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German Pages [240] Year 2020
Kulturphilosophische Studien
Ralf Glitza Kevin Liggieri (Hg.)
Kultur und Bildung Die Geisteswissenschaften und der Zeitgeist des Naturalismus
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820360
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B
Ralf Glitza / Kevin Liggieri (Hg.) Kultur und Bildung
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Kulturphilosophische Studien Band 3
Herausgegeben von Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock †
Beirat Gerald Hartung, Ernst Wolfgang Orth, Frithjof Rodi, Jörn Rüsen, Gunter Scholtz
https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Ralf Glitza Kevin Liggieri (Hg.)
Kultur und Bildung Die Geisteswissenschaften und der Zeitgeist des Naturalismus
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Ralf Glitza / Kevin Liggieri (Eds.) Culture and Education The Humanities in the Age of Naturalism The intention of this volume is to strengthen the profile of cultural philosophy in the age of naturalism with the declared goal to provide a foundation of self-assertion for the humanities. A central problem of contemporary philosophy is the relationship between our consciousness, which is capable of the first person perspective and as such also the origin of culture, and the findings of cognitive sciences and evolutionary theory since Darwin. The latter seem to shine a new light on culture. To be sure, this is a fascinating and interesting development. But it is also a challenge, since the concept »world« is now colonised by the scientific worldview. The consequence of that is the extrapolation of the »causalistic closedness of world« into the ontological which continues to replace other theories of knowledge. Thus the question arises, how contributions of cultural philosophy and the humanities can compete and provide their own answers to pressing questions. Based on the work of Dilthey, Cassirer, Simmel and others the contributions of this volume emphatically show that it is pivotal for the humanities and the cultural sector to maintain their authentic character and regain an understanding of their independence.
The Editors: Dr Ralf Glitza is a Fellow at the Ruhr University of Bochum. For several years he was a DAAD funded lecturer in China, i. a., at the Tongji University of Shanghai. Dr Kevin Liggieri is a research fellow funded by the DFG at the Chair of Science Studies at the ETH Zurich.
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Ralf Glitza / Kevin Liggieri (Hg.) Kultur und Bildung Die Geisteswissenschaften und der Zeitgeist des Naturalismus Gegenstand des Bandes ist eine Profilierung der Kulturphilosophie mit dem Ziel ihrer nötigen Selbstbehauptung gegenüber einem gegenwärtigen Naturalismus. Ein zentrales Rätsel der Gegenwartsphilosophie ist das Verhältnis unseres Bewusstseins, der Perspektive der ersten Person mächtig und Urheber der Kultur zu sein, zu den Erkenntnissen der Kognitions- sowie der Evolutionswissenschaften seit Darwin. In diesen scheint von der Natur her auf die Kultur ein neues Licht zu fallen. Dies ist ebenso faszinierend wie interessant. Es ist aber auch eine Herausforderung: Der Begriff der »Welt« wird naturwissenschaftlich präokkupiert, Extrapolationen ins Ontologische wie die »kausale Geschlossenheit der Welt« breiten sich auf Kosten früherer, stärker zurückgenommener Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien aus. Wie steht es demgegenüber mit den Beiträgen von Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften / Geisteswissenschaften? Deutlich wird in den Beiträgen im Anschluss an Dilthey, Cassirer, Simmel und weitere Autoren: Die Notwendigkeit und der Eigencharakter kultureller Arbeit müssen öffentlich wie in den Wissenschaften wieder bewusst werden.
Die Herausgeber: Dr. Ralf Glitza ist abg. Studienrat an der Ruhr-Universität Bochum und war langjährig DAAD-Lektor in China, u. a. an der Tongji-Universität in Shanghai. Dr. phil. Kevin Liggieri ist DFG-geförderter Forschungsstipendiat an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49033-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82036-0
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In Erinnerung an Volker Steenblock
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Vorwort
Dieser Band basiert auf einem »Symposion«, das Volker Steenblock und Hans-Ulrich Lessing im November 2016 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt haben. Gegenstand des Treffens war eine Profilierung der Kulturphilosophie mit dem Ziel ihrer nötigen Selbstbehauptung gegenüber einem gegenwärtigen Naturalismus. Ein zentrales Rätsel der Gegenwartsphilosophie ist das Verhältnis unseres Bewusstseins, der Perspektive der ersten Person mächtig und Urheber der Kultur zu sein, zu den Erkenntnissen der Kognitions- sowie der Evolutionswissenschaften seit Darwin. In diesen scheint von der Natur her auf die Kultur ein neues Licht zu fallen. Dies ist ebenso faszinierend wie interessant. Es ist aber auch eine Herausforderung: Der Begriff der »Welt« wird naturwissenschaftlich präokkupiert, Extrapolationen ins Ontologische wie die »kausale Geschlossenheit der Welt« breiten sich auf Kosten früherer, stärker zurückgenommener Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie aus. Wie steht es demgegenüber mit den Beiträgen von Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften / Geisteswissenschaften? Geboten scheint: Kultur muss in ihrer Eigenständigkeit wieder bewusst werden. In diesem Sinne entstand auf dem Treffen die Idee zu einem »Kontakt Kulturphilosophie« an der Ruhr-Universität Bochum, 1 der auch in Prozessen kultureller Bildung wirksam werden möchte. 2 Mit diesen Intentionen steht der Sammelband für das Programm der Kulturphilosophischen Studien, die im Verlag Alber erscheinen. Im selben Verlag sind zudem bereits zwei Bände im selben Sinne herausgekommen, nämlich »Vom Ursprung der Kultur« und das »Wunder des Verstehens«. 3 Vgl. ruhr-uni-bochum.de/philosophy/didaktik_kultur/kontakt.html.de. Vgl. die von Volker Steenblock geführten »Gespräche« mit Martin Bollacher, Meinhard Creydt, Günter Dux, Helmut Hühn, Stefan Jordan, Michael Maurer, Hans Neumann, Heinz-Jürgen Niedenzu, Ernst Wolfgang Orth, Heiner Roetz und Achim Stephan in der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, Heft »Kultur«, 39 (2017), S. 37–64. 3 Volker Steenblock / Hans-Ulrich Lessing (Hrsg.), Vom Ursprung der Kultur. Mit 1 2
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Vorwort
Unterschiedliche Beitragslängen erklären sich durch unterschiedliche Vortragsformate in der kleinen Tagung und durch einige Ergänzungen über das Tagungsprogramm hinaus. Wir danken Frau Nicole Martin, M. A, M. Ed., für Korrekturlektüre. Bochum, im Sommer 2018
Ralf Glitza und Kevin Liggieri
einem Gespräch mit Günter Dux, Freiburg 2014. Vgl. ferner Kevin Liggieri / HansUlrich Lessing (Hrsg.), Das Wunder des Verstehens, Freiburg 2018.
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Inhalt
Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Wilhelm Dilthey – Philosoph der Kultur? Wilhelm Dilthey – Philosoph der Kultur? . . . . . . . . . . . . Gudrun Kühne-Bertram
25
Wilhelm Dilthey als Kulturphilosoph . . . . . . . . . . . . . . Hans-Ulrich Lessing
35
Kultur als »ontische Notwendigkeit«. Wilhelm Diltheys und Helmuth Plessners psychophysische Auffassung des Lebens . . . Julia Gruevska
52
II. Ernst Cassirer und die Kulturphilosophie Ernst Cassirer – symbolisches Denken als Grundlage der Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Köhnen
67
Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Bauer
90
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Inhalt
III. Georg Simmel als Kulturphilosoph Modalisierung und Modalisierungsschock. Grundkomponenten von Kultur und Parakultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Wolfgang Orth Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel . . . . . . . . . Annika Schlitte
107
112
IV. Aspekte neuerer Debatten in der Kulturtheorie Kultur und Politik im öffentlichen Urteil . . . . . . . . . . . . René Torkler Kulturelle Bildung im Zeichen der Heterogenität und mit dem Ziel der Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . Ralf Glitza »Ein fröhlicher Tanz auf dem Vulkan«? Ein Dialogversuch zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kevin Liggieri
129
146
154
V. Die Kulturphilosophie und der Zeitgeist des Naturalismus Der Geist als humane Lebensform – wie er in die Welt kam Günter Dux
. . 169
Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften Gunter Scholtz
188
Natura altera facit saltum. Über den Ur-Sprung der Kultur . . . Jörn Bohr
205
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Inhalt
Zur Relevanz einer kulturphilosophischen Deutung von »Natur« – eine kritische Perspektive auf die neue Naturalisierung des Menschen am Beispiel von Geschlechtlichkeit . . . . . . . . . Kinga Golus
214
Über das Verhältnis von Naturalismus, Kultur und Bildung – oder: wie es ist, ein Mensch zu sein und philosophieren zu können . . Volker Steenblock
219
Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . .
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Abstracts (in Reihenfolge der Artikel):
Gudrun Kühne-Bertram, Dilthey-Herausgeberin und -expertin, stellt fest: Trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Begriff der Kulturwissenschaften und dem Fehlen des Ausdrucks Kulturphilosophie in seinen Schriften und Briefen kann Diltheys Bestimmung der Kultur als komplexe Manifestation des menschlichen psychophysischen Lebenszusammenhangs einen fruchtbaren Beitrag dazu leisten, das auch heute noch bestehende Defizit einer Theorie der Kultur / Kulturphilosophie zu beheben, weil er sich intensiv mit dem Ursprung, der Entwicklung und der Struktur der Kultur sowie dem Verhältnis von Gesellschaft und Kultur auseinandersetzt. Hans-Ulrich Lessing macht die These plausibel, dass Dilthey mit seinem Projekt einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht nur ein »formaler Kulturphilosoph« im Sinne Wilhelm Perpeets ist, sondern auch mit Recht als veritabler »materialer Kulturphilosoph« bezeichnet werden kann. Seine wichtigsten Beiträge zu einer solchen materialen Kulturphilosophie sind die Theorie der Systeme der Kultur, die er im ersten Buch seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) ausgearbeitet hat, und der Begriff des »objektiven Geistes«, wie er ihn in seinem Spätwerk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) ausgestaltet. Julia Gruevska greift auf das Verhältnis von Wilhelm Dilthey und Helmuth Plessner zurück. Sie kann dadurch auf etwas Wichtiges hinweisen, das manchmal vergessen wird, wodurch die Natur/GeistThematik einen unterkomplexen, bloß dichotomischen Zungenschlag erhält. Gruevska zeigt, dass das Bemühen um eine adäquate Auffassung der Kultur in der Tradition Diltheys keineswegs aus Desinteresse oder Uninformiertheit gegenüber naturwissenschaftlicher Forschung rührt. Das genaue, aufregende Gegenteil ist der Fall. Dilthey 15 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Abstracts (in Reihenfolge der Artikel)
und viele Zeitgenossen und Nachfolger waren vom Naturalismus ihrer Zeit genauso fasziniert, wie wir es heute noch und wieder sind. Es gilt, »aus neuer Perspektive die Verbundenheit von Natur und Geist und die Stellung des Menschen zu bestimmen« (Plessner). Ralph Köhnen geht davon aus, dass Ernst Cassirers Symbolphilosophie uns den Menschen sehr plausibel als ein Lebewesen vorstellt, das Sprache, Formeln und Bilder braucht, um die Welt lebbar zu machen. In der Ausdifferenzierung symbolischer Formen kann es sich von der sinnlichen Naturbindung entfernen, Sinnschichten formen und über diese kulturell wie persönlich agieren. Dies betrifft sogar noch ein scheinbar ausschließliches Naturphänomen wie den Schmerz. Gegenüber den »unberechtigten Annihilationen Heideggers« ist damit ein Modus benannt, in dem der Mensch »sein Dasein in Form verwandelt«, und zwar im Lauf einer Weiterentwicklung in »die Region der reinen Form«, die er aus dem Chaos schöpft und diesem gegenüberstellt. Zu einer zweiten Linie gelegentlicher Kritik sieht Köhnen eher Anknüpfungspunkte, nämlich zu Medialitätstheorien und zu Michel Foucault. Als Fazit konstatiert Köhnen: Es ist »allen Abgesängen zum Trotz, ein Erbe der Aufklärung immer noch einzulösen, und in diesen Aspekten liegt auch wohl der zentrale Impetus von Cassirers Kulturphilosophie: Die Selbstreflexion des Menschen in Symbolen, also auch in Narrativen, ist das Verständigungsinstrument par exellence, und dies gerade auch in Krisenzeiten«. Katharina Bauer diskutiert Ernst Cassirers Begriff der Kunst sowie deren Rolle unter den kultureröffnenden »symbolischen Formen« Sprache, Mythos, Religion und Wissenschaft. Cassirer stellt einen »steigernden, intensivierenden Aspekt der Kunst« heraus, der auf Bildung und die humanistische Zielperspektive einer »Selbstbefreiung« des Menschen bezogen ist. Während die Wissenschaft – zwar ohne Zweifel Stolz der menschlichen Vernunft – von der Logik ihres Zugriffs her abstrahierend, ja »verarmend« wirkt, leistet Kunst eine »Intensivierung von Wirklichkeit«, eine »Verdichtung und Konzentration«, eine Perspektivenerweiterung der Wahrnehmung. Obwohl Cassirer Fehlfunktionen und Missbräuche symbolischer Formen nicht ausschließt, hat seine Kunsttheorie einen deutlich normatividealistischen Zug.
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Abstracts (in Reihenfolge der Artikel)
Ernst Wolfgang Orth demonstriert, dass Kultur in einer semantischen Wende wurzelt, die dort erfolgt, wo etwas als etwas thematisch wird, d. h. wo Bedeutung und Sinn erzeugt werden. Dies haben die Kulturtheoretiker und Philosophen Ernst Cassirer mit der »symbolischen Formung«, Max Scheler mit der »Weltoffenheit« und Helmuth Plessner mit der »exzentrischen Positionalität« zum Ausdruck gebracht, insbesondere aber Georg Simmel mit seiner »Achsendrehung des Lebens« und »Wendung zur Idee«. Diese Wende ist mit Simmel entgegen einer naturalistischen Reduktion zu verstehen. Dass ein »Sinn für den Sinn« im Menschen aufbricht, nennt Orth Modalisierung. Eine schwierige Pointe dabei ist, dass dieser Sinn angesichts der Kontingenz der Welt keineswegs garantiert ist, sondern von uns lediglich vermutet und geglaubt wird. Die daraus resultierende Verunsicherung wie das Aufbrechen der Sinndimension überhaupt lässt Orth von einem Modalisierungsschock sprechen, der am Anfang aller Kultur steht und sie fortlaufend betrifft. Wenn Kultur die aufgrund der Modalisierung dem Menschen nötige und zugleich die ihm aufgegebene Einübung und Thesaurierung von Sinn ist, wird Bildung zu einem entscheidend wichtigen Thema. Denn die beständig nötige Arbeit am Sinn bedarf (in einem offenkundig ebenso wörtlichen wie grundsätzlichen Begriffsverständnis) einer kulturellen Lesefähigkeit; tatsächlich zu beobachten freilich sind Anzeichen einer »Inkulturationslegasthenie«. Zugleich gibt es in der Art einer »Kontingenzneurose« Formen der Verweigerung des stets riskierten Sinns, die Orth als in der Kultur selbst auftretende »Parakultur« anspricht. Annika Schlitte geht von der verbreiteten Vorstellung aus, dass die Wirtschaft und die Logik des Geldes gegenüber den anderen Kultursphären und der Bildung im Allgemeinen wie etwas Fremdes erscheinen bzw. in einer quasinaturalistischen »Ökonomisierung« als Invasoren in Bereichen auftreten, in denen sie nichts zu suchen haben. Dies hat sein fundamentum in re in bestimmten Exzessen jüngster Geldwirtschaft und seinen wissenschaftsinternen Grund darin, dass die Wirtschaftswissenschaften sich in ihrer Mathematisierung von den Geisteswissenschaften immer mehr fortbewegen. Schlitte zeigt demgegenüber aber, dass mit Georg Simmel das Geld dem Rest der Kultur nicht einfach gegenübersteht, sondern von ihm durchaus auch als ein Rationalisierungsmedium verstanden wird und teilhat an den Prozessen kollektiver Sinnbildung, wenn auch in der ihm eigenen 17 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Abstracts (in Reihenfolge der Artikel)
reduktiven Form. Mit Simmel eröffnet sich die Möglichkeit, die Kulturentwicklung auch in Berücksichtigung des Geldes integrativ zu betrachten. Indem René Torkler Kultur und Politik mit Hannah Arendt in ein sehr aufschlussreiches Verhältnis setzt, zeigt er uns »die Welt als eine öffentliche Sphäre (…), in der Hergestelltes wie Handeln erscheint und die uns einen Raum des Urteilens eröffnet, der sowohl praktische als auch poietische Aspekte menschlichen Tätigseins integriert«. Kultur muss als Interaktion der Teilnehmer, als Diskurs von Subjekten mit anderen Subjekten verstanden werden, mithin immer auch politisch. In der Bildung als Zielperspektive kann am Ende ein Prozess der Kultivierung stehen, »bei dem Weltwissen mit Fähigkeiten sokratisch-kritischer Kommunikationsfähigkeit und Aspekten literarischkultureller Bildung verbunden werden soll«. Ralf Glitza verweist darauf, dass »Kultur« zwar als »Kollektivsingular« zur Bezeichnung des gesamten zivilisatorisch prägenden Hintergrundes unseres Handelns verwendet wird, jedoch zugleich mit dem Ansatz ihrer Entstehung in einem Differenzmodus auftritt. Angesichts der Tatsache, dass die Kulturen durch Wirtschaftsverkehr und immens gesteigerte Kommunikationsmöglichkeiten global immer noch näher aneinanderrücken und damit in Kontakt, potentiell auch in Konflikt geraten, wie dies migrationsbedingt zugleich auch vor Ort im Kleinen im Klassenzimmer an unseren Bildungsstätten geschieht, erscheint eine kulturelle Bildung in der Mitte der Gesellschaft als ein äußerst naheliegendes und gut begründbares Ziel. Dies wird am Beispiel Chinas verdeutlicht. Kevin Liggieri sucht das Verhältnis von hermeneutischer Tradition zu gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Innovation zu bestimmen. Gegenüber der Auffassung, dass Kultur im Wesentlichen Sinnerzeugung und Bildungsprozess sei, skizziert er wichtige alternative Autoren wie Michel Foucault, an den sich eine Diskurstheorie anschließt, die untersucht, was historisch in einer jeweiligen Wissensformation »sagbar« war. Eine solche Diskursanalyse sei in der Praxis »weder bunt noch mystisch«; sie analysiert Möglichkeitsbedingungen, »von deren Strukturen die Sprecher im Diskurs meist selbst keine Ahnung haben«. Doch muss man die Diskurstheorie nicht als Abkehr von einer klassischen philosophischen Hermeneutik verstehen und auch 18 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Abstracts (in Reihenfolge der Artikel)
nicht als Grundsatzkritik am »Sinn«. Vielmehr kann eine Sichtweise eingenommen werden, die mit anderen Methoden übersehen würde, um z. B. die epistemischen Voraussetzungen herauszufinden, d. h. welche Ein- und Ausschlusskriterien beim »Sinn« mitwirken und wie Trennungen von »Sinn« und »Un-Sinn« eine bestimmte Art von rationaler, moderner Wissenschaft erst konstituieren. Liggieri stellt diese gegenüber der Hermeneutik andersartige methodische Vorgehens- und Zugriffsweise heraus und verweist am Beispiel seiner eigenen Arbeiten zur Philosophie der Technik darauf, dass auch die Themen in den »neuen Kulturwissenschaften« teils andere sind. Günter Dux sagt: In einem aufgeklärten Verständnis der säkular gewordenen Welt sind sich Philosophen wie Soziologen darin einig, dass sich die physiologische Verfasstheit des Menschen aus der Evolution heraus entwickelt hat. Das kann allerdings nur in einem Prozess geschehen sein, in dem sich auch die Anfänge der geistigen Lebensform des Menschen – Handeln, Denken, Sprache – gebildet haben. Verständlich wird deren Bildungsprozess, wenn man die Bedingungen bestimmt, durch die er möglich wurde. Bedingungen, unter denen sich die humane Lebensform als geistige Lebensform hat ausbilden können, sind allerdings keine Bedingungen, die sich naturgeschichtlich umgesetzt haben. Sie sind von den zunächst in der Evolution befangenen Menschen aufgegriffen worden, um in konstruktiv geschaffene Lebensformen umgesetzt zu werden. Günter Dux geht damit von Standards dessen aus, was die Naturwissenschaften uns über die Welt sagen, ohne sich von der Sozialität und Geistigkeit des Menschen, wie er anderen Ortes formuliert, etwas »abmarkten« zu lassen. Gunter Scholtz weist darauf hin, dass man noch vor nicht sehr langer Zeit unter dem Begriff der Philosophie des Geistes vor allem an die Philosophie Hegels dachte. Heute aber versteht man darunter eher die im angelsächsischen Bereich entstandene »Philosophy of Mind«, Hirnforschung, Kognitionswissenschaften und empirische Psychologie. Der Beitrag widmet sich einer grundsätzlichen Kritik der kulturerklärenden Ansprüche des Naturalismus und Reduktionismus. Eine Beschränkung auf »quantitativ hochgerechnete« mentale Prozesse ist von vornherein unzureichend, um Kultur und Kulturwissenschaften begreiflich machen zu können. Scholtzens These: Der Mensch muss als derjenige verständlich werden können, der all 19 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Abstracts (in Reihenfolge der Artikel)
jene Dinge tun und erleiden konnte, von denen seine Geschichte berichtet. Jörn Bohr beschäftigt sich auf der Basis des Bandes »Vom Ursprung der Kultur« der Herausgeber Volker Steenblock und Hans-Ulrich Lessing mit unterschiedlichen Deutungsparadigmata, die antreten, Kultur zu erklären bzw. verständlich zu machen. Mit der Frage nach der Kulturgenese sieht dieser Band drei solche Forschungsparadigmata konfrontiert: ein naturalistisch-biologisches, ein sozio-ökonomisches und eine idealistische, mit dem Sinnbegriff operierende Deutungsweise. Bohr skizziert die Einzelbeiträge von Günter Dux, Jörn Rüsen und anderen und gelangt selbst zu der Einschätzung, dass eine rein historische Nachzeichnung die »Grundeinsicht« nicht aushebeln kann, »dass Mensch- und Kulturwerdung eine nicht weiter auflösbare Struktureinheit bilden«. Damit »ist der Kulturursprung in die menschliche Tätigkeit hineinverlegt, in Freiheit von den Bedingungen der physischen Welt«: »Genau dieses Moment der Selbständigkeit markiert den Punkt, an dem die menschliche Kultur immer wieder von Neuem entspringt« (Gerald Hartung). Für Kinga Golus ist die diskursive Renaturalisierung des Menschen im Neoevolutionismus aus vielen Gründen verfehlt. Ein Argument, warum diese Renaturalisierung verfehlt ist, stellt sie exemplarisch heraus: Ein Naturalismus kann eine kulturunabhängige Definition von Geschlechterrollen und Geschlechtscharakteren suggerieren, tatsächlich aber stellt die scheinbar »natürliche« Herleitung stets eine kulturelle Deutung des Natürlichen dar. Nötig erscheint eine »Demaskierung ontologischer und naturalisierender Effekte« (Heike Kämpf), bis hin zu Judith Butlers Forderung, die evident erscheinende »Matrix der Zweigeschlechtlichkeit« als kulturell bedingtes Phänomen zu deuten, das durch die permanente Wiederholung performativer Akte der propagierten Zweigeschlechtlichkeit reproduziert wird. Volker Steenblock legt – ausgehend vom »Turmbau zu Babel« als Kultursymbol – dar, dass der Mensch, so sehr seine Arbeit (begriffsursprünglich am Acker) geradezu kulturkonstitutiv ist, offenbar weder praktisch noch theoretisch diese eigene kulturelle Arbeit wirklich beherrschen kann. Dieser Eindruck ergibt sich zur Theorieseite hin aus einer Musterung der »Deutungshorizonte« von Natur, Gesell20 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Abstracts (in Reihenfolge der Artikel)
schaft und Geist, in denen umfassende Kulturerklärungen unternommen werden. Diese Deutungen scheinen am Ende zu scheitern, je mehr sie mit grundsätzlichen Dignitätsansprüchen daherkommen. Warum das so ist, mag eine Art »transzendentaler« Irritation zeigen, welche darin liegt, dass wir uns als Erkenntnissubjekte der Welt gegenüber positionieren müssen. Aus dieser Spannung von Ich und Welt resultiert die Kultur als Weltbewältigungsprozess unseres Ich. Das Ich muss eine solche Weltbewältigung leisten; es vollzieht mit der dabei nötigen Arbeit einen Prozess der Bildung, dessen Hervorbringungen die Hermeneutik für uns erschließt. Im Begriff des Sinns zeigt sich: Das Rätsel der naturentwachsenen Kultur, ihr Leben und ihr Verhängnis, wurzelt in unserer menschlichen Existenz. Kultur demonstriert, wie es ist, ein Mensch zu sein.
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I. Wilhelm Dilthey – Philosoph der Kultur?
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Gudrun Kühne-Bertram
Wilhelm Dilthey – Philosoph der Kultur?
1.
Zum Begriff der Kulturphilosophie
Den Begriff der Kulturphilosophie hat, wie Wilhelm Perpeet in seinem Beitrag im Historischen Wörterbuch der Philosophie angibt, 1 der Philosoph Ludwig Stein geprägt, und zwar in seinem im Jahre 1899 erschienen Buch An der Wende des Jahrhunderts. Versuche einer Kulturphilosophie. Stein unternimmt in dieser »Sammlung von zwanzig philosophiegeschichtlichen und sozialphilosophischen Essays« nach eigener Aussage »Streifzüge in das erst urbar zu machende Gebiet der Kulturphilosophie«. 2 Bemerkenswert ist, dass er eine Eingrenzung ihres Gebietes vornimmt, indem er die »Philosophie der Kultur« im eigentlichen Sinne (»katexochen«) als eine »Philosophie des westeuropäisch-amerikanischen Kultursystems« bestimmt. 3 Vierzig Jahre später (1939) bezeichnet Ernst Cassirer die Kulturphilosophie als die »jüngste unter den philosophischen Disziplinen« und als das wohl »fragwürdigste und am meisten umstrittene Gebiet« der Philosophie. Selbst der Begriff der Kulturphilosophie sei »noch keineswegs scharf umgrenzt und eindeutig festgelegt«. 4 Auch Perpeet äußert in seinem o. g. Artikel, die Kulturphilosophie lasse sich nur grob strukturieren, wie z. B. in die Kulturkritik und die Philosophie Wilhelm Perpeet, Kultur, Kulturphilosophie. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, S. 1309–1324, hier S. 1311. 2 Ludwig Stein, An der Wende des Jahrhunderts. Versuche einer Kulturphilosophie, Freiburg i. B. 1899, Vorwort, III. 3 Ebd. 4 Ernst Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939). In: Ders., Erkenntnis, Begriff, Kultur, hrsgg., eingel. sowie mit Anmerkungen und Registern versehen von Rainer A. Bast, Hamburg 1993, S. 231–261, hier S. 231. 1
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Gudrun Kühne-Bertram
der Kulturwissenschaften. Als ihre herausragenden Vertreter nennt er Heinrich Rickert, Georg Simmel, Ernst Cassirer, Rudolf Eucken, Theodor Litt, Oswald Spengler und – Wilhelm Dilthey. Da diese Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkten, charakterisiert Perpeet die Kulturphilosophie als eine »›Mode‹-philosophie der ›goldenen zwanziger Jahre‹«. 5 Im beginnenden 21. Jahrhundert wird noch immer die Unbestimmtheit und Beliebigkeit der Kulturphilosophie beklagt, denn bis heute fehlt es an einer »befriedigenden Verständigung« über ihren »Problembereich«. 6 Sie besitzt keine gültigen Leitlinien ihrer Systematik und Begrifflichkeit. Sowohl eine verbindliche Geschichte als auch die Theorie einer möglichen zukünftigen Kulturphilosophie sind noch immer ein Desiderat. Unstrittig ist nur, dass ihre Grenzen zu anderen Disziplinen, wie z. B. der Anthropologie, Psychologie und Soziologie, fließend sind. Die Vagheit des Gebietes der Kulturphilosophie ist bereits erkennbar an der Pluralität von Denkern, die im 20. Jahrhundert als ihre Vertreter genannt werden, sich aber vermutlich in nicht wenigen Fällen durch diese Charakterisierung missverstanden gefühlt hätten. So spricht z. B. der Philosoph Heinrich Maier 1926 von einer »rationalistischen Kulturphilosophie der Aufklärung« und von der »Kulturphilosophie« Kants und Fichtes, womit er deren Geschichts-, Moral-, Rechts-, Staats- und Religionsphilosophie meint. 7 Maier konstatiert, dass sich seine Generation »mit besonderem Eifer um Kulturphilosophie« bemühe, gibt aber zu bedenken, dass man sich darüber klar sein müsse, »was an ihr ›philosophisch‹« sei. 8 Scharf kritisiert er die wertphilosophische Richtung der Kulturphilosophie seiner Zeit, die insbesondere mit dem Namen Heinrich Rickerts verknüpft ist. Er bezeichnet sie als metaphysisch und absolutistisch. 9 Heute haben – wie schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts – die Schlagwörter Kultur, Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft(en) Hochkonjunktur. Es wäre dringend nötig, einen Perpeet, Kultur, Kulturphilosophie, a. a. O., S. 1310. Z. B.: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkhard (Hrsg.), Kulturphilosophie. In: Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen, 3. erweiterte und aktualisierte Aufl., Stuttgart, Weimar 2008, S. 322–324, hier S. 322. 7 Heinrich Maier, Philosophie der Wirklichkeit. Erster Teil: Wahrheit und Wirklichkeit, Tübingen 1926, S. 22, 566. 8 Ebd., S. 561. 9 Vgl. Maier, Philosophie der Wirklichkeit, a. a. O., S. 563, 566. 5 6
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Wilhelm Dilthey – Philosoph der Kultur?
Konsens darüber zu erzielen, was Kulturphilosophie ist und welche Gegenstände sie behandeln soll. In eins damit wäre zu begründen, worin sie sich von anderen Disziplinen, wie z. B. der Anthropologie oder der Sozialphilosophie unterscheidet. Zur Klärung dieser wissenschaftstheoretischen Probleme der Kulturphilosophie könnte Diltheys Theorie vom Strukturzusammenhang des menschlichen Lebens im individuellen wie im geschichtlich-gesellschaftlichen Raum vielleicht einen Beitrag leisten.
2.
Diltheys Philosophie des Lebens und die Fundierung der Kultur
Im Rahmen seines Vorhabens, die Geisteswissenschaften als eine relativ selbständige und gegenüber den Naturwissenschaften gleichwertige Wissenschaftsgruppe zu konstituieren, nehmen Diltheys Analysen ihren Ausgang bei den Phänomenen der erfahrbaren, geschichtlich geprägten gesellschaftlichen Welt. Er will Gemeinsamkeiten in deren Strukturen, Entstehungsbedingungen und »Bildungsgesetzen« auffinden – und zwar mit dem Ziel einer »objektiven Erkenntnis« der Lebenswirklichkeit. Rückblickend schreibt Dilthey in seinem letzten Lebensjahr (1911) in der Vorrede zu seiner geplanten Aufsatzsammlung Die Philosophie des Lebens, es sei »der herrschende Impuls« seines Denkens gewesen, sich »im Geist der großen Aufklärung an die erfahrbare Wirklichkeit als die Eine Welt unseres Wissens zu halten« und »das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen«. 10 Sein Ziel ist eine möglichst allgemeingültige Erkenntnis des Menschen und seiner Welt: »Wir wollen Wirklichkeit gewahr werden.« (I, 91) Im Zentrum der Philosophie Diltheys steht der Mensch, der sowohl in einer je spezifischen mitmenschlichen Welt als auch in einer bestimmten natürlichen Umwelt lebt, denn er ist nicht nur Geist, sondern auch und in erster Linie Natur. Daher sind nicht nur die Geisteswissenschaften, welche immer auch die Natur zur »Unterlage« haben (VII, 119), sondern ebenso die Naturwissenschaften für die Erkenntnis des Menschen und seiner Welt wichtig. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. V, 418 und 4. [Nachfolgend wird aus den Gesammelten Schriften (= GS) unter Angabe der Bandzahl in römischen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern zitiert.]
10
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Gudrun Kühne-Bertram
Den gemeinsamen Ursprung beider Wissenschaftsgruppen erkennt Dilthey in der Erfahrung. Er vertritt die Auffassung, dass es im Grunde nur eine ungeteilte Erfahrung gibt, die sich erst im Laufe der Wissenschaftsgeschichte in einer »doppelten Richtung« auseinander entwickelt habe, so dass die äußere Erfahrung die Grundlage der Naturwissenschaften und die innere Erfahrung das Fundament der Geisteswissenschaften bildet (XVIII, 194). In ähnlicher Weise spricht später Ernst Cassirer von einer »ursprünglichen Doppelrichtung des Anschauens und Wahrnehmens«, welche zu der Dichotomie der Wissenschaft in Natur- und Kulturwissenschaft geführt habe. 11 Dilthey bestimmt die Philosophie als eine Wissenschaft, welche alle Erfahrungen zum Gegenstand hat, also als eine empirische oder Erfahrungswissenschaft, deren Gegenstand der Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens in allen Bereichen sowie in seiner geschichtlichen Gewordenheit ist. Die Philosophie hat die Aufgabe, die Struktur der Lebenseinheit als den Grund des durch unser Handeln und Schaffen, unsere Erfahrungen und unser Wissen gewordenen komplexen Zusammenhangs freizulegen (vgl. I, 89). Denn dieser Strukturzusammenhang ist es, der die gesamte Kultur hervorbringt, und zwar das »Naturerkennen« und die »Herrschaft über die Natur« ebenso wie das soziale und wirtschaftliche Zusammenleben, Sittlichkeit, Recht, Kunst, Religiosität etc. (VIII, 185). So bestimmt Dilthey die Philosophie als die »Analysis, welche von dem Zusammenhang der in die Wissenschaften erhobenen Bezüge des Menschen in den Lebenszusammenhang desselben zurückgeht«. 12 Von dieser Überzeugung ausgehend unternimmt Dilthey den Versuch, nachzuweisen, wie sich durch die fortschreitende Ausdifferenzierung der komplexen »Totalität des Seelenlebens« die unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen »Zweckzusammenhänge«, zu denen auch die Wissenschaften zählen, im geschichtlichen Verlauf herausbildeten – und zwar in Richtung auf eine »gesunde Selbständigkeit« der verschiedenen »Faktoren unsres intellektuellen Lebens, des religiösen Glaubens, der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften«. 13 Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, 6. unveränderte Aufl., Darmstadt 1994, S. 56. 12 Wilhelm Dilthey, Briefwechsel. Bd. III: 1896–1905, hrsgg. von Gudrun KühneBertram und Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 2019, Dilthey an Graf Paul Yorck von Wartenburg [5. oder 12. Juli 1896], Brief [1015], S. 67. 13 Wilhelm Dilthey, Briefwechsel. Band II: 1882–1895, hrsgg. von Gudrun Kühne11
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Wilhelm Dilthey – Philosoph der Kultur?
Deshalb betont Dilthey immer wieder die Komplementarität dieser beiden Gruppen von »Realien«, nämlich der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft (IX, 231). Denn alle Wissenschaften haben denselben Ursprung, und »[e]in Zusammenhang geht durch alle Wissenschaften, indem sie die Entwicklung des Universums uns zum Bewusstsein bringen.« (XXIV, 4) Er strebt den Zusammenschluss dieser beiden »Hälften« des wissenschaftlichen »Kosmos« zu einem Ganzen an, weil der Mensch der inneren und äußeren Natur gleichermaßen als Erfahrender und Erkennender gegenüber steht und weil das gemeinsame Ziel aller Wissenschaften die Erkenntnis der Wirklichkeit als eines »lebendigen Ganzen« ist. Daher ruft Dilthey zur Selbstbesinnung auf: »Was wir brauchen, ist, die innere Beziehung dieser beiden Welten in uns zu erfassen.« (VII, 177) Er will damit einsichtig machen, wie »relativ« die Abgrenzung dieser zwei Gruppen von Wissenschaften ist, was schon daran erkennbar sei, dass sich ständig »überall Erkenntnisse beider Klassen« vermischen (I, 18), wobei die Geisteswissenschaften allerdings immer, wie er einräumt, von dem Fortschritt der naturwissenschaftlichen Disziplinen mit bedingt bleiben (I, 107). Mit dieser Einsicht ist zugleich seine Forderung nach einer »richtigen Verbindung der naturwissenschaftlichen u. geschichtlichen Seite von Wissen« verknüpft, die er in exemplarischer Weise in der Philosophie Benno Erdmanns realisiert sieht. 14 Dies zeigt, dass bereits Dilthey ein »wichtiger Vermittler zwischen Naturwissenschaft und Philosophie« war, und nicht erst, wie heutzutage bisweilen angenommen wird, 15 Ernst Cassirer, der ebenfalls eine Verbindung beider Wissenschaftsgruppen anstrebte, indem er z. B. eine fruchtbare Ergänzung von »Form-Analysen und kausalen Analysen« anerkannte und deshalb forderte, dass diese »sich in allem Wissen verbinden müssen«. 16
Bertram und Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 2015, Dilthey an Friedrich Theodor Althoff (Februar 1883), Brief [600], S. 33. 14 Vgl. hierzu einen Brief Diltheys vom 9. Juli 1896 an seinen Schwager, den Altphilologen Hermann Usener, in: Wilhelm Dilthey, Briefwechsel. Bd. III: 1896–1905, a. a.O., Brief [1016], S. 70. 15 Vgl. z. B. Volker Gerhardt / Reinhard Mehring / Jana Rindert, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität, Berlin 1999, S. 210. 16 Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, a. a. O., S. 96.
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Gudrun Kühne-Bertram
3.
Die »Systeme der Kultur« und die »Systeme der äußeren Organisation der Gesellschaft«
Die Geisteswissenschaften befanden sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Ansicht Diltheys noch in einem Stadium, welches dem der Naturwissenschaften zur Zeit Galileis vergleichbar war (XVIII, 19, 47, 214). Er sah sie durch die Vorherrschaft der Naturwissenschaften noch immer dominiert. Aus diesem Grund legte er in seiner Analyse des Wissenschaftssystems den Schwerpunkt zunächst auf die Untersuchung der Geisteswissenschaften, um die »jüngere Schwester« Geisteswissenschaften von den Fesseln der »älteren Schwester« Naturwissenschaften zu befreien (I, 120). Dilthey gliedert die Geisteswissenschaften in die Wissenschaften von den »Systemen der Kultur« und die der »Systeme von der äußeren Organisation der Gesellschaft«. An einer Stelle seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften nennt er zudem die Ethnologie als die dritte »Hauptklasse« der »theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft« (I, 111). Die Aufgabe der Philosophie sieht Dilthey darin, auf der Grundlage von Anthropologie und »Realpsychologie« sowie mit Hilfe der Ergebnisse der Einzelwissenschaften den Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zum Gegenstand theoretischer Betrachtung und Analyse zu machen, um »das Erklärbare« in demselben herauszufinden (I, 92), um so gesellschaftliche Entwicklungen, Veränderungen, Umbrüche und Epochenwechsel erkennen zu können (vgl. I, 111). Jede Gesellschaft, wie die Geschichte zeige, weist jene beiden Systemgruppen auf, die ineinander greifen und miteinander zu einem jeweils in bestimmter Weise geschichtlich-gesellschaftlich strukturierten Gesamtzusammenhang verwoben sind. Während die Systeme der äußeren Organisation der Gesellschaft, wie z. B. Recht, Politik und Wirtschaft, der Ausdruck des menschlichen Zusammenlebens in Familien, Verbänden, Nationen etc. sind, erscheinen die Systeme der Kultur nicht zwingend an derartige Formen von Gemeinschaft gebunden (I, 58). Doch auch sie entwickeln bestimmte Strukturen, die sich vom Denken, Wollen und Handeln der einzelnen Menschen lösen, sich verselbständigen und damit das Individuum überschreiten und überdauern. Ihr Zusammenwirken »zu einem Ganzen« bildet die »intellektuelle Kultur eines jeden Zeitalters« (vgl. VIII, 173). Beide Arten gesellschaftlicher Systeme bestimmt Dilthey als 30 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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»Zweck«- oder »Wirkungszusammenhänge« (I, 44), da sie Zwecke realisieren, die in der menschlichen Natur angelegt sind (I, 63). So sind die »menschlichen Lebenszwecke« zugleich die »Bildungskräfte der Gesellschaft« (I, 64), und jedes Individuum hat an einer Vielzahl von Systemen Anteil: Der Einzelne ist damit »ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen« (I, 51 u. ö.). Den Begriff Kultursystem definiert Dilthey als eine Funktion innerhalb der Gesellschaft, die »gleichförmig in vielen Köpfen stattfindet und diese zu einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang verbindet« (V, 413 f.). Das Merkmal eines jeden Kultursystems ist damit die Gleichgerichtetheit der Leistung der Einzelnen, die einem bestimmten Kultursystem angehören. Nimmt die Zusammengehörigkeit feste Formen an, so entstehen Organisationen (V, 414). Beide Systemgruppen sind verflochten und konfigurieren gemeinsam die Gesamtstruktur einer Gesellschaft. Demgemäß gliedert Dilthey auch die Wissenschaften derselben erstens in die Wissenschaften von den Systemen der Kultur, wie Literatur- und Kunstwissenschaft, Religionswissenschaft etc., und zweitens in die Wissenschaften von der äußeren Organisation der Gesellschaft, wie z. B. Staats- und Wirtschaftswissenschaft sowie Rechtswissenschaft. Die einzelnen Geisteswissenschaften bilden sich aus, indem verschiedene Bereiche des geistigen Lebens durch Analyse und Abstraktion aus dem geschichtlich-gesellschaftlichen »Totalzusammenhang« herausgelöst werden (I, 113). Dilthey veranschaulicht dies 1892/93 in seiner Abhandlung über die Geisteswissenschaften im 16./17. Jahrhundert, 17 in der er ihre Entstehung und Entwicklung im Schatten der Naturwissenschaften aufweist. Cassirer nimmt auf diese Arbeit Diltheys Bezug, und für ihn liegen in dieser Zeit die »ersten Keime zu einer zukünftigen Kulturphilosophie«. 18 In allen Systemen der Kultur sowie den Systemen der äußeren Organisation der Gesellschaft hat sich nach Auffassung Diltheys die Lebenseinheit ausgedrückt und objektiviert. Den inneren Zusammenhang der sie behandelnden »Einzelwissenschaften des Geistes« stellt die Philosophie her durch deren Rückbindung an ihren gemeinWilhelm Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte der Philosophie. Bd. 5 (1892), S. 480–502; Bd. 6 (1893), S. 60–127, 225–256, 347–379, 509–545; veränderter Wiederabdruck in: GS II, S. 90–243. 18 Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, a. a. O., S. 231. 17
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Gudrun Kühne-Bertram
samen Ursprung in der menschlichen Natur (I, 379), an den »umfassenden, gleichförmigen seelischen Zusammenhang« (V, 148). Deshalb ist für Dilthey die »Einsicht in den Strukturzusammenhang des Seelenlebens« der »Schlüssel der Erkenntnis in den Geisteswissenschaften« (I, 418). Die gesamte Kultur ist somit letztlich die komplexe Manifestation des menschlichen psycho-physischen Lebenszusammenhangs – wie später auch Cassirer, allerdings eingeschränkt auf den menschlichen Geist, sagt, dass sich dieser ständig »in verschiedenen Formen der Kultur, in Sprache, Religion und Kunst« entäußert. 19 Dilthey dagegen spricht uneingeschränkt von »Objektivationen des Lebens« (VIII, 148) oder, mit Bezug auf Hegel, vom »objektiven Geist« (VIII, 150). In diesem umgreifenden Medium realisiert sich individuelles und gemeinschaftliches menschliches Leben. Die verschiedenen Kultursysteme unterliegen dem geschichtlichen Wandel (VIII, 169) – wie auch ihr Gesamtzusammenhang innerhalb eines Staates. Diesen definiert Dilthey daher ebenfalls als eine »bestimmte Struktureinheit von Wirkungszusammenhängen« (VIII, 173), die jeweils in sich zentriert sind und Werte schaffen, Zwecke erfüllen und Ziele verwirklichen. Indem sie durch einen gemeinsamen Lebenshorizont oder »Geist der Zeit« miteinander verbunden sind, bilden sie zusammen wiederum eine Wirkungseinheit (vgl. VIII, 176 f.), und diese wird sichtbar in der »nationalen Entwicklung« (VIII, 174). Diltheys Analyse des Aufbaus der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften ist geleitet von dem Bemühen, Regelmäßigkeiten und, wenn möglich, Gesetzmäßigkeiten in den Funktionen des Lebenszusammenhangs, und zwar »von der Struktur des Einzellebens bis zu der letzten allumfassenden Einheit« (VIII, 172), aufzufinden. Sein Ziel ist es, unser Selbstverständnis und das Verständnis unserer Lebenswirklichkeit zu fördern. Wir sollen erkennen, »was wir in der Welt zu machen haben, was wir aus uns machen, was wir aus uns machen können, was wir mit der Welt anfangen können und diese mit uns« (VIII, 276). Eine aufklärende und handlungsleitende Funktion haben auch, wie Dilthey mehrfach äußert, die Naturwissenschaften. Beide Wissenschaftsgruppen ergänzen sich damit in der Grundintention, Leben erklären und verstehen zu wollen: Die Naturwissenschaften schaffen 19
Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, a. a. O., S. 107 f.
