Mk 11,2) vor einen Heilskarren gespannt, der angesichts der ungeheuerlichen Komödie, die zu entrollen sich gerade anschickt, bald als Thespiskarren durchgeht. Anders als im biblischen Jerusalem bringt der Erzähler in Paris den empörten Pharisäern aus dem Lukasbericht folgend das Hosianna zum Schweigen (Lk 19,39) und wird von dem ikonischen asellum doch über den Haufen gebrüllt, wenn die weiten Glashimmel der Moderne vom Heilsgeschrei des Eselchens erzittern. Unausgesprochen ordnet sich das Chaos des erwachenden Großmarkts wie von selbst zum feierlichen Einzug in Jerusalem.

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Le long du carreau de la triperie, on eût dit des champs de thym, de lavande, d’ail, d’échalote; et les marchandes avaient enlacé, autour des jeunes platanes du trottoir, de hautes branches de laurier qui faisaient des trophées de verdure. C’était l’odeur puissante du laurier qui dominait. (VP 626)

Der Lorbeer dominiert. Zur Sonntagsvesper liefert das laudate Dominum das etymologische Material, in dem die auf der Straße ausgebreiteten Kräuter der Dominica in palmis letztlich unter das römische Ehrenzeichen gebeugt werden. Mit der Säkularisierung des Psalms in sein blankes Buchstabenmaterial, der Palmzweige in das landschaftlich durchaus übliche Substitut, wenn auch mit deutlich säkularem Beigeschmack, wird der Einzug des Friedenskönigs in Jerusalem als Einzug eines Revolutionärs wider Willen zum Anfang vom Ende. So schreibt das Geschehen der Exposition die imitatio Christi hypokritisch in die revolutionäre Naherwartung, den fleischgewordenen Heiland in den unfreiwilligen imposteur und das biblische Erlösungsversprechen in die Gewaltgeschichte Frankreichs ein: als Farce.

Fabula und farcimen Zum Ende des zweiten Kapitels, das in der Quenu’schen Wurstküche die nach der Exposition noch fehlenden Informationen analeptisch nachreicht, legt Gavard mit einer kleinen Einlassung die Perspektive fest, die sich als Schlüssel zum Roman erweist. Moi, dit-il, j’avais regardé ça comme une farce. — Quoi donc? demanda Lisa encore toute secouée. — La place d’inspecteur à la marée. (VP 674)

Pathologisch revolutionär – „il n’avouait plus qu’il avait applaudi au Deux-Décembre, parce que, maintenant, il regardait Napoléon III comme son ennemi personnel“ (VP 661) – erscheint im tragisch prahlerischen Geflügelhändler eine Figur von allegorischem Format. So haben die Worte einige Autorität, mit denen gleichsam das revolutionäre Frankreich selbst Florent als inspecteur à la marée auf seine unselige Heilsbahn schickt, ihm im urchristlichen Symbol des Fischs, ΙΧΘΥΣ, das akrostichische Kerygma, Jesus Christus, Gottes Sohn, Erlöser, einschreibt und mit dem metaleptischen Verweis, dass dies als Farce zu lesen sei, zugleich verbuchstäblicht und pervertiert. Triebfeder der Handlung in Zolas Ventre de Paris von 1873 ist die Multiplikation der Erlöserfigur. In der Nachzeitigkeit der Handlung, die das eigentliche Romangeschehen als programmierte Wiederholung eines zurückliegenden Geschehens entlarvt, gewinnt die Tragik

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des einmaligen Opfers in der episodisch-iterativen Wiederholung tatsächlich den komischen Gehalt einer messianische Farce. So liest sich die überaus prominente und bisweilen überstrapazierte Randnote zu Hegel in den Eröffnungsworten Marx’ zum Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 geradezu als explizite Schreibanleitung für die Christushandlung um Florent. Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Caussidière für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848–1851 für die Montagne von 1793–1795, der Neffe für den Onkel. Und dieselbe Karikatur in den Umständen, unter denen die zweite Auflage des achtzehnten Brumaire herausgegeben wird!43

Ist der Achtzehnte Brumaire zu Beginn der Auseinandersetzung Zolas mit dem Stoff des Ventre auch gerade erst in zweiter deutscher Auflage erschienen – die französische Erstausgabe wird noch über zwanzig Jahre auf sich warten lassen – so lässt sich unabhängig von der Frage einer direkten Beeinflussung zumindest eine gewisse Simultaneität im Denken nicht von der Hand weisen. Die Passion scheitert als Karikatur an ihrer unzeitgemäßen Doppelung. Der Auferstandene44 wird zum Abklatsch seiner selbst. Dabei gerät der klischierte Menschensohn auch das erste Mal schon höchst unfreiwillig in die Position des Opfers. Statt den Kelch in einem am Ölberg mehr oder weniger kontrovers verhandelten Einverständnis letztlich doch aktiv angenommen zu haben, stürzt Florent während der Dezemberunruhen ’51 im Zuge des Staatsstreichs Louis Bonapartes „souriant de tous ces soldats que l’Élysée promenait sur le pavé pour se faire prendre au sérieux“ (VP 610) über die Christusrolle, als die Soldaten, wie um dem Eindruck der Karikatur zu widersprechen, plötzlich das Feuer eröffnen. Die Passion nimmt den Buchstaben beim Wort und beginnt im participe passé markiert im Passiv. Lui, poussé, jeté à terre, tomba au coin de la rue Vivienne. (VP 610)

Mit der Verrückung des Passionsbeginns Florents in die Zeit der Ankunft des Herrn Anfang Dezember scheint zunächst der historischen Wahrhaftigkeit Rechnung getragen, die Napoleon III. am selben Tag wie sein Onkel bald fünfzig Jahre zuvor nach der Krone greifen lässt. Doch scheint es bereits hier im napoleonischen Heilskalender zu krachen, der im „komplexe[n] Wechselverhält-

43 Karl Marx/Friedrich Engels, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: dies., MEW, VIII, Ost-Berlin: Dietz 1972, S 115. 44 „D’ailleurs, il serait mort, la-bàs.“ (VP 606), „Je t’ai cru mort[.]“, (VP 638).

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nis zwischen Historie und Religion“45 wie Werner Telesko in einer bemerkenswerten Studie zeigt, den christlichen Heilskalender mit dem im Blumenberg’schen Begriffsumfang mythischen doppelt.46 War Napoleon I. dem christlichen Kalender gefolgt und hatte sich am 2. Dezember 1804 am ersten Adventssonntag in den abendländischen Erlösermythos eingeschrieben, verflacht Napoleon III. das Heilsnarrativ zur Karikatur, wenn er in Buchstaben und Ziffern des Kalenderblatts gefangen den Krönungstag des Kaisers der Franzosen am Tag des Herrn 1804 zum Putsch an einem Dienstag im Dezember säkularisiert. Wie um diesen Kurzschluss des neuen Regimes mit dem mythischen Kalender vorzuführen, markiert der Erzähler den Einsatz der Passion Florents wie zufällig am Straßenkreuz der rue Vivienne und übergibt die Heilsstafette am Festtag der frühchristlichen Märtyrerin am 4. Dezember unter umgekehrtem Vorzeichen einem anderen als Napoleon III. Konnte Napoleon I. die Krone pragmatischer Herrschaft und der christlichheilsgeschichtlichen translatio zumindest für zehn Jahre auf seinem Haupt vereinen, verspringen die Ebenen schon im Moment der Machtergreifung Louis Bonapartes unrettbar zueinander. So mag die kalendarische Lösung vom christlichen Heilskalender ebenso wenig zu tragen wie der in Bibiana vorgeführte Wiederanschluss an die legenda aurea. In der Wiederholung wird die Passion nicht weniger zur Farce als der Advent. Beim Vorfall an der rue Vivienne zu Boden geworfen, sonst aber unverletzt geblieben, findet sich Florent befleckt vom Blut einer rettend über ihn gestürzten Märtyrerin, „en chapeau rose, dont le châle glissait, découvrant une guimpe plissée à petits plis.“ (VP 610) Au-dessus de la gorge, dans la guimpe, deux balles étaient entrées ; et, lorsqu’il repoussa doucement la jeune femme, pour dégager ses jambes, deux filets de sang coulèrent des trous sur ses mains. Alors il se releva d’un bond, il s’en alla, fou, sans chapeau, les mains humides. Jusqu’au soir, il roda, la tête perdue, voyant toujours la jeune femme, en travers sur ses jambes, avec sa face toute pâle, ses grands yeux bleus ouverts, ses lèvres souffrantes, son étonnement d’être morte, là, si vite. Il était timide; Il était timide; à trente ans, il n’osait regarder en face les visages de femme, et il avait celui-là, pour la vie, dans sa mémoire et dans son cœur. C’était comme une femme à lui qu’il aurait perdue. Le soir, sans savoir comment, encore dans l’ébranlement des scènes horribles de l’après-midi, il se trouva rue Montorgueil, chez un marchand de vin, où des hommes buvaient en parlant de faire des barricades. Il les accompagna, les aida à arracher quelques pavés, s’assit sur la 45 Werner Telesko, Erlösermythen in Kunst und Politik. Zwischen christlicher Tradition und Moderne, Wien: Böhlau 2004, S. 5. 46 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 515; vgl. hierzu ausführlicher: Michael Rieser: Natur und Heil. Von der Polyphonie der Evangelien im roman naturaliste bei Zola, Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fach der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, München, den 2. April 2013, S. 27–33.

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barricade, las de sa course dans les rues, se disant qu’il se battrait, lorsque les soldats allaient venir. Il n’avait pas même un couteau sur lui; il était toujours nu-tête. Vers onze heures, il s’assoupit; il voyait les deux trous de la guimpe blanche à petit plis, qui le regardaient comme deux yeux rouges de larmes et de sang. Lorsqu’il se réveilla, il était tenu par quatre sergents de ville qui le bourraient de coups de poing. Les hommes de la barricade avaient pris la fuite. Mais les sergents de ville devinrent furieux et faillirent l’étrangler, quand ils s’aperçurent qu’il avait du sang aux mains. C’était le sang de la jeune femme. (VP 610 f.)

Der Versuch sich aus der Situation zu befreien gipfelt in der Befleckung mit fremdem Blut. So spukt er unverletzt und doch von der Passion gezeichnet durch die Stadt und kann im ersten Akt der Farce des Zweiten Kaiserreichs doch weder sich noch anderen eine Erlösung sein. Noch ganz von der Weichheit und Milde eines Jesuskinds würde dem Mann, der sich im Christusalter noch nicht traut den Frauen ins Gesicht zu sehen, eine Krippenszene wohl besser zu Gesicht gestanden haben. Doch ist am Vorabend seiner Passion bereits alles gepflastert und bereit (Mk 14,15), wenn sich im Weinhändler der rue Montorgueil der obere Raum am Berg Zion erfüllt (ebd.), die Schar der zankenden Jünger in einer Gruppe von Säufern in Revolutionslaune, der sich Florent als unverhoffter Christus anschließt. Wieder schreien die Steine ihre Heilsbotschaft in den Naturalismus, wenn das vom Blut des neuen Testaments trunkene Häuflein das Pflaster des cœnaculum stratum (ebd.) auseinandernimmt und „quelques pavés“ gleichsam aus der Heilsgeschichte reißt, um aus den Versatzstücken des Passionsberichts nach Markus Barrikaden gegen die Soldaten Louis Bonapartes zu errichten. Das Gebet am Ölberg wird zur Farce, wenn nicht seine discipuli einschlafen, sondern der Erlöser selbst. Als dieser erwacht, sind die Jünger von der Barrikade längst geflohen. So wird das Friedensgebot Jesu im Moment der Gefangennahme – „converte gladium tuum in locum suum“ mit dem Verweis auf eine stille Reserve von mehr denn zwölf Legion Engel (Mt 26,52) – zur Lachnummer. Den freiwilligen Verzicht auf Rettung, auf dass die Schrift erfüllt werde, kommentiert der naturalistische Erzähler, der vom Reich nicht von dieser Welt nichts zu wissen vorgibt, in der Ikonografie der Gefangennahme – Florent ist immer noch barhäuptig – mit der zynischen Feststellung, dass der Revolutionär nicht einmal ein Messer bei sich trage. Hatten ihn die Wunden der für ihn gestorbenen jungen Frau im Traum bereits als mystische Stigmata verfolgt, so findet er sich nach der Gefangennahme durch die Soldaten, die ihn entlang der biblischen Stationen unter den Misshandlungen und Schmähungen biblischer Turbae mit der Notiz „Pris les mains couvertes de sang. Très-dangereux.“ bis zum Morgen „de poste en poste“ (VP 611) weiterreichen, als Opfer einer pervertierten, wörtlichen, ja buchstäblichen

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Stigmatisation wieder. Im Stigma als Auftakt der Passion und nicht als triumphales Zeugnis der compassio wird die Heilsgeschichte kurzgeschlossen. In den verspringenden Ebenen von Evangelium und imitatio Christi wird das Mal der Nachfolge auf dem Heilspfad Jesu zum Auslöser der Passion, die Wirkung zur Ursache, der erste Advent 1804 zum 2. Dezember 1851 und das Chaos hat hier gerade erst begonnen. Der Heilskalender gerät völlig aus den Fugen. Hatte die Passion im Dezember begonnen, gipfelt eine gleichermaßen nachgereichte Fastenzeit von vierzig Tagen in Bicêtre in einer „nuit heureuse de carnaval“ (VP 612). Vom Fort im Südosten der Stadt wird der Weg der vierhundert zur Deportation Verurteilten entlang der Boulevards quer durch die Stadt nach dem gare du Havre im Nordwesten in zwei bemerkenswerten Wegpunkten markiert: Dem pont d’Austerlitz im Gedenken an die Dreikaiserschlacht am 2. Dezember 1805, auf den Tag ein Jahr nach der Krönung Kaiser Napoleons I. – ein Montag und im Heilsplan bereits einen Tag zu spät – und wieder der rue Vivienne als ständiger Erinnerung, dass Religion und Politik im Karneval des Zweiten Kaiserreichs unrettbar aus dem Takt geraten sind. Als Florent biblische sieben Jahre später in palmis wiederkehrt ins große Fressen des quartier des Halles, ist die Passion nicht etwa überstanden, sondern schickt sich an von Neuem zu beginnen und die Tragödie zur Farce zu machen. Et Florent se rappelait qu’on avait manqué le fusiller là, contre le mur de Saint-Eustache. Un peloton de gendarmes venait d’y casser la tête à cinq malheureux, pris à une barricade de la rue Grenéta. Les cinq cadavres traînaient sur le trottoir, à un endroit ouìl croyait apercevoir aujourd’hui des tas de radis roses. Lui, échappa aux fusils, parce que les sergents de ville n’avaient que des épées. (VP 611)

Wie um Marx Recht zu geben wird die Nacht seiner Gefangennahme durchkreuzt, wenn sich die Erinnerung an die Leichen der an der Kirchenmauer standrechtlich Hingerichteten in Gemüsefuhren aktualisieren, die Einschusslöcher nicht als Stigmata, sondern Radieschen erscheinen. Gleichzeitig wird in der intradiegetischen Übersetzung der nachgereichten Vorgeschichte, die den Roman nun zur reécriture seiner selbst macht, offenbar, dass weder Armstrong und Co. noch Marin die den Roman bestimmende Dynamik bereits hinreichend fassen. Marin beschreibt in der „fiction morcelée“ ein Verfahren der Textproduktion, das „fragments mous de la fantaisie, de la fabulation, de l’imaginaire archaïque du conte“ in die „certitude de l’observation“ hineinmischt und so den disparaten „fragments dur de la réalité éprouvé“ Halt gibt.47 Dabei wirft das Wort „mêler“48 Fragen auf, stellt sie doch einen Prozess vor, der harte Fakten 47 Marin, Le livre enterré, S. 142, Hervorhebung Marin. 48 ebd.

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und „morceaux de conte fantastique“49 eben nicht vermengt, sondern morcelée, zerstückelt metonymisch in ein Näheverhältnis setzt, ohne sie zu vermischen. Mag dies auf die rédaction primitive zugetroffen haben, die sich eine vom historistischen Klamauk Hugos befreite conte unter Kohlbergen vorstellt, so ist die Trennung von Natur und Heil in der Quenu’schen Wurstküche am Ende des zweiten Kapitels kaum mehr zu halten. Das sanguis novi testamenti (Mt 26,28) wird im Einsetzungsbericht zum „sang de cochon“ (VP 683), dessen besondere Natur Auguste als biblischer Longin beim Sauabstich erkennt. Wie als verspätete Antwort auf die pilatische Frage „Quid est veritas?“ (Joh 18,38) antwortet das Zola’sche Evangelium „La vérité était qu’Auguste se connaissait à merveille à la qualité du sang“ (VP 683), doch schließt sich nicht gerade eine nicäische Erörterung über die Stofflichkeit des Menschensohnes an. „[l]e boudin était bon, toutes les fois qu’il disait: « Le boudin sera bon. »“ (VP 683) Mit dogmatischem Ernst und beseelt von der seligen Einfalt des Metzgergesellen, dessen Ton er anzunehmen scheint, macht der Erzähler deutlich, dass das zerstückelte johanneische verbum in den brockenweise nachgereichten Analepsen nicht zur caro (Joh 1,14), sondern Blutwurst wird. Marin identifiziert in dieser Szene den Schlüssel zur Erzähltechnik des Ventre de Paris. „La technique de Zola consiste en la superposition de deux séquences, l’une narrative, celle de « l’histoire de l’homme mangé par les bêtes », et l’autre descriptive, celle de la préparation du boudin.“50, doch lässt sie diese Erkenntnis wie auch schon Borsò vergleichsweise funktionslos in der machine naturaliste aufgehen, ohne die massiv enggeführten Ebenen in Verbindung zu setzen. Nachgerade erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass der „récit de la déportation de Florent ne se trouve pas mélangé d’une manière non équivoque à la scène de la fabrication du boudin“51, ist er ihr doch nicht nur eingeschrieben, sondern gleichfalls von den Arbeitsschritten der Fabrikation – Schneiden, Mischen, Schneiden, Mischen – strukturiert und narrativ verkörpert. Was sich bereits in den Pflastersteinen der Markuspassion gezeigt hat, tritt hier noch deutlicher heraus. Das johanneische Wort wird missverstanden, nicht als chair, sondern viande, im naturalistischen Literalis nach Maßgabe der Regeln der Charcuterie prozessiert: Zerstückelt, gemahlen, gekocht und gefressen. „Mangé par les bêtes“ (VP 684), die gleichfalls naturalisiert zu den ungeheuerlichen Gestalten werden, mit denen Zola den Ventre de Paris bevölkert. Die bemerkenswerte Verwicklung zweier eucharistisch hochsignifikanter Narrative, auf der einen Seite 49 A.a.O., S. 143. 50 A.a.O., S. 142. 51 A.a.O., S. 143.

Fabula und farcimen



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die im kannibalischen Menschenopfer gipfelnde Passion, auf der anderen die im Blut von Neuem beginnende, scheint einer mutigeren Interpretation durchaus würdig. So erscheint selbst noch die Doppelung der Erzählstränge geradezu zwingend, wenn im neuralgischen Punkt der Wandlung das Christusopfer sich im Messopfer als dasselbe nur in anderer Weise aktualisiert. Der Naturalismus vermag den tridentinischen Beschluss der Gleichzeitigkeit desselben in unterschiedlicher Weise nicht zu leisten und zerlegt die Einheit des Opfers in zwei Zeit- und Handlungsebenen. Die eine als Übertragung der anderen besetzen sie die Struktur der reécriture des historischen Romans aus Zolas redaction primitive, die nun jedoch als Heilsvehikel die ursprünglich angestrebte Aktualisierung ad absurdum führt. Der sich in Bildern der vier Evangelisten vollziehende Vorbericht mit Einzug auf dem Esel, Cena, Gebet am Ölberg, Gefangennahme, Prozess, Verurteilung und Tod in der Verbannung aktualisiert sich in Palmsonntagsprozession mit Anklopfritual und Hungertuch, Fastenzeit und Spinatpasteten in einer verbuchstäblichten Liturgie, die als heillose Wiederholung zwangsläufig zu einer Farce wird, die nun nicht einmal selbst mehr vor Literalisierung sicher ist. In der den Roman vom Anfang bis zum Ende konsequent durchziehenden begrifflichen Ambivalenz der Farce als „fabula“ und „farcimen“52, Geschichte und Gewurstetes, droht der „farceur de Quenu“ (VP 646) nur als prominentestes Beispiel genannt, als Clown und Metzger sich bis zuletzt noch selbst mit in den Presssack zu stecken. Vermittelt wird die endgültige Verwicklung innerhalb der Küchenszene durch die Metzgerstochter Pauline, die bereits Mitterand als „figure fugitive“ (VP 1616) auf ihre deiktische Funktion beschränkt. Als wenn auch weiblicher Spross einer wenn auch gut verborgenen Elisabeth erscheint die wilde Cousine des fragwürdigen Erlösers doch in der Ikonografie des Johanneskindes. Sie ist es, die Florents Bericht zur „histoire de l’homme mangé par les bêtes“ (VP 684) eucharistisch verengt, in die Blutwurstszene einschreibt und im Bild der mit dem Lamm spielenden heiligen Knaben die lammfromme Katze, die zu allem Überfluss Mouton heißt, dem Cousin auf den Schoß nötigt: „Mouton, lui aussi, voulait écouter l’histoire.“ (VP 685) Geradezu lächerlich überdeterminiert setzt diese zum Johannessprung an und Florent erzählt von der Passion, in deren Bildern sich sein Schicksal im Roman gerade wiederholt. Die zur Lisa naturalisierte Elisabeth kann all dies nicht mehr recht ernst nehmen. „Elle le jugea hypocrite, avec cet air doux qu’il savait feindre.“ (VP 688) Hatte seine Milde ihn in den Augen der Madame François zum Gottessohn gemacht, ist es dieselbe, die ihn vor dem Blick der Metzgerin als Hochstapler entlarvt. Émile Zola streicht zur édition originale den Zusatz „il devait être très 52 „FARCE“, in: Jean Nicot, Le Thresor de la langue francoyse, Paris: Douceur 1606, S. 279.

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méchant“ (VP 1631). Florent erscheint der Macquart nicht als sein Gegenteil, sondern lediglich als zum eindimensionalen Hypokrit verbuchstäblichter Erlöser. In der Loslösung der Liturgie vom Evangelium versagen die Vermittlungstechniken, die das tridentinische Verhältnis von Kreuz- zu Messopfer bestimmen. Der Aktualisierungsapparat gerät, wie nun auch wieder Marin ausweist, außer Kontrolle. „Le théâtre de cette représentation est évidement la charcuterie des Quenu, cette « cuisine de l’enfer » où la machine naturaliste zolienne peut fonctionner en toute sa force.“53 Allein Marin nimmt den Text nicht beim Wort. Was hier entsteht, ist weniger Natur als buchstäbliche Hölle. Im fetten Dunst des Schweinebluts wird Florents Opfer in einer verkehrten Eucharistie zugleich verdaut zur Farce und Blutwurst. Der Menschenfischer wird zum inspecteur à la marée, die imitatio Christi zur Nachäffung und hypocrisis.

Ceci tuera cela „Trois jours plus tard, les formalités étaient faites[.]“ (VP 696) Die Auferstehung nach drei Tagen wird zum Akt der Bürokratie. „[L]a préfecture acceptait Florent des mains de monsieur Verlaque, presque les yeux fermés, à simple titre de remplaçant, d’ailleurs.“ (ebd.) Die Polizei Napoleons III. mag nicht nur vor der fragwürdigen Provenienz Florents die Augen geschlossen haben, führt diese Ersetzung doch an den Punkt, wo die Übersetzung des Naturalismus aus sich selbst heraus in Bilder der christlichen Heilsgeschichte, nicht mehr funktioniert. Florents revolutionäre Umtriebe lassen sich als Scheitern der Erlöserfigur am Umstand, dass im Hallenviertel niemand nach Erlösung fragt, solange das Empire „lui donne la pâtée matin et soir“54, in der verbuchstäblichten Aktualisierung des christlichen Bildes als Farce hinreichend gut beschreiben. Als inspecteur à la marée zugleich ΙΧΘΥΣ und Angehöriger der kaiserlichen Administration jedoch geraten die Reiche, die das Johannesevangelium Christus vor Pilato peinlich trennen lässt (Joh 18,33–18,38) kurzschlüssig übereinander. Dieser Kurzschluss eskaliert schon bald darauf im Konflikt mit den Fischweibern, die ihn bald nicht mehr an Murillos Jungfrauen erinnern, im Bild der Tempelreinigung. Statt der Poissonnière erinnert nun vielmehr die junge auvergnatische Bonne der Bäckerin Taboureau „toute dolente“ (VP 720) an die zugleich jungfräuliche und gramgebeugte Dolorosa, allein das ikonisch leidige Gesicht hat einen anderen Grund, wenn die Gottesmutter sich skeptisch über die Fischausla53 Marin, Le livre enterré, S. 142. 54 Zola, Dossier préparatoire du Ventre de Paris, f° 47r.

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ge beugt: Es ist die „moue rechignée que prennent les clientes pour payer moins cher“ (ebd.). Das Christentum wird zur Verhandlungsmasse. So wundert es nicht, dass der Fisch, nachdem er kontrovers verhandelt letztlich für 10 Francs über den Tisch geht, um abends der zum „dîner“ angekündigten „monde“ (VP 721) vorgesetzt zu werden, doch zu stinken anfängt. Mais, au bout d’un quart d’heure, la bonne accourut toute rouge ; elle avait pleuré, sa petite personne tremblait de colère. Elle jeta la barbue sur le marbre, montrant, du côté du ventre, une large déchirure qui entamait la chair jusqu’à l’arête. Un flot de paroles entrecoupées sortit de sa gorge serrée encore par les larmes. — Madame Taboureau n’en veut pas. Elle dit qu’elle ne peut pas la servir. Et elle m’a dit encore que j’étais une imbécile, que je me laissais voler par tout le monde… Vous voyez bien qu’elle est abîmée. Moi, je ne l’ai pas retournée, j’ai eu confiance… Rendez-moi mes dix francs. (VP 721)

Videbunt in quem transfixerunt (Joh 19,37), doch kommt diese Erkenntnis hier zu spät. Die barbue ist verdorben und stürzt die ausgeschimpfte Bonne im Bild der Seitenwunde nun wirklich ins Bild der Marienklage. Der Streit eskaliert, die Verhandlung über das corpus Christi wird zur Komödie. Die Sentenz der Fischhändlerin Mutter „On ne reprend pas un poisson qui a traîné chez les gens“ (VP 722) wird zum höhnischen Kommentar auf Grablegung und Auferstehung nicht zuletzt Florents, wenn sie das Wort, mit dem Madame François den Heimgekehrten auf die Heilsbahn setzt, nun wörtlich wiederholt. „Vous allez nous ficher la paix, n’est-ce pas?“ (ebd.) Dona nobis pacem. Allein der Ärger geht erst richtig los, „alors, ce fut formidable“ (ebd.), wenn das Zugehfräulein die betrügerischen Fischweiber der Räuberei bezichtigt und diese sogleich handgreiflich zu werden drohen. — Et tes boucles d’oreilles, combien qu’elles coûtent?… On voit que tu gagnes ça sur le dos. — Pardi! elle fait son quart au coin de la rue de Mondétour. […] Elles chantaient! « La boulangère a des écus qui ne lui coûtent guère; » elles tapaient des pieds, excitaient les Méhudin, comme des bêtes qu’on pousse à mordre; et il y en avait, à l’autre bout de l’allée, qui se jetaient hors de leurs bancs, comme pour sauter au chignon de la petite bonne, perdue, noyée, roulée, dans cette énormité des injures. (VP 722)

Als die Nachverhandlung über den Wert des Fisches unter wüstesten Schmähungen endgültig eskaliert und die Händler, „qui se jalousent terriblement entre elles, quand il s’agit de vendre un hareng de deux sous“ (VP 722) sich am Vorbild der Ehebrecherin im Tempel (Joh 8,2–11) zum Lynchmobb zusammen-

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schließen, tritt Florent dazwischen, nimmt die Bonne in Schutz, erreicht aber gerade das Gegenteil seines typologischen Vorläufers. —Toi, mon petit, je t’en… et, tiens! voilà comme je rends les dix francs! Et, à toute volée, elle lança la barbue à la tête de l’Auvergnate, qui la reçut en pleine face. Le sang partit du nez, la barbue se décolla, tomba à terre, ouèlle s’écrasa avec un bruit de torchon mouillé. (VP 722 f.)

Statt die Steinigung zu verhindern wird das vermeintliche Christuswort „Rendez les dix francs à mademoiselle“ (VP 722) zum Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. So wirft die Poissonière der Bonne statt eines Steins den Steinbutt an den Kopf, der mitsamt dem Evangelium wie ein nasser Lumpen auf dem Abfallhaufen landet. Außer sich über einen solchen Frevel kippt die Szene in das andere ikonische Bild Jesu im Tempel: — Je vous mets à pied pour huit jours! Je vous ferai retirer votre permission, entendezvous! […] La fille restait muette, toute blanche. Elle, la belle Normande, chassée de son banc! (VP 723)

Von heiligem Ernst ergriffen weist Florent die Fischweiber aus seinem Tempel, die „chassée[s]“ – Le Christ chassant les marchands du Temple – schon in der Wortwahl zeigen, dass sie verstanden haben, worum es hier geht. Den von der Auvergnatin artig vorgetragenen Vorwurf ihrer Herrin „que je me laissais voler par tout le monde…“ (VP 721) noch im Ohr und ebenso ihre Bekräftigung, „Vous êtes deux voleuses, oui, deux voleuses“ (VP 722), drängt sich der Gedanke an die sprichwörtliche Räuberhöhle nachgerade auf, ungeachtet dessen, dass die „spelunca latronum“ (Mt 21,13) dem Evangelium nach Matthäus folgt und eben nicht Johannes. Der referiert die Szene zwar in großer Eintracht mit dem Synoptiker, weicht aber ausgerechnet im Christuswort auf bemerkenswerte Weise ab: Die Räuberhöhle wird zum „domum negotiationis“ (Joh 2,16). Der Christus der Hallen treibt die Händler aus dem eigenen Haus. Das Heilsnarrativ bricht angesichts seiner kurzschlüssig verbuchstäblichten Botschaft, aus einer Markthalle in Gottes Namen keine Markthalle zu machen, zusammen. Die Bedeutungsmaschine kannibalisiert sich selbst, wenn zwischen Tempel und Markthalle, Aufseher und Erlöser, Romantik und Naturalismus, Hugozitat und authentischem Zola nicht mehr klar ist, was hier wen ersetzt. Geradezu bezeichnend erscheint das sich im Anschluss vollziehende Ende der Verwicklungen um den ursprünglichen dieu de la Halle, Marjolin, im vierten Kapitel ebenfalls unter Symptomen eines Kurzschlusses.

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Et il allait la prendre à la taille […] Elle leva le bras, comme elle avait vu faire aux abattoirs, serra son poing de belle femme, assomma Marjolin d’un seul coup, entre les deux yeux. Il s’affaissa, sa tête se fendit contre l’angle d’une pierre d’abattage. À ce moment, un chant de coq, rauque et prolongé, monta des ténèbres. La belle Lisa resta toute froide. […] Elle secoua les quelques plumes collées à ses jupes. Puis, craignant d’être surprise, sans regarder Marjolin, elle s’en alla. (VP 795)

In einem letzten Scherben der redaction primitive mit der Metzgerin in die abattoirs hinabgestiegen, erwartet ihn statt einer Romanze nur ein Schlag zwischen die Augen – und alsobald krähete der Hahn (Mt 26,74). Im Moment, da der alte Protagonist endgültig zur Seite geräumt wird, ertönt im Hahnenschrei nicht allein der Verrat an Hugo und dem alten Plan. Im scheinbar deplatzierten Zitat nach Matthäus wird in den Katakomben unter dem naturalistischen Lärm der rue Rambuteau (VP 795) die Folie des historischen Romans mit der der Heilsgeschichte kurzgeschlossen, wenn die Metzgerin sich eben noch in Verführung begriffen unter dem Eindruck der Schrift rücksichtslos davonhebt, um nach der Lammkeule zu sehen (ebd.) und im nächsten Schritt Florent, den naturalisierten agnus Dei zu verraten. Wie als Kommentar auf den Versprung der Ebenen schiebt der Erzähler, bevor alles seinen Weg geht, eine hochsignifikante Szene um Florent und Claude dazwischen, die das bereits in der Exposition verhandelte Verhältnis von Mittelalter und Moderne im symbolischen Rivalität von Saint-Eustache und Hallenviertel wiederaufnimmt. Wie zu Beginn lässt der Erzähler seine Identifikationsfigur Claude die Kontroverse im Stadtbild ausgebreitet lesen. En passant devant la rue du Roule, il avait regardé ce portail latéral de Saint-Eustache, qu’on voit de loin, par-dessous le hangar géant d’une rue couverte des Halles. Il y revenait sans cesse, voulait y trouver un symbole. — C’est une curieuse rencontre, disait-il, ce bout d’église encadré sous cette avenue de fonte… Ceci tuera cela, le fer tuera la pierre, et les temps sont proches… Est-ce que vous croyez au hasard, vous, Florent? Je m’imagine que le besoin de l’alignement n’a pas seul mis de cette façon une rosace de Saint-Eustache au beau milieu des Halles centrales. Voyez-vous, il y a là tout un manifeste: c’est l’art moderne, le réalisme, le naturalisme, comme vous voudrez l’appeler, qui a grandi en face de l’art ancien… Vous n’êtes pas de cet avis? Florent gardant le silence […] (VP 799)

War der Hahn Petri in das Ende der Glöcknerhandlung geplatzt, erscheint am Vorabend des erneuten Verrats und damit mitten hinein in die Christushandlung nun mit dem Titelwort des zweiten Kapitels zum fünften Buch von NotreDame de Paris „Ceci tuera cela“ die ganze diskursive Schwerkraft Victor Hugos. Viel ist geschrieben worden über die bemerkenswerte Wiederaufnahme der

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medientheoretischen Reflexion Hugos, an deren Beginn Gutenbergs Buchdruck steht, der den Kirchenbau aus Stein ersetzt und über die allein wiederum noch mehr geschrieben wurde. Auf einen Punkt bringt es Murphy in den enjeux d’une polémique, wenn sie mit Blick auf die Wiederaufnahme an anderer Stelle die Unvereinbarkeit von „science“ und „révélation“, „positivisme“ und „romantisme“ für Zola herausstellt55 und das Zitat zum Kampfbegriff verengt gegen seinen Urheber gewendet liest.56 Selbst zum Monument versteinert soll der historische Roman mit Dezalay auf den im Wind raschelnden Feuilletonblättern als naturalistischer neu geschrieben werden. Doch tritt noch in der Ausführung der Zweifel an der Methode, wenn auch bisher wenig beachtet, bereits deutlich hervor. L’armoire à glace, la toilette-com- mode, le guéridon couvert d’une dentelle au crochet, les chai- ses protégées par des carrés de guipure, mettaient là un luxe bourgeois net et solide. Contre le mur de gauche, aux deux côtés de la cheminée, garnie de vases à paysages montés sur cuivre, et d’une pendule représentant un Gutenberg pensif, tout doré, le doigt appuyé sur un livre, étaient pendus les portraits à l’huile de Quenu et de Lisa, dans des cadres ovales, très-chargés d’ornements. (VP 656)

Das Schlafzimmer der Quenu mag in seinem historistischen Bric-à-Brac die Zola’sche chambre in der rue de Boulogne 1878 mit all ihren Implikationen bereits antizipieren, deren Scheinheiligkeiten der angetrunkene Flaubert als die seines Saint Julien l’Hospitalier wiedererkennen wird. Im vergoldeten Gutenberg, der über das narratologische Problem seiner Wiederaufnahme selbst nachdenklich geworden auf das Buch zeigt, das nun seinerseits von den in Kitsch gerahmten natürlichen Porträts der Metzgersleute abgelöst wird – und damit zum Emblem der Romangenese wird – konfrontiert sich der Roman auf einmal mit sich selbst. Tout dormait. Dans la chambre, il fut très-contrarié de voir que Lisa avait laissé la bougie allumée; cette bougie brûlait au milieu du grand silence, avec une flamme haute et triste. Comme il ôtait ses souliers et les posait sur un coin du tapis, la pendule sonna une heure et demie, d’un timbre si clair, qu’il se retourna cons- terné, redoutant de faire un mouvement, regardant d’un air de furieux reproche le Gutenberg doré qui luisait, le doigt sur un livre. (VP 755)

Au milieu du grand silence nimmt der Roman sein Titelwort auf, das nun jedoch nicht mehr in Dunkelheit liegt und sehr zum Ärger des Charcutiers seine wenig originelle Geschichte in ein trauriges Licht rückt. Mit einem bis in die Exposition 55 Émile Zola, „Hugo et Littré“, in: Le Figaro, 13 Juni 1881, hier zitiert nach ders., L’encre et le sang, hg. v. Henri Mitterand, Éditions Complexe: Paris 1989, S. 260. 56 Murphy, „Zola critique de Hugo“, S. 534.

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zurückklingenden Glockenschlag ist es wieder halb zwei, die Klarheit des Tons zerreißt den Vorhang, durchbricht die Vorstellung, dass hier noch etwas Neues geschieht. In einer ganzen Kaskade der Rückverweise wendet Quenu sich konsterniert zurück, se re-tourna, re-doutant, re-gardant d’un air de re-proche. Ausgerechnet der aus Hugos historischem Roman in die Moderne weisende Vektor Gutenberg wird zum Index der Reprise, die schon Mitterand seiner Étude – wenn auch in kleinerem Bedeutungsumfang, so doch bemerkenswert – als zentrales Moment der Romangenese an den Anfang stellt (VP 1609) und überlässt den unglückseligen Farceur, der, wie sein oncle Gradelle „le nez tombé dans une terrine de graisse“57 mit der Nase in der Wurstschüssel enden wird, schlaflos seinem „lit fait pour dormir.“ (VP 656) So einfach ist es also nicht. Auch Murphy relativiert die „démarche destructrice“ Zolas, der sich sehr zu seinem Ärger Stimmen ausgesetzt sieht, die ihn in den Ruch bringen selbst ein verkappter romantique zu sein58, unter dem Zeichen der Ambiguität. Der Kirchenbau erscheint noch in den Augen des Naturalisten, Claudes wie des Erzähers, entgegen der eigentlichen Agenda als Umkehrung der Porträts Quenus und Lisas nun von der Moderne mehr gerahmt als ausradiert, während Florent nachdenklich schweigt. Dem selbst waren die Hallen Baltards als „forêt des piliers“ (VP 621) im Bild des ikonischen Baudelairesonetts59 erschienen, das die gerichtete Übertragungshandlung der Metapher in unendlichen Spiegelungen (ebd.) der Correspondances gezielt auflöst und die Methode des „ceci tuera cela“ so ad absurdum führt. [I]l continua: — Cette église est d’une architecture bâtarde, d’ailleurs ; le moyen âge y agonise, et la renaissance y balbutie… (VP 799)

Als wollte er sich angesichts des Schweigens selbst versichern, dass alles wie beschrieben sei, weicht Claude wie zu Beginn in die Architektur aus. Dabei ist die das Hallenviertel überragende Saint-Eustache selbst schon eine Fabel auf den roman naturaliste. Ganz und gar gotisch gedacht lebt sie von einer gleichermaßen aufgestuckten Renaissance. So weit mag man dem Freiluftmaler folgen, allerdings identifiziert er in der bastardisierenden Architektur nur eine Übergangsphase und kein strukturelles Problem. Dieses aber wird offenbar, wenn die Baumeister der Kirche den gotischen Spitzbogen als konstruktives Zentralmoment nicht ersetzen könnend diesen unter Rundbögen maskieren. Der neue 57 Zola reicht diese Information in der Exposition der Joie de vivre anlässlich der Wiederaufnahme Paulines nach, JV 825. 58 Murphy, „Zola critique de Hugo“, S. 534. 59 Charles Baudelaire, „Correspondances“, in: ders., Œuvres complètes I, hg. v. Claude Pichois, Paris: Gallimard 1975, S. 11.

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Stil führt sich selbst ad absurdum. In Unkenntnis Vasaris scheint die Gotik, die der Stil zu überwinden trachtet, als einziges der Hütte bekanntes Kirchenbausystem unter den Einzelformen der Renaissance allüberall hervor. Wie auch die spätere Umweihung des Altars per Dekret des commissaire du Directoire exécutif des dritten Pariser Arrondissement vom 20. Floréal des Jahres VII, dem 9. Mai 1799, zum „temple de l’Agriculture“60 am „place de la Frugalité républicaine“61 als nächster Versuch ceci durch cela zu ersetzen scheitert und mit dem anderen republikanischen Mummenschanz bald wieder abgeschafft wird, greifen auch die Schilderungen des neuen Hallenviertels mehr auf das Alte zurück, als dass sie es ersetzten. Im Versuch dies totzuschweigen wird der Naturalismus des Ventre – wie die Handwerker von Saint-Eustache konfrontiert mit dem Anspruch aus Überkommenem Neues zu schaffen – wie Armstrong und Dezalay, Marin und Zarifopol-Johnston zeigen, bald heimgesucht von halb verdauten Elementen klassischen Erzählens. Ob der contes populaires oder des historischen Romans, Bruchstücken aus Hugos Jahrhundertwerk, den abgebrochenen Trümmern der uralten Stadt an der rive droite oder des fest gepflasterten Weges der Evangelien. Im Versuch die mehrfach kurzschlüssig verbuchstäblichte Heilsgeschichte ausgerechnet unter dem „déluge de choux“ (VP 630, meine Hervorhebung) zu begraben, folgt der naturalistische Erzähler doch nur wieder dem Ordnungssystem, das er überwinden möchte und im Bild der Rundbögen, gleichermaßen von Baltard und Saint-Eustache, maskiert.

60 Maurice Tourneux, Bibliographie de l’histoire de Paris pendant la révolution française III. Monuments, mœeurs et institutions, Paris: Imprimerie Nouvelle 1900, S. 484. 61 Paul Lacombe, Les noms des rues de Paris sous la révolution, Nantes: Forest et Grimaud 1886, S. 16.

Nana – Bordell in Abrahams Zelt Äpfel und Dirnen Comparaison n’est pas raison – und doch ist kaum ein Versuch unterblieben Émile Zolas vielleicht monströsester, sicher berühmtester Schöpfung mit Vergleichen Herr zu werden. Alice Regnault, Anna Delions und Anna Judic, Blanche D’Antigny, Caroline Letessier, Delphine de Lizy oder die Valtesse de la Bigne: Kaum eine Kurtisane, keine Schauspielerin des Zweiten Kaiserreichs, an deren Schicksal das seiner Anna Coupeau noch nicht bis in die krausen Nackenhaare modelliert war.1 An all dem mag etwas Wahres sein. Noch während seiner Arbeit an der saft- und kraftlosen, gleichsam selbst etwas schwindsüchtigen Page d’amour findet Frederick Brown in einer ausführlichen Studie zu „Zola and the Making of Nana“ den Autor von seinem nächsten Projekt geradezu besessen vor: „Zola listened to everything, noted everything, digested everything.“2 Mit großem Fleiß hebt dieser von 1878 an im Kreis der Médanisten Alexis, Céard und Huysmans, bei Flaubert und Maupassant, deren industriellem Freund Laporte, Jacques Offenbach und insbesondere bei dessen Librettisten Ludovic Halévy jene Anekdotenschätze aus der Pariser Halbwelt, die es als scènes à faire der Nana zu Weltruhm bringen werden. Im sorgfältig versammelten Kreis illustrer Damen nennt Brown mit Offenbachs Soubrette Hortense Schneider, Cora Pearl – Geliebte Prinz Plon-Plon Napoléons und des duc de Morny, dem Halbbruder des Kaisers – sowie der sagenhaften Païva jenseits der ikonischen Tableaus drei Patinnen der großen Entwicklungslinien des Romans: raketenhafter Aufstieg von der Operettenbühne aus bis in die höchsten Kreise des Second Empire sowie ein rücksichtsloser, ruinöser Luxus. Um neben den realen auch ein literarisches Vorbild zu nennen, ergänzt Barbara Vinken unter anderen die gleichfalls von den „Blattern entstellte Marquise de Merteuil“3 des Skandalerfolgs Laclos’ fast ein Jahrhundert zuvor. Letzlich bleibt Browns gewissenhafte Methode, die schon im Titel seiner Studie zutage tritt und „the Making of Nana“ im peinlichen Abgleich mit Lebenszeugnissen Zolas vorsichtig rekonstruiert, hinter der tatsächlichen Nana als Ergebnis dieses Making-ofs überraschend weit zurück. Zu künstlich erscheint sie, zu kontrolliert zusammenoperiert als Frankensteins Kurtisane, die

1 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 200, 208 und Mitterand, N 1667 f. 2 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 198. 3 Vinken, „Nana“, S. 209. https://doi.org/10.1515/9783110605334-002

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so gar nichts von der „Frau aus Fleisch und Blut“4 hat, „qui pu la femme“5, wie Vinken den neunten mit dem vierzehnten Band der Rougon-Macquart, Nana und l’Œuvre, Zolas Epiphanie des Fleisches und seine Abrechnung mit Kunst und Künstlichkeit kurzschließt. So unterschlägt Brown bei aller Umsicht eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit im Ébauche zur Nana, den, wie Henri Mitterand seiner Étude an den Anfang stellt, „contrairement à ce qui s’est passé pour plusieurs des autres romans, Zola ne commença donc pas […] sans disposer d’une documentation technique déjà abondante.“ (N 1668) Mitterand schlägt als Erklärung vor, dass der Doktrin des roman expérimental widersprechend die Romanfigur hier ausnahmsweise älter als die Umstände ist, die sie hervorbringen, „[que] le personnage ait ici préexisté à l’idée abstraite qui devait donner au roman son sens.“ (N 1668) Die Bedeutung dieser Besonderheit mag man kaum überbewertet haben angesichts der Ehrfurcht eines Bibelexegeten, mit der Mitterand seinen ersten Gedanken zum Roman beschließt. « Nana » est la permier mot de la première ligne de l’ébauche. Et Nana est tout aussitôt caractérisée en ces termes, soulignés : « La vraie fille » (N 1668; Hervorhebung Mitterand)

Wird er die „vraie fille“ auch auf die „notes Laporte“6 zurückgebeugt vorläufig entzaubern und im Übrigen dieselben Namen wie auch Brown aus der venerischen Vorlagenkartei des Zweiten Kaiserreichs aufrufen: Nana steht in diesem Roman buchstäblich vor allem anderen. Das mag auch daran liegen, dass sie mitsamt dem vorangegangenen Krawallerfolg von L’Assommoir ein gutes Stück älter ist als er. Als Tochter der Gervaise Macquart ist sie nicht geschichtsloses Kunstprodukt aus dem Verschnitt illustrer Vorbilder: Sie wächst mit der Dekadenz des Zweiten Kaiserreichs und verleibt sich seine Verderbnis Schritt für Schritt, Bissen für Bissen ein, bis es das Ausmaß des Monströsen annimmt. Der „chair de marbre“ (N 1120) ihrer ersten Schilderung verbunden entwickelt Brown, wie der Titel der Studie bei genauerem Hinsehen nun fast unmissverständlich fordert, seine Idee von „Zola and the Making of Nana“ als Pygmalionmythos. Allein der Roman gibt anders als L’Œuvre dazu wenig Anlass. Bei all dem Marmor, den die selbst für die Rougon-Macquart noch opulente Ausstattung aufbietet: Im Vergleich mit ihm wird Nana nur einmal zur Galatea, während der Erzähler keine Möglichkeit auslässt in ihr anstelle dessen ein beeindruckendes Bestiarium zur Schau zu stellen. Nana erscheint im Paradigma der Chi4 Vinken, „Nana“, S. 202. 5 ebd., vgl. überdies Barbara Vinken, „Pygmalion à rebours. Fetischismus in Zolas l’Œuvre“, in: Mathias Mayer und Gerhard Neumann (Hg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg i. Br.: Rombach 1997, S. 593–621, hier S. 606. 6 ebd.

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märe. Sie ähnelt ihren Vorbildern, ohne sich je ganz auf Deckung bringen zu lassen. Im Vexierspiel von Païva, Pearl und Schneider, Löwin, Schlange, Geiß wird ihr der unzureichende Vergleich zum Prinzip. In der „toison de bête“ (N 1108) ist sie das eine Mal „chatte frileuse“ (N 1125), das andere Mal dog in heat7, gackert wie ein Huhn (N 1113), gluckst wie eine Pute (N 1168), schnattert wie eine Gans (N 1277), schlägt wie eine Wachtel (N 1277) und brät rundum vor dem Kamin wie jene gélinottes, die Daudet à chair de vielle courtisane in die sensible Formationsphase der Nana Anfang 1878 hinein, wie sich Mitterand (N 1667) und Brown einig wissen8, erstmals mit der Pariser Halbwelt in Verbindung bringt. „[L]e dos d’un poil de lionne“ (N 1271) werden die Vergleiche bald undomestizierter. Im Löwenfell wird die lionne als Euphemismus der zur demi-mondaine aktualisierten courtisane des 18. Jahrhunderts verbuchstäblicht zurückgebeugt auf die ihr zugrundeliegende Metapher. Die lionne Nana wird tatsächlich zur Löwin. Als Goldenes Kalb wird sie Vinken zum Idolatrum des Second Empire und jagt der Katastrophe in einer apokalyptischen Vision des Grand-Prix von Longchamp gleichsam als Ross und Reiterin entgegen.9 Monstrum und bestia als ständige Epitheta teilt sich das Rollenbild bald zwischen der „bête d’or“ der Offenbarung und den zivilisationsbedrohenden „monstres antiques“ des paganen Mythos. Im prominenten Bild der als Binnenerzählung eingeschobenen goldglänzenden Schmeißfliege, „envolée de l’ordure des faubourgs, apportant le ferment des pourritures sociale“ (N 1470), die der Erzähler schließlich bereitwillig übernimmt, wächst Nana noch über das Viehische, Bestialische, Monströse hinaus, wird zur „maladie“ (N 1458) als Strafe Gottes, zum blind wütenden Schicksal, zur Naturgewalt. „Elle devenait une force de la nature, un ferment de destruction, sans le vouloir elle-même, corrompant et désorganisant Paris entre ses cuisses de neige, le faisant tourner comme des femmes, chaque mois, font tourner le lait.“ (N 1269) Die „femme forte“ (N 1293) wird überhöht in ihrer „toute-puissance de femme“ (N 1113) zur Göttin. Anna, Nana und Inanna, mater, sponsa, filia. Schon im Vornamen drohen die kanonischen Weiblichkeitskonzepte zusammenzustürzen. Als synkretistische Venus des römischen Staatskults, die sich auch die altorientalischen Göttinnen Kybele und Astarte, Hathor, Tanit und Ischtar einverleibt, erscheint Nana, wie Vinken zeigt, in der Epiphanie der großen Mutter10. „[S]on sexe assez fort pour détruire tout ce monde et n’en être pas entamé“ (N 1120) bespielt sie gleichzeitig unberührt als bei aller Unvollkommenheit lie7 Émile Zola, Dossier préparatoire de Nana, B.N.F, Ms, NAF 10.313, f° 207r, f° 208r. 8 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 198. 9 Vinken, „Nana“, S. 216–220. 10 Vinken, „Nana“, s. 219.

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bende Mutter des todgeweihten Loulou, „toute rose comme une vierge, avec des rires et des regards trempés de tendresse“ (N 1290) im blauen-weißen Marienkleid und angebetet wie die Himmelskönigin im Sternenkranz11 ebenso souverän die Ikonografie der christlichen Madonnen. Hin- und hergerissen zwischen Venusapfel und Birne der christlichen Bilderwelt verkommt der Versuch die Hauptfigur zu fassen zum sprichwörtlichen Vergleich des Unvergleichbaren – und führt ihn abermals als Konstruktionsprinzip der Nana vor. Männerverschlingerin und Muttergottes, Naturgewalt und „mouche d’or“ (N 1267, 1269) auf dem Misthaufen des Zweiten Kaiserreichs liest Roger Clark Zolas eponyme Romanheldin weniger als in den Rougon-Macquart verfasste Figur, denn als „enigma […] clouded by the extensive network of tropes (metaphors, similes, metonymies) and the wealth of allusions and references“12. Umwölkt wie die pagane Offenbarung sieht er in ihr nicht die Apotheose des Gossenmädchens von 1877. Vielmehr droht Nana in einer Flut von Epitheta und Zuschreibungen „down a metaphorical black hole“ zu verschwinden „to be lost amidst a kaleidoscope of conflicting viewpoints and images“13 – zwischen Äpfeln und Dirnen. Mag letztlich auch viel für diese Position sprechen: Ian Tulloch weist sie unter dem relativierenden Verweis, Zola „a little more personal idiosyncrasy and distinctiveness to his leading character“14 einzuräumen, doch zurück. Und zweifelsfrei fällt in der nahezu grenzenlos nach oben eskalierenden Kaskade hyperbolischer Vergleiche, die der Roman aufbietet, eine Ostinatoform auf, die seine Hauptfigur mit großer Regelmäßigkeit rückbindet an das dumme Gör aus dem Banlieu, als welches ihre Geschichte zwei Bände eher beginnt. Et tandis que, dans une gloire, son sexe montait et rayonnait sur ses victimes étendues, pareil à un soleil levant qui éclaire un champ de carnage, elle gardait son inconscience de bête superbe, ignorante de sa besogne, bonne fille toujours. (N 1470)

Noch als Nana ihr Zerstörungswerk beinahe vollendet hat und alle bisherigen Vergleiche aufs Ungeheuerlichste übertreffend nicht als black hole, sondern „pareil à un soleil levant“ im Bild eines verkehrten Sonnenaufgangs als Triumph des Todes strahlend über ihren ausgesogenen Opfern erscheint, da sie den Kosmos buchstäblich ins Chaos stürzt und die Lichtmetaphern der Gnade in einem pervertierten Heiligenschein mit der Epiphanie ihres Geschlechts durchkreuzt, bleibt sie von dem Zerstörungswerk unangefochten, unbeküm-

11 Vinken, „Nana“, S. 218 f. 12 Roger Clark, Zola. Nana, London: Grant & Cutler 2004, S. 12. 13 Clark, Zola. Nana, S. 12. 14 Ian Tulloch, „Zola. Nana by Roger Clark“, in The Modern Language Review, 101/1 (2006), S. 255.

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mert. Selbst noch als sie am Vorabend der großen Vanitas in der Vision des Schlachtfelds von Sedan und der Pariser Blutwoche erscheint, auf die mit ihrem Tod im Schlusskapitel sie das Zweite Kaiserreich zu führen anschickt, ist sie – wie immer – ein gutes Mädchen: „Nana tourne au mythe sans cesser d’être réelle.“15 Das äußerst prominente Flaubertzitat ist einzubetten in den Kontext der Februarkorrespondenz seines Todesjahrs 1880. In einer beispiellosen Werbeschlacht hatte der Voltaire alles auf Nana gesetzt und die Pariser Feuilletons vom 16. Oktober 1879 bis 5. Februar 1880 in neunzig Lieferungen aufgemischt (N 1655). Bereits am 7. Januar hatte Zola die Feder mit großer Erleichterung zur Seite gelegt und in seinem Freundeskreis sichtlich zufrieden von einem Romanschluss berichtet, wie er sich besser nicht träumen ließe.16 Umso ungeduldiger bittet Flaubert, der Edmond de Goncourt gegenüber schon am 11. Februar nervös auf die Lieferung der Nana wartet, um sich danach endlich dem Schlusskapitel von Bouvard und Pécuchet zu widmen17, in einer Notiz an Charpentier vom 13. Februar ihm „tout de suite“18 ein Exemplar der in Herausgabe befindlichen édition originale zu übersenden. Möglicherweise mag ihn dieses über den Umweg der Korrespondenz mit Zola schon am Folgetag erreicht haben: Als er sich am späten Vormittag des 15. Februar am Schreibtisch niederlässt, hat er den 14. Februar 1880, „toute la journée jusqu’à 11 heures et demie du soir“ damit verbracht Nana zu lesen und darüber in der Nacht kein Auge zugetan.19 In einer selbst für das herzliche Verhältnis Flauberts zum zwanzig Jahre jüngeren Freund außergewöhnlichen Akkolade, die Zola die nervös erhoffte Vereinbarkeit von Publikumserfolg und Respekt des literarischen Ziehvaters versichert20, lobt Flaubert den „livre énorme“, in dem man gar nicht zu nennen vermag, was sich darin alles „de rare et de fort“ findet.21 Den Tod der Nana bezeichnet er, bald von allen Exegeten kanonisch übernommen, als „Michelangelesque“22 und macht sich schließlich doch daran, aufzuzählen, was alles ihm gefallen hat. Endlich schließt er mit dem berühmt gewordenen Orakel, Nana würde Mythos,

15 Flaubert an Zola, 15. Februar 1880, S. 388. 16 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 216. 17 Gustave Flaubert an Edmond de Goncourt, 11. Februar 1880, in: ders., Correspondance, Bd. 8, S. 381. 18 Gustave Flaubert an Georges Charpentier, 13. Februar 1880, in: ders, Correspondance, Bd. 8, S. 384. 19 Flaubert an Zola, 15. Februar 1880, S. 386. 20 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 217. 21 Flaubert an Zola, 15. Februar 1880, S. 386. 22 ebd.

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ohne an Realität zu verlieren.23 Nicht ohne polternd mit „Cette création est babylonienne“ nachzusetzen, schließt er unter Umarmungen mit „Dixi!“ und lässt im Postscriptum seine Bitte an Charpentier nach einem Exemplar aus dem „petit succès assez chouette“24 noch einmal wiederholen. Ob er den durch Gerüchte, das Werk könnte indiziert, die Auflage beschlagnahmt werden25, noch angeheizten Erfolg von gleichsam über Nacht verkauften 55.000 Exemplaren26 à 3 fr 50 in diesem Umfang vorausgeahnt haben mag, ist nicht völlig klar. Charpentier gegenüber jedenfalls prophezeit er noch am selben Tag, „que les millions doivent pleuvoir […] par le canal de Nana“ und erbittet sich aus diesem Goldregen neben einer „Nana, de surplus“ einen Vorschuss, um den Holzhändler endlich zu bezahlen.27 Noch bis kurz vor seinem Tod im Mai des Jahres wird er von Nana nur das Beste sagen. Dabei fällt im ausladenden Lob, das er für das enorme Œuvre „faite par un homme de génie“, seine Charaktere und „cris de passion“, seine Tiefe, seinen Reichtum und die „vrai comique“28 immer wieder in abgewandelter Form dem Autor wie dem gemeinsamen Verleger, seiner Nichte, Maupassant und Edma Roger des Genettes gegenüber übrig hat, eine Besonderheit auf. In einem letzten auf den 15. Februar datierten Brief, diesmal an seine Nichte Caroline, der seine Aussagen im Schreiben an Zola erhärtet, „toute [la] journée […] (de 10 heures du matin à 11 heures et demie du soir, sans désemparer)“ mit der Lektüre der Nana verbracht zu haben, wiederholt er, der Dame zugestehend, „[qu’]il y a des choses d’une obscénité sans pareille“29 fast wörtlich den Kernsatz seiner Kritik, um den sich all seine Beschäftigung mit dem Werk zu organisieren scheint: „Nana tourne au mythe sans cesser d’être une femme[.]“30

Repräsentation und Inszenierung Ob sie nun femme bleibt oder réelle, die mythische Konstitution der Nana ist gesetzt. In einer Komposition, die sich dennoch standhaft gegen den naheliegen23 a.a.O., S. 388. 24 ebd. 25 Gustave Flaubert an Guy de Maupassant, 17. Februar 1880, in: ders., Correspondance, Bd. 8, S. 395. 26 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 216. 27 Flaubert an Charpentier, 15. Februar 1880, S. 388 f. 28 Flaubert an seine Nichte Caroline, 15. Februar 1880, in: ders., Correspondance, Bd. 8, S. 390. 29 ebd. 30 a.a.O, S. 391.

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den Symbolismusverdacht einer reinen Mythisierung behauptet, wie sie Zola Gautier 1879 erneut vorgeworfen hat, mag für Flaubert die entscheidende Qualität dieser création babylonienne liegen. Seinen Ausgang nimmt Nanas sagenhafter Aufstieg nicht im alten Orient, sondern im zweiten Arrondissement von Paris: in einer kalkuliert erfolgreichen Kostümklamotte, deren Anlehnung an Offenbachs Belle Hélène von 1864 in der Wahl der Bühne des Théâtre des Variétés, in Zeit, Genre, Besetzung und Aufführungspraxis nahezu alle Exegeten herausstellen. Allein, so harmlos ist die Blonde Vénus nicht. Offenbachs opéra bouffe hält, besonders im dritten Akt, mit allerlei Anleihen der Pariser Gegenwart durchaus den Spiegel vor, doch werden die lächerlich gemachten Moralstandards des Second Empire letztlich erfolgreich in die griechische Antike ausgewiesen. Der trottelige, impotente König mit seiner viel zu jungen, schönen Frau bleibt trotz der Parallelen, die man zu Napoleon III., seiner 18 Jahre jüngeren Kaiserin und ihrer nicht nachgerade dynastischen Familienplanung ziehen möchte, doch Menelaos, König von Sparta. In Zolas Stück hingegen hält die verharmlosende Metapher nicht mal dem ersten Blick stand: „Le premier acte de la Blonde Vénus se passait dans l’Olympe, un Olympe de carton, avec des nuées pour coulisses“. (N 1105) Fauchéry, als Journalist und Dramaturg auf beiden Seiten der Rampe zu Hause, bringt es sofort auf den Punkt, wenn er angesichts der aufwendigen Draperie der Iris klarmacht, dass auf dieser Bühne weniger das Kostüm zählt, als das, was man unter der „grande écharpe“ (ebd.) gerade nicht anhat. „Tu sais qu’elle retire sa chemise pour mettre ça, dit-il à Fauchery, de façon à être entendu.“ (ebd.) Spätestens als Diana „faisa[nte] […] sa poire“ (N 1106) über Mars, welcher der apfelbackigen Venus etwas zu sehr zuspricht, in Rose Mignon „[b]ien qu’elle n’eût ni la taille ni la figure du rôle“ (N 1105) die Bühne betritt und lediglich als reine Zuschreibung verkörpert wird, ist die Inszenierung „raillerie même du personnage“ (ebd.). Statt als Göttin tritt sie in der Hosenrolle eines „gamin parisien“ (ebd.) auf. Ihr Mann, der Kriegsgott wird völlig überzeichnet zum „Mars de la Courtille“ (N 1106). Den Pariser Karneval an der berühmtesten barrière festive im Namen und noch in seiner Rolle als Verkleideter markiert, steht er weniger für römische virtus als das aus dem Stadtbild zwar getilgte, aber wehmütig erinnert sprichwörtlich gewordene steuerfreie Besäufnis am mur d’octroi außerhalb des Zollzugriffs der Hauptstadt. All das lässt das Publikum einigermaßen kühl, „le public redevint froid“ (ebd.), „la fin de l’acte fut plus froide“ (N 1108). Herausreißen kann es nur eine Venus, die blond, „très grande, très forte pour ses dix-huit ans“ (N 1107), sonst recht gewöhnlich, singt „comme une seringue“ (ebd.), aber in einem „coup de hanche qui dessina une rondeur sous la mince tunique“ (N 1108), mit dem, was sich unter dem Kostüm verbirgt, die Herren im Saal zurückwirft in die Gockeleien ihrer Pubertät. Am Ende ist man dennoch al-

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les andere als überzeugt. Angesichts eines „Jupiter imbécile, la tête écrasée sous une couronne immense“ (1106) und seines schwachsinnigen Pantheons „[u]n même mot courait: — C’est idiot.“ (N 1109) Dass in der durchsichtigen Inszenierung eines von der Krone fast Erschlagenen auch der imperiale Pomp des Zweiten Kaiserreichs getroffen wird, das außer Kurtisanen scheinbar nichts an Überzeugendem zu bieten hat, mag sich bereits angedeutet haben. Im zweiten Akt werden diese Legitimationsprobleme offensichtlich. Le décor du second acte fut une surprise. On était dans un bastringue de barrière, à la Boule-Noire, en plein „mardi gras; des chienlits chantaient une ronde, qu’ils accompagnaient au refrain en tapant des talons. Cette échappée canaille, à laquelle on ne s’attendait point, égaya tellement, qu’on bissa la ronde. Et c’était là que la bande des dieux, égarée par Iris, qui se vantait faussement de connaître la Terre, venait procéder à son enquête. Ils s’étaient déguisés pour garder l’incognito. Jupiter entra en roi Dagobert, avec sa culotte à l’envers et une vaste couronne de fer-blanc. Phébus parut en Postillon de Longjumeau et Minerve en Nourrice normande. De grands éclats de gaieté accueillirent Mars, qui portait un costume extravagant d’Amiral suisse. Mais les rires devinrent scandaleux, lorsqu’on vit Neptune vêtu d’une blouse, coiffé d’une haute casquette ballonnée, des accroche-coeurs collés aux tempes, traînant ses pantoufles et disant d’une voix grasse: « De quoi! quand on est bel homme, faut bien se laisser aimer! »“ (N 1111 f.)

War die karnevaleske barrière festive im ersten Akt dem Mars de la Courtille als Epitheton beiseitegestellt, wird sie nun tatsächlich zur Überraschung des Publikums verbuchstäblicht zum Schauplatz. Im „carnaval des dieux“ (N 1112) wird die legitime Herrschaft in der „bastringue de barrière“ (N 1111) außerhalb des Bannkreises zum Höhepunkt und letzten Tag des Karnevals und reißt nicht nur den Olymp „dans la boue“ (ebd.). Der schwachsinnige Jupiter erscheint als König Dagobert, nicht Émile Signols, der für den musée historique de Versailles Louis-Philippes den Merowinger 1842 als Christkönig malt. Die „culotte à l’envers“ (ebd.) verkörpert er den unseligen König im Bild des Spottlieds, das seit dem 18. Jahrhundert gesungen und um eine ganze Reihe Strophen erweitert bald so verbreitet ist, dass einhundert Jahre später jedes Kind ein Dutzend derer beherrscht.31 Beste Voraussetzungen für die Wiederaufnahme im leichten Unterhaltungssegment und Zolas Dagobert au Vaudeville ist keinesfalls allein.32 1844 präsentiert das Duo Laurencin et Clairville, Paul-Aime Chapelle und Louis-François Nicolaie, den König an der place de la Bourse auf der Bühne des théâtre du

31 Eine erste wissenschaftliche Würdigung erweist Johannès Plantadis der chanson im Bulletin de la Société scientifique historique et archéologique de la Corrèze, 52 (1921), im Rahmen seines Aufsatzes „Le Miroir des Limousins“ Bd. 43, S. 174" 189); Plantadis datiert das Lied auf die ersten Jahre des 18. Jahrhunderts und weist ihm im Allgemeinen 22 achtversige Couplets zu. 32 Plantadis, „Le Miroir des Limousins“, S. 176–179.

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Vaudeville und zieht ihm en „deux actes et trois époques“33 den legendären Hosenboden stramm. Damit eröffnen sie eine beispiellose Reihe königlicher Albträume: 1869 lassen Philodèm Octave Marquet und Delbès den König zappeln zur Musik von Georges Douay.34 Die vier Tableaus der fantaisie bouffe La culotte à l’envers von Marcel Guillemaud und Maurice de Marsan35 werden in fast jedem caf’conc von Paris gegeben. 1900 bereits gibt es mit Le Roi Dagobert noch zu Lebzeiten Émile Zolas eine zweite Operette, diesmal aus der Feder von Léon Raboteau und Octave Pradels zur Musik Marius Lamberts und das Amüsement reißt so schnell nicht ab. Es folgt ein sensationeller Auftritt in der ComédieFrançaise 1908, ein Stummfilm der Pathébrüder 1911 und eine Pantomime im Nouveau-Cirque 1912. Schließlich auf Weihnachten 1912 die revue locale à grand spectacle der wohltätigen Amicale Victor-Hugo Dagobert à Clichy, soirée de gala suivie de bal mit lokaler Prominenz. Nach dem Krieg in La culotte du roi Dagobert 1920 eine dritte Operette, diesmal gauloise in drei Akten von Léon Michel und Fernand Raphaël, eine vierte 1921, Le Rêve de Dagobert von André Luc und Roland Aunui in den Folies-Bergère de Rouen und fünfte 1927 nach Rivoires Vorlage von Marcel Samuel-Rousseau. Mit der Komödie um Dagobert noch nicht genug, auch Apollon erscheint nicht nur verkleidet, sondern als herbeizitierte Bühnenfigur des Postillons de Lonjumeau (N 1112) aus Adolphe Adams komischer Oper von 183636, die als Kostümklamotte noch dazu vor der Kulisse der königlichen Oper des Ancien Régime angesiedelt, wieder aufs ursprüngliche Problem verweist. Dass Laurencins und Clairvilles Dagobert acht Jahre später, nach dem Brand des théâtre du Vaudeville 1838 an der rue de Chartres-SaintHonoré – 1864 bis 1879 unter der neuen avenue de l’Opéra verschwunden – in den verwaisten Räumlichkeiten des théâtre des Nouveautés, in welchen zuvor die Opéra-comique gespielt hatte, auf die gleichen Bretter tritt, mag diesen Eindruck nur erhärten. Die zur Minerva romanisierte Athena, Initiatorin des königlichen Dressing-downs der Odyssee wird zur normannischen Amme (N 1112), die ebenfalls bereits im Epos die Maskerade durchschaut und aufdeckt. Die unermüdlich wehrhafte, keusche Schutzgöttin der attisch-demokratischen Polis mag Eugène Delacroix 1830 für die Marianne Modell gestanden haben. Den Helmbusch zur Phrygermütze umgebildet, den Peplos in der mode à la grecque aktualisiert führt sie als allegorische Liberté das Volk in die Julirevolution. Im Zweiten Kaiserreich bleibt davon nichts als die entblößte Brust. Die Göttin wird 33 Paul-Aime Chapelle dit Laurencin und Louis-François Nicolaie, dit Clairville, Le roi Dagobert à l’exposition de 1844, Paris: Delacombe et al. 1844. 34 Armand-Jean-René Delbès und Adolphe Marquet, Ce bon roi Dagobert, Paris: Barbré 1869. 35 Marcel Guillemaud und Maurice de Marsan, La culotte à l’envers, Paris: Joubert 1901. 36 Adolphe de Ribbing, dit de Leuven und Léon-Lévy Brunswick, Le Postillon de Lonjumeau, Paris: Dondey-Dupré 1836.

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zur Milchkuh, die zwischen Camembert und Butter von der gallischen Volkstümelei zu Tode gemolken wird, auf den Lippen stets das Wiegenlied vom guten König Dagobert. Kriegsgott Mars erscheint noch extravaganter als zuvor in einer Aufschneideruniform verkleidet in der Rolle des plautinischen miles gloriosus und verlacht als sprichwörtlicher Schweizer Admiral (N 1112) die ungeheuerlichen Kostümierungen, in denen sich bereits Louis-Philippe nicht nachgerade vorteilhaft als Husar von Winterhalter malen lässt. Neptun, der Erderschütterer schließlich wird effeminiert mit einer lächerlichen Skippermütze und angeklebten Schmachtlocken zum Gigolo (ebd.). Iris verkleidet die Götter als Theaterrollen. Kostümiert als fragwürdige Stellvertreter ihrer selbst auf Erden reihen sich die paganen Götter in die herrschaftliche Maskerade, die Kaiser Napoléon III. zum Entzücken der Kaiserin in schwarzen Culottes vor Cabanel treten lässt, während sich die Öffentlichkeit das Maul zerreißt über das Staatsporträt als Empereur en robe du maître d’hôtel. In der bastringue, nun nicht mehr an der Courtille, sondern zu Füßen des Montmartre, aktualisiert der zweite Akt die ersten Auftritte der jungen Anna Coupeau im Assommoir und setzt den empirischen Anspruch der histoire naturelle et sociale einigermaßen überraschend für den werbenden Verweis auf die zeitgleich mit Nana entstehende Bühnenfassung aufs Spiel. So wird, während William Busnach den Assommoir recht erfolgreich inszeniert, auch die mythische Venus mit ihrem Kostüm zunehmend durchsichtiger. Als „Poissarde“ (N 1112) wird ihr Ursprung in der Destille am Straßenkreuz von boulevard de Rochechouart und rue des Poissoniers um ein Haar wörtlich offenbar. Auch Nana wird als Bühnenfigur verkleidet, doch liegen inszenierte Realität innerhalb der Romanfiktion und Realität der Inszenierung am neuen théâtre de l’Ambigu über Kreuz. Aussi fut-ce un triomphe, lorsqu’elle mena le bastringue. Elle était là chez elle, le poing à la taille, asseyant Vénus dans le ruisseau, au bord du trottoir. (N 1113)

In der fiktionalen Bühnenhandlung, deren zweiter Akt als Spiel im Spiel die Realität der Fiktionsebene inszeniert, wird Nana Wirklichkeit. Im Schmutz des Amüsierbetriebs tanzend ist sie buchstäblich chez elle, ganz bei sich. Nicht auf dem Olymp, nicht im Théâtre des Variétés, sondern auf dem Boulevard schlägt sie Paris in ihren Bann, wird zum mythe sans cesser d’être réelle und setzt diesem Programm verpflichtet die Venus in den Straßengraben. Im dritten Akt wird die alte Ordnung scheinbar wiederaufgerichtet. Doch können weder das höchst kanonische crimen flagrans, noch das homerische Gelächter über die Breschen hinwegtäuschen, die Nana als metaleptische Figur in die Brandmauern der Allegorie geschlagen hat. Vulkan erhält dem Mythos fol-

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gend seine Frau zurück, Jupiter verrückt die kleine Weißwäscherin „pour avoir la paix dans son ménage“ als „constellation“ (N 1120) der Gervaise Macquart in staatstragende Sternenferne. Amor wird befreit, hat jedoch statt das Wort „aimer“ zu konjugieren cocottes gebastelt (ebd.), die bereits wieder auf eine Halbwelt referieren, die der klassische Olymp nicht kennen sollte. Die Redingote des Jupiter wird von nun an die „casaque lamée d’or du roi Dagobert“ (N 1196) darunter nicht mehr verbergen. Die doppelt verschachtelte Travestie des abgehalfterten Operettenkapitäns Bosc – dressing up zum imbezillen Jupiter und als dieser down zum Dagobert – fliegt auf. Als Nana endlich nackt ist, entblößt sie gleichzeitig den Zweck der Inszenierung: „[S]ouriante et grandie dans sa souveraine nudité“ (N 1120) ist sie Venus der Vorstadt und die Hauptstadt ein Vaudeville. Als neuer Mythos zitiert Nana damit viel deutlicher als die oberflächlichen Verbindungen der Blonde Vénus zur Belle Hélène ein anderes Werk Offenbachs, das bis heute pars pro toto auf den Pariser Amüsierbetrieb des späten 19. Jahrhunderts referiert. 1858 als opéra bouffe mit bahnbrechendem Erfolg uraufgeführt, wird der legendäre Orpheus in der Unterwelt 1874 um mehr als das Doppelte abendfüllend erweitert erneut zum Kassenschlager. Jenseits eingängiger Couplets verbindet Orphée aux enfers und Nana die radikale Absage an das Liebesideal. Hier die Venus als alles verderbende Mouche d’or, dort Gott Jupiter, der im Fliegenkostüm die älteste Liebesgeschichte der Welt verdirbt. Als ironisierende Aktualisierung des berühmten Opernstoffs, die Orpheus und Eurydike weniger einer alles überwindenden Liebe, denn der öffentlichen Meinung verbunden zeigt, wäre das alles noch nicht staatsgefährdend. Das wahre Ferment liegt im letzten Bild der Oper in einem kaum beachteten Detail. Als Jupiter im Chaos des populären Galop infernal versteckt verfügt, Eurydike solle nicht dem Gott der Unterwelt bleiben, sondern Bacchus dienen, wirft der betrogene Pluto mehr um die Ordnung als seiner selbst besorgt ein: „Mais ça n’est pas dans la mythologie!“37 Jupiters Erwiderung schafft es selten in die Inszenierungen und geht selbst dann zumeist in der das Stück beschließenden Reprise des Cancans unter. Zumindest über den Kontakt zum Librettisten aber, den Zola für seine Nana ausführlich konsultiert, dürfte der geradezu revolutionäre Passus zu ihm vorgedrungen sein. Im allgemeinen Tumult des Finales lässt dieser Jupiter antworten: „Eh bien! On la refera, la mythologie!“38 Halévy, an beiden Inszenierungen maßgeblich beteiligt, dürfte sich der Sprengkraft der von lärmenden Tschinellen übertönten Schlussworte durchaus bewusst gewesen sein, auf die der überholte Pantheon nichts mehr erwidern kann als Lalala. 37 Hector Crémieux et al., Orphée aux Enfers, Paris: Calmann-Lévy 1858, S. 84. 38 Crémieux, Orphée aux Enfers, S. 85.

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In und out Zu Füßen des Montmartre erblickt Anna Coupeau im Assommoir 1852 das Licht der Welt zwischen den Arbeiter- und Vergnügungsvierteln und wächst mit den Baustellen auf den neuen Boulevards des Pariser Nordens. Montmartre ist ein liminaler Ort. 1860 fällt hier mit dem ehemaligen mur des fermiers généraux die letzte eigentliche Stadtmauer, die im Dreivierteljahrhundert ihres Bestehens Paris und die jenseits gelegene Dörfer stets mehr verband als trennte. Von 1785 bis 1788 realisiert, nicht zur militärischen Befestigung, sondern als Grenze quer durch den Dritten Stand reißt schon ihre Errichtung Stein um Stein eine noch weitaus ältere ein. Mit der sich im 18. Jahrhundert ständig verschlechternden Lage des Staatshaushalts geht ein beispielloser Aufstieg der finance einher. Im Moment, da Ludwig XV. noch unter der Regentschaft des ducs d’Orléans und seiner legendären Ausschweifungen praktisch bankrott ist39, schlägt die Stunde der Bankiers, die sich den Zuschlag für die Erhebung der Generalpacht sichern und als Zollpächter der ferme générale ab 1726 die große bürgerliche Erfolgsgeschichte des Ancien Régime schreiben.40 Die gottgegebene Feudalordnung beginnt zu bröckeln. Was folgt, mag man als Prolog auf 1789 lesen. 1745, zwei Jahre nach dem Tode des de-facto-Premiers Ludwigs XV., Kardinal de Fleurys, erscheint die 24-jährige Jeanne-Antoinette Poisson, verheiratete Le Normant – Bürgertochter, Protégée und Mündel des Hofbankiers Jean Pâris de Monmartel – erstmals in Versailles. Sieben weitere Jahre später gilt die inzwischen zur marquise erhobene Madame de Pompadour dem marquis d’Argenson als „un cardinal de Fleury et demi.“41 Noch in der Großelterngeneration völlig undenkbar reißt die Tochter des zum Heereslieferanten aufgestiegenen Weberssohns eine Schranke nach der anderen ein, wird 1745 maîtresse en titre des Königs und markiert noch in l’Assommoir in Virginie, die als „madame Poisson“ (AS 541) die „positions peu catholiques“ ihrer Jugend vergessen macht (ebd.), den gewissermaßen für sich selbst sprechenden Pompadour-Tapeten (AS 497) sowie anlässlich ihrer den Erfolg auf dem Theater krönenden crémaillère in Nanas „croustades d’ananas Pompadour“ (N 1181), denen gleich beider Namen eingeschrieben ist, das Paradigma des gesellschaftlichen Aufstiegs. Die Ordnung wird dynamisiert, „man war nicht mehr, man wurde.“42 Was Barbara Vinken als Geheimnis der Mode herausarbeitet, lässt sich auf das Verhältnis von féodal und 39 Andrew McFarland Davis, „An Historical Study of Law’s System“, in: The Quarterly Journal of Economics, 1/3 (1887), S. 289–318, hier S. 289. 40 McFarland Davis, „An Historical Study of Law’s System“, S. 314. 41 René Louis de Voyer de Paulmy d’Argenson, Journal du marquis d’Argenson, hg. v. Laurent Sortais, Clermont-Ferrand: Paleo 2006, Bd. 9, s. 39. 42 Barbara Vinken, Angezogen. Das Geheimnis der Mode, Stuttgart: Klett-Cotta 2013, S. 50.

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finance, court und ferme erweitern: mit weitreichenden Folgen. Der Fortbestand der in Auflösung begriffenen Ständeordnung kann nicht mehr auf die Repräsentation einer unsichtbaren Ordnung setzen und wird zur Inszenierung der buchstäblichen Exklusivität derer, die es geschafft haben. In der Pompadour bringt die ferme eine der ihren an den König und macht sich kaum 20 Jahre später daran, neue Mauern zu errichten, die Paris geradewegs in die Revolution führen. Die gefallene unsichtbare Grenze wird im Mauerwerk des mur des fermiers généraux manifest verbuchstäblicht: Wie zum Spott als Monument einer entgrenzend herzlichen Übereinkunft der höfischen Feudal- mit neuen, bürgerlichen Finanzeliten soll diese Mauer die wirtschaftlichen Interessen eines äußerst exklusiven Kreises schützen, von dem der Versailler Pomp längst abhängig geworden ist. Paris, das sich unter Ludwig XIV. rühmen konnte keiner Mauern zu bedürfen und dessen ehemalige Befestigungen Turgot 1739 als breite, zu Spazierfahrten einladende Chausseen des Nouveau Cours zeigen lässt, wird von den eigenen fermiers umzäunt, belagert, ausgepresst. Darüber kann auch eine noch so repräsentativ gestaltete Stadtbefestigung nicht mehr hinwegtäuschen. In der klassizistischen Theaterarchitektur, der von Claude-Nicolas Ledoux entworfenen maisons d’octroi sieht, wer nicht zur Fiskalelite der Generalpächter gehört, vor allem eine „magnificence très-déplacée“43, da, wie Jacques-Antoine Duaure bemerkt, „pour des bureaux et des commis de barrières il ne faut ni vaste édifice, ni temple, ni palais.“44 Auf den Punkt bringt es der populäre Alexandriner „Le mur murant Paris, rend Paris murmurant.“, in dessen Folge der empörte Dritte Stand weiterdichtet: „Pour augmenter son numéraire/ Et raccourcir notre horizon/ La Ferme a jugé nécessaire/ De mettre Paris en prison.“45 Mit der Bastille brennen nur Jahre später auch die Zollpaläste.46 Selbst als das Direktorium die Grenze wiedereinsetzt, ist die Bresche in den Köpfen nicht mehr zu schließen. Als Stadtgrenze bis 1860 trennt die Mauer weniger, als vielmehr den zunehmend fragwürdig gewordenen Unterschied von in und out zu aktualisieren. So bleibt sie gerade im Verlust ihrer ursprünglichen Funktion als Denkmal in den Köpfen untilgbar bestehen und erstreckt sich noch in den Rougon-Macquart als Äquator über den Zola’schen Gesichtskreis: zwischen der Baustelle des hôpital Lariboisière und den napoleonischen Großschlachthäusern.

43 Jacques-Antoine Dulaure, Histoire physique, civile et morale de Paris. Depuis les premiers temps jusqu’à nos jours, Paris: Guillaume 1824, Bd. 8, S. 421. 44 Dulaure, Histoire physique, civile et morale de Paris, S. 421. 45 Dulaure, Histoire physique, civile et morale de Paris, S. 421. 46 Momcilo Markovic, „La Révolution aux barrières. L’incendie des barrières de l’octroi à Paris en juillet 1789“, in: Annales historiques de la Révolution française, 372 (2013), S. 27–48.

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Lentement, d’un bout à l’autre de l’horizon, elle suivait le mur de l’octroi, derrière lequel, la nuit, elle entendait parfois des cris d’assassinés; et elle fouillait les angles écartés, les coins sombres, noirs d’humidité et d’ordure, avec la peur d’y découvrir le corps de Lantier, le ventre troué de coups de couteau. Quand elle levait les yeux, au delà de cette muraille grise et interminable qui entourait la ville d’une bande de désert, elle apercevait une grande lueur, une poussière de soleil, pleine déjà du grondement matinal de Paris. Mais c’était toujours à la barrière Poissonnière qu’elle revenait, le cou tendu, s’étourdissant à voir couler, entre les deux pavillons trapus de l’octroi, le flot ininterrompu d’hommes, de bêtes, de charrettes, qui descendait des hauteurs de Montmartreet de la Chapelle. Il y avait là un piétinement de troupeau, une foule que de brusques arrêts étalaient en mares sur la chaussée, un défilé sans fin d’ouvriers allant au travail, leurs outils sur le dos, leur pain sous le bras; et la cohue s’engouffrait dans Paris où elle se noyait, continuellement. (AS 376 f.)

Mit der Machtübernahme Napoleons III. und den weiträumigen Umgestaltungen der Stadt unter dem Seinepräfektorat Haussmanns kommt es im Zuge der „démolitions des quartiers du centre“47 zu einer Mietexplosion. Die neuen Kopfbahnhöfe spülen seit den 1840er-Jahren, wie Sylvain Blot bemerkt, als neue Einfallstore massenhaft Arbeiter auf die chantiers der Hauptstadt, ohne jedoch in diesem Saccard’schen Spekulationskosmos selbst Platz zu finden und viel zu oft das Schicksal eines Coupeau erleiden. Zugleich ein- und ausgeschlossen platzen die bis 1860 eigenständigen Kommunen des Assommoir zwischen dem bröckelnden Limes der Generalpächter und den militärischen Befestigungen der enceinte de Thiers bald aus allen Nähten.48 Auch die bande de désert, die als ehemalige zone non ædificandi vor den Toren der Stadt die mittelalterliche Vorstellung einer lebensfeindlichen anarchischen Wildnis außerhalb des Burgfriedens der Zivilisation vorgibt, markiert in einem willkürlichen Ring eine Grenze, die von der Wirklichkeit der rasanten Stadtentwicklung längst entkoppelt ist. Zwar mag Gervaise außerhalb des Rings in den dunkeln Ecken und Winkeln allerorten die Leiche eines Ermordeten zu gewahren fürchten, die cris der tatsächlichen assassinés aber, die Schreie des Schlachtviehs, dringen aus der Stadt hinaus nach draußen. Wie das Krankenhaus in direkter Nachbarschaft zur gare du Nord befindet sich der Schlachthof am Boulevard de Rochechouart zusammen mit dem Kaiser und seiner bürgerlichen Oberschicht im Inneren des Bannkreises. Der Tod wohnt innerhalb der Mauern und während Nana in der Boule-Noir, Amüsierbetrieb der Arbeiter außerhalb der alten Grenze, ihre Beine zeigt, werden vis-à-vis die Hinterschinken der zu Hunderten getöteten Schlachtsäue beschaut.

47 Sylvain Blot, Napoléon III. 1808–1873, Paris: Éditions scientifiques 1898, S. 350. 48 ebd.

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Das sprichwörtliche Durcheinander der „bastringue de barrière“ (N 1111) weist den Weg. Die Grenze ist anstelle eines Hindernisses im Gegenteil der Ort, wo alle Grenzen fallen. Am 16. Juni 1859 wird Napoleon III. die Stadt mit einem neuen Ring umgeben, die Stadt per Gesetz um die elf angrenzenden Dörfer erweitern und alle bis 1860 übrig gebliebenen Mauerreste schleifen. Als fast vollständiger Ring das einstige Bollwerk wie die ehemaligen Dörfer noch im Namen führender Boulevards treten an die Stelle der Mauern von Ledoux die Fassaden des Ringboulevards. Depuis longtemps, la démolition du mur de l’octroi avait déjà élargi les boulevards extérieurs, avec les chaussées latérales et le terre-plein au milieu pour les piétons, planté de quatre rangées de petits platanes. C’était un carrefour immense débouchant au loin sur l’horizon, par des voies sans fin, grouillantes de foule, se noyant dans le chaos perdu des constructions. Mais, parmi les hautes maisons neuves, bien des masures branlantes restaient debout; entre les façades sculptées, des enfoncements noirs se creusaient, des chenils bâillaient, étalant les loques de leurs fenêtres. Sous le luxe montant de Paris, la misère du faubourg crevait et salissait ce chantier d’une ville nouvelle, si hâtivement bâtie. (AS 764)

Das Bollwerk wird bouleversé. Vor den eleganten Fassaden des Second Empire, die sich bis zum Horizont erstrecken und doch nur fadenscheiniger Vorhang sind, durch den allerorten das Elend der Vorstadt scheint49, wird die einstige Scheide zum Ort, wo alles unteilbar in einem sagenhaften Durcheinander zusammenstürzt. Nicht zufällig wählt Zola zur Zeit, in der Walburga Hülk und Gregor Schuhen „eine sukzessive semantische Ausweitung des Begriffs [Boulevard] […] als eine Metapher für Massenkultur und zugleich als mediale Kategorie“50 ausweisen, in der Boule-Noir am Boulevard de Rochechouart den Schauplatz seiner großen Travestie im zweiten Akt der Blonden Venus, zeigt das théâtre des Variétés als verkleidete bastringue an der barrière Montmartre, verbuchstäblicht den Offenbach’schen Operettenmythos auf dem Straßenpflaster und verkehrt das „von der ursprünglichen architektonischen Codierung“ gelöste Bollwerk im „auf eine Logistik des kulturellen Lebens“51 ausgerichteten Boulevard zur Bühne. Hier haben alle Schichten der Gesellschaft, der Minister und das Veilchenmädchen, gleichberechtigt ihren Auftritt, wo „Masse und marge, […] grande 49 vgl. Theresa Vögle, „Die Boulevards als impressionistische Oberflächen und ‚spectacular reality‘. Émile Zolas La curée und die ‚chronique scandaleuse‘“, in: W. Hülk/G. Schuhen (Hg.), Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung, Tübingen: Narr 2012, S. 195– 215, hier besonders S. 208. 50 Hülk/Schuhen, „Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung“, in: dies., Haussmann und die Folgen, S. 7. 51 Hülk/Schuhen, „Haussmann und die Folgen“, S. 7.

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presse [boulevardière] […] und petite presse“ der Hungerkünstler in „ironische [n] Konstellationen und intrikate[n] Vermischungen“ das „Boulevard-Format“ hervorbringen, das die „höfische Spektakelkultur“ des 17. Jahrhunderts – im ruinösen Prunk Ludwigs XIV. Ausgangspunkt dieser Entwicklungslinie – egalisiert und als „mediales Dispositiv mit Massencharakter“52 zum Paradigma der Modernität in der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts macht. Wie um es noch deutlicher zu machen leiht diese „soziale, diskursive und mediale Figur […] über die Kategorie ‚Boulevard‘, die das kulturelle Leben […] repräsentiert, konfiguriert und kanalisiert“53 den théâtres de boulevard ihren Namen, die den Schwellencharakter der einstigen Stadtbefestigung als Raum, „bei dem sich Innen und Außen gleichermaßen durchdringen“54 als Gegenstand der Betrachtung auf die Bühne bringt. Das Boulevardtheater des späten 18. Jahrhunderts wird zum täglichen Theater auf den neuen Boulevards der Hauptstadt und kehrt von dort auf die Bühnen der Vaudevilles zurück, die bald nicht mehr unterscheiden zwischen Darstellern und Publikum, den Blechkronen von Operettenkapitänen und gekrönten Häuptern. En bas, dans le grand vestibule dallé de marbre, où était installé le contrôle, le public commençait à se montrer. Par les trois grilles ouvertes, on voyait passer la vie ardente des boulevards, qui grouillaient et flambaient sous la belle nuit d’avril. Des roulements de voiture s’arrêtaient court, des portières se refermaient bruyamment, et du monde entrait, par petits groupes, stationnant devant le contrôle, montant, au fond, le double escalier, où les femmes s’attardaient avec un balancement de la taille. Dans la clarté crue du gaz, sur la nudité blafarde de cette salle dont une maigre décoration empire faisait un péristyle de temple en carton, de hautes affiches jaunes s’étalaient violemment, avec le nom de Nana en grosses lettres noires. Des messieurs, comme accrochés au passage, les lisaient; d’autres, debout, causaient, barrant les portes; tandis que, près du bureau de location, un homme épais, à large face rasée, répondait brutalement aux personnes qui insistaient pour avoir des places. (N 1096 f.)