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eine Welt der Naturerkenntnis und die Geisteswissenschaften eine Welt des Verstehens menschlichen Lebens. Da aber der Geist unmöglich in dieser »Dualität verharren« könne, (VII, 176; VIII, 276) versucht Dilthey, ihr gemeinsames Fundament zu ergründen. Er findet sie in der psycho-physischen Lebenseinheit, in der alles Erkennen seinen Ursprung hat, weil in ihr alle »Mittel des Anschauens, Verstehens und begrifflichen Denkens« verbunden sind (VIII, 306). Sie bringt aufgrund ihrer vitalen Bedürfnisse, der ihr einwohnenden funktionalen Struktur von Denken, Empfinden und Wollen, ihres Erkenntnistriebes, ihrer Interessen und Ziele den Aufbau der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften und den der natürlichen Welt in den Naturwissenschaften hervor. Diesen Prozess der »fortschreitenden Abstraktion« bezeichnet bereits der junge Dilthey in positiver Weise als eine »Hauptseite der Kulturentwicklung«. 20
4.
»Geisteswissenschaften« versus »Kulturwissenschaften«
Im Unterschied z. B. zu Cassirer verwendet Dilthey den Begriff Kulturphilosophie gar nicht. Der Begriff der Kultur wird von ihm zwar häufig gebraucht, ist aber an keiner Stelle seines Werkes definiert. Den Begriff der Kulturwissenschaften lehnt Dilthey sogar ausdrücklich ab und bevorzugt explizit den Ausdruck Geisteswissenschaften (VII, 323). Aber selbst diesen sieht er für die Gruppe der »Geschichtsund Gesellschaftswissenschaften« 21 als »nicht völlig angemessen« an, beurteilt aber die, wie er sagt, »neuerdings viel gebrauchte Bezeichnung ›Kulturwissenschaften‹« als noch unpassender, da sie die »dunklen Instinkte gegenseitiger Unterdrückung und Zerstörung«, die beim Menschen »eine sehr erhebliche Rolle spielen« (VII, 323), ausblendet. Zudem enthalte dieser Begriff »eine unbeweisbare, ja einseitige Bestimmung über einen Sinn und ein Ziel der Geschichte«, was nach Diltheys Überzeugung »eine allzu freundliche und wohlwollende Auffassung des menschlichen Wesens« bedeute (ebd.). Der Begriff Ethica. Aus den Tagebüchern Wilhelm Diltheys (1854–1864), hrsgg. für die Litteraturarchiv-Gesellschaft in Berlin, Berlin 1915, S. 45. 21 Diese Bezeichnung verwendet Dilthey in seiner Berliner Vorlesung »System der Philosophie« vom Sommersemester 1905. Die bislang noch nicht edierte handschriftliche Mitschrift der Vorlesung ist hinterlegt im Dilthey-Nachlass des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Faszikel 355, unpaginiert. 20
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Gudrun Kühne-Bertram
der Kulturwissenschaften ist ihm also zu eng, weil er das Wesen des Menschen verkennt und weil er die Naturerkenntnis und das Naturwissen ausschließt. Heutzutage dagegen scheint man zu meinen, dass es genau umgekehrt sei, nämlich der Begriff der Kulturwissenschaften viel weiter und umfassender ist als derjenige der Geisteswissenschaften. Denn nur so lässt sich folgende Aussage am Ende des 20. Jahrhunderts verstehen: »Cassirer führt die Philosophie aus ihrer Verengung auf die Geisteswissenschaften wieder heraus und begreift die Geisteswissenschaften […] als ›Kulturwissenschaften‹ neu.« 22 Für Dilthey sind die Inhalte der Wissenschaften von der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt allesamt Objektivationen, welche die psycho-physische Lebenseinheit hervorgebracht hat. Der im Begriff Geisteswissenschaften enthaltene »Geist« ist daher nichts von der menschlichen Natur Abgesondertes oder Abgehobenes – abgesehen davon, dass selbstverständlich auf der Ebene der Erkenntnis Abstraktionen vorgenommen werden müssen, was schon bei der Begriffsbildung im Rahmen der normalen Sprache der Fall ist. Trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Begriff der Kulturwissenschaften und dem Fehlen des Ausdrucks Kulturphilosophie in seinen Schriften und Briefen könnte Diltheys anthropologische Begründung der Kultur und ihrer Wissenschaften, insbesondere seine Beschreibung der Kultursysteme und ihrer Funktionen, einen fruchtbaren Beitrag dazu leisten, das noch heute bestehende Defizit einer Theorie der Kultur und damit auch einer zukünftigen Kulturphilosophie zu beheben, weil er sich intensiv mit dem Ursprung, der Entwicklung und der Struktur der Kultur sowie dem Verhältnis von Gesellschaft und Kultur auseinandersetzt.
22
Gerhardt / Mehring / Rindert, Berliner Geist, a. a. O., S. 210.
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Hans-Ulrich Lessing
Wilhelm Dilthey als Kulturphilosoph
Die Kulturphilosophie ist bekanntlich eine vergleichsweise junge philosophische Disziplin. Zwar gibt es schon seit der klassischen griechischen Antike philosophische Reflexionen über die Kultur, die Geschichte und die kulturelle Verfasstheit des Menschen. 1 Wichtige Vertreter einer solchen oft »impliziten« (R. Konersmann) antiken Kulturphilosophie sind neben Platon vor allem Marc Aurel und Seneca. Und zu den herausragenden neuzeitlichen Philosophen, die sich dem Thema der Kultur widmen, sind z. B. Vico, Rousseau, Herder oder Humboldt zu zählen. Als echte Teildisziplin der Philosophie konstituiert sich die Kulturphilosophie aber erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Als Hauptrepräsentanten der sich schnell etablierenden und an Einfluss gewinnenden Kulturphilosophie gelten Georg Simmel und Ernst Cassirer. Neben diesen beiden auch heute noch die kulturphilosophische Diskussion dominierenden Gestalten finden sich zahlreiche Philosophen, die in einschlägigen geschichtlichen Darstellungen der kulturphilosophischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugerechnet werden. 2 Zu dieser durchaus heterogenen Gruppe zählen u. a. der Jenaer Philosoph Rudolf Eucken und seine Schule (Ludwig Goldstein, Hermann Leser, Eberhard Grisebach), die Vertreter einer »ethischen Kultur« (Paul Bergemann, Georg von Gižycki, Friedrich Jodl), der Religionsphilosoph Leopold Ziegler, Oswald Spengler, Ludwig Klages, Hermann Graf Keyserling, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Jonas Cohn, Theodor Litt und Richard Kroner.
Vgl. Reimar Müller, Die Entdeckung der Kultur. Antike Theorie von Homer bis Seneca. Düsseldorf und Zürich 2003. 2 Vgl. Wilhelm Perpeet, Kulturphilosophie um die Jahrhundertwende. In: Helmut Brackert / Fritz Wefelmeyer (Hrsg.), Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt a. M. 1984, S. 364–408. 1
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Hans-Ulrich Lessing
1.
Kulturphilosophie
Den Namen »Kulturphilosophie« prägt – soweit wir wissen – Ludwig Stein. 3 1899 veröffentlicht er im Verlag von J. C. B. Mohr (Freiburg i. B., Leipzig und Tübingen) ein Werk, das den passenden Titel An der Wende des Jahrhunderts mit dem Untertitel Versuch einer Kulturphilosophie trägt. Das Buch umfasst zwanzig philosophiegeschichtliche und sozialphilosophische Essays. Sie enthalten – so Stein im Vorwort – »Ansätze zu einer Philosophie der Kultur κατ έξοχην, d. h. einer Philosophie des westeuropäisch-amerikanischen Kultursystems. Die geschichtlichen Abhandlungen dienen dem Nachweis der ununterbrochenen historischen Kontinuität, die systematischen der Deutung des Sinnes und Absteckung der Ziele unseres Kultursystems.« Außerdem verweist Stein darauf, dass »die hier gebotenen Streifzüge in das erst urbar zu machende Gebiet der ›Kulturphilosophie‹« eine Ergänzung bilden zu seiner 1897 erschienen Sozialphilosophie. 4 In seiner Kulturphilosophie traktiert Stein eine Reihe von Problemen »unseres Kultursystems« 5 und betrachtet seine Essays, die von seiner Grundüberzeugung des »evolutionistischen Kritizismus« geprägt sind, 6 als »Bausteine zu einer ›Kulturphilosophie‹«. 7 Ludwig Stein (1859–1930) war ein ungarisch-schweizerischer Philosoph, Soziologe, Publizist und Rabbiner. Er war Schüler des von 1872 bis 1895 in Berlin lehrenden Theologen und bedeutenden Philosophiehistorikers Eduard Zeller. Stein habilitierte sich 1886 in Zürich, wurde dort 1889 o. Professor, bekleidete von 1891 bis 1910 eine o. Professur in Bern und lebte danach als freier Schriftsteller und Publizist in Berlin. Er war Begründer des Archivs für Geschichte der Philosophie, das er in Gemeinschaft mit Hermann Diels, Benno Erdmann, Eduard Zeller und Dilthey herausgab. 8 Außerdem gab Vgl. Wilhelm Perpeet, Kulturphilosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte XX (1976), S. 42–99, hier S. 48. 4 Ludwig Stein, An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie. Freiburg i. B. 1899, III. – Ludwig Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Sozialphilosophie und ihre Geschichte, Stuttgart 1897. 5 Stein, An der Wende des Jahrhunderts, a. a. O., III. 6 Vgl. ebd., VI. 7 Ebd., IV. 8 1.–7. Jg. Berlin 1887–1894. Ab 1895 umbenannt in: Archiv für Philosophie. In Gemeinschaft mit Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann, Paul Natorp, mitbegründet von Eduard Zeller, herausgegeben von Ludwig Stein, Abteilung 1: Archiv für Geschichte der Philosophie. 8.–22. Jg. Berlin 1895–1909. 3
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Wilhelm Dilthey als Kulturphilosoph
Stein das Archiv für systematische Philosophie sowie die Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte heraus. Im Übrigen ist Ludwig Stein der Vater von Arthur Stein (1888–1978), der als Rickert-Schüler eine Dissertation über Dilthey geschrieben 9 und als einer der ersten außerhalb des Schülerkreises in Diltheys Nachlass geforscht und an der Ausgabe der Gesammelten Schriften mitgearbeitet hat. 10 Üblicherweise und mit gutem Recht wird Wilhelm Dilthey vor allem als bedeutender Philosoph der Geisteswissenschaften anerkannt und entsprechend rezipiert, denn im Mittelpunkt seines umfangreichen Werks 11 steht – neben zahlreichen und berühmt gewordenen biographischen, literarhistorischen und geistesgeschichtlichen Arbeiten – das unvollendet gebliebene Projekt einer umfassenden philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. Fast während der gesamten Zeit seines wissenschaftlichen Lebens war Dilthey bemüht, diese Begründung der Geisteswissenschaften auszuarbeiten. In deren Zentrum stand vor allem der Versuch, »das Wesen der Geisteswissenschaften zu erkennen und sie von den Naturwissenschaften abzugrenzen«. (VII, 79) Realisieren wollte Dilthey dieses Forschungsvorhaben durch sein Hauptwerk, die Einleitung in die Geisteswissenschaften, deren erster und einziger Band 1883 erschien und den Untertitel trug: Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. 12 Neben einer umfangreichen Geschichte der Begründungsversuche der Geisteswissenschaften von der Antike bis zur Gegenwart sollte die Einleitung eine Erkenntnistheorie, eine Methodenlehre und eine Logik der Geisteswissenschaften umfassen. Der Arthur Stein, Der Begriff des Geistes bei Dilthey. Diss. Phil. Freiburg i. Br. 1914; später unter dem Titel: Der Begriff des Verstehens bei Dilthey, Tübingen 1922. 10 Vgl. Frithjof Rodi, Die Anfänge der Dilthey-Ausgabe, gespiegelt in Mitteilungen und Dokumenten von Arthur Stein. In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 5 (1988), S. 167–177. 11 Diltheys Werk liegt in der 2006 abgeschlossenen Ausgabe der Gesammelten Schriften (Ges. Schr.) vor (26 Bände, herausgeben von B. Groethuysen u. a. Leipzig und Berlin 1914 ff., Stuttgart / Göttingen 1957 ff., Göttingen 1970 ff.). Aus dieser Edition wird im Folgenden unter der Angabe der (römischen) Band- und der (arabischen) Seitenzahl zitiert. Zitate aus Diltheys Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften werden durch Anführung der (kleinen) römischen Seitenzahlen nachgewiesen. Hervorhebungen im Text werden einheitlich durch Kursivsetzung wiedergegeben. 12 Jetzt in Band I der Ges. Schr. 9
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angekündigte zweite Band, der vor allem die eigentliche systematische Grundlegung enthalten sollte, blieb unvollendet, obwohl Dilthey bis zu seinem Tod zahlreiche Abhandlungen veröffentlicht und zu Lebezeiten unpubliziert gebliebene Texte geschrieben hat, die zum Umkreis der Einleitung gehören. Als Kulturphilosoph dagegen wird Dilthey im Allgemeinen in der wissenschaftlich-philosophischen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, und er hätte sich sicher auch nicht als einen Kulturphilosophen bezeichnet – im Übrigen aber sicher auch nicht als Hermeneutiker. Gleichwohl hat Dilthey – wie im Folgenden gezeigt werden soll – wichtige Beiträge zu einer Philosophie der Kultur geliefert und – wie auch die Völkerpsychologen Moritz Lazarus und Heymann Steinthal – eine Transformation der metaphysisch fundierten Hegel’schen Philosophie des objektiven Geistes in eine empirische Kulturphilosophie betrieben. Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften besitzt ein starkes anthropologisch-psychologisches Fundament. Im Fokus seiner Theoriearbeit steht die Aufgabe einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften (vgl. I, xvi f.). Dilthey verfolgt dieses Projekt einer »Kritik der historischen Vernunft« (I, 116; vgl. auch V, 9; VII, 115, 117, 191, 263, 278, 290; VIII, 264), wie er seinen Plan, allerdings mit deutlicher Zurückhaltung, auch genannt hat, von der Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis zu seinem Lebensende 1911. Diese Absicht einer Begründung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte geht zurück auf die Konfrontation der Historischen Schule, deren Hauptvertreter Dilthey noch während seines Studiums in Berlin erlebt hatte, mit dem französisch-englischen Positivismus bzw. Empirismus von Auguste Comte, John Stuart Mill und Henry Thomas Buckle. Dilthey empfand den Naturalismus der Positivisten und Empiristen, die u. a. den Versuch unternahmen, eine einheitliche Methodologie für die Natur- und Geisteswissenschaften zu entwerfen, als Bedrohung der wissenschaftlich-methodischen Substanz der durch die Historische Schule geprägten Geisteswissenschaften. Die Antworten, die Comte und die Positivisten, Mill und die Empiristen auf die Fragen nach dem Fundament und dem Zusammenhang der Geisteswissenschaften gaben, schienen ihm »die geschichtliche Wirklichkeit zu verstümmeln«. (I, xvii) Den Forschungen der Vertreter der Historischen Schule fehlte 38 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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allerdings – so seine These – ein erkenntnistheoretisches Fundament, »der Zusammenhang mit der Analysis der Tatsachen des Bewußtseins«, d. h. »es fehlte ein gesundes Verhältnis zu Erkenntnistheorie und Psychologie« (I, xvi), um der positivistischen Lösung des »Rätsels der geschichtlichen Welt« durch »Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden« (I, xvi) erfolgreich entgegenzutreten. Und die philosophische Reaktion gegen die Ansprüche des Positivismus, für die insbesondere der Mikrokosmus Hermann Lotzes steht, 13 schien ihm »die berechtigte Selbständigkeit der Einzelwissenschaften, die fruchtbare Kraft ihrer Erfahrungsmethoden und die Sicherheit der Grundlegung einer sentimentalen Stimmung zu opfern, welche die für immer verlorene Befriedigung des Gemüts durch die Wissenschaft sehnsüchtig zurückzurufen begehrt«. (I, xvii) Hier setzte Dilthey ein, und sein großes Projekt einer Einleitung in die Geisteswissenschaften als Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte sollte die fehlende Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften entwickeln. Seine zentrale Absicht, die er mit diesem Projekt verfolgte, war es also, ausgehend von der »Tatsache der Geisteswissenschaften, wie sie besonders in dem von der historischen Schule geschaffenen Zusammenhang dieser Wissenschaften vorlag«, deren »erkenntnistheoretische Begründung zu suchen«. (VII, 117) In seinem Spätwerk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), 14 mit dem Dilthey unmittelbar an das frühere Buch anknüpft, wird diese erkenntnistheoretisch-methodologische Aufgabe wiederaufgenommen. Nun steht neben dem Versuch einer »Abgrenzung der Geisteswissenschaften« (VII, 79 ff.) und der Herausarbeitung der »Verschiedenheit des Aufbaus in den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften« (VII, 88 ff.) die Formulierung »allgemeine[r] Sätze über den Zusammenhang der Geisteswissenschaften« (VII, 120 ff.) im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses.
Hermann Lotze, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie. 3 Bände, Leipzig 1856–1864. 14 Jetzt in Band VII der Ges. Schr., S. 77–188. 13
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2.
Dilthey und die Kulturphilosophie
Diese wissenschaftsphilosophische Seite von Diltheys philosophischer Lebensarbeit ist bekannt und immer noch aktuell. Weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass seine Theorie der Geisteswissenschaften auch ein großes kulturphilosophisches Potential besitzt. Daher möchte ich hier die These exponieren, dass Diltheys Ausführungen über die »Systeme der Kultur« im ersten Buch der Einleitung, die im Spätwerk wiederaufgenommen werden, aber auch sein Begriff des »objektiven Geistes«, der im Aufbau entwickelt wird, eine erkennbar kulturphilosophische Relevanz besitzen, was es begründet erscheinen lässt, auch von dem Kulturphilosophen Dilthey zu sprechen. Zunächst muss allerdings feststellt werden, dass Dilthey die Begriffe Kultur und Kulturwissenschaften vergleichsweise sparsam verwendet. Es gibt im Gesamtwerk nur verhältnismäßig wenige Stellen, an denen er das Wort »Kultur« verwendet und dann in eher unspezifischer Weise. So findet sich etwa in der Frühschrift Einleitung in das wissenschaftliche Studium des Menschen, der Gesellschaft und Geschichte von 1866 die Kapitelüberschrift: »Die Psychologie und die Wissenschaften der Kultur«. (XVIII, 5) In diesem Kapitel definiert Dilthey Kultur als »Inbegriff der geistigen Inhalte und der zu ihnen in Abhängigkeitsverhältnis stehenden geistigen Tätigkeiten im Menschengeschlechte« und fügt die Randbemerkung hinzu: »Verhältnis der Kultur zu den einzelnen Wissenschaften, der Weltgeschichte etc. […] 1. Die Phänomene, [die] Gegenstand der Weltgeschichte [sind], Lex, Moral, Religion, kommen nur als Teile dieser Kultur vor. […] 2. Ja, die Geschichte der Kultur lehrt positiv ihre unvollkommenen Anfänge sowie ihre Wandelbarkeit innerhalb gewisser Grenzen. […]« (XVIII, 216) Der Text fährt fort: »Demgemäß handelt es sich um das Verhältnis der in der Psychologie entwickelten Tätigkeiten und ihrer Gesetze zu der Kultur. Geschichte ist der Inbegriff der geistigen Tatsachen, welche in ihrer Aufeinanderfolge und Koexistenz die Kultur bilden. Die Wissenschaft derselben begann als Festhaltung einzelner, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehender Ereignisse im Gedächtnis. […] Die vollendete Wissenschaft der Geschichte wäre die Darstellung und Erklärung des Zusammenhangs der menschlichen Kultur.« (XVIII, 7) Und Dilthey erläutert: »Erklären heißt, zu einer Tatsache ihre Ursachen, zu einem Satz die Bedingungen seiner Denk40 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Wilhelm Dilthey als Kulturphilosoph
barkeit hinzuzudenken. So komplizierte Tatsachen als Denkformen, Denkgesetze etc. erklären, würde heißen, sie auf einfachere als ihre Ursachen zurückzuführen. Die Kultur könnte jedenfalls nicht psychologisch, weder in Kants noch der Empiristen Weise, erklärt werden, sondern eben nur durch die historischen Mittelglieder. Der höhere Geistesinhalt bildet Kulturtatsachen. Jedoch gestatten die Tatsachen sowohl die empiristische als die idealistische Auslegung. […] Die Entscheidung zwischen ihnen wird am sichersten herbeigeführt werden, indem man den Weg verfolgt, welcher eben durch das gegenwärtige Bedürfnis der Wissenschaft vorgeschrieben wird. Dieser Weg ist induktive Feststellung der Tatsachen und gewisser Gruppen derselben durch Verknüpfung aller hierfür in Geschichte und Kulturwissenschaften und Psychologie gegebenen Hilfsmittel.« (XVIII, 7 f.) Eine weitere einschlägige Textstelle findet sich in dem sog. »Manuskript I« Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, das zum Kontext der Fortsetzung der sog. »Abhandlung von 1875«, der wichtigsten Vorstufe der Einleitung, gehört. Dort schreibt Dilthey: »Selten untersucht man den Zusammenhang solcher elementarer psychologischen Probleme mit den großen Tatsachen der Kultur; gerade diese Untersuchung wird uns aber zeigen, daß wir es in diesen drei Klassen mit den Grundlagen deutlich gesonderter großer Zweige unserer Kultur zu tun haben, und dies gibt […] einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß diese Klassifikation sich fähig erweisen wird, ein natürliches System zu werden.« (XVIII, 75) In der Einleitung verwendet Dilthey das Wort »Kultur« oder Komposita, wie »fortschreitende Kultur« (I, 51), »innere Kultur« (I, 57) oder »Kulturstufe« (I, 52) häufiger als im Frühwerk. Gleichwohl zieht er es vor, die Welt des Menschen mit dem Begriff »geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit« zu bezeichnen. Mit diesem Terminus apostrophiert er vor allem die »äußerliche[n] Entwicklungen, welche in der praktischen Seite des Menschen gegründet sind« (XVIII, 35), d. h. Institutionen wie Recht und Moral, zumal sie als unbewusst geschaffene »Regelungen des Lebens durch ein Gedankenmäßiges, Objektives sind, welches […] einen Zwang ausübt«. (XVIII, 33) Auch der Begriff der Kulturwissenschaften wird von Dilthey nur selten benutzt (vgl. aber XVIII, 8) und dann ablehnend, wenn er z. B. schreibt: Der von ihm präferierte, am wenigsten »unangemessene« 41 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Hans-Ulrich Lessing
Ausdruck »Geisteswissenschaften« drücke zwar »höchst unvollkommen den Gegenstand dieses Studiums [des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft, HUL] aus. Denn in diesem selber sind die Tatsachen des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt. […] Aber der Ausdruck teilt diesen Mangel mit jedem anderen, der angewandt worden ist; Gesellschaftswissenschaft (Soziologie), moralische, geschichtliche, Kulturwissenschaften: alle diese Bezeichnungen leiden an demselben Fehler, zu eng zu sein in Bezug auf den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen.« (I, 5 f.; vgl. auch VII, 323) In den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) 15 spricht Dilthey von der »menschlichen Kultur«, »Kulturbeziehungen« und den »großen Formen der menschlichen Kultur« (V, 190), also Sprache, Mythos, Literatur, Kunst etc. Schließlich hat Dilthey die Einleitung zu seiner Vorlesung über System der Philosophie (1898 ff.) mit der Überschrift »Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie« versehen. (VIII, 190–205) Der wichtigste Beitrag des »mittleren« Dilthey zu einer Kulturphilosophie oder -theorie ist seine Theorie der Kultursysteme. Diese wird im Zusammenhang seiner Übersicht über die »positiven Wissenschaften des Geistes« (I, 39) im ersten Buch der Einleitung entwickelt. Um dies nachvollziehen zu können, ist eine kurze Vergegenwärtigung von Diltheys Verständnis des systematischen Aufbaus der Geisteswissenschaften nötig. Die Geisteswissenschaften thematisieren Diltheys Konzeption zufolge den »umfassenden Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit« (I, 39), d. h. die »komplexen Tatsachen der geistigen Welt in ihrem Zusammenhang«. (I, 40) Man kann – so Dilthey – diese Wissenschaften auch als »Geschichts- und Gesellschaftskunde im weitesten Verstande« bezeichnen. (I, 40) Die fundamentale Gruppe der Geisteswissenschaften wird gebildet von der Psychologie und Anthropologie. Ihr Gegenstand ist die Theorie der »psycho-physischen Lebenseinheiten«, d. h. der »Elemente, aus welchen Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen«. (I, 28, vgl. I, 30) Daher ist »Anthropologie und Psychologie die Grundlage aller Erkenntnis des geschichtlichen Lebens« (I, 32), und sie formuliert Theorien erster Ordnung. (Vgl. I, 41) An die Anthropologie des Einzelmenschen schließt sich als erste der »theoretischen 15
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Wissenschaften der Gesellschaft« (I, 111) zunächst die »Ethnologie oder vergleichende Anthropologie« an. (I, 40) Diese Völkerkunde untersucht vor allem »die natürliche Gliederung des Menschengeschlechts und die durch sie unter den Bedingungen des Erdganzen entstehende Verteilung des geistigen Lebens und seiner Unterschiede auf der Oberfläche der Erde«. (I, 40) Auf der Basis der Anthropologie untersuchen die zwei im Aufbau der Geisteswissenschaften folgenden Wissenschaften die »Wechselwirkung von Individuen unter den Bedingungen des Naturzusammenhangs«. (I, 41) Dilthey bezeichnet sie als »Theorien zweiter Ordnung«. Es sind die »Wissenschaften der Systeme der Kultur und der einzelnen Verbände innerhalb derselben«. (I, 41) Diese Wissenschaften untersuchen »die verschiedenen Seiten des Volkslebens, z. B. Sprache, Religion, Kunst, in ihrer Wechselwirkung« und bereiten dadurch die Analyse der Einzelvölker vor. (I, 42) Neben den verschiedenen Völkern, die sich im Laufe der genealogischen Entwicklung herausbilden, kristallisieren sich in den Gesellschaften »dauernde Gebilde« heraus. Diese sind entweder »Systeme der Kultur« oder die »äußere Organisation« der Gesellschaft, wozu Dilthey die staatliche Verfassung der Gesellschaft, aber auch die Verbände (vgl. I, 70; vgl. auch VII, 169–171) 16 zählt. Kultursysteme 17 entstehen, wenn »ein auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhender und darum andauernder Zweck psychische Akte in den einzelnen Individuen in Beziehung zueinander setzt und so zu einem Zweckzusammenhang verknüpft«. Äußere Organisationen werden gebildet, wenn »dauernde Ursachen Willen zu einer Bindung in einem Ganzen vereinen, mögen nun diese Ursachen in der natürlichen Gliederung oder in den Zwecken, welche die Menschennatur bewegen, gelegen sein«. (I, 43; vgl. I, 53 f., V, 414 und VII, 166–169) Kultursysteme besitzen also eine anthropologische Basis. Sie stellen Zusammenhänge dar, in denen die einzelnen Individuen so miteinander verbunden sind, dass ein anthropologisch fundierter permanenter Zweck dauerhaft realisiert werden kann. Sie sind somit anthropologisch notwendige, Gesellschaft konstituierende, über die einzelnen Individuen hinausgreifende Zweckzusammenhänge. Diese Systeme befriedigen Bedürfnisse, die in der menschlichen Natur an»Unter einem Verband verstehen wir eine dauernde auf einem Zweckzusammenhang gegründete Willenseinheit mehrerer Personen.« (I, 70) 17 Vgl. schon XVIII, S. 36 f. 16
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gelegt sind und durch die Eigentätigkeit der Individuen allein nicht erfüllt werden können. Die Wissenschaften der Systeme der Kultur beruhen somit auf psychischen bzw. psychophysischen Inhalten. Diesen Inhalten korrespondieren Begriffe, die Dilthey als »Begriffe zweiter Ordnung im Aufbau der Geisteswissenschaften« bezeichnet, da sie von den individualpsychologischen Begriffen substantiell unterschieden sind. (I, 45; vgl. I, 66 und 68) Entsprechend erarbeiten diese Wissenschaften »Wahrheiten zweiter Ordnung in dem aufsteigenden Zusammenhang der Geisteswissenschaften«. (I, 46; vgl. I, 114) Damit kann Dilthey zusammenfassen: »Die Tatsachen, welche die Systeme der Kultur bilden, können nur vermittels der Tatsachen, welche die psychologische Analyse erkennt, studiert werden. Die Begriffe und Sätze, welche die Grundlage der Erkenntnis dieser Systeme ausmachen, stehen in einem Verhältnis von Abhängigkeit zu den Begriffen und Sätzen, welche die Psychologie entwickelt.« (I, 46) Es sind nach Dilthey drei zentrale Bedingungen, auf denen das Verständnis des Begriffs von Systemen des gesellschaftlich-kulturellen Lebens beruht: Es ist erstens der »Lebensreichtum des einzelnen Individuums selbst«, zweitens die »Gleichartigkeit der Individuen« und drittens die »Wechselwirkung der Individuen in der Gesellschaft«. (I, 49) 18 Wichtig für Diltheys Theorie der Kultursysteme ist der Gedanke, dass diese vom Menschen hervorgebrachten Zusammenhänge kollektiv realisierter Lebenszwecke eine eigene Objektivität, Stabilität und Dauerhaftigkeit gewinnen: »Diese Systeme beharren, während die einzelnen Individuen selber auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von demselben wieder abtreten. Denn jedes ist auf einen bestimmten, in Modifikationen wiederkehrenden Bestandteil der Person gegründet. Die Religion, die Kunst, das Recht sind unvergänglich, während die Individua, in denen sie leben, wechseln.« (I, 50) Sie sind, wie er im Aufbau formuliert, »Subjekte ideeller Art«, d. h. Zusammenhänge, die »durch die Individuen hindurchgehen, in denselben bestehen, aber über ihr Leben hinausreichen und die durch den Vgl. auch V, S. 376: »[…] Rasse, Klima, Lebensverhältnisse, ständische und politische Entwicklung, persönliche Eigenart der Individuen und ihrer Gruppen geben jedem geistigen Erzeugnis seinen besonderen Charakter; aber in all dieser Mannigfaltigkeit entstehen doch aus der immer gleichen Struktur des Lebens dieselben Zweckzusammenhänge, die ich als Systeme der Kultur bezeichne: nur in verschiedenen geschichtlichen Modifikationen.«
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Gehalt, den Wert, den Zweck, der sich in ihnen realisiert, ein selbständiges Dasein und eine eigene Entwicklung besitzen«. (VII, 135) Die verschiedenen Kultursysteme beruhen auf jeweils unterschiedlichen, konstanten Teilinhalten oder Bestandteilen der menschlichen Natur und realisieren vermittelt über unterschiedliche sinnvolle und gesellschaftlich notwendige Aktivitäten oder Handlungszusammenhänge je spezifische Zwecke. Die Systeme verwirklichen sich also durch die Individuen hindurch und in ihnen. Eine feste Gestalt kommt diesen Systemen dann zu, wenn die systembezogenen Aktivitäten der Individuen im gesellschaftlichen Raum auf Dauer gestellt werden und dadurch ein Eigengewicht gewinnen, konserviert werden und die Fähigkeit erhalten, auf die Individuen zurückzuwirken: »Seine volle Realität, Objektivität empfängt das System aber erst dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von Individuen, die rasch vergänglich sind, auf eine mehr dauernde oder sich wiedererzeugende Weise aufzubewahren und zu vermitteln die Fähigkeit hat. Diese Verbindung von wertvoll nach dem Zweck eines solchen Systems gestalteten Bestandteilen der Außenwelt mit der lebendigen, aber vorübergehenden Tätigkeit der Personen, erzeugt eine von den Individuen selber unabhängige äußere Dauer und den Charakter von massiver Objektivität dieser Systeme.« (I, 50 f.) Wichtig ist schließlich noch die Einsicht Diltheys, dass das einzelne Individuum »ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen [ist], welche sich im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren«. (I, 51; vgl. VII, 135) Das heißt, das Individuum partizipiert an unterschiedlichen Kultursystemen, die sich im Prozess der gesellschaftlichen Evolution immer weiter ausdifferenzieren, wie Dilthey an einem ihm lebensweltlich naheliegenden Beispiel veranschaulicht: »Indem ein Gelehrter ein Werk abfaßt, kann dieser Vorgang ein Glied in der Verbindung von Wahrheiten bilden, welche die Wissenschaft ausmachen; zugleich ist derselbe das wichtigste Glied des ökonomischen Vorgangs, der in Anfertigung und Verkauf der Exemplare sich vollzieht; derselbe hat weiter als Ausführung eines Vertrags eine rechtliche Seite, und er kann als Bestandteil der in den Verwaltungszusammenhang eingeordneten Berufsfunktionen des Gelehrten sein. Das Niederschreiben eines jeden Buchstabens dieses Werkes ist so ein Bestandteil all dieser Systeme.« (I, 51) Jedes einzelne Kultursystem – so lässt sich Diltheys Theorie zusammenfassen – entwickelt sich innerhalb des Gesamtzusammen45 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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hangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit auf der Grundlage bestimmter universaler anthropologischer Konstanten: »[…] [J]edes ist das Erzeugnis eines Bestandteils der menschlichen Natur, einer in ihm angelegten, durch den Zweckzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens näher bestimmten Tätigkeit. Es ist in dieser der Gesellschaft aller Zeiten gemeinsamen Grundlage angelegt, wenn es auch erst auf einer höheren Kulturstufe zu abgesonderter und innerlich reicher Entfaltung gelangt.« (I, 52; vgl. I, 58) Bedeutsam für Diltheys Theorie der Wissenschaften der Kultursysteme ist schließlich der wissenschaftsphilosophische Gedanke, der im Übrigen seine gesamte Philosophie der Geisteswissenschaften grundiert, dass die systematischen Wissenschaften der Gesellschaft nicht die konkrete geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit selber zu ihrem Gegenstand haben: »Alle Theorie erfaßt nur Teilinhalte der komplexen Wirklichkeit; die Theorien des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens scheiden die unermeßlich verwickelte Tatsächlichkeit, der sie sich nähern, um in sie einzudringen.« (I, 81 f.; vgl. I, 110 f.) Die von Dilthey im ersten Buch der Einleitung entwickelte Theorie der Systeme der Kultur und seine Wortprägung »Kultursystem« besitzen erkennbar eine kulturtheoretische oder kulturphilosophische Bedeutung. Sein kulturanalytisches Interesse findet eine Fortführung in seinem Spätwerk. So nimmt Dilthey im Umkreis des Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910, den Hegel’schen Begriff des »objektiven Geistes« auf, um die kulturelle Welt des Menschen zu bezeichnen, und dies scheint mir das zweite kulturphilosophisch bedeutsame Theorieelement von Diltheys Wissenschaftsphilosophie der Geisteswissenschaften. Vorbereitet wird die späte Theorie des objektiven Geistes schon in den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Diltheys großer Programmschrift der deskriptiven Psychologie von 1894. Er spricht dort über die psychologische Analyse der Erzeugnisse des menschlichen Geistes und bemerkt: »In Sprache, Mythos und religiösem Brauch, Sitte, Recht und äußerer Organisation sind Erzeugnisse des Gesamtgeistes vorliegend, in denen das menschliche Bewußtsein, mit Hegel zu reden, objektiv geworden ist und so der Zergliederung standhält. Was der Mensch sei, erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte.« (V, 180) 19 19
Vgl. auch V, S. 199 f.: »In der Sprache, dem Mythos, der Literatur und Kunst, über-
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Im Zusammenhang seiner Ausführungen über die menschlichen Willenshandlungen, den »dritte[n] große[n] Zusammenhang in unserem Seelenleben« (V, 188), schreibt Dilthey: »Dieser Konstanz im Zusammenhang des Wollens steht zur Seite die Gleichförmigkeit dieses Zusammenhangs in den Individuen. So entstehen die großen Formen der menschlichen Kultur, in welchen der konstante und gleichförmige Wille sich objektiviert«. (V, 190) Und einige Zeile weiter fällt der Begriff der »Objektivation« (V, 190), mit dem er später die »gegenständlichen Produkte des psychischen Lebens« (V, 199) bezeichnen wird. Seine Theorie des objektiven Geistes entwickelt Dilthey im 3. Kapitel des 2. Abschnitts der »allgemeinen Sätze über den Zusammenhang der Geisteswissenschaften« (VII, 146–152) und nimmt sie auf in dem Abschnitt »Der objektive Geist und das elementare Verstehen« des Nachlasstextes Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen. (VII, 208–210) Im Kern ist Diltheys Theorie des objektiven Geistes eine Adaption des Hegel’schen Begriffs an die veränderte philosophische Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 20 Dilthey löst Hegels Begriff des objektiven Geistes, den dieser »tiefsinnig und glücklich gebildet« habe (VII, 148), aus dessen ideeller, metaphysischer Konstruktion der Entwicklung des Geistes vom subjektiven zum absoluten Geist und modifiziert ihn zu einem historischen und empirischen Begriff. (Vgl. VII, 149) Dilthey ersetzt also mit seinem Begriff des objektiven Geistes Hegels metaphysisches Konstrukt, denn »die Voraussetzungen, auf die Hegel diesen Begriff gestellt hat, können heute nicht mehr festgehalten werden«. Hegel – so Dilthey – »konstruierte die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhanges wirksam. Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene.« (VII, 150) Im Gegensatz zu Hegel kann Dilthey den objektiven Geist also nicht mehr aus der Vernunft verstehen, sondern muss zu seinem Verständnis »auf den haupt in allen geschichtlichen Leistungen haben wir gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns: Produkte der wirkenden Kräfte, welche psychischer Natur sind: feste Gestalten, welche sich aus psychischen Bestandteilen und nach deren Gesetzen aufbauten.« 20 Vgl. dazu Diltheys Ausführungen in: Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie, der Einführung in seine System-Vorlesung (1898), VIII, S. 190–205.
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Strukturzusammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fortsetzt, zurückgehen«. Außerdem kann Dilthey den objektiven Geist nicht mehr in eine ideale Konstruktion einordnen, sondern muss »seine Wirklichkeit in der Geschichte zugrunde legen«. (VII, 150) Damit wird ein neuer Begriff des objektiven Geistes möglich, in dem »Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, vom Stil des Lebens ebensogut umfaßt [sind] wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht«. (VII, 151) Aber auch Kunst, Religion und Philosophie, die Hegel unter dem Begriff des absoluten Geistes gefasst hatte, fallen unter den neuen Begriff (vgl. auch VII, 208), den er durchaus als seine Innovation verstanden wissen möchte. Dabei unterschlägt er allerdings bemerkenswerterweise, dass sein ehemaliger Freund Moritz Lazarus, der Begründer der Völkerpsychologie, bereits in seiner großen Abhandlung Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie von 1865 einen ähnlichen, nicht-metaphysischen Begriff des objektiven Geistes und eine differenzierte Systematik des objektiven Geistes entwickelt hatte. 21 Mit seinem Begriff kann Dilthey die kulturelle Wirklichkeit des Menschen, die er auch als »Objektivierung des Lebens«, als »Objektivität des Lebens«, als »Manifestationen des Lebens«, als »große äußere Wirklichkeit des Geistes«, als »Realisierung des Geistes in der Sinnenwelt« (VII, 146) oder als »Objektivation des Lebens« (VII, 148) bezeichnet, in ihrer historischen Erstreckung und Entwicklung zum Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaften erklären. (Vgl. VII, 148) Mit dem Begriff des objektiven Geistes bezeichnet Dilthey die kulturelle Lebenswelt des Menschen, er ist der gemeinsame Erfahrungs- und Erwartungshorizont, das fundamentale soziale Kommunikations- und Interaktionsmedium. Der objektive Geist bildet eine »Sphäre der Gemeinsamkeit« (VII, 147), in der wir leben, die uns beständig umgibt und die die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens der verschiedenen Lebensäußerungen darstellt: »Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in dieser geschichtlichen und verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir Moritz Lazarus, Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie (1865). In: Ders., Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, hrsgg. von K. Chr. Köhnke, Hamburg 2003, S. 131–238.
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selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten.« (VII, 147; vgl. VII, 148) Der objektive Geist bildet somit den historisch gewachsenen Boden unserer kulturellen Existenz, gleichsam unser kulturelles Netzwerk. In die Welt des objektiven Geistes werden wir hineingeboren, und sie prägt uns; sie ist unser Lebens- und Verständnismedium: »Aus dieser Welt des objektiven Geistes empfängt von der ersten Kindheit ab unser Selbst seine Nahrung. Sie ist auch das Medium, in welchem sich das Verständnis anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen vollzieht. […] Jeder mit Bäumen bepflanzte Platz, jedes Gemach, in dem Sitze geordnet sind, ist von Kindesbeinen ab uns verständlich, weil menschliches Zwecksetzen, Ordnen, Wertbestimmen als ein Gemeinsames jedem Platz und jedem Gegenstand im Zimmer seine Stelle angewiesen hat. Das Kind wächst heran in einer Ordnung und Sitte der Familie, die es mit andern Mitgliedern teilt […]. Ehe es sprechen lernt, ist es schon ganz eingetaucht in das Medium von Gemeinsamkeiten.« (VII, 208 f.) Der objektive Geist ist nicht nur dieses kulturelle Medium der Gemeinsamkeiten, sondern vermittelt darüber hinaus »Einblick in das Wesen des Geschichtlichen«: »Alles ist hier durch geistiges Tun entstanden und trägt daher den Charakter der Historizität. In die Sinnenwelt selbst ist es verwoben als Produkt der Geschichte. Von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte.« (VII, 147) Während der Gegenstand der Naturwissenschaften die Natur, d. h. die »unabhängig vom Wirken des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit« ist, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften die Kultur, der objektive Geist, d. h. »alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat«. (VII, 148) Diltheys kulturtheoretischer Ansatz steht im Kontext anderer nach-hegelscher kulturphilosophischer Entwürfe. Er ist ein hermeneutischer und ebenso anti-naturalistisch wie anti-metaphysisch. Dilthey begreift den objektiven Geist, d. h. die Kultur, als die Welt des Menschen, die dieser einerseits tätig hervorgebracht hat, die diesem aber andererseits als etwas objektiv Gewordenes gegenübersteht. Eine mehr als einhundert Jahre alte Bestätigung für die These 49 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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einer kulturphilosophischen Bedeutung von Diltheys Werk findet sich in der von der Dilthey-Forschung meines Wissens bisher nicht beachteten Jenaer Habilitationsschrift von Eberhard Grisebach über Kulturphilosophische Arbeit der Gegenwart. Eine synthetische Darstellung ihrer besonderen Denkweisen von 1913 (Weida i. Th.). Grisebach (1880–1945), der von Ernst Ludwig Kirchner (1917) und Edvard Munch (1932) porträtiert wurde, war ursprünglich Schüler von Rudolf Eucken. Als Freund von Friedrich Gogarten wurde er später Vertreter der dialogischen Philosophie und hat die philosophischtheologische Debatte der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts mitgeprägt. Sein Hauptwerk ist das Buch Gegenwart. Eine kritische Ethik (Halle-Saale 1928). 22 In seiner Habilitationsschrift über die kulturphilosophische Arbeit der Gegenwart untersucht Grisebach die Kulturphilosophie Diltheys, die Geschichtsphilosophie Simmels, Rickerts kulturphilosophische Begründung der Kulturwissenschaften, Windelbands Kulturphilosophie und Euckens Geschichtsphilosophie, wobei seine gediegene Darstellung Diltheys die Einleitung, den Aufbau und die deskriptive Psychologie umfasst. Dieser kurze Hinweis auf die längst vergessene Schrift eines wahrscheinlich auch längst vergessenen Philosophen sollte nur deutlich machen, dass es nicht ganz abwegig ist, Dilthey auch als einen Anreger der Kulturphilosophie zu lesen, in dessen Analysen der Kultursysteme und des objektiven Geistes sich Impulse finden lassen, die noch aufzunehmen sind. 23 Ein anderer, ungleich wichtigerer Zeuge für die kulturphilosophische Bedeutung Diltheys ist Helmuth Plessner, der in seiner Schrift Macht und menschliche Natur von 1931 24 die kulturphilosophische und kulturanthropologische Relevanz von Diltheys hermeneutisch-geschichtlicher Lebensphilosophie herausstellt. 25 Der PhiVgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 2., um eine Vorrede vermehrte Aufl., Berlin / New York 1977, bes. S. 249–252, 362– 367. 23 Der einzige, der – soweit ich sehe – in der Nachfolge Diltheys eine Theorie des objektiven Geistes entwickelt hat, ist Hans Freyer mit seinem Buch: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, Leipzig / Berlin 1923; 2., durchgesehene und teilweise veränderte Aufl., Leipzig / Berlin 1928. 24 Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht. In: Ders., Gesammelte Schriften V: Macht und menschliche Natur, hrsgg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, Frankfurt a. M. 1981, S. 135–234. 25 Vgl. bes. ebd., S. 165–175. 22
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Wilhelm Dilthey als Kulturphilosoph
losophie Diltheys verdankt Plessner u. a. den fruchtbaren Gedanken, »den Menschen als Zurechnungssubjekt seiner Welt, als die ›Stelle‹ des Hervorgangs aller überzeitlichen Systeme« zu begreifen, »aus denen seine Existenz Sinn empfängt«. 26 Das bedeutet, »der Mensch wird als das Subjekt, als der Schöpfer und die produktive ›Stelle‹ des Hervorgangs einer Kultur entdeckt«. 27 Mit Dilthey begreift Plessner den Menschen »als schöpferische Durchbruchstelle seiner geistigen Welt, aus deren Werten und Kategorien heraus er sich, seine Mitwelt und Umwelt versteht und behandelt, seines eigenen Apriori also und seiner ihm je schon vorgezeichneten Denk-, Willens- und Gefühlsmöglichkeiten«. 28
3.
Fazit
Diltheys Philosophie, das sollte dieser kurze Durchgang durch sein Werk zeigen, besitzt auch eine kulturphilosophische Bedeutung. Dilthey ist nicht nur – wie Windelband und Rickert – Vertreter einer »formalen Kulturphilosophie« (Wilhelm Perpeet), der die wissenschaftsphilosophischen Grundlagen der kulturwissenschaftlich-historischen Forschungspraxis untersucht, sondern auch Repräsentant einer genuin »materialen Kulturphilosophie«. 29 Dilthey – so lassen sich meine Erkundungen zusammenfassen – war ein Kulturphilosoph avant la lettre.