Am Premierenabend der Blonde Vénus tummelt sich am boulevard Montmartre – als einer der vier grands boulevards ein Jahrhundert älter als der Straßenring von 1860 – auf der breiten Lebensader des Amüsierviertels buchstäblich tout le monde. Steine und Mauern sind beiseite geräumt, Schanzen planiert und Gräben verfüllt. Alle sichtbaren Hinweise auf das Bollwerk sind getilgt, allein das begriffliche Inventar der Stadtbefestigung ist im Text nach wie vor präsent und erzählt als eingeschriebener Gegensatz eine andere Geschichte. Im Vokabular aufs heftigste affirmiert erscheint die Grenzziehung als Inszenierung eines 52 Hülk/Schuhen, „Haussmann und die Folgen“, S. 8. 53 Hülk/Schuhen, „Haussmann und die Folgen“, S. 8. 54 Christina Natlacen, „Der Boulevard als Schwellenraum. Fotografische Bildpraxis im Atelier und auf der Straße“, in: Hülk/Schuhen, Haussmann und die Folgen, S. 91.

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Unterschiedes, dessen kosmisch verfasste Gültigkeit seit 1789 unsicher geworden ist. Wie im 17. Jahrhundert Kanäle und Gartenlabyrinthe an die Stelle einstiger Wehr- und Wassergräben traten, ersetzen goldene Gatter und schwingende Türen Schloss und Riegel. Obzwar ein offenes Haus, das seinen Amüsierbetrieb nicht mehr dem Hof und einer exklusiven bürgerlichen Oberschicht vorbehält, gibt sich das Théâtre des Variétés als Festung und zitiert die Barrieren der fermiers généraux, die nach Ausbruch der Revolution noch im Juli 1789 brannten. Statt der wütenden Pariser stürmt vom Boulevard gegen die goldenen Gatter nun lodernd und flammend das Publikum der Herrschaftsinszenierung Napoleons III. und rennt damit offene Türen ein. Die Gitter stehen offen, durch die das Leben von der Straße vor den Einlass hinter den Portieren tritt. Weder das militärische Sperrwerk, noch der Türbehang als sichtbares Zeichen einer symbolischen Grenze können den Strom aufhalten. Wirksam zeigt sich erst der Einlass, der wie die Zollkontrolle der Pariser ferme als soziale Grenze den Unterschied von in und out markiert. Die contrôle im Marmorvestibül, innerhalb kürzester Zeit zweimal aufgerufen, markiert bereits im Lesefluss ein Hindernis. Der Aufwärtsbewegung einer „public [qui] commençait à se monter“ hält die Kontrolle „installé“ entgegen und macht deutlich, dass hier der Geldbeutel über den sozialen Aufstieg entscheidet. Ist die Eintrittskarte erst gelöst, wartet mit der Doppeltreppe ganz wie im ancien régime das zentrale Repräsentationsinstrument der Palastarchitektur, auf dem die Damen, sich am Treppenkopf verlangsamend, im Kontrapost wie Statuen ihren Status auf- und ausstellen. Schien bereits die klassizistische Fassade des Baus als Cliché der maisons d’octroi, so wird das Innere des Vestibüls diesen Eindruck nur erhärten: Entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts entspricht der Dekor ganz dem classicisme des Empire, der, vom vorrevolutionären Klassizismus des Louis-seize kaum unterschieden, in den Innenräumen des Theaters dieselben Kartonagentempel errichtet wie Ledoux in den verhassten Zollhäusern. Im erbarmungslosen Licht der Gaslampen wird das Theater schon vor der eigentlichen Bühne zum Kartonagenolymp, dessen Wolken als Kulisse nicht halten. Nicht erhaben, sondern nackt, bleich, mager inszeniert das ausgezehrte Peristyl – ni temple, ni palais – eine gesellschaftliche Ordnung, die nicht mehr durch den Heilsplan gedeckt ist, sich wohl aber so gibt. So wundert es nicht, dass hinter der im Foyer mit großem Aufwand inszenierten Ständeordnung Welt und Halbwelt, Gräfinnen und die gewissermaßen selbsterklärende Gaga sich in den „loges“ (N 1096) auf Augenhöhe begegnen. Wie um es noch deutlicher zu machen, bezeichnen diese gleichermaßen Theaterlogen und den Ort, an dem hinter den Kulissen die großen Toiletten an- und abgelegt werden, während Nana in der einen und comtes-

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se Sabine Muffat de Beuville in der anderen, vom gleichen Muttermal als Frauen vom selben Stamm gezeichnet sind. (N 1163) Alle spielen Theater. À droite et à gauche, entre des colonnes de marbre jaspé, des femmes, assises sur des banquettes de velours rouge, regardaient le flot passer d’un air las, comme alanguies par la chaleur; et, derrière elles, dans de hautes glaces, on voyait leurs chignons. […] Mais Fauchery, pour respirer, était allé sur le balcon. La Faloise, qui étudiait des photographies d’actrices, dans des cadres alternant avec les glaces, entre les colonnes, finit par le suivre. […] La Faloise se penchait, regardant le boulevard. En face, les fenêtres d’un hôtel et d’un cercle étaient vivement éclairées; tandis que, sur le trottoir, une masse noire de consommateurs occupaient les tables du café de Madrid. Malgré l’heure avancée, la foule s’écrasait; on marchait à petits pas, du monde sortait continuellement du passage Jouffroy, des gens attendaient cinq minutes avant de pouvoir traverser, tant la queue des voitures s’allongeait. (N 1110 f.)

Die Inszenierung setzt sich in der Pause nahtlos fort. Damen betrachten von ihren Bänken aus die Vorübergehenden und werden zwischen Marmorsäulen selbst zu Ausstellungsobjekten. Als Kulisse hinter ihnen genügt ein großer Spiegel, der den Gipfel absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, die Spiegelgalerie Ludwigs XIV. zitierend, statt Königsherrlichkeit zu repräsentieren die chignons der Damen in Szene setzt. Jeder Versuch auszubrechen scheitert. Léon Fauchery, der als Schöpfer der Mouche d’or diese Scheinwelt in der Fabel bis zuletzt benennt, tritt hinaus und erblickt sogleich auf dem balcon, der sich wie schon die Logen im Begriff ununterschieden gleichermaßen nach der Orchestra und dem Treiben auf dem Boulevard wendet, die nächste Inszenierung. Offenbachs Klamotte und die Toiletten des Boulevards bilden gleichermaßen den Hintergrund für ein Spektakel, in dem Repräsentation und Inszenierung, Fassade und Kulisse eins sind. Das Zollhaus auf dem Boulevard wird zur σκηνή, zum Bühnenhaus, auf dessen gut bespielbarer, zweigeschossiger Palastfassade zwischen den ionischen Säulen der Loggia Götter und Helden des Theaters ihren Auftritt haben.

Fanum und profanum Zola markiert den Operettenmythos als Kostümklamotte, über die, auf den ersten Blick wie jede andere, auch der Kaiser herzlich lachen kann. Der Unterschied etwa zur Schönen Helena – und darin die tatsächliche Gefährlichkeit des Stücks, das so im Zweiten Kaiserreich niemals zur Aufführung kam – liegt in der von Anfang an negierten Trennschärfe von Wirklichkeit und Inszenierung. Die Allegorien versagen, das Bühnengeschehen steht vor allem für sich selbst

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und für das Zweite Kaiserreich, das sich auf der Bühne im alltäglichen Zustand der Verstellung selbst betrachtet. Geradezu schlagend offenbar wird dieses Übergreifen einer Inszenierung auf die andere in der buchstäblichen Übertretung der Schranke zwischen Publikum und Bühne zu Beginn der Pause der Blonden Venus im fünften Kapitel. Die das Kapitel eröffnende Einlassung, „[qu’o]n donnait, aux Variétés, la trentequatrième représentation“ (N 1195) legt nahe, dass das Geschehen auf der Bühne mit seinem Olymp aus Pappmaché nicht der Grund ist, weshalb der Erzähler zu so vorgerückter Stunde an den Ort der Exposition zurückkehrt. Statt des unseligen Dagobert und seines imbezillen Pantheons hat im nervös erwarteten prince (ebd.), den Brown in Prince Bertie als ältesten Sohn Queen Victorias zu identifizieren sucht, der ewige Thronfolger Englands seinen großen Auftritt hinter den Kulissen. Begleitet vom Kämmerer der Kaiserin, dem comte Muffat de Beuville. Was vor der Schranke, im Saal, im Vestibül und auf dem Boulevard gesellschaftlich bereits mehr als deutlich war, nimmt im hinter den Kulissen verborgenen Allerheiligsten kosmische Ausmaße an. Während der Lebemann „très intéressé“ die „manœuvre des machinistes“ (N 1205) hinter der Inszenierung betrachtet, repräsentiert er gleichzeitig in der „coupe irréprochable de la redingote“ die „membres carrés“ (ebd.) seines vierschrötigen Körpers erfolgreich als die eines zukünftigen Königs. Anders der comte de Muffat. Muffat surtout, qui n’avait jamais visité les coulisses d’un théâtre, s’étonnait, pris d’un malaise, d’une répugnance vague mêlée de peur. Il levait les yeux vers le cintre, où d’autres herses, dont les becs étaient baissés, mettaient des constellations de petites étoiles bleuâtres, dans le chaos du gril et des fils de toutes grosseurs, des ponts volants, des toiles de fond étalées en l’air, comme d’immenses linges qui séchaient. (1205)

Gleichsam in der ersten Reihe des hochwohlgeborenen Theaters Napoleons III. platziert, will er von den Kulissen des Zweiten Kaiserreichs, deren Wolken aus dem ersten Akt schon von vorne betrachtet fragwürdig erschienen, gar nichts wissen. Sichtbar angegriffen fühlt er sich von der Inszenierung nicht nur abgestoßen; er hat die Furcht vor dem Umsturz verinnerlicht, die seit dem Tabubruch von 1789 jeder französischen Herrschaft eingeschrieben ist. Der Blick nach oben verirrt sich im Dunkel des Theaterhimmels, dessen Tierkreis herabgedrehter Gaslampen keine kosmische Ordnung garantiert, sondern mit der zum Sternbild entrückten blanchisseuse gleich zwei Erzeugnisse des Fiktionalen, den dritten Akt der Blonde Vénus und L’Assommoir, zitiert. Die harmonia cœlestis löst sich im Chaos der wie symptomatisch schwebenden Brücken, Seile und Strippen, Flaschenzüge, Rahmen und Gitter auf, die als Himmel nicht das

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Sterngewölbe tragen, sondern wie nasse Wäsche die trügerischen Horizonte eines Bühnenbilds. Die Beunruhigung Muffats angesichts einer solchen Überinszenierung mag berechtigt sein, der Text selbst strotzt nur vor Kulissen. Das Reizwort coulisse, zu Beginn der Szene explizit genannt, bleibt nicht nur auf inhaltlicher Ebene bestimmend. Vielmehr regiert es den Text über sein etymologisches und lexikalisches Inventar und verweist auf eine Struktur eben hinter der Kulisse. Coulisse, C’est une chose coulant comme porte coulisse, laquelle chet, coule et grille de haut en bas, quand la chaine ou corde dont elle est retenuë est laschée, comme sont celles qui sont aux fenestres des colombiers, qu’on fait couler et fermer la nuit, à cause du hibou. On appelle aussi telle maniere de porte Herce, par ce qu’elle est faite à barreaux traversans comme d’une Herce, dont on use ordinairement és portes des villes, chasteaux et forteresses.55

Als Scheide zwischen menschlicher Kultur und viehischer Natur, Zivilisation und Wildnis, fanum und profanum, Gut und Böse ist die coulisse ursprünglich ein Fallgatter. Nicht ganz zufällig in dem Moment, da die Inszenierung als Herrschaftsinstrument Ende des 17. Jahrhunderts auch im Maschinentheater ihren Höhepunkt erreicht, stellt die Erstausgabe des Dictionnaire der coulisse als physische Verteidigungsanlage eine neue Bedeutung an die Seite. „COULISSE, se prend aussi, Pour ces pieces de decorations que l’on fait avancer & reculer dans les changemens de theatre“56. Als solche überträgt Zola die von Nicot erklärend hinzugezogenen Begriffe des Fenstergitters grille sowie der vergitterten porte Herce als gril und herse unwillkürlich zur Bühnentechnik verbuchstäblicht mit in das Bedeutungschaos auf dem Schnürboden, der als cintre von der lautlich kaum unterschiedenen Stadtbefestigung – ceindre – widerhallt, die den Paradigmenwechsel im Begriff des Boulevards gleichsam noch einmal vollzieht. Déjà le comte Muffat se dirigeait vers le couloir des loges. La pente assez rapide de la scène l’avait surpris, et son inquiétude venait beaucoup de ce plancher qu’il sentait mobile sous ses pieds; par les costières ouvertes, on apercevait les gaz brulant dans les dessous ; c’était une vie souterraine, avec des profondeurs d’obscurité, des voix d’hommes, des souffles de cave. (N 1206)

Der Theaterhimmel konnte als Kosmos nicht mehr überzeugen, die „vie souterraine“ der Unterwelt hingegen beeindruckt den Comte umso mehr, der unter dem doppelten Boden der Bühne „dans les dessous“ buchstäblich in infernis,

55 „COULISSE“, in: Nicot, Thresor, S. 155. 56 „COULISSE“, in: Dictionnaire (1694), Bd.1, s. 261.

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zwischen den flammis acribus des Dies irae57 im obscurum des Offertoriums der Totenmesse58 „de profundis“ (Ps 129,1) die Schreie der Verdammten gewahrend eine ganze Zusammenschau christlicher Höllenvisionen gallisiert vorfindet. Allein hier gibt es kein Gnadenmoment „quam olim Abrahæ promisisti, et semini eius“59. Vielmehr geht es mit dem Zelt Abrahams, das als σκηνή der Septuaginta in der scène wiederhallt, steil bergab – und das begriffliche Chaos wird noch größer. Mais Bordenave venait d’arriver enfin à la loge de Nana, au fond du couloir. Il tourna tranquillement le bouton de la porte; puis, s’effaçant: — Si Son Altesse veut bien veut bien entrer… Un cri de femme surprise se fit entendre, et l’on vit Nana, nue jusqu’à la ceinture, qui se sauvait derrière un rideau, tandis que son habilleuse, en train de l’essuyer, demeurait avec la serviette en l’air. (N 1207)

Am Ende des Gangs, der als couloir nicht nur vom „odeur forte […] des coulisses“ (N 1206) geschwängert ist, sondern die ihm etymologisch eng verwandte Kulisse mit der gemeinsamen Wurzel im Namen führt, befindet sich das Frauenzimmer, in dem Clarks „kaleidoscope of conflicting viewpoints and images“60 albtraumhafte Wirklichkeit wird. Jenseits des Türrahmens bietet sich den Hoheiten in der aus dem Bade erhobenen, nackten, nassen Nana und ihrer Garderobiere ein Bild, das auf den ersten Blick als Cliché von Botticellis Nascita di Venere die blonde Venus von der Bühne holt und naturalisiert. In der Dynamisierung der Komposition aber, die den Betrachter in Gestalt der beiden prominenten Besucher zum Voyeur macht, wird Nana zur Susanna, die, obzwar im Bade überrascht, nur von sehr zweifelhafter Reinheit ist. Halbnackt zitiert ihre entblößte Taille in der ceinture einen Gürtel, den sie nicht trägt. Nana ist so keusch wie das von einem Ring aus Amüsiermeilen gegürtete Paris, das wie sie jedes Korsett sprengt. Dennoch hinter einen Vorhang geflüchtet hebt sie die Ambivalenz von in und out auf die metaphysische Ebene von fanum und profanum. Nach Boulevard und Portieren, goldenen Gittern, Bühnenvorhang und Kulissen das letzte Hindernis in dieser Persiflage der alttestamentarischen Stiftshütte wird der Vorhang im Tempel zum rideau, den schon Nicot vor allem anderen als das aus57 Missel romain. Latin-françois. Pour tous les jours de l’année. Réformé suivant le Saint Concile de Trente, Paris: Savoye 1761, S. 535. 58 Missel romain, S. 536. 59 ebd. 60 Clark, Zola. Nana, S. 12.

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weist „quoy usent les joueurs de farces, Siparium“61. Das Adyton verkommt zum Séparée, das nur das Offensichtlichste verborgen hält: Die Aussetzung des Allerheiligsten wird buchstäblich zur Prostitution. C’était une pièce carrée, très basse de plafond, tendue entièrement d’une étoffe havane clair. Le rideau de même étoffe, porté par une tringle de cuivre, ménageait au fond une sorte de cabinet. Deux larges fenêtres ouvraient sur la cour du théâtre, à trois mètres au plus d’une muraille lépreuse, contre laquelle, dans le noir de la nuit, les vitres jetaient des carrés jaunes. Une grande psyché faisait face à une toilette de marbre blanc, garnie d’une débandade de flacons et de boîtes de cristal, pour les huiles, les essences et les poudres. (N 1207)

Um auch der explizit christlichen Tradition die Ehre zu erweisen, markiert der „judas grillé de couvent“ (N 1209) die niedrig abgehängte Loge der Nana als Klosterzelle. Im von verwahrlosten Mauern umfriedeten rechteckige Innenhof hallt die Assoziation des Kreuzgangs ebenso amputiert wieder wie im Kartonperistyl des Theaters. Der weißmarmorne Schminktisch erscheint als Altar, der statt geschmückt von liturgischem Instrumentarium, goldenen Salbgefäßen und Ölen vollgerümpelt ist mit Werkzeugen der Eitelkeit. Anstelle von encens, regieren essences die Luft, das Taufbecken wird zur Waschschüssel, aus deren Schaum die Venus steigt. Statt weißer Lilien blüht Muffat nicht die Reinheit, sondern die „odeur humaine“ der welken Tuberosen. Im von einem Kupferrahmen herabhängenden Vorhang schließlich, der sich geradezu wörtlich an die Bauvorschriften aus Exodus hält (2 Mo 26), erscheint das tabernaculum der Vulgata als Albtraum des Hebräerbriefs literalisiert zur „sorte de cabinet“ (N 1207). Der Name des Allerheiligsten wird literalisiert zum Ort der Inszenierung einer unhaltbaren Heiligkeit: Die σκηνή Abrahams wird am Buchstaben hängend zum Bühnenhaus der Griechen – scène, die Stiftshütte zur borde, die als Spielhöhle der zone jenseits der Mauern von Paris im polternden Besitzer des Variétés – Bordenave – nicht zufällig anklingt, der seinen Betrieb als Einziger als das benennt, was es offensichtlich ist. Nur äußerst sparsame dreimal für einen Dirnenroman im Paris des Zweiten Kaiserreichs lässt der Erzähler das Wort fallen, dreimal aus dem Munde Bordenaves, dreimal als Korrektur: „— Dites mon bordel.“ (N 1097), „—Dites mon bordel, [il] interrompit de nouveau“ (N 1098), „— Dis donc à mon bordel, bougre d’entêté!“ (N 1122) Häufig zitiert, seltener beim Wort genommen, lässt Zola ihn im störrischen Beharren auf der gallisierten italienischen Entsprechung der borde, bordello, nicht nur auf die zwischen der Halbwelt auf dem Theater und jener der galanten Damen verschwimmende Grenze verweisen. Das kosmische Aus-

61 „RIDEAU“, in: Nicot, Thresor, S. 570.

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maß der vorgestellten Unordnung lässt sich nicht länger auf das Milieu der leichten Unterhaltung beschränken. Als schließlich das halbe Personal der Blonden Venus immer noch im Kostüm des zweiten Akts und damit doppelt verkleidet Nanas Klosterzelle bevölkert, wird die Loge endgültig „trop petite pour tout ce monde.“ (N 1210) Die Anwesenheit so viel durcheinandergehender Inszenierung sprengt buchstäblich den Rahmen, wenn Karnevalsmars Pruillère den Hut absetzen muss, um seine Feder nicht zu knicken. Als schließlich auch noch der Operettenkapitän um Einlass bittet, gibt es kein Halten. Überrascht von der Anwesenheit echter Aristokratie fällt er in seine Rolle und reißt alle anderen mit. „Le roi Dagobert est dans le corridor, qui demande à trinquer avec Son Altesse Royale.“ (N 1209) Der Prinz findet das alles recht charmant. Auch als der Toast auf Majestät, Armee und die immer noch halb nackte Venus angesichts der Alkoholisierung um ein Haar zum berühmten couplet auf König, Liebe et merde pour le roi d’Angleterre eskaliert, spielt er seine Rolle tadellos, „il salua trois fois, en murmurant: — Madame… amiral… sire…“ (N 1210) Et il but d’un trait. Le comte Muffat et le marquis de Chouard l’avaient imité. On ne plaisantait plus, on était à la cour. Ce monde du théâtre prolongeait le monde réel, dans une farce grave, sous la buée ardente du gaz. Nana, oubliant qu’elle était en pantalon, avec son bout de chemise, jouait la grande dame, la reine Vénus, ouvrant ses petits appartements aux personnages de l’État. (N 1210)

Das Schauspiel geht nahtlos auf in Wirklichkeit, wenn in der Epiphanie der Venus zwischen Heiliger und Hure, Nana und Susanna alle Grenzen fallen und Boulevard und Bollwerk, Fallgatter und Kulisse, loge und Klosterzelle, scène und σκηνή, Stiftshütte und Tabernakel, Allerheiligstes und Séparée unrettbar übereinanderstürzen im Bordell in Abrahams Zelt.

Mythos und Logos Angesichts des Durcheinanders, in das Nana den Roman noch bis in die sprichwörtliche Sprachverwirrung seines begrifflichen Inventars stürzt, mag man tatsächlich jene création babylonienne erkennen, in der Flaubert die Meisterschaft des Werks benennt. Gleichzeitig mit der Diagnose des unrettbaren Chaos aber legt dieser in ihr eine Fährte zum Verständnis des Romans und seiner Mechanismen. Zum genauen Erscheinungsdatum der édition originale kursieren unterschiedliche Daten. Von einem nervösen Fieber drei Tage ans Bett gefesselt verzögert sich, wie Huysmans am 20. Januar aus dem Voltaire vom Vortag zitiert,

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die Freigabe der Fahnen.62 Dennoch terminiert Zola am selben Tag noch Céard gegenüber den Feuilleton am 5. und veranschlagt das Erscheinen en volume bei Charpentier für den 14. Februar. Brown übernimmt die Information aus der Céardkorrespondenz und gibt sie als Herausgabedatum an.63 Die unter René Dumesnils et al. herausgegebene und von Flauberts Nichte Caroline mit einem Vorwort geadelte nouvelle édition augmentée der Flaubertkorrespondenz nennt bereits den 12. Februar.64 Mitterand begnügt sich mit dem Datum der Registrierung in der Bibliographie de la France am 27. März 1880. Weitere Zeugnisse Zolas sowie das Medienecho legen eine Auslieferung in der siebten Kalenderwoche 1880 zumindest nahe. Ungeachtet dessen, dass der Verkaufsstart eines absehbar stark nachgefragt zu werdenden Romans im späten 19. Jahrhundert andere Herausforderungen an Auslieferungslogistik und strategische Terminsynchronisation stellt als heute, zumal ob der wiederholt geäußerten Befürchtungen, das Werk könnte konfisziert werden, auch massenhaft Ware unter der Ladentheke bevorratet sein musste65, fällt die Nervosität auf, mit der Flaubert den avisierten 14. Februar als Datum der Lektüre zu sichern bemüht ist. Geradezu bezeichnend scheint die Unnachgiebigkeit, mit der der 58-Jährige, dem Termindruck zum Leidwesen seines Verlegers sonst kein Begriff ist, bereits seit einer Woche aus Croisset nach der Hauptstadt poltert. Die Beharrlichkeit lohnt, schließlich hält er das vehement verteidigte Datum und verbringt seinen letzten Valentinstag nicht zufällig mit der Lektüre von Nana. Die in umfangreichen Zeugnissen belegte Komposition dieses Ereignisses liest sich wie ein Kommentar auf den Roman. Schon der Heilige ist zweiköpfig, fallen am gemeinsamen Festtag der Märtyrer Valentin von Terni und Rom zwei in den acta sanctorum zwar unterschiedene66, wohl aber auf dieselbe historische Person referierende Anbetungsformen im heiligen Valentin als Patron der Liebenden und Pestkranken zusammen. Dass sich ersteres besser volkstümlich vermarkten lässt, mag nur ein Grund für die massive Konjunktur des Fests sein, die gleichzeitig mit Nana im ausgehenden 19. Jahrhunderts anzieht. Jenseits der losen thematischen Spange von Eros und Thanatos scheint hier jedoch eine andere Koinzidenz bedeutsamer: Zu Beginn des Frühjahrs fällt der Gedenktag auf das Fruchtbarkeitsfest des römischen Staatskults, dessen im Festkalender des Ovid beigefügte Aitiologie Flaubert als Vorbild der Nana erkennt. An den Iden des Februars begeht das kaiserliche Rom die Luperkalien, deren sittliche 62 Joris-Karl Huysmans, Lettres inédites à Emile Zola, hg. v. Pierre Lambert, Genf: Droz 1953, S. 32. 63 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 216. 64 Flaubert an Charpentier, 13. Februar 1880, in: ders., Correspondance, Bd. 8, S. 384. 65 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 216. 66 Acta sanctorum februarii, hg. v. Jean Bolland, Antwerpen: Jacob Meursius 1658, Bd. 2, S. 740.

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Ungezügeltheit der moralkonservative Augustus im staatstragenden Kult der Juno moneta, die Wildheit des arkadischen Faunus Lupercus in der kapitolinischen Wölfin einzuhegen trachtet. So liefert Ovid denn auch eine ellenlange staatstragende „causa latina“67 für die an diesem Tag nackt in Fellstreifen gehüllt durch Rom stürmende Jugend. Gleichfalls vermag er es jedoch nicht, den peregrinen Herkunftsmythos zu verschweigen: eine griechisch-orientalische Herkulestravestie um den Alkiden und die Lyderkönigin Omphale. Ihr zum Dienst verpflichtet nimmt sie ihm seine Attribute ab, „ipsa capit clavamque gravem spoliumque leonis“68 und setzt ihn in Frauenkleider gehüllt an den Rocken. Als Faunus, nachts in die Höhle geschlichen, vom Löwenfell getäuscht und von der Beinbehaarung nicht alarmiert genug, den Falschen zu beschlafen sucht und dies sogleich bereut, verbannt der Verprügelte von da an die „lügenden Kleider“69 von seinem Fest. Das Paradigma von Verstellung und Verkleidung ist in Nana allerorten präsent. Naheliegend auf der Bühne, doch auch im Foyer und auf dem Boulevard, letztlich erscheint sogar die Stadt selbst in den kulissenhaften Straßenzügen ihrer Haussmann’schen Umgestaltungen als Theater. Allen voran auf dem Boulevard Haussmann, der die ursprüngliche Verteidigungslogik der Grands Boulevards wie des Boulevardrings am ehemaligen mur d’octroi durchkreuzt. Niemals Bollwerk, sondern im Gegenteil bereits geplant als Verbindung zwischen den großen Boulevardsystemen der rive droite, befördert er im Straßenbild die voranschreitende Indifferenz von in und out im 19. Jahrhundert, als deren Triebmittel Nana agiert. Nicht zufällig wird Zola seine Protagonistin auf halbem Wege zwischen den Arbeitervierteln ihrer Kindheit und den luxuriösen hôtels particuliers ihrer Apotheose hier installieren. Noch das Ergebnis moderner Stadt- und Verkehrswegeplanung wird in ihr zur Travestie. In Nanas Gegenwart werden Mauern zu Einfallstraßen, Klosterzellen zu Séparées, das Allerheiligste zum sprichwörtlichen Bordel, wo Götter als Könige und Könige als Schwachsinnige erscheinen, Offiziere als Gigolos und Liebesgöttinnen als Fischweiber. Die eindeutigste Referenz auf die ovidische Travestie findet nicht in Paris statt, sondern dem Mythos angemessen auf dem bukolischen Landsitz. „[M]êlant les fleurs, les oiseaux et son enfant“ (N 1232) gelingt es dem Erzähler kaum die sich aufdrängende Idylle in der naturalistischen Verortung, nicht Arkadien, sondern die Touraine, einzufangen. Hatte Madame Hugon die campag67 Publius Ovidius Naso, Fasti, II, 359, in: ders., Carmina III, hg. v. H. Sedlmayr/A. Zingerle/O. Güthling, Leipzig, Freytag 1884, S. 28 f. 68 Ovid, Fasti, II, 325. 69 Ovid, Fasti, II, 356 f.

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ne noch mithilfe des republikanisch-metrischen Systems „deux bons kilomètres“ (N 1229) von Gumières verortet, sind es bei der Ankunft Nanas in archaischen Postleugen gemessen „plus de trois lieues“ (N 1232) von Orléans. Bei der Suche nach einem passenden Gefährt verliert Nana fast eine Stunde. Als sie endlich eines hat, ist es in der „immense calèche“ (ebd.) das Paradebeispiel schon im 19. Jahrhundert aufgedeckter Interpolationen an Ovids Tristia und spricht noch in der Verstellung des Textes die Wahrheit, „gens inculta nimis vehitur crepitante colossa“70, wenn das riesenhafte Gefährt zugleich den modischen Sonderweg der wie ein Kutschendach faltbaren Kopfbedeckung der Kurtisanen unter Napoleon I. anzitiert.71 Angesichts der Komik ihrer Ankunft vermag der Kutscher ein Lachen kaum verbergen, was Nana nicht davon abhält Prinzessin zu spielen. „Nana voulut retrouver sa dignité […]. Elle se retint pour ne pas courir, écouta le jardinier“ (N 1233), dem sich die Assoziation des komischen Schäfers geradezu aufdrängt. Spätestens am Gittertor der von einer intakten Mauer umfriedeten campagne ist die Realität Geschichte. Von einem eigens aus Orléans bestellten Tapissier ins Gewand des Ancien Regime „de cretonne Louis XVI, rose tendre“ (N 1234) gesteckt, erfüllt „La Mignotte“ (N 1232), was ihr Name verspricht: „C’est féerique!“ (N 1234) Irgendwo zwischen Schäferspiel und Hameau de la Reine können auch die umgebenden „sept ou huit arpents […] plein de choux“ (ebd.) den Naturalismus nicht mehr retten. Denn erstens wird die Menge Kohls als signature item des Naturalismus in arpent und damit wieder in einer historischen Maßeinheit angegeben und zweitens wird der Erzähler nicht müde die Lage La Mignottes hauptsächlich darin zu beschreiben, dass der Landsitz jenseits des homophonen Flüsschen Choue, jenseits des Naturalismus liegt. Die Inszenierung ist perfekt. Noch im strömenden Regen gewahrt Nana die Erdbeeren ihrer Kindheit im mythischen Licht dieses locus amoenus. An Äpfeln und Birnen mögen sich die Geister scheiden: die Erdbeeren, deren Anwesenheit Nana zwischen Kraut und Rüben geradezu körperlich empfindet – „Des fraises! des fraises! Il y en a, je les sens!…“ (N 1235 ) – blühen in Botticellis Nascita di Venere ebenso wie zu Füßen der Madonnen Raffaels. In die bukolische Idylle fährt geradezu erwartbar der panische Schrecken: „Comme la jeune femme se relevait, elle fut prise de peur. Il lui avait semblé voir glisser une ombre. — Une bête! cria-t-elle.“ (N 1235) In Paris ist sie die bestia, hier die Nymphe auf der Hut vor dem stets geilen Faun. Als sie im gleichen Moment erkennt, dass es der Schatten eines Mannes ist, ist die bukolische Ord70 „KALSCHE,“ in: Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Wien: Bauer 1811, Sp. 1469 f. 71 „CALÈCHE“, in: Littré, Dictionnaire, Bd. 1, S. 458, sowie im Ergänzungsband S. 58.

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nung gestört. Vor Männern hat sie keine Angst. Statt Faunus stellt sich der christianisierte Herkules als Georg vor, der sich anschickt, Nana zu bezwingen. Doch seine Travestie beginnt bereits im Namen. Keine Figur des Romans wird so unterschiedlich apostrophiert wie er. In der Exposition mit dem heiseren Hahnenschrei „Très chic!“ (N 1107) als erster Fan der Nana eingeführt, bedenkt der Erzähler ihn zunächst als „chérubin“ (ebd.) und führt den Cherub – ob Mozarts und da Pontes oder Beaumarchais’ – weniger als Figur, denn bereits als galante Rolle und Abgesang auf die klassische Komödie als Endpunkt der Bukolik ein. Seinen eigentlichen Namen wird er ihm erst ein Kapitel später zugestehen und auch da stets nur als Ausnahme. Omphale hüllt Herkules in Frauenkleider, Nana kastriert den Drachentöter Georges zum Lallwort Zizi und wird sogleich noch deutlicher „Comment! c’est Bébé!“ (N 1235, meine Hervorhebung). In der Regression ihres eigenen Namens Anna macht Nana die Dekadenz des Zweiten Kaiserreichs als Schwundstufe einer klassischen Vorlagenkartei bis in die Sprache hinein offensichtlich. Was sich in den Reduplikationswortbildungen buchstäblich vollzieht, weist Barbara Vinken auch auf motivischer Ebene nach. Das Unglück des, um den von seiner Mutter im metrischen System beschriebenen Umweg zu vermeiden, durch den Fluss watend in ein Wasserloch gestolperten Helden, liest Vinken im ovidischen Bild der Quelle Salmacis, wo Hermaphrodit seine Männlichkeit verliert.72 Tatsächlich wird Georges von seinem Abenteuer weniger als Pennäler am Ziel seiner Träume nach Paris zurückkehren, denn als „fille qui a trop dansé“ (N 1240). Doch vollzieht sich weniger eine blutige Entmannung nach dem Vorbild des Attis- und Kybele-Mythos, denn eine Entmännlichung auf dem Wege der Regression, wie Vinken mit Verweis auf das „charakteristische, inzestuöse Moment von Mutter und Kind“73 im Verhältnis Nanas zu Georges herausstellt. Erst spät im Roman wird Georges, von Nanas Schere entleibt, im Bild des von Wildschweinhauern durchbohrten Adonis die Kastration in letzter Konsequenz vollziehen. Zunächst ist es vor allem eines: Verkleidung. „Quand tes vêtements seront secs, tu les reprendras et tu t’en iras vite, pour ne pas être grondé par ta maman…“ (N 1236) Zizis Entmännlichung ist wie die Blonde Vénus markiert als komische Klamotte. Wie im Stück lacht Nana unaufhörlich und nimmt die Auflösung der Omphale-Episode vorweg. Statt Selbstentmannung zu fordern tritt sie mütterlich auf, ohne ihre Rolle gegenüber der wirklichen Mutter zu behaupten. „Elle le tournait comme une poupée“ (N 1237), die Travestie des armen Jungen, dem die Korsage zu groß ist, ist ein Spiel. Ernst wird es in dem Moment, da in der „soupe aux choux“ (ebd.) des Gärtners der Naturalismus in das Schäferspiel platzt. „Nana se fâcha. 72 Vinken, „Nana“, S. 214. 73 Vinken, „Nana“, S. 214.

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En voilà une grosse bête, de filer de chez sa maman, le ventre vide, pour aller se flanquer dans un trou d’eau! “ (ebd.) Aus der Klamotte wird im Angesicht des Mythos buchstäblicher Ernst. Wie eine Löwin faucht sie die grosse bête an, die noch nichts gegessen hat und macht klar, dass sie hier Löwenfell und Hosen anhat, während im „filer“ von Georges Flucht der Faden des am Spinnrocken sitzenden Herkules im Frauenkleid verbuchstäblicht weitergesponnen wird. Mit der Kohlsuppe wird aus dem Schäferspiel buchstäblicher Ernst. Die „cave […] bien garnie“ (N 1237), Omphales Höhle, wird „en face de la belle nuit“ (N 1239) wieder zur „maison“ (ebd.). Der Junge in Frauenkleidern wird zur Frau. „Nana appelait Georges: « Ma chère »“ (N 1237), während sie selbst die im Puppenspiel eben noch als Rolle markierte Mutterschaft plötzlich verkörpert: „Écoute, je resterai ta maman.“ (N 1239) In der Verbuchstäblichung der Omphale-Episode verspringt die Ikonografie. Herkules bezwingt den Löwen – „[e]t elle tomba en vierge dans les bras de cet enfant.“ (N 1239) Als Mutter und Jungfrau fällt Nana ihrem Kind in die Arme und pervertiert unter dem Ruf des Rotkehlchens die mystische Hochzeit nach dem Buchstaben des Naturalismus zur Liebesnacht mit einem Kind. Et in arcadia ego. Gleichermaßen vom Logos des Naturalismus und dem arkadischen Mythos beansprucht wird Nana wie der bukolische Menalcas zur rhetorischen Figur. Bereits Vergil macht deutlich, dass die Schäferdichtung nicht für sich steht, Quintilian wird dies zuspitzen in der enigmatischen Definition einer Allegorie ohne Metaphern, die alles beim eigentlichen Namen nennt. „Hoc enim loco praeter nomen cetera propriis decisa sunt verbis, verum non pastor Menalcas sed Vergilius est intellegendus.“74 „The words bear no more than their literal meaning“75, konkretisiert Harold Edgeworth Butler in seiner Übersetzung und liefert damit ungewollt den Schlüssel zum metaphorical black hole der Nana. Arkadien bleibt bei aller Wörtlichkeit in Vergil-Menalcas an den Ort gebunden, den es literal eben nicht nennt. Referiert dieser jedoch auf ein ewiges Rom, das unter dem wohlwollenden Stern der Venus in der pax Augusta einen „gottgewollten, stabilen, befriedeten“76 Schlusspunkt erreicht hat, wird der Mythos von La Mignotte eingefangen von der saftig-deftigen Farce der Fasti, in der Ovid noch das Eigentliche, Rom selbst im Hirtenkleid verkleidet vorfindet. Im ständigen Wechsel übereinanderstürzender Zustände von Verkleidung, Veränderung, Verwandlung, ist es die Unbeständigkeit der Metamorphosen, die Barbara Vinken bei Ovid wie bei Zola als unheilvolle translatio ans Kaiserreich gekoppelt 74 Marcus Fabius Quintilianus, Institutio Oratoria, hg. v. Harold Edgeworth Butler, London: Heinemann 1959, VIII 6,47. 75 ebd. 76 Vinken, „Nana“, S. 206.

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sieht. Folgerichtig lässt Zola seinen Erzähler auch Paris beim Wort nehmen, der zwischen Äpfeln und Birnen, Repräsentation und Inszenierung, in und out, fanum und profanum, Mythos und Logos im Versuch die Travestie des Second Empire auf seine nackte Wahrheit zu entkleiden, stets nur eine neue Maske aufdeckt. Beständig ist nur eins: Die Kleider lügen. Der alles verbuchstäblichende Blick des Naturalismus gipfelt „sine tralatione“77 unweigerlich in einer Struktur, in der die Wörter scheinbar für sich selbst stehend die translatio lediglich auf links ziehen, die, wie die culotte à l’envers auch verkehrtherum getragen Hose, allegorisch bleibt. 78

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Cette création est babylonienne. Von jedem anderen mag diese Zuschreibung, ohne den gewissermaßen virulenten Orientalismus des späten 19. Jahrhunderts eingehender denn als Oberflächenphänomen zu betrachten, als schlichte Übertreibungsformel abgetan worden sein: eine babylonische, monströse, riesenhafte Schöpfung. Dem Einblick Flauberts in Zolas Nana würde dies jedoch nur kaum gerecht. So legt das im bordel dem Roman von Anfang an zugrundeliegende Durcheinander zumindest die figurative Bedeutung Babylons als „lieu de désordre et de crimes, le monde, la société“79, wie Émile Littré sie für den Entstehungszeitraum der Nana bezeugt, im Flaubertbrief nahe. Geradezu buchstäblich als babylonische Kreation erscheint Nana innerhalb des Romans Muffat: Als Vertreter der erzkonservativen katholischen Oberschicht und Kämmerer der Kaiserin trägt er das Haupt „comme un saint-sacrement“ (N 1149) und liest von Nana korrumpiert seine Nemesis im Buchstaben der Schrift als „monstre de l’Écriture“ (N 1271) Il songeait à son ancienne horreur de la femme, au monstre de l’Écriture, lubrique, sentant le fauve. Nana était toute velue, un duvet de rousse faisait de son corps un velours; tandis que, dans sa croupe et ses cuisses de cavale, dans les renflements charnus creusés de plis profonds, qui donnaient au sexe le voile troublant de leur ombre, il y avait de la bête. C’était la bête d’or, inconsciente comme une force, et dont l’odeur seule gâtait le monde. Muffat regardait toujours, obsédé, possédé, au point qu’ayant fermé les paupiè-

77 Quintilian, Institutio, VIII 6,46. 78 Als Ergebnis der gemeinsamen Projektarbeit im Rahmen einer Senior Research in Residence am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München (CAS) 2012/13 ist dies auch der Titel der gemeinsam organisierten internationalen Tagung unter Leitung Barbara Vinkens 13.–15.06.2013 sowie des daraus hervorgegangenen Sammelbands 2015. 79 „BABYLONE“, in: Littré, Dictionnaire, Bd. 1, S. 274.

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res, pour ne plus voir, l’animal reparut au fond des ténèbres, grandi, terrible, exagérant sa posture. Maintenant, il serait là, devant ses yeux, dans sa chair, à jamais. (N 1272)

Lüstern und obszön sieht er in Nana nicht nur seine „ancienne horreur de la femme“ in Szene gesetzt. War sie im Löwenfell und mit der „gorge dure d’une guerrière“ (N 1271) eben noch in der Ikonografie der Omphale erschienen, inkarniert sie nun den Pelz und wird zum Tier. Il y avait de la bête. Wie Barbara Vinken bereits à propos der Longchamp-Episode eindrucksvoll aufgezeigt hat, hängt an Nana der Ruch des Apokalyptischen. Im „duvet rousse“, behängt mit Perlen und bis zuletzt vergoldet, „circumdata purpura, et coccino, et inaurata auro et lapide pretioso, et margaritis“ (Offb 17,4) ist ihr wie dem Ungeheuer der Schrift ein Name eingeschrieben, den Flaubert, wie sich zunehmend zu erhärten scheint, bewusst gewählt hat. „Babylon magna, mater fornicationum, et abominationum terræ.“ (Offb 17,5) Als Mutter der Unzucht des Second Empire kulminiert Zolas synkretistische Venus im Bild der Hure Babylon. Dabei macht schon der Adressat der Offenbarung deutlich, dass dies kein Ungeheuer im klassischen Sinne ist und kommentiert: „Et mulier, quam vidisti, est civitas magna, quæ habet regnum super reges terræ.“ (Offb 17,18) Kein Nemeischer Löwe, sondern die Lionne als Produkt der sie bedingenden Gesellschaftsform bringt die Zivilisation an den Rand des Abgrunds. Geradezu prophetisch löst Johannes die Allegorie der bestia auf. Das Ungeheuer ist die Stadt, die über die Könige der Erde herrscht. Spätestens mit dem ersten Brief des Petrus, der im Namen der Gemeinde aus der ewigen Stadt grüßt „quæ est in Babylone“ (1.Petr 5,13), ist klar, dass das Babel des Neuen Testaments nicht am Euphrat liegt, sondern am Tiber. „Et facta est habitatio dæmoniorum, et custodia omnis spiritus immundi, et custodia omnis volucris immundæ, et odibilis“ (Offb 18,2), Rom wird zum Gefängnis des unreinen Federviehs, unter dessen Namen Nanas Stand in Hühnern, Puten und Gänsen firmiert. Pars pro toto verbuchstäblicht in den cocottes hatte Amor selbst sie schon in der Exposition als papierene Allegorien ausgestellt. „Et reges terræ cum illa fornicati sunt: et mercatores terræ de virtute deliciarum ejus divites facti sunt.“ (Offb 18,3) Die Könige der Welt, im Bild Prince Berties hier nur ein Thronfolger sowie die halbe kaiserliche Aristokratie, haben in und mit ihr Unzucht getrieben und Kaufleute sich mehr als saniert an ihrem Landstriche verschlingenden Luxus. Als Allegorie ohne Metaphern behält der Wortlaut der Offenbarung – wie der Vergils neunter Ekloge – seine buchstäbliche Bedeutung, wenn Paris als literales Babylon in der unaufgelösten Chiffre Roms Zolas politische und poetische Agenda engführt, die dem Zweiten Kaiserreich verweigerte translatio imperii in der Bilderlosigkeit des Naturalismus letztlich zur translatio babylonis wird. Das neue Rom wird offenbart als buchstäbliches Babylon. „[Paris] bâtit au

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siècle où nous sommes/ Une babel pour tous les hommes/ un panthéon pour tous les dieux.“80 Victor Hugos in seiner Apostrophe an den Arc de Triomphe vorgestellte Idee einer translatio, die von den „Memphis et […] Romes“81 der napoleonischen Feldzüge das imperium nach Paris holt82, wird zur Kostümklamotte, die die Stadt als Babylon verkleidet zur Göttertravestie in der bastringue verflacht, zum Séparée der Nana, wo „par allusion au récit biblique“ längst das Chaos herrscht, auf das auch Littré das pflichtbewusst angeführte Hugozitat von 1837 in zweiter Bedeutung letztlich zurückfallen lässt: „un assemblée où tout le monde parle sans entendre, où personne n’est d’accord.“83 So erweist sich, was Clark im Roman als kaleidoskopische Perspektive identifiziert, letztlich als Ergebnis einer verbuchstäblichten Allegorie deren Inventar den Roman zum sprichwörtlichen lieu de désordre macht. Das Second Empire erscheint im Zerrbild eines babylonischen Albtraums. Die Epiphanie Nanas als Hure Babylon vollzieht sich für Muffat, der den Kopf trägt wie das Sakrament, in Bildern der Offenbarung. Katholisches Establishment und Halbwelt stehen sich, durch ihn verbunden, diametral gegenüber. Die wahre création babylonienne aber, die Zola seit dem Salon von 1863 den Schlaf raubt, ist das Produkt ihrer herzlichen Übereinkunft. Nana ist als Frau aus Fleisch und Blut wie Vinken zeigt weit davon entfernt in den Ruch einer Reispuder- oder Marzipanvenus „de pâte d’amande blanche et rose“84, „[le] corps de fard et de poudre de riz“85 zu kommen, wie Zola in seinen früheren Cabanel-Kritiken den sagenhaften Erfolg der Naissance de Vénus bedenkt. Als er anlässlich der Reprise des Motivs aber, der eigenhändigen Kopie, mit der Cabanel im zwölften Jahr nach ihrer Entstehung seine Venus gleichsam in die Dritte Republik zu übersetzen versucht, sich seiner nochmals annimmt, klingt Zolas Kritik wie eine Vorstudie zur Nana. La principale malice de Cabanel, c’est d’avoir rénové le style académique. À la vieille poupée classique, édentée et chauve, il a fait cadeau de cheveux postiches et de fausses dents. La mégère s’est métamorphosée en une femme séduisante, pommadée et parfumée, la bouche en cœur et les boucles blondes. […] C’est un génie classique qui se permet une

80 Victor Hugo, „À l’arc de triomphe“, in: ders., Les voix intérieures, Lausanne: Rouiller 1837, S. 37. 81 ebd. 82 Michael Rieser, „Spleen lumineux de l’Orient? Die Pyramiden von Paris“, in: B. Vinken (Hg.), Translatio Babylonis, S. 187 f. 83 „BABEL“, in: Littré, Dictionnaire, Bd. 1, S. 273. 84 Émile Zola, „Nos peintres au Champ de Mars“ (Exposition universelle 1867), in: ders., Salons, hg. v. Frederick W. J. Hemmings u. Robert Niess, Paris: Minard, 1959, S. 111. 85 ebd.