Ebd., S. 148; vgl. S. 218. Ebd., S. 149; vgl. S. 153. 28 Ebd., S. 160. 29 Vgl. Wilhelm Perpeet, Kulturphilosophie. Anfänge und Probleme, Bonn 1997, S. 74 ff. 26 27
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Julia Gruevska
Kultur als »ontische Notwendigkeit« Wilhelm Diltheys und Helmuth Plessners psychophysische Auffassung des Lebens
1.
Von der »Zwillingsnatur des Menschen«
Metabolische Komplexitäten, DNA, RNA, Mitose – in solch fachspezifischen Termini wird das Leben in der Regel gedacht. Gerade im medizinischen Bereich, wo der biologische Körper ganz plastisch und praktisch an das Leben und die Lebenswelt zurückgebunden ist, operiert man mit solch funktionellen und strukturellen Auffassungen des menschlichen Lebens. Doch reicht diese einseitige Perspektive aus, um das Leben in all seiner Variabilität und Vielfältigkeit zu erfassen und zu begreifen? Dies ist eine Frage, die nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, als die Fortschritte der biologischen, technischen und medizinischen Forschung mit der Etablierung des Mikroskops und ideengeschichtlich mit der Evolutionstheorie Charles Darwins dieser zugespitzten Definition des Lebens zur Dominanz verhalf. Im Zuge dessen wurde eine spezifische geistige Sonderstellung des Menschen, der seitdem nur noch als lebendiges Wesen unter anderen lebendigen Wesen gedacht wurde, damit infrage gestellt. Doch bereits in der Renaissance verfasste der Humanist Otto Casmann eine Anthropologie, in der er ganz explizit von einer doctrina geminae naturae humanae sprach, einer Zwillingsnatur des Menschen. 1 Der Philosoph Gerald Hartung diagnostiziert daher für das 20. Jahrhundert, dass der vorherrschende Zeitgeist vergleichbar zur Frühen Neuzeit ist, »aber […] auch ungleich komplexer.« Dafür bringt er es auf die Formel, dass die »›Natur‹ kein stoisches Prinzip mehr ist, sondern ein darwinsches.« 2
Otto Casmann, Psychologia anthropologica; Sive animae humanae doctrina, Methodice informata, capitibus disecta, singulorumque Capitum disquisitionibus, ac controversarium questionum ventilationibus ilustrata, Hannover 1596, S. 1. 2 Gerald Hartung, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2008, S. 10. 1
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Kultur als »ontische Notwendigkeit«
Vor diesem Hintergrund waren es gerade die Vertreter der modernen Philosophischen Anthropologie, die sich in der Pflicht sahen, sich einer materialistischen Auslegung des Lebens entgegenzustellen. So bezweifelte beispielsweise Helmuth Plessner nicht, dass der Mensch biologischen Determinanten unterliegt, sondern versuchte vielmehr in seinem biophilosophischen Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch 3 eine versöhnliche Synthese von Körper und Geist zu etablieren. Als philosophietheoretischer Ausgangspunkt fungierte dabei die Ablehnung des cartesianischen Dualismus von res cogitans und res extensa zu Gunsten eines Verständnisses des Menschen als psychophysische Indifferenz. Der Begriff der psychophysischen Indifferenz, der maßgeblich von Max Scheler in der Werteethik 4 etabliert und von Plessner auf den Psychophysiker Gustav Theodor Fechner zurückgeführt wurde, fungiert inhaltlich wie methodisch als prima causa seiner anthropologischen Auseinandersetzung. Im Folgenden soll auf die Rezeption Diltheys durch Plessner eingegangen und dessen Einfluss auf die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts beleuchtet werden. Dabei steht die disziplinenaufbrechende Forschungsweise beider Denker, als Synthese von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, im Fokus, wobei ebenso die Schwächen der naturwissenschaftlichen Analyse, die markant durch Diltheys Auseinandersetzung mit Helmholtz zutage kommen, in den Vordergrund gestellt werden. Zuletzt sollen die menschlichen Paradigmata Kultur und Natur anhand Plessners Modell der natürlichen Künstlichkeit zur Synthese gebracht sowie das Korrelat zur psychophysischen Auffassung des Lebens offen gelegt werden.
2.
Über den Nutzen der Kopplung von Geistes- und Naturwissenschaft
Wilhelm Dilthey, als von Plessner ernannter Ahnherr der philosophischen Anthropologie, 5 erkannte, so Plessner, »die Unmöglichkeit Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin / New York 1975. 4 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus (1913/16), Bern 1954, S. 393 ff. 5 In: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschicht3
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Julia Gruevska
eines Desinteressements der Theorie der Geisteswissenschaften an der Natur.« 6 In diesem Sinne erwiesen sich offene Grenzen zwischen fachlichen Disziplinen für die Lebensphilosophie Diltheys als ebenso unerlässlich wie produktiv. In Folge der Auseinandersetzung mit dem expliziten »Leben« muss die Lebensphilosophie gleichermaßen auf die Methoden und Erkenntnisse der Biowissenschaften wie auf geisteswissenschaftliche Analysen zurückgreifen. Dieser methodenübergreifenden Fragestellung nachfolgend formierten sich die Lebensphilosophie Diltheys und an dessen wichtigsten Ausgangspunkten anknüpfend die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners. Beide Denker, die maßgebliche Akzente für die Philosophie des 20. Jahrhunderts setzten, fordern gleichermaßen eine Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaften, die sich aus der Debatte um die Akademisierung der Psychologie herauskristallisierte. Während Dilthey sein starkes Interesse an der naturwissenschaftlichen Praxis stillte, indem er zu Zeiten seines Studiums bei Wilhelm Wundt hospitierte und während seiner ersten Professur in Basel engen Kontakt zum Physiologen Wilhelm His pflegte, 7 war es vor allem Hermann von Helmholtz, dessen »umfassende[s] Genie« 8 Dilthey nachhaltig beeindrucken sollte. Vor allem Ende der 1860er Jahre befasste sich Dilthey in seiner Basler Zeit zunehmend mit naturwissenschaftlichem Denken und Arbeiten. Er »begann […] mit Anthropologie und Psychologie und erhielt dadurch einen ganz neuen Anstoß«, »Johannes Müller und Helmholtz«, so schildert Dilthey weiter, »faßten mich völlig.« 9 Seine Verehrung für Helmholtz war dabei ungewöhnlich hoch, was für seine Affinität zu einem naturwissenschaftlichen Denken spricht. Dabei war es gerade das Entdecken seiner Grenzen, was ihn durchaus faszinierte und dazu motivierte, für eine Geisteslichen Weltansicht (1931). In: Ders. Gesammelte Schriften V, hrsgg. v. G. Dux / O. Marquard und E. Ströker, Frankfurt am Main 1981, S. 165, erklärt Plessner, dass mit Dilthey »die neue Anthropologie« beginne. 6 Plessner, Stufen des Organischen, a. a. O., S. 20 f. 7 Vgl. Gudrun Kühne-Bertram, Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in der Philosophie Wilhelm Diltheys. In: Hans-Ulrich Lessing / Christian Damböck (Hrsg.), Dilthey als Wissenschaftsphilosoph, Freiburg i. Br. 2016, S. 225–248. 8 Wilhelm Dilthey, Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen. In: Erich Weniger (Hrsg.) Gesammelte Schriften, Band 11, 1988, S. 262 f. 9 Georg Misch (Hrsg.), Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870, Leipzig 1933, S. 283 f.
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wissenschaftlichkeit zu plädieren. 10 Denn, so schreibt er, »[d]ie Begriffe der naturwissenschaftlichen Philosophie konnten dieser in mir sich bewegenden Welt nicht genugtun …« 11 Es musste für Dilthey eine produktive Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaft geben: Nur so konnte man das Leben erklären und verstehen. Ähnlich wie Dilthey lehnt Plessner das Konzept eines Erkenntnissubjekts der cartesianischen Philosophie ab, um zugunsten des menschlichen Lebens zu forschen, das Körper und Geist gleichermaßen umfasst. So wertet Dilthey das Erkenntnissubjekt in seiner Philosophie des Lebens an prominenter Stelle folgendermaßen ab: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.« 12 Insofern es kein richtiges Blut sei, so die Metapher, sei es auch keine Beschäftigung mit dem richtigen Leben, das sich eben aus mehreren geistigen wie körperlichen Konstituten zusammensetzt. Bei Plessner geht es ebenso um die »Theorie des lebendigen Menschen«, 13 wie bei Dilthey, der für seine Forschung feststellte: »Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin [also nicht nur die Beschäftigung mit der res cogitans, J. G.], diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen.« 14 Dilthey spricht von demjenigen Leben, welches, auch Plessner zufolge, den Menschen als biologisches Lebewesen ebenso wie als geistig sittliche Existenz erfasst. In dieser Hinsicht ist Plessner durch und durch von Dilthey inspiriert. Denn auch »Diltheys Ziel ist es, […]«, so Gudrun Kühne-Bertram, Für einen tieferen Einblick zur Beziehung von Dilthey und Helmholtz, s. HansUlrich Lessing, Dilthey und Helmholtz. Aspekte einer Wirkungsgeschichte. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung, hrsgg. v. Christoph Demmerling / Andrea Esser et al., (43/ 5), 1995. 11 Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. In: Gesammelte Schriften, Band 5, hrsg. v. Georg Misch, S. 4. 12 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, Band 1, hrsgg. v. Bernhard Groethuysen, Göttingen 1970, S. XVIII. 13 Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931). In: Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 138–229, hier S. 164. 14 Dilthey, Einleitung, a. a. O., S. XVIII. 10
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»die zwei ›Hälften des Wissens‹, das theoretische und das praktische Wissen, die Naturerkenntnis und die Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zur Einheit des ›globus intellectualis‹ zusammen zu schließen. Damit soll auch die strikte Entgegensetzung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften relativiert werden. Dilthey begründet dieses Streben mit der Aussage, dass es nur eine Erfahrung gibt. Diese habe sich lediglich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte in einer ›doppelten Richtung‹ entwickelt: in die äußere Erfahrung als Grundlage der Naturwissenschaften und in die innere Erfahrung als Basis der Geisteswissenschaften. In der wirklichen Erfahrung aber seien beide ungetrennt. Nur durch eine abstrakte isolierende Betrachtung können sie unterschieden werden.« 15
Auch Dilthey wollte, wie Plessner, das Leben aus sich selbst heraus verstehen. Mit Dilthey kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu, den Plessner aufnimmt: die Historie. Der Mensch ist ein historisches Wesen, das sich verändert, wobei sich nicht nur der Mensch, sondern auch das Menschliche im Zuge des geschichtlich-gesellschaftlichen Wandels verändert. Dabei scheint das Wichtige das wechselseitige Verhältnis zu sein, das sich gleichermaßen in der Sphäre des Biologischen und des Geistigen bewegt. So wie der Körper auch immer an der jeweiligen Kultursphäre partizipiert, so steht auch die Kultur, so Plessner, stets »im Schatten seiner [des Menschen, J. G.] schwerfälligen Anatomie«. 16 Insofern muss eine Hermeneutik, die die Frage nach dem Menschen und dem Verstehen im Leben des Menschen stellt, immer die biologische Sphäre, die er einerseits ist, in die Theorie miteinbeziehen. »Hermeneutik fordert eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren« 17, so Plessner. Deutlich erkennt man Dilthey in dieser Formulierung wieder. Dilthey, den Plessner vermutlich nur durch Georg Misch liest, ebnet ihm folglich den Gedankengang, den er in seinem biophilosophischen Hauptwerk, Die Stufen des Organischen und der Mensch, und ebenso in seinem Aufsatz »Zur Deutung des Mimischen Ausdrucks. Eine Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs«, den er zusammen mit dem niederländischen Physiologen Frederik J. J. Buytendijk verfasste, ausformuliert. Die Besinnung auf das Leben geht als Untersuchungsgegenstand Kühne-Bertram, Zum Verhältnis, a. a. O., S. 242. Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. In: Gesammelte Schriften VII, Frankfurt a. M. 2003, S. 201–388, hier: S. 210. 17 Helmuth Plessner, Die Frage nach der Conditio Humana, in: Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt a. M. 2003, S. 158. 15 16
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mit der Veränderung der Biologie durch Charles Darwins Deszendenztheorie als Evolution und Ernst Haeckels Morphologie sowie der Propaganda eines Sozialdarwinismus einher. 18 Dies evozierte im Gegenzug auch vitalistische Gegenargumente, an denen sich letztlich auch Plessner und sein Freund und Kollege Buytendijk kritisch anlehnten. Doch gemeinsam hatten nun alle Wissenschaften, sofern sie sich als Wissenschaften und nicht als Metaphysik verstanden, den Anspruch, sich auf naturwissenschaftlich-empirische Methoden zu stützen. Tatsächlich sind nur wenige Philosophen auch als Experimentatoren bekannt, doch gerade zum fin de siècle etablierte sich eine Möglichkeit der Konvergenz von praktischer und theoretischer Leistung zugunsten einer Annäherung an einen Begriff des Lebens. Eindringlichere Manifestation dieser Idee erfuhr die Philosophie 1925 in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit von Plessner und Buytendijk. 19 Aus der ersten gemeinsamen Arbeit des Biophilosophen Plessner und des an Philosophie interessierten Physiologen Buytendijk 20 festigte sich das philosophisch-anthropologische Programm Plessners, das im Ausgang von einer psychophysischen Indifferenz des Lebens denkt und diese anhand phänomenologischer wie hermeneutischer Vorgehensweisen offenzulegen sucht. Aus dieser disziplinären Verschränkung, die grundlegend für die Formulierung der Bio-Philosophie ist, die sich aus der Philosophie, theoretischen Biologie und teilweise – mit dem Einfluss und der kritischen Auseinandersetzung mit Hans Driesch – aus vitalistischen Perspektiven speist, entstand diejenige philosophische Richtung Plessners, aber auch Buytendijks, die laut Hans-Werner Ingensiep
Vgl. Helmuth Holzhey / Wolfgang Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 2. Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie, München 2004, S. 24 f. 19 Vgl. Julia Gruevska, ›Natürliches Verstehen‹. Phänomenologie und Erfahrung als Methode im Denken Helmuth Plessners und Frederik Buytendijks. In: Hans-Ulrich Lessing / Kevin Liggieri (Hrsg.), Das Wunder des Verstehens. Interdisziplinäre Blicke auf ein außerordentliches Phänomen, Freiburg i. Br. 2018. Und ebenfalls dazu: Ralf Becker, Der Sinn des Lebens. Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk lesen im Buch der Natur. In: Kristian Köchy / Francesca Michelini (Hrsg.), Zwischen den Kulturen: Plessners »Stufen des Organischen« im zeithistorischen Kontext, Freiburg / München 2015, S. 65–90. 20 Zum Einblick in das Leben Buytendijks s. den Nachruf auf Buytendijk: J. J. G. Prick, Levensbericht F. J. J. Buytendijk. In: Jaarboek, Amsterdam 1974, S. 207–229. 18
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als »naturwissenschaftlich gestützte Hermeneutik des Lebens« 21 verstanden werden kann. Plessners Lebensbegriff, der sich entschieden vom cartesianischen Dualismus verabschiedet, steht dabei maßgeblich unter dem Einfluss Diltheys, der das Leben, wie gezeigt wurde, sowohl aus einer biologischen Sphäre als auch einer geistig-kulturellen Sphäre betrachtet und in die historische Dimension einschließt. 22 Kühne-Bertram konstatiert für diesen Umstand, dass »[das] Interesse an mathematischen und physiologischen Studien und die Einbindung naturwissenschaftlicher, insbesondere biologischer, physiologischer und psychologischer Erkenntnisse in seine Philosophie […] auch in Diltheys wissenschaftspolitischer Haltung zum Ausdruck [kommt],« 23 und schlägt damit eine Brücke von Dilthey zu Helmholtz. 24
Das biophilosophische Netzwerk, das sich Plessner mit Max Scheler, Dilthey und Driesch aufbaute, war allerdings bloß theoretischer Natur; er hat diese Denker zwar gelesen, doch praktisch zusammen arbeitete er lediglich mit dem stark an Philosophie interessierten Physiologen Buytendijk. 25 In dieser disziplinübergreifenden Kombination lieferte Plessner vornehmlich die philosophischen Ideen, doch war es Buytendijk, der die experimentelle Tätigkeit zum biophilosophischen Diskurs beitrug. 26
Hans Werner Ingensiep, Lebens-Grenzen und Lebensstufen in Plessners Biophilosophie. Perspektiven moderner Biotheorie. In: Ulrich Bröckling (Hrsg.), Disziplinen des Lebens: zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 35–46, hier S. 35. 22 Hier ist in Klammern zu vermerken, dass Plessner Dilthey wohl nicht im Original gelesen hatte, sondern durch die Rezeption der Werke Georg Mischs. Das erscheint aus dem Umstand, dass Plessner Dilthey in seinem Hauptwerk aus den Schriften und Herausgaben Mischs zitiert, vgl. Plessner, Stufen des Organischen, a. a. O., S. 19 ff. 23 Kühne-Bertram, Zum Verhältnis, a. a. O., 241. 24 Vgl. ebd., S. 240. 25 Zum freundschaftlichen wie wissenschaftlichen Verhältnis von Plessner und Buytendijk siehe den von Henk Struyker Boudier aus dem Nachlass der beiden Denker herausgegebenen Briefwechsel: Filosofische wegwijzer: correspondentie van F. J. J. Buytendijk met Helmuth Plessner, Zeist 1993. Die Korrespondenz zwischen Buytendijk und Plessner ist vornehmlich auf Deutsch, doch ab den 1930er Jahren auch zunehmend auf Niederländisch geführt. Die Briefe in dem erwähnten Band von Struyker Boudier sind ins Niederländische übersetzt, es finden sich aber auch vereinzelte Abdrucke von deutschen Briefen. 26 Möglich war dies vor allem, weil Buytendijk eines der größten physiologischen Institute Europas leitete und Zugriff auf Apparate wie auf Tiere als Experimentalobjekte hatte. 21
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3
Zur Kritik an einseitig empiristischen wie apriorischen Methoden
Als Verbundenheit von Natur und Geist, die mit den leiblichen Paradigmen der Psyche und der Physis korrespondiert, ergibt sich als Ausgangspunkt für eine Methode zur Ergründung des menschlichen Lebens, das Wissen um die psychophysische Indifferenz des menschlichen Leben, also einer Gleichwertigkeit von psychischen wie physischen Vorgängen. Plessner erklärt diesen historischen Umstand in folgender Weise: »Wenn also das Geistige nicht nach bekanntem Rezept zum einfachen Überbau einer bestimmten Art tierischen Daseins werden und damit nur einer biologischen Form des alten Naturalismus zum Siege verholfen sein sollte, galt es, aus neuer Perspektive die Verbundenheit von Natur und Geist und die Stellung des Menschen zu bestimmen.« 27
Weder materialistisch-empiristische Ansichten noch idealistischapriorische, so Plessner, gehen von einer solchen Zusammensetzung aus, womit beide Ansichten durch ihre einseitigen Forschungsweisen notwendig scheitern müssen. Dabei begehen beide Methoden, sowohl die apriorische wie die empiristische, die gleichen Fehler und bleiben an bedeutenden Stationen ihrer Argumentation im Unklaren. So erklärt die empiristische Methode, unter der prominent Darwins Forschung steht, den Menschen als das aus der Natur höchst entwickelt hervorgegangene Wesen, woraus resultieren würde, dass die Kultur ein Naturprodukt sei. Wenig befriedigend dabei ist allerdings, dass eine Antwort auf die Frage, wie es denn zu einem solchen Resultat gekommen ist, und was die Kultur ausmacht, von Darwin und seinen Adepten nicht gegeben werden kann. 28 Ähnlich verhält es sich mit der idealistischen Theorie, die die Natur und die Historie des Organischen als eine vom Geiste des Menschen selbst konstruierte Idee sieht. Aber auch hier stellt sich die Frage, wieso der Mensch dann in diesem hohen Maße von den biologischen Determinanten beschränkt ist, wie »freilich der schöpferische Geist zu dieser konkreten Existenz
Helmuth Plessner, Stufen des Organischen, a. a. O., S. 5. Volker Steenblock, Darwinizing Culture – Über Natur und Kultur. In: Ders. / Hans-Ulrich Lessing (Hrsg.), Vom Ursprung der Kultur. Mit einem Gespräch mit Günter Dux, Freiburg / München 2014, S. 54–94.
27 28
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›in‹ einem Menschen, zu dieser Abhängigkeit von seinen physischen Eigenschaften kommt«. 29 Die Absolutsetzung des Geistes oder der Natur wie es in apriorischen oder eben in empiristischen Denkmodellen vorherrscht, so Plessner, taugt gleichermaßen nicht zur Erfassung des Wesens des Menschen. 30 Weder die eine noch die andere Richtung werden der Grundlage des Menschen als psychophysisch konstituiertes Wesen gerecht. »Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur.« 31 Als exzentrische Lebensform ist der Mensch auf seine schöpferische Tätigkeit angewiesen, mithilfe derer er sich eine Heimat und Verwurzelung verschafft. »Nur weil der Mensch von Natur halb ist und (was damit wesensverknüpft ist) über sich steht, bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt in’s Gleichgewicht zu kommen. […] Kultur […] zielt auf eine durchaus vorpsychologische, ontische Notwendigkeit« 32
– womit eine biologistische Argumentation einer negativen Entwicklung der Großhirnrinde (der Mensch als krankes Tier) ebenfalls aus den Angeln gehoben würde.
4.
Kultur als »ontische Notwendigkeit«
Kultur, die Plessner auch die natürliche Künstlichkeit nennt, ist das Gewicht, das den exzentrisch positionierten Organismus ins Gleichgewicht bringt, das Mittel, um die Hälftenhaftigkeit des Menschen zu komplettieren. Plessner kommt zum Schluss, dass die Kultur Teil der Natur des Menschen ist, sie ist nichts Nachträgliches, sondern ein wesentliches Bestimmungsmerkmal der Organisationsform des Menschen. »Darum ist er [der Mensch, J. G.] von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich.« 33 Der Mensch ist nicht von der Kultur entfremdet, sondern er fühlt sich in der Kultur erst richtig zuhause: Sie ist das Mittel zum Überleben, zur Entlastung, und um mit sich und der Welt ins Gleich29 30 31 32 33
Helmuth Plessner, Stufen des Organischen, a. a. O., S. 5. Ebd. Ebd., S. 316. Ebd. Ebd., S. 310.
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gewicht zu kommen. Nach Plessner ist die »wahre Ursache der Kultivierung […] eine Folge der vorgegebenen Lebensform, die allein das Menschliche am Menschen ausmacht.« 34 Insofern ist die Kultur des Menschen nicht dasjenige Moment, das der Mensch innehat so wahr er Mensch ist, vielmehr ist es ein Symptom, ein Ausdruck des Wesens des Menschen, das sich als exzentrische Positionalität akzentuiert. Plessner charakterisiert den Menschen als »[ortlos], zeitlos und ins Nichts gestellt«, 35 insofern er als exzentrisch positioniertes Lebewesen nicht aus seiner Mitte in seiner Mitte lebt, so wie beispielsweise das Tier. Im Gegensatz zur zentrischen Position des Tiers, das zwar ein autonomer Bestandteil der Naturwelt ist, aber nicht »hinter sich kommen kann«, lebt der Mensch als exzentrisch organisierte Lebensform. Plessner bemüht zur Erklärung dieses menschlichen Wesensparadigmas korrespondierende Triaden (Körper-Leib-Seele mit Innenwelt-Mitwelt-Außenwelt), die die menschliche Konstitution sowohl körperlich, individuell als auch gesellschaftlich erfassen. 36 Als Wesen, das in Triaden ›funktioniert‹ gilt daher, dass der Mensch, im Gegensatz zum Tier, zwar körperlich, also biologischen Determinanten unterliegend, aber auch leiblich konstituiert ist. Sein Alleinstellungsmerkmal liegt allerdings gerade im tertium, in der Fähigkeit der Abstraktion seiner selbst. Um die tierische Intelligenz als Kontrastfolie zur menschlichen Organisationsform zu bemühen, rekurriert Plessner auf die Ergebnisse tierpsychologischer Experimente seiner zeitgenössischen Kollegen, u. a. von Wolfgang Köhler und den bereits erwähnten Buytendijk. Deren Experimente fungierten zumindest als »Vehikel der Besinnung«, 37 was bedeutete, dass man durch die ständige Konfrontation mit dem Untersuchungsgegenstand auf die explizite Frage nach seinem Wesen zurückgeworfen wurde. Zur gänzlichen Abstraktion oder Begriffsbildungen – mit Husserl, auf den sich auch Plessner bezieht, gesprochen: »Ideation«, so wie es den Menschen möglich ist – seien Tiere, so der Konsens der Zoologie im ersten Drittel des Ebd., S. 316. Ebd. 36 Dazu auch Wolfgang Essbach, Denkmotive der philosophischen Anthropologie. In: Justin Stagl / Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Grenzen des Menschseins: Probleme einer Definition des Menschlichen, Wien 2005, S. 325–350, hier: S. 334 ff. 37 Helmuth Plessner, Unsere Begegnung. In: Frederik J. J. Buytendijk (Hrsg.), Rencontre/Encounter/Begegnung. Contributions a une psychologique humaines déidées au professeur Buytendijk, Utrecht / Antwerpen 1957, S. 331–338, hier: S. 331. 34 35
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20. Jahrhunderts, nicht fähig. Tiere seien aber zu sinnlicher Abstraktion in der Lage, so bewies Buytendijk in seinen zu dieser Zeit prominenten Experimenten mit Hunden und Primaten. Plessner kannte diese Experimente sehr gut, denn gerade die Krötenexperimente Buytendijks, die eben jene Fähigkeit zur sinnlichen Abstraktion in Form von Gestaltwahrnehmung, Sinnherstellung und Ähnlichkeitserfassung demonstrierten, dienten ihm als Grundlage zu seiner mit Buytendijk gemeinsam verfassten Schrift »Zur Deutung des mimischen Ausdrucks«. 38 Im Gegensatz zum Tier, so zeigte sich für Plessner, ist der Mensch aktiv an seinem Leben beteiligt. Das künstliche Schöpfen bildet dabei den Ausgleich seiner Exzentrizität. Er »steht in dem Aspekt einer absoluten Antinomie: sich zu dem erst machen zu müssen was er ist […].« 39
5.
Konspekt eines Doppelaspekts
»Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt«, so lautet die prägnante Formel, die Plessners Ansicht nach den Menschen als exzentrisch positionierten Organismus an das Leben zurückbindet. In seiner Bewusstheit um diesen seinen Zustand ist ihm »die Direktheit verloren gegangen, er sieht seine Nacktheit, schämt sich seiner Blöße und muß daher auf Umwegen über künstliche Dinge leben.« So ist der Mensch nicht nur körperlich und geistig in seiner Leiblichkeit indifferent, sondern gerade auch in seiner Historizität und in der Gesellschaft. Kultur, will man Plessner folgen, ist zwar aus der Natur des Menschen hervorgegangen, ist aber wesentlicher Bestandteil der Konstitution einer Balance des menschlichen Lebens. So wie das Individuum weder bloß Körper noch bloß Geist ist, so hängt die Historizität, auch eben das gesellschaftliche Leben, von der natürlichen Künstlichkeit des Menschen ab. Seine Nacktheit, das ist im Besonderen der biologische Körper. Während das künstliche Moment des Menschen aus geisteswissenschaftlichen Analysen erdacht werden kann, so braucht es also vor
Frederik J. J. Buytendijk / Helmuth Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs. In: Helmuth Plessner (Hrsg.), Philosophischer Anzeiger. Zeitschrift für die Zusammenarbeit von Philosophie und Einzelwissenschaft, 1. Band, Bonn 1925, S. 72–126. 39 Ebd., S. 310, auch Folgezitate. 38
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allem naturwissenschaftliche Experimente, um auch die biologische Dimension des Menschen aufzufangen. Helmuth Plessner bettete diesen Gedanken ganz avanciert und zentral in seine Anthropologie ein mit gewissem Rückbezug auf Dilthey. Denn Dilthey, so wurde angedeutet, schließt die Naturhaftigkeit ebenso in sein Menschenbild mit ein. In Abgrenzung zur cartesianischen Dichotomie gehen beide Denker davon aus, dass naturwissenschaftliche Methoden bei der Suche nach der Frage nach dem Menschen unerlässlich seien, doch ist es die Geisteswissenschaft, die das Übrige leistet.
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II. Ernst Cassirer und die Kulturphilosophie
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Ernst Cassirer – symbolisches Denken als Grundlage der Kulturphilosophie
»Kultur« ist längst zu einem Hochwertewort sehr heterogener Dinge und Ereignisse avanciert und zu einem Passepartout-Begriff geworden, der stark inklusorisch alle möglichen populären und Höhenkammereignisse, schlichte und hochpreisige Dinge oder Denk- und Lebensstile umfasst. Dies wird auch der Grund dafür sein, warum er zum Streitobjekt geworden ist – und mithin seine viel gescholtenen, aber nach wie vor in starkem Gebrauch stehenden Wissenschaften, erst recht seine ›Philosophie‹.
1.
Grundlagen
Wenn pragmatisch und wertneutral gesehen Kultur dasjenige ist, was im Bereich der Üblichkeiten steht, was bräuchlich ist, kurzum gefestigte Handlungen, Lebensformen, Habituelles, Riten, die verstetigt worden sind, oder Äußerungsformen, die Dauer gewonnen haben, so ist »Kultur« nicht nur erkennbar in der Welt der fasslichen Dinge oder Objekte, der Manifestationen bzw. sichtbaren Zusammenschlüsse von Produktionsvorgängen. Fundiert und begleitet werden diese nämlich von mehr oder weniger raffinierten Symbolbildungen, die sich auf der mentalen Seite von Individuen und Gesellschaften finden und ein Programm bilden, das bei der Entstehung der sichtbaren Formen beteiligt ist. 1 Und welche Agenten von Symbolformen auch immer tätig sind – sie produzieren zunächst einmal beobachtbare, vernetzte Zeichen, die einen Verweiszusammenhang bilden. Kulturwissenschaften beobachten in diesem Sinne Artikulations- und Aus-
Zum Kulturbegriff als Komplex von ›Wissen‹ und ›Bedeutung‹ vgl. Claus-Michael Ott, Kulturbegriffe und Kulturtheorien. In: Ansgar / Vera Nünning (Hrsg.): Einführung in die Kulturwissenschaften, Stuttgart 2008, S. 19–38, hier S. 34.
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drucksformen bzw. Zeichenwelten, 2 in denen sich Wahrnehmungen und Denkhaltungen zu Welt- und Selbstbildern manifestieren, die ihrerseits die Wahrnehmung beeinflussen, damit die Produktion weiterer Artefakte ermöglichen und schließlich ein Ensemble symbolischer Ordnungen bilden. 3 Dass es philosophische und verwandte Denkgebäude, z. B. Sprache, Künste und Wissenschaften, sind, die menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis überformen, dadurch Vorstellungswelten ausprägen und letztlich kulturelle Formen modellieren, hat Cassirers Symbolphilosophie umfänglich gezeigt. Damit verbindet sich eine Grundüberzeugung (die es ebenfalls zu plausibilisieren gilt) dahingehend, dass soziale und politische Ereignisse oder Zustände in der zahlenmäßigen Erfassung und vermeinten reinen Empirie von Fakten nur unzureichend darzustellen, geschweige denn zu erklären sind. Dagegen ist etwa Kulturpsychologie damit beschäftigt, die Motivationsstrukturen und Vorkonzeptionen sozialer und interkultureller Handlungen zu erforschen, 4 und die Kulturphilosophie, die nicht erst seit ihm, aber besonders mit Ernst Cassirer aufgekommen ist, untersucht Ensembles symbolischer Gestaltbildungen und auch Überformungen, die nicht etwa Sekundärphänomene sind und bereits bestehenden Tatbeständen übergestülpt werden, sondern diese in Form von Voreinstellungen, Dispositionen und diskursiven Bereitschaften bereits in der Entstehung prägen, ihre Ausformung begleiten und im Nachhinein auch verstehbar machen. Indem aber diese hermeneutische Kategorie des Verstehens aktiviert wird, ist damit bereits eine Grundauffassung skizziert: Subjektive und gesellschaftliche »Dinge« liegen nicht einfach als Tatbestände vor, die vermessen werden könnten, vielmehr sind es ihre zeichenhaften, symbolischen Konstitutionen bzw. ihre semiotischen Netze, die sie herstellen und vermitteln, womit sie auch interpretierbar werden.
Zum Bezug von Cassirers philosophischem Ansatz auf Kulturwissenschaften siehe Oswald Schwemmer, Philosophie als Theorie der Kultur und der Kulturwissenschaften. In: Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 671–686. 3 Christoph Jamme, Symbolische Bedeutungsansprüche der Kulturen. In: Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2011, S. 207–218, hier S. 207. 4 Vgl. Jürgen Straub, Identität. In: Friedrich Jaeger / Jürgen Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2011, S. 277–303, bes. S. 290 ff. 2
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Ernst Cassirer – symbolisches Denken als Grundlage der Kulturphilosophie
Wenn Kultur aus Symbolwelten besteht, in denen »die Erlebnisinhalte und die Anschauungsinhalte in neuer Weise zu gliedern, zu artikulieren und zu organisieren« seien, 5 lassen sich daraus nicht nur Entwicklungsgeschichten ablesen, sondern auch synchrone Bestandsaufnahmen gewinnen. Symbolische Formen sind aber nicht nur Entzifferungshilfen für Kulturhistoriker. Vielmehr wird ihnen eine produktive Kraft zugesprochen, insofern sie bereits bei der Wahrnehmungstätigkeit des Menschen mitwirken, sodann eigene Bedeutungswelten und Horizonte ausbilden und schließlich bei der Entstehung von technischen, medialen und sozialen Änderungen beteiligt sind. Umso mehr gehört es zu den Aufgaben einer Kulturphilosophie, jene Kultur tragenden Zeichenbildungen zu analysieren, die gleichsam den Quellcode für Kulturäußerungen und ihre gesellschaftlichen Manifestationen bilden und sich in individuellen wie auch sozialen Handlungsfeldern niederschlagen können.
2.
Denkgeschichte als Anthropologie
Wie Cassirer seine panoramische Geschichte der Denksysteme im weitesten Horizont angelegt hat, ist hier nur in wenigen Strichen nachzuzeichnen, insofern sich daraus Entwicklungslinien der Symbole gewinnen lassen, die letztlich in Wissenschaft, Philosophie und Sprache selbst münden. Eine Ausgangsbeobachtung lautet, dass bereits am Anfang alles dokumentierten Denkens, nämlich in Mythen und Religionen, der Mensch mit eigenen Bedeutungsgebilden auf die Herausforderungen der Natur bzw. der Außenwelt antworte: »Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. […] Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen, wenn nicht gleichartig so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind.« 6 Ernst Cassirer, Der Gegenstand der Kulturwissenschaft. In: Zur Logik der Kulturwissenschaften. 5 Studien (1942). 6. Aufl., Darmstadt 1994, S. 15. 6 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923–29), Darmstadt 1994 (9. unveränd. Aufl.), Bd. 1, S. 9 – folgend abgekürzt durch PhdsF. 5
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Sprache, Wissenschaft, Mythos, Kunst oder Religion haben demnach die Aufgabe bzw. finden ihren kleinsten gemeinsamen Nenner darin, »die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.« 7 Bereits die anfänglichen Symbolformen Mythos und Religion ergeben zwar nicht Wahrheit, aber Erkenntnis, sie ermöglichen dem Menschen, überhaupt in dieser Welt zu leben und sich in ihr einzurichten. Daran knüpfen sich nach und nach Rituale, Bilder und Geschichten. Cassirer zeigt im Riesenbogen vom Gilgamesch-Epos über die ägyptische Schöpfungsgeschichte die Entstehung der monotheistischen Religionen, weiter über Mittelalter und Frühe Neuzeit bis zu seiner Gegenwart, wie sich das Denken in symbolischen Formen entwickelt hat. Es nimmt seinen Ausgang in konkreten, fasslichen Handlungsbezügen, z. B. einfachen Personifikationen von vielen mythologischen Gottheiten, schreitet über die großen Zusammenhänge und auch geänderten, zukunftsorientierten Zeitbegriffe der Religionen (die das zyklisch-magische Weltbild ablösen) weiter zum Renaissancemenschen, der damit beginnt, sich durch seine Denkwelten ganz selbst zu begründen und zum Zentrum der Welt zu machen. Ganz grob lässt sich sagen: Das Denken in Symbolformen entwickelt sich von magischen Figurationen und vom Einfach-Konkreten der passiven Impressionen in differenzierte Richtungen zunehmender Abstraktion, und zwar mit aktiven Denkgebäuden, die eine Eigendynamik gewinnen. Damit wird nebenher die sensualistisch-naturalistische Position, dass Wahrnehmung reiner Sinnesreizempfang sei, schon in den Anfängen der Denkäußerungen als unzureichend dargestellt. Um diese grobe Skizze wenigstens etwas zu verfeinern, ist darauf zu kommen, warum Cassirer nach den Selbstinitiationen der Renaissance das Denken des 18. Jahrhunderts als einen vorläufigen Höhepunkt beschreibt. Dort gelangt nicht nur, gemäß dem Leitsatz der Aufklärung, der Mensch im emphatischen Sinn ins Zentrum aller Erkenntnisbemühungen. Vielmehr wird seine Position auch dadurch gestärkt, dass namentlich Geschichtsschreibung (und -schreiber), Philosophie und Sprache damit anfangen, sich und ihre eigenen Bedingungen zu reflektieren – Denkprodukte des Menschen also, die eigene, selbstreferentielle Systeme bilden und gerade dadurch dessen
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Selbstbewusstsein festigen. In der Geschichtsphilosophie sieht Cassirer Giambattista Vico als einen der Initiatoren für ein selbstbezügliches, aber auch historisierendes Denken, insofern er in seinen Principii di una scienza nuova (1725) gegen Descartes und seine mechanischen Naturgesetze nun Geschichtsprozesse als relativ und mithin den Menschen als wandelbares Wesen darstellt, der sich von einem göttlichen zu einem heroischen und schließlich zum menschlichen Zeitalter entwickelt habe. Für die Philosophie benennt Cassirer immer wieder Kant als zentrale Figur, insofern er der Philosophie durch Abrücken von Substanzenontologie und Metaphysik einen kopernikanischen Richtungswechsel gegeben und über die Bedingungen der Möglichkeiten eigener Erkenntnismittel nachgedacht habe. Die Hoffnung dieser Transzendentalphilosophie basiert nicht mehr auf Wahrheitssuche, Essentialien oder Dingen an sich, sondern auf der Suche danach, wie diese Dinge uns erscheinen – ein zentraler Gedanke Kants, den Cassirer mit seiner Denkgeschichte historisch aufgeblättert und präzisiert, schließlich auch aktualisiert hat. Der selbstbewusste und epochale (Epoche als ›Einschnitt‹ gedacht) Impetus von Kants kritischem Werk, die Erkenntnisvoraussetzungen und Urteilskräfte des Menschen selbst in den Mittelpunkt zu rücken, wirkt sich in der Figur der Selbstreferenz auch in den zeitgenössischen Überlegungen zur Sprache sowie zu den Künsten aus. Damit ist für Cassirer um 1800 ein Höhepunkt des Denkens erreicht, das über sich selbst und seine sprachlichen Mittel nachdenkt, also vorgangsreflexiv ist. Für die Künste, insbesondere Theater und Literatur, hat dies zu den größten Hoffnungen Anlass gegeben, worauf sich bekanntlich auch der hiesige idealistische Bildungsbegriff stützt. Nicht Revolution von oben, sondern Evolution durch ästhetische Bildung des Einzelnen lautet dann das Credo Schillers, Goethes, Humboldts und anderer, die damit auch neue Schul- und Hochschulwirklichkeiten sowie kulturpolitische Regulative auf den Weg gebracht haben. 8
Die Diskussion ist auch nach über 200 Jahren noch aktuell und erscheint in immer neuen Kontexten, zuletzt im Konflikt mit einem problemlösungsorientierten Kompetenzbegriff als Ausbildungsziel; dazu Konrad Paul Liessmann, Bildung als Provokation, Wien 2017.
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3.