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pincée de poudre de riz, quelque chose comme Vénus dans le peignoir d’une courtisane.86

Eines ist Nana sicher nicht: akademisch. Doch schon das Puppenhafte lässt sich bisweilen nicht ganz von der Hand weisen. Sie kann nicht schauspielern, nicht tanzen, noch singen und begeistert auf der Bühne als stets lachende, wackelnde Aufziehpuppe vor allem durch die Ausstellung ihres Körpers, der von ihren Verehrern wie eine Gliederpuppe in Objekte der Begierde zerlegt wird. Ihr Haar kann sich als Löwenmähne bis zuletzt nicht dem Eindruck des äußerlich Attribuierten erwehren. Das den Roman bestimmende Paradigma der Metamorphose explizit aufrufend, wird die Rachegöttin zur Mouche d’or, die das Elend des Assommoir an der Pariser Oberschicht rächt. Mit leicht geöffnetem Schmollmund und ihren blonden Locken liefert Zola in der Kritik von 1875 gleich noch die Merkmale, mit denen er Nana am häufigsten attribuieren wird und steckt die Venus, als wäre all das nicht genug, im peignoir d’une courtisane in jenen Morgenrock, der durch alle Verwandlungen hindurch die große Konstante in Nanas Leben markiert. In dem Moment, da sie Muffat als monstrum nach der Schrift erscheint, gerät Nana dem Erzähler zu Zolas persönlicher ancienne horreur de la femme. Nana ne bougea plus. Un bras derrière la nuque, une main prise dans l’autre, elle renversait la tête, les coudes écartés. Il voyait en raccourci ses yeux demi-clos, sa bouche entrouverte, son visage noyé d’un rire amoureux; et, par-derrière, son chignon de cheveux jaunes dénoué lui couvrait le dos d’un poil de lionne. Ployée et le flanc tendu, elle montrait les reins solides, la gorge dure d’une guerrière, aux muscles forts sous le grain satiné de la peau. Une ligne fine, à peine ondée par l’épaule et la hanche, filait d’un de ses coudes à son pied. Muffat suivait ce profil si tendre, ces fuites de chair blonde se noyant dans des lueurs dorées, ces rondeurs où la flamme des bougies mettait des reflets de soie. (N 1271)

Kaum hat eine Venus je so aufreizend dagelegen wie die Cabanels. Will man ihre Pose beschreiben, so kann man bedenkenlos die Worte wählen, die Zola findet, um Nana vor dem comte auszubreiten. Wie ein Model stellt sie sich unbewegt aus. Einen Arm nach oben gebeugt, die Hand am zugeneigten Kopf, die Ellenbogen angewinkelt, die Augen halb geschlossen, la bouche en cœur zu einem sanften Lächeln gebogen, während sich unter ihr der gelöste Haarknoten als blondes Löwenfell ausbreitet. Hinein bis in die Linie – vom nach oben gereckten Ellenbogen über Schulter, leicht gebeugte, kräftige Hüfte und darüber gespannte Seite zum Fuß – ist Nana in diesem Moment an der überlebensgroßen Venus modelliert, deren leicht gewellte ligne fine die Bildachse dominiert

86 Émile Zola, „Une exposition de tableaux à Paris“ (Salon de 1875), in: ders., Salons, S.156 f.

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und deren zartes Profil statt „dans un fleuve de lait“87 „se noyant dans des lueurs dorées“ (N 1271) im Salon von 1863 nicht nur den comte Muffat in Verlegenheit gebracht haben würde. Die feinen Linien dieser Schilderung kommen dem Akademismus Cabanels durchaus näher als dem, wenn auch mit Nana überschriebenen, Porträt der Henriette Hauser, das Manet, vom Salon abgelehnt, 1877 dort ausstellt, wo es hingehört: auf dem Boulevard des Capucines. So mengt sich in die Epiphanie der bestia im Fleische das Paradigma der Künstlichkeit. Die Linien, deren Fluchten der Blick plötzlich folgt, statt das Fleisch in schnellen Pinselstrichen ungebrochen inkarniert vorzufinden, machen den Anfang. Bald erscheint ihre Haut nicht mehr als Fleisch, Federkleid und Fell der bête, sondern nimmt textile Qualitäten an, wird zu Satin, Samt und Seide. Hierin liegt kein Widerspruch, sondern vielmehr das Geheimnis der création babylonienne. Das Paris des Zweiten Kaiserreichs erscheint in Bildern der Offenbarung als orientalisiertes Rom, in dem die Zivilisationstechniken der demimonde und der pagane Mythos, Nana und Venus in der Inszenierung einer unmöglichen translatio imperii unterschiedslos zusammenstürzen. Rom ist nicht mehr Rom, doch führt Zola mehr vor als das zur Plattitüde verflachte Corneillezitat. Bezeichnenderweise würdigt Flaubert, um auf den großen Tod der Nana zu sprechen zu kommen, die große Vanitas des Schlusstableaus, die als kanonischer Topos dem Akademismus durchaus näher steht, denn dem von Zola proklamierten objektiven Natur-minus-x-Naturalismus, ausgerechnet mit dem Ausdruck des Michelangelesken. Dass von ihm ausgerechnet keine kanonische Venus existiert mag eine Sache sein, mit dem anderen Aspekt dieser Aussage rührt Flaubert an eine weitaus tiefer reichende Problematik. Wenn der 1475 in Caprese geborene und 89 Jahre später am 18. Februar in Rom gestorbene Toskaner Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni eines nicht ist, dann peintre en plein air. Dennoch oder gerade deshalb wohl nicht zufällig wählt Flaubert mehrfach seinen Namen. Nana ist keine römische Venus, wie auch Cabanel die Formen des style académique erneuert, ohne sich in die Tradition der Venere Botticellis oder Tizians zu stellen und neben den Kaiser in von weiß auf schwarz à l’envers gedrehten culottes eine gewissermaßen hausgemachte Venus setzt. Als Venera des Second Empire parallelisiert Zola in dieser Autochthonie den sensationellen Erfolg der Naissance im Salon von 1863 mit dem Nanas auf den Brettern des Varietés und lässt das Zweite Kaiserreich in ihrem Tod zusammen mit dem renovierten Akademismus als Klischee der Renaissance Michelangelos zugrunde gehen.

87 Émile Zola, „Nos peintres au Champ-de-Mars“, S. 111.

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Nana restait seule, la face en l’air, dans la clarté de la bougie. C’était un charnier, un tas d’humeur et de sang, une pelletée de chair corrompue, jetée là, sur un coussin. Les pustules avaient envahi la figure entière, un bouton touchant l’autre; et, flétries, affaissées, d’un aspect grisâtre de boue, elles semblaient déjà une moisissure de la terre, sur cette bouillie informe, où l’on ne retrouvait plus les traits. Un œil, celui de gauche, avait complètement sombré dans le bouillonnement de la purulence; l’autre, à demi ouvert, s’enfonçait, comme un trou noir et gâté. Le nez suppurait encore. Toute une croûte rougeâtre partait d’une joue, envahissait la bouche, qu’elle tirait dans un rire abominable. Et, sur ce masque horrible et grotesque du néant, les cheveux, les beaux cheveux, gardant leur flambée de soleil, coulaient en un ruissellement d’or. Vénus se décomposait. Il semblait que le virus pris par elle dans les ruisseaux, sur les charognes tolérées, ce ferment dont elle avait empoisonné un peuple, venait de lui remonter au visage et l’avait pourri. La chambre était vide. Un grand souffle désespéré monta du boulevard et gonfla le rideau. — À Berlin! à Berlin! à Berlin! (N 1485)

Barbara Vinken liest das Ende der Nana im Spannungsfeld zweier Vokabeln: Dem im Paradigma von conserver vorgestellten „Wunsch nach Beständigkeit und Dauer“88 als Fürbitte für Stadt, Reich und Kaiser steht der mit Kriegsausbruch im Sommer 1870 bereits dämmernde Umsturz entgegen, den die in dreimaliger Wiederholung am Totenbett beschworene Metamorphose der Göttin dieses Reichs bereits vorweggenommen hat: „— Ah! elle est changée, elle est changée…“ (u.a. N 1485) Vinken liest Zola als Nachfolger Ovids und tatsächlich schildert die große Vanitas, die Flaubert nicht schlafen lässt, mehr als die decomposition eines Körpers. Die für einen Naturalisten doch überraschende Einlassung am Tag der Fertigstellung, er würde am Tod der Nana nichts ändern, und wenn es nicht der Wirklichkeit entspräche89, mag in der komplexen Komposition der Dekomposition, der michelangelesken Vanitas liegen, mit der das Kaiserreich im Bild des Akademismus zur Hölle fährt. Vollkommen entstellt reproduziert Nanas Leichnam auf dem Totenbett die Venus Cabanels, als die sie Muffat erschienen war, dekomponiert in ihrer wirklichen Natur. Hier wie dort wird die Erzählung in der Schilderung zum gerahmten Bild. Vor dem comte regungslos, liegt sie nun allein und leblos da. Ohne intradiegetisches Publikum nullfokalisiert wird die Geburt der Venus, hier wie dort im Kunstlicht der Gaslampe, zum Tod der Nana. Abgeschminkt, vom Reispuder befreit, zerfällt die poupée classique zum charnier – im Totentanz des Innocents und von Sedan, zum Haufen faulen Fleisches, achtlos hingeworfen auf den Divan, von dem schon Manets Olympia dem Betrachter etwas ungesund entgegenblickt. Die überfeine Linie von Cabanels Komposition, der entlang Muffats Blick an Nanas 88 Vinken, „Nana“, S. 206. 89 Brown, „Zola and the Making of Nana“, S. 216.

Translatio babylonis 

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Körper gefolgt war, geht im sprunghaften Durcheinander in stets neuen Anläufen beschriebener Verfallszustände unter, wenn die figure als visage und figura unter Beulen, Wunden, Krusten zu verschwinden droht. Das eine Auge bereits völlig denaturiert lässt das andere, nach wie vor halb geöffnet, die ursprüngliche Komposition erkennen, während die bouche en cœur der einstigen Marzipanvenus ihr rire amoureux zum rire abominable entstellt. Pierre Corneille legt seinem Sertorius, während Ludwig XIV. die nördliche Stadtmauer von Pierre Bullet abtragen lässt, um im Nouveau Cours den Grundstein der Grands Boulevards zu legen, die Vision von einem neuen Rom in den Mund, das, zwar noch in Spanien und nicht an der Seine, seine Bürger nicht mehr in das Gefängnis seiner Mauern sperrt, mit den Bewohnern der Stadt am Tiber als faux Romains bricht, um schließlich zu postulieren: „Rome n’est plus dans Rome, elle est toute où je suis.“90 Als ein großer Seufzer vom Boulevard, auf dem alles beginnt und endet, den Theatervorhang ein letztes Mal zur Seite schiebt und das erste Wort der ersten Zeile des Entwurfs assonant mit dem letzten kurzschließt, das Kriegsgeschrei des kollektiven „à Berlin! à Berlin! à Berlin!“ (u.a. N 1485) mit den apokalyptischen Anfeuerungsrufen von Longchamp, „Nana! Nana! Nana!“ (u.a. N 1404 ), ist alles offenbar: Am Schlusspunkt der sich durch den Roman ziehenden Kette unzureichender Vergleiche erscheint Nana in der Epiphanie der todgeweihten Hauptstadt als Realität gewordener Mythos des todgeweihten Paris. Thomas Couture hatte die moralischen Missstände der Julimonarchie in seinen Romains de la décadence des Salons von 1847 noch recht eindrucksvoll ausweisen und im Juvenalzitat als innerrömische Angelegenheit markieren können. Offenbachs Belle Hélène ist 1864 da schon durchsichtiger, der Übertrag nach Griechenland sowie in das komische Format jedoch retten die Allegorie. Die blonde Venus aber, die im Bild der Mouche d’or am Paris Napoleons III. Rache nimmt, verschleiert nichts mehr und verbuchstäblicht stattdessen als personifizierte luxuria das Motto Coutures aus Juvenals sechster Satire: „Plus cruel que la guerre, le vice s’est abattu sur Rome et venge l’univers vaincu“91. Den Kontext nur um einen Vers, um den besiegten Hannibal92 erweiternd wird der karthaginensische Orientalismus internalisiert zum römisch-christlich-babylonischen, während der Erzähler den Roman in jenem Krieg enden lässt, an dessen Ausgang in grausamer Umkehrung das neue Rom besiegt darniederliegt.

90 Pierre Corneille, Sertorius, III, 1, in: ders., Œuvres VI, hg. v. Charles Marty-Laveaux, Paris: Hachette 1862, S. 402. 91 Decimus Iunius Iuvenalis, Sat VI, 292 f., in: ders., Juvenal and Persius, hg. u. üs. v. G. G. Ramsay, London: Heinemann 1920, S. 106. 92 Juvenal, Sat VI, 291.

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Seit der Exposition hält Nana in ihrem nackten Körper, den nach einer Tour de force vom Assommoir bis auf ihr Totenbett im Grand Hotel bald jeder kennt, Paris als Vanitas den Spiegel vor. Im Augenblick des Todes, da sie buchstäblich das Gesicht verliert und die groteske masque du néant darunter zum Vorschein kommt, stürzt auch die Kulisse des Second Empire in sich zusammen. Paris ist nicht das neue Rom Corneilles, sondern ein Cliché des alten. Zola lässt diese Inszenierung in der verbuchstäblichten orientalischen Travestie der Offenbarung auffliegen, die translatio kommt kurzschlüssig zum Stillstand. Nana ist nicht große Mutter des Orients, nicht Tanit und nicht römische Venus. Im Moment des Todes erscheint ihr Löwenfell, im Sonnenglanz vergoldet, vor allem in den cheveux postiches Cabanels und künstlichen Mähnen der Lionnes: als Fetisch des Akademismus und Attribut einer Allegorie, die der originären Schöpfung des Second Empire nicht länger Herr wird.

La Joie de vivre – Braut Christi und Menses Pauline, Paulus, Paul Viel ist gesagt über Émile Zolas mehr oder weniger verkleidete, verborgene, vergessene1 Wortführer im 1884 auf dem Zenit2 seiner literarischen Karriere erschienen zwölften Band der Rougon-Macquart: La Joie de vivre. Im Kammerstück um die zehnjährig verwaiste Pauline Quenu, die sich als Mündel des Chanteau’schen Haushalts am Rande der Basse-Normandie ihrem lebensunfähigen Vetter in Nächstenliebe zerfließend zur Seite gestellt um ein Vermögen bringt, legt Robert Niess mit seinen Beiträgen bereits zu Beginn der 1940er-Jahre autobiographische Elemente und Tendenzen offen. Sorgfältig entwickelt an zusammengetragenen Überlieferungen aus dem Umfeld Zolas prägt Niess maßgebend die Wahrnehmung der Romanhandlung als Spiegel und Aufarbeitung der Neurasthenie seiner Jugend3 sowie des persönlichen Krisenjahrs 1880 mit dem Tod Flauberts und Zolas Mutter Émilie Aubert, in das die erste Auseinandersetzung mit dem Romanstoff fällt.4 Dabei geht er so weit, „Lazare Chanteau, the young hero of La Joie de vivre […] almost certainly sketched in Zolas own image“5 zu lesen. Die Mutter identifiziert Niess „save for her dishonesty almost to the life“6 in Madame Chanteau, die Komplikationen während des Kondukts der einen nahezu unverändert in jenen der anderen, deren penibel komponier-

1 Clayton Alcorn, „Zola’s Forgotten Spokesman. Véronique in La Joie de vivre“, in: The French Review 49/1 (1975), S. 76–80. 2 Robert Niess, „Zola’s Final Revisions of La Joie de vivre“, in: MLN 58/7 (1943), S. 537. 3 Robert Niess, „Autobiographical Elements in Zola’s La Joie de vivre“, in: PMLA 56/4 (1941), S. 1141; vgl. überdies: Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 186 u. 514. 4 Niess, „Autobiographical Elements“, S. 1134 sowie S. 1136 f., 1140 u. 1143. 5 Robert Niess, „Zola’s La Joie de vivre and La Mort d’Olivier Bécaille“, in: MLN 57/3 (1942), S. 205. 6 Niess: „Autobiographical Elements “, S. 1134. Als Vorrede zum die vorgelegte Arbeit beschließenden Kapitel ist diese vorletzte Betrachtung eng an meinem Vortrag „Compassio Mariae: Braut Christi und Menses in Zolas La Joie de vivre“ im Rahmen der internationalen Tagung „Familienformen in Europa. Die Braut Christi“, Villa Vigoni 19. bis 22. Juni 2013, entwickelt, der 2016 als „Braut Christi und Menses. Zolas La Joie de vivre in Bildern der mystères joyeux du rosaire“ erschienen ist in: B. Vinken/S. Elm (Hg.), Braut Christi. Familienformen in Europa im Spiegel der sponsa, Paderborn: Fink 2016, S. 145– 163. https://doi.org/10.1515/9783110605334-003

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ter Tod im sechsten Kapitel als „‚scène à faire‘ of the work“7 Nils-Olof Franzén8 zum zentralen Fokalisationspunkt9 für das den Roman dominierende, allgegenwärtige Leiden wird. In den Hauptfiguren Lazare und Pauline als naturalistische Fassaden der Objektivität stellen sich die Konzepte von Optimismus und Pessimismus vor, in ihren Verflechtungen „deeply rooted in Zolas own nature“10 und wenn auch nicht strikt psychoanalytisch, so doch als Steilvorlage für etwa Jean Bories freudianische Lektüren11. Diese erblicken in La Joie de vivre die „réflexion zolienne la plus achevée sur le problème du névrosé, illustré par le personnage de Lazare“,12 in der sich unter dem Eindruck eines mehr als latenten Schopenhauerismus der Pessimismus mit höchster Reizbarkeit, Hypochondrie und anhaltendem Leiden Bahn bricht und auf die Wahrnehmung auch der Spiegelfigur Émile überzugreifen droht. Nach der katastrophalen Vanitas der Nana als Gegenstück erdacht, arbeitet Clayton Alcorn aus den frühen Vorarbeiten zum Roman noch ein ganz anderes Bild heraus. Den apokalyptischen Visionen des Kriegsausbruchs entgegen, mit denen Zola das Zweite Kaiserreich im kollektiven Rausch des „à Berlin!“ (N 1474–1485) zugrunde gehen lässt, soll die zweite Dekade13 der Rougon-Macquart, wie er Fernand Xau im Frühjahr 1880 diktiert, als „une sorte de réaction contre mes œuvres antérieures“14 stehen; wie Sébastien Roldan bekräftigt „plus discrète, moins bruyante“15 eröffnen, dem durch die Höllen von L’Assommoir und Nana gehetzten Publikum eine Atempause gleichsam als „philosophical statement“ in Romanform verschaffen und dem Autor Kanzel und Bühne sein

7 u.a. Niess, „Zola’s Final Revisions of La Joie de vivre“, S. 538. 8 Nils-Olof Franzén, Zola et La Joie de vivre. La genèse du roman, les personnages, les idées, Stockholm: Almqvist & Wiksell 1958. 9 So Colin Burns in seiner Besprechung „Zola et ‚La Joie de vivre‘ by Nils-Olof Franzén“, in: MLR 58/2 (1963), S. 270. 10 Colin Burns, „Zola et ‚La Joie de vivre‘ by Nils-Olof Franzén“, S. 270. 11 Jean Borie, Zola et les Mythes. Ou de la nausée au salut, Paris: Seuil 1971, sowie hier im Besonderen: ders., Le Tyran timide: Le naturalisme de la femme au XIXe siècle, Paris: Klincksieck et al. 1973; die gefühlte Nähe zu Freud würdigt Maurice Agulhon im Rahmen seiner Besprechung mit der Bemerkung „Zola et les mythes pourrait presque s’intituler Zola et Freud“, Maurice Agulhon, „Jean Borie: Zola et les mythes“, in: Annales (ESC) 27/2 (1972), S. 448. 12 Chantal Jennings, „‚Le Tyran timide. Le naturalisme de la femme au XIXe siècle‘ by Jean Borie“, in: MLN 89/4 (1974), S. 759. 13 Auf die Frage nach dem Umfang des Zyklus legt Zola Fernand Xau gegenüber im großen Interview des Frühjahrs 1880 die Zahl definitiv auf die Eikade fest, vgl. Fernand Xau, „Une visite chez M. Émile Zola“, in: La Paix, 13.4.1880, S. 2 f., zitiert nach ders., Émile Zola, S. 46. 14 Xau, Émile Zola, S. 46. 15 Sébastien Roldan, La pyramide des souffrances dans La Joie de vivre d’Émile Zola. Une structure schopenhauerienne, Montréal: Presses de l’Université de Québec 2012, S. 11.

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„to preach […] a message of optimism, hope, and courage“.16 Allein dieser Roman wird nicht der zehnte, sondern zwölfte, die Botschaft der Hoffnung, noch um acht weitere Romane verzögert, sich erst in der messianischen Vision des enfant inconnu zum Ende der Reihe erfüllen, um im Spätwerk der Quatre Evangiles schließlich zu einem kaum erträglichen Heilskanon anzuschwellen. Mitten in den bahnbrechenden Erfolg, der par le canal de Nana Millionen über dem jungen Großschriftsteller und seinem Verleger ausgießt, stirbt, nachdem er kurz zuvor den Einschlag dieser création babylonienne prophezeit hatte, am 8. Mai 1880 Gustave Flaubert. Schwer getroffen17 weitet sich die Depression mit dem Tod der 61-jährigen Émilie Aubert im Herbst desselben Jahres aus zur „violent emotional crisis“.18 Die nach Abschluss der Nana begonnene Arbeit an La Joie de vivre ist bis zu diesem Zeitpunkt erst in einer „very rudimentary outline“19 konkret geworden, als Zola den Kampf gegen den Pessimismus fast zwei Jahre suspendieren muss. „Il lui aurait fallu, dans ce roman sur ‚la douleur‘, recourir à des souvenirs autobiographiques, qui eussent cruellement ravivé une perte récente.“20 Als er die Arbeit daran 1883 schließlich, nach Pot-Bouille und Au Bonheur des Dames wiederaufnimmt, ist der Roman ein anderer geworden. Alcorn zeichnet diesen Bruch entlang der notes préparatoires nach und erkennt in der Figur der Zugehfrau Véronique Zolas vergessene Wortführerin: „Most of the characters and situations were still to undergo many significant changes before their final forms were established“,21 die suizidale Bonne jedoch, als bis zum äußersten konsequente Absage an das in Pauline vorgestellte Hoffnungsmodell, identifiziert Alcorn gleichwertig neben dem Tod der Hausherrin als zweite große Konstante in der Romangenese. La bonne pourra d’abord être contre Pauline. Plus tard elle se mettra pour elle, et lui dévoilera toutes les coquineries, cachées et silencieuses, qui l’ont entourée. II faut que Pauline soit mise en présence de ces faits par la bonne, soit avant soit après la mort de la mère, ou pendant la maladie. Puis, pour finir cette bonne, la faire se pendre, sans qu’on sache pourquoi.22

Mit „Zola’s forgotten spokesman“ stellt Alcorn den Lesarten der Jahrhundertmitte, hier explizit Franzén, der noch im unerträglichen Dahinsterben allenthalben „forces positives et créatrices“ erkennt, im Ruin Paulines den „culte de la 16 Alcorn, „Zola’s Forgotten Spokesman“, S. 76. 17 Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 862–864. 18 Alcorn, „Zola’s Forgotten Spokesman“, S. 76. 19 ebd. 20 Alexis, Émile Zola, S. 126. 21 Alcorn, „Zola’s Forgotten Spokesman“, S. 77. 22 Émile Zola, Dossier préparatoire de La Joie de vivre, B.N.F, Ms, NAF 10.311, f° 156.

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vie“ und den „rêve d’un monde bon et juste où la Vie prodiguera sa plénitude à une race enfin affranchie de l’ignorance et de l’égoïsme“23 träumt, eine radikal gegensätzliche Lektüre vor, die den Roman als „symphony on sorrow“ zurückbeugt in den Trauerton von 1880, „to which Véronique’s suicide provides the final dolorous chord“.24 Bereits 1964 hatte Henri Mitterand seiner ausführlichen Studie die Erkenntnis ans Ende gestellt „[que] la critique de l’époque […] n’entendait que ‚le cri du mal‘ montant de Chanteau ou de Lazare“ (JV 1772). Dabei sieht René Pierre Colin die für Zola maßgebliche Wahrnehmung des Schopenhauerismus via Taine und die Revue Germanique des Charles Dollfus bereits ab 1859 mehr im Bereich des Assoziativen.25 Mehr „mythe naturaliste“26 denn analytischlogisch-philosophischer Diskurs zeichnet er gegen die Kritik der Rezensenten27 das Bild einer Philosophie, der gegenüber Taine an Théodule Ribot gewandt – Verfasser der Philosophie de Schopenhauer (1874) – bereits 1873 „une nuance de roman“28 empfindet. Auch Mitterand lässt durchaus offen, wie gut Zola die Texte Schopenhauers tatsächlich kannte, bezeugt lediglich die mittelbare Kenntnis einiger Studien Paul Bourgets aus der Nouvelle Revue (JV 1753), während Nelly Viallaneix die bescheidene Expertise der Médanisten29 am liebsten aus der Rezeptionsgeschichte Schopenhauer[s] en France getilgt sähe. So erfährt der Pessimismus zum Ende der 1870er-Jahre, wie Sébastien Roldan zeigt, gerade in den Zirkeln nichtakademischer Literaten eine massive Konjunktur und entwickelt jenseits der Logique du système de Schopenhauer (1882) Renouviers ein bizarres Eigenleben. Die Skeptiker und Pessimisten Céard und Huysmans lassen sich in weitgehender Unkenntnis des Gegenstandes von ihrem fortschrittsgläubigen Meister den Kopf waschen, der durchaus bestrebt, die aus Deutschland eingeschleppte Philosophie zu widerlegen, darüber selbst nicht ganz im Bilde, ihr abgesehen von einem Evangelium der Arbeit nicht viel entgegensetzen kann. (JV 1753) Goncourt erwähnt mit Stirnrunzeln „une attaque de sensibilité“ des jungen Daudet anlässlich einer „paraphrase de son professeur sur Schopen23 Franzén, Zola et La Joie de vivre, S. 213; vgl. dazu überdies Mitterand, JV 1772. 24 Alcorn, „Zola’s Forgotten Spokesman“, S. 80. 25 René Pierre Colin, Schopenhauer en France. Un mythe naturaliste, Lyon: Presses Universitaires de Lyon 1979, S. 101–106. 26 Colin, Schopenhauer en France, S. 113 f.; meine Hervorhebung. 27 Vgl. etwa Nelly Viallaneix, „René Pierre Colin, Schopenhauer en France“, in Romantisme 11/ 32 (1981), S. 101–104. 28 „Mais pour moi, il y a là une nuance de roman comme lorsque je lis Hegel ou Schopenhauer“, Hippolyte Taine an Théodule Ribot, 6. Juli 1873, in: Hippolyte-Adolphe Taine, H. Taine, sa vie et sa correspondance, Paris: Hachette 1905, Bd. 3, S. 238. 29 Hier pars pro toto Henri Céards, vgl. Viallaneix, „René Pirre Colin, Schopenhauer en France“, S. 103 f.

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hauer“,30 die das unfreiwillig komische Ausmaß eines Pennälers annimmt, der schluchzend unter Tränen nach der Mutter ruft, während sich ein halbes Jahr zuvor bereits sein Vater gewohnt deftig über den „aristocratique Schopenhauer“ ausgelassen hat, von Zola „mis à la portée des masses, […] répandu sur du papier torcheculatif“.31 Die verbreitet unterstellte Unkenntnis der Schriften Schopenhauers zumindest bei Fertigstellung des Romans relativierend nimmt Roldan all dies nicht unbegründet als Anlass zur Annahme „[que] le roman projeté deviendra, à un certain degré, un roman sur la philosophie de Schopenhauer“.32 So erkennt er unter den neun 1883 von Zola erwogenen Titeln sechs Paraphrasen aus Bourdeaus Übertragung der Parerga und Paralipomena, in zwei weiteren dem Geist des Romans (und Schopenhauers) zumindest verbundene Gedanken. Allein es ist die Ausnahme „[que] Zola finira par choisir – une expression commune, appartenant à la langue d’usage, qu’on trouve sous la plume du romancier au printemps 1883 dans l’Ébauche“.33 Eine wirklich zufriedenstellende Erklärung bleibt Roldan schuldig, begnügt sich mit dem Hinweis „[que] [p]aradoxalement, ce que partagent avant tout et plus que tout les protagonistes de La Joie de vivre, c’est une douleur de vivre“.34 Zwar liest er den Titel, anders als Mitterand die „plupart des critiques“ subsumiert, nicht nur als „poignante ironie“ (JV 1771), weist im Gegenteil sogar die explizite Einlassung Zolas aus „qu’il fallait prendre le titre au sens premier“,35 doch macht er sich sogleich wieder daran, in der „genèse […] tourmentée“, den „multipl[es] canevas“ (JV 1757) des Romans den Bruch zwischen vorgestellter Handlung und dem nun eben unfreiwilligen Zynismus des Titelversprechens zu untersuchen, dem auch Mitterand erst in der späten Rezeption „sa valeur littérale“ (JV 1772) zuerkennt. Mit diesem bemerkenswerten Schlusswort rührt er jedoch an eine Struktur, die – tiefer wurzelnd als die Denkmoden der Jahrhundertwende, ob Pessimismus oder Vitalismus – im Zentralbegriff der paulinischen Heilsbotschaft eine Freude kennt, die gaudium und passio in sich widerspruchslos vereint, in der tötenden Verbuchstäblichung aber – grimmer als jede Ironie – die Freude beim Wort nehmend im Literalsinn des sens premier kurzschlüssig in die Katastrophe führt. Zwar weist Alison Finch in ihrer Note zum afterlife of a phrase36 den Bei30 Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 1110 f. 31 a.a.O., S. 1050. 32 Roldan, La pyramide des souffrances, S. 11. 33 a.a.O., S. 12. 34 a.a.O., S. 11. 35 Roldan, La pyramide des souffrances, S. 16; meine Hervorhebung. 36 Alison Finch, „La Joie de vivre. The afterlife of a phrase“, in: S. Harrow/T. Unwin (Hg.), Joie de vivre in French literature and culture, Amsterdam/New York: Rodopi 2009, S. 299–302.

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trag Zolas zur Loslösung des geflügelten Wortes von der traditionell religiös konnotierten joie (im Gegensatz etwa zur säkulareren gaieté)37 explizit aus, die Roldan sodann als Beweis für die „idée laïque d’un bonheur émanant de la vie elle-même“ heranzieht und Zola als erfolgreich rivalisierenden Gegenentwurf zum „fameux mal du siècle romantique“38 aufbauen lässt, doch erscheint diese laïcité bereits angesichts der heranzitierten Paten der Entwicklung aus der Jahrhundertmitte mehr als fraglich. Ausgerechnet in Jules Michelet und Gustave Flaubert soll die Lösung von der Kirche erscheinen, die sich, ob in der Promotion einer „Religion der Republik“39 oder der Vision einer albtraumhaft durchkreuzten Moderne, wie Barbara Vinken zeigt, zeitlebens unermüdlich, unvermeidlich am Heil abarbeiten. So scheint die Frage ob Schopenhauerismus oder nicht, poignante ironie oder sens premier und damit Lektüre im eigentlichen oder uneigentlichen Wortsinn weniger voraussetzungsreich, als der Spur eines spokesman of joy zu folgen, der so vergessen wie offensichtlich als Gehilfe der Freude (2.Kor 1, 24) in den Romantext eingeschrieben ist: im Titelwort der joie, der Protagonistin Pauline, schließlich ganz unverstellt als Paul(us) selbst. Als Kind der Freude in hysterischer Liebe zu einem Leben geboren, das nichts als Leid und Hoffnungslosigkeit kennt, ist seine Freudenbotschaft jedoch bereits vom tötenden Buchstaben gezeichnet und wendet als gaudium ohne spes die Joie de vivre unter dem Gesetz der Medizin, der Sünde und des Todes in letzter Konsequenz zur Lust am Sterben.

Ein freudenreicher Rosenkranz Die vielleicht dritte große Konstante in der turbulenten Werkgenese der Joie de vivre mag man in der weiblichen Hauptfigur erkennen. Als Inventar bereits des Ventre de Paris 1873, und in der kindlichen Travestie des wilden Johannesknaben bereits dort deiktische Figur von biblischem Format, übertrifft sie die mannigfaltig aus dem Romantext samt seiner umfangreichen Vorstudien sorgfältig präparierten scènes à faire und things to say an Alter und Beständigkeit um bald ein geschlagenes Jahrzehnt. Seit dem von Gold und Speck glänzenden fetten Dienstag, mit dem Zola den dritten Band der Rougon-Macquart beschließt, steht das Schicksal der jungen Macquart als story to tell im Raum. So steht in den ers37 Nicot etwa scheidet im Thresor die JOYE (s. 358) von der GAYETÉ (s. 312) entlang des klassischen Begriffspaars von gaudium als innerer Seelenfreude und hilaritas als ostentativer Heiterkeit. 38 Roldan, La pyramide des souffrances, S. 9. 39 Barbara Vinken, „Herz Jesu und Eisprung. Jules Michelets devotio moderna“, in: dies./B. Menke (Hg.), Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, Paderborn: Fink 2004, u.a. S. 296.

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ten aufs Papier geworfenen Ideen noch kein Stein auf dem anderen, als die junge Hauptfigur Pauline – und nicht Dolores – als Gehilfin der Freude ihrem Namenspatron bereits alle Ehre macht. Durch alle Stadien der Romangenese, von ersten Überlegungen zum Plot über die ausführlichen Studien und Entwürfe bis in den definitiven Text und darüber hinaus in die intertextuellen Wiederaufnahmen im Docteur Pascal ein weiteres Jahrzehnt später besticht die Figur Pauline durch außerordentliche Konstanz in ihrer marianischen Konzeption. War Nana – mater, sponsa, filia – als korrumpierte und korrumpierende, gnadenlose, fluchbeladene Umkehrung der Gottesmutter erschienen, die das Gnadenwort des Gabriel, Ave Maria, zurückbeugt in den Fluch der Eva, so soll Pauline als deren „opposé[e] radical“40 auftreten. Maintenant j’ai mon héroïne, qui est Pauline Quenu, née en 1852. Elle a donc l’âge de Nana. […] Donc, si Nana s’est donnée à tous, elle se donnera à un seul, […] mais surtout elle apportera la vertu comme Nana a apporté le vice. […] La grosse affaire est de mettre Pauline dans un drame. […] Il faut donc que je la plante au milieu du drame comme j’ai planté Nana. Tout roulera autour d’elle, s’agissant sur elle.41

Den Lesarten entgegen, die im Tod der Mutter oder der suizidalen Bonne die zentralen Katalysatoren und Fluchtpunkte eines Romans identifizieren, der zwischen Aufrichtung und Dekonstruktion des Schopenhauerismus taumelnd sich gleichsam richtungslos einer Verortung entzieht, setzt die kaum beachtete Engführung der Cousinen Anna und Pauline im ancien plan eine präzise Wegmarke. Alles entwickelt sich in Paulines Namen, um Paulines willen, die noch als radikales Gegenteil der Nana von derselben Struktur getragen wird: der Verbuchstäblichung des Gnadenaktes Gottes an der Jungfrau. Gibt sich die eine einer allesverzehrenden Liebe hin, die als monströse Frucht nichts zeitigt denn Ruin und Tod, so erwächst der anderen aus dem Sterbensleid die größte Hingabe, keuscheste Liebe, zarteste Seelenfreude. Schon im alten, flüchtig hingeworfenen Plan erscheint Pauline als krankenpflegender Engel, „tout le caractère […] bonne, équilibrée, ne souffrant pas, […] gaie“ und mehr noch: „niant presque la souffrance“42 vom Fluch der Erbsünde ausgenommen, unbefleckt. De cette mère naissait la plus saine, la plus humaine des filles, Pauline Quenu, la pondérée, la raisonnable, la vierge qui savait et qui acceptait la vie, d’une telle passion dans son amour des autres, que, malgré la révolte de sa puberté féconde, elle donnait à une amie son fiancé Lazare, puis sauvait l’enfant du ménage désuni, devenait sa mère véritable, toujours sacrifiée, ruinée, triomphante et gaie, dans son coin de monotone solitude,

40 Zola, Dossier préparatoire de La Joie de vivre, f° 367. 41 Zola, Dossier préparatoire de La Joie de vivre, f° 367 f. 42 Zola, Dossier préparatoire de La Joie de vivre, f° 380.

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en face de la grande mer, parmi tout un petit monde de souffrants qui hurlaient leur douleur et ne voulaient pas mourir. (DP 1012)

Die genetisch-genealogische Nachlese des Docteur Pascal schließlich zeigt Pauline in voll entwickelter Marienikonografie: Fast buchstäblich gebenedeit unter den Weibern ist sie die mit Abstand gelungenste der Töchter der Rougon-Macquart. Besonnen und vernünftig, jungfräulich und keusch stellt sie die republikanischen Frauentugenden in den Dienst der Gottesmutter, verbindet die Maria der Annunziata mit der (com)passio einer Pietà, beseelt von einer Nächstenliebe bis zur Selbstaufgabe in der imitatio Christi als „incarnation du sacrifice“.43 Als Madonna della misericordia breitet sie den Schutzmantel über die degenerierte Brut Bonnevilles – allen voran das Kind ihres untreuen Verlobten, welches die mit dem Schicksalsnamen des Ancien Régime gezeichnete Louise zur Welt bringt, dem aber erst Pauline das Leben schenkt und bis zuletzt an Sohnes statt nimmt. Der Schopenhauerismus, die kleine Welt des Leidens und des Schmerzes, des Pessimismus und der Resignation ist nichts als Kulisse eines Marienlebens. So wird die weitgehend redundante Handlung, das menschliche Elend des Fischerdorfs, das Gichtleiden Chanteaus und die scheiternde Selbstverwirklichung Lazares, die den Romanhorizont bestimmend gleich den regelmäßigen Sturmfluten in immer neuen Anläufen weniger katastrophal denn mit grauenvoller Monotonie an Bonnevilles Küsten brandet, kaum getragen vom vergleichsweise schwachen, schnell erzählten Plot des in seiner Gutmütigkeit übervorteilten, ausgeplünderten und schließlich durch die Bankierstochter ersetzten Mündels. Nicht dazu bestimmt, Verwirrung in die Welt zu tragen, ändert er an der Ausgangsposition – elendes Fischerdorf, stöhnender Chanteau, lebensunfähiger Lazare – nicht das Geringste und vermag das üppige Romanvolumen kaum zu rechtfertigen. Die Gegenspielerin Paulines, Louise, die der plus sain(t) e des filles alle Überfeinerung und Degeneration der toten oder todgeweihten Regimes entgegenstellt, ist mit der gleichen Regelmäßigkeit wie alles andere von Anfang an präsent. Der Tod der Mutter, obzwar scène à faire, so doch von der Kritik einstimmig außerhalb der narrativen Strategie begründet, gibt der Handlung keinen Impuls. Den Freitod der Bonne schließlich, im Rahmen eines „fundamental change […] moved […] to the very last chapter – indeed, onto the very last page“,44 weist Alcorn als bewusst vor jedem Einfluss auf den Fortgang des Romans verwahrtes Schlusswort aus, das in der Schlussfassung dem Romanpersonal keine Möglichkeit einräumt zu reagieren oder „to counteract its

43 Philippe Hamon, Préface zu: Émile Zola, La Joie de vivre, hg. v. Ph. Hamon und C. Becker, Paris: Librairie générale française 2005, S. 14. 44 Alcorn, „Zola’s forgotten spokesman“, S. 78.

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effect upon the reader“.45 Stattdessen entwickelt sich in der Eintönigkeit des Leidens das Leben der Pauline Quenu in fünf bemerkenswerten Stationen, die den immer gleichen Fortgang des Auf und Ab suspendieren und in den ikonischen Bildern des Lukasberichts, den freudvollen Mysterien im Rosenkranz zum Stillstand bringen.

visitatio Der Roman beginnt mit der Ankunft der „petite cousine“ (JV 807) Pauline in Bonneville und spiegelt im Eintreffen der Jungfrau bei der deutlich älteren cognata (Lk 1,36) den naturalistischen Literalsinn vor der biblischen Folie der Heimsuchung. Was hier nicht stimmt: Nicht vom Geschlechte Aarons, sondern Tochter verarmter Krautjunker, rückt die geborene de la Vignière die Priesterdynastie in den äußerst weltlichen Cotentiner Landadel zurecht, tauscht die vorzügliche Provenienz der gottvertrauten Elisabeth gegen ruinierte hobereaux (JV 821) und den Schicksalsnamen zynischer Hochwohlgeborenheit im Kaiserreich: Eugénie (ebd.). Den eingeborenen Sohn hat die Fünfzigjährige bereits auf den Weg gebracht, der mit Ankunft der jungen Base längst nicht mehr im Leibe Freudensprünge macht, wohl aber „déjà dehors“ (JV 808) bereits in der Exposition mit dem johanneischen Epitheton des Präzedenten (Lk 1,17) gezeichnet ist und als Index der Passion in die Rolle fällt, die Pauline Jahre zuvor im Ventre selbst eingenommen hatte. Als untoter Lazarus stellt er dem wilden Mann Johannes jedoch nicht nur den maximal weniger vitalen Typus im Neuen Testaments entgegen, sondern verbuchstäblicht als Drittgeborener Aarons und der Elisheva den Stammvater der Leviten (2.Mose 6,23). Die lukanische Elisabeth wird, in procuram (JV 825) nach Paris gereist, unter das Gesetz gebeugt zur Elisabeth des Alten Testaments und kann folgerichtig Maria voll der Gnade nicht erkennen, die zudem verkleidet auftritt. Statt dreifachem Lobgesang „personne n’avait encore songe à l’enfant“ (JV 812). Schwarz behandschuht und im Trauerrock tritt die Jungfrau der Verkündigung im Habit der Dolorosa auf und lässt doch keinen Zweifel daran, dass hier die virgo, nicht die Schmerzensmutter aus dem Cabriolet hüpft. Ein Windstoß erfasst Kleid, Locken und Hut, das Mädchen aber steht für ein zehnjähriges „très fort“ (ebd.) mit dem Gottvertrauen der seligen Jungfrau im Schlamm der Hofeinfahrt. Der Zugehfrau bleibt, herangeeilt „pour saluer sa maîtresse“ (ebd.), über dieser Erscheinung erstarrt mit offenem Munde stehen, während der Hund Mathieu, der eine Blutspur der Passion durch das Marienleben ziehen wird, die verweigerte Akkolade (JV 813) des „benedicta 45 a.a.O., S. 79.