Sprachphilosophie und Wege zum Symbolbegriff
Selbstreferenz überhaupt zu denken macht eine besondere Aufmerksamkeit auf Sprache selbst nötig, die nun zum Thema wird und etwa die Logologien bzw. dichtungssprachlichen Selbstreflexionen der Romantik möglich macht. Denn zum einen wächst um 1800 der Zweifel an der Aussagekraft von Sprache, aus dem sich aber ein komplementärer, produktiver Weg entwickelt: Sprache läuft nicht der Welt hinterher oder bildet sie nach, sie ist kein neutrales Transportmittel, bereits erkannte Wahrheiten zu ›verpacken‹. Sie kann mehr, behauptet Humboldt – nämlich mit ihren Begriffen selbst die Welterfahrung prägen. Cassirer hebt hier heraus, »daß Sprache durchaus nicht der einfache Abdruck von Inhalten und Beziehungen ist, die uns die Empfindung unmittelbar darbietet. Ihre Ideen sind keineswegs, wie es das sensualistische Dogma verlangt, die bloßen Kopien von Impressionen. Die Sprache ist vielmehr die Grundrichtung des geistigen Tuns«. 9
Gegen alle naiven Abbildkonzepte, aber auch Signifikationstheorien, die besagen, dass Sprache einfach Aufklebeetikett für die Dinge ist, stärkt Cassirer die andere Position, die auf Humboldts generativen Sprachbegriff zurückgeht: Mit Sprache werden neue Erfahrungen und Sichtbarkeiten geöffnet und Erkenntnisse erst angebahnt. Durch die sprachliche Benennung wird aus dem Kontinuum aller Erscheinungen und Dinge ein Ausschnitt segmentiert, den man durch sprachliche Markierung abtrennt, hervorhebt und formt. Cassirer pointiert das mit seiner Beobachtung, dass es »der Energie der Sprache gelingt, das dumpfe und ungeschiedene Chaos von einfachen Zuständlichkeiten zu lichten, zu unterscheiden, zu organisieren.« 10 Daraus können sich neue Kulturniveaus herauskristallisieren: »Das Anschauen hat jetzt nicht nur an Weite, sondern auch an Klarheit und Bestimmtheit gewonnen; die neue Symbolwelt wird zum Anlaß, die Erlebnisinhalte und die Anschauungsinhalte in neuer Weise zu gliedern, zu artikulieren und zu organisieren.« 11 So stellt sich nicht nur die Sprache, sondern die Welt als fortwährende energeia dar, nicht als fertiges ergon. Diese Perspektive steht der sprachlichen Relativitätstheorie Humboldts oder der ameCassirer, Der Gegenstand der Kulturwissenschaft, a. a. O., S. 14. Ebd., S. 14 f. 11 Ebd. 9
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rikanischen Linguisten Edward Sapir und Benjamin Whorf nahe, wonach Sprache die Welt nicht nachzeichnet, sondern die Sicht auf die Welt entscheidend prägt, insofern das sprachlich Wahrgenommene die Aufmerksamkeit lenkt. Dafür sind hinreichende und allfällige Beispiele gebracht worden, z. B. die Wahrnehmung von Schneesorten, die in unterschiedlichen Kulturkreisen begrifflich divergiert und von der Lebenspraxis abhängig ist, oder für Waldgebiete und ihre Nutzungsarten, für technische Instrumente, aber auch Selbsterfahrungen, die von einem sprachlich formulierten Selbstkonzept abhängen. 12 Aus dem sprachlichen Horizont können Abweichungen der privaten Erfahrung ebenso resultieren wie kulturelle Unterschiede. Nach Cassirer wirkt hier eine »Sprachphantasie«; diese »unterscheidet, wählt und richtet und schafft vermöge solcher Stellungnahme erst bestimmte Zentren, bestimmte Mittelpunkte objektiver Anschauung selbst.« 13 Und wenn dies für Alltags- und Wissenschaftssprachen gilt, dann mindestens ebenso für literarische Texte, die nicht nur Vieldeutigkeitstoleranz fordern, sondern vielstellige Bildwelten eröffnen, Zeit- und Raumstrukturen neu denken, Perspektiven wechseln und damit insgesamt ein anschauliches, ästhetisches Plus bieten. Ganz grundsätzlich begreift Cassirers Symbolphilosophie den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum – ein Lebewesen also, das Sprache, Formeln und Bilder braucht, um die Welt lebbar zu machen. 14 All diese Zeichentypen begreift Cassirer als Symbole, was bedeutet: Es geht um Sprache als arbiträre Zeichen, aber auch um Bilder als ikonische Zeichen, die in sinnliche Schichten reichen. Darin liegt ihre Ästhetik, und mehr noch geht es um Sinngestalten, die ein kohärentes Ganzes ergeben. Das Bedürfnis nach gestalthaftem Sinnganzen oder abgerundeten Geschichten ist geradezu eine Wahrnehmungsbedingung, die den Menschen kennzeichnet – mit dieser Auffassung steht Cassirer der Hermeneutik ebenso nahe wie der Gestaltpsychologie seiner Zeit. Insofern Wahrnehmung und Erkenntnis weniger Eindrücke als vielmehr selbst schon Ausdrucksphänomene sind und im nächsten Schritt durch symbolische Überformungen als Tätigkeit konstituiert werden, funAuch für innere Erfahrungen, etwa im Schmerzbereich, sind kulturelle Semantiken bzw. Konzepte aufgefunden worden, die die Wahrnehmungsintensität prägen (vgl. David Le Breton, Schmerz. Eine Kulturgeschichte, Zürich 2003). 13 Cassirer, PhdsF Bd. 1, S. 278. 14 So noch einmal, Grundlinien der PhdsF zusammenfassend, in Cassirers Essay on Man (1944). 12
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gieren dann auch die Ausdrucksgestalten Mythos, Literatur, Kunst und Wissenschaften als ein Ensemble symbolischer Formen oder Funktionen. Sie sind nicht »Abbilder einer vorhandenen Wirklichkeit«, sondern bieten eine »Mannigfaltigkeit von Gestaltungen, die doch zuletzt durch eine Einheit der Bedeutung zusammengehalten werden.« 15 Symbole sind dann sensible Seismographen, die geringste Änderungen der conditio humana anzeigen. In diesem Sinn lässt sich eine Geschichte der Kunst- und Denkformen bzw. eine »Grammatik der symbolischen Funktionen« entwerfen, 16 die sich freilich nicht in der historischen Rückschau erschöpft. Vielmehr soll unter dem Begriff der symbolischen Form »jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besonders symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.« 17
Cassirer formuliert dies grundlegend für die Wahrnehmungstätigkeit: Menschliche Wahrnehmung antwortet auf die Umwelteindrücke mit einem schon vorhandenen Register an Worten, Formeln und Bildern. Das Symbol hat keine Existenz als Teil der natürlichen Welt, vielmehr ist es ein wahrnehmungsmäßiger, ästhetischer Entwurf von Bedeutungen und logischen Konstruktionen, die im Lauf der Geschichte zunehmend an Unabhängigkeit gewinnend und gewissermaßen eine geistige Parallelwelt zur Weltwirklichkeit aufbauen. Mit diesem semiotischen Gedanken steht Cassirer in guter Gesellschaft: die zeitgenössische Linguistik spricht davon, z. B. Saussure binäres oder Peirce dreiseitiges Zeichensystem, zu dem ein pragmatisch gedachter Umweltreferent der Bedeutungswelt gehört. Und gekannt
Cassirer, PhdsF Bd. 1, S. 43. Ebd., S. 19. 17 Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. In: Ders. Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994, S. 169–200, hier S. 175 f. 15 16
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haben dürfte Cassirer über das neukantianische Umfeld die Wahrnehmungstheorie des Physiologen Hermann von Helmholtz, der experimentell zu der Auffassung gelangt, dass die Sinneseindrücke ein Zeichensystem bilden, das einen mentalen Zusammenhang darstellt, der aber zur Außenwelt nur in mittelbarer Beziehung steht. So ist anzunehmen, dass »unsere Sinnesempfindungen uns überhaupt nichts anderes geben als Zeichen für die äusseren Dinge und Vorgänge, welche zu deuten wir durch Erfahrung und Uebung erst lernen muessen.« 18 Wahrheit ist in dieser Sicht ein Erfahrungskomplex: Der Wahrnehmungsapparat arbeitet nicht als licht-, schall- oder sonst wie empfindliche Platte, sondern bildet Gestalten heraus. Diese wiederum werden als diskursive Wahrheiten, als Ausdrucksformen bzw. Wahrnehmungstätigkeiten an der Wirklichkeit erprobt und müssen sich darin bewähren. Ganz ähnlich kennzeichnet Cassirer als fortschreitenden Prozess zunächst der Kultur allgemein, dass in der Ausdifferenzierung symbolischer Formen sich diese von der sinnlichen Naturbindung entfernen, indem sie Sinnschichten formen und darüber projizieren. Dieser Abstand des Geistes von der Wirklichkeit ist unumkehrbar, das »Paradies der reinen Unmittelbarkeit« ist – im Maße zunehmender Semiotizität – verschlossen. 19 Cassirer hat diese Erkenntnis zunächst geschichtlich ausdifferenziert und einen Entwicklungsgang der Symbole benannt, der vom sinnlichen Anlass der magisch-mythischen Bilder, von ihrem sinnlich-expressiven Ausdruck weg in Richtung Abstraktion weist. Das Sprachsymbol, die Formeln und die Bilder haben dann noch Anlässe in Situationen, sind aber zunehmend kontextentbunden, und im hohen Maße gilt diese ›Entsinnlichung‹ für die arbiträren Zeichensysteme der Wissenschaftssprache (mit der Einschränkung, dass auch diese in der Vermittlungssprache nicht auf Metaphern verzichtet). Damit ist nichts über ›Wahrheit‹ gesagt, sondern nur über die Gestaltbildungen jeder Denkordnung, die im symbolischen Zeichen liegen. Und so wie Sprache könne auch Wissenschaft nicht direkt auf die Wirklichkeit referieren oder »passive Abbilder eines gegebenen Seins« liefern, 20 vielmehr kann Wissenschaft mit ihren selbst geschaffenen Symbolen nur dadurch der Natur Hermann von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1856, Bd. 1, S. 332. 19 Cassirer, PhdsF Bd. 1, S. 50 bzw. 51. 20 Ebd., S. 5. 18
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nahe kommen, dass sie auf ihren veristischen Anspruch verzichtet und »sich das Gegebene in eine ideelle Ferne rückt.« 21 Naturalisten, Empiristen und Positivisten werden diese semiotische Abstinenz ablehnen – und doch ihre Gegnerschaft überdenken müssen. Denn dass ein direktes, gar noch wahrheitliches, abschließendes Erfassen der Dinge nicht möglich ist, zeigt Cassirer mit weiten Blicken in die höchst wechselhafte Wissenschaftsgeschichte mit all ihren Relationen, Differenzen und Entwicklungen – womit seine Symbolphilosophie einen der Vorläufer jenes wissenschaftstheoretischen Konstruktivismus bildet, der seine breite Wirkung ab den 1980er Jahren entfaltet hat. Wenn Mythos, Sprache, Kunst und Wissenschaften willkürliche Zeichen produzieren und eben, indem sie den Abstand zur Welt halten, einen Denk- und Wahrnehmungsraum erzeugen, 22 hat der zeichenhafte Distanzeffekt auch für das Individuum höchst wichtige Implikationen. Indem es mit symbolischen Tätigkeiten Distanz zur Welt schafft, kann es sich damit gerade in ihr einrichten, und es geht dann um die identitätslogische Untersuchung dieser »eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung umso fester mit ihr zu verbinden.« 23 Darin liegt kein Mangel, sondern eine Bedingung der Wahrnehmungstätigkeit, die obendrein eine Chance bietet. Denn Kunstzeichen sind geeignet, die gängigen Reiz-Reaktions-Automatismen noch weiter aufzuschieben. Das Ich kann mit den Wahrnehmungsintensitäten umgehen und sich neue Begriffe der Welt machen. Darin liegen wiederum Möglichkeiten auch für die Ausbildung einer eigenen personalen Identität. Ihr Aufbau geschieht in zwei zeitlichen Richtungen, nämlich Vergangenheitsrekonstruktion und Zukunftsantizipation: »Die Kraft des Geistes, Künftiges im Bilde vor sich hinzustellen, steht seiner Kraft, Vergangenes in ein Bild zu verwandeln und es im Bilde zu erneuern, Cassirer, PhdsF Bd. 3, S. 483. Cassirer, PhdsF Bd. 1, S. 41. 23 Cassirer, Der Gegenstand der Kulturwissenschaft, a. a. O., S. 25. Der Gedanke lässt auch Cassirers intensive Beschäftigung mit Goethe erkennen, wie eine Passage in dessen Wahlverwandtschaften-Roman zeigt – dort heißt es: »Man weicht der Welt nicht sicherer auch als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch Kunst.« (Johann W. Goethe, Sämtliche Werke, hrsgg. von Ernst Beutler, Zürich 1950, Bd. 9, S. 176). 21 22
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nicht nach: in beiden bekundet und betätigt sich dieselbe Urfunktion der ›Vergegenwärtigung‹, der ›Repräsentation‹. Das Wissen des Geistes um sich selbst kann erst auf diesem zwiefachen Wege gewonnen und gesichert werden: es entsteht erst, indem er in seiner reinen Gegenwart seine Geschichte bewahrt und seine Zukunft gestaltend vorwegnimmt.« 24
Erinnerung bietet den jeweiligen Moment auch nicht tel quel, wie er wirklich war – sie ist dabei auf eben die Symbole angewiesen, die auch der Wahrnehmung dienen. 25 Der freie Umgang des Einzelnen mit der Vergangenheit bringt aber die notwendige Möglichkeit des Eingreifens in die Ich-Geschichte, wenn zerfallende Eindrücke herausgearbeitet, aus dem Fluss geholt und neu überformt werden. 26 Dies haben fast alle bedeutenden Autobiographen der Moderne einbekannt: Das Ziel ist dann weniger, ein Leben zu rekonstruieren, wie es gewesen ist, weil alle Rekonstruktionsbemühung dafür nicht hinreichen würde. Vielmehr geht es um rückwärtige Konstruktion und das Nachspüren, das Bedingung für alle Erinnerung ist und in einer »Penelopearbeit des Eingedenkens« gewonnen wird – so Walter Benjamin über Prousts mémoire involontaire mit jenen unmittelbaren Erinnerungsbildern, die durch das Ausbreiten von Textfäden erst gewonnen werden. 27 In schöner Pointierung hat so der Romantiker Jean Paul eine konjekturale Autobiographie geschrieben, die nicht sein gelebtes, sondern sein zukünftiges Leben im Entwurf bieten soll – und bezeichnet dies als Bevorstehenden Lebenslauf (1799), den er im Angesicht des Lesers entwickeln will.
4.
Personale und gesellschaftliche Identität
Eine Rezeption Cassirers hat auch außerhalb der Philosophie stattgefunden, zum Beispiel in Alfred Lorenzers erneuerter Form der Psy-
Cassirer, PhdsF Bd. 3, S. 219. Es ist der symbolische Ausdruck, der »die Möglichkeit der Rückschau und der Voraussicht« schafft, denn »durch ihn werden nicht nur bestimmte Scheidungen innerhalb des Bewußtseinsganzen vollzogen, sondern sie werden auch als solches fixiert.« (Ernst Cassirer, Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen. In: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994, S. 71–167, hier S. 107.) 26 Vgl. Cassirer, PhdsF, Bd. 3, 219 f. 27 Walter Benjamin, Zum Bilde Prousts. In: Gesammelte Schriften, hrsgg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, Bd. II, S. 311. 24 25
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choanalyse und in den politisch-philosophischen Überlegungen Jürgen Habermas’. Lorenzer hat die Freud’sche Tiefenhermeneutik erweitert durch den Blick auf kommunikative bzw. Interaktionsstrategien, welche durch den Symbolbegriff beobachtbar werden. Zentral ist seine Absicht, in Verbindung von Freud und Cassirer den Symbolbegriff im Subjekt zu fundieren, das am Zustandekommen dieser Zeichen entscheidend beteiligt ist. Dies ist zu spezifizieren, nämlich in die Richtung des subjektiv verabredeten, bedeutenden Zeichens, das zwei Pole aufweist. Mit dem einen Ende reicht es in die psychischen Primärprozesse, wo es ein geringeres Organisationsniveau und stärkere bildhaft-konkrete Anteile hat. Mit dem anderen gelangt es durch sekundäre Bearbeitung auf eine höhere Organisationsstufe zielgerichteten Denkens. Auch führt Lorenzer eine Unterscheidung ein zwischen Symbolniveaus und Symbolbildungsvermögen. Für die Bildende Kunst etwa lässt sich ein niedriges bildhaftes Symbolniveau bei gleichzeitig hohem Symbolbildungsvermögen erkennen. Anders verhält es sich bei der stereotypen Fixierung – diese weist starke Bildanteile auf, aber ein nur geringes Symbolbildungsvermögen. Sie kann in Form von fest gebahnten Motiven auftreten, die sich zu Gedankenketten zusammenschließen und also eine reflexhafte, unbearbeitete, niedrige Stufe der Symbolbildung darstellen. Solche Klischees oder Symbolversteinerungen stellen dann eine Gefahr von Zwangsbildungen dar – auf einer solchen Stufe werden Vorurteile wirksam, Angstund Warnstrukturen. Eine Beobachtung solcher Prozesse kann dann auch im Falle interkultureller Kommunikation wichtig werden, um Stereotypen auf der Symbolebene dialogisch zu verflüssigen. Denn anders als das verfestigte, reflexhaft auftretende Klischee ist das Symbol durch die bedeutsame Verzögerung gekennzeichnet. Es erbringt die Verzögerung der impulsiven Handlung, also einen Zeitaufschub, der die gedanklichen Sekundärprozesse und damit Denkräume ermöglicht: »An die Stelle des Handelns kann ein Probehandeln mit kleineren Energiequanten treten. Es kann ›im Geist‹ erst alles durchgespielt werden, bevor die Handlung in Gang gesetzt wird.« 28 Lorenzer macht mit Freud und Cassirer deutlich: Selbst- und Fremdwahrnehmung geschieht in Symbolen, die wiederum, wenn Alfred Lorenzer, Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs, Frankfurt am Main 1970, S. 98.
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sie nicht zu Klischees erstarren sollen, in Gesprächen artikuliert werden müssen. Wenn es Handlungsaufschub gibt, ermöglicht dies auch den Wechsel des Blickpunktes und das sich Hineinversetzen in die andere Seite. Dies kann man dann eben gedanklich oder ästhetisch gefahrlos vollziehen, weil im Umgang mit dem ›signifikanten Symbol‹ (so Lorenzers Argumentation mit dem symbolischen Interaktionismus G. H. Meads) keine direkten Konsequenzen zu fürchten sind. 29 Derart sind Symbole identitätsbildend, wenn sie die eigene Wahrnehmung verhandelbar machen, aber auch die Perspektive des Gegenübers einbeziehen. Aus dieser individuellen Ebene sind aber auch Perspektiven für eine Handlungstheorie von intersubjektiver und interkultureller Kommunikation zu gewinnen. Anderes als Existenzial- und Fundamentalphilosophen des 20. Jahrhunderts öffnet Cassirer über die Aufwertung symbolischen Denkens auch Möglichkeiten für Handlungsaufschub, Perspektivübernahme und Toleranz, was insgesamt die Ausrichtung seines späten Werkes (bes. Essay on Man, 1944 und Myth of the State, 1946) auf ethische und politische Fragen prägt. Mögliche sozialpolitische Implikationen dessen hat z. B. Jürgen Habermas in einer Studie über Cassirer herausgearbeitet. Dort zeigt er die Bedeutung des Symbolbegriffes für die Kulturwissenschaften im Sinne eines Pluralismus, der von einer Vernunftmoral geleitet ist. So erscheint dann Cassirers Philosophie als Theorie eines Zivilisationsprozesses, der den Weg einer ästhetischen Befreiung vom Druck der naturnahen wie auch der politischen, mitunter totalitären Ereignisse zeigt. Diese Distanznahme wirkt kulturschaffend und erhaltend, was Habermas mit handlungsethischen Konsequenzen versieht: »[D]aß die über Sinnesreize laufenden Kontakte mit der Welt symbolisch zu etwas Sinnhaftem verarbeitet werden, ist konstitutiv für die menschliche Existenz und bildet zugleich, in einem normativen Sinne, den Grundzug eines humanen Daseins. Die objektivierende Kraft der symbolischen Vermittlung bricht nämlich die animalische Unmittelbarkeit einer gleichzeitig von außen und innen auf den Organismus einwirkenden Natur; sie schafft damit erst die Distanz zur Welt, die eine besonnene, durch Reflexe ge-
Dass soziale Wirklichkeiten durch symbolische Interaktion konstituiert werden, gehört ebenso zu den zentralen Beobachtungen Meads wie der Blick auf Rollenübernahmen und Intersubjektivität sowie der Ansatz des gewinnbringenden Aufschubs in Zeichenwelten, der reflektierte individuelle Lebensmöglichkeiten und interaktionelle Perspektiven ermöglicht.
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hemmte Reaktion neinsagender Subjekte auf ihre Umwelt – und deren zivilisierten Umgang miteinander – möglich macht.« 30
Es sind eben Prozesse der Symbolbildung, die in der Mediatisierung eine Distanz zur Umwelt ermöglichen, Energien bändigen, sublimieren und sie dadurch sozialfähig machen. 31 Dadurch können Ereignisse aus anderen Perspektiven gesehen und verhandelbar werden. Die Verbindung dieser Diskursethik, die darauf zielt, Regeln des Umgangs und Geltungsansprüche von Kommunikation abzustimmen, zu Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns ist offenkundig – es ist die Idee des sprachlichen Abgleichs von Argumenten in symmetrisch hierarchisierten, vertauschbaren Rollen, wodurch der Mensch sich als Diskursteilnehmer emanzipieren und seine Glücksansprüche suchen soll. Voraussetzung dafür ist ein Formgewinn in der Wahrnehmung, der die unmittelbaren Lebensvollzüge kultivieren soll; mit den Artikulationsleistungen wird, so Schwemmer, ein entscheidender »Wechsel vom Reich der natürlichen Lebensprozesse in das Reich der kulturellen Sinnerzeugung, vom dynamischen Sein zum symbolischen Sinn vollzogen.« 32
5.
Kontroversen und kritische Sondierung: Seiendes / Medien / Diskurse
Es ist aber unter anderem diese Option der Zeichengebilde, die zum Streitpunkt zunächst philosophischer Auseinandersetzungen geworden ist. Damit sollen schließlich methodologische Erweiterungen diskutiert werden, die auf Fragen der personalen und sozialen Identitätsbildung wie auch auf eine Heuristik des kulturwissenschaftlichen Arbeitens zielen. Die wohl schwierigste Kontroverse um Cassirer hat sich beim berühmten Davoser Disput von 1929 ereignet, in dessen Verlauf Martin Heidegger den Vorwurf der Seinsvergessenheit gegen Cassirer Jürgen Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg. In: Ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 1997, S. 9–40, hier S. 16. 31 So führt Habermas aus: »Der Mensch bewältigt die auf ihn einstürmenden Naturgewalten durch Symbole, die seiner produktiven Einbildungskraft entspringen« (Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung, a. a. O., S. 37). 32 Schwemmer, Philosophie als Theorie der Kultur, a. a. O., S. 672. 30
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brachte. Diesen hatte er nicht nur mit einer Rezension des zweiten Teils der Symbolischen Formen vorbereitet, sondern auch durch eine recht eigenwillige Kant-Lektüre grundiert. Hatte nämlich Cassirer als kopernikanische Wende an Kants kritischem Werk betont, dass sich dieser von der Substanzenontologie und Metaphysik getrennt hatte, so zieht Heidegger aus der Kantischen Erkenntniskritik sowie dessen Aufwertung der Einbildungskraft ganz andere Konsequenzen. Heidegger deutet die Rolle der Einbildungskraft bei Kant nicht nur als Bindeglied von Denken und Anschauung, sondern unterstellt ferner, dass damit die Grenzen der reinen Vernunft gelockert und letztlich aufgelöst seien. Hatte Kant aber in seiner Kritik der Urteilskraft einen allgemeinen, subjektübergreifenden Rahmen angestrebt, auf den auch die Einbildungskraft verpflichtet bleibe, zielt Heidegger in der Nobilitierung der Einbildungskraft auf etwas im Kern Irrationales: Gegen den Hang zum naturwissenschaftlichen Szientismus, den er den Neukantianern als Verkürzung der Kantischen Kritik unterstellt, überhaupt gegen den Ansatz einer kommunikativen Vernunft oder Verständigungskultur sieht er den Ansatz der Vernunft insgesamt als »gesprengt«. Dies lässt ihn sogar zur Generaldiagnose einer »Zerstörung der bisherigen Grundlagen der abendländischen Metaphysik (Geist, Logos, Vernunft)« kommen, um im Gegenzug eine »Metaphysik des Daseins« zu fordern, die nach einem überzeitlichen »Wesen des Menschen« fragt, das aller Kulturphilosophie vorausliege. 33 Dies entspricht Heideggers existenzialistischem Duktus in Sein und Zeit (1927), wenn dort der Mensch durch Zufall ins Seiende geworfen, seinem Sein haltlos entfremdet und der Endlichkeit unterlegen ist. Es sind solche Annihilationen, die neben der deutlichen Akzentuierung eines irrationalen Seinsgrundes auch zeigen sollen, dass das Denken letztlich keinen überdauernden Seinszusammenhang stiften könne. In zwei zentralen Punkten setzt sich Heidegger radikal von Cassirer ab: Erstens gesteht er dem Menschen nicht die Möglichkeit zu, mit symbolischen Formen mediatisierend in die Welt einzugreifen, vielmehr müsse er »notwendig das schon Seiende hinnehmen«. 34 Kultur und Moderne bilden in dieser Sicht eher einen
Martin Heidegger, Kants Kritik der reinen Vernunft und die Aufgabe einer Grundlegung der Metaphysik. In: Gesamtausgabe 1. Abt. 3. Bd., Frankfurt a. M. 1991 (darin: Davoser Vorträge, S. 271–312), hier S. 273. 34 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 3, Frankfurt a. M. 1991, S. 26. 33
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Entfremdungszusammenhang, und um diesen aufzulösen, ist das Sein zu entbergen und dem Menschen wieder zugänglich zu machen, der immanente Raum zu überschreiten und Transzendenz (oder wenigstens die dauernde Frage danach) offen zu halten. Sodann kommt ein heroischer Drehpunkt in die Argumentation, der zu Radikalformulierungen führt, die fatale Nähen zu den in den letzten Jahren erst publizierten Schwarzen Heften Heideggers zeigen – im Klartext weist Heidegger der Philosophie die Aufgabe zu, »aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals.« 35 Damit werden denn auch die Vorurteile artikuliert gegen eine aus seiner Sicht überfeinerte Symbolphilosophie, die die Dinge nur mit Handschuhen anfasse und nicht in ihnen selbst stecke. Wenn Heidegger sich auf das Sein bezieht als etwas »Beständiges, das Ewige, den Sinn und Begriff«, 36 also schier Ontisches, so gründet er darin eine neue Transzendenz, die nunmehr mit existenzialen Zügen ausgestattet ist. Damit werden die ethischen Perspektiven Kants, die auf eine metaphysische Welt jenseits der Erscheinungen hin gedacht wurden, aber durchaus weltimmanent und intersubjektiv gemeint waren, einigermaßen auf den Kopf gestellt. Cassirer zieht denn auch wesentlich andere Konsequenzen aus dem mit Heidegger zunächst geteilten Blick auf die Einbildungskraft, die er in der Symbolphilosophie positiv qualifiziert als produktives Vermögen. 37 Auch spekuliert Cassirer nicht über ein Seiendes oder ein Transzendentes, sondern benennt »immanente Unendlichkeit« als Ziel, innerhalb der der Mensch immerhin »sein Dasein in Form verwandelt«, und zwar im Lauf einer Weiterentwicklung in »die Region der reinen Form«, die er aus dem Chaos schöpft und diesem gegenüberstellt. 38 Dies ist dann das immanent Mögliche, auch das Gegenteil von Privation, nämlich ein kultureller Handlungsraum. Dieser spannt sich gleichsam als symbolisch umformulierter Raum über die Dinge, die eben nicht als fertige Substanzen und hinzunehmende Fakta begriffen werden – vielmehr geht
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Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O., S. 291. Ebd., S. 282. Ernst Cassirer, Diskussion mit Heidegger, vgl. Heidegger, Davoser Vorträge, S. 276. Ebd., S. 286.
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es Cassirer um ein »Sein, das von einer Mannigfaltigkeit von funktionellen Bestimmungen und Bedeutungen ausgeht«. 39 Solche Weltimmanenz in all ihren Bezügen ist etwas kategorial anderes als das ›Dasein‹ Heideggers. Auf der einen Seite des Konflikts steht damit der besonnene, um Ausgleich bemühte Kulturphilosoph, der dem Menschen Verantwortung und Gestaltungsfreiheit zuschreibt und Toleranz aus der Kenntnis mannigfacher symbolischer Denkformen – mithin der Philosophie – bezieht, auf der anderen Seite ein emphatischer Existenzialist mit Hang zu einer fatalen Rhetorik der Härte. 40 Es sind zwei weitere Einwände in die Diskussion gebracht worden, die sowohl terminologisch als auch methodologisch weitaus mehr Anschlusskommunikation ermöglichen. So hat der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch Cassirers kulturanalytische Philosophie gewürdigt, aber ein aus seiner Sicht zentrales Monitum formuliert – nämlich die Berücksichtigung der medialen Verfassung und Bedingung von Kunst- und Denksystemen. Wenn Symbolformen Medien als Träger brauchen und es dann Bücher, Filme, Geld oder neue technische Medien sind, die die Sinnkonstruktionen abendländischer Kulturen geprägt haben, sei Cassirer medienvergessen bzw. mit der grundsätzlichen »Medienblindheit der Philosophie« versehen. 41 Einzuräumen ist in der Tat, dass Cassirer die technischen Medien zunächst den Symbolformen zugerechnet hat, ohne ihnen eine genuin prägende, konstitutive Kraft zuzusprechen. Ein 1930 verfasster Aufsatz mit dem Titel Form und Technik geht dieses Problem dann insoEbd., S. 294. So die Bewertung von Habermas. In: Ders., Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung, a. a. O., S. 35. Zwar verweist Peter Gordon in seiner umfangreichen Darstellung des Davoser Disputes (in Continental Divide: Heidegger, Cassirer, Davos, Cambridge, Mass. 2010) darauf, dass die Darstellungen der Kontroverse oftmals eine einseitige, rückwärtige und dann teleologisch aufgeladene Sinnzuordnung aufgrund der nationalsozialistischen Machtergreifung bzw. Heideggers unrühmlicher (hochschul-) politischer Rolle vorgenommen hätten. In der Tat ist der Nationalsozialismus eine mögliche, wenn auch nicht notwendige Konsequenz aus Heideggers Positionen – die dieser aber spätestens mit seiner berüchtigten Rektoratsrede von 1933 deutlich zog. 41 Vgl. Jochen Hörisch, Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien, München 2009, S. 280–285, hier S. 284. Gleichwohl konzediert Hörisch (Bedeutsamkeit, a. a. O., S. 284), dass Cassirers Symbolphilosophie als ›Ontosemiologie‹ die spezifische »Erkenntniskraft ästhetischer Medien und Diskurse« bzw. der Kunstformen herausgearbeitet hat und diese dann den Ideen vorschaltet. 39 40
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fern an, als Technik unter die erstrangigen der Kulturleistungen gezählt wird, und zwar als eine solche, die ganz prinzipiell in der Absicht der Naturüberwindung den abstraktiven, sich von der Natur entfernenden Entwicklungen des symbolischen Denkens entsprechen würde. 42 Allerdings sieht er aufgrund der Rapidität und Prägnanz technischer Fortschritte eine zeitgenössische Frontstellung und konstatiert, dass Technik in den »Kreis der philosophischen Selbstbesinnung noch nicht wahrhaft eingeordnet« sei. 43 Bei aller Anerkenntnis der technischen Leistungen ist hier eine Hierarchisierung nicht zu übersehen, wenn Cassirer das technische Schaffen ins Verstehen bringen und »ins geistige und sittliche Bewußtsein« heben will, um dadurch letztlich ein umfassendes Verständnis von technischen Prinzipien, aber auch eine »Ethisierung der Technik« zur zentralen Aufgabe zu machen. 44 Während eine Synthese zwischen der Symbolphilosophie und Heideggers Existentialismus nicht gut denkbar ist und schon an der radikal unterschiedlichen Begrifflichkeit scheitern würde, lässt sich mit Blick auf die Medialität eine gangbare Verbindung denken, insofern Symbole auch ganz grundsätzlich nicht ohne medialen Träger auskommen. 45 Der Kompromissvorschlag geht hier schlicht dahin, das Entstehen neuer Denkformen im Verbund mit den medialen Bedingungen zu sehen. Dies tut z. B. die Mediologie, die seit den 1980er Jahren ein ganzes Ensemble sehr unterschiedlicher Dinge zusammenhängend untersucht: Medien sind nicht einfach Apparate, Maschinen oder technische Träger von Bedeutungen, sondern Verfassungen von Inhalten, die mit sozialen Institutionen, symbolischen Ausdruckssystemen und einer Geschichte von Praktiken verknüpft sind. Dieser Funktionskomplex lässt sich im Begriff der Medialität bündeln, 46 der wiederum in der Nähe der französischen Mediologie steht. Deren Ansätze haErnst Cassirer, Form und Technik. In: Birgit Recki (Hrsg.), Gesammelte Werke, Hamburg 2004, Bd. 17, 139–184; dort wird das beidseitige Wagnis konstatiert, »sich von der Vormundschaft der Natur loszusprechen und sich rein auf sich selbst, auf das eigene Wollen und Denken, zu stellen« (S. 170). 43 Vgl. Cassirer, Form und Technik, a. a. O., S. 141. 44 Ebd., S. 183. 45 Oswald Schwemmer (Philosophie als Theorie der Kultur, a. a. O.) sieht in der Materialität des Mediums eine weitere Strukturierungsebene der Symbole hinsichtlich ihrer Kommunizierbarkeit, dies aber auch bereits auf Ebene der Wahrnehmung, die medial durch Bild- und Tonwelten geprägt ist. 46 Vgl. Josef Rauscher, Medien und Medialität. In: Christoph Ernst / Petra Gropp / 42
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ben gezeigt, dass der Funktionszusamenhang von Medien stets zu erschließen ist über Fragen nach Denkweisen, symbolischen Wirklichkeiten und institutionellen Kontexten bzw. Praktiken: »Mediologie verbindet sich also mit einer Ökologie: Sie studiert die zugleich technischen und sozialen Milieus, die unsere symbolischen Repräsentationen formen und recyceln und uns damit ermöglichen zusammenzuleben.« 47 Auf der Handlungsebene können symbolische und soziale Praktiken in Wechselwirkung gesehen werden; Mediologie umfasst dann Subjekte bzw. Mediateure und Objekte (Techniken), weiterhin die dafür nötige materielle Organisation (Körperschaften, Parteien, Kirche) und die Medien im materialen Sinn (Geräte). Im weiteren Sinne wären etwa hierzu Jan und Aleida Assmanns Studien zum kulturellen Gedächtnis zu sehen. 48 Dort wird nach Speicher und Substanz gefragt, nach Archiven und ihren Inhalten im Verbund. Im engeren Sinne hat Albrecht Koschorkes Mediologie gezeigt, wie Medien im gesellschaftlichen Umlauf das Denken und die Literatur prägen können, wie aber auch Denkformen darauf zurückwirken. Darin läge eine Pointe des mediologisch erweiterten Symboldenkens: Kein Primat des materialen Seins oder der Denkwelten zu postulieren, sondern beide Seiten in Verbindung zu sehen. 49 Cassirer hat denn auch die physikalische Seite von Kultur nicht übersehen oder gar geleugnet. Allerdings ist Kultur auch nicht einfach eine technisch-gesellschaftliche Maschine – sie ist ebenso das Zeichengebilde aus Ideen, Bildern und Mythen, Spuren, die beschreibbar sind, aber auch hergestellt werden (können). Cassirer hat das in seinem Essay on Man noch einmal festgehalten mit der Beobachtung, der Mensch lebe »nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums.« 50 Karl A. Sprengard (Hrsg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, Bielefeld 2003, 19–44. 47 Daniel Bougnoux, Warum Mediologen … In: Lorenz Engell / Joseph Vogl (Hrsg.), Mediale Historiografien, Weimar 2001, S. 23–31, hier S.25; allgemein vgl. Régis Debray, Cours de médiologie générale, Paris 1991. 48 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 49 Vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. 50 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen (An Essay on Man, 1944), Hamburg 1990, S. 50.
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Dies würde auch den Weg aus einem dritten Problem weisen, nämlich der von Michel Foucault monierten Diskursvergessenheit Cassirers. Foucault hat Cassirers Symbolphilosophie durchaus zustimmend als ergiebige geschichtliche Darstellung von Denksystemen gelesen. Gegen allen voreiligen Optimismus von Identitätsbildung merkte er allerdings kritisch an: »Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken.« 51 Wenn sich diese wiederum in Diskursen, also umlaufenden Rede- und Wissenssystemen bilden, die das Denken und Handeln selbst beeinflussen, tun dies die Institutionen, die ihre Diskurse in die Praxis bringen (Schulen, Ministerien, Universitäten und andere), nicht minder. Um dem Vorwurf des Mentalismus zu entgehen, ist die Symbolebene Cassirers insofern auch mit solchen diskursiven Umgebungen abzugleichen, die juristische und verwaltungstechnische Register umfassen, administrative und politische, aber auch andere fachsprachliche Diskurse, die sich eben nicht nur im Bereich des hochrangigen Wissens zeigen, sondern auch in Alltagsformen. In seinen späten, politisch orientierten Schriften greift Cassirer freilich weiter aus und wirft in The Myth of the State (1946) Blicke auf die historischen und diskursiven Verfassungen des Staates, der in Formen seiner Mythologisierungen in Geschichte und Gegenwart analysiert werden kann – um ihm, wenn er etwa in nationalsozialistischer Prägung auftritt, deutlich entgegentreten zu können. In dieser Mythenanalyse des Staates liegen offene Enden eines Œuvres, das man mit Foucaults Diskursanalyse durchaus verbinden könnte. 52 Medien und Diskurse lassen sich, insofern sich ihre Wirkungen in Zeichenformen fassen lassen, als Erweiterungsmöglichkeiten der Symbolphilosophie begreifen. Nicht immer aber sind Symbole und Künste von außen bestimmt – mit Cassirer ist diesen Zeichen auch Michel Foucault, Interview. In: Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow, Michel Foucault, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987, S. 265– 292, hier S. 289. 52 Vergleichbar hat Jürgen Link in seiner kritischen Interdiskursanalyse auf die wichtige Rolle der Kollektivsymbole – gemeint sind Sprach-Sinnbilder, die weite mediale Verbreitung finden – bei gesellschaftlichen Sinnstiftungsprozessen hingewiesen, insofern dort politische Fragestellungen anschaulich komprimiert sind und von ihren Agenten wirkungsvoll zum Einsatz gebracht werden (in: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hrsg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 284–307). 51
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eine eigene Dynamik und Beschreibung zuzugestehen. Die Arbeit des Kulturwissenschaftlers besteht dann sowohl in der Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung von Zeichengebilden des Menschen als auch darin, in dieser Analyse Möglichkeiten des Denkens für Gegenwart und Zukunft zu erörtern – sie betreffen das Gesamtprogramm, also jene Quellcodes, die technische und soziale Handlungsformen von Gesellschaften beeinflussen und formen, prägen, wenn nicht gar determinieren. 53 Mit der Symbolphilosophie, erkennbar aber auch in den Schlussfolgerungen, die man aus ihr ziehen kann, überschreitet Cassirer den Bereich der Erkenntnistheorie durch eine neue Kulturphilosophie, die die alte Metaphysik ablöst. 54
6.
Fazit
Die mehrfache Ausrichtung von Symbolentwürfen als Formgebungen auf der Wahrnehmungsebene und in der Ausdrucksdimension kann kulturphilosophisch folgenreich werden, insofern damit erstens symbolische Verfassungen von Epochen und Gesellschaften analysiert werden können, und zwar durchaus hochauflösend jenseits des Blickes auf die (vermeintlich) schieren Faktizitäten. Dem Vorwurf des Mentalismus wäre mit Hinweisen auf Cassirers Spätwerk und auch die eingeschobene Diskussion mit Hörisch und Foucault zu begegnen, um im genauen Bezug die Symbolanalysen auf kommunikative, mediale und materiale Prozesse zu beziehen. Sodann lassen sich in der Exposition von Denkgebäuden oder künstlerischen Artefakten Lebensentwürfe erkennen (wenn sie auch als Möglichkeitsformen nicht frei sind von den umgebenden Diskursen). Teilautonome Bereiche bilden sie gleichwohl: Cassirers Nutzung der theoretischen, ästhetischen und praktischen Freiheitsräume Kants bleibt in seinem Optimismus jedem fatalistischen Daseinsbegriff gegenübergesetzt. 55 Dafür ließen sich auch noch die späten Vgl. Siegfried J. Schmidt, Medien, Kultur, Medienkultur. Ein konstruktivistisches Gesprächsangebot. In: ders. (Hrsg.), Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt a. M. 1992, S. 525–450, hier S. 434 ff. 54 Vgl. Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturtheorie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996, S. V. 55 Vgl. Enno Rudolph, Freiheit oder Schicksal? Cassirer und Heidegger. In: Dominic Kaegie / Enno Rudolph (Hrsg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002, S. 36–47. 53
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Schriften Cassirers benennen, die harte politische Gefährdungen in den unheilvollen Funktionen bzw. Mythologisierungen des Staates in Geschichte und Gegenwart analysieren, 56 aber auch, gerade im Bewusstsein einer veritablen Weltkrise, durch Erkenntnis der Steuerfunktionen des Staates Aufklärung treiben und Freiheitsräume des Denkens ausloten wollen – dies zumal dann, wenn sich gesellschaftliche Einzelbereiche verselbständigt und fatal zusammengeschlossen haben, während der Gesamthorizont wegbricht. 57 Die kulturphilosophischen Verstehensbemühungen, die Cassirer u. a. mit Dilthey teilt, 58 könnten dann auch auf eine ethische Ebene gebracht werden, und Schritte in eine pragmatische Philosophie sind dann (eingedenk des Aufschubcharakters symbolischer Zeichen) plausibel. Habermas hat dies deutlich formuliert und damit auch das Potenzial von Cassirers Denken eingelöst: »In der symbolischen Verfassung des menschlichen Daseins und der symbolischen Vermittlung eines Lebensvollzuges ist die Richtung einer humanen Lebensführung vorgezeichnet.« 59 Mit dem Augenmerk auf Zeichenformationen lässt sich eine aufklärerische Hoffnung am Leben halten, hält man sich dagegen den Essentialismus von radikalen Seinspredigern, Religionsanhängern, Politikern oder Terroristen vor Augen, der es auch denkenden Leuten nicht einfach macht, die Nerven zu behalten und Vorschläge zum Ausgleich zu machen. Cassirers Symbolphilosophie lässt sich aber ebenso in die gegenwärtigen Religionsdebatten bringen: Es sind Künste ebenso wenig wie Religionen als überflüssige Wahnsysteme Zu politischen Perspektiven von Cassirers Spätwerk vgl. insgesamt Volker Gerhardt, Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik. In: Hans-Jürgen Braun / Helmut Holzhey / Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1988, S. 220–246. 57 Auf diese Perspektive weist Heinz Paetzold in: Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York, Darmstadt 1995, S. 220 ff. hin; vgl. ders., Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext. Darmstadt 1994, S. 136 f. 58 Gerade der Aspekt des Verstehens erscheint in der Konstellation von Cassirer und Dilthey tragfähig, bei der neben manchen Gegensätzen verbindende Elemente zu erkennen sind: in der grundlegenden Betonung des Verstehens von kulturtragenden Sinngebäuden, der Rolle der Individualität sowie im Wirklichkeitsbegriff einer Form prägenden Geistesenergie, die Freiheit bedeutet; vgl. Thomas Weinkauf, Zur Einführung. In: Ders. (Hrsg.), Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, Hamburg 2003, S. 7–20, hier S. 7 f. 59 Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung, a. a. O., S. 38. 56
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zu bezeichnen, wie es neuerdings im denunziatorischen Gestus eines neuen Atheismus aufgekommen ist. 60 Vielmehr sind Religionen als Symbolformen zu betrachten, die in einem kontinuierlichen Verhältnis zu anderen Formen stehen. Es handelt sich dabei um menschenmögliche, aber auch notwendige Denktätigkeiten und Geschichtenbildungen, die gerade die conditio humana des Symboltiers Mensch darstellen. Wenn dies aber so ist, geht es darum, neben allem Erzählen von Geschichten diese auch zu diskutieren – oder Versionen gegeneinander zu halten. Religionen und politische Systeme brauchen offenbar ihre Begleitnarrative, Imaginarien und Kommentierungen. Dafür sind die ästhetischen Spielräume, die vom unmittelbaren Handlungsdruck entbunden sind, gut geeignet, denn sie können Konflikte oder gesellschaftliche Überkomplexitäten pointieren, verdichten und anschaulich darstellen. So wäre, allen Abgesängen zum Trotz, ein Erbe der Aufklärung immer noch einzulösen, und in diesen Aspekten liegt auch wohl der zentrale Impetus von Cassirers Kulturphilosophie: Die Selbstreflexion des Menschen in Symbolen, also auch in Narrativen, ist das Verständigungsinstrument par exellence, und dies gerade auch in Krisenzeiten.
Eine Darstellung rezenter fanatischer Glaubens- und Atheismustendenzen findet sich bei Jürgen Straub, Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog. Personale Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften, Gießen 2016.
60
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
Wie funktioniert Kunst? Was ist ihre Funktion in der Gesellschaft – oder genereller: für den Menschen, der Kunst schafft, sich mit Kunst umgibt, Kunst rezipiert? 1 Malcolm Budd gibt in seinem Essay Morality, Society, and the Love of Art folgende Antwort: »And of course, art is, by its very nature, one of the great enhancements of life […] it provides experiences […] that are unavailable outside art: it massively enlarges the possible scope of valuable human experience«. 2
Kunst wird hier als eine wichtige Ergänzung und Erweiterung menschlicher Erfahrungen beschrieben, als »enhancement of life« und als eine Art ›Lebenswertsteigerung‹. Der Aspekt der Steigerung definiert laut Budd Kunst in einem sehr weiten Sinne – als ein Hinausgehen über die reine Funktionalität, über die reine Vermittlung einer Information oder über die einfachste Form, die sich aus dem zu Herstellung eines Artefakts verwendeten Material ergäbe. Seine Funktionsbestimmung der Kunst als Aspekt der Lebensoptimierung – womit auch Bildung und Charakterformung impliziert sind – und als wertvolle Erfahrungserweiterung scheint mir recht präzise zu erfassen, welche Rolle der Kunst in modernen Gesellschaften häufig zugewiesen wird. Man geht ins Theater oder Konzert oder Museum, um etwas Besonderes, nicht Alltägliches zu erleben, und man möchte sich dabei bilden. Kunst soll das Leben der Menschen – und letztlich möglichst auch die Menschen selbst – idealerweise besser machen. Aber was genau heißt das und wie funktioniert das? Ich möchte im Folgenden eine Funktionsbestimmung der Kunst anhand von Ernst Cassirers Essay on Man versuchen. Kunst ermöglicht für Cassirer als eine der symbolischen Formen, die für ihn die Kultur prägen,
Habilitationsvortrag an der Ruhr-Universität Bochum. Malcolm Budd, Morality, Society, and the Love of Art. In: Estetika: The Central European Journal of Aesthetics, LI/VII, No. 2 (2014), S. 170–207, hier S. 202 f.
1 2
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
einen gestaltenden Zugriff auf die Wirklichkeit (siehe Abschnitt 2). Aus dem Essay on Man lässt sich – deutlicher als aus Cassirers kulturphilosophischem Hauptwerk, seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen – herausarbeiten, welche spezifischen Funktionen der Kunst im Zusammenhang aller kulturellen Prozesse hierbei zukommen (siehe Abschnitt 3). Auch bei Cassirer gibt es einen steigernden, intensivierenden Aspekt der Kunst und auch bei ihm gibt es eine ganz eindeutige Ausrichtung auf Bildung und auf ein hohes humanistisches Ziel. Er bestimmt aber vor allem folgende Funktionen der Kunst: eine spezifische Funktion im Hinblick auf unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit (wobei er, wie noch zu zeigen ist, auch ein spezifisches Verständnis von Wirklichkeit voraussetzt); eine Funktion der Freilegung von reinen Formen der Wahrnehmung; etwas indirekter eine Funktion der Selbstformung und Selbstbefreiung des Menschen. Gezeigt werden wird letztlich, wo Cassirers Kunstverständnis durch die Weiterentwicklung der Kunst überholt worden ist und an Grenzen stößt, aber auch, inwiefern sein ambitioniertes Verständnis der Funktion der Kunst attraktiv bleibt (siehe Abschnitt 4).
1.
Die symbolischen Formen als Zugriff auf Wirklichkeit
Ernst Cassirers An Essay on Man erscheint im Jahr 1944 in der Yale University Press. Geschrieben und publiziert wurde dieser Versuch über den Menschen im amerikanischen Exil. Darin werden die Grundlinien seiner früheren Philosophie der symbolischen Formen prägnant zusammengefasst und auch für eine lebendige Rezeptionen in den USA zugänglich gemacht, u. a. von Susan K. Langer, Nelson Goodman und Clifford Geertz und zuletzt auch wieder in neueren Publikationen. 3 Die Kulturphilosophie Cassirers zielt im Ganzen darauf ab, gemeinsame Grundprinzipien verschiedener kultureller Entwicklungen aufzuzeigen und nach einer Einheit, einem roten Faden darin zu suchen – und zwar vor dem Hintergrund, dass für Cassirer die unVgl. u. a. Susan K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, München 1980. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1990. Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures: Selected Essays, New York 2000. Sowie als neuere Titel: J. Tyler Friedman / Sebastian Luft (Hrsg.), The Philosophy of Ernst Cassirer. A Novel Assessment, Berlin / Boston 2015. Peter E. Gordon, Continental Divide. Heidegger, Cassirer, Davos, Harvard 2010.
3
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umstrittene Aufgabe der Philosophie schon immer das Streben nach der Selbsterkenntnis des Menschen ist. Wenn also Cassirer im Rahmen seines anthropologischen Essays der Kunst ein langes Kapitel widmet, dann geht es nicht primär um die Entwicklung einer Kunsttheorie oder Ästhetik. Es geht um einen Beitrag zur Selbsterkenntnis des Menschen. Es geht darum, zu verstehen, wie Menschen die Welt verstehen, deuten und damit zugleich Bedeutung generieren und ihre Wirklichkeit aktiv gestalten. Cassirer fragt, so Michaela Hinsch, »als Philosoph, und nicht als Kunsthistoriker oder als Literaturwissenschaftler, nach der Stellung und Bedeutung der Kunst im kulturellen Gesamthaushalt und Vermögen des Menschen und versucht die Kunst dort als gleichberechtigte symbolische Form allen anderen gegenüber zu verorten.« 4 Seine Ästhetik ist, so Marion Lauschke, eine »Ästhetik im Zeichen des Menschen«. 5 Die Kunst ist für Cassirer neben Mythos, Religion, Sprache und Wissenschaft eine der symbolischen Formen der menschlichen Kultur. Mit solchen Symbolzusammenhängen greift der Mensch als animal symbolicum auf die Wirklichkeit zu und generiert Bedeutung. Die unterschiedlichen symbolischen Formen sind gleichrangig. Zwar beschreibt Cassirer eindeutig einen Fortschrittsprozess in der kulturgeschichtlichen Abfolge der Dominanz verschiedener Formen, aber trotzdem behält zugleich jede dieser Formen ihre Berechtigung darin, gleichermaßen wirklichkeitserschließend zu sein. 6 Die vielleicht präziseste Definition der symbolischen Form, die Cassirer anbietet, lautet: »Unter einer symbolischen Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird«. 7
Michaela Hinsch, Die kunstästhetische Perspektive in Cassirers Kulturphilosophie, Würzburg 2001, S. 278. 5 Marion Lauschke, Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007. 6 Vgl. Peer F. Bundgaard, The grammar of aesthetic intuition: on Ernst Cassirer’s concept of symbolic form in the visual arts. In: Synthese 179 (1) (2011), S. 43–57, hier S. 45. 7 Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1921–22). In: Ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, S. 171–200, hier S 175. 4
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
Welche unterschiedlichen Arten und Ausführungen der symbolischen Verknüpfung denkbar sind, lässt Cassirer bewusst offener als z. B. Ferdinand de Saussure, für den sich das Symbol durch den Ähnlichkeitsbezug zwischen Zeichen und Bezeichnetem auszeichnet oder Charles S. Peirce, für den ein Symbol ein rein konventionelles Zeichen ist. Auch das allgemeine Verständnis eines Symbols hebt zumeist auf diese Konventionalität eines festen Formelzeichens ab. Für Cassirer hingegen steht die Aktivität immer wieder neuer geistiger Verknüpfungen im Prozess der Erschließung von Wirklichkeit im Vordergrund. Auf was für eine Wirklichkeit greifen die Menschen für Cassirer mittels symbolischer Formen zu? Seine erkenntnistheoretische Voraussetzung ist (geprägt durch Kant und den Marburger Neukantianismus) eine erweiterte kopernikanische Wende, die sich nicht mehr nur auf »die logische Urteilsfunktion« bezieht, sondern »auf jedes Prinzip geistiger Gestaltung«. 8 Keine Form der Erkenntnis hat Zugriff auf ein Ding an sich, sondern eben auf Erkenntnisgegenstände, die nur in der Tätigkeit des Erkennens zugänglich werden. In dieser Tätigkeit sind bereits die Aktivitäten der Verknüpfung und der Repräsentation beinhaltet. Es kann und soll ausgehend von dieser erkenntnistheoretischen Voraussetzung weder in der Kunst noch in der modernen Wissenschaft um eine reine Abbildung von Wirklichkeit gehen, dennoch besteht ein Anspruch auf Objektivität. Das bedeutet in Bezug auf die Kunst: »Gleich allen anderen symbolischen Formen ist auch die Kunst keine bloße Nachbildung einer gegebenen Wirklichkeit. Sie ist einer der Wege zu einer objektiven Ansicht der Dinge und des menschlichen Lebens. Sie ist nicht Nachahmung, sondern Entdeckung von Wirklichkeit«. 9
Im Versuch über den Menschen erläutert Cassirer die Unhintergehbarkeit der symbolischen Vermittlung folgendermaßen: »Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, Hamburg 2010, S. 5. Vgl. Ernst Wolfgang Orth, Ernst Cassirer as cultural scientist. In: Synthese 179 (1) (2009), S. 115–134, hier S. 123. 9 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2007, S. 220. 8
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nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe«. 10
Gerade an der Art und Weise, wie Cassirer im Essay on Man die symbolische Form der Kunst beschreibt, die ganz eindeutig artifiziell ist, wird die produktive Kraft deutlich, die sich für ihn in den vielfältigen kulturellen Vermittlungsleistungen des animal symbolicum ausdrückt und der er, vor einem klassisch humanistischen Hintergrund, große Wertschätzung entgegenbringt. 11 Trotzdem lässt sich der Einwand, die symbolisch-kulturelle Vermittlung könne, indem sie sich zwischen uns und die Wirklichkeit schiebt, eine Entfremdung zwischen Mensch und Natur bewirken oder eine Verfremdung objektiver Tatsachen, nicht einfach von der Hand weisen. Cassirer setzt sich mit diesem Einwand auseinander – und zwar besonders mit der von seinem Lehrer Georg Simmel formulierten Variante dieses Einwands. Für Simmel besteht nicht nur ein primärer Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, sondern auch das Problem, dass sich die geistigen Objekte, die Menschen selbst schaffen, gegenüber dem Subjekt wieder verselbständigen, indem sie sich quasi verfestigen – beispielsweise die Sprache in ihren Regelwerken. Für Cassirer steht aber am Ende des Weges der Kulturprozesse nicht ein festes Objekt oder »Werk«, sondern »das ›Du‹, das andere Subjekt, daß dieses Werk empfängt, um es in sein Leben einzubeziehen« und wieder lebendig zu machen. 12 Damit wird der für Simmel unversöhnliche Widerspruch zwischen dem ›Leben‹ und seiner ›Verobjektivierung‹ aufgelöst. 13 Es geht Cassirer bei der Bestimmung von Kunst als Deutung von Wirklichkeit nicht um eine Deutungshoheit über die Welt durch den Künstler, sondern um ein fortgesetztes gemeinsames Deutungsgeschehen. 14 Dies gilt für jede kulturelle TätigEbd., S. 50. Cassirers Wertschätzung galt, wie es auch aus der Wahl seiner Beispiele deutlich wird, insbesondere der Literatur – vor allem Goethe. Sein Kunstverständnis ist auch durch die intensive Beschäftigung mit der Sammlung Aby Warburgs geprägt. 12 Ernst Cassirer, Die »Tragödie der Kultur«. In: Ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, Darmstadt 1980, S. 103–127, hier S. 110. 13 Vgl. Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ders., Philosophische Kultur, Berlin 1983, S. 183–207. 14 Cassirer entwickelt, wie es Birgit Recki zusammenfasst, ausgehend von dieser Theorie der Kultur eine »kommunikationstheoretisch« und »rezeptionsästhetisch reflektierte Werkästhetik«, die zugleich eine »hermeneutische Ästhetik« (Birgit Recki, Cassirer: Grundwissen Philosophie, Stuttgart 2013, S. 63) ist, insofern Kunst als 10 11
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
keit. Ich möchte nun ausgehend vom Essay on Man zeigen, wie Cassirer impliziert, dass in der Produktion und Rezeption von Kunst die freie und produktive, poietische Aktivität der Formung und Gestaltung der wahrgenommen Wirklichkeit sowie auch der Selbstformung und Selbstbefreiung des Menschen besonders deutlich wird.
2.
Die Funktionen der Kunst im Essay on Man
Worin bestehen im Vergleich zu den anderen symbolischen Formen – insbesondere Mythos, Religion, Sprache und Wissenschaft – die spezifischen Vermittlungsleistungen der Kunst in der Wahrnehmung von Wirklichkeit? Cassirer konstatiert: »Die Formen der Kunst [sind] keine leeren Formen. Sie erfüllen eine ganz bestimmte Aufgabe bei der Konstruktion und Organisierung der menschlichen Erfahrung.« 15 Dies gilt aber für alle symbolischen Formen. Welche Ordnung hierbei die Kunst ermöglicht, bestimmt Cassirer folgendermaßen: »Die Wissenschaft gibt uns Ordnung im Denken; die Moral gibt uns Ordnung im Handeln; die Kunst gibt uns Ordnung in der Auffassung der sichtbaren, greifbaren und hörbaren Erscheinungen«. 16
2.1 Ordnung und Intensivierung von Wirklichkeit Peer Bundgaard erklärt die Bedeutung der Stellung der Kunst in Cassirers Systematik der symbolischen Formen folgendermaßen: »[A]esthetic space assumes a central position in the family of general symbolic forms and symbolic form-creating processes because it is the place for an already autonomous reflection on what it means for a multiplicity of elements to coexist in an order«. 17
»Deutung von Wirklichkeit« verstanden wird. (Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2007, S. 226.) 15 Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 256. 16 Ebd., S. 257. 17 Peer F. Bundgaard, The grammar of aesthetic intuition: on Ernst Cassirer’s concept of symbolic form in the visual arts. In: Synthese 179 (1) (2011), S. 43–57, hier S. 48. Siehe hierzu auch Curtis Carter, After Cassirer: Art and Aesthetic Symbols in Langer and Goodman. In: J. T. Friedman / S. Luft (Hrsg.), The Philosophy of Ernst Cassirer. A Novel Assessement, Berlin / Boston 2015. S. 401–418, insbesondere S. 402–406.
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Katharina Bauer
Dies zeige sich an der Komposition und den Ordnungsprinzipien von Gemälden. Die zentrale Position der künstlerischen Tätigkeit lässt sich mit Bundgaard dadurch begründen, dass sie in besonderem Maße eine rationale Freiheit verkörpert, eine Loslösung von der Unmittelbarkeit des Mythos, aber eben noch nicht in der abstrakten Reflexion der Wissenschaft, sondern in einem kreativen Tun. Cassirer nimmt zudem folgende Abgrenzung vor: »Sprache und Wissenschaft sind Abkürzungen der Wirklichkeit« – sie erstellen Klassifizierungen, führen allgemeine Begriffe und Regeln ein und zielen auf Abstraktion. 18 Gerade die Wissenschaft ist zwar für Cassirer mit Kant der »Stolz der menschlichen Vernunft«, wir zahlen dafür aber einen hohen Preis einer »Verarmung der Wirklichkeit«. 19 Im Gegensatz dazu leistet die Kunst eine »Intensivierung von Wirklichkeit«, ihr Prinzip ist das der Konkretisierung, »Verdichtung und Konzentration«. 20 Dies entspricht der mit Malcolm Budd anfänglich eingeführten Idee einer Vertiefung, Intensivierung und Erweiterung von Erfahrungen durch die Kunst. Wie es Christian Krüger deutlich macht, geht es hierbei nicht nur um die Intensivierung von Emotionen oder sinnlichen Wahrnehmungen. Dies könnte man für Cassirer auch mit anderen Mitteln erreichen, z. B. durch ein Feuerwerk, das noch nicht unbedingt ein Kunstwerk ist. Es geht um eine andere Vertiefung, eine spezifische Fokussierung und um eine Perspektiverweiterung in der Wahrnehmung.
2.2 Die Freilegung reiner Formen und die Formung der Wahrnehmung Das Hauptspezifikum der Kunst besteht für Cassirer darin, einen Zugang zu den reinen Formen zu eröffnen: »Wir können einem Gegenstand in unserer Alltagswahrnehmung tausendmal begegnen, ohne jemals seine Form ›gesehen‹ zu haben, und geraten in Verlegenheit, wenn wir nicht seine physikalischen Eigenschaften oder Wirkungen, sondern seine visuelle Gestalt und seine Struktur beschreiben sollen. Die Kunst überbrückt diese Kluft«. 21
18 19 20 21
Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 224. Ebd., S. 222. Ebd., S. 221. Ebd., S. 222.
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
Gemeint sind nicht einfach geometrische Formen, für die man nicht die Kunst als spezifischen Zugang bräuchte, sondern bestimmte fundamentale Strukturelemente unserer sinnlichen Erfahrung, die Kunstwerke durch ihre internen Gestaltungsprinzipien bzw. eben durch ihre inneren Formprinzipien aufzeigen können. 22 Die Freilegung der reinen Form gelingt auch dadurch, dass wir im Umgang mit Kunst ganz im Sinne des interesselosen Wohlgefallens der Ästhetik Kants unsere theoretischen und praktischen Interessen und damit die Fragen woher und wozu ausklammern, die sonst – auch im wissenschaftlichen Denken – den Blick auf die reinen Formen verdecken. 23 Die zentrale Funktion der Kunst besteht damit für Cassirer gerade in ihrer Freiheit von jeder unmittelbaren Funktionalität. Kunst macht also reine Formen wahrnehmbar und ermöglicht es zugleich, vielfältige individuelle Möglichkeiten der ästhetischen Wahrnehmung zu aktualisieren, 24 z. B. verschiedene Sichtweisen einer Landschaft, die sich durch die Individualität der Darstellungsweisen und Kompositionsprinzipien eines Kunstwerks eröffnen. 25 Kunst ermöglicht die Einübung von verschiedenen Wahrnehmungsweisen. 26 Sie eröffnet Perspektiven. Das wird u. a. im literarischen Spiel mit unterschiedlichen Erzählperspektiven deutlich. Gelenkt wird aber nicht nur der Blick auf das im jeweiligen Kunstwerk selbst Dargestellte, sondern auch genereller auf die Wirklichkeit. So wird z. B. die zunächst häufig eher als bedrohlich empfundene Landschaft der Alpen erst nach ihrer Entdeckung durch die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts als schön empfunden. Diese Prägung der Wahrnehmung bleibt dann, wie Cassirer betont, langfristig erhalten. Sie kann aber auch wieder durch neue kulturelle und künstlerische Prägungen verändert werden. »Es ist kennzeichnend für den Menschen«, so Cassirer, »daß er nicht auf einen einzigen, spezifischen Zugang zur Wirklichkeit festgelegt ist, sondern seinen Blickwinkel selbst wählen und auf diese Weise von einer Ansicht der Dinge zu einer anderen wechseln
Vgl. Christian Krüger, Die Produktivität der Kunst. Der poietische Charakter der Kunst nach Ernst Cassirer. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58 (2) (2013), S. 225–246, hier S. 234. 23 Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 259. 24 Vgl. ebd., S. 223. 25 Vgl. Krüger, Die Produktivität der Kunst, a. a. O., S. 244. 26 Vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 245. 22
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kann«. 27 Diese menschliche Fähigkeit wird im Umgang mit Kunst besonders deutlich erfahrbar. Über Cassirer hinaus lässt sich betonen, dass sich diese Freiheit, die im Umgang mit Kunst erlernt und eingeübt wird, dann auch auf andere Zusammenhängen übertragen lässt. Wenn Kunst ganz konkret Sichtweisen verändern und erweitern kann, dann kann sie auch weit über die Kunstrezeption hinaus den Mut und die Fähigkeit zu neuen und ungewöhnlichen Sichtweisen vermitteln.
2.3 Selbstbefreiung und Selbstformung Ausgehend von der klassischen aristotelischen katharsis-Lehre ermöglicht die Kunst für Cassirer eine spezifische innere Freiheit im Bezug auf Emotionen: »Die Kunst verwandelt all diese Leiden und Widrigkeiten, diese Grausamkeiten und Greuel in ein Mittel der Selbstbefreiung und gewährt uns so eine innere Freiheit, die wir anders nicht erlangen können«. 28 Sie ordnet dabei nicht den Menschen in den Kosmos ein wie der Mythos, sondern »[a] novel, poem, drama, sculpture, or painting of a human subject offers us an aspect of the human condition, a version of it that has been freely constructed«. 29 Diese Freiheit der poiesis könnte auf die Freiheit hinweisen, sich als Mensch selbst zu formen, zu gestalten und zu bilden. In jedem Fall ist eindeutig, dass die Kunst mit Cassirer eine besondere Freiheit zur Gestaltung der Welt der symbolischen Formen eröffnet. In der Kunst, so Birgit Recki, »entfaltet sich das Bewusstsein von der Differenz der Bilder« zum Abgebildeten »zur vollkommenen Kompetenz der Verfügung über diese« Bilder. 30 Der Umgang mit Kunst kann also in besonderem Maße die aktive Kompetenz bewusst machen, sich mittels symbolischer Formen Wirklichkeit zu erschließen bzw. sie zu deuten. 31 Erkennt sich der Mensch im Umgang mit Kunst besonders Vgl. ebd., S. 261. Ebd., S. 230. 29 Thora I. Bayer, Art as symbolic form: Cassirer on the educational value of art. In: Journal of Aesthetic Education 40 (4) (2006), S. 51–64, hier S. 57. 30 Birgit Recki, Cassirer: Grundwissen Philosophie, Stuttgart 2013, S. 62. Das Bewusstsein der Differenz zwischen Bild und Abgebildetem hat sich zuvor schon in den religiösen Formen entwickelt, die bereits die mythische Identifikation von Symbol und Symbolisiertem überwinden. 31 Vgl. Krüger, Die Produktivität der Kunst, a. a. O., S. 243. 27 28
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
deutlich als freier Gestalter von Bildern und als kreativer Autor der symbolischen Formen, kann er sich dadurch – einen Schritt über Cassirers Theorie hinausgehend – auch als verantwortlicher Gestalter seiner eigenen Lebenswirklichkeit erkennen (als »creator of its own symbolic reality« und »the author of its own historical condition« 32).
3.
Die Funktion der Kunst für die Menschheit – Eine Idealisierung?
Ich habe anfänglich gesagt, dass es Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit der Kunst um einen Beitrag zur Selbsterkenntnis des Menschen geht – bzw. darum, zu verstehen, wie Menschen die Welt verstehen, deuten, Bedeutung generieren und ihre Wirklichkeit aktiv gestalten. Neben dieser zunächst einmal deskriptiven Ebene hat Cassirers Kulturphilosophie und gerade auch seine Kunsttheorie aber zugleich einen deutlich normativen, idealistischen Zug. Sie ist geprägt von einem Vertrauen auf die Autonomie des Menschen und seine Fähigkeit zur Selbstbefreiung und Selbstformung sowie auf die Macht der Bildung. Ausdrücklich vertritt Cassirer einen Kulturoptimismus, der an eine humanistische und liberale Grundhaltung geknüpft ist. Er stellt Simmels These von der ausweglosen »Tragödie der Kultur« das Drama gegenüber, da für ihn die Kultur wesentlich ein dialektischer und dramatischer, offener Prozess ist, der dialogisch funktioniert. Seiner Kulturphilosophie unterliegt eine »Hermeneutik des Wohlwollens« gegenüber kulturellen Entwicklungen. 33 Steen Brock beschreibt Cassirers Haltung folgendermaßen: »The resolute reader realizes what Cassirer’s darker tone does not imply when compared to other philosophical views. There is no indication of a grand metaphysical or otherwise universal misery or negativity. There is no negative dialectic, no Angst, no alienation that marks the cultural-historical development of mankind throughout. There are also no general be-
Peter E. Gordon, Continental Divide: Heidegger, Cassirer, Davos, Harvard 2010, S. 363. 33 Birgit Recki, Nicht so tragisch … : Simmels Begriff, Theorie und Problem der Kultur in der Kontroverse. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1–2 (2015), S. 41–55, hier S. 41. 32
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witchments of understanding or continuing forms of confusions and bewilderment, nor unavoidable forms of unhappiness and melancholy«. 34
Ist diese Haltung naiv optimistisch? Cassirers Versuch über den Menschen beschreibt den Menschen als Kulturwesen, als animal symbolicum auf dem Weg der Zivilisation bzw. auf dem Weg der Kultivierung. Dieser Weg verläuft aber nicht ohne Spannungen und Widersprüche, darauf weist Cassirer sehr ausdrücklich hin. Er ist sich durchaus im Klaren darüber, dass dieser Fortschritt äußerst zerbrechlich ist und vielleicht gerade deshalb – kontrafaktisch – umso mehr beschrieben und damit zugleich verteidigt werden muss. Cassirer schreibt und publiziert seinen Essay wie bereits erwähnt 1944 im Exil. Er hat sich als Jude und liberaler Denker schon 1933 unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung entschlossen, Deutschland zu verlassen. Fast zeitgleich zum Essay on Man verfasst Cassirer The Myth of the State, wo er scharf die Strukturen totalitärer Herrschaft und Propaganda analysiert. Fehlfunktionen und Missbräuche symbolischer Formen sind mit Cassirer also nicht ausgeschlossen. Allerdings bezieht er sich hierbei vor allem auf die Einflüsse des mythischen Denkens auf das Politische. Auch künstlerische Ausdrucksformen und Kunstwerke können aber als Propaganda instrumentalisiert werden. Der Mehrwert ihrer Form bestimmt noch nicht ihren beispielsweise politischen Inhalt. Man kann Cassirer durchaus vorwerfen, nicht deutlich genug zu machen, dass bestimmte Entwicklungen der Kunst nicht immer automatisch ein ›enhancement of life‹ bewirken und in einer teleologischen Fortschrittsbewegung zur Optimierung menschlichen Lebens oder der Menschheit beitragen. Auch der stets kathartische Ausgang von Konflikten innerhalb oder zwischen Kulturen, den er voraussetzt, ist keineswegs immer offensichtlich. Zu beachten ist aber, dass Kultur für Cassirer prinzipiell dialektisch ist als »ein Tun, das stets von neuem einsetzen muß, und das seines Zieles niemals sicher ist. So kann sie sich niemals schlechthin einem naiven Optimismus oder einem dogmatischen Glauben an die ›Perfektibilität‹ des Menschen überlassen«. 35 Er fordert im Bewusstsein der Fragilität der Leistungen der Kultur eine »Kritik der Kultur«, die die Kritik der Vernunft abSteen Brock, A resolute reading of Cassirer’s anthropology. In: Synthese 179 (1) (2011), S. 93–113, hier S. 108. 35 Cassirer, Die »Tragödie der Kultur«, a. a. O., S. 109. 34
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
lösen soll. 36 Sein Umgang mit Beispielen aus einem Kanon der Kunst ist jedoch weniger kritisch als affirmativ – und es ist zudem ein sehr klassischer Kanon, den er berücksichtigt. Seine Beispiele entnimmt er stets der etablierten europäischen Hochkultur. Die Künstler, mit denen er sich befasst, heißen Bach, Beethoven, Michelangelo, immer wieder der besonders verehrte Goethe oder Dostojewski. Cassirer setzt sich 1944 nicht mit der Kunst seiner Gegenwart auseinander. Es ist dennoch festzuhalten, dass die Kunst im Essay on Man nicht einfach als ideale Lebensform der nicht-idealen Wirklichkeit gegenübergestellt wird: Es soll nicht um »Flucht vor den Problemen des Lebens« gehen, sondern im Gegenteil um die »Verwirklichung einer der höchsten Kräfte des Lebens selbst«. 37 Cassirer betont die Autonomie der Kunst gegenüber der Moral und Kants Leistung, diese herausgestellt zu haben. 38 Allerdings hat sein Kunstverständnis eindeutig einen starken Bezug zu einem ganz spezifisch kantischen moralischen Anspruch, der mit der Idee der Überschreitung des Individuellen verbunden ist: Wenn Kunstwerke indirekt eine Anleitung zur Selbstüberschreitung vermitteln, helfen sie uns ohne die konkrete inhaltliche Vermittlung moralischer Botschaften, unsere subjektiven Standpunkt zu überschreiten und von uns selbst zu abstrahieren, auch in Fragen der Moral. Bei Cassirer geht es ganz explizit um das Ziel, den Standpunkt der Menschheit zu erreichen – letztlich Kants moralischen Standpunkt. Ausgehend von Kant muss für Cassirer ein neuer Wertmaßstab für die Kultur aus dem »Tun« des Menschen heraus entwickelt werden: Nicht die Glückseligkeit, sondern die Verwirklichung der Freiheit, die in der Herrschaft über sich selbst besteht – und zwar letztlich in der moralischen Herrschaft über sich selbst – ist Ziel der Kultur. Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn der Mensch »die Schranke der Individualität überspringen, wenn er sein eigenes Ich zum Ganzen der Menschheit erweitern könnte«. 39 Cassirer geht davon aus, »daß die Menschheit sich in ihrer Sprache, ihrer Kunst, in allen ihren Kulturformen gewissermaßen einen neuen Körper geschaffen hat, der allen gemeinsam zugehört« 40 – und zwar im aktiven Prozess der Bildung und (Selbst)
36 37 38 39 40
Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., S. 9. Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 356. Vgl. ebd., S. 212. Cassirer, Die »Tragödie der Kultur«, a. a. O., S. 104. Ebd., S. 127.
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Formung des Menschen. 41 Kultur tendiert also letztlich zur Bildung der Menschheit und nicht primär zu einer Bildung oder Kultivierung, die zunächst vor allem den einzelnen Menschen in seiner Individualität betrifft. Und sehr emphatisch heißt es dann am Ende des Versuchs über den Menschen: »Im Ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozeß. In ihnen allen entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine eigene, eine ›ideale‹ Welt zu errichten«. 42
Mit dieser ›idealen‹ Welt ist hier keineswegs eine ›perfekte‹ Welt gemeint, sondern eine geistige, eben symbolisch vermittelte Welt. Dennoch ist Cassirers Kulturphilosophie und besonders auch seine Darstellung der symbolischen Form der Kunst deutlich mit einem sehr ambitionierten humanistischen Ideal verbunden. Kunst soll nicht nur eine Wertsteigerung von Erfahrungen ermöglichen, sondern zur kulturellen Wirklichkeitsentdeckung, Sinngebung, interpersonalen Vermittlung, Selbstbildung und vor allem Selbstbefreiung beitragen. Das ist sicherlich ein ebenso anspruchsvolles wie wünschenswertes Ziel. Problematisch kann eine von Cassirer ausgehende Funktionsbestimmung der Kunst allerdings dann werden, wenn man die damit verbundenen Ansprüche explizit an jedes einzelne künstlerische Werk stellt: Ist dann nur das ein Kunstwerk, was diese ideale Ausrichtung durch die oben aufgeführten Funktionsprinzipien und Vermittlungsleistungen der Kunst möglichst vollständig erfüllt? Wird damit die Anforderung an Kunstwerke nicht überhöht und idealistisch überfrachtet? In Frage stellen lässt sich auch, ob uns tatsächlich jedes Kunstwerk reine Formen sehen lässt. Der Anspruch von Andy Warhols berühmten Pop Art Siebdrucken von Suppendosen der Marke Campbell besteht sicher nicht primär darin, den Betrachter die reinen Formen dieser Dosen erkennen zu lassen. Es geht viel eher darum, Prinzipien der Massenkultur, der Werbung, der Multiplikation von Bildern sichtbar zu machen. In einem weiteren Sinne könnte man natürlich auch solche Prinzipien als Formen der Kultur beschreiben. Das verlangt aber eine Erweiterung dessen, was Cassirer wohl ursprünglich unter den reinen Formen im Sinne grundlegender Wahrnehmungsstrukturen versteht. 41 42
Vgl. Krüger, Die Produktivität der Kunst, a. a. O., S. 204. Cassirer, Versuch über den Menschen, a. a. O., S. 345.
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Funktionsbestimmungen der Kunst in Ernst Cassirers Essay on Man
Letztlich ist bei aller Kritik an einem eingeschränkt klassizistischen Kunstverständnis und bei aller Schwierigkeit, bestimmte Funktionsprinzipien der modernen und postmodernen Kunst mit Cassirers Instrumentarium zu beschreiben, im Auge zu behalten, dass sich Cassirer in seinen Überlegungen auf die Kunst als symbolische Form im Ganzen bezieht – in einem großangelegten historischen Überblick, im Vergleich zu anderen Formen der Kultur und vor dem Hintergrund einer primär anthropologischen, nicht ästhetischen Fragestellung. Die eigentliche Leistung Cassirers besteht daher nicht in der Entwicklung einer ausgereiften Ästhetik. Sie besteht in seinem Beitrag dazu, den Blick auf die Entwicklungen, Funktionen und Formen der Kultur für die Philosophie und für die Kulturwissenschaften überhaupt erst zu eröffnen. Er zeigt dabei wie fundamental künstlerische Formen zu menschlichen Lebens- und Wahrnehmungsformen gehören – eben nicht (nur) im Sinne eines ›Zusatzes‹ oder eines ›Mehrwerts‹. Und es gelingt ihm, wichtige Funktionsprinzipien aufzuzeigen, mit denen Kunst arbeitet und durch die sie wertvolle Funktionen für den Menschen erfüllen kann. Anknüpfend an Cassirer möchte ich dabei hervorheben, dass Kunst indirekt immer auf die Freiheit zur Wahl verschiedener Sichtweisen und zur aktiven Formung der kulturell vermittelten gemeinsamen Lebenswelt hinweist. Eine Rückbindung einer zeitgemäßen Kunsttheorie an Cassirer kann in jedem Fall davon profitieren, in seinem Sinne die Frage nach der Kunst in den Rahmen der Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen einzubetten – ganz im Sinne einer Ästhetik im Zeichen des Menschen.
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III. Georg Simmel als Kulturphilosoph
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Ernst Wolfgang Orth
Modalisierung und Modalisierungsschock Grundkomponenten von Kultur und Parakultur
Der Mensch als bedeutsamer und bedeutender, d. h. Bedeutungen generierender Organismus – das ist der originäre Befund, den die Philosophen und Kulturtheoretiker Georg Simmel (1858–1918), Ernst Cassirer (1874–1945), Max Scheler (1874–1928) und Helmuth Plessner (1892–1985) – jeder auf seine Weise – zur Geltung bringen. Simmel beruft sich auf die »Achsendrehung« des Lebens als ›Wendung zur Idee‹ ; er verbindet damit gleich ursprünglich die (überbiologische) Vererbbarkeit von Sinn als Ermöglichung von Kultur. Cassirer sieht den Menschen als animal symbolicum, das aus dem umweltlichen Merk- und Wirkzusammenhang zur symbolischen Formung von »Welt« und »Welten« findet, wobei sich der Mensch selbst als Paradigma einer symbolischen Form erweist. Scheler verweist auf die entsprechende ›Weltoffenheit‹ des Menschen, die über alle (gleichwohl weiter fungierende) tierische Orientierung sowie über vermeintlich intelligente Technik hinausreicht. Schließlich findet Plessner mit der These von der »exzentrischen Positionalität« des Menschen eine sinnfällige Formel für die conditio humana, die zugleich aus stets beibehaltener organismischer Positionalität herausragt, indem sie durch Exzentrizität den Zentralcharakter für eine mögliche Welt bekundet, die sich als Welt des Menschen und damit als Kultur etabliert.
1.
Im Menschen wird Modalisierung gelebt und erlebt
Alle vier Charakterisierungen des bedeutsamen Organismus Mensch kann man als Modalisierung der Wirklichkeit auffassen – und zwar in doppelter Weise: Es wird die Wirklichkeit des Organismus und die den Organismus umgebende Wirklichkeit modalisiert. Ausdrücklich thematisch und zur Geltung gebracht wird diese Wirklichkeit allerdings erst beim Menschen. Deshalb können wir außerhalb des Men107 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Ernst Wolfgang Orth
schen von Modalisierung nie als objektivem Befund sprechen, vielmehr nur metaphorisch. Subjektiv erlebbar und bezeugbar wird Modalisierung erst beim Menschen. Hier wird Modalisierung gelebt und erlebt. Und es kann das eintreten, was man den »Modalisierungsschock« nennen darf, der am Anfang aller Kultur steht und sie fortlaufend betrifft. Dazu noch einmal zurück zu Simmel 1. Es ist der Philosoph (und Soziologe) Georg Simmel, der gerade mit Blick auf »das Leben« und unter positiver Würdigung des Organismischen Strukturen zur Geltung bringt, die geeignet sind, einem die Phänomene vereinseitigenden Naturalismus entgegenzutreten. Er stellt als eine Grundeigentümlichkeit allen Lebens dessen »Transzendenz« heraus. Das heißt: »Leben ist immer mehr Leben«; es strebt stets über seinen Ist-Zustand hinaus, so dass es einen fixen Ist-Zustand eigentlich nie hat. 2 Das gilt für alle Organismen, auch für den Menschen. Beim Menschen allerdings spricht Simmel nicht mehr nur einfach von »mehr Leben«, sondern von »mehr als Leben«. Damit offenbart sich die »Transzendenz des Lebens« als »Wendung zur Idee« im Sinne einer »Achsendrehung des Lebens«. Man kann diese Achsendrehung und Wendung zur Idee auch als Modalisierung der Wirklichkeit verstehen und von einer »semantischen Wende« sprechen. 3 Etwas wird als etwas aller erst thematisch. Damit ist der Sinn respektive die Sphäre des Sinnhaften entdeckt, die Dimension alles Offenbar-werdens.
2.
Der Sinn zwischen Riskiertheit und Thesaurierung
Freilich ist dieses Offenbarwerden von Sinn mit einer bemerkenswerten Verunsicherung verbunden. Die Sinn eröffnende Modalisierung auf der Grundlage einer Wendung zur Idee als semantischer Wende konfrontiert auch mit der Erfahrung, dass etwas »so oder so« sein respektive als »dieses oder jenes« verstanden werden kann. Dabei wird das mögliche Auseinanderklaffen von Substrat und Sinn ge-
Zu Simmel vgl. Ernst Wolfgang Orth, Georg Simmels Metaphysik als Ironie des Lebens. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie Bd. 9 (Jg. 2015), Doppelheft 1–2, S. 241– 256. 2 Ist es schon vom »Sollen« heimgesucht? 3 Zu dieser Wende Orth, Die Spur des Menschen. Kulturanthropologische Betrachtungen zwischen Welt und Krise, Würzburg 2014. 1
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Modalisierung und Modalisierungsschock
legentlich höchst auffällig. 4 Das wird gerade im Zeichen- und Bildgebrauch (den fundamentalen Modalisierungstechniken) fühlbar, indem die »Übereinstimmung« von Sinn und Substrat nie völlig glaubhaft ist, sondern nur näherungsweise gelebt werden kann. Die radikale Form dieser Verunsicherung nennen wir ›Modalisierungsschock‹. Der Anfang menschlicher Kultur ist also nicht einfach die Verfeinerung einer schon vorausgehenden, gröberen tierischen Intelligenz, die nur noch besser formiert wird. Mit der Modalisierung bricht vielmehr der Sinn für möglichen Sinn aller erst auf, der sich allerdings sogleich mit Bezug auf die Zufälligkeit seiner Substrate zu entziehen droht. Ja, diese Drohung scheint geradezu die Pointe der Sinnerfahrung zu sein, die eigentlich Sinnvermutung (oder Glaube!) ist. In den am Anfang von menschlicher Kultur stehenden magischen, mythischen oder religiösen Einstellungen sowie Praktiken wird – geradezu fabulierend – diese Sinnvermutung zwischen Substrat und Bedeutung etabliert und immer wieder eingeübt. Sinn wird so – gemäß der Simmel’schen kulturellen Vererbung – thesaurierbar und tradierbar.
3.
Probleme mit der kulturellen Lesefähigkeit / das Phänomen der Parakultur
Gleichwohl ist die gelingende Beziehung zwischen Sinn und Substrat nie gesichert. Ihre Stabilisierung verlangt so etwas wie Erziehung zur Lesefähigkeit, die sich sowohl als Nutzung wie auch als Bewältigung von Modalisierung erweist. Es gibt im Verlaufe von Kultur immer wieder Fälle des Absinkens der Lesefähigkeit, ja ihrer Verweigerung. Man kann in solchen Fällen von Inkulturationslegasthenie sprechen. Es handelt sich um die Verweigerung der für alle Kultur konstitutiven (speicher- und transferierbaren) Sinnvermutungen, respektive der Arbeit am Sinn. 5 Gelegentlich begegnet dieses Syndrom als eine Art Kontingenzneurose, d. h. als eine Verstörung gegenüber dem stets suggerierten, aber nie einholbaren ZusammenDie Unterscheidung von Sinn und Substrat liegt nicht etwa von Anfang an vor; sie stellt sich erst mit und im Zuge der Modalisierung – als originäre Kulturleistung – ein. 5 Beispielhaft ist dafür das »Lesen«! 4
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Ernst Wolfgang Orth
hang von Sinn und (konkretem) Substrat – eine Verstörung, auf die mit Sinnverweigerung oder Sinnkarikaturen reagiert wird: so z. B. in allerlei para-ästhetischen, -religiösen, -politischen »Installationen« und »Arrangements«. Vielleicht darf man das auch Parakultur nennen; allerdings ist dann zu bedenken, dass Parakultur – bis zur Ununterscheidbarkeit – zum festen Bestand von Kultur gehört. Es ist leicht gesagt, dass hier Erziehungsdefizite – oder Inkulturationsausfälle – wirksam sind. Deren verbindliche Charakterisierung sowie angemessene Abhilfen sind allerdings strittig Bei dem Versuch abschließend zu bestimmen, was Parakultur sein soll, bieten sich drei Möglichkeiten an. Parakultur können wir zunächst das scheinbar kulturanaloge Verhalten von Tieren nennen, beispielsweise: Nestbau, Brutpflege, Balzverhalten und dgl. mehr. Sowohl in der Tierfabel als auch in mancherlei religiösen Auffassungen und Riten erscheinen Tiere als personale, kulturale Wesen. Das Hausstier wird als Begleiter des Menschen (und sein Geschöpf) in die kulturale Sphäre hereingezogen. Obgleich es auch dem bloßen Nutzen, dem Ge- und Verbrauch, dienen kann, bleibt es kulturale Projektionsfläche des Menschen. Ein anderes Verständnis von Parakultur kann in einer polemischen Variante gesehen werden. Parakultur ist dann so etwas wie Pseudokultur. Es ist die nachgemachte, misslungene oder karikierende Form von Kultur. Gerade aber in dieser polemischen Auffassung kündigt sich das homonyme Moment aller Kultur an. 6 Wägt man die genannte Auffassung genauer, so kommt man zu der dritten Bestimmung. Das ›Para‹, das ›gleichsam‹ ein originäres und konstitutives Moment aller Kultur ist! Es hängt zutiefst zusammen mit dem, was wir Modalisierung nennen im Sinne des »so und auch so«, des »so oder so«. Das »Para« ist strukturell auf »Modalisierung« bezogen. Hier eröffnet sich eine Deutungssphäre über »paraballein«, »parabolisch« – vergleichend, gewagt. Der Vergleich ist immer ein Wagnis. Insofern ist alle Kultur Wagnis – eines ihrer Grund- und Hauptworte heißt »insofern«, eine zugleich befreiende und destabilisierende Konjunktion. Man könnte sagen, dass in der an der Tierwelt orientierten »Parakultur« der die Kultur motivierende Modalisierungsschock unterlaufen wird. Mit dem allfälligen polemischen Gebrauch von »Parakultur« wird dieser Schock überspielt. Um mit einer literarischen Auch und gerade für die Kultur gilt das pollachos legetai (to on), das Aristoteles angesichts der Homonymie des Seins fordert.
6
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Modalisierung und Modalisierungsschock
Pseudokategorialisierung (gelehrt) zu schließen: Wir haben es also in »Parakultur« mit einem »unterlaufenden«, einem »überspielenden« und schließlich einem »konstitutiven« Para zu tun.
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Annika Schlitte
Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
»Die Macht des Capitalismus erstreckt sich auch über Begriffe; er ist reich genug, um sich einen ehemals so vornehmen Begriff wie ›Bildung‹ zu seinem Privateigentum anzuschaffen.« 1
Dass Bildung zu einer Ware gemacht wird, dass die Ökonomie in alle Bereiche des Bildungswesens eindringt, ist spätestens seit den Diskussionen um PISA, Studiengebühren und Bologna-Reform eine oft geäußerte Sorge. Die Vorstellung, dass das Geld ein »dominantes Gut« (Michael Walzer) wird, das auf andere Bereiche der Gesellschaft übergreift und ihnen seine Logik aufzwingt, findet sich nicht nur in bildungstheoretischen Debatten, 2 sondern wird im Zuge einer Kritik am Neoliberalismus auch in Ethik und Sozialphilosophie diskutiert. 3 Was dabei vielfach ungeklärt bleibt, ist das Verhältnis, in dem die Wirtschaft zu den anderen gesellschaftlichen Bereichen und zur Kultur steht. Gerade wenn man die Ökonomisierung der Bildung oder auch der Kunst beklagt, erscheint die Logik des Geldes als etwas Fremdes, das mit den anderen Sphären eigentlich nicht viel zu tun hat – ein notwendiges Übel, um die Verteilung von Gütern zu regeln, das aber außerhalb der Warenproduktion und -zirkulation eigentlich keine Bedeutung hat. Dass man den Bereich der Wirtschaft – und hier ist explizit die Geldwirtschaft der modernen Gesellschaft gemeint – auch anders betrachten kann, dafür gibt Georg Simmel immer noch das beste BeiGeorg Simmel, Alpenreisen. In: Ders., Gesamtausgabe [GSG] Bd. 5, hrsg. von HeinzJürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt am Main 1992, S. 91–95; hier S. 92. 2 Vgl. Thomas Höhne, Ökonomisierung der Bildung. In: Ullrich Bauer / Uwe H. Bittlingmayer / Albert Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie, Wiesbaden 2012, S. 797–812. 3 Ein populäres Beispiel dafür bietet Michael J. Sandel, What Money Can’t Buy. The Moral Limits of Markets, New York 2012. 1
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Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
spiel. Er hat als einer der wenigen Philosophen des 20. Jahrhunderts die Wirtschaft und namentlich das Geld nicht nur ausdrücklich in seine philosophischen Überlegungen miteinbezogen, sondern ihnen mit der Philosophie des Geldes auch eine ausführliche Analyse gewidmet. Dass Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft in ihrem Zusammenhang betrachtet werden, erscheint angesichts der später etablierten Disziplinengrenzen ungewöhnlich, war aber bei den Gründungsfiguren der deutschen Soziologie dieser Zeit noch durchaus üblich. 4 Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch nicht nur die ökonomische Wissenschaft von den Geisteswissenschaften wegentwickelt, auch diese haben es ihrerseits vielfach versäumt, wirtschaftliche Denk- und Handlungsweisen als Teil des Zusammenlebens und als Teil der kulturellen Sinnbezüge zu untersuchen. 5 Auch in der Philosophie wurde die Wirtschaft lange Zeit vorwiegend nur in normativen Zusammenhängen, etwa in der marxistischen Gesellschaftskritik oder explizit in Form einer Wirtschaftsethik zum Gegenstand gemacht. Seit der Finanzkrise 2008 hat sich die Lage jedoch geändert und heute wird nicht nur in den Kulturwissenschaften allgemein dem Phänomen Geld mehr Aufmerksamkeit gewidmet, auch eine Diskussion über Wirtschaftsphilosophie zeichnet sich ab, die wieder grundsätzlich nach dem Verhältnis von Philosophie und Wirtschaft fragt. 6 Vor diesem Hintergrund kann es lohnend sein, noch einmal auf Georg Simmel zurückzukommen und sich das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur bei ihm genauer anzusehen. In den nun folgenden Überlegungen wird es daher um die Frage gehen, welchen systematischen Platz die Ökonomie in Simmels kulturphilosophischem Denken hat. Dazu sollen zu Beginn seine methodischen Grundannahmen kurz vorgestellt werden (1), bevor dann seine Theorie der Herausbildung geistiger Objektivationen thematisiert wird (2). Auf eine kurze Skizze der kulturphilosophischen Deutung des Geldes (3) folgen Überlegungen zum Beitrag der Geldwirtschaft zur Tragödie der Kultur (4) und zur Stellung der Wirtschaft in SimVgl. Klaus Kraemer / Florian Brugger, Die Wirtschaft der Gesellschaft. In: Dies. (Hrsg.), Schlüsselwerke der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2017, S. 1–26. 5 Vgl. ebd., S. 4–6. 6 Vgl. zur kulturwissenschaftlichen Perspektive z. B. Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, zur Bestimmung von Wirtschaftsphilosophie vgl. Wolf-Dieter Enkelmann/Birger P. Priddat (Hrsg.), Was ist? Wirtschaftsphilosophische Erkundungen, 3 Bde., Marburg 2014–2016; Thomas S. Hoffmann, Wirtschaftsphilosophie, Wiesbaden 2009. 4
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Annika Schlitte
mels Theorie kultureller Welten (5), am Ende steht ein kurzer Ausblick (6).
1.
Methodische Grundannahmen
Der historische Materialismus bietet seit dem 19. Jahrhundert eine Interpretation des Verhältnisses von Wirtschaft und Kultur an, die Simmel in dieser Form nicht teilt, auch wenn er in der Analyse des Geldes vielfach mit Marx übereinstimmt. 7 In der Vorrede zur Philosophie des Geldes schreibt Simmel, seine methodische Grundabsicht sei es, dem historischen Materialismus »ein Stockwerk unterzubauen« 8. Der historische Materialismus hängt also, um im Bild zu bleiben, laut Simmel in der Luft, weil er zwar auf dem Erklärungswert wirtschaftlicher Faktoren für die geistigen Erzeugnisse der Kultur insistiert, aber nicht sieht, dass auf der anderen Seite »wirtschaftliche Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden« (PhG, 13) können. Was Simmel stattdessen vorschlägt, läuft auf ein methodisches Wechselspiel zwischen »geistiger Kultur« und »wirtschaftlichen Formen« heraus, da er davon ausgeht, dass diese sich gegenseitig beeinflussen und untrennbar verbunden sind. Die Ablehnung einer einseitigen Rückführung geistiger Gehalte auf ökonomische Ursachen liegt nahe, wenn man bedenkt, dass es für Simmel gar keine »rein« nationalökonomischen Tatsachen gibt. Vielmehr plädiert er dafür, dass gerade das Geld und der Tausch »ebenso legitim als eine psychologische, als eine sittengeschichtliche, ja eine ästhetische Tatsache behandelt werden« (PhG, 11) können. Wenn Simmel es als Aufgabe seines Buches bestimmt, »die geistigen Grundlagen und die geistige Bedeutung des wirtschaftlichen Lebens aufzuzeigen« (PhG, 719), so ist das nicht in dem Sinne zu verstehen, dass es einen von der übrigen Kultur abgegrenzten Bereich der Wirtschaft gibt, den man nun im Nachhinein zu geistigen Gehalten in Zum Verhältnis Simmel – Marx vgl. Gregor Fitzi, »Die Absicht, dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen«: Zur Beziehung von Simmel und Marx. In: Otthein Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien, Frankfurt am Main 2003, S. 215–242. 8 Georg, Simmel, Die Philosophie des Geldes, GSG 6, hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989 [im Folgenden zitiert als PhG], S. 13. 7
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Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
Verbindung setzt, sondern Geld und Wirtschaft werden von vornherein als Phänomene gesehen, die auch einen geistigen Gehalt haben und zur kulturellen Entwicklung dazugehören. Das Geld ist für Simmel Teil der Kultur, und zwar der Teil, an dem ihm ihre symbolische Logik und die Logik der geistigen Objektivationen überhaupt erst aufgeht. Wäre im Geld nicht ein geistiger Gehalt zu finden, der sich in der Moderne mit anderen Erscheinungen der Lebenswelt paart, würde es Simmel gar nicht interessieren.
2.