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tu inter mulieres“ (Lk 1, 42) übernimmt, den lukanischen Evangelienbericht Matthäus in den Mund legt. Mit großer Raffinesse situiert Zola den Romanauftakt zu Beginn eines unheilvollen Frühlings, der mit wütenden „tempêtes de mars“ und den „marées de l’équinoxe“ (JV 809) fragwürdige Boten der Gnade über die Basse-Normandie schickt. Auch das Geschäftsjahr hat nicht besser begonnen, das erste Quartal schließt katastrophal und bringt den ohnehin klammen Haushalt der Chanteau weiter in Bedrängnis (JV 823). Das eigentlich Beunruhigende an den rahmenden Einlassungen der Exposition ist jedoch die exakte zeitliche Verortung des Romanauftakts in der letzten Märzwoche. So fällt die visitatio – drei Monate bis zur Beschneidung des Johannesknaben am 2. Juli – mitten in die Karwoche auf Gründonnerstag 1863 und wirft das Kirchenjahr über den Haufen. Statt die durchaus nicht ungewöhnliche kalendarische Koinzidenz dem katholischen Festkalender folgend zu lösen, die Heimsuchung am Tag der Heimkehr zu begehen und den Rest der Geschichte in den Lesungen des Advents abzuhandeln, steht die Jungfrau nun buchstäblich am Abend vor Karfreitag auf der Schwelle. Das Osterfest wird aufs Nervöseste verschwiegen und lässt sich angesichts des allgegenwärtigen paschalen Inventars doch nicht tilgen. Von der unzeitgemäßen visitatio völlig aus dem Konzept gebracht vermag die Zeugin der Passion, nicht zufällig Veronika, im Eingangstableau den Blick in stummem Groll nicht von der Hammelkeule wenden, die längst „trop cuit“ (JV 808) als Pessachlamm auf dem Herd verkohlt. Der Hausherr, nicht um der carême noch um der Gicht zu fasten bereit, fiebert dem Abendmahl entgegen, das wie zum Spott vom Kuckuck ausgerufen wird, der mehr vom Misstrauen des Josef spricht als von der cène und den darbenden Chanteau verzweifeln lässt, während seine Frau im Begriffe ist, dem Haushalt ein fremdes Kind zuzuführen (JV 807). So ist der Ausruf, mit dem die ältere Base ins Romangeschehen tritt, „Voyons, Mathieu, veux-tu me lâcher?… Grosse bête! as-tu fini?“ (JV 812), nicht Benediktion Mariä, sondern vor allem eine rüde Abfuhr an den Evangelisten der Passion, während der in Trauer staffierten Pauline, deren „petite figure grave s’éclaira d’un sourire, dans son deuil […] avec une grâce de petite Parisienne, déjà rompue aux politesses“ (JV 813), die imitatio mariae nicht als Berufung, sondern Hauptstadtmode ausgezeichnet zu Gesichte steht. Als Bild des Ankommens schlägt die visitatio nicht zufällig im Hochsommer auf halbem Wege zur Erfüllung die Brücke zum vierten Sonntag des Advents. Die kalendarische Berichtigung aber, die das Bild dem falschen Festkreis einschreibt, die visitatio im Rahmen einer verdrängten cena inszeniert, schließt die frohe Botschaft kurz und präsentiert die Heimsuchung ohne Wiederkehr als Auftakt eines Kreuzweges der Freude.

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inventio Nach den anfänglichen Turbulenzen nimmt das Leben in Bonneville seinen gleichförmigen Lauf. Viel gibt es nicht zu erzählen, das Dorf ein Elend, der Dorfvorsteher und die Gicht, alles gemildert im Geist der paulinischen Freude, den das Mündel über den Haushalt bringt. „Dès la première semaine, la présence de Pauline apporta une joie dans la maison.“ (JV 833) Allein der des Grabes beraubte Lazare scheint von der Gnade ausgenommen, arbeitet weiter an der „symphonie de la Douleur“ (JV 842), die zugleich sein chef-d’œuvre und metaleptischer Verweis auf den in Entwicklung begriffenen Roman (JV 1782) die Schöpfung im Angesicht der Erbsünde zur Tragödie macht, die Freudenbotschaft des Paulusbegleiters in die Traité de l’hérédité46 wendet und gleichsam den biblischen „Lucas, medicus“ (Kol 4, 14) verbuchstäblicht zum „docteur Lucas“,47 den Zola seinem (Stamm-)Baum der Erkenntnis zugrunde legt. Die „marche d’Adam et Ève“ wird „carrément“ und ohne Umschweife zur „marche de la Mort“, die ihn „en harmonies sublimes la plainte désespérée de l’Humanité sanglotant sous le ciel“ (JV 842) stündlich mehr enthusiasmiert. Die Hausherrin hat auf diese Lust am Leiden keinen Einfluss. Vergeblich bemüht sich die Elisabeth des Alten Testaments um den Lazarus des Neuen, der nicht zu ihr passen will, gleichzeitig aber unter das neue Gesetz der Vererbungslehre gebeugt auch nichts vom heilbringenden Christuswort „haec non est ad mortem“ (Joh 11, 4) zu wissen scheint. So tritt die Gnadenreiche in Gestalt Paulines in die Mutterrolle und flüstert Lazare die Medizin als Heilsbotschaft des 19. Jahrhunderts ein, die statt im Auftreten des Heilands in der „apparition“ eines „médecin de génie“ Erd und Himmel erschütternd „bouleverserait les mondes“ (JV 848). Mit dem Fortgang Lazares nach Paris schließlich kündigt sich die erste nennenswerte Änderung in der Romandynamik an. Pauline, que la pensée de ce départ désespérait depuis un mois, appuya vivement la nouvelle décision de son cousin, aida sa tante à faire la malle, avec une activité joyeuse. (JV 846)

Wie der Schmerz der Dolorosa am dritten Tage in die Osterfreude umschlägt, markieren der Verlust des Zwölfjährigen im Tempel und seine Wiederauffindung nach drei Tagen als Vorzeichen von Passion und Auferstehung zwei Stationen des Marienlebens. Die dritte Station des Gedächtnisses der sieben 46 Prosper Lucas, Traité philosophique et physiologique de l’hérédité naturelle dans les états de santé et de maladie du système nerveux, Paris: Baillière 1847–1850. 47 Émile Zola, Vorwort zu ders., Une Page d’amour, in: ders., Les Rougon-Macquart, Bd. 2, S. 800.

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Schmerzen wendet sich zum fünften freudvollen Geheimnis. Über den Verlust verzweifelt wird Pauline jedoch der Schmerz zur Freude. Joyeusement schreibt sie dem Leid aufs Neue eine unzeitgemäße Freude ein. So bleibt in dem kaum mehr als fünfzig Zeilen zählenden Gewaltmarsch durch Jahr eins nach Fortgang Lazares einzig als Bemerkenswertes festzuhalten, „[qu’]un seul livre l’ennuyait, le catéchisme“ (JV 847). Das Ordnungswerk, das Freud und Leid im Jahreskreis benennt und ordnet, will angesichts der Unordnung hier nicht greifen. Zwar bringt aufs Jahr die Rückkehr „une grande joie“ (JV 848), doch ist es weniger die der inventio, die das Christkind zum selbstbewussten Gottessohn gewandelt, „proficie[ns] sapientia, et ætate, et gratia“ (Lk 2,52) im Tempel seines Vaters unter den Schriftgelehrten als anderen wiederfindet (Lk 2,47/49): „La rude brise de mer le lavait des odeurs du quartier latin, il se trouvait enfant.“ (ebd.) Der Ruch der Gelehrsamkeit ist schnell davongewaschen, statt der Wiederauffindung, die den Messias endgültig auf den Pfad seiner Bestimmung setzt und mit der Taufe im Jordan (Lk 3) den Weg in die Passion einschlägt, „tout […] fut repris, tout recommença“ (JV 849). Statt Erfindung nichts als Reprise, alles beginnt von Neuem: „Une paix morte retomba sur la petite maison de Bonneville, les jours uniforme se déroulèrent, ramenant les habitudes quotidiennes, en face du rythme éternel de l’océan.“ (ebd.) Erst das neue Jahr schafft im Marienleben der Pauline „un fait qui marqua“ (ebd.) – der sie markiert. War im ersten Jahr von Lazares Abwesenheit fast nichts passiert, so stürzen nach der ersten, missglückten inventio mit dem zweiten Fortgang Natur und Heil übereinander, wenn nun die Marienfigur im Alter von zwölf Jahren die erste Kommunion empfängt (ebd.) und gleichsam bald von der Natur mit dem Fluch der Frau gezeichnet: die Menstruation (JV 852). Lazare ist längst wieder in Paris, als Pauline statt sich wie Tante und Pfaffe mit der äußeren Übung einer wohlanständigen Frömmigkeit zu begnügen ihre „religion grave, supérieure aux réponses du catéchisme“ (JV 849) nicht weniger tödlich im Buchstaben der zurückgelassenen medizinischen Folianten empfängt, die sie als neues Lukasevangelium in glühender Glaubensfreude studiert (JV 854). Das Gnadenbild heillos beim Wort nehmend, entdeckt sie das freudvolle mystère (JV 855) der inventio so, wie es im Volksmund längst firmiert: Jésus parmi les docteurs.

praesentatio – purificatio Aus den docteurs sind Ärzte, aus dem Mosaischen Gesetz die Physiologien des 19. Jahrhunderts geworden. Dabei eignet sich für den Transfer von Altem Bund in die Offenbarungen der Medizin ohne den Umweg über die Gnade wohl kein christliches Fest so sehr wie das der praesentatio. Kein anderes ist sich seiner

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jüdischen Wurzeln so bewusst wie die Darstellung des Herrn, nirgendwo der Alte Bund im Neuen so ungebrochen präsent wie in der Beschneidung Jesu im Fleische (1.Mose 17,10), der Heiligung und Darbringung des Eingeborenen im Tempel (Ex 13) sowie der Auslösung mit Silbergeld (Num 18,16) und der im Volksglauben ikonischen purificatio der Frau (3.Mose 12). Alle Bemühungen des Paulus, das buchstäblich vollzogene Gesetz unter der Gnade zu relativieren (Röm 3,30 u. 4,10; 1.Kor 7,18 f.; Gal 5,6 u. 6,13–15) erscheinen angesichts des Regimes der Physiologie umsonst. So ist auch die praesentatio als viertes freudvolles Mysterium in den Romantext eingeschrieben, nimmt die Gnade hinfort und verbuchstäblicht das Heilstheater unter dem Gesetz des Alten Testaments zur unheilvollen Mariä Reinigung. Paulus entmachtet die Rituale im Fleisch als unnötig, äußerlich und redundant. In der Gemeinde des abbé Horteur aber, in dessen „crâne dur […] la lettre avait seule pénétré“ (JV 849), ist der tötende Buchstabe des Gesetzes vollumfänglich rehabilitiert. Stellt Maria ihren Eingeborenen im Tempel nach dem Gesetz symbolisch dar, löst den symbolisch aus, der sich im einmaligen Opfer hingeben wird, um alle aus der Herrschaft eben dieses Gesetzes zu erlösen, sind die ruinösen Hypotheken auf Paulines Mitgift als unheilvolle Wiederholungen stets derselben Auslösung gestaltet, die seit Paulus zwecklos, in ihrer buchstäblichen Umsetzung die ganze Absurdität des Festes performieren. Vielleicht ob seiner nicht problemlosen Vermittelbarkeit mit allerlei Brauchtum besetzt und im Kerzenschein von Lichtmess und Mariä Reinigung niedergestrahlt, nimmt das Mysterium im volkstümlichen Nebenschauplatz der Darstellung Gestalt an. Brusquement, l’averse creva. De grosses gouttes tombaient de la nuée livide, qui avait envahi les trois quarts du ciel. […] [Lazare] avait ouvert son parapluie au-dessus de la tête de Louise. Cette dernière, d’un air de tourterelle frileuse, se serrait davantage contre lui. Et Pauline, oubliée, les regardait toujours, prise d’une rage sombre, croyant recevoir au visage la chaleur de leur étreinte. La pluie était devenue torrentielle, […] Elle était debout, raidie sous ce déluge, qu’elle semblait ne pas sentir. […] Sa robe ruisselante se marquait, aux épaules et aux bras, de larges taches noires. Et elle ne consentit à quitter la place que lorsque le vent d’ouest eut emporté le nuage. (JV 910)

In der Verkehrung des Hohelieds, das statt sponsa und sponsus, die Verlobten Lazare und Pauline, denselben mit Louise zusammenführt, wird die tourterelle zum doppelten Bild. Statt abflauendem Regen und Frühlingsboten (Hld 2,11) geht mit der averse ein Wolkenbruch hernieder, der im etymologischen Material die Kehrtwende führt, die Lazare zu vollziehen sich gerade anschickt. Zwar verfroren, erscheint Louise dennoch als Turteltaube, deren Ruf eine putatio (Hld 2, 12) ankündigt, die als französisch taille den Gartenbaubegriff ins erotische Register der körperlichen Reize verschiebt, die sublime Erotik des Hohelieds ver-

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buchstäblicht in der „continuelle caresse [de] la taille de Louise“ (JV 909). Doch trägt die taille weiter die Beschneidung des Weinstocks wie des Herrn in sich48 sowie im lateinischen Stamm der putatio die Reinigung.49 Zwar dürfte die jungfräuliche Gottesmutter, die unbefleckt empfangen und vom biblischen Fluch der Eva ausgenommen den Erlöser ohne Schmerzen zur Welt bringt, nur pro forma einer Reinigung bedürfen, nichtsdestoweniger macht sich die heilige Familie „postquam impleti sunt dies purgationis“ (Lk 2, 22) auf den Weg nach Jerusalem, „ut darent hostiam“: nach dem Gesetz ein paar Turteltauben oder zwei junge Tauben (Lk 2, 24 nach Lev 12, 6–8.). Die hostia des Purgationsopfers bleibt als Turteltaube des Hohelieds falsch in den Romantext übersetzt wirkungslos. So steht die Gnadenreiche plötzlich unter einer Sintflut, von der die von der Sünde unbefleckt Empfangene nichts weiß. Scheinbar unberührt steht sie unter den Strömen, doch schlägt die Reinigung ins radikale Gegenteil um, wenn die natürliche Maria mit großen, schwarzen Flecken von der Sünde gezeichnet wird. Im Körper befleckt erkrankt Pauline noch in derselben Nacht an einem Halsleiden, das sie ans Bett fesselt und Weg bereitet für die falsche sponsa, die neue Favoritin der Madame Chanteau. In einer nächtlichen Prozession der Hausbewohner zum Krankenbett, die vor Zündhölzchen, Kerzen und Leuchtern fast übergeht (JV 911–916), erscheint eine verkehrte Chandeleur, die nicht die Reinigung der Unbefleckten, sondern die Maculata feiert und an deren Höhepunkt nicht der dezidiert herausgehaltene abbé Horteur (JV 925), sondern docteur Cazenove mit zwei gekreuzten Leuchtern (JV 916) vor dem Hals am Abend vor Saint Blaise den traditionell vor Halsleiden bewahrenden Segen spendet. Die Religion ist der Medizin gewichen, das Mosaische Gesetz der Physiologie. Der Rahmen der Erzählung jedoch bleibt die völlig ausgehölte Darstellung des Herrn, wenn Pauline Lazare die Dispens vom Eheversprechen (JV 921) nach dem Vorbild der Hypapante erteilt, die den greisen Simeon entpflichtet (Lk 2,25–38) und im Gedächtnis der Auslösung des Erlösers mit der Herausgabe des Schlüssels zum ererbten Vermögen ihre Mitgift darstellt, um die redemptio (Num 18,16) im Fleische vom Doktor der Medizin zu empfangen: „Elle est sauvée!“ (JV 924)

48 „TAILLE“, in: Nicot, Thresor, s. 615. 49 Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Hannover: Hahn 1918, Band 2, Sp. 2100–2102.

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annuntiatio Die Rettung wird ihr zum Ruin. Über drei Kapitel von der Intrige der Madame Chanteau in ihrem Tod schließlich zum „sacrifice“ (JV 1025, 1031, 1038, 1040) gewendet, bestimmt die Darstellung des Herrn den gleichförmigen Fortgang der Handlung. Als Lazare endlich in die Entpflichtung als Bräutigam einwilligend der Hochzeit mit Louise zustimmt, ist das freudvolle Mysterium ins Gegenteil umgeschlagen, das ausgesetzte und symbolisch abgeführte Abrahamsopfer im Buchstaben des Naturalismus Wirklichkeit geworden. „A cette époque, la fortune de Pauline se trouva réduite à une quarantaine de mille francs“ (JV 1017) und hat die Chancen der einst guten Partie auf dem gnadenlosen Heiratsmarkt vernichtet, das Lösegeld für den zum Opfer des Erstgeborenen gewandelt, der aus dieser Lage heraus niemals ehrbar und standesgemäß zustande kommen mag. Bemerkenswerterweise erscheint Pauline in diesem Liebesopfer, mit dem sie den Bräutigam in die Arme der falschen sponsa entlässt, jedoch in der Ikonographie der Annunziata. — Embrasse-la, Lazare, puisqu’elle n’ose pas, dit doucement Pauline. Elle était toute blanche dans son deuil, mais la face apaisée et les yeux clairs. De son air maternel […] elle les regardait […] et elle se contenta de sourire, quand il se décida à effleurer de ses lèvres les joues tendues de la jeune fille. (JV 1024 f.)

Hatte die freudenreiche Heimsuchung in Schwarz begonnen, erscheint die Schmerzensreiche nun im weißen Trauerkleid, die Wangen unverheult, die Augen klar, mit dem demütigen Lächeln der ancilla. Doch ist die unbefleckte Jungfrau noch im ultimativem Opfer, dem „degré suprême dans l’amour des autres : disparaître, donner tout sans croire qu’on donne assez, aimer au point d’être joyeux d’une félicité qu’on n’a pas faite et qu’on ne partagera pas“ (JV 1031), von der Natur gezeichnet mit dem Schöpfungsimperativ der Fruchtbarkeit. So erscheint die Freude nicht als gaudium, sondern voluptas, als „volupté subtile du sacrifice“ (ebd.), als Lust am Opfer und kündigt mit der Hochzeit als Höhepunkt der Romanhandlung ein neues freudvolles Mysterium an, das im Bild einer hysterischen Verkündigung zum Fanal der Jungfräulichkeit wird, die Unberührte statt im Licht der Gnade in den Krämpfen ihrer Menses zeigt. Von den Feierlichkeiten in Caen heimgekehrt, findet sich Pauline, analog zu den frisch Verheirateten, allein in ihrem Brautgemach, dessen „roses bleues du papier peint“ (JV 1042) den Gnadenrosen der Verkündigung nur spotten. Die initiierende, schrittweise Entkleidung zu Beginn der Hochzeitsnacht wird sublimiert im Akt des Ordnungssinns, das Erröten beim Blick auf die „gorge de vierge“ zum „trouble de […] cerveau“ (JV 1043). Mit den knospenden Blüten des

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Brautschmucks, den sie am selben Morgen selbst besorgt, wird sie, statt ihre Jungfräulichkeit Lazare zu opfern, zum Opfer ihrer Jungfräulichkeit: „La mariée était couchée, lui entrait, s’approchait avec un rire tendre“ (ebd.), allein es ist nicht sie, nicht zu ihr tritt der Bräutigam. D’un geste violent, elle fit glisser son jupon, s’enleva sa chemise; et, nue maintenant, elle se contemplait encore. Ce n’était donc pas pour elle cette moisson de l’amour? Jamais sans doute les noces ne viendraient. […] Son regard descendait de sa gorge, d’une dureté de bouton éclatant de sève, à ses puissante. Elle était mûre pourtant, elle voyait la vie gonfler ses membres, fleurir aux plis secrets de sa chair en toison noire, elle respirait son odeur de femme, comme un bouquet épanoui dans l’attente de la fécondation. (ebd.)

Hatte sie sich soeben noch der Blumen erinnert, die sie ins Brautgemach getragen, so erblüht die rosa mystica nun selbst, fällt jedoch noch in der Metapher als steril gestellter Blumenstrauß einer nur den Tod bringenden Befruchtung entgegenfiebernd wieder in die Hoffnungslosigkeit zurück. La coulée rouge d’une goutte de sang, le long de sa cuisse, l’étonnait. Soudain elle comprit : sa chemise, glissée à terre, semblait avoir reçu l’éclaboussement d’un coup de couteau. (ebd.)

Schließlich setzt in diesem Moment Paulines Menstruation ein und parallelisiert die Schicksale der einander entgegengesetzten Bräute. Das einmalige Opfer der Defloration Louises verkehrt sich in der Regelblutung, die das Brautgewand der weißen Bluse höhnisch und wie zufällig beschmutzt. Wie von einem Messerstich blutbespritzt liegt Paulines Jungfräulichkeit am Boden und ist doch nach wie vor integer. Ah! misère! la pluie rouge de la puberté tombait là, aujourd’hui, pareille aux larmes vaines que sa virginité pleurait en elle. Désormais, chaque mois ramènerait ce jaillissement de grappe mûre, écrasée aux vendages, et jamais elle ne serait femme, et elle vieillirait dans la stérilité! (JV 1043 f.)

Im hysterischen Schock überhöht sich die Krise ins Mystische. Vom natürlichen Liebesakt ausgeschlossen blutet die abgesetzte Braut unter den heißen Tränen der Schmerzensreichen im Saft reifer Trauben das Blut des Neuen Testaments und wird zur sponsa Christi. Der geistige Leib zeitigt statt Kindern Rosenblüten, die fleißige Studentin des Prosper Lucas statt des Evangelisten kann dies nicht akzeptieren. Elle voulait vivre, et vivre complètement, faire de la vie, elle qui aimait la vie! A quoi bon être, si l’on ne donne pas son être? (JV 1044)

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Im Geiste Michelets antiklerikaler Familienpolitik ist für Anleihen an das Metaphysische, die mystischen Ehe hier kein Platz. So zwingt Zola Pauline zu einer folgerichtigen, in ihrer Klarheit und Konsequenz aber überraschenden Reaktion. Elle voyait les deux autres, une tentation de balafrer sa nudité lui faisait chercher ses ciseaux du regard. Pourquoi ne pas couper cette gorge, briser ces cuisses, achever d’ouvrir ce ventre et faire couler ce sang jusqu’à la dernière goutte? (JV 1044)

Dazu bestimmt, bis zum Lebensende zu bluten, liegt der Umkehrschluss, zu bluten bis zum Lebensende, bis zum letzten Tropfen, auf der Hand. Pauline kann und will nicht sponsa Christi sein, so bleibt ihr nur die Wahl, sich der Geistesfrucht dieser sonst unfruchtbaren Liebe, eines hysterisch verrückten Herzens, zu entledigen. Die Annunziata wird verkehrt, von der demütigen Magd des Herrn (Lk 1,38) kann hier nicht die Rede sein. Geradezu vehement verweigert sich diese Jungfrau in der Drohung, sich mit dem geradezu stereotypen Handwerkszeug der Engelmacherin den Leib zu öffnen. Mit einem coup vermag sie es nun, das schwellende Herz Jesu in ihrer Brust zum zweiten Mal zu durchbohren, conceptio und unio zu durchkreuzen, die unsichtbare Liebeswunde des Stigmas im Naturalismus einer tödlichen Stichverletzung zu literalisieren und – nicht mehr hysterische Braut – als Leichnam aus der Seitenwunde nicht die Gemeinschaft der Kirche, sondern den Tod zu gebären. Brusquement, elle s’abattit sur le lit, à plat ventre. Elle avait saisi l’oreiller dans ses bras convulsifs, elle le mordait pour étouffer ses sanglots; et elle tâchait de tuer sa chair révoltée, en l’écrasant sur le matelas. […] Les minutes passaient, elle n’avait plus conscience que de l’éternité de sa torture. Un effroi la remit debout. Quelqu’un était là, car elle avait entendu rire. Mais elle ne trouva que sa bougie presque achevée, qui venait de faire éclater la bobèche. […] Ce rire imaginaire courait encore sur sa peau comme une caresse brutale. (ebd.)

Sie vermag es nicht. Aufs Bett gefällt, steigert sich ihr Leid in sexuelle Ekstase. Spasmen schütteln den Körper, Bisse ins Kissen, schwere Seufzer evozieren den verweigerten Geschlechtsakt, in dem die Jungfrau statt der zarten Apostrophe Gabriels ein unbestimmtes hämisches Lachen zu vernehmen glaubt. Nicht unbefleckt, sondern mit dem Fluch der Eva geschlagen und unter das Gesetz des Alten Testaments gebeugt, empfängt die Unreine nach Leviticus die einmalige Liebesgabe als caresse brutale. Die jungfräuliche Empfängnis wird verkehrt zur Vergewaltigung, das freudvolle Mysterium in der monatlich wiederkehrenden Blutung zum Stigma einer physiologisch pervertierten unio mystica.

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nativitas Mit dem Versprechen der Verkündigung im Herzen und nicht in der Lage, sich nach den vier vorangegangen Mysterien der größten Freude des Marienlebens zu entziehen, die gleichsam den Schlusspunkt der Joie de vivre setzt, bleibt Pauline entgegen aller Pläne auch nach der Hochzeit in Bonneville. Mit den Erlebnissen der Hochzeitsnacht, welche die Physiologie der Jungfrau gleichsam zum Gegenstand einer unheilvollen Mystik gemacht haben, geht eine bemerkenswerte Veränderung einher. Waren die kleinen Freuden, inventio und praesentatio stets in der Physiologie – im Medizinstudium Lazares, den Folianten Longuets und Cruveilhiers (JV 854), der ersten Menstruation, der körperlichen Befleckung und dem lebensgefährlichen Abszess – im literalisierten Paulusbegleiter manifest geworden, um in der hysterischen Verkündigung zu gipfeln, so nimmt sich der Arzt noch vor Ende des Annuntiationskapitels mit der Entscheidung Paulines zum Verbleib bei den Chanteau demonstrativ aus der Marienhandlung aus, wirft resigniert die Hände in die Luft. „Le docteur, qui était là, partit en levant les bras au ciel.“ (JV 1046) Von nun an ist das Bild der Braut gedoppelt. Natürliche Braut und sponsa Christi stehen sich gegenüber. Louise, „faite uniquement pour ce culte de l’homme, tout de suite malheureuse et perdue, s’il cessait une heure d’occuper d’elle“ (JV1053), ist ihrem Manne untertan und entspricht dem Fluch der Genesis (3, 16) so sehr, wie Michelets La Femme, die „ne fait son salut qu’en faisant le bonheur de l’homme“.50 So erfüllt sich alsbald an ihr die Verkündigung, die Pauline im Fleische verwehrt geblieben war. Mit der Rückkehr nach Bonneville im achten Monat einer Schwangerschaft, die, „très pénible, l’avait en effet accoutumée à de continuelles nausées, à des maux d’entrailles, dont la violence parfois la tenait pliée en deux, pendant des journées entières“ (JV 1078), macht sie der biblischen Mühsal (Gen 3, 16) alle Ehre, während sich die jungfräuliche Pauline gnadenvoll lächelnd als Mutter eines ganzen Dorfes gibt, allsamstäglich die Fischersbrut empfängt (JV 1049). Unverhofft zwei Tage vor der Niederkunft angekommen und doch den ganzen Tag zum Gehen gezwungen, um der Krämpfe vorzubeugen, wird die adventliche Reise des heiligen Paars, die ikonische Herbergssuche zu Bethlehem, parodiert zur Reise nach Jerusalem, wenn „[t]oute la matinée, [Louise] se traîna dans la maison, quittant une chaise pour aller s’asseoir sur une autre“ (JV 1078). Die traditionell als leicht und beschwerdefreie erzählte Niederkunft Mariä findet bei Lukas vielleicht am deutlichsten Ausdruck darin, dass sie geradezu im Vorübergehen berichtet (Lk 2,7) ein weitaus größeres Augenmerk auf die ikonische nativitas mit Anbetung der Hirten rich50 Jules Michelet, La femme, Paris: Hachette 1860, S. 48.

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tet. Zola hingegen entfaltet die Geburt des Eingeborenen als grauenvolles Schlachtstück und Blutbad sondermaßen, das inter faeces et urinam seinesgleichen sucht. Ils n’en voyaient que la misère pitoyable, ce drame d’une naissance disputée, qui tuait l’idée de l’amour. A la grande clarté brutale, le mystère troublant s’en était allé de la peau si délicate aux endroits secrets, de la toison frisant en petites mèches blondes ; et il ne restait que l’humanité douloureuse, l’enfantement dans le sang et dans l’ordure, faisant craquer le ventre des mères, élargissant jusqu’à l’horreur la fente rouge, pareille au coup de hache qui ouvre le tronc et laisse couler la vie des grands arbres. (JV 1096)

Unter den Augen Lazares und Paulines erscheint noch im grellen Licht der Schilderung einer natürlichen Geburt die origine du monde als Mysterium der nativitas, die zurechtgerückt vom bethlehemitischen Stall ins „lit de misère“ (JV 1099) zur Passion der Frau wird. Wie das Eingangstableau der Passion das freudvolle Geheimnis der Heimsuchung aufprägt, zeigt sich nun in der freudenreichsten Geburt das Inventar des Kreuzwegs, wenn Louise statt des Kreuzes ihren unheilschwangeren Bauch statt nach Golgatha zum Schmerzenslager trägt, mourant de soif (JV 1080, 1090), das „sitio“ (Joh 19,28) des johanneischen Christus mit dem „Eli, Eli“ (Mt 27,46) des Matthäusberichts vereint (JV 1084) und gottverlassen, „si abandonnée, si misérable à la longue“ (JV 1089) nichts als den Tod wünscht, während Veronika das Schweißtuch reicht (JV 1098). Endlich stürzt das Kind „sous une pluie de sang et d’eaux sales“ (JV 1100) zur Welt und beugt in schwarzem Blut (JV 1097) und schmutzigem Wasser das augustinische Bild der zweiten Geburt in Christo, in „sanguis et aqua“ (Joh 19,34), dem Wasser der Taufe und dem Blut des Neuen Testaments, durch die „Tür des Lebens […] woher die Sakramente der Kirche flossen, ohne welche man zum Leben, welches das wahre Leben ist, nicht eingeht“,51 zurück in einen heillosen literalis inter faeces et urinam. Schon mit dem Bild der „fente rouge, pareille au coup de hache“ war die vulva zur von Longin eröffneten vulnus Christi geworden und bringt doch nichts als den Tod hervor: „Cet être qui naissait, le rendait triste jusqu’à la mort.“ (JV 1100) Auch der Arzt hält das Kind, das nicht vom Geist beseelt sich zu atmen weigert, für todgeweiht, allein Pauline hält am Mysterium der nativitas fest, wickelt das Kind in Windeln, haucht ihm ihr Leben ein (JV 1101) und wird in dieser Nacht gleichsam zur Mutter Pauls, der als Frucht der fünf freudvollen Geheimnisse nicht nur den Namen seiner Patin, sondern auch des biblischen Gehilfen der Freude trägt.

51 Aurelius Augustinus, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus Vorträge über das Evangelium des hl. Johannes, üs. u. hg. v. Thomas Specht, München: Kösel 1914, Bd. 3, 120,2.

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Achtzehn Monate später, an einem lieblichen Tag Mitte Juni, der den mit keinem Wort erwähnten Zeitpunkt der Geburt im nachträglichen Überschlag auf den fast schon erwarteten Dezembertermin festlegt, entfaltet sich das Schlusstableau. Zur gänzlich falschen Jahreszeit „par cette après-midi superbe“ (JV 1107) statt in der Krippe unter freiem Himmel parodiert es die lukanische nativitas. So liegt statt des Messias ein kaum lebensfähiges Kind der natürlichen Liebe in der Wiege, während das hochheilige Paar als fast versteinerter Chanteau und sein marianisches Mündel darüber wacht, „que les bêtes ne le tourmentent pas“ (ebd.). Doch statt Ochs und Esel scheren sich weder Hund noch Katz um das Kind. Das Schiff am Horizont, festes Inventar der adventlichen Emblematik, kommt nicht näher, sondern zieht vorbei und hinterlässt am Horizont nur einen unheilvollen dunklen Streif (JV 1109). Statt der himmlischen Heerscharen in dulci jubilo liegt der einzige „chérubin“ (ebd.) wie tot schlafend in der Krippe. Pauline wendet sich gerade zum Gehen, als doch noch eine Stimme von oben über die Terrasse hallt. Allein die „voix cria[nt], du premier étage“ (ebd.) ist nicht der Engel des Herrn. C’était Louise qui s’accoudait à la fenêtre de l’ancienne chambre de Mme Chanteau, occupée maintenant par le ménage. A moitié peignée, vêtue d’une camisole, elle continua d’une voix aigre. (ebd.)

Halb gekämmt, im Nachthemd und mit schriller Stimme verkehrt die natürliche Mutter den himmlischen Lobgesang des „Gloria in altissimis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis“ (Lk 2, 14) in einer grotesken Farce zur Schimpftirade auf den Vater, der, drauf und dran auch die zweite Mitgift durchzubringen, das Kind abhängig macht vom Geld seiner marraine (JV 1110). Diese aber bleibt, seit drei Monaten zum Aufbruch bereit (JV 1109), auch diesmal auf den Koffern sitzen, bleibt über den Johannestag hinaus und überspannt die Frist der visitatio ein weiteres Mal. Als Louise vom Fenster verschwindet, hat die Erscheinung ihren Zweck doch nicht verfehlt. La mère, toujours à la fenêtre, […] puis disparut dans la chambre. Chanteau, absorbé, tourna seulement la tête, lorsque Loulou se mit à grogner ; et ce fut lui qui prévint sa nièce. — Pauline, voici ton monde. (JV 1111)

Statt der Hirtenschar, die nach Bethlehem geeilt, um die Geschicht’ zu sehen, die da geschehen (Lk 2, 15), versammelt sich in Windeseile die armselige Fischersbrut Bonnevilles um die Krippe, die statt der Arznei, an der die Welt gesunden mag, „ne veut que de la viande“ (JV 1113) und die geistige Labsal der nativitas in Gier und niedersten Bedürfnissen verbuchstäblicht. Als sich mit Lazare und Cazenove schließlich fast das gesamte verbliebene Romanpersonal auf

Ein freudenreicher Rosenkranz



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der Chanteau’schen Terrasse zusammengefunden hat und auch Louise auftritt mit der gereizten Frage nach dem Abendmahl, mit welcher der Roman begonnen hatte, platzt der Pfaffe in die Anbetung des Knaben und wirft ein letztes Mal alles über den Haufen (JV 1130). Comme on l’interrogeait avec inquiétude, il finit par dire brutalement, après avoir cherché une phrase pour amortir le coup : — Cette pauvre Véronique, nous venons de la trouver pendue à un de vos poiriers. (ebd.)

Nicht in der Lage, mit dem letzten Mysterium den Gipfel fehlgegangener Freude im Bild dieser katastrophal entgleisten Krippenszene auch noch mitanzusehen, das Ende einer Weihnachtsgeschichte zu erleben, die sich im erzählerischen Rahmen von visitatio und nativitas liturgisch gleichsam im engen Rahmen zwischen dem vierten Sonntag des Advents und der messe de minuit verstellt im Hochsommer entrollt, erteilt der secret spokesman Veronika dem Geschehen die brutalstmögliche Absage, bleibt aber noch im Tode buchstäblich hängen im Bild eines grausam verbuchstäblichten Marienkults: als letzte Frucht des Birnbaums und vièrge à la poire. Acht Bände und zehn Jahre später schließlich, im anschwellenden Heilskanon des Docteur Pascal ist vom cri du mal nichts mehr zu hören. Pauline Quenu était toujours à Bonneville, à l’autre bout de la France, en face du vaste océan, seule désormais avec le petit Paul, depuis la mort de l’oncle Chanteau, résolue à ne pas se marier, à se donner toute au fils de son cousin Lazare, devenu veuf, parti en Amérique pour faire fortune. (DP 1017)

In der voll entwickelten Ikonographie der sponsa Christi, der Entscheidung zur Ehelosigkeit als Jungfrau, Braut und Mutter eines Kindes erstrahlt Pauline von aller Befleckung geläutert als das radikale Gegenstück zur Nana, als welches sie die frühesten Gedanken zum Romanstoff zeichnen. Die von Zola geforderte konsequente Übersetzung von Romancier in Mediziner52 jedoch gelingt nur oberflächlich, wenn der physiologische Diskurs sich, wie Vinken für Michelets Devotio moderna aufzeigt, als nichts als Fassade heraustellt, hinter der die Medizin zurückfällt auf den Buchstaben der Genesis, die natürliche Frau auf eine naturalisierte Braut Christi, der Zola den hysterischen Katholizismus nur austreibt, um ihr sogleich im Paradigma der Fruchtbarkeit den biblischen Schöpfungsimperativ wiedereinzuschreiben, in den fünf freudvollen Mysterien des rosaire als Stigmata der joie de vivre.

52 Zola, Le roman expérimental, S. 2.

L’Œuvre – Perspektiven Sans tête Nicht nachgerade schmeichelhaft bedenkt André Gide im Journal L’Œuvre als schlechtestes Werk Émile Zolas.1 Als Zeuge der Befreiungsbewegungen der Wahrnehmung im späten 19. Jahrhunderts stellt es noch den Wettstreit der Künste in den Dienst seiner Agenda und lässt die antiakademische Opposition letztlich in künstlerischen Katastrophen, finanziellem und gesellschaftlichem Ruin oder dem Verrat am eigenen Vorhaben zusammenbrechen. „On the most fundamental level, it is a case study of failure and artistic impotence“2, weiß Thomas Zamparelli die meisten Zugänge zu Zolas Roman von 1886 einig, der mit Gide unter den Verdacht gerät am eigenen Gegenstand zu kranken. So kommt Zamparelli nicht umhin, das große Thema des Scheiterns zwischen heterogenen „notions of historical, environmental, and hereditary determinism“, die sich kaum zusammenbringen lassen, Zolas „epic vision of mankind“3 einzuschreiben. „[T]he theme of Paris“ macht er als ebenso integrales Thema aus wie die „condemnation of fin de siècle mentality and the drama of female rivalry and jealousy“4, nach deren Vereinbarkeit er „most critics of Zola“5 mehr oder weniger vergeblich suchen lässt. Allenthalben läuft der Leser Gefahr einer Linie folgend eine andere zu vernachlässigen. Um den Roman nicht unzulässig zu vereinseitigen bescheidet sich Zamparelli mit der „hope […] to discover a point of convergency“6 und bindet die von Anfang an nur immer weiter auseinanderstrebenden Kräfte von L’Œuvre zu einem Werk sans tête. Bei Nicot mit dem Verweis auf das lateinische opus abgearbeitet7, weiß Émile Littré 1873 unter dem Lemma ŒUVRE nicht weniger als 20 Bedeutungsvarianten zusammenzutragen. Die vorangestellte Definition „ce qui est fait et demeure fait“8, die das Werk begrifflich in einem überraschenden Näheverhältnis zu „FACTICE : Qui est fait ou imité par l’art“9 als Geschwisterkind von FÉTICHE10 er1 Andre Gide, Journal. 1939–1949, Paris: Gallimard 1954, S. 161. 2 Thomas Zamparelli, „Zola and The Quest for The Absolute in Art“, in: Yale French Studies, 42 (1969), S. 143–158, hier s. 143. 3 Zamparelli, „Zola and The Quest for The Absolute in Art“, S. 143. 4 ebd. 5 ebd. 6 ebd. 7 „ŒUVRE“, in: Jean Nicot, Le Thresor de la langue francoyse, Paris: Douceur 1606, S. 451. 8 „ŒUVRE“, in: Émile Littré, Dictionnaire de la langue française, Paris: Hachette 1873/74, Bd. 3, s. 808. 9 „FACTICE“, in: Littré, Dictionnaire, Bd. 2, S. 1591. https://doi.org/10.1515/9783110605334-004

112  L’Œuvre – Perspektiven

scheinen lassen, gliedert er recht konventionell auf in Architektur, bildende Kunst, Musik und Literatur und erweitert den Begriff in zahlreichen Komposita und Spezialbedeutungen für Schmuckhandwerk und Forstwirtschaft, Weinund Gartenbau sowie Marine, Chemie, Jurisprudenz und Kirche bis hin zum œuvre de la chair als Geschlechtsakt. Nahezu alle Bedeutungsnuancen versammelnd, die das Dictionnaire der Académie française in seinen bis dahin erschienenen sechs Auflagen angeboten hat, weist Littré ausgerechnet die konsensfähige Definition Nicots, wenn man so will als point of convergency, unter dem Vorwand zurück, dass œuvre etymologisch abhängig von lateinisch opera nur mittelbar an opus hängt. Die Vieldeutigkeit wird zum Prinzip und L’Œuvre zum Symptom einer umfassenden Krise. In seiner dem Begriff innewohnenden Unschärfe scheitert im Titel nicht nur das Werk Claude Lantiers. Vielmehr referiert dieser in nahezu vollem Umfang auf die im Roman vor- und gegeneinandergestellten Schöpfungsversuche, an deren Ende Gide nicht haltlos fragen wird, ob nicht auch Zolas Werk missraten ist. Dass Hoffnung kein originäres Instrument der Literaturwissenschaft ist, mag man Zamparelli verzeihen. Zunächst oberflächliche Konvergenzen sind trotz oder dank der Kopflosigkeit dieses Porträts der Künste im späten 19. Jahrhundert recht bald ausgemacht. L’Œuvre ist Gegenstand zahlreicher Versuche geworden, das Werk als Schlüsselroman zu lesen, was der Roman in zweierlei Hinsicht nahelegt: Als Bildnis der in wechselnden Koalitionen zwischen Hungertuch und Avantgarden stets zerstrittenen Pariser Bohème wäre ein allzu glatter Handlungsstrang kaum glaubhaft vermittelbar gewesen, während die unzähligen Konstellationen auskunftsfreudiger Protagonisten für den Versuch, die vielfältigen Verwicklungen dieser heterogenen Szene nachzuzeichnen, ideal erscheint. Fraglos ist das Verhältnis der sich über den Naturalismus entfremdenden Künstler Sandoz und Claude modelliert an der nicht einfachen Verbindung Zolas zu seinem Jugendfreund Cézanne. Sicherlich mögen der Tod des syphilitischen Manet 1883 und die so prominent wie kontrovers verhandelte posthume Werkschau von 1884 ihren Abdruck hinterlassen haben. Mitterand lässt durchaus nicht offen, dass die Liste der Korrespondenzen sich noch fortführen ließe, doch stellt Zamparelli derlei begründet entgegen, dass die bereits in Nana einigermaßen fruchtlos aufgebrachte Frage, hinter welcher Maske des Romans sich wer verbergen möchte, die „literary experience per se“11 nur am Rande streift. 10 „FETICHE“, in: Littré, Dictionnaire, Bd. 2, S. 1653; Littré nennt als Etymologie zunächst „Portug. fetisso, objet féé, enchanté (voy. FÉE)“, gibt im supplément jedoch dem Einspruch Monros statt, dass „le port. feitiço, espagn. hechizo, conduisent non à fada, fée, mais à factum, factitium, représentent l’anc. franç. faitis, faitisse, et signifient proprement factice“, S. ders., dass., Ergänzungsband, hg. v. Émile Littré u. Marcel Devic, Paris: Hachette 1886, S. 157. 11 Zamparelli, „Zola and The Quest for The Absolute in Art“, S. 144.

Sans tête



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Energisch weist er die Überlegung zurück, ob in Claude Lantier nun Cézanne oder Manet zugrunde gehen. Umso überraschender jedoch lässt er Sandoz als „Zola’s spokesman and alter ego“12 zu und geht so weit, diesen als heimliche Hauptfigur „Sandoz-Zola“13 gleichsam mit zwei Köpfen reden zu lassen: „Needless to say, L’Œuvre provides us with an autobiographical document par excellence.“14 Damit jedoch stellt er sich in eine Lesetradition, die gewissermaßen älter ist als das Werk selbst. Die Geschichte des Romans, der, wie Henri Mitterand vorsichtig formuliert, mitunter die am weitesten zurückreichenden Ursprünge der Reihe gehabt haben hätte können (Œ 1351), begründet dieser trotz allem frühestens 1880. So belässt er die Möglichkeit in Zolas „univers familier“ der 1860er-Jahre eingetaucht zu sein, wohlbedacht im irrealen Konjunktiv und geht noch weiter: lehnt die „souvenirs provençaux“ (Œ 1351), auf denen Paul Alexis in seinen Notes d’un ami von 1882 das Werk gerne begründet gesehen hätte, rundheraus als maßlose Übertreibung ab. Vielmehr weist Mitterand im Biographismus buchstäblich avant la lettre, vor dem ersten Buchstaben des Romans, von 1880 an bei Paul Alexis, Fernand Xau, und Luis Desprez in sich häufenden Äußerungen über den Roman, den es nun endlich zu komponieren gelte, eine Anspruchshaltung nach, die den Autor zunehmend unter Druck setzt.15 So will er dem gesetzten Schriftsteller, der 1885 mit 45 Jahren „l’âge de la maturité, le succés et la fortune“16 erreicht und sich lieber zufrieden auf seinem Palisanderthron zurückgelehnt hätte, eine gewisse Kühle gegenüber seinem neuen Gegenstand nicht absprechen: ganz im Gegensatz zu früheren Projekten, etwa der Nana, von der Zeitzeugen den Schöpfer brennend vorgefunden haben. In den fünf Jahren seit seinem größten Erfolg, Mittel- und Höhepunkt der Reihe, scheint etwas vorgefallen. Bereits in La Joie de vivre hatte die Schöpfung einen Knick davongetragen, der in der scheiternden Selbstverwirklichung Lazares auch die ins Stottern geratene Romangenese reflektierte. Von seinem Umfeld mit der œuvre à faire konfrontiert scheint Zola nicht recht Lust darauf zu haben, sich erneut auf die Schlachtfelder von Kritik und Tagespresse zu stürzen, die er vor einer halben Dekade erst verlassen hatte. Neben diese „lassitude“17, die zweifellos auch vom Wohlstand rühren mag, stellt Mitterand ein handfestes Unbehagen, in welchem Zola die Gelegenheit „plus profondément“ in die eigene Geschichte und die Genese des Werks einzudringen, das er am besten kennen sollte, nervös aus12 13 14 15 16 17

a.a.O., S. 145. a.a.O., S. 146. a.a.O., S. 147. a.a.O., S. 1350. a.a.O., S. 1351. ebd.