Die Herausbildung geistiger Objektivationen
Betrachtet man die Entwicklung von Simmels Denken, so finden wir – trotz deutlicher Unterschiede zwischen dem frühen und dem späten Werk – immer wieder auch übergreifende Fragestellungen, die sowohl seine soziologischen als auch seine späteren kultur- und lebensphilosophischen Überlegungen beschäftigen. So stellt sich ihm schon früh die Frage, wie subjektive Wertungen eine objektive Gültigkeit erlangen können und wie aus dem Zusammenwirken vieler Einzelner allgemeine, objektive Formen des Zusammenlebens entstehen, die über das Leben der Individuen hinaus Bestand haben. 9 Schon in dem 1890 entstandenen Text Über sociale Differenzierung schreibt er, man könne »die Grenze des eigentlich sozialen Wesens vielleicht da erblicken, wo die Wechselwirkung der Personen untereinander nicht nur in einem subjektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Unabhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persönlichkeiten besitzt« 10.
Simmel befasst sich hier also mit den Formen, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Wechselwirkung herausbilden. In einem Aufsatz Zur Soziologie der Religion von 1896 beschreibt er den Prozess, bei dem »die unmittelbar gegenseitigen Bestimmungen der Individuen, mit denen ihr Zusammenleben beginnt, zu gesonderten und selbstänZum Verhältnis von Wert- und Geldproblematik vgl. Klaus Christian Köhnke, Die Verdrängung der Werte durch das Geld. Zu Georg Simmels Philosophie des Geldes. In: Jeff Kintzelé / Peter Schneider (Hrsg.), Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt am Main 1993, S. 143–154. 10 Georg Simmel, Über sociale Differenzierung. In: Heniz-Jürgen Dahme (Hrsg.) GSG 2, Frankfurt am Main 1989, S. 109–295; hier S. 133. 9
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digen Organen aufwachsen« 11, als prägend für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt. Diese Wechselbeziehungen führt er auf »Zwecke, Ursachen, Interessen« als »Materie des sozialen Lebens« (SR, 268) zurück, die sich in verschiedenen Formen äußern können. So kann ein und derselbe Inhalt verschiedene Formen ausbilden; sind die Formen aber einmal da, können sie sich auch auf andere Inhalte erstrecken. Deshalb erklärt Simmel hier auch, dass der historische Materialismus, wenn er »die gesammten Inhalte des historischen Lebens aus den Formen der Wirthschaft herleitet« (SR, 272), eine Übertreibung und Vereinseitigung vornehme, dass aber insgesamt von einer gegenseitigen Beeinflussung der sozialen Formen untereinander auszugehen sei. Da Simmel zudem voraussetzt, dass die Entwicklung der Menschheit zu einer zunehmenden Vergeistigung führt (wobei er auch annimmt, dass diese Richtung sich wieder umkehren kann), rechnet er auch mit der gegenseitigen Beeinflussung von Wirtschaft und anderen Formen: »[S]o werden Momente des ökonomischen Lebens sehr häufig in die Form der Abstraktheit und Geistigkeit aufsteigen, die Formen, die die wirtschaftlichen Interessen ausgebildet haben, werden sich in ganz anders geartete Lebensinhalte hineinerstrecken« (SR, 273).
3.
Geld als Kulturphänomen
Eine Wandlung erfährt Simmels Ansatz aus den 1890er-Jahren nun dadurch, dass er von der Betrachtung der gesellschaftlichen Wechselwirkung zu kulturellen Formen übergeht, die eine eigene Sinnperspektive ausbilden. Bemerkenswerterweise ist es gerade der Bereich des Geldes und der Wirtschaft, an dem Simmel seine Theorie kultureller Sinnbildungsprozesse entwickelt und die Brücke von den soziologischen zu den philosophischen Betrachtungen schlägt. Dabei stellt er aber nicht wie Marx in erster Linie den Bereich der Warenproduktion und der Produktionsverhältnisse ins Zentrum, sondern den Tausch, wobei das Geld eine zentrale Rolle spielt. 12 Anders als Marx Georg Simmel, Zur Soziologie der Religion. In: GSG 5, 266–286 [im Folgenden zitiert als SR]; hier: S. 271. 12 Zur Stellung Simmels zwischen Marx und der Neoklassik vgl. Jürgen G. Backhaus, Tausch und Geld. Georg Simmels Philosophie des Geldes. In: Hans-Joachim Stadermann / Otto Steiger (Hrsg.), Herausforderungen der Geldwirtschaft. Theorie und Praxis währungspolitischer Ereignisse, Marburg 1999, S. 51–63; hier: S. 52. 11
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Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
leitet er den Wert auch nicht aus der Arbeit ab, sondern versucht zu zeigen, dass objektiver Wert sich erst in Austauschprozessen bildet. Diese werden dabei explizit als soziale Prozesse verstanden, bei denen sich Beziehungen zwischen Personen zu geistigen Gehalten (»Wert«) verobjektivieren, die sich ihrerseits in materiellen Symbolen wie dem Geld niederschlagen. Das Geld verkörpert den Tausch, der eine grundlegende soziale Beziehung darstellt, und überdies die Funktion erfüllt, subjektive Wertzuschreibungen in objektive Wertrelationen zwischen Gegenständen zu übersetzen. Diese Werte, die nach Simmel als objektive Relationen erst in der Tauschbeziehung entstehen, werden vom Geld als quantitative Verhältnisse ausgedrückt, wobei qualitative Unterschiede zwischen Gegenständen keine Rolle mehr spielen. Insofern hier ein bestimmter Sinn (die Wertrelation) an ein sinnliches Substrat (das Geld) geknüpft wird, handelt es sich hierbei um einen Symbolisierungsprozess. 13 Ausgehend von diesen Überlegungen zum Geld kommt Simmel zu einer Vorstellung, die das Symbol als Versinnlichung einer Beziehung beschreibt, die sich »zu einem konkreten Gebilde kristallisiert« (PhG, 212), nachdem sich ein überpersönlicher Bereich von gesellschaftlichen Formen ausgebildet hat. Dieser Vorgang soll typisch sein für die geistige Aktivität des Menschen. 14 Es ist für Simmel also ganz deutlich, dass die materielle Substanz als solche für das Geld nicht entscheidend ist, sondern »daß das Wesentliche des Geldes Vorstellungen sind, die, weit über die eigene Bedeutung seines Trägers hinaus, in ihm investiert sind« (PhG, 245). Simmel ordnet das Geld nun in die »Kategorie substanzgewordener Sozialfunktionen« (PhG, 209) ein. Gesellschaft soll schließlich nichts anderes sein als »der allgemeine Name für die Gesamtheit dieser speziellen Wechselbeziehungen« (PhG, 210). In diesem Kontext taucht dann auch der früher eingeführte Gedanke der Objektivierung geistiger Formen wieder auf:
Zu den verschiedenen Symbolebenen der Philosophie des Geldes vgl. Annika Schlitte, Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur. Georg Simmels Philosophie des Geldes, München 2012. 14 »Es gehört zu den Grundtatsachen der seelischen Welt, daß wir Verhältnisse zwischen mehreren Elementen des Daseins in besonderen Gebilden verkörpern; diese sind freilich auch substanzielle Wesen für sich, aber ihre Bedeutung für uns haben sie nur als Sichtbarkeit eines Verhältnisses, das in loserer oder engerer Weise an sie gebunden ist.« (PhG, S. 136) 13
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»So bildeten sich aus den Erforderlichkeiten und Usancen, die sich im Verkehr der Gruppengenossen zunächst von Fall zu Fall entwickeln und sich schließlich fixieren, die objektiven Gesetze der Sitte, des Rechts, der Moral – ideale Erzeugnisse des menschlichen Vorstellens und Wertens, die nun für unser Denken ganz jenseits des einzelnen Wollens und Handelns stehen, gleichsam als dessen losgelöste ›reine Formen‹« (PhG, 209).
Hier in der Philosophie des Geldes bringt Simmel diesen Gedanken aber auch schon mit dem Kulturbegriff zusammen, und verbindet ihn dann mit der Diagnose einer Krise der modernen Kultur. Auf welche Weise wird also Kultur an dieser Stelle aufgefasst? Ähnlich wie später in dem Aufsatz Vom Wesen der Kultur 15 unterscheidet Simmel eine subjektive und eine objektive Seite der Kultur. Kultur meint die geistigen Formungen, die über die Natur hinausgehen – einerseits als objektive Formen, die für sich stehen, andererseits als Bildungsgüter, an denen sich die Kultivierung der Individuen vollzieht. Der Kulturprozess basiert nun auf der produktiven Aneignung dieser Formen durch die Subjekte: »Indem wir die Dinge kultivieren, d. h. ihr Wertmaß über das durch ihren natürlichen Mechanismus uns geleistete hinaus steigern, kultivieren wir uns selbst« (PhG, 618). In der Kulturentwicklung entstehen sowohl die »materiellen Kulturgüter: Möbel und Kulturpflanzen, Kunstwerke und Maschinen, Geräte und Bücher« als auch die eigentlich geistige »Kultur, die das Verhältnis des Menschen zu anderen und zu sich selbst formt: Sprache, Sitte, Religion, Recht« (PhG, 618). Diese kulturellen Formen gehören für Simmel zu einem Bereich geistiger Objektivationen oder zum »objektiven Geist«. Sein Verständnis dieses Begriffs übernimmt er aus der Beschäftigung mit der Völkerpsychologie Moritz Lazarus’ 16, wobei er – wie Dilthey auch – nicht mehr wie Hegel zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist unterscheidet. Anders als bei Dilthey, der die Kultursysteme
Vgl. Georg Simmel, Vom Wesen der Kultur. In: Alessandro Cavalli / Volkhard Krech (Hrsg.), GSG 8, Frankfurt am Main 1993, S. 463–373. 16 Zu seinem Verhältnis zur Völkerpsychologie vgl. Georg Simmel, Rez. zu Steinthal, H., Allgemeine Ethik. In: Klaus Christian Köhnke (Hrsg.), GSG 1, Frankfurt am Main 1999, S. 192–210; dazu Klaus Christian Köhnke, Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Stuttgart 1996, S. 387. Zum Begriff des objektiven Geistes vgl. Siegfried Blasche, Art. »Geist, objektiver«. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Stuttgart / Weimar 2004, Bd. 4, S. 722–724. 15
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Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
begrifflich von der äußeren Organisation der Gesellschaft trennt 17, finden wir bei Simmel jedoch kaum systematische Überlegungen zur Unterscheidung dieser Bereiche. Religion, Wissenschaft, Recht und Kunst, Sprache, Sitte und der Staat werden in der Philosophie des Geldes genannt, ohne dass hier eine systematische Ausarbeitung des Verhältnisses dieser Formen erfolgt. Eine gewisse Differenzierung zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Formen führt Simmel in einem späteren Aufsatz ein, in dem er zwischen Überlieferung und Wechselwirkung unterscheidet. 18 Überlieferung als historische Weitergabe von geistigen Inhalten und Wechselwirkung als soziale Interaktion zwischen gleichzeitig Handelnden werden hier als Gegenstücke konzipiert. Die für die Überlieferung notwendige »Lösung des Geistesproduktes von seinem Schöpfer […] ist die eigentliche Bedingung für das Aufsteigen aller Kultur« (BG, 66). So stehen sich die Überlieferung und die Wechselwirkung als geistig-substanzielles und funktionelles Element der Gesellschaft gegenüber, sind aber laut Simmel de facto stets miteinander verwoben: »Die Überlieferung ist sozusagen der Träger des Geistig-Substantiellen in der Gesellschaft, während die Wechselwirkung zunächst das Funktionelle bedeutet – aber die Verwebung von beiden findet so merkwürdig statt, daß die funktionellen Wechselwirkungen zwischen Menschen substantielle Ergebnisse schaffen, welche nun ihrerseits tradiert werden.« (BG, 66)
4.
Das Geld und die Tragödie der Kultur
Bekannt geworden ist nun vor allem Simmels kulturkritische Diagnose einer zunehmenden Kluft zwischen dem Subjekt und seinen Objektivierungen, die er als »Tragödie« bezeichnet. Tragisch ist diese Entwicklung, weil einerseits die Vervollkommnung des Subjekts über die Einbeziehung kultureller Objektivationen erfolgen muss, sodass auf diese Entäußerung nicht verzichtet werden kann, andererseits aber die dafür notwendige Eigengesetzlichkeit der kulturellen Objekte nicht mehr vom Subjekt gesteuert wird und sich auch in eine RichVgl. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Erster Band, Gesamtausgabe Bd. 1, hrsgg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart 1959, S. 43. 18 Georg Simmel, Beiträge zur Philosophie der Geschichte. In: Rüdiger Kramme / Angela Rammstedt (Hrsg.), GSG 12, Frankfurt am Main 2001, S. 62–69 [im Folgenden zitiert als BG]. 17
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tung entwickeln kann, die der Bildung der Persönlichkeit nicht mehr zuträglich ist. Die schiere Menge der Waren, die technischen Abläufe und Sachzwänge erscheinen so als eine eigene Kausalität, gegenüber der das Individuum machtlos ist – die Synthese, welche zu einer positiven Kulturentwicklung notwendig wäre, kann nicht mehr erfolgen. In der Philosophie des Geldes sind bereits Motive vorgeprägt, die Simmel in dem späteren berühmten Aufsatz über die Tragödie der Kultur aufgreift. So beklagt er »das diskrepante Verhältnis der objektiven und der subjektiven Kultur« (PhG, 622), welches darin besteht, dass die Individuen es in der modernen Gesellschaft nicht mehr schaffen, in ihrer geistig-moralischen Entwicklung mit dem Fortschritt der objektiven Kultur mitzuhalten. Bezeichnenderweise erläutert Simmel diese Entwicklung am Bildungsbegriff: »Gewissermaßen faßt sich das Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat, darin zusammen, daß das Erziehungsideal des 18. Jahrhunderts auf eine Bildung des Menschen, also einen persönlichen, inneren Wert ging, aber im 19. Jahrhundert durch den Begriff der ›Bildung‹ im Sinn einer Summe objektiver Kenntnisse und Verhaltungsweisen verdrängt wurde. Diese Diskrepanz scheint sich stetig zu erweitern. Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der individuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern.« (PhG, 621 f.).
Dass das Autonomwerden der Kulturformen, welches nach Simmel ja eine Bedingung für Kultur darstellt, tragisch wird, scheint eng mit der modernen Gesellschaft verbunden zu sein, die sich ihrerseits dadurch auszeichnet, dass die Geldwirtschaft in ihr zu einem bestimmenden Faktor geworden ist. Tendenzen wie die Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Kultur behandelt Simmel auch als Auswirkungen des Geldverkehrs, wenn z. B. die quantitative Zunahme der Objekte und der schnellere Wandel der Objektwelt auf die Wirkung des Geldes zurückgeführt wurden. Im Tragödienaufsatz wird die »Entfremdung« und »Isolierung« des Objekts vom Subjekt nicht zuletzt auf das Prinzip der Arbeitsteilung bezogen, welches bewirke, dass das Produkt nicht mehr aus der Einheit einer subjektiven Seele hervorgeht, aber gleichwohl eine Bedeutung, eine Logik hat, die niemand bewusst in es hineingelegt hat. 19 Es liegt also nahe anzunehVgl. Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: GSG 12, S. 194– 223; hier: S. 214.
19
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men, dass die Tragödie der Kultur nach Simmel durch die Auswirkungen der Geldwirtschaft zumindest beschleunigt und verstärkt wird. Auf der anderen Seite betont er aber auch stets den Zuwachs an individueller Freiheit, der durch Geld ermöglicht wird, weshalb er ihm die Wirkung zuschreibt, sowohl die subjektive als auch die objektive Kultur zu befördern. 20 Auch ist das Geld mit dem Intellekt als einem bestimmten Typus von Rationalität verbunden. So vermutet Simmel, dass erst durch die Geldwirtschaft »das Ideal zahlenmäßiger Berechenbarkeit« (PhG, 614) aufgekommen sei – ein Ideal, das auch zu einem bestimmten Exaktheitsideal in den Wissenschaften passt. Schließlich gewährt das Geld in seiner Charakterlosigkeit auch eine formale Gleichheit und Neutralität, die bei persönlichen Beziehungen nicht gegeben ist und die gut mit dem modernen Recht zusammenstimmt (vgl. PhG, 601 u. 609).
5.
Das Geld und die Wirtschaft im Rahmen der Kulturwelten
Nachdem wir nun einige Schlaglichter auf die kulturphilosophische Betrachtung des Geldes geworfen haben, lässt sich die in der Literatur mehrfach vorgebrachte These weiter plausibilisieren, dass Simmels Analyse des Geldes der Schlüssel zur Idee der kulturellen Symbolik ist, die später von Ernst Cassirer zum theoretischen Kernbestand der Kulturphilosophie gemacht wird. 21 Dennoch ist die systematische Stellung des Geldes und der Wirtschaft innerhalb des kulturellen Kosmos bei ihm nicht unproblematisch. Im Spätwerk entwickelt Simmel seine Philosophie zu einer Theorie kultureller »Welten« weiter, wobei er den Status einer »Welt« im engeren Sinne nur »autonome[n] Formen mit unbegrenzter Kapazität« 22 zuspricht, die wirkVgl. PhG, S. 653: »Im großen und ganzen wird das Geld wohl am wirksamsten an denjenigen Seiten unseres Lebens, deren Stil durch das Übergewicht der objektiven Kultur über die subjektive bestimmt wird. Daß es aber auch den umgekehrten Fall zu stützen sich nicht weigert, das stellt Art und Umfang seiner historischen Macht in das hellste Licht.« 21 Vgl. dazu den Beitrag von Timo Klattenhoff, Monetäre Grundformen des ›Verstehens der Welt‹ ? Von Simmels Substanzwert zu Cassirers Darstellungsfunktion. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie Jg. 2015, H. 1–2, S. 159–169. 22 Georg Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. In: GSG 16, hrsg. von Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1999, S. 209–425 [im Folgenden zitiert als Lba]; hier S. 255. 20
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lich alle Inhalte in sich aufnehmen und zu einer Einheit formen können. Dies sind »[…] die großen Funktionsarten des Geistes, durch die er (präsumtiver Weise) die identische Totalität von Inhalten zu einer jeweils in sich geschlossenen, einem unverkennlichen Gesamtprinzip untertanen Welt entwickelt: die Welt in der Form der Kunst, in der Form der Erkenntnis, in der Form der Religion, in der Form der Wert- und Bedeutungsabstufung überhaupt« (Lba, 238).
Diese Welten sind einander koordiniert und nicht ineinander übersetzbar, »da jede schon den ganzen Weltstoff in ihrer besonderen Sprache aussagt« (Lba, 238). Sie entstehen aus dem Leben, lösen sich aber durch einen Prozess, den Simmel »Achsendrehung« nennt, aus dessen Zweck-Mittel-Zusammenhängen heraus und treten ihm nun als objektive Mächte gegenüber. Auf diese Formen schränkt Simmel nun die Kultur ein: »Mit ihnen gestalten sich die eigentlich sogenannten Kulturgebiete, so daß man vielleicht sagen kann: Kultur überhaupt entstünde, wo die im Leben und um des Lebens willen erzeugten Kategorien zu selbständigen Bildnern eigenwertiger Formationen werden, die dem Leben gegenüber objektiv sind.« (Lba, 255 f.)
Diesen Totalitäten, »die ihrer Idee nach nichts außer sich lassen«, bleibt der Begriff »Welt« aber nicht allein vorbehalten, denn auch »relative Totalitäten« – Simmel nennt das Recht, die Wirtschaft und das praktische sittliche Leben – werden im allgemeinen Sprachgebrauch als »Welten« bezeichnet (Lba, 288). In Analogie zu den Kulturwelten wird auch hier eine begrenzte Summe von Daseinsinhalten mittels eines höheren Prinzips zu einer Einheit geführt, und auch hier wird eine eigene Gesetzmäßigkeit begründet, »die jede dieser Welten zu einer formalen Analogie, in verkleinerten Maßen, jeder allumfassenden macht« (Lba, 288). Die Wirtschaft wird also nur unter Vorbehalt zu den kulturellen Welten gezählt, was daran liegt, dass ihre Einbindung in die Zwecksetzungen der Individuen viel grundlegender erscheint als diejenige z. B. der Kunst: »Sogar auf dem Gebiet der Wirtschaft hat, freilich nur aus großen Verschiebungen und Verdeckungen heraus für einen differenzierenden Blick erkennbar, das Reich eines objektiven, durch einen Begriff vereinheitlichten Lebensbezirkes sich mit prinzipieller Drehung dem ursprünglichen Lebenszusammenhang entzogen, aus dem seine Form entsprang.« (Lba, 292)
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Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
Mit diesem Lebenszusammenhang und den »primären Lebensvorgängen« ist die Wirtschaft »so verschmolzen, an ihre täglich erzwungenen Forderungen so angekettet« (Lba, 292), dass es schwer vorstellbar ist, dass sie sich aus allen vitalen Zweckzusammenhängen löst und eine Welt für sich wird, die ihrerseits Forderungen an das Individuum richtet, die seinen Zwecken auch zuwiderlaufen können. Dass dies möglich ist, gibt Simmel aber zu, und es leuchtet sofort ein, dass dies bei Entwicklungen der Geldwirtschaft in Richtung der Finanzspekulation, bei der die Rückbindung an die Realwirtschaft oft gar nicht mehr erkennbar ist, immer wahrscheinlicher wird. Simmel kann diese Entwicklungen nur erahnen: »Wohl aber entsteht die vollkommene Drehung, durch die die Wirtschaft wirklich eine Welt für sich wird, sobald sie ein nach rein objektiven, sachlich-technischen Gesetzlichkeiten und Formen ablaufender Prozess wird, für den die lebendigen Menschen nur Träger, Ausführende der ihm immanenten, aus ihm heraus notwendigen Normen sind, wenn der Besitzer und Betriebsleiter nicht anders als der Arbeiter und Laufbursche Sklaven des Produktionsprozesses sind.« (Lba, 293)
An der Wirtschaft wird die Gefahr für das Individuum aber auch besonders deutlich, denn die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft hat für den Einzelnen handfestere Konsequenzen als z. B. die Entwicklung der Kunst zu einem hermetisch abgeriegelten Spezialdiskurs. Eine verselbständigte Wirtschaft scheint zudem gegenüber subjektiven Bildungsprozessen potenziell besonders feindlich zu sein, wie sich der folgenden Beschreibung entnehmen lässt: »Die gewalttätige Logik seiner Entwicklung fragt nach keinem Willen der Subjekte, nicht nach dem Sinn und den Notwendigkeiten ihres Lebens. Die Wirtschaft geht jetzt ihren zwangsläufigen Weg, ganz und gar so, als ob die Menschen nur ihrethalben da wären, nicht aber sie um der Menschen willen.« (Lba, 292)
6.
Ausblick
Fassen wir bis hierher zusammen, bevor wir abschließend einen Blick auf die eingangs gestellte Frage nach der Ökonomisierung der Bildung werfen. Simmel, damit hatten wir begonnen, lehnt methodisch eine einseitige Rückführung aller kulturellen Gehalte auf die ihnen zugrundeliegenden wirtschaftlichen Verhältnisse ab und betont stattdessen deren Wechselwirkung. Indem er den Bereich der Wirtschaft 123 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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und des Geldes vor allem von sozialen Tauschbeziehungen her denkt, ordnet er ihn in die Gesamtentwicklung der Kultur ein, bei der objektive Gehalte entstehen, die in die Bildungsprozesse von Individuen eingehen. Dabei streben diese objektiven Gehalte zu einer Eigengesetzlichkeit und Autonomie übergreifender Formen, die gemäß einem ihnen eigenen Ordnungsprinzip verschiedenste Inhalte zu einer einheitlichen »Welt« formen können. Diesem Kulturprozess wohnt eine tragische Dialektik inne: Auf der einen Seite gehört die Ausbildung eigengesetzlicher Formen notwendig zur Kultur, und auch nur über die Einbeziehung solcher geistigen Objektivationen (der objektiven Kultur) können individuelle Bildungsprozesse (subjektive Kultur) überhaupt zustandekommen. Auf der anderen Seite aber führt die Eigendynamik und Autonomie der kulturellen Formen auch zu einer Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt und gefährdet den Bildungsprozess. Das Geld hat hier eine zwiespältige Rolle: Einerseits treibt es Subjekt und Objekt auseinander und befördert so die individuelle Freiheit, die für Bildung notwendig ist, andererseits verstärkt es auch die Entfremdung. Weil die Wirtschaft so eng mit den Lebenszwecken des Individuums verbunden ist, löst sie sich nicht so leicht von diesen wie die anderen kulturellen Formen. Hat sie es aber einmal getan, tritt sie dem Individuum besonders feindlich entgegen. Was lässt sich nun vor diesem Hintergrund zu der eingangs angeführten Diagnose einer Ökonomisierung anderer Lebensbereiche und speziell der Bildung sagen? Es sollte deutlich geworden sein, dass einige Denkmuster, die Simmel mit den Auswirkungen der Geldwirtschaft in Verbindung bringt, in dieser Perspektive vertraut klingen – die Höherbewertung von Quantität gegenüber Qualität, das »Ideal der zahlenmäßigen Berechenbarkeit«, das Übergewicht der Mittel über den Zweck und das Streben nach Vergleichbarkeit ließen sich mühelos auf aktuelle bildungspolitische Entwicklungen beziehen. 23 Doch obwohl Simmel diese Ansätze zu einer Kritik des ökonomischen Denkens liefert, scheint sein Fokus an anderer Stelle zu liegen, schließlich zeichnet er in der Philosophie des Geldes die geistigen Auswirkungen der Geldwirtschaft nicht nur negativ. Schon der Tausch und noch viel mehr das Geld ist ein Rationalisierungsmedium; Wobei bei der Diagnose einer »Ökonomisierung« von Bildung genauer zwischen Entwicklungen wie Kapitalisierung, Kommodifizierung, Kommerzialisierung und Privatisierung unterscheiden werden muss, vgl. Höhne, Ökonomisierung der Bildung, a. a. O.
23
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Geld, Wirtschaft und Kultur bei Georg Simmel
die Reduktion persönlicher Beziehungen auf sachliche fördert eine bestimmte Vorstellung von Gleichheit und Neutralität ebenso wie das Geld einen Zuwachs an individueller Freiheit ermöglicht. Entscheidender als die Bewertung dieser Prozesse, die Simmel ja nie ganz eindeutig vorgibt, ist, dass hier überhaupt der Versuch unternommen wird, Formen des wirtschaftlichen Verkehrs in einem kulturphilosophischen Rahmen so darzustellen, dass sie in ihrem Zusammenhang zu anderen kulturellen und sozialen Formen sichtbar und verständlich werden. Was man zu diesem Zweck aus der kulturphilosophischen Perspektive auf Geld und Wirtschaft jedoch immer noch lernen kann, ist, dass Geld dem Rest der Kultur nicht einfach gegenübersteht, sondern teilhat an den Prozessen kollektiver Sinnbildung, wenn auch in der ihm eigenen reduktiven Form. Derart in einen breiteren Kontext eingeordnet, kann man es dann nicht mehr nur als ein bloßes ökonomisches Werkzeug betrachten, das in andere Gebiete eindringt, in denen es nichts zu suchen hat, und aus denen man es ohne Weiteres wieder vertreiben könnte. Es gilt vielmehr, das Geld als ein Kulturphänomen ernst zu nehmen und nach seinem geistigen Gehalt zu fragen. Dabei ist die Frage nach dem Verhältnis des Geldes und der Wirtschaft zu anderen kulturellen Formen sicher eine der interessantesten. So sehr es einleuchtet, das Geld nicht als »materielle« Basis den »geistigen« Erzeugnissen der Kultur gegenüberzustellen, was ohnehin ein falscher Dualismus wäre, so lassen sich dennoch Zweifel an der Einordnung der Wirtschaft in eine Reihe nebengeordneter kultureller Formen formulieren – und dies nicht deshalb, weil ihre Eigengesetzlichkeit nicht genug ausgebildet wäre, sondern weil gerade dem Geld möglicherweise doch eine Sonderstellung zukommt. So scheinen Simmels Beschreibungen der Moderne selbst oft nahezulegen, dass das Geld eine noch grundlegendere Funktion übernimmt als andere Formen. In seiner »Charakterlosigkeit« erscheint es per se als unbegrenzt anpassungsfähig und seine Logik ist prinzipiell auf alles anwendbar, weil sie nach den Qualitäten der Dinge gar nicht fragt. Nach Simmel kann man es darin auch mit der Sprache vergleichen (vgl. PhG, 653 f.), der man ja ebenfalls einen Sonderstatus einräumen könnte. In diese Richtung, Geld als Denkform zu verstehen, geht z. B. Karl-Heinz Brodbeck, wenn er Geld mit dem rechnenden Denken als ratio zusammenbringt und dem logos gegenüberstellt. 24 24
Vgl. Karl-Heinz Brodbeck, Geld als Denkform. Sprache, Mathematik und die Ein-
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Annika Schlitte
Eine besondere Rolle hat die Wirtschaft schließlich auch deshalb, weil sie für jede Gesellschaft unverzichtbar ist. Solange die Verteilung von Grundnahrungsmitteln und auch der Zugang zu anderen kulturellen Aktivitäten über Geld abgewickelt wird, hat man kaum eine Chance, den Kontakt mit Geld zu umgehen, während man den Kontakt mit anderen kulturellen Formen wie Religion oder Kunst zumindest in unserer Gesellschaft eher vermeiden kann. Bevor man vorschnell in die Ökonomisierungskritik einstimmt, sollte man sich jedenfalls auch und gerade als Geistes- bzw. Kulturwissenschaftler mit der Logik des Geldes und der Logik der Wirtschaft vertraut machen. Dass man dabei über Simmel hinausgehen muss, ergibt sich schon aus den gravierenden Veränderungen, welche die Geldwirtschaft in den letzten hundert Jahren durchlaufen hat. Darauf aufbauend könnte dann auch das Thema Ökonomie und Bildung in eine andere Richtung gewendet werden, nämlich, indem nach der Möglichkeit einer ökonomischen Bildung gefragt wird, bei der es nicht darum geht, Schülern und Studierenden die von der Wirtschaft am meisten nachgefragten Kompetenzen zu vermitteln, sondern ein Verständnis von den Zusammenhängen der Wirtschaft zu entwickeln, das sich in der Kenntnis mathematischer Modelle ebenso wenig erschöpft wie in einer pauschalen Klage über die Ökonomisierung der Lebenswelt. Doch ob wir den Bereich der Wirtschaft für Bildungsprozesse fruchtbar machen oder uns von der Logik der Objekte beherrschen lassen, das hängt laut Simmel letztlich »nicht mehr vom Gelde, sondern eben vom Menschen ab« (PhG, 653).
heit der monetären Vergesellschaftung. In: ders. / Silja Graupe (Hrsg.), Geld! Welches Geld? Geld als Denkform, Marburg 2016, S. 19–70.
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IV. Aspekte neuerer Debatten in der Kulturtheorie
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René Torkler
Kultur und Politik im öffentlichen Urteil
Gemeinsame Gegner zu haben ist in der Regel eine weit übersichtlichere Angelegenheit als ungeklärte Verhältnisse zu Verwandten oder gar zu Nahestehenden. In ähnlicher Weise ist auch in theoretischer Perspektive manchmal der Blick auf eine geteilte Opposition zweier verwandter Begriffe zu einem dritten einfacher zu handhaben als das Verhältnis dieser beiden verwandten Begriffe zueinander: Es lässt sich recht leicht sagen, dass sowohl Kultur als auch Politik Bezeichnungen für vom Menschen gemachte Verhältnisse und damit beides Gegenbegriffe zur Natur darstellen. Auch die Klage über einen überbordenden Naturalismus – zumal wenn ein kaum zu ignorierender Zeitgeist dessen Aufdringlichkeit beständig ins Bewusstsein rückt – stellt daher eine Argumentationsrichtung dar, auf die man sich in Kulturphilosophie und Politischer Theorie vermutlich schnell wird einigen können. Weit schwieriger ist es jedoch, das Verhältnis von Kultur und Politik zueinander zu bestimmen, das geprägt ist von unklaren Grenzziehungen, Übergangsbereichen, Konfliktlinien und Konkurrenzen.
1.
Ungeordnete Verhältnisse
Ein Problem ergibt sich bereits aus der Frage, von welcher Seite aus der jeweils andere Begriff thematisiert werden soll: Schaut man aus der Perspektive der Politik auf die Kultur, so ist die Gefahr groß, Kultur auf einen Aspekt politischer Systeme, einer politischen Theorie oder gar als »Kulturpolitik« auf einen Teil einer politischen Programmatik zu reduzieren und so das Kulturelle in politischer Perspektive zu funktionalisieren. Auch wenn man das Kompositum umkehrt und daneben eine »politische Kultur« mit in den Blick nimmt, wird diese
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René Torkler
Gefahr keineswegs gebannt, da auch dieser Begriff die Hegemonie des Politischen letztlich fortsetzt. 1 Will man in umgekehrter Perspektive das Politische als einen Teil menschlicher Kulturleistungen neben anderen begreifen, so besteht die Gefahr, dass der für viele Politikverständnisse so zentrale Aspekt des Normativen ebenso unter die Räder gerät wie die existenzielle Bedeutung des Politischen für das menschliche Dasein. Diesem Zwiespalt entkommen zu wollen ist vermutlich einigermaßen aussichtslos. Es ist darum von vornherein nicht die Absicht dieses Beitrags, eine solche Verhältnisbestimmung zu leisten. Vielmehr soll auf einen Punkt aufmerksam gemacht werden, in dem Kulturelles und Politisches möglicherweise miteinander übereinkommen – und von dem aus sich zumindest leichter verstehen lässt, worin die Schwierigkeit einer solchen Verhältnisbestimmung eigentlich besteht. Nehmen wir zunächst die zweite der beiden genannten Perspektiven ein, so lässt sich Kultur mit Birgit Recki in einem sehr umfassenden Sinne als »die grundlegende, in alle Tätigkeiten der Menschen ausdifferenzierte Funktion der Lebensgestaltung und damit als Inbegriff poietisch-praktischer Selbstauslegung« 2 begreifen. Dies ist sicher eine Bestimmung, die sich kaum noch erweitern lässt, da sie bereits alles umfasst, was menschlichem Verstehen überhaupt zugänglich ist. Interessanterweise scheint es auch für Recki nicht zuletzt diese Weite zu sein, welche schließlich auf eine dem Kulturbegriff »konstitutive Schwierigkeit […] in der Sache« führt, nämlich das Verhältnis zwischen dem »Aspekt der freien Vereinigung zur gemeinsamen Bewältigung des Lebens und damit den vollzugsorientierten kommunikativen Charakter der Schaffung eigener Verhältnisse« einerseits wie andererseits dem »Aspekt der Hervorbringungen, der objektiven Leistungen – der Werke, die aus dieser kollektiven Lebensbewältigung hervorgehen. Gemeint ist m. a. W. die Unterscheidung zwischen praxis und poiesis.« 3 Bilden die beiden Aspekte in Reckis Vgl. Christian Zimmermann, Politik. In: Ralf Konersmann (Hrsg.), Handbuch Kulturphilosophie. Stuttgart, Weimar 2012, S. 234–238. 2 Birgit Recki, Kulturphilosophie. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie in drei Bänden, Hamburg. 2. Auflage 2010, S. 1340–1350, hier S. 1341. 3 Recki, Kulturphilosophie, a. a. O., S. 1348 f. Recki findet das Verhältnis von poiesis und praxis im Verhältnis der Begriffe Kultur und Gesellschaft wieder und verweist an dieser Stelle mit Hannah Arendt auf deren gegenseitige Anhängigkeit, muss aber selbst auch wissen, dass der Gegensatz von Herstellen und Handeln sich bei Arendt 1
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Kultur und Politik im öffentlichen Urteil
anfänglicher Bestimmung noch miteinander einhergehende Momente eines umfassenden Kulturbegriffs, so bleibt zum Ende ihrer Überlegungen letztlich das Problem bestehen, wie sich dieses Verhältnis poietischer und praktischer Momente eigentlich denken lässt und welche Rolle es für den Zusammenhang von Kultur, Politik und Gesellschaft spielt. Wir werden im Folgenden versuchen, einer möglichen Klärung dieser Verhältnisse unter Rekurs auf Hannah Arendts Text Kultur und Politik 4 ein wenig näher zu kommen.
2.
Handeln und Herstellen
Die besagte Differenz im tätigen Leben des Menschen bildet einen wesentlichen Grundzug von Hannah Arendts Vita activa und auch darüber hinaus das kategoriale Fundament vieler relevanter Unterscheidungen in Arendts Werk insgesamt. Anders als Aristoteles differenziert Arendt zwar nicht nur zwischen praxis und poiesis, sondern grenzt mit dem Arbeiten noch eine dritte Tätigkeitsart von Handeln und Herstellen ab; die Unterscheidung der letzteren beiden verweist jedoch trotz partieller Modifikationen sehr eindeutig auf das aristotelische Begriffspaar. 5 Eines der grundlegenden Theoreme ihres Werkes besteht in der Beobachtung, dass zu den sich immer weiter verstärkenden Tendenzen der Neuzeit die Intention gehört, »Handeln durch Herstellen zu ersetzen« 6. Dabei werden Prozesse, die ihrem Wesen nach praktisch sind, zunehmend poietisch überformt. Arendt kritisierte diese Enteigentlich in der Gegenüberstellung von Kultur und Politik zum Ausdruck kommt, wobei das Politische keineswegs mit Gesellschaft gleichbedeutend verstanden wird. Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen, vgl. Fußnote 9. 4 Hannah Arendt, Kultur und Politik. In: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hrsgg. v. Ursula Ludz, München 2000, S. 277–302, im Folgenden zitiert als KuP. 5 Dass das Handeln innerhalb der Arendt’schen Trias der Tätigkeiten als das eigentliche, dem Menschen spezifische Tätigsein eine herausgehobene Rolle spielt, lässt sich schon daran erkennen, dass es zwar spezifischer Bezeichnungen bedarf, um Menschen als arbeitende oder herstellende Wesen zu bezeichnen – dem »animal laborans« und dem »homo faber« aber kein weiterer Begriff entspricht, um Menschen als handelnde Wesen genauer zu spezifizieren. Für Hannah Arendt ist es das Handeln selbst, das Menschen als solche spezifiziert. 6 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2003, im Folgenden zitiert als VA, hier S. 278, vgl. S. 375 ff.
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wicklung vor dem Hintergrund eines Politikbegriffs, für den sie ein griechisches, an der öffentlichen Auseinandersetzung auf der agora orientiertes Verständnis politischen Handelns unter Freien und Gleichen zugrunde legte. Gegenüber dieser in Pluralität und Freiheit erfahrbaren, sprachlich-dialogischen Praxis ist das Herstellen wesentlich durch Zweck-Mittel-Kategorien bestimmt: »Sofern der Mensch Homo faber ist, kennt er nichts als seine vorgefaßten Zwecke, zu deren Realisierung er alle Dinge zu Mitteln degradiert« (VA 186). Eine Verabsolutierung dieser Denkweise führt Arendt zufolge notwendigerweise in die Aporien utilitaristischen Denkens hinein, worin sie eine der zentralen Gefahren der benannten Entwicklung sah: »Wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, [wird] Sinnlosigkeit erzeugt« (VA 183). Anders als das Handeln geht das Herstellen damit nicht mit einer Haltung der Offenheit für Andere einher, die sich in sprachlicher Interaktion artikuliert. Vielmehr ist das Herstellen stets von einer Binnenstruktur bestimmt, die ein Moment der Gewalttätigkeit impliziert: »In allen herstellenden Vorgängen steckt ein Moment von Gewalt.« 7 Dies ist in normativer Hinsicht vor allem deshalb problematisch, weil alles Tätigsein einem der Tätigkeit externen Zweck untergeordnet wird. »Hier stimmt wirklich, daß der Zweck die Mittel rechtfertigt; er […] rechtfertigt die Gewalt, die der Natur angetan wird, wenn man Material aus ihr gewinnen will« (VA 181 f.). Da Handeln sich demgegenüber immer in einem Kontext menschlicher Pluralität bewegt, kann sein Sinn nicht im Erreichen eines vorgefassten Zweckes aufgehen. Arendt geht so weit zu behaupten, »daß das Handeln von sich aus Zwecke überhaupt nicht kennt«, da es stets »in ein Netz von Bezügen [fällt], in welchem das von den einzelnen Intendierte sich sofort verwandelt und als eindeutig feststehendes Ziel, als Programm etwa, gerade sich nicht durchsetzen kann.« Im Gegensatz zum Herstellen gilt mit Blick auf politisches Handeln daher, dass »die Mittel immer wichtiger als die Zwecke« (KuP 294) sind. Durch seine strukturimmanente Gewalttätigkeit ist das Herstellen als politische Tätigkeit also von vornherein disqualifiziert und die Rolle der »politische[n] Tätigkeit par exellence« (VA 18) kommt für Arendt allein dem Handeln zu. All dies müsste uns im Kontext unserer Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Kultur weit weni7
Manfred Reist, Die Praxis der Freiheit, Würzburg 1990, S. 106.
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ger bekümmern, wenn Arendt nicht auch den Kulturbegriff sehr grundsätzlich auf poietisches Tätigsein reduzieren würde.
3.
Die hergestellte Kultur und ihr Konflikt mit dem Politischen
Für Arendt fällt die Unterscheidung von Politik und Kultur nämlich im Wesentlichen mit derjenigen von Handeln und Herstellen zusammen – inklusive des damit verbundenen Bedeutungsgefälles und des pejorativen Gebrauchs des poiesis-Begriffs, der sich in der Folge auch auf den Begriff der Kultur überträgt. Der politisch Tätige handelt entweder im vollen Sinne des Wortes, indem er sich auf eine freie, kommunikative Interaktion mit gleichberechtigten Anderen einlässt – oder er wird dem Charakter des Politischen in seiner Tätigkeit nicht gerecht. Demgegenüber sind die »Kulturschaffenden« für Arendt von vornherein diejenigen, »welche die Dinge herstellen, deren Gesamtheit eine Kultur ausmacht.« (KuP 277) Arendt versteht Kulturelles also stets als das Produkt eines Herstellungsprozesses. Während sie die Menschen in der politischen Sphäre als handelnde Wesen begreift, umfasst ihr Begriff des Kulturellen ausschließlich homo faber und seine Produkte, welche in der Welt als dauerhafte Einrichtungsgegenstände von Bedeutung sind. »Nur wo dies Überdauern geleistet ist, sprechen wir von Kultur« (KuP 289). Wegen ebendieser Dauerhaftigkeit gelten Arendt Kunstwerke als »Kulturdinge im ausgezeichneten Sinne« (KuP 296). Sie bewahren diese Dauerhaftigkeit, obwohl sie nur »Gedankendinge« sind und es gelingt ihnen dennoch, »das Ungreifbare – Ereignisse und Taten und Worte und Geschichten – gewissermaßen dingfest zu machen, es zu verdinglichen.« (KuP 290) Die durch Handeln gestifteten menschlichen Beziehungen zeichnen sich den Produkten des Herstellens gegenüber durch ein hohes Maß an Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit aus. (Vgl. VA 234 ff.) Dieser Umstand gehört unvermeidlich zum Handeln selbst; so ist es unmöglich, den »menschlichen Angelegenheiten« ein höheres Maß an Festigkeit zu verleihen. Wo ihrer Instabilität durch einen Prozess der Verdinglichung begegnet werden soll, indem beispielsweise Worte und Gedanken verschriftlicht werden, wird unweigerlich nicht nur die Instabilität des gesprochenen Wortes überwunden, sondern ebenso die Grenze zwischen Handeln und Herstellen. Auch den »Dichter 133 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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[n] und Künstler[n], […] welche das lebendige Wort und die lebendige Tat verdinglichen, in Dinge verwandeln, um ihnen die […] notwendige Dauerhaftigkeit zu verleihen« (KuP 284), gelingt diese Stabilisierung nicht, ohne die besagte Grenze zu überschreiten und einen Herstellungsprozess zu beginnen. Das Verhältnis zwischen Kulturellem und Politischem erweist sich in Arendts Denken als genauso disjunkt und übergangslos wie dasjenige von Herstellen und Handeln, weil beide Abgrenzungen miteinander zusammenfallen. Diese von Arendt also sehr deutlich gezogene Grenze erweist sich bald als Konfliktlinie zwischen Kultur und Politik, wobei der Konflikt selbst in der Inkommensurabilität der Tätigkeiten begründet ist, die den beiden Sphären zu Grunde liegen sowie den Denkweisen, die ihnen entsprechen und sich jeweils aus ihrer Verabsolutierung ergeben können. Der Konflikt ist insofern nicht ganz symmetrisch, als das zu dem Konflikt führende »Mißtrauen […] ursprünglich aus dem Politischen [erwächst]« (KuP 282). Dieses bezieht sich »nicht so sehr auf Kulturdinge selbst als auf die Gesinnung, die dem Herstellen eigen und für diejenigen, die nur herstellen, charakteristisch ist.« (KuP 291) Wir können darin eine Spannung erkennen, welche dem erwähnten, Arendts Werk grundierenden Theorem einer voranschreitenden poietischen Überformung des Politischen strukturgleich ist. Dieser Konflikt nimmt in ihrem Denken eine unüberbrückbare Gestalt an und er bleibt auch da letztlich unvermittelt, wo Begriffskonstrukte wie »Kulturpolitik« Gegenteiliges suggerieren wollen: Stets »sind wir uns einer Spannung uns eines möglichen Konflikts zwischen Politik und Kultur bewußt, die der Ästhet, ahnungslos um die Erfordernisse des Politischen zugunsten der Kultur und der Politiker, ahnungslos um die Erfordernisse des Kulturschaffens, zugunsten der Politik […] beizulegen wünschen.« (KuP 282)
4.
Die Vergesellschaftung von Kultur und Bildung
Aus alledem könnte der Eindruck entstehen, es sei wesentlich Arendts Skepsis gegenüber der poiesis, aus der heraus sie das Kulturelle über die Maßen abwerten wollte. Gegen eine solche Interpretation spricht aber nicht nur die im Folgenden noch zu thematisierende Bedeutung des Herstellens (oder besser: des Hergestellten) für das Handeln und damit des Kulturellen für das Politische, sondern auch die Art und Weise, mit der Arendt in einer zunächst paradox an134 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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mutenden Formulierung gegen eine »Vergesellschaftung der Kultur und ihre Entwertung in gesellschaftlichen Werten« (KuP 277) argumentierte. Wir können darin ein weiteres Grundtheorem von Arendts Diagnose der Moderne entdecken, das uns hier jedoch nur am Rande beschäftigen kann: ihre Kritik an dem in politischer Perspektive problematischen Bedeutungszuwachs der Gesellschaft, die Arendt in unverhohlener Skepsis als »jenes sonderbare, irgendwie zwitterhafte Reich zwischen dem Politischen und dem Privaten« 8 bezeichnete. Die Vorstellung einer solchen Sphäre erwies sich als wenig kompatibel mit zentralen Grundkategorien von Arendts Denken und musste etwa zum Verwischen der strengen Disjunktion einer öffentlichen Sphäre politischen Handelns (polis) auf der einen und einem privaten Bereich der Erhaltung des eigenen Lebens (oikos) auf der anderen Seite führen. 9 Das Phänomen eines von der politischen Sphäre zu unterscheidenden gesellschaftlichen Bereichs von eigener Gesetzlichkeit erregte Arendts Misstrauen nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Grundsignatur alles Sozialen, durch die es schlussendlich auch zu einer Gefährdung für Kultur und Bildung wurde – die Arendts Auffassung nach beide gewissermaßen der Gesellschaft zum Opfer fielen. In der gesellschaftlichen Tendenz zur Ökonomisierung von Gütern aller Art sah sie nicht nur eine Bedrohung des Politischen, sondern auch des Kulturellen. Die Form von »Kultursnobismus«, dem sie auf Grundlage ihrer Gesellschaftskritik den Kampf ansagte, konkretisierte sich auf besonders plastische Art und Weise im Begriff des »Bildungsphilisters«: »Für den Bildungsphilister war Kultur eine gesellschaftliche Angelegenheit geworden, eine Sache des sozialen Prestiges und jenes Strebens nach dem Höheren, das dieses höhere in der Gesellschaft in Umlauf brachte, es gesellschaftlich verwertete und damit seinem eigenen Sinn nach entwertete.« (KuP 277) Es sind also nicht eigentlich Kultur und Bildung selbst, welche Hannah Arendt, Little Rock. ›Ketzerische Ansichten über die Negerfrage und equality‹. In: Dies., Zur Zeit. Politische Essays, hrsgg. von Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 95–117, S. 104. 9 Zu Arendts Skepsis gegenüber dem Sozialen vgl. Jörn Ahrens, In schlechter Gesellschaft. Über ein Unbehagen bei Arendt und Adorno. In: Dirk Auer / Lars Rensmann / Julia Schulze Wessel, Arendt und Adorno, Frankfurt a. M. 2003, S. 234–259. Die problematischen Implikationen von Arendts Kritik des Gesellschaftlichen thematisiert treffend Seyla Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Frankfurt a. M. 2006, S. 220 ff. 8
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das von Arendt konstatierte »Unbehagen« erzeugen, wo immer von beiden die Rede ist. Es ist vielmehr der von ihr beklagte Umstand, dass ihre Thematisierung in der Regel im Kontext von Ökonomisierungen erfolgt, in denen der ursprüngliche Sinn beider Begriffe kaum mehr kenntlich ist. Dass sich Arendt mit Blick auf Kultur wie Bildung gegen derartige Ökonomisierungen wandte, macht sie gerade in Kultur und Politik immer wieder deutlich: »Im Ausverkauf der Werte sind in der Tat gerade die Bildungswerte ausverkauft worden.« (KuP 277) Arendts Fürsorge trifft die Phänomene Kultur und Bildung gleichermaßen, und dass sie beide Begriffe außerhalb ihres Textes Kultur und Politik kaum verwendet, liegt nicht an ihrer Geringschätzung für Kultur und Bildung, sondern gehört vielmehr zu den Ergebnissen ihrer Kritik der Gesellschaft. Sie wirft der Gesellschaft die Tendenz zu einer Art ökonomistischem Kolonialismus vor, bei dem die eigenen Maßstäbe auf das Politische übertragen werden sollen – wobei dieses jedoch letztlich zerstört wird. Derartige Formen unangemessener Übertragung von Maßstäben der einen Sphäre auf eine andere stellen Arendt zufolge die Kategorien der politischen Theorie auf den Kopf, die sich in der feinen Abgrenzung verschiedener Sphären und der ihnen adäquaten Denkund Tätigkeitsweisen und entsprechenden Binnenstrukturen auch in einer kulturtheoretischen Perspektive als ungemein fruchtbar erweist. Denn wie der Bildungsphilister die Bildung durch seine Orientierung an Strukturen der Gesellschaft gewissermaßen ökonomistisch kolonialisiert, so befindet sich der Ästhet nicht weniger auf dem Irrweg, wenn er das Politische aus der Perspektive des Kulturellen poietisch überformt: »Der Ästhet erinnert uns an den Bildungsphilister« (KuP 282), denn beiden sind gewissermaßen die Maßstäbe verrutscht. Arendt stellt sich daher gegen beide und wehrt sich gleichermaßen gegen Tendenzen der Sozialisierung wie der Poietisierung, indem sie beiden gegenüber das Politische als eigenständige Sphäre praktischer Selbstauslegung des Menschen behauptet, die sie ebenso gegen von der Gesellschaft her sich aufdrängende Ökonomismen verteidigt wie gegen Kolonialisierungsversuche der poietischen Struktur alles Kulturellen. Sie verstand ihr Denken als politische Theorie 10, weil es Vgl. Hannah Arendt, Fernsehgespräch mit Günter Gaus. In: Dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996, S. 46–72, hier S. 46.
10
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ihr im Kern darum ging, die Befassung mit dem Politischen frei zu halten von Maßstäben, die nicht selbst dem Zusammenhang eines auf Freiheit und Pluralität gründenden politischen Handlungszusammenhang entstammen und an das Politische darum gewissermaßen erst von außen herangetragen werden müssten. Besonders klar formulierte sie diese Intention mit Blick auf den Konflikt von Kultur und Politik: »Das Mißtrauen richtet sich gegen eine ins Politische greifende Verallgemeinerung ihrer Maßstäbe und Denkungsart.« (KuP 291)
5.
Kultur und Politik …
Wie sich zeigt, liegt die eigentliche Ursache des von Arendt konstatierten Konflikts zwischen Kultur und Politik wie seiner Schlichtung letztlich in einer Gemeinsamkeit beider Phänomene begründet, deren Untersuchung daher für politische Theorie wie Kulturphilosophie in gleichem Maße von Interesse sein dürfte – und uns damit bei unserem Grundanliegen einen Schritt weiterbringt. Diese Gemeinsamkeit besteht für Arendt in der Bindung von Kulturellem wie Politischem an die Öffentlichkeit: »Zu einem Konflikt zwischen dem Politischen und dem Kulturellen kann es darum nur kommen, weil die beiden ihnen entsprechenden Tätigkeiten, das Handeln und das Herstellen, und die beiden ihnen entsprechenden Produkte, die Taten und die Werke der Menschen, innerhalb der öffentlichen Welt ihren Platz haben.« (KuP 286)
Kultur und Politik haben also miteinander gemein, dass sie beide mit einem Erscheinen in der Öffentlichkeit verbunden sind. Herstellen und Handeln erweisen sich als die menschlichen Tätigkeiten, die beide auf ihre Weise konstitutiv sind für das Ent- und Bestehen einer öffentlichen Welt. Kulturelles und politisches Tätigsein unterscheiden sich in dieser Hinsicht grundlegend von der bloßen Orientierung an Regeneration und Lebenserhaltung, die Arendt im Begriff des Arbeitens zusammenfasst, welches sie wegen seiner Verortung in der privaten Sphäre für prinzipiell unpolitisch hält: »[D]ie griechischen οικεται (oiketai), die zum Hause Gehörenden […] unterscheiden sich prinzipiell von den Handwerkern, die wie ihr Name δεμιουργοι (demiourgoi) sagt – keineswegs zu Hause bleiben, sondern beim Volke ihr Werk verrichten gehen, wie sie sich von den Künstlern, den ποιεται (poietai), unterscheiden, deren Werke dazu dienen, die öf-
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fentliche Welt zu bilden und zu schmücken, in der das politische Leben sich abspielt.« (KuP 286)
Künstlern und Handwerkern, die Arendt beide als »Kulturschaffende« im weiteren Sinne versteht, ist also gemein, dass ihre Tätigkeit nicht in der Privatsphäre verbleibt, sondern von vornherein einen Bezug zum öffentlichen Leben aufweist. Diese öffentlich-weltliche Rolle der durch Herstellen in die Welt gekommenen Kulturgegenstände lässt sich Arendt zufolge am besten an den Kunstwerken einsehen. »Die Kunstwerke haben von sich aus eine engere Beziehung zum Politischen als alle anderen Dinge«, da »die Kunstwerke der Öffentlichkeit bedürfen, um zur Geltung zu kommen« (KuP 290). Dabei ist besonders bemerkenswert, dass wir es bei Kultur und Politik sogar mit einem Verhältnis gegenseitiger Angewiesenheit zu tun haben, denn da Kunstwerke »nur im Schutz der Öffentlichkeit […] erscheinen [können], als was sie sind« (KuP 296), ist die Möglichkeit eines kulturellen Lebens von politischen Rahmenbedingungen und Mindeststandards abhängig. Die Erfahrung totaler Herrschaft hatte gezeigt, dass »dem, was man allerorten unter Kultur versteht« sonst recht schnell der »Garaus gemacht« wird (KuP 282). Das Interessante ist nun, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis auch in umgekehrter Blickrichtung zu entdecken ist – und dieser Aspekt ist für Arendts Weltbegriff von noch weitreichenderer Bedeutung. Erst durch das Herstellen entsteht »die eigentlich menschliche Heimat des Menschen« (VA 161), in der Handeln und damit die Entstehung einer politischen Welt innerhalb der durch das Herstellen geschaffenen Dingwelt überhaupt möglich ist. Eine Welt im vollen, eine politisch-praktische Dimension einschließenden Sinne bedarf aufgrund der Flüchtigkeit menschlichen Handelns einer von Dauerhaftigkeit getragenen Welt kultureller Dinge, welche die Stabilität mit sich bringen, die dem Handeln selbst abgeht. Wenn Arendt in Vita activa »Weltlichkeit« als eine von sechs »Bedingungen menschlicher Existenz« (VA 21) herausstellt, so spielt dieser Aspekt der Welt als einer hergestellten durchaus eine entscheidende Rolle, da diese den politischen Handlungszusammenhang, den sie ebenfalls als Welt bezeichnet, überhaupt erst möglich macht. In diesem Sinne versteht Arendt das Herstellen und die durch dieses geschaffenen Kulturprodukte als »präpolitische Bedingungen des Politischen« (KuP 291). Wenngleich die dem Herstellen entsprechenden Denkkategorien das Politische in seiner Offenheit also grundsätzlich 138 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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gefährden, bedarf eine politische Welt einer Welt kultureller Dinge, in der sie sich einrichten und Halt finden kann.
6.
… im öffentlichen Urteil
In ihrer Kritik des Herstellens geht es Arendt darum, die Offenheit politischer Interaktionsprozesse herauszustellen und menschliche Freiheit innerhalb politischer Prozesse, die sie auf der Grundlage ihres Pluralitätsbegriffes denkt, gegen eine Durchsetzung vorgefasster, »alternativloser« Pläne stark zu machen. In diesem Sinne gilt es, jegliche »Überwältigung und Durchdringung des politischen Bereiches durch Kategorien und die Mentalität, die dem Herstellen eigentümlich sind« (KuP 292), so gut als möglich abzuwehren. Diese Abgrenzung von poietischen Tätigkeitsformen ist für ihren normativen Begriff des Politischen also in vielerlei Hinsicht zentral. Weil Arendt jedoch so beschäftigt ist, den Begriff der Kultur in ihre Zeitdiagnose und die damit verbundene, teils aber etwas sehr statische Gegenüberstellung von Kategorien des Handelns und es Herstellens einzuordnen, wird bisweilen nicht recht deutlich, wie sehr ihr Blick auf das Politische auch als strukturbeschreibend für weite Bereiche kulturellen Lebens verstanden werden kann. Denn wenngleich die Entstehung von Kulturgütern immer Prozesse des Herstellens implizieren mag, so sind der Zugang zu und der Umgang mit ihnen doch von einer dem politischen Verstehen durchaus nicht unähnlichen, dialogischen Sinnerschließung bestimmt. Die »Kunst des Überredens und Miteinandersprechens« (KuP 293), die für politische Handlungszusammenhange konstitutiv ist, erweist sich in vielerlei Hinsicht als nicht weniger strukturbeschreibend für Diskurse über kulturelle Gegenstände. Und auch wenn diese zwar hergestellt werden mögen, so fallen sie doch in dem Moment, in dem sie einmal in der Welt sind, nicht weniger in ein »Netz von Bezügen« (KuP 294), in dem über Sinn und Bedeutung innerhalb eines diskursiven Sinnsystems erst gerungen werden muss und in dem es ebenso wenig abgeschlossene Wahrheiten gibt wie in der politischen Sphäre. »Kultur und Politik […] haben gemeinsam, daß sie Phänomene der öffentlichen Welt sind.« (KuP 297) Und wenngleich sich die ihrem Entstehen jeweils zugrunde liegenden Tätigkeiten des Herstellens und des Handelns strukturell auch voneinander unterscheiden und vielfach in einer unauflöslichen Spannung zueinander stehen mögen, 139 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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so werden sie doch als öffentliche Phänomene in ähnlicher Art und Weise beurteilt. Arendts Kultur und Politik ist darum auch einer ihrer ersten Texte, in dem ihre bekannte Reinterpretation der Kantischen reflektierenden Urteilskraft als dem zentralen politischen Vermögen des Menschen überhaupt behandelt wird. Sie stellt hier heraus, dass sowohl Kulturelles als auch Politisches Gegenstände einer ganz ähnlichen Form der Beurteilung sind, wie Kant sie auch im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Geschmacksurteil beschreibt: »Der mit Geschmack Urteilende« kann sein Urteil stets nur »jedem andern ansinnen« 11 – nicht jedoch Anspruch auf Wahrheit erheben. Arendt geht nun davon aus, dass im Kulturellen wie im Politischen in vergleichbarer Weise »um jedes andern Beistimmung« (KU B 63) geworben wird, wie Kant es für das Geschmacksurteil annimmt – weshalb auch in allen diesen Fällen nie ein Beharren auf unbestreitbare Wahrheit angemessen sein kann. Wahrheit ist für Arendt Sache der (Natur-)Wissenschaft und darum ein im Kulturellen wie im Politischen unangemessener Anspruch. 12 Sie geht hier von der hermeneutisch anmutenden Grundannahme aus, dass »Verstehen und Wissen […] nicht dasselbe [sind]«, wobei »das Verstehen dem Urteilen nah verwandt« 13 sein soll. Es geht also im Kulturellen wie im Politischen nicht eigentlich um Wahrheit und Wissen, sondern um Formen des sinnorientierten Verstehens. Kants reflektierende Urteilskraft und die ihr entsprechende Maxime der »erweiterten Denkungsart«, die darin besteht, »an der Stelle jedes anderen [zu] denken« (KU B 157), liefert Arendt dabei das Modell eines menschlichen Vermögens, dass die gewünschte Form des politischen Verstehens gewährleistet. 14 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Ders., Werkausgabe, Bd. X, hrsgg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1968, im Folgenden zitiert als KU, hier S. 155 f. 12 Dass Arendts die modernen Naturwissenschaften für ihren Reduktionismus (»reductio scientiae ad mathematicam«, VA 341) kritisiert und damit in Vita activa durchgängig eine kaum zu überhörende Naturalismuskritik mitschwingt, kann hier nur erwähnt, nicht jedoch weiter ausgeführt werden. 13 Hannah Arendt, Verstehen und Politik. In: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S. 110–128, hier S. 113, 116. 14 Die Bedeutung von Kants dritter Kritik für hermeneutische Prozesse stellt auch Makkreels Studie über die Kritik der Urteilskraft heraus, wobei er sich ganz explizit auf Arendts Kant-Rezeption beruft. Vgl. Rudolf A. Makkreel, Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft. Paderborn, München, Wien, Zürich 1997, S. 192. 11
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Im Zugriff über das Urteilen, das in Arendts Werk als das zentrale menschliche Geistesvermögen begriffen werden kann, liegt also eine Gemeinsamkeit von Kulturellem und Politischem, welche beide Gegenstandsbereiche bei aller Unterschiedlichkeit im Entstehen ihrer Gegenstände dennoch eint. »Als urteilende Tätigkeit bringt der Geschmack Kultur und Politik, die sich ohnehin den Raum des Öffentlichen teilen, zusammen und gleicht die Spannung zwischen ihnen aus, die aus dem inneren Konflikt kommt, in den die Tätigkeiten des Herstellens und Handelns immer wieder gegeneinander geraten.« (KuP 302)
Als öffentlich Erscheinende kommen Kultur und Politik also darin überein, Weltphänomene zu sein – und darum auch beide als solche beurteilt zu werden.
7.
Die Welt als kulturell-politischer Interaktionsraum
Indem das Hergestellte an der Öffentlichkeit diskutiert und besprochen wird, wird es kommunikabel und tritt als öffentlich erscheinender Gegenstand mit in die dialogische Auseinandersetzung der Welt ein. Literarische und philosophische Werke können zwar als Werke immer auf einen Herstellungsprozess zurückblicken, werden im Zusammenhang der Welt jedoch selbst zu lebendigen Bezugspunkten sprachlich-öffentlichen Handelns. Auch philosophische Positionen können in diesem von Meinungspluralität geprägten, weltlichen Zusammenhang keinen Anspruch auf Wahrheit geltend machen; die philosophische Wahrheit ist hier bloß »Meinung unter Meinungen« 15, bloß eine Stimme unter vielen im Konzert konträrer Positionen. Der weltliche Zusammenhang wird von Hannah Arendt aufgrund der ihm eigenen Pluralität als politischer Zusammenhang verstanden. Wie sehr sie damit aber nicht nur den Charakter politischer Auseinandersetzung trifft, sondern auch eine Strukturbeschreibung kulturellen Lebens liefert, in dem praktische und poietische Prozesse zusammenlaufen, wird deutlich, wenn wir Arendts eigenen Umgang mit den ohne Zweifel als Kulturprodukten in ihrem Sinne zu qualifizierenden Werken der Tradition betrachten. Arendts
Hannah Arendt, Philosophie und Politik. In: DZPhil 41/1993, S. 381–400, hier S. 384.
15
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Modell der öffentlichen Welt spiegelt sich – quasi performativ – auch in ihrer eigenen Methode wieder, wobei die Gedanken und Positionen von Literaten wie Philosophen miteinander in ein Verhältnis gebracht werden, das dem Arendt vor Augen stehenden Handlungsraum letztlich strukturgleich ist: »Arendts Werk ist ein Gespräch mit ›Freunden‹, mit Platon und Sokrates, ebenso wie mit Heidegger, Rahel Varnhagen, Shakespeare, Jarrell, Emiliy Dickinson, Lessing, Auden, Broch, Rilke oder Heine. […] Arendt konstelliert auch Menschen, die im realen Leben nie miteinander gesprochen haben, nie miteinander hätten sprechen wollen oder können […]. Es tun sich Räume auf.« 16 Die bei Arendt beschriebene politische Welt schließt eine Auseinandersetzung mit Produkten kultureller Herstellungsprozesse offensichtlich mit ein und öffnet sich damit für Kulturgegenstände aller Art. Der von Arendt konstatierte Konflikt zwischen Kultur und Politik löst sich dabei mindestens da auf, wo nicht der gesellschaftlich bedingte Fehler begangen wird, Kulturgegenstände als Kulturwerte zu ökonomisieren, sondern als eine Stimme in der Welt unter anderen wahrzunehmen und als solche aus der verdinglichten Form des Werkes in die weltliche Auseinandersetzung zurückkehren zu lassen. Der lebendige Raum, der sich in der handelnden Interaktion eröffnet, bindet die Kulturgegenstände überall da ein, wo diese nicht zu Tauschwerten oder zu Vergnügungsartikeln erstarrt sind; er entsteht überall da, wo die den Kulturgegenständen zugrunde liegenden Erfahrungen wieder lebendig werden und die Denkungsart erweitern. Indem »wir durch die Zuhilfenahme der in der Geschichte niedergeschlagenen Erfahrungen mit solchen Dingen wie Kultur und Politik unseren eigenen, immer begrenzten Erfahrungshorizont erweitern« (KuP 282), treiben wir die Erweiterung unserer Denkungsart voran – und »auf dieser erweiterten Denkungsart beruht die Urteilskraft, aus ihr schöpft das Urteilen seine eigentliche Kraft« (KuP 298). Was Arendt hier im Blick hat, ist der Kantische Gedanke »daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt« (KU B 157) – und zu diesen Anderen gehören die handelnden Mitmenschen ebenso wie die in der Tradition aufgehobenen Perspektiven. Vgl. Marie-Luise Knott, Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Berlin 2011, S. 106, hier S. 108.
16
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Kultur und Politik im öffentlichen Urteil
Es ist diese Form des Urteilens im Abgleich mit den Gedanken anderer im öffentlichen Raum, welche die Opposition von Herstellen und Handeln in eine Wechselwirkung poietischer und praktischer Strukturen innerhalb einer öffentlichen Welt miteinander vermittelt, die von daher auch als kulturell-politische Welt beschrieben werden könnte. Damit ist eine Perspektive markiert, in der sich Arendt eben auch als Kulturtheoretikerin lesen lässt: »Im Kulturellen und im Politischen, also in dem gesamten Bereich des öffentlichen Lebens, geht es weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern […] um das urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt« (KuP 300). Im urteilenden Zugriff entschärft sich der Gegensatz praktischer und poietischer Momente zugunsten ihres gemeinsamen Charakters als weltliche Phänomene. Die öffentliche Welt sprachlichhandelnder Interaktion ist wesentlich auf Verstehen und Urteilen hin angelegt und damit auch – wie Recki es in ihrem weiten Begriff derselben für die Kultur insgesamt annimmt – ein Raum »poietischpraktischer Selbstauslegung« 17. Versteht man diese Welt mit Arendt also als eine Gesamtheit alles öffentlich Erscheinenden und der damit verbundenen Interaktionsprozesse, so lässt sich durchaus dafür argumentieren, dass ihre politische Welt stets mit einer Welt kulturellen Lebens verwoben ist und Hannah Arendt mit ihrem Insistieren auf der Inkommensurabilität von Handeln und Herstellen eine wesentliche Differenz in der Binnenstruktur des Bereiches politisch-kultureller Interaktion insgesamt herausstellt.
8.
Ausblick: Bildung als Kultivierung in einer Welt der Pluralität
In unserer Absicht, das Verhältnis von Kultur und Politik besser verstehen zu wollen, haben wir nun also die Welt als eine öffentliche Sphäre herausgearbeitet, in der Hergestelltes wie Handeln erscheint und die uns einen Raum des Urteilens eröffnet, der sowohl praktische als auch poietische Aspekte menschlichen Tätigseins integriert. Dass dieser Weltbegriff neben seiner sozial- und kulturphilosophischen Relevanz auch Implikationen enthält, die mit Blick auf die Reflexion von Bildungsprozessen von Bedeutung sind, soll am Ende 17
Recki, Kulturphilosophie, a. a. O., S. 1341.
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René Torkler
unserer Untersuchung zu Berührungspunkten von Kultur und Politik nun noch eher angedeutet als ausgeführt werden. 18 Der am Modell des Geschmacksurteils gewonnene Begriff reflektierender Urteilskraft beschreibt ein Vermögen, das zu einer Form von Humanisierungsprozess beiträgt, wie sie mit Bildungsprozessen stets einhergehen muss. Diese Lesart ihres Textes legt Arendt auch selbst nahe, wo sie gegen Ende von Kultur und Politik konstatiert, dass »der Geschmack die politische Tätigkeit ist, durch die Kultur wahrhaft humanisiert wird.« (KuP 302) Mit Geschmack ist hier offenkundig eben die Form der Urteilskraft gemeint, die Kant in seiner dritten Kritik »entdeckt« und deren Ausbildung und Kultivierung als das zentrale Anliegen von Bildungsprozessen überhaupt angesehen werden kann – wohingegen »das Verkümmern der Urteilskraft […] die Vorbedingung für die Vergesellschaftung und Entwertung der Kultur« (ebd.) darstellt. Mit der Vorstellung einer Denkungsart, die sich in einem von Pluralität geprägten öffentlichen Raum fortschreitend erweitert, legt Arendt es auf eine Fähigkeit an, die Perspektiven anderer im eigenen Urteil zu berücksichtigen. Wenngleich Arendt auf dieser Grundlage auch selbst keine Bildungstheorie formuliert, so kann Nussbaums Konzept »Cultivating Humanity« doch als eine Weiterentwicklung der hier verhandelten Grundgedanken Arendts für den Bereich der Bildung gelesen werden. 19 Es geht Nussbaum darin wesentlich um einen Prozess der Kultivierung, bei dem Weltwissen mit Fähigkeiten sokratisch-kritischer Kommunikationsfähigkeit und Aspekten literarisch-kultureller Bildung verbunden werden soll in der Absicht, die Pluralität der anderen im eigenen Urteil berücksichtigen zu lernen. 20 Dieser Gedanke wird ausführlicher entwickelt in: René Torkler, Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung, Freiburg 2015. 19 Diese Parallele zwischen Arendt und Nussbaum wird besonders herausgestellt bei Mora von Wright, Narrative imagination and taking the perspectives of others. In: Studies in Philosophy and Education 21/2002, S. 407–416. Man muss diesen Befund gleichwohl insofern einschränken, als es Nussbaum in weit höherem Maße um emotionale Fähigkeiten geht als Arendt, was in von Wrights Darstellung nicht recht herauskommt. 20 »We all learn most from a curriculum that contains dissent an difference, an interaction of opposing views. Even in the process of coming to grips with one work in a single class we should seek out a plurality of contrasting judgements.« Martha C. Nussbaum, Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education, Cambridge 1997, S. 107. 18
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Kultur und Politik im öffentlichen Urteil
Von Arendt wie Nussbaum können wir lernen, wie in der Auseinandersetzung mit anderen – sei dieser Andere konkret ein handelndes Gegenüber, sei er ein Autor vergangener Zeiten, dessen Denken im Bildungsprozess wieder gegenwärtig wird – auch für den borniertesten Menschen immer die Möglichkeit liegt, seine Perspektiven auf die Welt und damit seine Denkungsart zu erweitern: »We produce all too many citizens who are like Scrooge before he walked out to see what the world around him contained. But we have the opportunity to do better, and now we are beginning to seize that opportunity. That is not ›political correctness‹ ; that is the cultivation of humanity.« 21
21
Ebd., S. 14.
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Ralf Glitza
Kulturelle Bildung im Zeichen der Heterogenität und mit dem Ziel der Verständigung
Kultur kennzeichnet die Welt des Menschen; sie ist Inbegriff der Menschwerdung. So sehr »Kultur« als »Kollektivsingular« zur Bezeichnung des gesamten, vom Menschen selbsterzeugten, zivilisatorisch prägenden Hintergrundes unseres Handelns verwendet wird, 1 so charakteristisch ist es gleichermaßen, dass die Kultur mit dem Ansatz ihrer Entstehung in einem Differenzmodus auftritt. Dieser wichtige, insbesondere die menschliche Gegenwart prägende Umstand kultureller Differenz soll im Folgenden zum Ausgangspunkt genommen werden (1), um auf angesichts dieser Tatsache nötige Vermittlungsleistungen hinzuweisen (2). Ich entwickele hieraus eine kulturphilosophisch-(philosophie)didaktische Zielvorstellung kultureller Bildung in der Mitte menschlicher Gesellschaft (3).
1.
Kulturen – Kultur im Differenzmodus
Es ist offenbar, dass sehr viel vom kulturellen Selbstverständnis und der Identitätsbildung des Menschen aus einem Modus der Unterscheidung rührt: anders zu sein als das andere Volk, anders sogar schon als das nächste Dorf. Die Entwicklung verschiedener Kulturen ist ein Grundelement der Menschengeschichte. Angesichts von Begegnungen der Kulturen und von unifizierenden Tendenzen, die es in der Moderne aufgrund wirtschaftlicher und kommunikativer Dynamiken zugleich auch gibt, tragen ganze Wissenschaftszweige wie die Ethnologie dem Umstand der Multikulturalität Rechnung. Auch durch die Philologien, wie etwa die Sinologie 2 oder die »Interkultu-
Vgl. Gudrun Kühne-Bertram / Hans-Ulrich Lessing / Volker Steenblock, Mensch und Kultur, Hannover 3. Aufl. 2015. 2 Vgl. Heiner Roetz, Kultur und Moderne am Beispiel Chinas. Gespräch mit Volker 1
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Kulturelle Bildung im Zeichen der Heterogenität
relle Germanistik«, 3 zieht sich eine kontroverse Debatte um Art und Konsequenzen einer einzelkulturellen Jeweiligkeit. Von den Anfängen der Geschichte bis in unser Zeitalter der Globalisierung sind die Begegnungen der Kulturen ebenso fruchtbar, weil von Austausch, Inspiration und Handel geprägt, wie zugleich unerhört konfliktträchtig. Dies hat bekanntlich zu Samuel P. Huntingtons schwieriger These von einem Clash of Civilizations geführt, es kann migrationsbedingt auch zu einem innergesellschaftlichen Thema werden. 4 Wenn man länger in China gelebt hat 5 und nach Deutschland zurückkommt, wird augenfällig, wie die Globalisierung die Frage nach jeweiliger Kulturalität im Kontext anderer Kulturalitäten neu und dringlich stellt, sei es hinsichtlich des Verständnisses der Menschenwürde, im Blick auf die Legitimation ethischer Konzeptionen oder im Hinblick auf das Verhältnis des Individuums zum Kollektiv. Die Betrachtung jeweiliger Kulturalität erfordert, dies erscheint mir nun die unerlässliche Prämisse jeder weiteren Untersuchung, eine heterotopisch-differenzmodale Komparation 6 kulturell prägenSteenblock. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE) 2/2017, S. 59–62. 3 Vgl. Alois Wierlacher, Interkulturelle Germanistik. Herausbildung eines Konzepts – Konturen eines Faches. In: Ders. (Hrsg.), Kulturthema Kommunikation. Konzepte – Inhalte – Funktionen, Möhnesee 2000, S. 61 ff. 4 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, München / Wien 1997. 5 Als DAAD-Lektor lehrte und forschte ich sechs Jahre in der Volksrepublik China im Bereich der Auslandsgermanistik und der Hochschuldidaktik, davon drei Jahre (2002 bis 2005) an der Guangdong University of Foreign Studies (GDUFS) in Guangzhou und drei weitere Jahre (2009 bis 2012) an der »Deutschen Fakultät« der Tongji-Universität in Shanghai. Im Zeitraum von 2012 bis 2014 war ich mehrfach Gastdozent an der Hefei University im Rahmen des Studiengangs »Internationales Logistikmanagement China« (LOGinCHINA) der Hochschule Osnabrück. 6 Der von Foucault aufgegriffene Begriff der »Heterotopie« bezeichnet Räume in ihrer jeweiligen Ordnungssystematik, die in offenkundiger, dynamischer Weise gesellschaftliche Verhältnisse affirmieren, negieren oder umkehren. Er kennzeichnet »wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, […] in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.« (Michel Foucault, Andere Räume (1967). In: Karlheinz Barck (Hrsg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5., durchges. Auflage, Leipzig 1993, S. 39). Für den Sinologen François Jullien bedeutet dies, insbesondere mit Blick auf China, »von außerhalb« zu denken, sich »von dem Geburtsland der Philosophie – Griechenland – zu entfernen und einen Umweg über China zu machen: ein strategischer Umweg mit dem Ziel, die verborgenen Vorentscheidungen der europäischen Vernunft neu zu befragen und bis zu
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Ralf Glitza
der Wertsysteme: So darf und soll erstens nicht davon ausgegangen werden, dass etwas in China Vorgefundenes, beispielsweise die konfuzianistisch-konzeptuelle Begründung sittlicher Normen und Werte, gegenüber abendländischen Sittlichkeitsdiskursen als sekundär einzuschätzen wäre. Zweitens soll und muss der Betrachter zunächst dem jeweiligen konzeptuellen Rahmen indifferent gegenüberstehen, um drittens den Modus der Indifferenz mit dem Ziel eines transkulturellen 7, interkulturell-affirmierenden oder kulturell-amplifizierenden 8 Bewusstseins rational zu verlassen, so dass eine Perspektive auf kulturelle Bildung in der Mitte menschlicher Gesellschaft und deren Vermittlung möglich wird. Chinesischer Konfuzianismus als Heterotopie, als ein Kulturphänomen, das anders ist und sich doch unter den Bedingungen einer real-diversen begrifflich-logischen Ordnungssystematik als similär aufdrängt, als ein kultureller Rahmen, welcher eine eurozentrische Betrachtungsweise dazu zwingt, habituelle und tradierte Denkmuster aus einem ungewohnten Kontext zu rezipieren, dient mir als eine wichtige Folie methodischer Exteriorität. Mir geht es dabei um eine, wie es Michel Foucault im Vorwort seiner Untersuchung »Die Ordnung der Dinge« artikuliert, »Untersuchung, in der man sich bemüht festzustellen, von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich geweunserem Nicht-Gedachten zurückzugehen«. François Jullien, Von außerhalb denken – Oder wie man bis zu den Vorentscheidungen der europäischen Vernunft zurückgeht. Vorschläge. In: Ders., Der Umweg über China. Ein Ortswechsel des Denkens, Berlin 2002, S. 171. 7 Transkulturelles Bewusstsein, dies ist mit den Worten François Julliens anzumerken, ist in diesem Sinne kein »schlaffe[r] Humanismus«, der unter dem »Deckmantel guter Absichten« leichtfertig als vereinfachender Universalismus«, als Weltethos kulturell versöhnend wirkt, siehe François Jullien, Die Affenbrücke, Wien 2011, S. 11 f. 8 Abendländische Ethikkonzeptionen mögen in ihrer Artikulation als Grundannahme bzw. »Hardware« jeglicher globaler Ethik unbedingt verteidigendswerte Errungenschaft der europäischen Aufklärung sein – ihre kulturelle Anwendung bzw. Praxis, beispielsweise in demokratischen Systemen, muss man dennoch zunächst als globale »Software« verstehen. Kulturell-affirmierendes, auch -amplifizierendes Bewusstsein vergegenwärtigt sich, dass kulturelle Soft- und Hardware grundsätzlich zu differieren sind, dass die »Software der Europäisierung« – darauf verweist Ram Adhar Mall – kein »Allgemeingut der Menschheit« sei. »Japanische, chinesische und indische Kulturen« übernähmen zwar »die Hardware der europäischen Kultur«, aber »in ihrer Software« blieben sie doch »unverwechselbar japanisch, chinesisch oder indisch«. »Gemeinsamkeiten zivilisatorischer Technik« sind nicht mit einer »Europäisierung der Menschheit« zu verwechseln. Ram Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt 1995, S. 26 f.
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Kulturelle Bildung im Zeichen der Heterogenität
sen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat«. 9 Den Befürwortern eines eurozentrisch motivierten Philosophierens, das die »Weisheit des Ostens« als esoterisch, spekulativ oder bloß religiös-ganzheitliches Denken deklariert bzw. dessen Originalität relativiert, ist mit Gregor Paul entschieden entgegenzuhalten, dass es zweifellos Unterschiede zwischen europäischer und asiatischer Philosophie gibt, sich jedoch schon »Platons Idealismus und der Plotins unterscheiden« und man »getrost annehmen« darf, dass »auch Gemeinsamkeiten vorhanden sind«. 10 Auf der anderen Seite, auch dies ist grundlegend für eine methodische Exteriorität, von der auszugehen ist, gibt es kein »unbenennbares Kulturelles«, keine bloß »nebulöse«, der Vernunft kaum zugängliche kulturelle Identität, sondern lediglich verschiedene Formen des kulturellen Verstehens, in denen sich Vernunft entfaltet. 11
2.
Nötige Vermittlungsleistungen
Die vorbeschriebene Situation der Erfahrung von Kultur im Differenzmodus ruft in den Kulturwissenschaften, aber auch in Philosophie und Pädagogik Bemühungen um einen konzeptionellen Umgang mit möglicher und nötiger Multikulturalität und Interkulturalität hervor. Gunter Scholtz, dem ich aus langer Zusammenarbeit manch philosophische Einsicht verdanke, hat darauf hingewiesen, dass es eine Aufgabe der Geisteswissenschaftensein muss, unter Einsatz ihrer hermeneutischen Kompetenzen und ihres kulturellen Wissens dringliche Vermittlungsleistungen in und zwischen den Kulturen zu ermöglichen, die gezwungen sind, Modernisierungsstrukturen in ihre Traditionsbestände aufzunehmen, während sie sich zugleich im Sog der Globalisierung in einer Konkurrenzsituation befinden. 12 Orientierungspunkte sind auch die einschlägigen Ergebnisse des Humanismus-Projektes von Jörn Rüsen. 13 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, In: Ders., Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a. M. 2013, S. 28. 10 Gregor Paul, Asien und Europa – Philosophien im Vergleich. Frankfurt 1984, S. 5. 11 Vgl. François Jullien, Die Affenbrücke, Wien 2011, S. 12. 12 Gunter Scholtz, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt 1991, S. 33 f. 13 Jörn Rüsen, How to Overcome Ethnocentrism. In: Taiwan Journal of East Asian 9
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Ralf Glitza
Die Philosophie, aber auch die Pädagogik sind herausgefordert und bilden seit etwa 20 Jahren interkulturelle Theoriekonzeptionen aus. 14 Für die philosophische Bildung hat Markus Bartsch das Konzept eines »Polylogs« entwickelt, ausgehend davon, dass die weltweite Multikulturalität sich durch die Migration nicht zuletzt im Klassenzimmer im Kleinen, aber didaktisch konkret Herausfordernden wiederfindet. 15 Ich selbst habe am Beispiel Chinas auf Unterschiede im Bildungsverständnis hingewiesen, mit denen bei einem solchen Polylog grundsätzlich zu rechnen wäre. 16 Mit Wissenschaftlern und Autoren verschiedener Disziplinen, man denke an Burkhard Liebsch, 17 Hermann Bausinger, Justin Stagl und Peter Coulmas, ist die These zu vertreten, dass die eigene kultureller Kompetenz als Ziel jeglicher Vermittlungsleistung durch das zunehmende Wissen über fremde Kulturen gestärkt wird, dass mögliche Kulturschocks gemindert werden und dass von dem Reichtum an Formen, Symbolen und Inhalten alle Seiten profitieren. 18 Dieser Standpunkt setzt eine Vermittlungsleistung im Ausgang von einer nötigen differenzmodalen Erfahrung und im Sinne prüfender Anerkennung kultureller Vielfalt voraus. Damit ist keinesfalls die bloße Hinnahme leerer Arbitrarität im Umgang mit der eigenen und den anderen Kulturen gemeint, sondern die kritische Anerkennung kulturell diverser und verschieden legitimierter Zugriffsweisen. Studies 1 (2004), 59–74; Shaping a Humane World. Civilizations – Axial Times – Modernities – Humanisms, Bielefeld 2012; Interkultureller Humanismus. In: Hubert Cancik u. a. (Hrsg.), Humanismus: Grundbegriffe, Berlin 2015, S. 39–48. 14 Gregor Paul, Philosophie im Dialog der Kulturen. In: ZDPE 4/2002; Ders., Einführung in die Interkulturelle Philosophie, Darmstadt 2008. 15 Markus Bartsch, Gesellschaftlicher Dialog im Klassenzimmer. Didaktische Implikationen interkultureller Hermeneutik im Fach Praktische Philosophie, Münster / Berlin 2009. 16 Ralf Glitza, China und das Problem der Reflexion. Diskursiv-hermeneutischer Unterricht in der Volksrepublik. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 4/ 2014. 17 Von den zahlreichen einschlägigen Arbeiten von Burkhard Liebsch zur Thematik nennen ich nur: Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005. 18 Vgl. Hermann Bausinger, Kulturelle Identität – Schlagwort und Wirklichkeit. In: Ders. (Hrsg.), Ausländer – Inländer. Arbeitsmigration und kulturelle Identität, Tübingen 1986, S. 141–159; Justin Stagl: Die Beschreibung des Fremden in der Wissenschaft. In: Hans Peter Duerr (Hrsg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale. Bd. 1, Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, Frankfurt a. M. 1981; Peter Coulmas, Weltbürger. Geschichte einer Menschheitssehnsucht, Reinbek b. Hamburg 1990.
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Kulturelle Bildung im Zeichen der Heterogenität
Ein konstitutives Merkmal der differenzmodalen Erfahrung und der von ihr provozierten Vermittlungsleistungen ist dabei z. B. die Annahme von Zumutbarkeitsgrenzen zwischen Kulturen und deren Vertretern, die Wahrung eines »Zumutbarkeitsgehaltes« 19 der kulturellen Vermittlung. Kulturelle Vermittlungsleistungen erkennen die Grenzen des Fremden an, insofern es Menschen ihre kulturelle Zugehörigkeit sichert, d. h. voneinander zunächst einmal notwendig trennt, aber dann auch im Sinne einer interkulturellen Hermeneutik eint. Frithjof Rodi weist zu Recht auf diesen Zusammenhang hin. 20 Kulturelle Vermittlungsleistungen setzen ferner voraus, dass auch die eigenen überkommenen Leitbegriffe, Kategorien und Konzepte unter Wahrung ihrer zukunftsfähigen Potentiale überdacht werden. Schon dies zeigt, dass potentielle pädagogische Ziele mitzubedenken sind, nämlich u. a. die der gezielten Förderung interkulturellhermeneutischer Prozesse in philosophischen Lehr- und Lernkontexten schulischer Natur, und zwar mit dem Anspruch, dass die Zielgruppe der Bildungstheoretiker, -praktiker und -betroffenen die zu erwerbenden Kulturtechniken in der Praxis als kulturelle Multiplikatoren anwenden und weitergeben. 21 Es geht um die zukünftige Ausbildung interkulturell-philosophischer Praktiker, Möglichkeiten der Bildung multinationaler Projektgruppen im Bereich der Fortbildung »interkultureller Mittler«, die Sicherstellung interkultureller Lesekompetenz für philosophische Texte, die Befähigung zur interkulturellen Reflexion transkultureller Fragestellungen nach der Würde des Menschen, der Legitimation ethische Konzeptionen etc. In Wahrnehmung dieser Aufgaben kann sich die KulturvermittBegriff nach Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1991, S. 276. Frithjof Rodi, Das Nahe-Bringen von Überlieferung. Über die kulturellen Lebensbezüge der Vertrautheit und Fremdheit. In: Julie Kirchberg / Johannes Müther (Hrsg.), Philosophisch-theologische Grenzfragen. Festschrift für Richard Schaeffler zur Vollendung des 60. Lebensjahres, Essen 1986, S. 219–231. 21 Gregor Paul beklagte bereits 1984 im Vorwort des erwähnten Lehrwerks »Asien und Europa – Philosophien im Vergleich«, dass »Allgemeinkenntnisse ›asiatischer Philosophie‹« außerhalb »weltweiter kultureller Diffusion […] in der Konvergenz moderner Kunst« und außerhalb der »›Hippiewellen‹, Gurus, Meditationsschulen, Indientrips« primär auf Universitäten und Privatgelehrte beschränkt sei. Bis dato sind in der Tat weder die Auseinandersetzung mit orientalischen Philosophien noch eine interkulturell-hermeneutische Reflexion philosophischer Probleme in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für die Lehrerausbildung oder in den schulischen Curricula verankert. 19 20
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Ralf Glitza
lung z. B. mit jenen Regeln und Konzepten befassen, die als »near universals« in sämtlichen Kulturen vorzufinden und dennoch in eigenen komplexen kulturellen Diskursen als Kulturstandards verankert sind. So lassen sich Kulturen als »differente Spielsysteme« verstehen. 22 Sofern Kulturvermittlungsleistungen dabei helfen, eine europäische Begriffsdominanz abzubauen, werden sie sich nicht auf eine Neufassung von Sach- und Fachbegriffen beschränken können. Es werden Begriffe notwendig, die im Interesse der Beibehaltung kultureller Eigenarten, aber auch einer interkulturellen Hermeneutik diverse Regelsysteme untereinander in Beziehung setzen, ohne die Mitspieler in einen Kulturrelativismus zu überführen oder kulturelle Missverständnisse zu erzeugen.
3.