114  L’Œuvre – Perspektiven

schlägt und die im Vorlauf des Romans so lautstark kolportierten provenzalischen Erinnerungen eindampft und zurückdrängt, „condensés dans un unique chapitre“18, wo sie kurz vor Schluss nichts Wesentliches mehr zur Fabel beitragen. Mögen sich die frühesten Gefährten des Autors auch posthum übergangen fühlen, viel wichtiger als persönliche Erinnerungen streicht Mitterand die „sources littéraires“19 heraus, die in seinem Werk wiederzubeleben, „faire revivre, sans rien mutiler, sans en rien travestir“20 er für Zola mit einiger Berechtigung infrage stellt. Der Roman ist Schauplatz kanonischer Prätexte, die ihn auf der Makroebene des Plots zu strukturieren scheinen. Mitterand stellt wie fast alle Rezensenten Balzacs Chef-d’œuvre inconnu und die Manette Salomon der Goncourts heraus, weist jedoch mit Blick auf die umfangreichen Untersuchungen Patrick Bradys bereits darauf hin, dass sich die Liste nahezu beliebig erweitern ließe. Auch etwas niedriger gehängt bleibt das Zitat Strukturgarant und benennt nicht nur als literarische Quelle, sondern auch als buchstäblicher Stichwortgeber seine Themen. Das Werk räsoniert offen über Courbet und Delacroix, führt die in Nana bereits nachgewiesene Polemik gegen Cabanel fort und wagt es zwischen moralphilosophischen, ästhetischen und kunsthistorischen Versatzstücken gleichermaßen den schon im Ventre spukenden Victor Hugo höchst selbst zu nennen, der über den ersten Zeilen des Ébauche unter den Augen Millionen Trauernder im Frühjahr 1885 in den Panthéon einzieht. Allein unter der Vielfalt allzu offensichtlicher Vorbilder, die Zola neben persönlichen Schwierigkeiten etwa mit Cézanne21 nicht zuletzt Plagiatsvorwürfe und eine handfeste Auseinandersetzung mit dem beleidigten Edmond de Goncourt22 einbringen, erscheint ein Subtext, der als erzwungene Retrospektive den Verdauungsprozess des Ventre wiederaufnimmt und jenseits der offenen Zitate nun die eigene Geschichte, das eigene Werk samt seiner umfangreichen Prätexte und damit den naturalistischen Roman selbst mutilierend, verstümmelnd, travestierend aufbereitet: „Of course, Zola has very conveniently condensed into a nutshell the whole plan of the Rougon-Macquart“23. Dabei scheint der Plan als typologisches Versprechen weniger in wohlwollender Rückschau auf die vorgelegten dreizehn Bände die Selbstzweifel des jungen Sandoz-Zola angesichts seiner Erfüllung auszuräumen, als umgekehrt, die Wohlgelungenheit der Reihe am selbst formulierten Anspruch zu messen und infrage zu stellen. 18 ebd. 19 ebd. 20 ebd. 21 a.a.O., S. 1386. 22 a.a.O., S. 1380. 23 Zamparelli, „Zola and The Quest for The Absolute in Art“, S. 147.

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Plumpe Biographismen, die in Sandoz das Jugendbildnis, den jungen Zola der 1860er-Jahre erkennen, auf den der gemachte Mann aus 20-jähriger Entfernung zurückblickt, scheinen kaum haltbar. Vielmehr wirft hier der Zola der 80er sein ganzes Gewicht und die auctoritas des Großschriftstellers in die Waagschale, schreibt sich seinem Roman als kommentierende Figur selbst ein, um sein naturalistisches Projekt vor dem Scheitern zu bewahren – und geht das Risiko ein, mit ihm zusammen vor die Wand zu fahren. So eröffnen die zahlreichen losen Enden des Romans, die sich, wie Zamparelli treffend beobachtet, nicht ohne weiteres in einer geschlossenen Agenda organisieren lassen, den Blick auf L’Œuvre als Innenansicht auf die Reihe, als zweidimensionale Projektion des Kosmos der Rougon-Macquart: als Œuvre. Hinter einem erstaunlich durchsichtigen Vorhang der allenthalben in Bildbetrachtungen, Manifesten und theoretischen Exkursen suspendierten fiktionalen Handlung ist sich der Roman vielleicht wie kein anderer der Reihe des eigenen Status im Werkszusammenhang bewusst. Mag man seine Bedeutung als Schlüsselroman auch nicht überschätzen: Als Schlüssel zum Œuvre der Rougon-Macquart rührt der Roman durchaus an die „literary experience per se“24. So treffen hier noch deutlich vor der erzählten Synopse des Docteur Pascal und wesentlich unmittelbarer in den drei von Zamparelli vorgestellten, das scheiternde Werk Claudes flankierenden Themenkomplexen die Fluchtlinien der drei bisher vorgestellten Romane aus unterschiedlichen Entstehungsphasen des Zyklus zusammen: Die im diachron geschichteten Stadtraum ausgebreitete Verschränkung von Historie und Moderne, Natur und Heil aus dem Ventre de Paris, dessen magistrale Nebenrolle nun zur Hauptfigur wird und an der Ununterscheidbarkeit von ceci und cela zugrunde geht. Pessimismus und Impotenz der Joie de vivre, die zwischen Vertreibung aus dem Paradies und Pouchets Entdeckung des Eisprungs offen die Frage nach dem Wesen der Erbsünde stellt und oszillierend zwischen Hysterie und Mystik, Braut Christi und natürlicher Frau den bereits in Nana angelegten Komplex rivalisierender Weiblichkeitskonzepte im Streit zweier Frauen um den impotenten Schöpfer inkarniert. Schließlich das von Anfang an nervös verhandelte Verhältnis von Natur und Kunst, Literalsinn und sensus allegoricus, Eigentlichem und Mittelbarem in der Erneuerung der mittelalterlichen Kathedrale, den neuen Frauen Michelets und zusammenstürzenden Allegorien Nanas, vor dem Barbara Vinken L’Œuvre schließlich als Schlüssel zu Zolas Naturalismus als „Fetischismus par excellence“25 liest. Dass Zola dem katastrophalen Scheitern Claudes am naturalistischen Projekt in Sandoz seine Spiegelfigur paragonal entgegensetzt, deren Selbstporträt 24 a.a.O., S. 144. 25 Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 621.

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L’Œuvre – Perspektiven

als Großschriftsteller in der literarischen Wiederaufnahme jener crémaillère kulminiert, in welcher diese Studie ihren Ausgang nimmt, legt die Perspektive auf L’Œuvre weniger als Roman über die Kunst denn als poetologischer Text durchaus nahe, der unablässig seine Position im weit vorangeschrittenen Werksvorhaben aktualisiert. Gleichermaßen „victimized by romanticism“26, vom Akademismus des Salons und dem steinalten Victor Hugo, zerfällt die den Roman zusammenhaltende Künstlergruppe in zwei Lager: Die angepassten, unauthentischen Kunsthandwerker des Second Empire werden fünfzehn Jahre nach dessen Untergang vergleichsweise einfach disqualifiziert. Fagerolles tauscht seine Überzeugungen gegen den sozialen Aufstieg in einem Reich, das keine Zukunft hat, den Sturm und Drang des jungen Naturalismus gegen eine „tempête dans un pot de crème“ (Œ 286). Dubuche akzeptiert gegen besseres Wissen das Kummet der Akademie und Chambouvard geht in die inspirationslose Massenproduktion. Am Vorbild Cabanels gestaltet, der das heuchlerische Staatsporträt Napoleons III. in schwarzsamtenen culottes anfertigt, mit seiner Venus den Akademismus zur einstürzenden Allegorie verknöchert und sie zu allem Übel zweimal malt, können diese Werke ohne inneren Schöpfungsdrang – ein Vorwurf, der ebenso aus Zolas Gautierkritik von 1879 stammen könnte – als Kulissen, „décor énorme d’Hugo“ (Œ 39) oder „grand décor romantique de Delacroix“ (Œ 45), abgetan werden, in denen die Verbliebenen, Sandoz, Mahoudeau – und Claude im Ventre de Paris sogar buchstäblich – weiterhin herumspuken. Diesen belässt Zola zwar das Prädikat des authentischen Künstlers, zeichnet sie im Versuch die alten Formen zu ersetzen aber umso besessener vom Einfluss des Alten. Geblendet vom „éclairage faux“ (Œ 40) Hugos, dessen latente Präsenz im Kosmos der Rougon-Macquart Zola im Todesjahr des Meisters zum ersten und einzigen Mal explizit bestätigt, steckt in aller Kunst der Wurm von Symbolismus, Dekadenz und Mystik. Dem lässt Zamparelli Zola als Antidot „Science, Truth, and Nature“27 entgegenstellen, die in der Illusion ihrer Unmittelbarkeit den Roman unter ein Gesetz beugen und weniger fortschrittlich, denn im Zeichen eines verbuchstäblichten Alten Bundes als goldenes Kalb des Naturalismus im Glanz des Fetischismus erstrahlen. Das Evangelium des einzig reüssierenden Sandoz liest Zamparelli ausgerechnet in der Nachkommenschaft Candides, der „having lost his illusions, turns to work and action as the only means of combating the metaphysical weariness and the destructive fin de siècle idealism.“28 In einer geradezu zynischen Volte lässt er Zola die Theorie des Naturalismus letztlich über Bord werfen, um 26 Zamparelli, „Zola and The Quest for The Absolute in Art“, S. 152. 27 Zamparelli, „Zola and The Quest for The Absolute in Art“, S. 146. 28 a.a.O., S. 148.

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im Wissen stets nur Imitator und nie Schöpfer zu sein (Œ 363) dennoch seinen Garten zu bestellen, „une série de bouquins, quinze, vingt bouquins“ vorzulegen „à me bâtir une maison pour mes vieux jours“ (Œ 162). Hier zeigt sich die verstellte, travestierte Perspektive, mit der Zola, der Großschriftsteller, durch die Augen seines jüngeren Ichs auf sein Schicksal blickt. Er mag sich über diesen Zeilen an den Morgen des 14. Dezember 1868 erinnert haben, da er, bei Goncourts erstmals zum Déjeuner vorstellig geworden, blass und fahrig „souffrant, ultra-nerveux, […] la sensation pénétrante de la victime tendre d’une maladie de cœur“ den Plan einer „Histoire d’une famille, roman en dix volumes“ entwirft: „le pain pour lui et sa mère“29. Hatten seine Gastgeber schon damals eine gewisse „ressemblance avec ses créations“30 unterstellt, so sitzt Zola in den nach Nana und Germinal benannten Türmen von Medan nun buchstäblich in erschriebenen Bauten, wenn er das eucharistische Brot nachträglich durch seine Idee eines herrschaftlichen Landsitzes ersetzt. Im Moment des Scheiterns am Absolutheitsanspruch der naturalistischen Kunst, den Zamparelli seiner Studie als „Quest for The Absolute in Art“ zugrunde legt, stellt sich als Lösung, wie schon Flaubert anlässlich der crémaillère chez Zola diagnostiziert hatte, ausgerechnet ein verbuchstäblichtes Abbild der Zwei-Reiche-Lehre vor: „l’unique soutien, pendant ces heures mauvaises, passées à s’acharner sur l’œuvre rebelle, c’était le rêve consolateur de l’œuvre future, celle où il se satisferait enfin, où ses mains se délieraient pour la création.“ (Œ 207) Der Trost liegt im Fortschritt als aus eschatologischer Ferne geholter und mangels der negierten Gnadengabe des sensus allegoricus erarbeiteter Naherwartung des Heils. Das Brot des neuen Testaments als allegorischer Leib Christi, dessen anagogische Dimension „in regno Patris mei“ (Mt 26,29) Christus zum Beschluss der Einsetzungsworte selbst deutet, wird unter dem Fluch des Adam „in sudore vultus“ (1 Mo 3,19) Zola zum Brot für ihn und seine Mutter, das Haus Gottes am Ende aller Tage zum Haus auf seine alten Tage, die Verkündigung der frohen Botschaft zum Evangelium der Arbeit, Buchstabe für Buchstabe, nulla dies sine linea, erschrieben im Schweiße seines Angesichts. L’Œuvre ist weniger Schlüsselroman, weniger Paragone als im komplementären Oppositionspaar Claude und Sandoz (Œ 1356) sublimiertes Selbstgespräch über den Naturalismus, das dem Scheitern Claudes eine Heilsperspektive entgegenstellt, die als andere Seite desselben bis in die biblischen Prätexte von derselben buchstäblichen Verkürzung gezeichnet ist und den Roman weniger als schlechtesten, denn symptomatischsten der Reihe durch Augen und Feder von Sandoz-Zola konstituiert. Als Geschichte künstlerischer Ohnmacht und körper29 Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 186. 30 ebd.

118  L’Œuvre – Perspektiven

licher Impotenz vollzieht sich Claudes Schicksal gebunden an das Verhältnis zu Christine symptomatisch in Bildern einer Ehe. Dabei sind die erzählten Stationen ihrer Katabasis vom wie zufälligen Kennenlernen über den ersten gemeinsamen Morgen, Fortpflanzung und Ehe bis zum Tod überschattet von und gedoppelt in scheiternden Porträts, in denen auch die Krise des literarischen Naturalismus manifest wird. Die Ausweisung des Defekts aus dem, wie Vinken gleich zu Beginn feststellt, noch im Ébauche offen als „ich“ firmierenden Sandoz31 in die Figur des Claude gelingt schon deshalb nicht, weil dieser als genuines Kind der Reihe und damit tief verwurzelt im Denken von Sandoz-Zola stets Schöpfung des anderen bleibt. Als Claude, den Nachnamen Lantier vorerst suspendierend, als erstes Wort den Roman eröffnet (Œ 11) um ein neues Kapitel der Rougon-Macquart aufzuschlagen, ist er eben kein unbeschriebenes Blatt. Von einem nächtlichen Sommergewitter überrascht vermag der Wind seine Vorgeschichte ebenso wenig davonzutragen, wie der Wolkenbruch sie davonwaschen wird. Die „averse“ (ebd.) hatte schon Pauline Quenu kein Glück gebracht, die ihm elf Bände zuvor zuletzt begegnet, im zwölften Band einen Faden des Ventre de Paris zu Ende spinnt. Den anderen wird nun er aufnehmen und bis ins Grab verfolgen. „[D]égingandé“ (ebd.) ist er selbstgenügsam attribuiert mit der Eigenschaft, die er schon im Namen trägt. Der Text unternimmt keinen Versuch ihm seinen Platz im Stammbaum der Rougon-Macquart zuzuweisen, wie es die anderen Romane stets explizit getan haben. Tatsächlich fällt sein Zuname Lantier in der Exposition gar nicht, im restlichen Roman kein halbes Dutzend Mal. Jenseits der Brücke, mit deren Überschreitung er den Roman eröffnet, bleibt er nichtsdestoweniger Neffe der Lisa Quenu und dem Ventre verbunden, Halbbruder Anna Coupeaus aus l’Assommoir und Nana und Vetter Paulines, die in der Normandie die naturalisierte Joie de vivre findet. Von einer „lésion de ses yeux“ (Œ 53) geschlagen mit der Erbsünde der Familie, deren Histoire naturelle et sociale sous le Second Empire Zola sich nun im vierzehnten Roman zu erzählen anschickt, durchkreuzt die ererbte Wahrnehmungsstörung angeblich unbekannter Herkunft (ebd.) ihren eigenen Begriff. In der Wiederaufnahme noch in der Romanwirklichkeit als erzählt verflacht, erscheint Claudes Familienanschluss nicht genetisch, sondern textuell. Weniger der Familie der Rougon-Macquart als dem Titelversprechen des Romans entsprechend den Rougon-Macquart Zolas und dem Werk damit mehr als der Schöpfung verbunden, ist er von Anfang an mit dem Buchstaben gezeichnet: „Il s’était oublié à rôder dans les Halles“ (Œ 11), nach einem zwölfjähren Spaziergang durch das Hallenviertel als story to tell entdeckt, kommt Claude zu 31 Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 593.

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Beginn von l’Œuvre buchstäblich geradewegs aus dem Ventre de Paris. Sein Scheitern ist nicht in der Vererbungslehre begründet, sondern der Reihe typologisch verpflichtet. „Deux heures du matin sonnaient à l’horloge“ (Œ 11). Seit dem bemerkenswerten Glockenschlag der deiktischen Gutenberg-Uhr in der Quenu’schen chambre scheint gerade eine halbe Stunde vergangen, als Claude den pont Louis-Philippe überquert. Die nächtliche Heimkehr zum Atelier am quai de Bourbon steht unter dem Zeichen der Unschärfe. Ausgelöst wird die den Roman wie schon Nana durchziehende Kaskade von Uneindeutigkeiten ausgerechnet durch die den Ort im orthogonalen Straßenbild exakt bestimmende Querstraße: die rue de la Femmesans-Tête. Es bedarf nicht erst Max Ernsts, der in der homophonen Femme 100 têtes von 1929 die Kopflose zum hundertköpfigen Ungeheuer des Surrealismus macht, um das emblematische Potenzial der im Bildersturm von 1793 dekapitierten Nikolausstatue zu erkennen. Mit Abtrennung des Kopfs wird die Oszillation verinnerlicht zur latenten Ambivalenz der Statue. Der für seine Verdienste im Kampf gegen die Mutterkulte Kleinasiens Heiliggesprochene erscheint im Frauenkleid gedoppelt als Dirne im Emblem des gleichnamigen Amüsierbetriebs vis-à-vis über der subscriptio: „tout en est bon“32. „[A]veuglé par la pluie“ findet sich Claude im Hauseingang konfrontiert mit einem „corps vivant“ (Œ 11). Noch ist nicht einmal das Geschlecht des Körpers ersichtlich, geschweige denn, ob es sich um Hure oder Heiligen handelt. Die „brusque lueuer d’un second éclair“ schafft sogleich für einen Augenblick der Klarheit und enthüllt „une grande jeune fille, vêtue de noir, et déjà trempée, qui grelottait de peur“ (ebd.): Zolas Archetyp der Heiligen. Wie Madame François aus dem Ventre, wie die jungfräuliche Mutter Denise aus dem Bonheur des Dames Unschuld vom Lande – „Mon Dieu! c’est la première fois que je viens à Paris, monsieur, je ne sai pas où je suis…“ (Œ 12) – großgewachsen und trotz der Jugend in Trauer gehüllt, vereint sie Reinheit der ancilla und Duldsamkeit der Schmerzensmutter. Danach versinkt alles wieder in Dunkelheit, während Christine – so heißt sie diesmal – anhebt die Litanei ihres Zola’schen Frauenschicksals zum Besten zu geben. Allerdings kommt sie vorerst nicht zum Schluss. „Un éclair éblouissant lui coupa la parole“ (ebd.), etwas wirklich Neues vermag sie nach dreizehn Bänden Rougon-Macquart ohnehin im Moment nicht beizutragen. Stattdessen transzendiert die rive droite vor Claudes Augen zur „apparition violâtre d’une cité fantastique“ (ebd.). Getaucht in violettes Dämmerlicht, liturgische Farbe von Advent und Fastenzeit, visitatio und passio und zugleich dernier cri in der Pariser Damenwelt erstreckt sich der „horizon 32 Félix u. Louis Clément Lazare, Dictionnaire administratif et historique des rues de Paris et de ses monuments, Paris: Lazare 1844, S. 214.

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élargi […] à gauche jusqu’aux ardoises bleues des combles de l’Hôtel de Ville, à droite jusqu’à la coupole plombée de Saint-Paul“, die „fosse profonde où la Seine coulait“ von den „lourdes piles du pont Marie aux arches légères du nouveau pont Louis-Philippe.“ (ebd.) Urrepublikanisches Rathaus und erzkonservative Jesuitenkirche, steinerne confiance der unter Ludwig XIII. errichteten Brücke, einer der ältesten von Paris, und Leichtgewicht der wie die französische Monarchie in einem Jahrhundert dreimal aufs Neue errichteten Brücke markieren den Rahmen eines Romans, dessen Beobachtungen nun selbst scheinbar unscharf in der Ambiguität von royaume und république, Marie, Madeleine und Marianne, Heilsgeschichte und Naturalismus stets im Emblem der femme sans tête enden. Nachdem die apparition Frankreichs im 19. Jahrhundert in weniger als einem Augenblick wieder in Dunkelheit versunken ist, bringt Claudes Reaktion es auf den Punkt: Tout disparut. « Bon! une farceuse, pensa Claude, quelque gueuse flanquée à la rue et qui cherche un homme. » (Œ 12)

Eine Prostituierte, bestenfalls noch eine Irre, wie sie die Rougon-Macquart zu Hauf bevölkern. Wie von Borsò in der Exposition des Ventre de Paris, die au milieu du grand silence zu gleicher Stunde beginnt, ins Spiel gebracht, scheint der Erzähler wieder mehr zu sehen als sein Protagonist. Und wieder ist es das Inventar der Heilsgeschichte, das hier in der gleichen Dunkelheit zu leuchten scheint. Hatte die François, die dem Erzähler als Maria offenbar wird, Florent jedoch als verhülltes Kruzifix im Hungertuch entdeckt, muss Claude das Bild buchstäblich lesen. In der Differenz von Null- und interner Fokalisierung erscheint Claudes Sehfehler als klassischer Strabismus. In den sich kreuzenden Perspektiven von erzählendem Ich und dem von ihm abgespalteten Protagonisten beginnt der Romanauftakt zu schielen. Christine wird zur femme sans tête. Als Farce auf Baudelaires Passante bedarf es gleicher dreier Blitze, bis der „artiste flâneur, amoureux du Paris nocturne“ (Œ 11) die femme „[l]ongue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse“33 gewahrt qu’il eût aimée. Und dann hält er sie für eine Prostituierte. Während Baudelaires Passante im sensus allegoricus aus Niedrigkeit zur mystischen Braut aufsteigt, stößt Claude die nach Maßgabe Michelets gestaltete natürliche Frau in den Schmutz. Die Fehlleistung durchkreuzt den Zola’schen Stereotyp. Der Maler erkennt die republikanische Madonna zur „farceuse“ verbuchstäblicht als Darstellerin in Zolas Farce des Zweiten Kaiserreichs. Die Figur wendet den Naturalismus gegen sich selbst und straft den Autor lügen, wenn die dem empirischen Anspruch des roman expérimental eingeschriebene Vererbungslehre einen Fehler hervorbringt, der, statt die ihr 33 Baudelaire, „À une passante“, in ders., Œuvres I, S. 92 f, V. 2.

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zugrunde liegende Agenda zu belegen, ihre Scheinhaftigkeit entlarvt. Der Fehler Claudes, der Christine dekapitiert zur Hure macht, liegt nicht in Symbolismus, Dekadenz und Mystik sondern darin, den Naturalismus gnadenlos beim Wort zu nehmen. Der Buchstabe schielt – und tötet.

Les ventres de Paris Angesichts eines Romans, der sich schon dem Titel nach dem Œuvre Claudes und Zolas verpflichtet, drängt sich der Blick auf einen in diesem Zusammenhang kaum beachteten Prätext innerhalb der Reihe geradezu auf. So mag es doch verwundern, den einzig selbstbewusst vertretenen chef-d’œuvre Claudes außerhalb von l’Œuvre, im Ventre de Paris, zu finden, in dem der Erzähler den von Kohlbergen schwärmenden, fortschrittsgläubigen Naturalisten, der selbstbewusst Hugo zitiert und vor die Krautfuhre seiner Agenda spannt, noch ganz auf seiner Linie das letzte Wort behalten lässt. L’année dernière, la veille de la Noël, comme je me trouvais chez ma tante Lisa, le garçon de la charcuterie, Auguste, cet idiot, vous savez, était en train de faire l’étalage. Ah! le misérable! il me poussa à bout par la façon molle dont il composait son ensemble. Je le priai de s’ôter de là, en lui disant que j’allais lui peindre ça, un peu proprement. Vous comprenez, j’avais tous les tons vigoureux, le rouge des langues fourrées, le jaune des jambonneaux, le bleu des rognures de papier, le rose des pièces entamées, le vert des feuilles de bruyère, surtout le noir des boudins, un noir superbe que je n’ai jamais pu retrouver sur ma palette. Naturellement, la crépine, les saucisses, les andouilles, les pieds de cochon panés, me donnait des gris d’une grande finesse. Alors je fis une véritable œuvre d’art. Je pris les plats, les assiettes, les terrines, les bocaux; je posai les tons, je dressai une nature morte étonnante, où éclataient des pétards de couleur, soutenus par des gammes savantes. Les langues rouges s’allongeaient avec des gourmandises de flamme, et les boudins noirs, dans le chant clair des saucisses, mettaient les ténèbres d’une indigestion formidable. J’avais peint, n’est-ce pas? la gloutonnerie du réveillon, l’heure de minuit donnée à là mangeaille, la goinfrerie des estomacs vidés par les cantiques. En haut, une grande dinde montrait sa poitrine blanche, marbrée, sous la peau, des taches noires des truffes. C’était barbare et superbe, quelque chose comme un ventre aperçu dans une gloire, mais avec une cruauté de touche, un emportement de raillerie tels, que la foule s’attroupa devant la vitrine, inquiétée par cet étalage qui flambait si rudement… Quand ma tante Lisa revint de la cuisine, elle eut peur, s’imaginant que j’avais mis le feu aux graisses de la boutique. La dinde, surtout, lui parut si indécente, qu’elle me flanqua à la porte, pendant qu’Auguste rétablissait les choses, étalant sa bêtise. Jamais ces brutes ne comprendront le langage d’une tache rouge mise à côté d’une tache grise… N’importe, c’est mon chef d’œuvre. Je n’ai jamais rien fait de mieux. (VP 801)

Angesichts der anstehenden Weihnachten, deren magnum mysterium der Ventre de Paris auf die Völlerei im Anschluss an das Fastenbrechen nach der Christ-

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mette herunterbricht, ist der Metzgergeselle Auguste, der wie kein anderer die Blutwurst im Gefühl hat, als „idiot“ (VP 801) aber buchstäblich keinen Begriff davon hat, was er tut, damit beschäftigt eine Auslage zu gestalten. Als Fleischhauer nimmt er wie die akademischen Maler Körper auseinander, um sie im Anschluss nach den Regeln seines Handwerks zum Ensemble zu komponieren. Tatsächlich liegt diese Arbeitsweise der zahnlosen poupée classique aus Zolas Cabanelkritik von 1875 durchaus nicht so fern und treibt im weich gefirnissten, abgetönten Ergebnis den Freiluftmaler in die Apostrophen. Der composition als Grundlage des traditionellen Kunstwerks, dessen konstruktives Moment Claude in tote Künstlichkeit ausweist, stellt er ein „peindre […] un peu proprement“ (ebd.) entgegen. Statt akademische Querelen über das Inkarnat anzustrengen, schöpft er sein Werk in „tons vigoureux“ (ebd.) – vigor – aus dem Leben selbst. Die Eigentlichkeit, die seine Kunst als überlegen kennzeichnet, begründet sich im Kurzschluss: Er malt das Fleisch im Fleische. Doch scheint auch dieses Bild zwischen gleichermaßen unzulässiger Verbuchstäblichung und Allegorese bereits zu schielen. Das Rot der gefüllten Zungen, die zu knospenden Rosenblüten gerollt die hohe Liebe bedeuten, während die Vulgärsprache auf sie dem Buchstaben nach längst deutlich niederer als Zungenkuss referiert. Das Sonnengelb der Schinken, stolz ausgestellte Monstranz der Meisterschaft des Metzgerhandwerks, Fleisch gewordenes Wort vom Sieg über den Tod, der nicht Verfall bringt, sondern Labsal und nicht zuletzt Bekenntnis zu einem neuen Bund, der unter dem Licht der Gnade die Speisegesetze von Leviticus hinwegnimmt. Gegen das Marienblau, das die Papilotten – das johanneische Skandalon des gebrochenen Beins maskierend – ebenso aufrufen wie das Auslegepapier, erscheint das Rosa der „pièces entamées“ (ebd.) nur umso zarter. Im Textilhandel seit Jahrhunderten Gegenstand der Hallenaufsicht, die den Staatshaushalt in falsch reklamierten Laufmetern angebrochener Stoffbahnen um Zolleinnahmen betrogen sieht, wird das angeschnittene Stück Fleisch im „chair de marbre“ Nanas, „son sexe assez fort pour détruire tout ce monde et n’en être pas entamé“ (N 1120), zum Fanal fleischlicher Liebe, die nicht weniger wird, wenn man sie teilt. Heidekraut und Blutwurst, Schweinenetz und Würste liefern „naturellement“ (VP 801) ungemischte Farben, in denen die viande als Inkarnat zur chair transzendiert. Das zerstückelte, gehackte, geräucherte, gekochte und gebratene Fleisch wird in Claudes Augen zum veritablen Kunstwerk – und lebendig. Nur noch dem Buchstaben nach nature morte malt er im Licht der Gnade mit dem Tod das Leben. Das Stillleben ist „étonnante, où éclataient des pétards de couleur“ (ebd.) weder still noch unbewegt. Die klassische Palette des Akademismus hat diese Farben nie gesehen. So mischen sich ins optische Register im buchstäblichen Donnern und Knallen der Farben und „gammes savantes“ (ebd.), die

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nicht mehr nur Paletten, sondern Tonleitern aus Farben sind, Begriffe aus der Tonkunst und dynamisieren das unbewegte Dasein ebenso wie es die Dramaturgie der ekphrastischen Schilderung tut. Claude selbst liefert den Schlüssel zur Allegorese. Die „langues“ transzendieren „avec des gourmandises de flamme“ zu Feuerzungen, im „chant clair des saucisses“ hallt der Wurstanschnitt in himmlischem Lobgesang und den „cantiques“ (ebd.) in nativitate Domini wider. Die Blutwurst, in der ikonischen Küchenszene aus der Verwicklung zweier eucharistischer Motive hervorgegangen, liefert in den „ténèbres“ (ebd.) nicht nur die Schatten für Claudes Komposition. Der lichtverrückten Freiluftmalerei schon dem Begriff nach entgegengestellt verweisen die artifiziellen Beleuchtungsverhältnisse und manierierten Kompositionen des Ténébrisme in hochkanonischen Werken Bassanos, Tintorettos, Caravaggios auf eine zudem von der Gegenreformation beseelte vermittelnde, mittelbare, allegorische Kunstauffassung, in deren Tradition sich der heillose Akademismus unermüdlich abarbeitet. Der nativitas im office des Ténèbres nicht zuletzt Florents Passion einschreibend, verhebt sich der naturalistische Magen diesmal sogar buchstäblich. In einer „indigestion formidable“ (ebd.) kann der Bauch die Heilsgeschichte nicht verdauen, wohl aber die Labsal dem Buchstaben nach verkehren in die Todsünde der Völlerei an Heiligabend. Das Heilsbedürfnis, das die Christmette nicht länger deckt, soll nun durch Wurstenden befriedigt werden. Gekrönt wird die Komposition von einer Pute, deren unanständig ausgestellte, indezente, nackte Brust Lisa Quenu vor allem an ihre Nichte erinnert haben mag, die als Kokotte wie eine Truthenne glucksend mit dem Brand in der Faust die Lunte legt für den „feu aux graisses“ (ebd.), in dessen Bild Paris in Nana untergehen wird. Als Macquart im Zentrum der Betrachtung liest Lisa die flamboyante Auslage, wie Laurence Besse unterstreicht, „liant la chair à la politique“34, im Zeichen von Revolution und Krieg als verbuchstäblicht fleischgewordene Darstellung von Apokalypse und Jüngstem Gericht.35 Claude hingegen gewahrt im marmorierten, strahlend weißen und von Trüffeln stigmatisierten Fleisch die sublime, mystische Erotik des Gekreuzigten. Der „ventre aperçu dans une gloire“ (VP 801) transzendiert im Schein der mandelförmigen Seitenwunde zum corpus Christi36 und inkarniert im gleichen Augenblick das Abstraktum der Hostie im Fleische, was die unverständig vor dem Schaufenster zusammengeströmte turba mit einiger Berechtigung beunruhigt.

34 Laurence Besse, „Le feu aux graisses. La chair sarcastique dans Le Ventre de Paris“, in: Romantisme 26/91 (1996), S. 35–42, hier S. 35. 35 Besse, „Le feu aux graisses“, S. 42. 36 Besse, „Le feu aux graisses“, S. 42.

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„N’importe, c’est mon chef-d’œuvre. Je n’ai jamais rien fait de mieux.“ (VP 801) Zugleich nativitas und Dies irae spannt das Stillleben bei aller Politik vor allem den Bogen des Neuen Bundes von seinem Ursprung bis zum jüngsten Tag. Claude schreibt sein Werk, das er bei aller impressionistischen Schilderung bemerkenswerterweise nicht als tableau, sondern „histoire“ (ebd.) bedenkt, als historia fast zwangsläufig in die Geschichte ein, von der zu stellen die Rede sichs seit der bethlehemitischen Hirtenschar viel unterwunden haben. (Lk 1,1) Während dem Erzähler die naturalistische Passion Florents im Literalsinn scheitert, wird die nature morte vor Claudes Augen als Anbetung der Hostie im Geiste eines schrägen sensus allegoricus geheilt, belebt. Der Naturalismus hat ein Problem. Als hätte er den chef-d’œuvre vergessen, in dem verbuchstäblichte Schöpfung und allegorisiertes Werk in der Einheit von Material und dargestelltem Gegenstand, Inkarnat und Fleisch in seltsamer Eigentlichkeit zusammenfallen, wird Claude elf Bände später beklagen, „[qu’o]n s’entête à la création comme les vieillards à l’amour, péniblement, honteusement… Ah; l’on devrait avoir le courage et la fierté de s’étrangler, devant son dernier chef-d’œuvre!“ (Œ 182) Im Vorwurf gegen den Erzähler, der den Künstler nicht im Ventre, wo er in seiner „fonction essentiellement estéthique“37 den Buchstaben des Naturalismus hintertreiben konnte, seinen Frieden finden lässt, beklagt Claude das Schicksal der Zola’schen Hauptfiguren. Dabei durchkreuzt er im Moment, da er das eigene Schicksal deutet, im homophonen Paar s’entête/ sans tête die eigene Starrköpfigkeit mit dem Emblem des schielenden Romans und reißt die Grenze zwischen Autor, Erzähler und Figuren ein, die nun allesamt unter denselben Verdacht geraten. In dieser Vielfalt sich kreuzender Perspektiven nimmt sich nicht nur Claude der Bäuche von Paris noch einmal an, um sie endlich zurechtzurücken. Vom Korsett der Allegorien befreit wird auch Zola sie unter das gnadenlose Licht der Eigentlichkeit zerren und im buchstäblichen Albtraum einer nature morte erkalten lassen. La jeune fille; dans la chaleur de serre qui tombait des vitres, venait de rejeter le drap; et, anéantie sous l’accablement des nuits sans sommeil, elle dormait, baignée de lumière, si inconsciente, que pas une onde ne passait sur sa nudité pure. Pendant la fièvre d’insomnie, les boutons des épaulettes de sa chemise avaient dû se détacher, toute la manche gauche glissait, découvrant la gorge. C’était une chair dorée, d’une finesse de soie, le printemps de la chair, deux petits seins rigides, gonflés de sève, où pointaient deux roses pâles. Elle avait passé le bras droit sous sa nuque, sa tête ensommeillée se renversait, sa poitrine confiante s’offrait, dans une adorable ligne d’abandon; tandis que ses cheveux noirs, dénoués, la vêtaient encore d’un manteau sombre. (Œ 19)

37 Besse, „Le feu aux graisses“, S. 42.

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Abends noch als Antityp der Nana hinterm Vorhang hinter den Paravent geflohen, badet die Schlafende, den drap als das Gestaltungsmittel der akademischen Akte wie der Stillleben als Decke buchstäblich zurückweisend, bereits am ersten Morgen des Romans im vollen Tageslicht. Doch selbst diesen Frühling des Fleisches wird Claude kaltstellen. Das Inkarnat erscheint ihm nicht lebendig, sondern überfeinert, wie von Midas Hand vergoldet. Die Haut ist wie Seide lebendige Bewegung in toter Textur. Ihre Fruchtbarkeit knospt hart und saftig in der reifenden Brust und gipfelt doch nur in den blassen Rosen der gefirnissten Akademieschinken und längst kanonischen „pâles Boucher“38 Baudelaires. Der Anblick ist hinreißend, doch sein Zauber liegt längst jenseits körperlicher Erotik im Bereich des Fetischismus. Der Goldfetisch ist seit Aarons Fehler hinreichend dokumentiert, der textile nicht erst in Tanits Mantel belegt und schließlich in Au Bonheur des Dames 1884 mit einem Denkmal als der Fetisch der Moderne bedacht. Die Rose schließlich, als Symbol der Verbindung Christi und Mariae Bild der unio mystica erscheint dem Naturalisten als Fetisch des hysterischen Katholizismus. Statt körperlicher Begierde als Ausdruck eines natürlichen Schöpfungstriebs empfindet Claude vor allem Befriedigung darob, dass es „tout à fait ça, la figure“ ist, „qu’il avait inutilement cherchée pour son tableau“. (ebd.) Sie ist noch nicht gemalt und bereits Kunst. Tout son trouble, sa curiosité charnelle, son désir combattu aboutissaient à cet émerveillement d’artiste, à cet enthousiasme pour les beaux tons et les muscles bien emmanchés. (Œ 19)

Der Pygmalionmythos wird verkehrt, das biblische Fruchtbarkeitsgebot zum heillosen Schöpfungsimperativ verbuchstäblicht. Hatte er Christine bereits beim ersten Kontakt treffsicher als Rolle entlarvt, erscheint sie ihm nun als Figur, die er „presque dans la pose“ (ebd.), aus dem Leben nur noch zu Kunst verflachen, auf die Leinwand bannen muss. Das eigentliche, fleischliche Begehren wird abgeführt in den mittelbaren Schöpfungstrieb des Künstlers, der im Drang die Natur zu kopieren den Körper vivisektorisch zerlegt in seine Farben und Abschattungen, Muskeln und Sehnen. „Sa tête ensommeillée se renversait“ (ebd.), Christine wird – diesmal als Studienpräparat – wieder zur femme sans tête. „Déjà, il avait oublié la jeune fille“, was bleibt, ist der Schnee ihrer Brust, der Bernstein ihrer Schultern. (ebd.) Wie bereits im Ventre reduziert er das Fleisch auf sein Inkarnat, setzt es jedoch nicht zum allegorischen Körper zusammen, sondern belässt es in seinen Einzelteilen. Ebenso wie ihren Körper zerpflückt er die „histoire si peu croyable“ (Œ 20), die Christine ins Licht der Gnade rückt. Für eine Prostituierte erscheint sie ihm im Tageslicht dann doch „trop fraîche“, 38 Baudelaire, „Spleen“ (J’ai plus de souvenirs), in: ders., Œuvres I, S. 73, V. 13.

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stattdessen imaginiert er „autres histoires“ (ebd.), die wie schon die histoire vom Schaufenster der Metzgerei nicht aus dem Schatten der größten Geschichte unter der Sonne treten. So hallt in den Geschichten einer „débutante tombée à Paris avec un amant, qui l’avait lâchée; ou bien une petite bourgeoise débauchée par une amie, n’osait rentrer chez ses parents“ (ebd.) nicht weniger als ein ins 19. Jahrhundert transferiertes und verbuchstäblichtes Marienschicksal wider. Er vermag sich sogar noch „un drame plus compliqué“ vorstellen, „des perversions ingénues et extraordinaires, des choses effroyables“ (ebd.), in denen sich die theologische Debatte um die Stellung der Gottesmutter zum Drama kompliziert und das Gnadenwunder dem Buchstaben nach verkehrt zur Ungeheuerlichkeit wird. Noch bevor sie erwacht, ist auch ihr Schicksal bereits vorausgedeutet. Dem scheiternden Schöpfer an die Seite gestellt als Mutter, Gattin und Modell, wird Christine zur kopflosen poupée classique zerstückelt und ihr Fleisch bis zuletzt ausdrücklich enggeführt werden mit einer nature morte. Il l’employait pour tout, la faisait se déshabiller à chaque minute, pour un bras, pour un pied, pour le moindre détail dont il avait besoin. C’était un métier où il la ravalait, un emploi de mannequin vivant, qu’il plantait là et qu’il copiait, comme il aurait copié la cruche ou le chaudron d’une nature morte. (Œ 240)

Hatte die Komposition des Stilllebens Augustes im Ventre de Paris dem Werksbegriff des Akademismus entsprochen, der Claude im peindre un peu proprement eine vom Schöpfungsgedanken beseelte Alternative entgegenstellt, strebt der absolut gesetzte naturalistische Anspruch im gleich zweifach aufgerufenen Paradigma des Kopierens als schon im klassischen Begriffsumfang buchstäbliche Abschrift dem Fetisch zu, der die Frau wie Krug und Kessel abbildet als tatsächliches Stillleben. Claude verweigert sich dem Gesetz des Akademismus, findet en plein air aber auch kein Heil. Er lebt vom Kommissionsgeschäft des Malgras, der ihn auf narrativer Ebene ermuntert, doch gefälliger zu malen, während er ihn im Text mit Tradition und buchstäblicher Heilsgeschichte geradezu belagert. Écoutez donc Lantier, j’ai besoin d’un homard… Hein? vous me devez bien ça, après m’avoir étrillé… Je vous apporterai le homard ; vous m’en ferez une nature morte, et vous le garderez pour la peine, vous le mangerez avec des amis… Entendu, n’est-ce pas? ». […] Qu’est-ce qu’ils seraient devenus, les sacrés fainéants, si le père Malgras, de temps à autre, ne leur avait pas apporté un beau gigot, une barbue bien fraîche, ou un homard avec son bouquet de persil? (Œ 56)

Zurück am ersten Morgen soll Claude als Auftragsarbeit einen Hummer malen. Dabei verweist sein Gegenstand auf den Schlager der niederländischen Stillleben ebenso wie auf das Emblem des die Weltkugel auf seinem Rücken rück-

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wärts fortbewegenden Hummers unter dem Motto „sic orbis iter“: Der Schuss geht buchstäblich nach hinten los. Gleich zwei allegorische Vanitaskomplexe verflachend wird der Hummer zur Gefälligkeit und eröffnet rückwärtsgewandt den Abgrund des Idealismus, gegen den Zamparelli den Künstler sich mit aller Macht anstemmen lässt: Das Gemalte tritt als Stillleben, als totes Bild an die Stelle des lebendigen Originals, das Claude als Lohn für die literale Tot-Machung behalten soll. Das Leben wird zum Preis des Todes. Besondere Brisanz gewinnt dies in dem Moment, da „père“ (Œ 56) Malgras als Priester Claude und die Dreifaltigkeit seines cénacles, dessen „trois inséparables“ (Œ 35) er, wenn auch scherzhaft, so doch zu „sacrés fainéants“ (Œ 56) macht, im Imperativ der Einsetzungsworte – mangez – dazu auffordert, am Leib des für ein Bild Getöteten teilzuhaben. (ebd.) Die dem Bild des Hummers zur Seite gestellte Lammkeule mag diesen Verdacht ebenso erhärten wie der Butt (ebd.), den Zola bereits im Ventre unter dem Zeichen der vulnus Christi zeigt. Die symbolische Teilhabe an Leib und Blut Christi, die schon in der „gloutonnerie du réveillon“ (VP 801) fragwürdig erscheint, im Stillleben der als Anbetung der Hostie gestalteten Metzgereiauslage jedoch allegorisch gerettet werden kann, bricht zusammen. Die Eucharistie verkehrt sich, wenn nicht Christus mit seinem Opfer für die Gnade bürgt, sondern kurzschlüssig verbuchstäblicht die Mahlzeit für ein Bild. Das Stillleben wird zur paulinischen ministrario mortis. (2 Kor 3,7) Nimmt man die Intensität, in der Émile Zola seiner Hauptfigur Züge Paul Cézannes einschreibt und der Robert Niess nicht weniger als eine Monographie anmisst, Zamparelli folgend jenseits der Versuchung l’Œuvre zum autobiographischen Schlüsselroman zu verkürzen als intermedialen Einfluss ernst, erweisen sich zwei Stillleben des Jugendfreunds Zolas um 1865 als überraschend fruchtbare Illustrationen dieser heillosen Eucharistie. Im Jahr, da Zola die Romanhandlung einsetzen lässt, dem Jahr, in dem Lantier wie Cézanne am Salon scheitern, um daraufhin Paris zu verlassen, während Zola im Salon von ’66 sein Debüt als Kritiker dem Abgelehnten widmen wird39, drängen sich zwei Bilder geradezu auf. Die nature morte mit Lammkeule und Brot40 vermag bei aller gespachtelten Kühne und unvermischten Farbigkeit auf dunklem Untergrund die unausweichliche Überblendung etwa mit Zurbaráns Darstellung eines männlichen Lamms mit gebundenen Beinen nicht verhindern, das hier als rohes Fleisch und hartes Brot das corpus Christi inkarniert. Hatte Claude in seinem chef-d’œuvre Fleisch und Wurst zum Leib Christi geformt, wird dieser in Cézannes gigot d’agneau als Metzgerware nun zerstückelt, ohne Decke, ohne Teller, 39 Émile Zola, „À mon ami Paul Cézanne“, Paris, 20. Mai 1866, Vorwort zu Mon salon (1866), zitiert nach ders., Mes haines. Causeries littéraires et artistiques, Paris: Charpentier 1879, S. 257. 40 Paul Cézanne, Pain et gigot d’agneau (um 1865), Öl auf Leinwand, Zürich: Kunsthaus.

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auf dem nackten Holztisch. Während das eucharistische Brot als Echo der Einsetzungsworte zur Seite gedrängt von der hinteren Tischkante zu stürzen droht, erscheint die Lammkeule als konsequenteste Übertretung der Verwahrung gegen das crurifragium nur noch als Nahrungsmittel. Als abgelehnte Saloneingabe datiert die doppelt so große und ungleich feinere nature morte mit Brot und Eiern41 in den gleichen Zeitraum. Wiederum auf dunklem Grund, diesmal drapiert auf einem hellen Tuch, findet sich auf demselben Tisch in Brot, Eiern und Kelch das eucharistische Inventar des Christusopfers ebenso wie das der Auferstehung. Allein die Konstruktion wirkt instabil. Nicht nur liegt das Tuch als Fundament und Unterlage der Komposition den traditionellen Bildaufbau zugleich zitierend und durchkreuzend wie der zur Seite geschlagene drap der schlafenden Christine in dicken, knitterigen Falten. Der eucharistische Kelch droht, windschief auf dem dicken Stoff, den Fuß halb unter das Brot geklemmt, jeden Moment umzustürzen. Auch die Eier liegen so nahe an der Tischkannte, dass man das Unausweichliche bereits vor Augen hat. Die Zwiebeln schließlich mögen an die holländischen Tulpenbilder noch ebenso erinnern wie an das christliche Bild des aus dem Tod sprießenden neuen Lebens. Vor allem aber zeugen sie im späten 19. Jahrhundert nicht erst seit Ibsens berühmter Zwiebelszene in Peer Gynt von einer christlichen Kosmologie, die sich bei genauerer Untersuchung als halt- und kernlos in nichts aufzulösen droht. Stabil steht jenseits der wackeligen Draperie allein die Milchkanne, die fern jeder allegorischen Vereinnahmung für sich steht und wie die als Modell und Mutter scheiternde Christine darauf wartet kopiert zu werden: als nature morte, als cruche oder chaudron. In Abwesenheit des sie belebendes Geistes gerät das für den Salon obligatorische Material der fehlgehenden Allegorie als reine Konstruktion in Schieflage, droht buchstäblich zu kippen wie die Badende des Mahoudeau. « J’aurai mon homard, n’est-ce pas? Lantier… Merci bien. » De nouveau, il restait planté devant l’ébauche de la grande toile, avec son souffre d’admiration railleuse. Et il partit enfin, en répétant : — « En voilà une machine! » Claude voulut reprendre encore sa palette et ses brosses. Mais ses jambes fléchissaient, ses bras retombaient, engourdis comme liés à son corps par une force supérieure. Dans le grand silence morne qui s’était fait, après l’éclat de la dispute, il chancelait, aveuglé, égaré, devant son œuvre informe. Alors, il bégaya : « Ah! je ne peux plus, je ne peux plus… Ce cochon m’a achevé! » Sept heures venaient de sonner au coucou, il avait travaillé là huit longues heures, sans manger autre chose qu’une croûte. (Œ 56)

Mit der Versicherung, sein Stillleben zu bekommen, ist Claudes Weg in die Katastrophe bereitet. Hatten sich in vergoldetem Fleisch, Seidenhaut und Rokokoton 41 Paul Cézanne, Le Pain et les œufs (1865), Öl auf Leinwand, Cincinnati: Art Museum.

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der Rosenbrust bereits Zweifel an seiner Schöpfungskraft angemeldet, bringt es Malgras beim Gehen auf den Punkt, wenn ihm ein kurzer Blick auf die begonnene Studie genügt, um im halb scherzhaft, halb anerkennend dahingesagten „voilà une machine!“ (ebd.) die Künstlichkeit dieses Naturalismus zu entlarven, der nur die Unmittelbarkeit akzeptiert und das Wort beim Buchstaben nehmend nichts hervorbringt als toten Stoff. Das im Eigentlichkeitsanspruch implizit mit ausgesprochene Abbildungsverbot, das einen gelingenden Naturalismus in der bildenden Kunst strukturell unmöglich macht, zeigt sich in physiologischen Ausfallerscheinungen. Die allgemeine Schöpfungskrise wird sublimiert im Erbfehler Claudes, der wieder „aveuglé“ (ebd.) den Pinsel vor dem unförmigen Werk sinken lässt. Als die Kuckucksuhr schließlich sieben Uhr schlägt und Claudes Bemühung um die Bäuche von Paris im Bild einer heillosen Josefsehe durchkreuzt, hat er außer einem trockenen Kanten Brot, der seine metaphysische Dimension verloren hat, nichts im Magen.

Der Ursprung der Welt Im Bild der aufgedeckten Frau drängt sich eine Geschichte auf, die schon für sich ein Roman ist. Tatsächlich scheint die Skizze der schlafend alles von sich streckenden Frau, die Bluse, découvrant la gorge, geöffnet und nach oben geschoben, der Kopf aus dem Rahmen gekippt und das Geschlecht offenbar, auf ein Vorbild zu referieren, das ebenfalls im engen Zeitfenster des Romanauftakts entsteht, um unter Verschluss zu bleiben. Seine öffentliche Ausstellung hätte den Skandal um Édouard Manets Olympia im Salon 1865 wohl zur Randnotiz gemacht. 1866 als Auftragsarbeit für den osmanischen Diplomaten, Kunstsammler, Spieler, Frauenhelden Khalil-Bey in Auftrag gegeben wird Courbets Origine du monde42 anders als Ingres Bain turc nicht stolz vorgezeigt, sondern wie Nana hinter dem judas der Klosterzelle irgendwo zwischen Peep-show und Allerheiligstem versteckt hinter einem Vorhang. Zwei Jahre später geht das Bild in den Besitz Antoines de La Narde über und verschwindet gut verschlossen hinter einer Schneelandschaft mit dem château de Blonay, ebenfalls von Courbet. Als Edmond de Goncourt das Bild am 29. Juni 1889 zu Gesicht bekommt, ist es zu spät, um über seinen Bericht als Vorlage für Claudes Zeichnung gedient zu haben. Ob Zola das Bild tatsächlich vor Augen hatte, erscheint allerdings zweitrangig vor dem Hintergrund, dass sein Gegenstand wie bei jedem erfolgreichen Mysterium ein offenes Geheimnis war, wie die geradezu exemplarische Komödie im Journal belegt. So weiß der unter einem Vorwand in die La Narde’sche 42 Gustave Courbet, L’Origine du monde (1866), Öl auf Leinwand, Paris: Musée d’Orsay.

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Antiquitätenhandlung gelockte und angesichts dessen Geheimniskrämerei zunächst sichtlich genervte Goncourt, als dieser mit der im Journal zitierten Frage „Connaissez-vous cela?“ die Abdeckung vom Bild nimmt, auf die er zwar nicht als château, sondern als Dorfkirche im Schnee, doch immerhin im gleichen Register referiert, auch wenn er es bis dahin nie vor Augen hatte, sehr wohl sogleich, dass es sich um „le tableau peint par Courbet pour Khalil-Bey“43 handeln muss. Gerade wegen des verglichen mit Salonstücken wie Cabanels Venus unvergleichlich kleineren Publikums, das in den recht intimen Genuss des „con rose…“44 gekommen sein mag, der den bald Siebzigjährigen so sehr erhitzt, dass der sein Urteil über Courbet zu revidieren anstrengt, um ihm angesichts dieses Bauchs ein Inkarnat schön wie „la chair d’un Corrège“45 zu attestieren, spukt die Idee dieses so unerhörten Bildes nur umso lebhafter durch die Pariser Männerwelt. So legen nicht allein die zeitliche Nähe und Parallelen in der Komposition eine Beeinflussung auch Zolas nahe, und sei es vermittelt über Bildbeschreibungen. Philippe Hamon und Alexandrine Vibouds identifizieren in ihrer großen Einleitung zum Dictionnaire thématique du roman de moeurs en France 1814–1914 das Genregrenzen auflösende, egalitäre Nebeneinander der Themen in der Darstellung als großes Gemeinsames der Theoretiker des „réalisme-naturalisme“46 und koppeln als Beispiel der sich daraus ergebenden Symmetrien und Widersprüche nicht unbedacht Courbets Origine du monde und Zolas La Joie de vivre als Schilderungen des weiblichen Geschlechts „en gros plan“47 mit Manets Spargelbund und den Auslagen des Ventre. Das Stillleben wird zum Jüngsten Gericht, die Pute zum mystischen Akt, so wie der Frauenakt zum Schlachtstück wird. Schließlich lässt Zola im siebten Kapitel seinen Spokesman Sandoz alle Zweifel daran ausräumen, dass Courbets offenstes Geheimnis und seine Geschichte als vom Ventre über Nana und La Joie de vivre bis in L’Œuvre hinein gespannter Bogen den Rougon-Macquart als Subtext eingeschrieben ist. Tout se trouvait jeté dans le baquet aux injures: son étude nouvelle de l’homme physiologique, le rôle tout-puissant rendu aux milieux, la vaste nature éternellement en création, la vie enfin, la vie totale, universelle, qui va d’un bout de l’animalité à l’autre, sans haut ni-bas, sans beauté ni laideur; et les audaces de langage, la conviction que tout doit se dire, qu’il y a des mots abominables nécessaires comme des fers rouges, qu’une langue

43 Goncourt, Journal, Bd. 3, S. 287. 44 ebd. 45 ebd. 46 Philippe Hamon/Alexandrine Vibouds (Hg.), Dictionnaire thématique du roman de moeurs en France. 1814–1914, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2008, S. 13. 47 Hamon/ Vibouds, Dictionnaire thématique du roman de moeurs en France, S. 13.

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sort enrichie de ces bains de force; et surtout l’acte sexuel, l’origine et l’achèvement continu du monde, tiré de la honte où on le cache, remis dans sa gloire, sous le soleil. (Œ 190)

Wie aus dem Lehrbuch des Naturalismus, das Zola mit dem roman expérimental sechs Jahre zuvor 1880 praktischerweise selbst vorgelegt hat, lässt er Sandoz ein Loblied auf den homme naturel anstimmen, der den homme métaphysique endlich ersetzt. Die grenzenlose Schöpfung, deren Heillosigkeit Lazare in La Joie de vivre als unendliches Leiden vor allem Anlass zur Verzweiflung gab, wird zum höchsten Ziel der Kunst, deren „mots d’ordre symétriques et contradictoires“48 das Hohe und das Niedere, das Alltägliche und das Unaussprechliche egalitär nebeneinanderstellen. Schließlich legt Sandoz den Finger in die Wunde des Naturalismus, den Ursprung allen Werdens, den sexuellen Akt, dem er Courbets Akt im erweiterten Zitat wörtlich einschreibt und die Origine du monde aus der Schande, in der man sie bisher versteckt, ans Tageslicht zerrt. Dabei wird der schon im Wesen des Zitats liegende Eindruck der Mittelbarkeit noch weiter verstärkt durch die Tatsache, dass hier scheinbar weniger Courbets Akt als das im Mysterienkult darum entstandene diskursive Bild vom Bild zitiert wird. Die Krönung des Naturalismus wird schon in seinem Manifest durchkreuzt, wenn der Ursprung der Welt en plein air plötzlich wie die eucharistische Pute des Ventre mit dem Begriff der gloire geadelt dem weiblichen Geschlecht die vulnus Christi wiedereinschreibt. Tatsächlich ist der augustinische Dualismus von nativitas zum Tode inter faeces et urinam und in Blut und Wasser des neuen Testaments zum Leben zu keinem Zeitpunkt überwunden. Im Ventre de Paris, den Besse als „roman de la chasteté“ von Claude „qui aux chairs réelles des femmes préfère la chair des mous de bœuf“ über „madame Francçois veuve discrète et sans corps chaste“ und die Quenu, die „tout occupés à fabriquer le boudin“49 statt sich das Geld vermehren, bis hin zur Hauptfigur, Florent, der von Frauen so viel versteht wie von der Revolution, in allen Registern von einer tötenden Keuschheit sterilisiert zeigt, erscheint das weihnachtliche Schlachtfest im Zeichen der Mandorla: belebt nicht von der Origine du monde, sondern dem Ursprung der Sakramente. Die Schande der natürlichen, von der Erbsünde gezeichneten Geburt bleibt verborgen. Stattdessen strahlt die Pute als inkarniertes corpus Christi mit der Sonne um die Wette. In Nana erscheint diese Epiphanie des Fleisches einzig und ausgerechnet à propos ihres Geschlechts marmorn und behauptet einen angesichts ihrer Geschichte ungeheuerlichen Jungfräulichkeitsanspruch, während der Erzähler in La Joie de vivre das erblühende Geschlecht Pauline Quenus ins grelle Licht von Naturalis-

48 ebd. 49 Besse, „Le feu aux graisses“, S. 37.

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mus und Vererbungslehre zerrt, nur um unter dem vivisektorischen Blick des Physiologen wie Michelet den cicatrices Stigmata, der Vulva die vulnus, dem Erbfehler die Erbsünde wiedereinzuschreiben. Dass Goncourt diesem Bauch 1889 wohlwollend das hochkanonische Inkarnat Correggios bescheinigt, während er im direkten Vergleich mit Manets gelbbäuchiger Olympia noch in der posthumen Werkschau 1884 kein gutes Wort für ihn erübrigt, mag nur ein Hinweis auf die Spannungen sein, die sich hier entladen. Die latente Auseinandersetzung mit Courbet schafft es in regelmäßiger Koppelung mit Delacroix bis in den expliziten Romantext, in dem Zola Claude und Sandoz nicht weniger als acht Mal auf Courbet zu sprechen kommen lassen wird, um im Selbstgespräch über die Kunst die Selbstzweifel auch des Literaten zu spiegeln. „Après ça […] ils ne sont que deux, Delacroix et Courbet. Le reste, c’est de la fripouille… “ (Œ 45), wird Claude die beiden vor Sandoz zunächst verteidigen, nur um den „fameux réalisme“, der „n’était guère que dans les sujets“ sogleich als zu kurz gesprungen zu entlarven: „la vision restait celle des vieux maîtres“ (ebd.). Dass Claude dem nichts entgegenzusetzen hat, referiert geradezu frappierend auf die bereits aufgezeigte Problematik des ceci tuera cela im Ventre de Paris, während Sandoz „à son tour“ (Œ 45) sich an den von Professoren imponierten Wahrheiten (Œ 46) und damit wohl nicht unmaßgeblich Zolas verpatztem Bakkalaureat abarbeitet. Die Weltordnung der unter „manuels de philosophie“ (ebd.) verborgenen Heiligen Schrift mag er als schwachsinnig erachtet haben: Sein Versuch, als Romancier eine neue zu errichten, die nur die Empirie als Quelle kennt (ebd.), bedient sich in der „arche immense“ (ebd.) bemerkenswerterweise schon im Manifest derselben Bilder und bleibt stets innerhalb der wohlbekannten typologischen Korrespondenz. „Ah! si je savais, si je savais, quelle série de bouquins je lancerais à la tête de la foule!“ (ebd.) In einer geradezu grotesken Verschränkung lässt Zola den jungen Sandoz auf die Heillosigkeit seines Unterfangens referieren, eingeschrieben in den tröstenden Gegenbeweis, den vierzehnten Band der Serie, der mit jeder neuen Zeile den scheeläugigen Irrealis des Projekts nur umso mehr im hilflosen Aktionismus eines Evangeliums der Arbeit zu kompensieren sucht. Claude bringt es auf den Punkt: „Maintenant, il faut autre chose… Ah! quoi? je ne sais pas au juste! Si je savais et si je pouvais, je serais très fort.“ (Œ 45) Wenn er wüsste, wenn er könnte, würde er, tatsächlich aber bleibt auch er in den alten Bildern hängen, erblickt an seinem ersten Morgen mit Christine im schlafenden Akt kaum mehr als ein besser ausgeleuchtetes Cliché von Courbets „ventre de femme au noir“50. Die femme sans tête bleibt auch als Folie von Courbets Origine du monde bestimmendes Motiv, deren naturalistische Richtigstellung ein ums andere Mal in 50 Goncourt, Journal, Bd. 3, S. 287.

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der Katastrophe endet. Der erste Versuch war vergoldet, seidenweich und zart gefirnisst im bleichen Rokokoton sanft entschlafen. Das nächste Mal wird die „machine“ schon geräuschvoller entgleisen. Tiens! là, sous le sein gauche, eh bien, c’est joli comme tout! Il y a des petites veines qui bleuissent, qui donnent à la peau une délicatesse de ton exquise… Et là, au renflement de la hanche, cette fossette où l’ombre se dore, un régal!… Et là, sous le modelé si gras du ventre, ce trait pur des aines, une pointe à peine de carmin dans de l’or pâle… Le ventre, moi, ça m’a toujours exalté. Je ne puis en voir un, sans vouloir manger le monde. C’est si beau à peindre, un vrai coucher de chair! (Œ 241)

Barbara Vinken weist den Bauch im Bild der „Sonne aus lebendigem Fleisch“ zugleich als Höhepunkt des Zola’schen Realismus und dessen „perfekteste Allegorie“51 aus. „Er ist der Ursprung, aus dem das Leben kommt. In ihm mischen sich im Fleisch der Frau und in der befruchtenden Sonne männliche und weibliche Zeugungsanteile. Er steht für Sexualität und Zeugungskraft, die hier vor aller Augen »en plein air« in ihrer ganzen Glorie erstrahlt.“52 Die Origine du monde wird von der Schande befreit und dans sa gloire unter die Sonne gestellt, die sie selbst inkarniert. „Die Frau, deren Bauch wie eine Sonne leuchtet, verkörpert so gleichzeitig allegorisch den belebenden Prozeß der Kunst, ihre Fähigkeit nämlich, Leben zu schaffen.“53 Auch Zolas Ventre von 1873 war, schon im Titel eine Allegorie, überfüllt mit verbuchstäblichter Uneigentlichkeit und hatte im Stillleben der Metzgereiauslage den scheelen Blick des Naturalismus als eucharistische Origine du monde vorgeführt. Nana macht den Zeugungsakt zum Anfang vom Ende und bleibt als Allegorie auf das Ende der Allegorie, als Ruine der Venus Cabanels letztlich doch in ihrem Rahmen. La Joie de vivre schließlich zeigt den Ursprung der Welt als Gegenentwurf zum Schlachtfest der natürlichen Geburt im mystischen Erlebnis der jungfräulichen Pauline, deren Menses im verbuchstäblichten sensus allegoricus zur hysterischen Stigma der Freude eskaliert. So weit nichts Neues also, doch im Sonnenbauch von L’Œuvre, der dem Gegenstand naturalistischen Erzählens seine Methode einschreibt, wird der Naturalismus selbst zur Allegorie. „Diese Kunst zeigt die Wahrheit, indem sie sich selbst zeigt. Sie ist ganz entgegen Zolas Selbstverständnis allegorisch.“54 „Nom de Dieu! si je ne fiche pas un chef-d’œuvre avec toi, il faut que je sois un cochon!“ (Œ 241), die beschließende Apostrophe weist den Weg. Wie schon das Meisterwerk des Ventre de Paris verkehrt auch dieser Bauch die naturalistische Agenda, selbst wenn man die Szene nicht auf die Ikonografie der visitatio 51 52 53 54

Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 606. ebd. ebd. ebd.

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und die zwischen Volksfrömmigkeit und Aberglauben oszillierende Anbetung des graviden Bauchs zurückbeugt. Marmoriert von einem feinen Aderngeflecht, das verdächtig an die crépine und mehr noch: an die chair marbrée der fetten Pute aus dem Ventre de Paris erinnert, findet Claude dieselbe hochkanonische Palette vor wie in seinem chefd’œuvre in der Metzgerei: Blau und Rosa, Rot und Gold. Wie an ihrem ersten Morgen zerteilt er Christine mit dem Blick des Metzgers und wird im dominanten Register des Fleischverzehrs noch deutlicher: In der „délicatesse“ bereits angedeutet wird sein Modell als „régal“ (Œ 241) zum Augenschmaus, zur buchstäblichen Labsal. Die chair jedoch wird nicht einfach zur viande, sondern verkehrt die das Stillleben belebende Allegorie. Die Seitenwunde als Tor, aus dem die kirchliche Gemeinschaft kommt, wird nicht so sehr zurechtgerückt zur Vulva, dem „con rose“ von Courbets Origine du monde, wie umgebildet zum Mund des Künstlers, der „le monde“ (Œ 241), eben diese Welt verschlingen möchte. Das Bild des Schöpfers, der sein eigenes Werk verschlingt, mag vor allem an den Saturn der paganen Kosmogonien erinnern, liegt den großen monotheistischen Religionen jedoch, wenn auch mittelbarer, ebenso zugrunde in den Strafexpeditionen Gottes vor dem Abrahamsbund, mit denen der eine Gott das ausgesprochene Schöpfungswort ein ums andere Mal zu widerrufen droht. Im Kurzschluss des Kannibalismus erscheint die Urkrise der Schöpfung, die schon im Mythos von Kronos und Rhea, Saturn und Ops – der Macrobius im opus wohl nicht zufällig das (Kunst-)Werk einschreibt55 – nur mittels der Metapher überwunden werden kann: Der junge Jupiter wird durch einen Stein ersetzt, Isaak durch einen Bock. (1.Mo 22,13) In der Unfähigkeit zur Übertragung kommt die buchstäbliche Schöpfung, die keine Uneigentlichkeit kennt, zum Stillstand noch bevor sie angefangen hat. Claudes Enthusiasmus ist eine falsche Freude, die auf dem ererbten Sehfehler beruht. Unfähig die wahre Origine du monde auszumachen erscheint der Bauch nur als Vorlage. Die Natur wird verschlungen um als nature morte verbuchstäblicht zu Kunst zu werden. Die nun gleichfalls schielende Handlung organisiert sich einmal mehr als Vexierbild zwischen s’entête und sans tête. Angesichts Claudes geradezu paulinischer ministratio mortis (2. Kor 3,7) doppelt der Erzähler die erwartbare Totgeburt des Werkes symptomatisch in der Handlung um den hydrozephalitischen Sohn, dessen schwellenden Kopf Sandoz von einer „gravité du mal“ (Œ 258) eingedenk der lateinischen graviditas und allenthalben attribuiert mit Adjektiven der grossesse buchstäblich als unheilschwanger erkennt. Im Bild der hysterischen Schwangerschaft Iupiters im Kopfe erkrankt Claudes natürliche Schöp55 Macrobius Ambrosius Theodosius, Saturnalia, I,10 19–21, in: ders., Opera II, hg. v. Ludwig von Jan, Quedlinburg und Leipzig: Bass 1852, S. 79.

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fung verschränkt mit den gemalten Frauenbäuchen buchstäblich an dem, woran sein Vater, entêté à la création (Œ 182), leidet. Der wasserköpfige Stammhalter erzählt das Schicksal Claudes auf literaler Ebene, wenn die der Christine eingeschriebene Perspektive ihrer doppelten Mutterschaft, auch für den mit epithetischer Zuverlässigkeit mehrfach im Wortlaut zugewiesenen „grand enfant d’artiste“ (u.a. Œ 166, 208, 247), in Jacques’ „tête trop grosse d’enfant du génie“ (Œ 266) zum Tode verbuchstäblicht wird. In dem Moment, da seine eigene Uneigentlichkeit am Vorabend der Katastrophe vor ihm zurechtgerückt im Literalsinn erscheint und den Vorhang der Rhetorik beiseiteschiebt, erblickt Claude die nature morte, mit der er sein Amt des Todes im Salon vollenden wird: C’est vrai, il est mort. (ebd.) Doch noch ist es nicht so weit. „C’est si beau à peindre, un vrai coucher de chair!“ (Œ 241) In der die Szene abschließenden Einlassung ist der Weg in die Katastrophe in drei Phasen nur vorgezeichnet. Der Sonnenbauch, in dem die Wohlgelungenheit der Schöpfung zugleich real und allegorisch inkarniert ist, wird „à peindre“ zur Pausvorlage für eine sekundäre Schöpfung, die nur den Literalsinn kennt und den Naturalismus dem Buchstaben nach zum Amt des Todes wendet. Als Sonnenuntergang im Fleische kehrt die gegen Hugo gerichtet mühevoll davonargumentierte Allegorie im Bild des „[aller] voir le soleil se coucher derrière des ruines“ (Œ 40) ungewollt zurück. Hier erstrahlt kein Bauch im Heiligenschein, keine Origine du monde im Sonnenlicht, sondern im fahlen, unbelebt dämmernden Rokoko-Inkarnat des ersten Morgens der „éclairage faux et superbe de cinquième acte“ (Œ 40), vor dem das Leben flieht: „Plein air, ça ne dit rien“ (Œ 47), die ganze Tragödie des Naturalismus. Claudes halb kämpferische, halb verzweifelte Forderung de faire autre chose wird zur resignierten Wiederaufnahme des „faire du moderne“, der großen Eröffnungen, die er Florent einst auf der Kohlfuhre, die die Welt bedeutet, machte. Schon im Ventre de Paris stand die stolze Fortschrittsbehauptung, ceci würde recht bald cela ersetzen, selbst schon als Hugozitat, auf einem wackeligen Fundament. Der versuchte Übertrag von Notre Dame ins Hallenviertel, Saint-Eustache in eine Wurstküche, Hugos in Zola, Romantik in Naturalismus und die christliche Soteriologie in einen revolutionären Heilsbegriff gestaltete sich mehrfach gebrochen als durchaus reziproker Prozess, in dessen sich ständig kreuzenden Perspektiven nicht mehr klar ist, wer was wann womit ersetzt hat. In L’Œuvre nun trägt nicht einmal mehr diese Behauptung. Claude steht da und hat außer höchst konjunktivischen Manifesten nichts in der Hand, wohl aber „ce sacré Delacroix dans l’œil. Et ça, tiens! cette main-là, c’est du Courbet.“ (Œ 47 f.) Der Erbfehler wird abermals zur Erbsünde, nun des Künstlers, der auch im noch so grellen Tageslicht vor einem Modell „baignée de lumière“ (Œ 19) nicht aus dem Schatten seiner Vorgänger zu treten vermag, der „peinture

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noire de Courbet“ in einem feuchten Atelier „où le soleil n’entre jamais… “ (Œ 45) „Nom d’un chien, c’est encore noir!“ (Œ 47) La nuit s’était faite, on n’apercevait plus la silhouette raidie de la mère, il semblait que le souffle rauque de l’enfant vînt des ténèbres, une détresse énorme et lointaine montant des rues. De tout l’atelier, tombé à un noir lugubre, la grande toile seule gardait une pâleur, un dernier reste de jour qui s’effaçait. On voyait, pareille à une vision agonisante, flotter la figure nue, mais sans forme précise, les jambes déjà évanouies, un bras mangé, n’ayant de net que la rondeur du ventre, dont la chair luisait, couleur de lune. (Œ 264)

Was dem Enthusiasmus Claudes bereits eingeschrieben ist, folgt wenig später explizit: Mit dem Sonnenuntergang des Fleisches senkt sich auch die Sonne des Naturalismus. Mit ihrem Untergang verwandelt sich das Atelier in Courbets Dunkelkammer. Der chef-d’œuvre verflüchtigt sich in einer gespenstischen Erscheinung. So leuchtet, als die Beine längst in Dunkelheit verschwunden sind, der kannibalische Kurzschluss nochmals auf, wenn der Augenschmaus, der Claude zum Anbeißen erschienen war, nun buchstäblich „mangé“, verschlungen wird. Im letzten Licht dieses coucher de chair, erscheint der Bauch als buchstäblicher Abglanz jener Origine du monde: als Mond. Das kosmologische Gleichnis von Glanz und Abglanz, eigentlich und mittelbar, doppelt sich im mythischen, welches der Leben spendenden, wärmenden Sonne das kalte, fahle Mondlicht gegenüberstellt und den Schöpfungsakt im Bild der Sichel buchstäblich kastriert. Das alles wäre, ausgewiesen auf das Feld der Malerei, für den literarischen Naturalismus noch nicht tragisch, dessen scheinbar glimpflicheres Schicksal in Sandoz als Zeuge und Stichwortgeber den Verzweiflungstaten Claudes stets entgegensteht. Allein der Moonlight-Naturalismus wird vom Erzähler in die Lamentationen des Literaten eingeflochten, denen er ausgerechnet hier nicht unerheblichen Platz einräumt: Erinnern die gigantischen Entwürfe einer „genèse de l’univers, en trois phases: la création, rétablie d’après la science; l’histoire de l’humanité […]; l’avenir, les êtres se succédant toujours, achevant de créer le monde, par le travail sans fin de la vie“ (Œ 46), die Zola Sandoz in der Formationsphase dessen erster Bände seiner Rougon-Macquart projektieren lässt, fast wörtlich an die scheiternden Ausdrucksversuche des Lazare, zeichnet Claude, der nicht minder Großes vorhat, in seiner Courbetkritik ein recht treffendes Bild des tatsächlichen Zola’schen Naturalismus. Die Genregrenzen sind aufgehoben, die Wahl des Sujets frei, der Blick aber, der eine Pute als corpus Christi, eine Kurtisane als Hure Babylon und die menstruierende Heranwachsende als Braut Christi ausmacht, ist getrübt von unzähligen Vorbildern, in deren kurzschlüssig verbuchstäblichten Ruinen Zolas naturalistisches Schauerkabinett weiter herumspukt. Die allegorisch aufgeladene Putenbrust in einem Roman, der als

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Bauch von Paris die Allegorie bereits im Titel trägt, wird zurechtgerückt in einem Werk, das anscheinend kein anderes Thema kennt als den scheiternden Versuch ein naturgetreues Bild der Bäuche von Paris zu zeichnen. Claudes Problem ist das Zolas. Nicht mehr aperçu dans une gloire, sondern wie die Sonne strahlend, deren Licht für den Naturalismus bürgt, verbuchstäblicht der Bauch hier bereits die nächste Allegorie, die in einem coucher de chair samt seiner Agenda in Dunkelheit verschwindet. Die Labsal, die, zur Völlerei auf Weihnachten umgebildet, im Ventre das Fruchtbarkeitsgebot allegorisch durch die Nahrungsaufnahme, den Sex im Fressen sublimiert, wird wie der eucharistische Hummer des père Malgras neuerlich kurzschlüssig umgebildet zur Schöpfung, die verschlingt, statt zu gebären. So erscheint auch Sandoz’ Œuvre überraschend deutlich als Umkehrung des œuvre de la chair, wenn die Erleichterung über die Vollendung explizit von der „jouissance du monsieur qui s’exalte dans l’adoration de son fruit“ (Œ 264) ausgenommen wird und als „juron du portefaix qui jette bas le fardeau dont il a l’échine cassée…“ als buchstäblicher Fluch des Sisyphos – „Puis, ça recommence; puis, ça recommencera toujours;“ (ebd.) – erdrückt vom zum Mehlsack gewordenen eucharistischen Brot zum Amt des Todes wird: „Ah! une vie, une seconde vie, qui me la donnera, pour que le travail me la vole et pour que j’en meure encore!“ (ebd.) Im verzweifelten Wunsch „ma dernière parole, mon dernier râle sera pour vouloir tout refaire…“ (ebd.) schließlich erscheint nichts anderes als Claudes kannibalische Kunstauffassung zur Krise des biblischen Schöpfers zivilisiert, der sein Werk zurücknimmt und von vorn beginnt. Der Fortschrittsgedanke des faire du moderne tappt als faire autre chose in die typologische Falle und gerät zur dauerhaften Schöpfungskrise. Die naturalistische Revolution frisst ihre Kinder. In einer Volte versucht der Erzähler, den Untergang abermals abzuwenden, wenn Claude „sous ce jour qui tombait“ der Sonnenuntergang des Fleisches der naturalistischen Agenda folgend, „tapé dans les yeux comme un coup de poing“ (Œ 265), zwischen die erblich vorbelasteten Augen treffen soll. In der nachgeschobenen „secousse au cœur“ jedoch schreibt der Erzähler seinem Protagonisten jedoch schon wieder eine schräge imitatio Christi ein. Und auch der angefressene Mondbauch erscheint verschränkt mit Sandoz’ Ausführungen vor allem aus der eigentlich unverstellten Sicht des Naturalisten. „Claude ne lui répondant pas, il crut l’entendre pleurer.“ (Œ 264) Vom Erzähler buchstäblich mutiliert und über ein Scheitern verzweifelt, das ihm erst vom reüssierenden Sandoz eingeredet – „Comment, fini!“ (Œ 258) – und dann explizit zugeschrieben werden muss, bevor es wahr wird, referiert die symptomatische Komposition der Szene mehr auf die Kurzschlüsse der Rougon-Macquart, denn auf die Tragödie Claudes, die zum bloßen Oberflächenphänomen einer tiefreichenden Krise des naturalistischen Romans zu werden scheint. Als Claude

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sich unter dem Druck von Sandoz-Zola gezwungen sieht unter Tränen vom Salon zurückzutreten, steht er im Dienst des tout refaire, des Literaten, der „refroidi devant les hypothèses trop hasardées“ einen „cadre plus resserré, plus humain“ (Œ 46) sucht und doch immer nur den einen Rahmen findet, in dem Lantier im unheilbaren Spalt zwischen Natur und Heil den Finger in die Wunde legt.

Vulnus/vulva Gelenkt von der naturalistischen Doktrin Zolas und unter den Gesetzen der Vererbungslehre macht Claude sich daran, umzusetzen, was Sandoz fordert und endet doch stets in kanonischen Bildern des (Un-)Heils. Am gnadenlosen Buchstaben hängend wird der „Quest for The Absolute in Art“ zum paulinischen Amt des Todes. In drei bemerkenswerten Anschlägen auf sein Œuvre wird der Roman es unternehmen die entgleiste Schöpfung zurechtzurücken, zurückzunehmen, um von Neuem zu beginnen, dreimal zurückfallen auf die Allegorie, in welcher der Naturalismus des Zola’schen Œuvres sich erschöpft. Wieder zurück am ersten Morgen darf Claudes Kunstwerk nicht bestehen. Nachdem Malgras, der ihm mit den Allegorien des Kunsthandwerkers und schrägen Bildern der Gnade die Augen verdorben und den naturalistischen Akt als machine entlarvt hat, ebenso abgezogen ist wie die Statisten der inseparablen Dreifaltigkeit Sandoz und Dubuche, bleibt Claude allein vor seinem Bild zurück. « […] Viens dîner. » Un moment, Claude refusa de se rendre. Il demeurait cloué au parquet, sourd à leurs voix amicales, farouche dans son entêtement. Que voulait-il faire, maintenant que ses doigts raidis lâchaient le pinceau? Il ne savait pas; mais il avait beau ne plus pouvoir, il était ravagé par un désir furieux de pouvoir encore, de créer quand même. Et, s’il ne faisait rien, il resterait au moins, il ne quitterait pas la place. Puis, il se décida, un tressaillement le traversa comme d’un grand sanglot. À pleine main, il avait pris un couteau à palette très large; et, d’un seul coup, lentement, profondément, il gratta la tête et la gorge de la femme. Ce fut un meurtre véritable, un écrasement: tout disparut dans une bouillie fangeuse. Alors, à côté du monsieur au veston vigoureux, parmi les verdures éclatantes où se jouaient les deux petites lutteuses si claires, il n’y eut plus, de cette femme nue, sans poitrine et sans tête, qu’un tronçon mutilé, qu’une tache vague de cadavre, une chair de rêve évaporée et morte. […] Et Claude […] s’enfuit de son œuvre, avec la souffrance abominable de la laisser ainsi, balafrée d’une plaie béante. (Œ 57)

Beim Gedanken an die cène bleibt er wie einst Florent vor den Spinatpasteten angenagelt stehen. Immer noch hungrig, weil den Gnadenlosen weder die Idee des eucharistischen Stilllebens, noch das Bild des Cézanne’schen Brotkanten er-

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reichen konnten, fällt dem Maler buchstäblich der Pinsel aus der Hand. Im Moment der Entmachtung, da ihm mit dem penicillus auch die Männlichkeit entgleitet, von einem wilden Schöpfungsdrang erfüllt, muss er etwas erschaffen und erschafft den Tod. Von Schauern überlaufen greift er statt zum Pinsel zum Messer. In der Impotenz erscheint das Instrument seiner Kastration. Mit einem Zug schabt er Kopf und Brust der Frau vom Bild, die ihm nicht gelingen will. Barbara Vinken liest die „Versuche, das nackte, weibliche Fleisch zu beleben“ als „Orgien der Zerstörung“56 und Claudes Frauen mit Freud als Fetisch in dem Sinne, dass in sie „die Verleugnung wie die Behauptung der Kastration Eingang gefunden haben“, wie der Wechsel vom Pinsel zum Messer deutlicher nicht demonstrieren kann. Der „fruchtbar leuchtende“57 jungfräuliche Sonnenbauch wird vom Künstler, der ihn nicht nur zum zweidimensionalen Bild verflacht, sondern ihm alsbald mit dem Messer zu Leibe rückt, widerrufen, während der Herr der Schöpfung nebenan im Grünen von all dem nichts zu ahnen vorgibt. Der entêtement wird kurzschlüssig zur femme sans tête. In der femme nue, sans poitrine et sans tête erscheint die Origine du monde tiré de la honte im Sonnenlicht des Déjeuner sur l’herbe als Leiche. Als albtraumhaft beschmutzter, geschändeter, geköpfter und verstümmelter Frauentorso: das Opfer eines Frauenmörders vor dem Claude, der Täter, flieht. Dabei bleibt dem Haufen toten Fleischs, den dieser aus dem Frauenbauch Courbets gemetzgert hat, im Bild der geköpften, verstümmelten, gerupften, ausgestopften und gespickten Pute im Strahlenkranz das corpus Christi eingeschrieben, in dessen Bild Claudes Knick in der Optik im Ventre de Paris begonnen hatte. Die Frau mag er bis auf die Leinwand aus seiner Schöpfung schaben, nicht aber den Heiligenschein, der ihm in der mandelförmigen Leerstelle aus dem nun stigmatisierten Bild nur umso deutlicher als verbuchstäblichte Seitenwunde entgegenlacht. Im Moment seiner Auslöschung wird der sensus allegoricus der Heilsgeschichte im naturalistischen Roman buchstäblich manifest. Als er sich bereits im Gehen noch einmal nach dem tableau wendet, ist die Origine du monde entrückt zum Ursprung der Sakramente. Der nächste Anschlag vollzieht sich auf dem Höhepunkt der Pygmalionhandlung im Atelier des Mahoudeau. Ausgerechnet an Claudes Hochzeitstag, der den gemeinsamen Sohn würdigen und das Verhältnis des Malers zu seinem geliebten Modell in der bürgerlichen Ehe sanktionieren soll, zeigt dieser ihm seine erste aufrechtstehende Plastik und stellt damit dem natürlichen Paar Christine und Claude, verbunden durch den eingeborenen Sohn einen anderen Schöpfungsentwurf entgegen. Erst bei genauerer Betrachtung wird die Ver56 Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 618. 57 Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 619.

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schränkung offenbar, die in die Katastrophe führt. Ausgangspunkt der unheilvollen Belebung ist wieder Claudes Strabismus. Während er die eigene Frau als Modell am langen Arm verhungern, als stets frierendes Modell erkalten lässt, ist es seine Anwesenheit, die den Bildhauer, der mit seiner tiefgefrorenen Badenden einem „fameux salon“, vielleicht sogar einer Medaille entgegenblickt (Œ 223), nötigt den Ofen anzuschmeißen und seinem Kunstwerk tödliches Leben einzuhauchen. So wird die machine nicht unter den Händen des Künstlers, sondern vielmehr in Claudes Augen zum Leben erweckt. „Ta machine avance?“ (Œ 222) wird Claude fragen, nur um die Antwort mit der Zuverlässigkeit des vierzehnten Teils einer Reihe gnadenlos verbuchstäblicht, und sei es als Halluzination, vor Augen geführt zu bekommen. À ce moment, Claude, les yeux sur le ventre, crut avoir une hallucination. La Baigneuse bougeait, le ventre avait frémi d’une onde légère, la hanche gauche s’était tendue encore, comme si la jambe droite allait se frémi d’une onde légère, la hanche gauche s’était tendue encore, comme si la jambe droite allait se mettre en marche. […] Peu à peu, la statue s’animait tout entière. Les reins roulaient, la gorge se gonflait dans un grand soupir, entre les bras desserrés. Et, brusquement, la tête s’inclina, les cuisses fléchirent, elle tombait d’une chute vivante, avec l’angoisse effarée, l’élan de douleur d’une femme qui se jette. (Œ 224)

Wieder ist es der Bauch, der dem Künstler in die Augen fährt. Hatte derselbe Sehfehler Christine an ihrem ersten Morgen baignée de lumière wie eine Statue, wie tot, „que pas une onde ne passait sur sa nudité pure“ (Œ 19) erscheinen lassen, ist er es nun, der den weißen Gipsbauch der Baigneuse in Mahoudeaus Gruft unter zarten Wellen zum Leben erweckt. Der Bildhauer steht seiner Disziplin als „le plus noble des arts, le plus viril, oui! mais l’art dont on crevait le plus sûrement de faim“ (Œ 222) bei aller Attitüde recht pragmatisch gegenüber. „Depuis huit jours, sans un sou“ (Œ 221) mag er vielleicht an seiner Kunst verhungern, auf die Idee die Schöpfung zu verschlingen, kommt er nicht. Wie bereits Sandoz scheint nun auch Mahoudeau das biblische Format verlassen zu haben. Die kolossale Vendageuse „l’ancien succès du Salon“ (Œ 221) bleibt außen vor, schlicht aus dem Grund, dass sie mit ihrer Sendung, der Erneuerung der Eucharistie in einem Evangelium der Arbeit, nicht durch die enge Pforte passt. Claude jedoch erscheint das Gipsmodell im Vorgarten „pareille à un tas de gravats déchargés d’un tombereau“ (ebd.) achtlos der Verwitterung überlassen „rongée, lamentable, le visage creusé par les grandes larmes noires de la pluie“ (ebd.) schon von Weitem als naturalisierte Pietà. So erblickt er in Mahoudeaus „caveau tragique“ (Œ 221) als zusammengezogenes Baudelairezitat inmitten der dem Spleen verbunden erst halb fertiggestellten und schon wieder halb zerstörten Kunstwerke, für die der Künstler in eucharistischer An-

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maßung sein Blut gegeben hat (Œ 221) die buchstäbliche Manifestation seines „triste cerveau“ als „pyramide, un immense caveau“58, das, „malgré le peu de place, tomb[é] ensuite à une horreur grotesque de choses mortes“ (Œ 221) zum Stillleben als Massengrab wird. Mahoudeaus Badende steht dem entgegen. Süß, mild und elegant (Œ 223) scheint sie in den „cadre plus resserré“ (Œ 46) zu passen, den Sandoz vergeblich sucht: um den Preis eines „dégonflement de l’ambition“ (Œ 223), der nicht nur den „gorges géantes der Vendageuse“, sondern auch der durchbohrten – percer – „nature vraie“ (ebd.) buchstäblich die Luft herauslässt. So ist es vor allem die handwerkliche Ausführung des Werks, das sich nun endlich lohnen soll, über die der Künstler redet und dessen Temperament er sich trotz erkennbarer Bemühung um Gefälligkeit von Claude attestiert wissen möchte. Der jedoch schreibt der Statue ein falsches Leben ein und die Baigneuse erwacht. In einer Bewegung, die Barbara Vinken der halluzinatorischen Folie als surreal59 zuschreibt, setzt die unbelebte Badende an zum Schritt, sprengt das aus Besenstielen (Œ 222) gezimmerte Gerüst, fällt aber statt zum Leben zu erwachen nur buchstäblich aus dem Rahmen. Et elle sembla lui tomber au cou, il la reçut dans son étreinte, serra les bras sur cette grande nudité vierge, qui s’animait comme sous le premier éveil de la chair. Il y entra, la gorge amoureuse s’aplatit contre son épaule, les cuisses vinrent battre les siennes, tandis que la tête, détachée, roulait par terre. La secousse fut si rude qu’il se trouva emporté, culbuté jusqu’au mur; et, sans lâcher ce tronçon de femme, il demeura étourdi, gisant près d’elle. […] Ses sanglots redoublaient, une lamentation d’agonie, une douleur hurlante d’amant devant le cadavre mutilé de ses tendresses. De ses mains égarées, il en touchait les membres, épars autour de lui, la tête, le torse, les bras qui s’étaient rompus; mais surtout la gorge défoncée, ce sein aplati, comme opéré d’un mal affreux, le suffoquait, le faisait revenir toujours là, sondant la plaie, cherchant la fente par laquelle la vie s’en était allée; et ses larmes sanglantes ruisselaient, tachaient de rouge les blessures. (Œ 224 f.)

Kaum in Bewegung stürzt die Statue mit krachenden Knochen dem entsetzten Künstler, der ihr, um diese heillose Belebung aufzuhalten, entgegeneilt, in einer tötenden Liebkosung in die Arme. Das Erwachen dieses Fleisches ist gleichzeitig sein Tod. „Bougre! tu vas te faire écraser!“ Claudes Apostrophe, verkehrt im Bild des Werks, das den Schöpfer auslöscht, den Pygmalionmythos, verschränkt die Szene jedoch im gleichen Maße mit seinem ersten Angriff auf ein Bild, in dem er es ist, der den écrasement herbeiführt. Überraschend kommen beide Bewegungen zum selben Ziel: Am Ende wird wieder eine entgleiste Origine du monde stehen. Barbara Vinken stellt das erotische Register in der nudité 58 Baudelaire, „Spleen“, V. 6. 59 Barbara Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 611.

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vierge, der gorge amoureuse, nicht zuletzt den aneinandergedrückten Oberkörpern und zusammenschlagenden Schenkel klar heraus, mit dem die beiden schließlich in einer so rüden secousse in der Horizontalen landen, dass Claude „le croyait mort“ (Œ 224), im kleinen Tod den großen zu erkennen meint, der „um Haares Breite tödlich literal“60 wird. Auf kurzen Spaß folgt lange Klage. Fast möchte man der Szene doch noch etwas zynischen Realismus zugebilligt haben, wenn der Bildhauer zerschmettert von seinem unverhofft belebten Kunstwerk, sich an dieser Dame überhoben hat und nun wohl endlich ruiniert ist. Allein der Spuk ist nicht vorüber. Die Statue, die während ihres Sturzes nun schon fast erwartbar ihren Kopf verliert, liegt weniger zerbrochen als verstümmelt wie der erste Akt als cadavre mutilé zerstückelt in den Einzelteilen um ihn herum, die Claude auch am Stück nur wie ein Metzger gewürdigt hätte. Als Mahoudeau schließlich den Torso in die Hand nimmt und in der zerschlagenen Kinderbrust der Badenden „comme opéré d’un mal affreux“, wenn auch überzeichnet, dieselbe kalte Künstlichkeit gewahrt wie Claude in der Rokokobrust seiner im Licht badenden Christine als Modell für das Bild, dem als Manets Frühstück im Grünen der ursprüngliche Titel Le bain eingeschrieben bleibt, suchen seine Finger unweigerlich die „fente par laquelle la vie s’en était allée“. Die fente, im Rahmen der natürlichen Geburt der Joie de vivre, drastischstes Bild für das weibliche Geschlecht, wird am zerbrochenen Torso zur verkehrten Seitenwunde, aus der das Leben nicht kommt, sondern durch die es in Blut und Tränen der Passion verschwindet. Hatte sich Claudes erster Anschlag, wenn auch im intermedialen Spannungsfeld zu Manet, im Rahmen einer letztlich unangetasteten zweidimensionalen Projektion der Wirklichkeit vollzogen, ist der zweite bereits plastisch. Als raumgreifende Figur dringt die schräge Origine du monde buchstäblich ausschreitend nicht nur in den fiktionalen Raum des Mahoudeau’schen Ateliers ein, sondern als halluzinatorische Realität in die Romanwirklichkeit aus Claudes Perspektive. Bis zuletzt scheint die in seinem Strabismus angelegte Doppelung sich kreuzender Perspektiven in der sich zuspitzenden Rivalität von ceci und cela, Bild und Abbild, Christine und der Frau, Origine du monde und vulnus Christi, Leben und Stillleben wirklich etwas vom Surrealismus der Femme 100 têtes Max Ernsts anzunehmen. Gleichzeitig manifestiert sich mit Claudes Innenleben der bislang in der Hauptfigur latent verhandelte Konflikt zwischen Naturalismus und Heilsgeschichte explizit an der Romanoberfläche und macht das intradiegetische Problem, das Sandoz-Zola bis zuletzt von sich zu weisen sucht, in Lantiers Konstruktion als am Buchstaben scheiternder Imitator Christi zu dem des Erzählers. 60 Barbara Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 612.

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Ah! cet effort de création dans l’œuvre d’art, cet effort de sang et de larmes dont il agonisait, pour créer de la chair, souffler de la vie! Toujours en bataille avec le réel, et toujours vaincu, la lutte contre l’Ange! Il se brisait à cette besogne impossible de faire tenir toute la nature sur une toile, épuisé à la longue dans les perpétuelles douleurs qui tendaient ses muscles, sans qu’il pût jamais accoucher de son génie. (Œ 245)

Den Urschrei des Sterbenden apostrophisch vorangestellt entrollt sich der künstlerische Akt als hochkanonischer Todeskampf Christi in Blut und Tränen, in welchen sich der Schöpfer für die Schöpfung hingibt, die chair als Leib und Brot einsetzt, dem Werk sein Leben einhaucht und darüber den Geist aufgibt. (Joh 19,30; Mt 27,50; Lk 22,46; Mk 16,37) Johannes kann die unerhörten Ereignisse um Jesu Tod in der Gleichgültigkeit von sensus litteralis und allegoricus, Eigentlichem und Mittelbarem vereinen: wissend, „auf dass ihr gläubet“ (Joh 19,35). Im Moment, da Longinus mit der Eröffnung der Seite des Gekreuzigten wie später Thomas die Geschichte darauf festlegen will, ob dieser nun Gott ist oder Mensch war, erkennt er unter Blut und Wasser der Sakramente aus der tödlichen Wunde als Pforte des Lebens in welchen er gestochen hat (Joh 19,37) „ut Scriptura impleretur“ (Joh 19,36). Die Perspektive ist widerspruchslos gedoppelt, zeigt Christus zugleich ganz menschlich und göttlich, unter dem Buchstaben der Schrift und als Zeichen größter Gnade. Das Erscheinen Christi um die Menschen seiner Gnade zu versühnen wird Claude, der die gekreuzten Perspektiven wörtlich zum Strabismus macht, zum ständigen Kampf gegen den Engel, in dem er fast zwangsläufig unterliegt. Nicht haltlos weist Judith Cousins die Versuche Cézannes den Primat der Perspektive hinter sich zu lassen als initiatives Moment für die Entstehung des Kubismus unter Braque und Picasso aus.61 Beide sind, als der Roman entsteht, bereits geboren, ihre grundlegende Neuinterpretation des Blicks jedoch noch so fern, dass Claude an der Undenkbarkeit der polyvalenten Perspektive buchstäblich am cadre resserré Sandoz zerbricht. Dass das Vorbild, Paul Cézanne, an dem Zola sein Problem gerne als Scheitern des bildenden Künstlers abgearbeitet gesehen hätte, die Figur schmerzhaft gut kannte, ist gut belegt. Dass er sie und ihren Schöpfer überlebt und in den Grandes Baigneuses um 1906 – Zola ist noch nicht einmal im Panthéon – ausgerechnet in dem Sujet, an dem Zola Claude scheitern ließ, mit trotziger Beharrlichkeit das Werk vorlegt, das mit Kahnweiler62 und CarstenPeter Warncke63 geradewegs auf Picassos Demoiselles d’Avignon von 1907 zu-

61 Judith Cousins, „Vergleichende biographische Chronologie Picasso und Braque“, in: William Rubin, Picasso und Braque. Die Geburt des Kubismus, München: Prestel 1990, S. 343–345. 62 Daniel-Henry Kahnweiler, Junge Kunst. André Derain, Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1920, S. 7. 63 Carsten-Peter Warncke, Pablo Picasso 1881–1973, Köln: Taschen 1991, Bd. 1, S. 143–145.

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strebt und damit den Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung ankündigt, den Zola ihm bis zuletzt verwehrt hatte, erscheint als kaum beachtetes Paradebeispiel reziproker Intermedialität. Anders als Cézanne jedoch hat der Erzähler hier den Paragone längst hinter sich gelassen, ist ganz mit sich und seinem Werk beschäftigt. Hinter der Abrechnung mit der Malerei scheint immer deutlicher das eigene Problem hervor, vor dem er nun das Werk an sich zur Disposition stellt. In der Unmöglichkeit ein All, toute la nature, im eng begrenzten Rahmen abzubilden – das Problem, das Zamparelli vielleicht nicht zufällig als zentral im Umgang mit dem Roman benennt – fallen Idee und Umsetzung im Widerstreit von Geist und Körper unrettbar auseinander. Unter dem Zentralbegriff der Joie de vivre erscheint Claudes Verzweiflung an der Schöpfung im Bild der Schwellung ohne Abfluss als Symptom der Hysterie: Wie sein Sohn gezeichnet von der Schwangerschaft im Kopf, wohlwissend dass ein Axthieb auf die Stirn im naturalistischen Literalsinn ungleich weniger glimpflich enden würde, führt die in ihrer Unmöglichkeit nun buchstäblich aufgerufene Kopfgeburt, l’accouchement de son génie, gnadenlos in die Katastrophe. Hatte sich die Hysterie Paulines in La Joie de vivre immer wieder in kruden Zurechtrückungsversuchen durch Anleihen an die weibliche Physiologie blutflüssig Linderung zu schaffen erhofft, fällt diese Option für den Herrn der Schöpfung aus. Einmal wieder im Begriff der Kopfgeburt „la figure de femme, une fois de plus, allait être finie.“ (Œ 246) Doch will schon keiner mehr daran glauben, dass mit diesem letzten Bild Claudes Geschichte noch zu einem guten Ende kommt. Christine ahnt die „catastrophe, si elle bougeait un doigt“ (ebd.) und das Unheil lässt nicht lange auf sich warten. Et, en effet, il eut brusquement un cri de douleur, il jura dans un éclat de tonnerre. « Ah! nom de Dieu de nom de Dieu! » Il avait jeté sa poignée de brosses du haut de l’échelle. Puis, aveuglé de rage, d’un coup de poing terrible, il creva la toile. Christine tendait ses mains tremblantes. « Mon ami, mon ami… » Mais, quand elle eut couvert ses épaules d’un peignoir, et qu’elle se fût approchée, elle éprouva au cœur une joie aiguë, un grand élancement de rancune satisfaite. Le poing avait tapé en plein dans la gorge de l’autre, un trou béant se creusait là. Enfin, elle était donc tuée! (Œ 246)

Bereits vor dem ersten Bild wie festgenagelt wächst sich die Schöpfungskrise Claudes zur veritablen Passion aus und zeigt die stets auf die Seitenwunde zurückstürzende Origine du monde in der Darstellungsweise, wie sie dem Naturalismus im biblischen Literalsinn einzig würdig wird. Wieder den Urschrei Christi am Kreuz zitierend wächst sich der Ausdruck seiner Gottverlassenheit, das „Eli! Eli!“ (Mt 27,46; Mk 15,34) zum Fluch auf die Schöpfung aus, mit welchem der Gescheiterte, wieder aveuglé, eingedenk dieser Doppelsichtigkeit wütend seine

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Werkzeuge vom Gerüst herunterschleudert und sich damit selbst kastriert. Mit einem fürchterlichen Gewaltakt gegen sein Werk durchbohrt Claude mit einem Faustschlag die Leinwand, eröffnet auf der Brust der Frauenfigur buchstäblich die vulnus Christi und macht das zweidimensionale Problem Claudes mit der unerhörten Vermischung von Gott und Welt zur Feuerprobe auch des literarischen Naturalismus. Claude wird zu Longin und eröffnet die Seite des Gekreuzigten, aus der Augustinus die Kirche hervortreten lässt. Ausgerechnet im Moment, da der naturalistische Erzähler seinen Finger in die Wunde legt, versagt der Literalsinn. Die Spaltung seiner Stirn mag Claude (noch) nicht leisten, stattdessen wendet er sich kurzschlüssig gegen das Werk, wenn er sein Gebrechen als verbuchstäblichtes Herz Jesu auf die Wurzel zurückbeugt, die Zola und Michelet ihm zuschreiben und der Hysterie nach ihrer Logik im Moment der Linderung erst eine Bühne gibt. Der Gewaltakt wird der schrägen Marienfigur Christine zur Gnade, die gegen jeden Naturalismus eine joie aiguë im Herzen fühlt. Die Wiederkehr des mutilierten sensus allegoricus vollzieht sich buchstäblich im Bild einer Metapher als Übertragung, wenn ihr die Eröffnung der Leinwand in geradezu klischeehafter compassio wie bereits Pauline Quenu zum spitzen Freudenstich im Herzen wird. Dieser nimmt, wie um es deutlicher zu machen, als „grand élancement“ das Werkzeug des johanneischen Longin buchstäblich in den Text hinein. Im Bild der Lanze kehrt die Punktation, der Aderlass, die Menses aus dem medizinisch-physiologischen Register zurück unter das Licht der Gnade. Der in La Joie de vivre mühevoll naturgemäß zurechtgerückte Herz-JesuKult wird vollumfänglich rehabilitiert, wenn die Erleichterung angesichts des Siegs über den Tod zum petit mort wird, die Penetration des schwellenden stigmatisierten Herzens zur wahrhaftigen Befriedigung. Immobile, saisi de son meurtre, Claude regardait cette poitrine ouverte sur le vide. Un immense chagrin lui venait de la blessure, par où le sang de son œuvre lui semblait couler. Était-ce possible? était-ce lui qui avait assassiné ainsi ce qu’il aimait le plus au monde? Sa colère tombait à une stupeur, il se mit à promener ses doigts sur la toile, tirant les bords de la déchirure, comme s’il avait voulu rapprocher les lèvres d’une plaie. Il étranglait, il bégayait, éperdu d’une douleur douce, infinie : « Elle est crevée.., elle est crevée… » (Œ 246 f.)

Als könne er es nicht fassen starrt der Täter ungläubig auf sein Werk, auf die gähnende Wunde der eröffneten Brust, aus der nun wörtlich Blut und Wasser herauszugehen scheinen. Die naturalistische Mordtat wird zur größten Gnade – und zum tödlichen Hieb gegen den Naturalismus. Die bemerkenswerte Selbstbefragung nach der bloßen Möglichkeit einer solchen Ungeheuerlichkeit erscheint als geradezu zwingender Kommentar auf die römischen Soldaten zu Jesu Kreuzes Füßen, die nun endlich verwundert einsehen, dass der Durchsto-

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chene Gottes Sohn gewesen war. Vom Erzähler hoffnungslos im cadre resserré des Literalsinns eingesperrt wird Claude zum ungläubigen Thomas, wenn er den Finger in die Seitenwunde legt, um zu verstehen, was er vor sich hat. „Videbunt in quem transfixerunt“: sie werden sehen, in welchen sie gestochen haben. (Joh. 19,37) Nicht nur ermordet, sondern aufgeplatzt erscheint in den lèvres nochmals die Origine du monde, wenn Schamlippen und Seitenwunde, vulnus und vulva als zwei Seiten der femme sans tête endgültig verschwimmen. Als Claude sich sogleich daran macht, den Riss zu schließen, „guérir le mal“ (Œ 247), bleibt sein Werk gezeichnet von einer „mince cicatrice“ (ebd.) über dem Herzen, die Pouchets Entdeckung der vernarbten Eierstöcke als Erbsünde dem von Hysterie gezeichneten schwellenden Herzen Jesu wieder zuschlägt: „Als Stigma indelebile der stattgehabten Verdrängung bleibt auch die Entfremdung gegen das wirkliche weibliche Genitale, die man bei keinem Fetischisten vermißt.“64 Geradezu unheimlich präzise eilt Claude Freuds Analysen des Fetischismus als Patient avant la lettre voraus. Im buchstäblichen Stigma, das weder Claude noch der Roman zu tilgen in der Lage sind, erscheint das ganze Werk unter Symptomen einer fetischistischen Verrückung. Der Naturalismus krankt an jener Hysterie, die auszutreiben sein höchstes Ziel war. „Dans ce déséquilibrement qui s’aggravait, Claude en arrivait à une sorte de superstition, à une croyance dévote aux procédés.“ (Œ 247) Nicht zufällig schließt sich an diese Szene die letzte Promenade an, bevor Claude mit seiner Kunst endgültig untergeht. Der Vorwurf einer Art Aberglauben wird unmittelbar zurechtgerückt zur regelrechten croyance, einer aufrichtigen Frömmigkeit, in der sich am Buchstaben des Prozederes hängend nichts weniger zeigt als der römische Ritus. So sagt er im Wechsel vom Öl zum Benzin als Lösungsmittel der alten Malerei so sehr den Kampf an, wie er seine neue assonant in die Nähe des Weihrauchs bringt. Das Öl der alten Meister mag er verwerfen, nicht jedoch das Messer, „le vrai couteau de Delacroix“ (ebd.) mit dem er seine Hintergründe vordergründig „comme Courbet“ (ebd.) spachtelt, in ihm als Werkzeug der Verstümmelung, jedoch gleichzeitig Zolas Arbeitsweise offenbart, die im Naturalismus allenthalben neue Stigmata eröffnet. „[I]l se permettait toutes sortes de pratiques mystérieuses“ (ebd.), die Malerei wird wieder zum Mysterium, dessen Offenbarungen nun aber monatlich wechseln. „Il avait des secrets à lui qu’il cachait“, glaubt aber „chaque mois“ einen anderen Schlüssel zur „bonne peinture“ (ebd.) entdeckt zu haben. Bald ist das katholische Räucherwerk in Bernsteinlösungen und Harzen, „des solutions d’ambre, du copal liquide, d’autres résines“ (ebd.) tatsächlich ebenso prä64 Sigmund Freud, Fetischismus, in: ders., Studienausgabe, Bd. 3, Frankfurt/Main: Fischer 1982, S. 379–388, hier S. 385.

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sent wie das Gesetz des alten Bundes, dem Claude „de droite à gauche“ (ebd.) malend, bis hinein in die Leserichtung des Tanach folgt. Das Bild wird Text: „Ainsi, la science entrait dans la peinture.“ (Œ 248) Une méthode était créée pour l’observation logique, il n’y avait qu’à prendre la dominante d’un tableau, à en établir la complémentaire ou la similaire, pour arriver d’une façon expérimentale aux variations qui se produisent[.] (Œ 248)

In einer bemerkenswerten Verschränkung von Mystik und Wissenschaft projiziert das Werk eine Wirklichkeit, die weniger naturalistisch als halluzinatorisch erscheint. Claudes ererbter Sehfehler soll von der Wissenschaft geheilt werden und führt geradewegs in eine von der Erbsünde gezeichnete Genetik, die als Gipfel des von Science, Truth and Nature beseelten Naturalismus in einem „renversement de toutes les habitudes de l’œil“ (ebd.) gipfelt, das „des chairs violâtres“ (ebd.) im gleichen Ton zeigt, in dem die rive droite schon im Eingangstableau zwischen Heiligkeit und Halbwelt oszillierte. Unter den republikanischen „cieux tricolores“, die die wissenschaftliche Methode fordert, scheint vor allem anderen die „folie […] au bout“. (ebd.) Mit seinen violetten Bäuchen, die alsbald absonderliche Gnadenrosen zeitigen werden, ist Claude auf dem besten Wege in die abermaligen Revolten und Revolutionen der Wahrnehmung, die mit Fauvismus, Symbolismus, Expressionismus oder Surrealismus die Skandale des 20. Jahrhunderts bereits ahnen lassen. Im gleichen Maße jedoch transformiert er seine Methode in die des Romans und bringt den literarischen Naturalismus in Bedrängnis, wenn die vorgestellte observierende Farbenlehre „d’une façon expérimentale“ (ebd.) in ihrer streng logisch und damit gnadenlos operierenden Eigentlichkeit als Kommentar auf Zolas roman expérimental erscheint. Als expérience „qui produit artificiellement des faits d’où l’on induit une loi certaine et nécessaire,“65 wie Gustave Lanson den Zola’schen Naturalismus zuspitzt. Ses romans sont des poèmes, de lourds et grossiers poèmes. Les descriptions sont intenses, éclatantes, écrasantes, et tournent en visions hallucinatoires: l’œil de M. Zola, ou sa plume, déforme et agrandit tous les objets. C’est un rêve monstrueux de la vie qu’il nous offre : ce n’en est pas la réalité simplement transcrite. Sa fantaisie effrénée anime toutes les formes inertes; Paris, une mine, un grand magasin, une locomotive, deviennent des êtres effrayants qui veulent, qui menacent, qui dévorent, qui souffrent; tout cela dans devant nos yeux comme dans un cauchemar.66

65 Gustave Lanson, Histoire de la Littérature française, Paris: Hachette 1920, S. 1079. 66 Lanson, Histoire de la Littérature française, S. 1080.

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Weniger als Literaturwissenschaftler denn als Zeitzeuge diagnostiziert Lanson keine zehn Jahre nach L’Œuvre Zola bis hinein in den deformierenden und damit jede Objektivität vernichtenden Sehfehler dieselben Halluzinationen, die jener Claude eingeschrieben hatte. Im Versuch einer objektiv transkribierten Realität wird der Naturalismus zum Albtraum, der mit „expressions symboliques“ geradezu überfüllte Roman zur „vaste allégorie, où plus ou moins confusément se déchiffre quelque conception philosophique, scientifique ou sociale[.]“67 So übernimmt Sandoz letztlich den Strabismus Claudes, wenn er den Freund nach dessen finaler Schlappe im Salon – im selben halluzinatorischen Register wie jener die Badende des Mahoudeau – von einer „cassure irréparable“ (Œ 308) gezeichnet sieht. In der „plaie où la vie coulait, invisible“ (ebd.) macht er nichts anderes aus als jener: die Origine du monde, verbuchstäblicht im Bild der vulnus Christi, gedoppelt als literales Stigma und mystische Rose auf dem Totenacker des Naturalismus, vor der sich Claude angesichts dieses Verrats an Zolas Heilsversprechen aufknüpft.

67 ebd.

Ein Totenacker Anders als im Ende des Ventre de Paris ist Claude nun nicht mehr Kommentator, sondern Kommentierter. Mit seinem Judasschicksal und der Zerstörung des Bildes, das ihn in den Abgrund geführt hat, verbleibt in Sandoz jedoch die andere Seite einer Medaille, die es allein nicht geben kann. So steht am Ende der Künstlertragödie in der Sackgasse eines fetischistischen Symbolismus, da Claude sich vor dem als Rose erblühten Geschlecht, Vera ikon der femme sans tête, wie die spokeswoman der Joie de vivre, Véronique, in letzter Minute aus der Verantwortung stiehlt, als eigentlich tragischer Held der gnadenlos verharrende Sandoz. Ausgerechnet dem so deutlich wie nie als spokesman Markierten wird nun der Fehler eingeschrieben, den der Erzähler so weit wie möglich von sich weisen möchte. Barbara Vinken identifiziert in der von Markern des Fetischismus übergehenden Schilderung des letzten Œuvres vor allem ein bildgewaltiges Ablenkungsmanöver, vor dem der literarische Naturalismus ex negativo als eigentlichste Kunst nur umso deutlicher hervortreten soll. Mit der Vernichtung Claudes und seines Bildes jedoch ist nicht etwa der Fehler beiseitegeschoben, sondern lediglich der Vorhang vor dem naturalistischen Kurzschluss, der nun offen im Text zutage tritt: Das Unvermögen des Erzählers die Rhetorik des Heils hinter sich zu lassen, das mit jedem Versuch der Tilgung und Verstümmelung, mit jedem écrasement, jedem Messerzug nur umso deutlicher hervortritt und Freuds Fetischismusbegriff avant la lettre folgt. Im Moment da der bloßgestellte Fetischismus Claudes, die Rosenbrust, die Haut von Seide, das goldglänzende Fleisch, der Sonnenbauch, behängt mit Edelsteinen und erblüht in einer rosa mystica, vom Naturalisten den Flammen übergeben wird, tritt der eigentliche Fetisch des Romans und der Rougon-Macquart unverstellt ans Licht. Bereits der Stammbaum der Rougon-Macquart war, als Reaktion auf Vorwürfe der Beliebigkeit der Reihe entgegen ursprünglicher Pläne überstürzt der Page d’Amour beigefügt, als von außen erzwungenes Resümee zum Baum der Erkenntnis geworden: nicht vor allem von Gut und Böse, jedoch einer in der Vererbungslehre verbuchstäblichten Erbsünde, die als vaste allégorie die Rougon-Macquart zusammenhält. Dass Beliebigkeit als andere Seite der Eigentlichkeit, die wertneutrale Abbildung des zu untersuchenden Gegenstands, für den Naturalisten als Vertreter einer positiven Wissenschaft streng genommen auch ein Kompliment hätte sein könnte, geht im nervösen Bedeutsamkeitskomplex des Literaten unter. Der rettet sich, um auch die zwölf Bände „encore en chantier“ (PA 799) noch erfolgreich zu verkaufen, unter allen Eigentlichkeitsbeteuerungen, die der Naturalismus kennt und mit dem freundlich gemeinten Hinweis, die Parallelen zum Positivismus der physiologischen Literatur und der

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Vererbungslehre des Prosper Lucas doch selbst zu suchen (PA 800), unter den Schöpferlogos. Als „ma force et mon régulateur“ (PA 799) soll der „plan“ (ebd.) als Versuchsanordnung erscheinen, die „sans me permettre d’aller ni à droite ni à gauche“ (ebd.) die „grandes lignes“ (ebd.) vorgibt, entlang derer die Reihe als expérience Erkenntnis schafft. Im Bild des „cadre que je me suis imposé“ (PA 799) jedoch, den sich Zola seit 1868 zu füllen anschickt, mag man bereits Sandoz’ von der Realität kompromittierten „cadre plus resserré“ (Œ 46) vorausgedeutet sehen, der passend macht, was aus dem Rahmen fällt und die große naturalistische Ambition gesellschaftsverträglich ökonomisierbar auf Linie bringt. Schließlich versteigt sich Zola so weit, im arbre généalogique, der buchstäblich vor allem steht, „avant que j’eusse écrit une sule ligne“ (PA 799, meine Hervorhebung), dem doppelsichtigen Werk das doppelte Emblem des Heilsplans zwischen lignum scientiae und lignum crucis voranzustellen. Die „épisodes“ (ebd.) – und nicht expériences, denn seine „conclusions sont toutes prêtes“ (ebd.) und warten nur auf typologische Erfüllung – organisieren sich als „vaste ensemble“1 im dem Buchstaben nach falsch verstandenen Bild der gallisierten linea des auf dem Kamin von Medan in Stein gehauenen Gebots, das Lanson nun mit allem Recht als uneigentlich, täuschend, allegorisch anerkennt: „C’est de la science en trompe-l’œil.“2 Sechs Bände später nun wird dieses strukturale Schielen im Strabismus des Malers selbst zum Thema und L’Œuvre zu einer Retrospektive, die den Naturalismus als Fetisch seiner selbst schon fast erkannt hat. „Der Fetisch ist als Ersatz für das Ding an sich konzipiert. Er lebt von der Opposition Ersatz/nicht Ersatz, Fetisch/nicht Fetisch und damit von der Vorstellung, daß es den Fetisch nicht zu geben bräuchte, träte an seiner Stelle das Ding an sich in Erscheinung“ paraphrasiert Barbara Vinken Derridas Gedanken zum savoir absolu als Antwort auf Zamparellis Frage nach dem Absoluten in der Kunst. Im Moment, da der Fetisch vernichtet ist, muss Zolas Naturalismus liefern oder untergehen. Im Versuch Claudes wie Zeuxis’ seine Trauben so naturgetreu zu malen, dass Vögel daran fressen möchten, gerät Zola mit Sandoz in die Rolle seines legendären Widersachers Parrhasios, der zwar obsiegt, doch statt der Wirklichkeit nur einen Vorhang malt. Die Kunst ist kein Spiegel, „sondern ein Schleier vor der Natur.“3 In den von Zola absolut gesetzten Oppositionspaaren „fetischistisch/ nicht fetischistisch“, „Ersatz/Ding an sich“, „Trug/Wahrheit“, „Rhetorik/ Ei1 a.a.O., S. 1079. 2 ebd. 3 Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 615; vgl. Charles Bemheimer, „Fetishism and Decadence. Salome’s Severed Head“, in: E. Apter/W. Pietz (Hg.), Fetishism as Cultural Discourse, Ithaca: Cornell University Press 1993, S. 62–83.

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gentlichkeit“ erscheint Vinken die naturalistische Methode letztendlich als Fetischismus par excellence. Als mit dem Tode Claudes die Schutzbehauptung ausfällt, mit der Zola das Scheitern stets aus sich hinaus und in ein anderes Verweisen konnte, liegt seine Agenda durch die Augen seiner Spiegelfigur Sandoz und damit nahezu ungedeckt von Zugeständnissen an die Fiktionalität ausgebreitet auf einem symptomatischen „grand cimetière plat, jeune encore, tiré au cordeau dans ce terrain vide[.]“ (Œ 356) Der große, neue Friedhof vor den Toren der Stadt hat in seiner orthogonalen Aufgeräumtheit nichts mehr von den innerstädtischen Kirchhöfen, die den Pariser Untergrund schleichend vergifteten. „On était dans le cimetière nouveau, aligné, numéroté, le cimetière des capitales démocratiques“ (ebd.). Doch vermag sich auch dieser Vorstoß der modernen Stadtplanung, die Einrichtung eines republikanisch-egalitären Friedhofs außerhalb der Stadt, nicht ohne Weiteres gegen die traditionsschwere, katholische Vergangenheit durchzusetzen. „Sur ces loyers de cinq ans, les familles épuisaient leur culte: c’était un entassement, un épanouissement que le récent jour des Morts venait d’étaler dans son neuf.“ (Œ 357) Der neuen Form wird die alte wiedereingeschrieben. Mit Allerseelen kehrt auch auf diesem laizistischen Friedhof das Totenzeremoniell zurück und feiert jedes Jahr an dem Tag Auferstehung, da der unselige Ludwig XVI. sich daran machte Paris vom Spuk des cimetière des Innocents zu befreien. Seules, les fleurs naturelles, entre leurs collerettes de papier, s’étaient fanées déjà. Quelques couronnes d’immortelles jaunes éclataient comme de l’or fraîchement ciselé. Mais il n’y avait que les perles, un ruissellement de perles cachant les inscriptions, recouvrant les pierres et les entourages, des perles en cœurs, en festons, en médaillons, des perles qui encadraient des sujets sous verre; des pensées, des mains enlacées, des nœuds de satin, jusqu’à des photographies de femme, de jaunes photographies de faubourg, de pauvres visages laids et touchants, avec leur sourire gauche. (Œ 357)

Der Naturalismus wird zum allegorischen Totenacker. In Bergen von industriell verkitschtem Grabaufwand sind die natürlichen Blüten längst welk, als sich in den Restbeständen der Romantik, im ziselierten Gold der Immortellen, einer wahren Flut aus Perlen und Samtschleifchen nun in Sandoz’ Augen die fetischistische Trias des ersten Morgens von L’Œuvre wiederholt als nature morte und in Fotografien scheel lächelnder Vorstadtmadonnen das Bild Christines im ungesunden Gelb der Olympia verbuchstäblicht. Hatte Mitterand zum Abschluss seiner Studie den Blick auf L’Œuvre zu öffnen versucht als einer „confession indirecte de Zola sur les motivations et les fins profondes de son travail, l’image condensée qu’il prend de sa propre carrière au grand tournant de la maturité“ (Œ 1397), so werden die „révélations qu’il livre plus ou moins volontaire-

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ment sur ses mythes intérieurs“ (ebd.) auf dem nicht länger umfriedeten Hof im grauen Tageslicht nun offensichtlich. Mais son mal n’était pas en lui seulement, il a été la victime d’une époque… Oui, notre génération a trempé jusqu’au ventre dans le romantisme, et nous en sommes restés imprégnés quand même, et nous avons eu beau nous débarbouiller, prendre des bains de réalité violente, la tache s’entête, toutes les lessives du monde n’en ôteront pas l’odeur. (Œ 357)

Bereits 1885 nimmt Sandoz-Zola Lansons finalen Schlag gegen den Naturalisten, „M. Zola est avant tout un Romantique. Il me fait penser à V. Hugo.“4 vorweg und tritt um den Preis des Naturalismus, den Lanson besser als epischen Realismus5 bezeichnet wissen möchte, die Nachkommenschaft Victor Hugos an, in die er sich spätestens seit dem Ébauche des Ventre de Paris einzuschreiben bemüht. Claude wie Sandoz, wie Zola Orphelins du Romantisme6, waten buchstäblich bis zum Bauch, dem Bauch von Paris, dem Frauenbauch der Origine du monde in unbewältigter Heilsgeschichte, in der sie, um im Bild zu bleiben, umso tiefer versinken, je nervöser sie sich zu entfernen trachten. Der Fortschrittsimperativ des faire du moderne wird schnell zum Gestrampel eines hilflosen faire autre chose und begräbt seine Protagonisten in unzähligen halb verdauten, verstümmelten, verkleideten Allegorien auf dem Totenacker des Naturalismus unter Perlen, die Sandoz, da Claude sich der Verantwortung entzogen hat, bald bis zum Halse stehen. Im Moment, da der Erzähler ihn die Unzulänglichkeit seiner Generation begreifen lässt, tritt ein gefährlicher Reflex auf, wenn der ausgefallene Trost in Gottes Gnade kurzschlüssig mit einem falschen sensus anagogicus substituiert wird. Das eschatologische Heil am Ende aller Tage wird aus infinitesimaler Ferne zurückgeholt im Fortschrittsglauben verbuchstäblicht: C’est une faillite du siècle, le pessimisme tord les entrailles, le mysticisme embrume les cervelles[.] […] Seulement, il me semble que cette convulsion dernière du vieil effarement religieux était à prévoir. Nous ne sommes pas une fin, mais une transition, un commencement d’autre chose… Cela me calme, cela me fait du bien, de croire que nous marchons à la raison et à la solidité de la science… (Œ 360)

Dass dem Ausbruch des Paradieses auf Erden ein epischer Endkampf vorauszugehen hat, scheint in dieser Logik angesichts der ungeheuerlichen Entgleisungen des Heils im 20. Jahrhundert so zwingend wie beunruhigend. Zunächst als Konflikt zwischen Wissenschaft und Mystik stilisiert stellt ihn Sandoz dem Geist der Reihe folgend im Register der Physiologie als Austreibung des Catholique

4 Lanson, Histoire de la Littérature française, s. 1080. 5 ebd. 6 Henri Mitterand, Zola, S. 151.

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hystérique vor. Die Claude als Herz-Jesu-Katholizismus in den Kopf gefahrene Origine du monde, die ihm die Sicht vernebelt und ihn letztlich das Leben kostet, wird anatomisch zurechtgerückt in den Krämpfen der Menses abgeführt. Allein, das Bild hält nicht, die croyance kehrt zurück, wenn Sandoz Claudes verzweifeltes Ringen um Erneuerung zum „commencement d’autre chose“ auf der tabula rasa umbildet und mit kriegerischer Metaphorik im Marsch auf die Vernunft sein Heil zu finden glaubt. In diese Töne mischt sich nun schon fast erwartbar weiteres Material der protofaschistischen Diskurse des späten 19. Jahrhunderts, die eine kurzschlüssig verbuchstäblichte Naherwartung eint. „Non, il n’a pas été l’homme de la formule qu’il apportait“ (Œ 359) wird Zola Sandoz des toten Freunds recht kühl gedenken lassen und steht doch mit dem literarischen Naturalismus ebenfalls im Schach. Statt jedoch das Problem der tatsächlich vor allem Manifeste produzierenden neuen Strömungen ernstzunehmen, wird die Verantwortung verschoben: „l’homme nécessaire n’est pas né?… Bah! l’homme naîtra, rien ne se perd, il faut bien que la lumière soit.“ (ebd.) Statt der solidité de la science soll es im Zeichen der Arbeit, aber mit dem Wortlaut des initialen Schöpfungsimperativs der Übermensch richten. Die ambivalente Rolle des Lichts als Metapher einer „mächtigen Wahrheit“, auf die Hans Blumenberg samt ihrer Gefahren hingewiesen hat7, scheint für den Naturalismus von besonderer Bedeutung. So zeichnet sie im Weg des lichtbesessenen Freiluftmalers, der die Origine du monde aus Courbets Dunkelkammer heraus ans Tageslicht zerrt, wo sie als „vrai coucher de chair“ nun selbst zur Sonne wird, nur um am Buchstaben der Wissenschaft seziert in violetten Inkarnaten letztlich zur mystisch-halluzinatorischen Erscheinung der femme sans tête in der Exposition zurückzukehren, auch den Weg des literarischen Naturalismus nach: L’Œuvre ist auf allen Ebenen in erster Linie eine œuvre de la mort und entwirft ein Bild des Naturalismus, der in der bildenden Kunst ununterschieden von der Literatur zu keinem Zeitpunkt aus dem Schatten der paulinischen Kritik am Gesetz des Alten Bundes tritt. Claudes Weg in die idolatrische Verehrung eines Bildes, an dessen Ende er sich vor der zum goldenen Kalb umgebildeten Frau erhängt, wird gedoppelt in Sandoz’ Fetischismus der Eigentlichkeit, der nicht erkennt, dass er im Ruf nach Licht, que la lumière soit, den biblischen sensus allegoricus nicht tilgt, sondern verbuchstäblicht. Nervös lässt Zola Bongrand dem revolutionären Sandoz entgegenhalten, dass mehr Licht vielleicht auch nicht die beste Lösung sei und nimmt in seiner Antwort die Blumenberg’sche Problematik im Kreuzungspunkt von Wahrheit, Licht und Wissen in Kürzestform vorweg: „Qui sait? Pas toujours!“ (Œ 359) Hatte Sandoz den mal 7 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, s. 14–22.

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du siècle auf die noch nicht vollständige Überwindung der alten Ordnung zurückgeführt, in deren Restbeständen seine Generation noch bis zum Bauch stehend watet, benennt Bongrand mit bemerkenswerter Klarheit, was hier wirklich faul ist, beugt den republikanischen Friedhof zurück auf die unvollständige Verdauung in deren Bild diese Studie ihren Ausgang nimmt und liefert gleichermaßen ihr Ergebnis: Ah! oui, l’air de l’époque est mauvais, cette fin de siècle encombrée de démolitions, aux monuments éventrés, aux terrains retournés cent fois, qui tous exhalent une puanteur de mort! (Œ 359)

Der Naturalismus kehrt auf den Friedhof zurück, auf dem er éventré im Ventre de Paris begonnen hatte. Seit dem Paukenschlag der Revolution ist die Geschichte Frankreichs Hunderte Male umgegraben, jeder Pariser Pflasterstein, jedes geschriebene Wort versetzt und umgeweiht, jedes Monument – ob Hugos Notre-Dame oder Zolas Saint-Eustache, Panthéon oder Madeleine – auf den Kopf gestellt und so den nächsten überlassen worden. Der Leichengeruch des fin du siècle, der den Fortschritt stets umweht, mag zweifelsfrei von diesen halbverdauten Restbeständen rühren und ist doch vor allem direkte Folge einer Arbeit am Tode, in der Zola das Überkommene dem Buchstaben nach seziert und ausweidet, den Totenacker umpflügt und die jüngste Revolution, das jüngste Manifest unter die Erde bringt, die ihrer Ruhe beraubt nicht erst am jüngsten Tag, sondern nach Ablauf der fünfjährigen Grabpacht buchstäblich als leichenfeuchte Särge auf qualmenden Scheiterhaufen zum Himmel stinken. (Œ 358) Vor diesem Hintergrund erscheint die sich anschließende markiert extern fokalisierte Wiederaufnahme des Berichts durch den Erzähler geradezu allgemeingültig als Basissatz für den Roman, als Bild der Reihe und bitteres Fazit über den Naturalismus: [L]e peintre montra du regard à l’écrivain un carré de sépultures que longeait le cortège. (Œ 360)

Nicht Bongrand, sondern der Maler zeigt nicht Sandoz, nicht Zola, sondern dem Schriftsteller durch seinen Blick den „carré“, der „long, d’une certaine étendue, qui s’allonge au ras du trottoir de la route“ (FR 5) in seiner Konstruktion an jene aire Saint-Mittre erinnert, den aufgelassenen Friedhof der Fortune des Rougon, auf dem Zolas Baum der Erkenntnis wurzelt und an dem der Trauerzug der Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire vorüberzieht. Und mehr noch: Sandoz trägt den „vieux Claude“ (Œ 361) des Ventre „en face du cimetière des tout petits“ auf einem Kinderfriedhof zu Grabe, der für jeden Spross des Stammbaums – les conclusions sont toutes prêtes – bereits den Platz

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kennt und der als zurechtgerückter cimetière der Heiligen des bethlehemitischen Kindermordes nur zu deutlich auf den Kirchhof referiert, auf welchem diese Studie im Ventre de Paris begonnen hatte. Den überspannten Selbstverwirklichungsversuchen Lazares in La Joie de vivre hat Sandoz zwar einen Rahmen geben können, jedoch um den Preis der Aufgabe des Absolutheitsanspruchs in einer protofaschistisch verbuchstäblichten Heilserwartung. Paulines hysterische Marienmystik ist als anatomisch zurechtgerückte Erbsünde unverstellt ans Tageslicht getreten, nur um unter der Sonne von Claude als Fetisch der Eigentlichkeit entlarvt, isoliert und von Sandoz wieder unter die Erde gebracht zu werden auf einem Friedhof, der wie Nana als Allegorie auf das Ende der Allegorie bestimmt von unverdauten Restbeständen letztlich allegorisch bleibt. Um den Ringschluss zu verhindern lässt der Erzähler mitten hinein ins Totenamt das vielleicht wirkmächtigste Symbol des Fortschritts platzen. Ein letztes Mal geht der Versuch nach hinten los: Die Lokomotive mag „juste audessus de la cérémonie“ (Œ 361) den Wortlaut der Totenlitanei zwar übertönen, kommt bei allem Ungestüm aber nur vor- und zurückrangierend trotzdem nicht vom Fleck und übersetzt lediglich die gemurmelte Sequenz des Pfaffen in der „voix énorme“ als „sifflet guttural, d’une mélancolie géante“ (ebd). Noch in der Auslöschung der Totenmesse hält sich die machine zwischen „Revertitur in terram“ und „Requiescat in pace“ (ebd.) an den Buchstaben der Liturgie. In seiner symbolischen Verdrängung kehrt das untilgbare Heil als Narbe einer nicht gelungenen Amputation zurück im Inventar der Moderne, die es tilgen soll. „[E]ncore aveuglé de larmes“ (Œ 363) trägt mit Sandoz im letzten Satz nun Zola selbst Claudes Unschärfe im Auge. Mit der insgeheimen Einsicht über den Verrat am eigenen Manifest scheint die Perspektive des Romans bis zuletzt gespalten zwischen Resignation und der Substitution des naturalistischen Anspruchs durch eine literale Heilserwartung. Als Zola seine Spiegelfigur im trotzigen Hortativ „Allons travailler“ das letzte Wort behalten lässt, ist der Weg in sein Spätwerk beschlossen. Statt im Zeichen des Positivismus steht diese Arbeit unter einem neuen, buchstäblichen Heilsbegriff, in dem die Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire im Schlusstableau der Reihe im Docteur Pascal beschlossen wird. C’était une prière, une invocation. A l’enfant inconnu, comme au dieu inconnu! A l’enfant qui allait être demain, au génie qui naissait peut-être, au messie que le prochain siècle attendait, qui tirerait les peuples de leur doute et de leur souffrance! (DP 1219)

Clotilde, die mit dem Sohn ihres Oheims der hereditären Tragödie der RougonMacquart ein Ende setzt, bildet den Inzest kurzschlüssig zur ikonischen nativitas des aus sich selbst gezeugten Gottessohns um, der als Messias des neuen

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Zeitalters Sandoz’ Prophezeihung „l’homme naîtra“ erfüllt und als „bienfaiteur“ (DP 1219) im Rosenhag bereits von der Passion gezeichnet ist, in der er sein Blut (DP 1220) für den „monde continué et sauvé“ (ebd.) hingegeben haben wird. Bemerkenswerterweise entwickelt Zola sein Evangelium als „appel à la vie“ (DP 1220) „endlich das ganze, unverschnittene Leben darzustellen“8, das sein Spätwerk „am laufenden Band“9 produzieren wird, nur unter Streichung der Gnadenakte ganz am Buchstaben der Heilsgeschichte und beweist ein letztes Mal seine Unfähigkeit zum Ausbruch, wenn Clotilde statt als natürliche Maria voranzuschreiten nun geradezu zwingend auf die unter das Gesetz gebeugten Frauen des Tanach zurückfällt. Der Stammbaum wird zum buchstäblichen lignum scientiae. In „naïves gravures sur bois“ (u.a. DP 1048), die an die Vorbilder Manets in der Darstellung Zolas als Evangelist eingangs dieser Studie erinnern mögen, wird der Heiland der neuen Zeit zur klischierten alttestamentarischen Figur einer „Bible du quinzième siècle“ (ebd.) und Clotilde zur sunamitischen Abischag (ebd.), zur Moabiterin Ruth (DP 1049), in deren Schicksalen nach dem Gesetz sich der in buchstäblicher Heilsgeschichte ausklingende Naturalismus der Rougon-Macquart von nun an bis zum Ende spiegelt. Als diese schließlich nicht Abraham und Sarah, sondern „Abraham et Agar“ (DP 1079) beerben soll, das Kind der Gnade durch den legitimen Erben nach dem Gesetz und damit den Stammbaum Jesu nach Matthäus, jenseits des Ismaelismus, durch einen eigenen ersetzen, „l’Arbre des ancêtres, déployé près d’elle“ (DP 1218 f.), den Zola mit Abschluss seiner zwanzigbändigen Histoire soeben vorgelegt hat, ist alles offenbar. Romantik und historischer Roman werden nicht abgelöst, sondern maskiert. Als hysterisch abgelehnte Mystik wird unter der im eigentlichsten Sinne metaphorischen Ersetzung von „« médecins » par le mot « romancier »“10 in Begriffen der Physiologie fortgeschrieben. Das Ende der Allegorie bleibt allegorisch, die verweigerte translatio dem Buchstaben nach mit neuem Gegenstand letztlich intakt. Unter dem Doppelbild der Origine du monde schließlich, vulnus und vulva, Claude und Sandoz, entschleiert sich der schielende Naturalismus selbst. Claude scheitert auf dem Weg die Perspektive zu erneuern kurz vor den Durchbrüchen Braques und Picassos, während ein schwer angeschlagener Sandoz-Zola11 sich zwischen Naherwartung des fin de siècle und Fortschrittsglauben der Erfindung eines Übermenschen zuwendet. Das Heil wird nicht gelöscht, sondern im Zeichen eines neuen Alten Bundes unter ein vermeintliches 8 Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 621. 9 Vinken, „Pygmalion à rebours“, S. 621. 10 Zola, Le roman expérimental, S. 2. 11 Zamparelli, „Zola and The Quest for The Absolute in Art“, S. 146.

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Naturgesetz gebeugt. Nicht als Exorzist, sondern Apostel einer neuen Religion, deren gnadenlose Heilsbringer dem neuen Jahrhundert nichts als Unheil bringen werden, legt Émile Zola die auf ihn gekommene Geschichte alsbald ausdrücklich als Evangelist seinen Quatre Évangiles aus einer Feder zugrunde: als Offenbarung nach dem Buchstaben und Naturalismus unterm Kreuz.

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