Kulturelle Bildung in der Mitte der menschlichen Gesellschaft
Angesichts der Tatsache, dass die Kulturen ebenso durch Wirtschaftsverkehr, Migration und immens gesteigerte Kommunikationsmöglichkeiten global näher aneinanderrücken und damit in Kontakt, potentiell auch in Konflikt geraten, wie dies vor Ort in Kleinen im Klassenzimmer an unseren Bildungsstätten geschieht, erscheint mir eine wechselseitig informierende kulturelle Bildung in der Mitte der Gesellschaft als ein äußerst naheliegendes und gut begründbares Ziel, als ein Ziel, das »Denken den Ort wechseln zu lassen, um andere Arten von Intelligibilität zu berücksichtigen, um durch einen Umkehreffekt die Ausgangsbedingungen der europäischen Vernunft« 23 und deren didaktischer Vermittlung zu hinterfragen. Um das vorbenannte Ziel für die philosophische Bildung zu konkretisieren, kann an das Verständnis der Philosophiedidaktik als grundsätzliche Kulturtechnik 24 angeschlossen werden. Dabei sind unbestritten viele theoretische und didaktische Aspekte zu berücksichtigen. Ich möchte insbesondere einen Aspekt herausheben: die NotVgl. Alois Wierlacher, Kulturverstehen und Spiel. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 8/1982, S. 102–130. 23 François Jullien, Dialog über die Moral. Menzius und die Philosophie der Aufklärung, Berlin 2003, S. 235. 24 Vgl. die Arbeiten von Ekkehard Martens, zuletzt den von ihm herausgegebenen Band: Empirie und Erfahrung, Hannover 2017. Im gleichen Sinne Volker Steenblock, Philosophie und Lebenswelt, 2 Bde., Hannover 2011 und 2018. 22
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Kulturelle Bildung im Zeichen der Heterogenität
wendigkeit einer vergleichenden geistesgeschichtlicher Aufarbeitung kulturell heterogener Vorstellungs- und heterotopischer Denksysteme in gegenwartsorientierter didaktischer Hinsicht. Hierzu erscheint eine interkulturelle Hermeneutik nötig, geeignet und angemessen. 25 Dem dient meine Arbeit am Beispiel des chinesischen Konfuzianismus, die dieses Konzept genauer ausführt. 26 Immerhin weist Gregor Paul darauf hin, dass die neueren weltanschaulichen und philosophischen Ausprägungen des Konfuzianismus weit eher zu einem Dialog als zu einem Clash of Civilizations Anlass geben. 27 Chung-ying Cheng geht so weit, von der Möglichkeit einer Synthese von Kantianismus und Konfuzianismus vor dem Hintergrund vergleichbarer Konzeptionen von Autonomie, Menschheit und Menschlichkeit zu sprechen. 28 Angesichts der großen globalen Bedeutung Chinas wäre z. B. eine geistesgeschichtlich vergleichende Auseinandersetzung mit Kant und dem traditionellen chinesischen Konfuzianismus von evidenter Bedeutung; sie kann zugleich aber exemplarisch für analog notwendige Vermittlungsleistungen stehen, auch etwa im Verhältnis zum Kulturkreis des Islam. Zugleich ist dies ein gegenwärtig höchst aktuelles Bildungs-Thema und eben nicht zuletzt eine Aufgabe für die Philosophiedidaktik, die ja mit weltanschaulichen Orientierungen in besonderer Weise zu tun hat. 29 Kulturelle Bildung soll im Zeichen der Heterogenität und mit dem Ziel der Verständigung sein. Gabriele Münnix, Über-Setzen: Sprachenvielfalt und interkulturelle Hermeneutik, Freiburg 2017. 26 Ralf Glitza, Kulturelle Bildung in der Mitte der Gesellschaft. Zum Spannungsfeld einer interkulturell-hermeneutischen und heterotopisch-differenzmodalen Philosophiedidaktik am Beispiel von Immanuel Kants Ethik und traditioneller konfuzianistischer Sittlichkeit (Diss.in Vorb.). 27 Gregor Paul, Konfuzianismus im 21. Jahrhundert und Huntingtons These vom Clash of Civilizations. In: Peter Nitschke (Hrsg.), Der Prozess der Zivilisationen: 20 Jahre nach Huntington, Berlin 2014, S. 253–281, S. 259. 28 Chung-ying Cheng, Incorporating Kantian Good Will. A Confucian–Kantian Synthesis. In: Journal of Chinese Philosophy 12/2011, 602–638. – Vgl. bereits Johann Gottfried Herder: »Konfuzius ist der Sokrates der Sineser«; die »Gesetze der Menschenpflicht« sind »keinem Volk der Erde unbekannt geblieben«. Briefe zur Beförderung der Humanität, hrsgg. von H. Stolpe, Bd. 1, Berlin / Weimar 1971, S. 142 f. 29 Vgl. Stefan Barz, »Nisi ardeat, non incendit«, Bochum 2014. Vgl. auch zur Didaktik Qian Ran, »Vergangenes soll man nicht tadeln!« – Eine konfuzianische Handlungsmaxime im Umgang mit Menschen? In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2/2017, S. 31–33, sowie Stefan Düfel, Das transkulturelle Werturteil: Darf man Kulturen normativ bewerten? Ebd., S. 34–36. 25
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Kevin Liggieri
»Ein fröhlicher Tanz auf dem Vulkan«? Ein Dialogversuch zwischen Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften
»Ich nahm den Dingen die Illusion, die sie erzeugen, um sich vor uns zu bewahren, und ließ ihnen den Anteil, den sie uns zugestehen.« 1
1.
»Ein fröhlicher Tanz auf dem Vulkan«
Im Frühjahr 1987 wurde vom Hessischen Rundfunk im Rahmen seines Abendprogrammes eine Reihe von Vorträgen gesendet, die unter dem Titel »Postmoderne oder: Der Kampf um die Zukunft« liefen. Diese Sendereihe stieß bei den Hörern auf großes Interesse und wurde daraufhin vom Philosophen und Leiter des Abendstudios beim Hessischen Rundfunk, Peter Kemper, 1988 zu einem Sammelband zusammengefasst. Schon mit dem Titel des Sammelbandes war eine Demarkationslinie gezogen, die sich bis heute verfestigte. Der Untertitel »Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft« zielt genauer auf ein Phänomen, welches Ende der 1980er Jahre weite Bereiche durchzog und polarisierte. Als Schutzpatron »postmoderner« Theorien ziert ein bunt gespickter Nietzsche-Kopf das Cover und verweist damit gleichzeitig auf die produktive Anziehungskraft wie auch auf die problematische Relativität einer wie auch immer verstandenen »Postmoderne«. Der Band beinhaltet unter anderem Beiträge zur Begriffsgeschichte und Genealogie des Begriffs »Postmoderne« (Wolfgang Welsch), Analysen zwischen Adorno und Foucault (Axel Honneth), Wandlungen von Geschichtsverständnis (Hermann Lübbe) oder zum Renè Char, Suzerain – Lehnsherr. In: Ders., Poèsies – Dichtungen, zweisprachige Ausgabe, Frankfurt a. M. 1959, S. 239. Michel Foucault führt dieses Motto am Ende seines Vorworts von »Wahnsinn und Gesellschaft« für seine Vorgehensweise an (vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 16).
1
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»Ein fröhlicher Tanz auf dem Vulkan«?
postmodernen Wissen bei Lyotard (Jutta Georg-Lauer). »Postmoderne« als Schlagwort versammelt damit, wie der Band von Kemper herauszustellen versucht, ein Spektrum interdisziplinärer Zugriffe (Philosophie, Literaturwissenschaft, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Mode, Musik etc.). Bis heute evoziert der Begriff und das Programm »Postmoderne« in Wissenschaft und Öffentlichkeit als eben solches »Schlagwort« »magisch« emotionale Zustimmung wie auch Ablehnung. 2 Was aber war bzw. ist »Postmoderne«? 3 Kemper beantwortet diese Frage scheinbar direkt im ersten Satz seines Bandes: »Unsere Kultur gleicht einem Karussell, das sich immer schneller dreht und jeden Moment in Stücke zu fliegen droht. Passagiere und Passanten gleichermaßen werden von einem Schwindelgefühl erfaßt. Der Boden sicherer Gewißheiten beginnt zu schwanken, Haltsuchende – vom verführerisch bunten Wirbel gelähmt – versinken in der Bodenlosigkeit der Ereignisse. Wäre die Metapher der ›betäubenden Rummelplatzatmosphäre‹ nicht hoffnungslos veraltet in Bezug auf den Zeichen-Wirrwarr hochtechnisierter Zivilisation, sie könnte das neue ›postmoderne‹ Lebensgefühl veranschaulichen.« 4 Ob diese apokalyptische Bildsprache Kempers nun geschichtshistorisch und sozialwissenschaftlich durch Ereignisse am Vorabend des Mauerfalls, philosophiehistorisch mit der Popularisierung neuer Denker wie Michel Foucault, Roland Barthes und Gilles Deleuze, oder Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung hrsgg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1980, S. 58. 3 Im Laufe des vorliegenden Aufsatzes wird »Postmoderne« und »postmodernes Denken« ebenso wie »Kulturwissenschaft« und »kulturwissenschaftliches Denken« meist im Singular und weitestgehend synonym gebraucht. Dieser Singular und Synonymisierung verkürzt natürlich die Debatte und disziplinären Verzweigungen. So gibt es nicht das »postmoderne Denken« und nicht die Kulturwissenschaft, sondern bestenfalls verschiedene Ausformungen und Schulen, die sich wie in jeder Wissenschaft ergänzen wie bekämpfen. Postmoderne und Kulturwissenschaft müssten eigentlich in einer ausdifferenzierten Typologie analysiert und unterschiedlichen Richtungen (medienwissenschaftlich, wissenschaftshistorisch, phänomenologisch, soziologisch, literaturwissenschaftlich etc.) in wiederum verschiedenen Disziplinen zugeordnet werden. Diese Leistung kann an dieser Stelle nicht erbracht werden. Es geht dem Aufsatz vielmehr darum, allgemein die Problematiken und Chancen dieser Ansätze nachzuzeichnen, um einen Dialog anzuregen. Dass hierbei mit Blick auf den Rahmen und den Umfang eine sehr schematische Labelung vorgenommen wurde, muss dafür in Kauf genommen werden. 4 Peter Kemper, Vorwort. In: Ders. (Hrsg.), »Postmoderne« oder Der Kampf um die Zukunft, Frankfurt a. M. 1988, S. 7–8, hier: S. 7. 2
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Kevin Liggieri
wissenschaftspolitisch mit dem Aufkommen neuer kulturwissenschaftlicher Strömungen (u. a. einer sich ausdifferenzierenden kulturtheoretisch orientierten Medienwissenschaft oder den Frühschriften Peter Sloterdijks) 5 begründet werden kann, bleibt bei der Härte der Formulierung offen. Was allerdings 1988 deutlich wird, ist, dass die nietzscheanischen Prämissen eines dynamisch nicht-festgestellten Denkens, welches nicht mehr auf die eine (überirdische) Wahrheit, sondern auf verschiedene Interpretationen setzt und diese wiederum nicht ursprünglich, sondern genealogisch analysiert, in den Vordergrund gerückt wurden. Obwohl überzeichnet, ist das Vorwort Kempers vom Gegenstand hergedacht aufschlussreich, da hier eindrücklich die Bekundung einer Problemlage, nämlich das Verschwinden von Normen, festen Perspektiven und Werten artikuliert wird, welche scheinbar mit postmodernen Ansichten einhergehen – ein Vorwurf, welcher bis heute in vielen Debatten seine Sprengkraft nicht eingebüßt hat. Es soll im Folgenden nicht darum gehen, die eine oder andere Seite zu bevorzugen bzw. zu disqualifizieren. Vielmehr geht es darum, produktive Ansätze und gemeinsame Forschungsfragen herauszuarbeiten, mit der Hoffnung Dialoge und Wechselwirkungen zu ermöglichen. Wie findet man einen sinnvollen Dialog und eine produktive Arbeitsmethode zwischen einer Polemik, die das »ZeichenWirrwarr« und diskursive »Gemurmel« offensiv angreift und als unwissenschaftlich abwertet, und eines ebenso radikalen Versuches einer »Eliminierung« des verdächtig-wirkenden ›idealistischen Geistes‹ ? 6 Ist diese Abwehrhaltung beider Seiten für eine eigene disziplinierende Konstituierung wirklich gerechtfertigt? Muss nicht auf der einen Seite ein Absetzungsgestus gegenüber eines behaupteten geisteswissenschaftlichen »Idealismus« genauso in die Leere laufen, wie Vgl. Friedrich A. Kittler (Hrsg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn 1980; Ders., Aufschreibesysteme 1800–1900, München 1985; Ders., Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaften, München 2000; Ders. / Horst Turk (Hrsg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a. M. 1977; Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft. Zwei Bände. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1983. Vgl. zu diesen Entwicklungen sowie zum Unterschied von Cultural Studies und Kulturwissenschaft, Christina Brandt, Kulturwissenschaften und Wissenschaftsgeschichte, in: Marianne Sommer u. a. (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Weimar / Stuttgart 2017, S. 92–106, hier: S. 92–95, zu Kittler bes. S. 100–101. 6 Vgl. hierzu Volker Steenblock, Kulturphilosophie. Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen, Freiburg 2018. 5
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eine vorschnelle Relativierung kulturwissenschaftlicher/postmoderne Erkenntnismöglichkeiten? Geht es nicht am Ende um die Interdependenz von (geisteswissenschaftlicher) Tradition wie auch um (kulturwissenschaftliche) Reflexion? Wie kann man nicht nur die beiden verschiedenen Perspektiven erklären (aus ihrer wissenschaftshistorischen und nationalen Gewordenheit), sondern diese Perspektiven mit ihren jeweils eigenen Problemstellungen, Fragen und Herangehensweisen auch verstehen? Wie kann man aus Gegnerschaft nicht direkt Gemeinschaft, aber zumindest gegenseitig-kritische Anerkennung machen? In der folgenden Untersuchung soll konzis versucht werden, beide Ansätze einer »hermeneutischen« Kulturphilosophie und einer »poststrukturalistischen/postmodernen« Kulturwissenschaft mit einander ins Gespräch zu bringen, da nur dadurch die blinden Flecken auf beiden Seiten dialektisch aufgehoben werden können. Dieses Gespräch wie auch die Problematik soll am Beispiel der einflussreichen Diskurstheorie Michel Foucaults, die immer noch vielen kulturwissenschaftlichen Forschungen zugrunde liegt, exemplifiziert werden.
2.
Den Dialog suchen: Chancen und Möglichkeiten diskurstheoretischer Herangehensweise
Was ist schlimm daran, kann man fragen, wenn die postmodernen Strömungen »eine bunte Vielfalt von Erklärungen, Deutungsmustern, Methoden, Techniken, Theorien und Lebensformen propagieren?« 7 Ist es denn wirklich für die ›Postmodernen‹, wie Kemper endzeitmetaphorisch schreibt, ein »fröhlicher Tanz auf dem Vulkan, ein spielerischer Zynismus gegenüber der eigenen Ohnmacht und Ernüchterung«? 8 Kann man nicht vielmehr mit Theorien, die auf die kulturellen Praktiken, Geschichte, Genealogien, Diskurse und Material gerichtet sind, wichtige Aspekte einer bestimmten Lebenswelt oder historischen Epoche gezielt beschreiben? Vielleicht ist es eine Chance der Kulturwissenschaften, dass sie sich nicht über einen begrenzten Objektbereich oder über einen Kanon von Methoden und Forschungsfeldern, definiert, sondern durch ihre Perspektive. 9 7 8 9
Kemper, Vorwort, a. a. O., S. 8. Ebd. Brandt, Kulturwissenschaften und Wissenschaftsgeschichte, a. a. O., S. 93.
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Zurecht wird von vielen Kritikern ein »postmoderner« Jargon abgelehnt, welcher sich in sprachlichen Spielen, Uneindeutigkeit und Ziellosigkeit zu verlieren scheint. Eine Wissenschaft, die nichts mehr verändern, nichts mehr aufklären, kein neues Wissen mehr hervorbringen will, ist zweifelsohne unnötig und nur noch Spielerei. Allerdings übersehen viele Kritiker – geblendet durch die oft literarische Sprache der Protagonisten –, dass Denker wie Michel Foucault u. a. immer noch einer kritischen Aufklärung ganz im Sinne Kants (»Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«) verhaftet waren. 10 Wissenschaft solle »historisch und kritisch zugleich« betrieben werden, wie Foucault es formulierte. 11 So waren die Säulenheiligen postmoderner/poststrukturalistischer Strömungen u. a. Nietzsche, Foucault, Barthes oder Derrida keineswegs ihrem Jargon verfallen und verloren sich auch nicht unbegründet in uneindeutigen Formulierungen. Vielmehr gab es eine Verbindung von Form und Inhalt bei den Theorien, die Zeichen/Wörter und Bedeutung genau aufeinander abstimmten und damit das traditionelle Verständnis von Sprache und Inhalt kritisch hinterfragen wollten. 12 Rationale Sprache selbst wurde als gewordene, teilweise ideologische Sprache problematisiert und Irritationen geschaffen, die eingefahrene Strukturen hinterfragen sollten. 13 Will man infolgedessen der Jargon-Kritik begegnen, muss man auf das Feld der Probleme und Begriffe (u. a. »Diskurs«, »Episteme«, »Dispositiv«, »Macht«) blicken, mit denen Denker wie Foucault agierten. Hiermit kann man den Begriffen nicht nur den Glanz, sondern auch ihr »buntes Wirrwarr« nehmen und sie zu Werkzeugen des eigenen Denkens machen. Worum geht es Foucault also eigentlich? Foucault versucht mit seiner Diskurstheorie zu zeigen, was historisch in der jeweiligen Wissensformation »sagbar« war. 14 Der DisVgl. Michel Foucault, Was ist Aufklärung? (1983). In: Eva Erdmann u. a. (Hrsg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 35– 54 11 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973, S. 17. 12 Nietzsches Sprache gibt hierfür in seinen Nachlass-Fragmenten besten Aufschluss. So war es harte Arbeit für Nietzsche, seinen mündlich wirkenden Stil zu perfektionieren mit Apostrophen, Punkten, Auslassungen oder Binde- und Spiegelstrichen. Vgl. Tobias Brücker, Lebenskunst als Schreibkunst? Der Autor von Ecce Homo. In: Nietzscheforschung 21 (2014), S. 209–220. 13 Vgl. auch zum Verhältnis der Vernunft zum »Anderen« der Vernunft, Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 16, S. 164–167. 14 Kathrin Kollmeier, Begriffsgeschichte und Historische Semantik, Version: 2.0. In: 10
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kurs, so problematisch und uneindeutig der Begriff teilweise erscheint, 15 stellt eine Menge von Aussagen dar, die einem Formationssystem angehören. Diese Aussagen sind nicht gleichzusetzen mit Äußerungen, deswegen bevorzugt der Sprachwissenschaftler Dietrich Busse zurecht den Begriff »Wissenssegmente«, die in verschiedener Gestalt auftreten können. Diskurse sind so verstanden »Formationssysteme von Wissenssegmenten«. 16 Mit einer Diskursanalyse, die in der Praxis weder bunt noch mystisch erscheint, geht man der Frage nach, wie sich Formationssysteme bilden konnten und untersucht deren Möglichkeitsbedingungen, von deren Strukturen die Sprecher im Diskurs meist selbst keine Ahnung haben. Ein Diskurs gliedert sich in Ereignis, Serie und Regelhaftigkeit. Das Ereignis (spontanes Auftreten eines epistemischen Elements (bspw. ein Begriff)) muss dabei nicht neu sein, aber immerhin unvorhergesehen in einer neuen diskursiven Umgebung. Treten diese Ereignisse gehäuft auf, dann bilden sie Serien. Serien wiederum sind die Basis von diskursiven Formationen. Eine Etablierung dieser Formationen geschieht dann, wenn diese Serien eine Regelhaftigkeit bekommen. »Diskursanalyse zielt«, wie der Historiker Philipp Sarasin herausstellt, »darauf festzustellen, was faktisch gesagt wurde und dann gleichsam zu stabilen Aussagemustern kristallisierte, die nach einiger Zeit wieder zerfallen.« 17 Mit dieser Methodik soll untersucht werden, wie es dazu kommt, dass eine bestimmte Aussage an einem bestimmten Punkt erscheint und keine andere an dieser Stelle. Das Sagbare, das historische Apriori der Episteme, stellt für Foucault jenes Konstrukt dar, »was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man sich so über die Dinge äußern kann, dass es als wahr anerkannt wird«. 18 Die Episteme, um Docupedia-Zeitgeschichte, 29. 10. 2012, http://docupedia.de/zg/ 2; dazu Dietrich Busse, Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte? Zu theoretischen Grundlagen und Methodenfragen einer historisch-semantischen Epistemologie. In: Carsten Dutt (Hrsg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, S. 17–38, hier S. 22. 15 Nach Foucault hat er selbst in den 1960er Jahren den Begriff des Diskurses eher »schwimmen[d]« verwendet (Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 116). 16 Busse, Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte?, a. a. O., S. 24 17 Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2005, S. 106. 18 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen-
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die es in seiner Betrachtung geht, werden, wie Foucault hervorhob, »als strategisches Dispositiv« verstanden, welches es erlaubt, »unter allen möglichen Aussagen diejenigen herauszufiltern, die innerhalb, ich sage nicht: einer wissenschaftlichen Theorie, aber eines Feldes von Wissenschaftlichkeit akzeptabel sein können und von denen man wird sagen können: diese hier ist wahr oder falsch. Die Episteme ist das Dispositiv, das es erlaubt, nicht schon das Wahre vom Falschen, sondern das wissenschaftlich Qualifizierbare vom Nicht-Qualifizierbaren zu scheiden.« 19 Problemlagen als »Dispositiv« zu verstehen, scheint aus dem Grunde sinnvoll, da, so Giorgio Agamben, der Foucault machtanalytisch weiterdenkt, das »Dispositiv« selbst »eine heterogene Gesamtheit« darstellt, welche »alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, einschließt: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, polizeiliche Maßnahmen, philosophische Lehrsätze usw.« 20 Die Macht des jeweiligen Dispositivs liegt dabei darin, »die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern«. 21 Bei den längeren Ausführungen von Foucaults Theorie rücken verschiedene Problematisierungsfelder in den Fokus, die 1) sich abseits eines klassischen (philosophischen, historischen, literarischen) Kanons befinden, 2) nicht vertikal, sondern horizontal funktionieren, und damit auch Quellen, Bilder, Flugblätter etc. aus unterschiedlichen Wissensfeldern (Literatur, Kunst, Politik usw.) einer Epoche analysieren können und 3) neben Texten und Gesprächen (Diskurse) auch Praktiken, Machtverhältnisse und Artefakte (Institutionen, Gebäude, Maschinen) mit in den Untersuchungsrahmen einzubinden vermögen. Dieses kann als »Strukturuntersuchungen der historischen
schaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 204. Zu umfangreichen Literatur zu Foucaults Methodik Petra Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt a. M. 2004, S. 39. Zur teilweise schwierigen Unterscheidung vom »historischen Apriori« und von den »Epistemen« bei Foucault siehe den Artikel von Friedrich Balke, Episteme, in: Clemens Kammler / Rolf Parr / Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.), FoucaultHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, S. 246–249. 19 Michel Foucault, Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1978, S. 124. 20 Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv?, aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, Zürich / Berlin 2008, S. 9. 21 Ebd., 26. Zu den dazugehörigen Macht- und Wissensverhältnissen Ebd., S. 9.
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Gesamtheit« und Wissensordnungen verstanden werden. 22 Kulturwissenschaftliche/postmoderne Ansätze versuchen mit der Diskurstheorie als Werkzeugkasten nicht einfach Probleme in ihrem Wandel und folglich »Oberflächenerscheinungen« zu beobachten, sondern das »Tiefenphänomen« zu befragen. 23 Dabei ist der Diskurs immer mehr als nur Sprache und Sprechen. Die »Diskurse bestehen zwar aus Zeichen, aber ihre Funktion ist irreduzibel auf den bloßen Zeichencharakter.« 24 Anders als die traditionelle philosophische Begriffsgeschichte und Ideengeschichte, die zweifelsohne mit Blick auf bestimmte Problemstellungen und Fragen ihre Berechtigung hat, kann eine Diskursgeschichte eine Ergänzung und Erweiterung des Methodenspektrums darstellen. So schlägt Foucaults Diskursanalyse die Brücke zu konkreten historischen und empirischen Verortungen. Durch die Diskurstheorie soll demzufolge keine Abwertung gegenüber einer klassischen philosophischen Hermeneutik geschehen und auch keine Grundsatzkritik am »Sinn« soll artikuliert werden. Vielmehr kann eine andere Sichtweise eingenommen werden, die mit anderen Methoden übersehen worden wären, um z. B. die epistemischen Voraussetzungen herauszufinden, welche Ein- und Ausschlusskriterien beim »Sinn« mitwirken und wie Trennungen von »Sinn« und »Un-Sinn« eine bestimmte Art von rationaler, moderner Wissenschaft erst konstituieren. 25 Damit wird es möglich, den Fokus auf die unreflektierten, unartikulierten, als selbstverständlich vorausgesetzten diskursstrukturierenden Möglichkeitsbedingungen zu legen. Eine weitere Herangehensweise, deren sich kulturwissenschaftliche Ansätze bedienen, ist der genealogische Blick, der schon vom Begriff her über den reinen Text und die Sprache hinausgeht und Körper und Geschichte verschränkt (u. a. Analysen von Kultur-, Selbst- und Körpertechniken). 26 Im Ausgang von Nietzsche verzichtet die Genealogie auf eine »monotone Finalität« und verweist auf Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, a. a. O., 13; dazu Brandt, Kulturwissenschaften und Wissenschaftsgeschichte, a. a. O., S. 96. 23 Michael Foucault, Gespräch mit Madeleine Chapsal (1966). In: Daniel Defert / Francoi Ewald (Hrsg.) Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Aus dem Fr. von Michael Bischoff u. a., Frankfurt a. M. 2001, Bd. 1, S. 664–670, hier S. 665. 24 Gerhard Plumpe / Clemens Kammler, Wissen ist Macht, in: Philosophische Rundschau 27 (1980), S. 185–218, hier S. 193. 25 Michel Foucault, Geburt der Klinik, 15; Ders., Wahnsinn und Gesellschaft, 12, S. 160–161; Ders., Gespräch mit Madeleine Chapsal (1966), S. 665. 26 Genealogie ist schon vom Wortstamm genea: »Geburt«, »Abstammung«, »Ge22
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Veränderung, historisch-kulturellen Wandel und Brüche. 27 Anders als bei einer Texthermeneutik wird versucht Körpermodelle und -bilder praktisch historisch zu verorten und zu untersuchen (practical turn), wobei unterschiedliche wissenschaftliche, gesellschaftliche, philosophische oder ästhetische Zuschreibungen mit in den Blick geraten. Immer wieder wird hierbei herausgestellt, dass es den einen überzeitlichen Körper oder ein Wissen ebenso wenig gibt wie den »Menschen«. Auch, wenn das Foucault’sche Wort vom »Tod des Menschen« 28 immer wieder post- und antihumanistische Befürworter wie Kritiker auf den Plan gerufen hat, 29 ist damit doch relativ unspektakulär nur gemeint, dass die Wissensformation, die mit dem Label »Mensch« von unterschiedlichen (Human-)Wissenschaften bezeichnet wird, nicht durch eine überzeitliche oder überirdische Konstante verbunden ist, sondern deutlich eine Willkürlichkeit, Singularität und Kontingenz der Entstehung sowie Brüche aufweist. 30 Das wissenschaftliche Bild, das wir heute vom »Menschen« haben, der Subjekt und Objekt der Forschung gleichzeitig darstellt, ist ein historisch gewordenes und kann sich ebenso wieder ändern. Am Bild des Menschen und des Körpers wird damit für Foucault und den Forscher/innen, die in seiner Tradition stehen, deutlich, dass die Inkohärenz der Geschichte von diskursiven und materiellen Praktiken geprägt ist. Diese Einsicht erlaubt nun jedoch weder ein »Everything goes«, noch eine Hinwendung zum puren Relativismus oder gar zur Antimoralität. Mehr geht es darum aufzudecken, dass man nicht einfach von allgemeingültigen Ursprüngen und Konstanten ausgehen kann, sondern es einer Erforschung der Herkunft und einer Analyse der Entstehung, Veränderung und Brüche für ein differenziertes und kritisches Urteil bedarf. (Philosophische) Anthropologien sollen nicht an sich abgewertet werden, aber doch genealogisch hinschlecht« wie auch, logos: »Darlegung«, »Erzählung«, »Rechnung«. Der Begriff verschränkt damit Leiblichkeit und Geschichte. 27 Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. 1987, S. 69–90, hier S. 69. 28 Michel Foucault, Ist der Mensch tot? (1966), in: Daniel Defert / Francois Ewald (Hrsg.), Michel Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Aus dem Frz. von Michael Bischoff u. a. Frankfurt a. M. 2001, Bd. 1, S. 676–703. 29 Vgl. Felix Hüttemann / Kevin Liggieri, Post-, Trans-, Anti-. Ein Spiel mit den Vorzeichen. In: Dies. (Hrsg.), Die Grenze »Mensch«. Diskurse des Transhumanismus, Bielefeld (im Erscheinen). 30 Foucault, Ist der Mensch tot?, a. a. O., S. 649 ff. Ob man diese Entstehung nun um 1800 attestieren muss, bleibt fragwürdig.
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terfragt werden. So ist »jede Anthropologie […] vorerst formal«, wie Gunter Scholtz es ausdrückt, »und bedarf der Ergänzung durch die Geschichte, da sich der Mensch wandelt.« 31 Auch dass nicht Subjekte, die Wissen generieren, sondern eher subindividuelle Spuren im Vordergrund einer diskursiven Analyse stehen, ist keineswegs eine antihumanistische Absage an ›den Menschen‹, sondern nur der kritische Verweis darauf, dass viele Strukturen nicht allein durch autonome Subjekte gemacht oder eigenwillig verändert wurden. 32 »Was bei den Dingen«, so Foucault, »die die Menschen sagen, zählt, ist nicht so sehr das, was sie diesseits oder jenseits dieser Worte gedacht haben mögen, sondern das, was sie von vornherein systematisiert, was sie für die Zukunft immer wieder neuen Diskursen und möglichen Transformationen aussetzt.« 33 Hier setzt keine Grundsatzkritik an den Geisteswissenschaften an, sondern das philosophische und kritische Hinterfragen eines bestimmten Subjekt-, Autonomie- aber auch Wissensbegriffes, welcher sich in einem bestimmten historischen Ordnungs- und Systemzusammenhang erst konstituiert.
3.
Ausblick: »Der Boden sicherer Gewißheiten beginnt zu schwanken«
Zusammenfassend muss sich die Frage gestellt werden, was bei der vorliegenden Untersuchung zur Diskurstheorie und deren Möglichkeit erreicht wurde. In der kulturwissenschaftlichen Aneignung der Diskurstheorie zeigt sich das Grundmotiv deutlich. Es kommt zur Verschiebung der Gegenstandsebene: »von der Wissenschaft zum Wissen, von der Ästhetik zu den Kunstwerken, von der Theorie zu Praktiken und Techniken, von der Schrift zu anderen Medien, von den absoluten Metaphern zum metaphorologischen Denken und den Referenzen, auf die sie sich beziehen.« 34 Gunter Scholtz, Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften, im vorliegenden Band. 32 Auch wenn Foucault 1966 noch sehr kritisch mit einem ›Humanismus‹ ins Gericht geht, tut er es um »[d]en Menschen zu retten, den Menschen im Menschen wiederzuentdecken« (Foucault, Gespräch mit Madeleine Chapsal (1966), S. 665). 33 Foucault, Die Geburt der Klinik, a. a. O., S. 17. 34 Ernst Müller, Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Ders. (Hrsg.), Begriffsgeschichte im Umbruch, Hamburg 2005, S. 9–20, hier: S. 13. 31
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Wo liegt nun genau der Mehrwert dieses kulturwissenschaftlichen Werkzeugkastens abseits eines reinen »fröhlichen Tanzes auf dem Vulkan«? Zum einen gestattet es dem/r Forscher/in (immer mit Blick auf ihre Forschungsfrage! Methodische Werkzeuge sind kein Selbstzweck!) neben den etablierten Wissenschaften und kanonischen Texten auch andere Quellen zu befragen, zum anderen ermöglicht es, statt den Gang von Ideen nachzuzeichnen, vielmehr jenen von den Diskursen (mit-)produzierten Erzählungen nachzugehen und diese nicht ›absolut‹ zu betrachten, sondern in ihren Verbindungen. 35 Am Beispiel der Kulturphilosophie, wie sie der Kieler Philosoph Ralf Konersmann und der Bochumer Philosoph Volker Steenblock beschreiben, wird sichtbar, was eine produktive gemeinsame Gegenstandsebene für klassisch-philosophische wie auch ›kulturwissenschaftlich-postmoderne‹ Ansätze sein könnte bzw. längst ist. 36 Schon der dynamische Kulturbegriff bezieht sich immer auf Praktiken, Handlung, Kommunikation und besonders Objektivationen. 37 Kultur beschreibt demzufolge ganz praktisch eine bestimmte Art des »Weltbegreifen[s]« (cultura), insofern sie ein begrenztes Feld von Objekten, Geboten oder Regeln umfasst, in den sich Lebensformen reflektieren und realisieren. 38 So verstanden muss Kultur immer objektiviert sein. Auch der weite Kulturbegriff der Kulturwissenschaften bezieht sich, wie die Wissenschaftshistorikerin Christina Brandt herausstellt, »auf die Gesamtheit sinnstiftender, Symbole produzierender Praktiken […].« 39 Der Gegenstandsbereich der Kulturphilosophie ist damit ähnlich wie jener der Kulturwissenschaften: Eine endliche vom Menschen gemachte Welt, die als »Objektivation [des] sinnerzeugenden Geistes« verstanden werden kann. 40 Kultur als Sammelsurium von Objekten, Diskursen, Wissen, Techniken, Disziplinen, Christiane Frey, Begriffsgeschichte(n). Zur Karriere und Neuformierung eines neuerdings kulturwissenschaftlichen Ansatzes, http://www.iaslonline.lmu.de/index. php?vorgang_id=1840 (04. 10. 2017). 36 Ralf Konersmann, Kulturphilosophie. Zur Einführung, Hamburg 2003, 2. vollst. überarb. Auflage 2010; Steenblock, Wozu Kultur?, http://www5.rz.ruhr-uni-bochum. de:8629/philosophy/didaktik_kultur/ (11. 02. 2019). 37 Konersmann, Kulturphilosophie, a. a. O., S. 8. 38 Ebd., S. 11. 39 Brandt, Kulturwissenschaften und Wissenschaftsgeschichte, a. a. O., S. 95. 40 Vgl. Volker Steenblock, Kontakt Kulturphilosophie: http://www.ruhr-uni-bochum. de/philosophy/didaktik_kultur/kontakt.html.de, sowie Selbstdarstellung im »Netzwerk Kulturphilosophie« unter: http://www.nkph.uni-kiel.de/volker-steenblock (11. 02. 2019). 35
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Macht usw. ist somit nicht ablösbar vom Menschen. Die vermeintlich überholt und unzeitgemäß scheinende »Frage nach dem Menschen« muss daher die Frage der reflektierenden und philosophierenden Wissenschaften bleiben. Kein einseitiger Anthropozentrismus oder blinder Humanismus soll dabei propagiert werden, sondern historische wie systematische Untersuchungen von Menschenbildern, von Kulturtatsachen und -techniken, die wiederum mit bestimmten Bedeutung durch den Menschen aufgeladen wurden. 41 Diese Hinterfragung der Möglichkeitsbedingungen und Objektivierungen von »Geist« und Wissen muss allerdings ebenso ihre eigene Anthropologie offenzulegen versuchen. Auch wenn es der Kulturphilosophie und der Kulturwissenschaften nicht um den Menschen geht, wie es bei der philosophischen Anthropologie der Fall ist, haben beide Richtungen natürlich eine (teilweise unausgesprochene) Anthropologie. 42 Folgt man hier Steenblock und Konersmann weiter, so wäre die Aufgabe einer Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft verschiedene Semantiken von unreflektierten (auch eigenen) Perspektiven »freizulegen«. 43 Es muss abseits aller Differenzen, Streitigkeiten und Grabenkämpfe am Ende doch um die Frage nach dem Kulturwesen »Mensch« und seinen Erzeugnissen, Praktiken, Strukturen, Vorstellungen etc. gehen. In der vorliegenden Untersuchung sollte konzis und sehr schematisch herausgestellt werden, was eine kulturwissenschaftliche Herangehensweise leisten kann – jenseits eines »verführerisch bunten Wirbel[s]« und im Dialog mit einer Kulturphilosophie. Ohne Frage muss weiterhin Kritik geübt werden an einem zweifelhaften Jargon, an unzureichender Problemstellung, an unwissenschaftlichem Vorgehen mit rein eklektischen Quellen oder an hintergründigem machtpolitischem Taktieren. Die Erschütterung von »sichere[n] Gewißheiten« und die Offenheit der Zugriffe muss aber dabei nicht nur als Nachteil gesehen werden, sondern sollte gerade mit Blick auf eine gerechtfertigte Kritik als Chance einer immer wieder reflektierenden und sich Als Kulturtechniken versteht beispielsweise der Medienwissenschaftler Siegert »Praktiken und Verfahren der Erzeugung von Kultur, die an der Schnittstelle von Geistes- und Technikwissenschaften ansetzen und als Bedingung der Möglichkeit von Kultur überhaupt begriffen werden« (Bernhard Siegert, Kulturtechnik. In: Harun Maye / Leander Scholz (Hrsg.), Einführung in die Kulturwissenschaft, München 2011, S. 95–118, hier: S. 116). Zum Begriff genauer Brandt, Kulturwissenschaften und Wissenschaftsgeschichte, S. 101. 42 Konersmann, Kulturphilosophie, a. a. O., S. 35. 43 Ebd., S. 16. 41
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und andere befragenden Wissenschaft begriffen werden. Kein relativistischer Perspektivismus darf hierbei im Vordergrund stehen, der andere Zugänge zu Fragen und Problemen von vornherein verneint und disqualifiziert, sondern die Einsicht, dass unterschiedliche Problematisierungen unterschiedliche Herangehensweisen fordern. Die Weitung des wissenschaftlichen Blickes (international, interdisziplinär) kann dabei Demut im Umgang mit anderen wissenschaftlichen Zugängen lehren und ist ein geistreicher Schutz gegen einen, wie Gunter Scholz es nennt, »Fetischismus […] mit Blick auf ewige Probleme und Ideen«. 44 Die Diskurstheorie sollte stellvertretend für viele postmoderne / kulturwissenschaftliche Ansätze keine Ideologie, keine Weltanschauung sein, sondern ein Werkzeugkasten. Auch der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner verweist zurecht darauf, dass »Wahrheit […] keineswegs auf Macht reduziert werden [darf], doch dass sie bei ihrer historischen Durchsetzung oder Verhinderung auf erhellende Weise untersucht werden kann, wenn man sie in Relation zu Machtmechanismen setzt, haben wir nicht von Biologen oder Physikern gelernt, sondern von Michel Foucault. Dessen Position kann und sollte man kritisieren, doch wer sie – zumeist ohne Sachkenntnis – als postmodernen Irrationalismus diffamiert, trägt seinen Teil zur Entzivilisierung der Welt bei.« 45
Gunter Scholtz, Begriffsgeschichte als historische Philosophie und philosophische Historie. In: Ders. (Hrsg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000, S. 183–200, hier S. 190. 45 Michael Hagner, Trump offenbart den Nutzen der Geisteswissenschaften, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10. 02. 2017. 44
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V. Die Kulturphilosophie und der Zeitgeist des Naturalismus
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Geist als humane Lebensform – wie er in die Welt kam
1.
Der Umbruch im Weltbild
Die Frage, wie der Geist in die Welt kam, hat sich in aller Geschichte nicht gestellt. Geist lag der Welt als Substanz zugrunde. Von ihr her kam er auch dem Menschen zu. »Nicht war diese Welt am Anfang nicht; nicht war sie: Diese Welt war am Anfang, und sie war nicht: Es war nur der Geist, der existierte (Manas).« So heißt es in dem Shatapatha Brahmana, einem der zu den Veden gehörenden Brahmana. 1 Auch als die Religion, nicht zuletzt unter dem Einfluss der griechischen Antike, ihre Lehre reflexiv thematisierte, wurde die Geistigkeit im Grund der Welt, Gott, verortet. Bei Johannes heißt es lapidar: Gott ist Geist. 2 Eine Geschichte lang wurde die Geistigkeit dem Universum immanent eingebildet verstanden. Alles, was in der Welt war und geschah, wurde intentional und sinnhaft verstanden, um willen. Die Sonne scheint, damit wir es warm haben, Die Pflanzen wachsen, damit die Menschen zu essen haben, so haben wir es in unseren Untersuchungen zur historischen Entwicklung der Kognition wieder und wieder gehört. Und auch noch in Aristoteles’ Politik kann man lesen: Alles geschehe in der Welt um des Menschen willen. 3 In der Tat verortete auch die Philosophie, als sie begann, die Welt auf die ihr eigene Logik zu befragen, dessen Anfang in einem Grund, den sie als Geist verstand, Platon wie Aristoteles wollen so verstanden werden. 4 Alfred Hillebrandt (Hrsg.), Upanishaden, Düsseldorf 1979, S. 38. Johannes 4: 24. 3 Aristoteles, Politik, Hamburg 1958, 1256b. 4 Aristoteles dachte darin nicht anders als Platon. Aristoteles hat dieses Verständnis eindrücklich in der Metaphysik (Aristoteles, Metaphysik. In: Philosophische Schriften, Band 5, Darmstadt 1995) zum Ausdruck gebracht, Platon nicht weniger eindrücklich in der Ideenlehre, wie sie in der Politeia, (Platon, Politeia, Werke, Band IV und Briefe, Band VIII., herausgegeben von Gunther Eigler, Darmstadt 1971 ff.) und im 8. Brief, Werke, Band 5, zum Ausdruck kommt. 1 2
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Günter Dux
Wir leben in einer anderen Welt. 5 Wir leben in einem säkular verstandenen Universum. Und das weist eine Verfasstheit auf, in deren Prozessualität alle intentional-sinnhaften Geschehen eliminiert sind. In der säkular gewordenen Welt ist länger keine Geistigkeit und kein Absolutes zu denken möglich. In der säkular gewordenen Welt wird alles, was in der Welt ist und geschieht, als von einer systemisch verfassten Prozessualität bestimmt verstanden. Sie hat sich mit dem Universum gebildet und in ihrer Prozessualität bis heute behauptet. Diese Feststellung gilt auch für die Organisationsform des Lebens, die sich in der Evolution entwickelt hat, und es gilt auch für die Organisationsform des Menschen und dessen Geistigkeit. Die liegt zwar nicht schon im Universum, nicht in dessen physikalischem und auch nicht in dessen biotischem Stratum, sie hat sich vielmehr erst mit dem Menschen und durch den Menschen gebildet, aber eben doch als eine Organisationsform des Lebens. Wenn das so ist, und niemand, der sich über die astrophysikalische Theorie der Moderne informiert hat, kann daran zweifeln, dann stellt sich exakt diejenige Frage, um die es uns hier zu tun ist: Wie konnte sich dann Geist als Organisationsform des Menschen bilden? Wie kommt dann der Geist in die Welt? Denn daran kann ebenfalls kein Zweifel sein: Die Lebensform des Menschen ist eine geistige Lebensform. Wir führen das Leben in der Organisationsform des Handelns tatsächlich intentional, sinnhaft und reflexiv. Wir sehen uns dabei tatsächlich auf Denken angewiesen und wir organisieren Handeln und Denken tatsächlich im Medium von Sprache. Wodurch, das ist die Frage, ist die Geistigkeit in ihrer tripartiten Form von Handeln, Denken und Sprache möglich geworden? Wenn man sich dieser Frage verschreibt, kann es geschehen, dass man schlaflose Nächte verbringt, um eine Antwort zu finden. Die Antwort, die ich im Folgenden zu geben suche, ist ein Vorschlag, für den ich meine, Gründe benennen zu können, die mir zwingend erscheinen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Grundgedanken der nachfolgenden Erörterung finden sich in ausgearbeiteter Form in: Günter Dux, Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform. Gesammelte Schriften Band 1, Wiesbaden 2017.
5
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Geist als humane Lebensform – wie er in die Welt kam
2.
Die anthropologische Konstellation
Wenn man darüber, was das säkulare Verständnis des Universums meint, einigermaßen aufgeklärt ist, kann man eine ganze Reihe von Fragen haben, die sich auf das Verständnis der Evolution des Lebens richten, es ist jedoch kaum möglich, die Evolution überhaupt in Frage zu stellen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, das verfügbare Wissen nicht recht zur Kenntnis genommen zu haben. Wenn man aber die Evolution zum Menschen in Rechnung stellen und, mehr noch, von ihr ausgehen muss, dann kann nicht zweifelhaft sein, dass sich in ihr in der Spanne von ca. zwei Millionen Jahren vom Beginn des Pleistozäns bis zur Ausbildung der biologischen Lebensform des Homo sapiens auch dessen geistige Verfasstheit ausgebildet haben muss. Anders wäre nämlich der Homo sapiens nicht lebensfähig geworden, überdies wäre man gezwungen, für dessen Geistigkeit ein evolutives Pfingsten in Anspruch zu nehmen.
2.1. Die Evolution des Gehirns Philosophisch kann man sich allerlei Vorstellungen über das Verhältnis von Natur und Geist, Evolution und Enkulturation machen, 6 eine für das Verständnis der Genese der humanen Lebensform belastbare Grundlage gewinnt man nur, wenn man diejenige biologische Entwicklung zugrunde legt, die in der Phase der homininen Evolution zum Menschen zu beobachten ist: die Entwicklung des Gehirns und später der Sprechwerkzeuge des Mund-Rachenraumes. 7 Dabei kommt der Ausbildung des präfrontalen Cortex eine Schlüsselfunktion zu. 8 Denn in ihr sind so gut wie alle bedeutsamen neuronalen Prozesse der Lebensführung des Menschen verortet. Von der Großhirnrinde hat man deshalb sagen können, dass sie den Menschen zu dem mache, was er ist. 9 Wenn man der Ausbildung der humanen Lebensform die Evolution des Gehirns zugrunde legt, sieht man sich zunächst einmal an die Wolfgang Welsch, Immer nur Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, Berlin 2011. 7 Harry Jerrison, Evolution of Brain and Intelligence, New York 1973. 8 Norman Krasnegor, Lyon G. Reid, Patricia S. Goldman-Rakic, Development of the Prefrontal Cortex. Evolution, Neurobiology, and Behavior, Baltimore 1997. 9 Richard F. Thompson, Das Gehirn, Heidelberg 1993, S. 32. 6
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Günter Dux
ungemeine Zunahme der Nervenzellen (Neuronen) und der Möglichkeiten ihrer Verschaltung verwiesen. Sie muss als eine Bedingung der Möglichkeit verstanden werden, um die Lebensform des Homo sapiens auszubilden. Es sind etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) (1011), die das Gehirn ausmachen. Da ein einzelnes Neuron in der Lage ist, mehrere tausend Verknüpfungen mit anderen Neuronen herzustellen, weist das Gehirn die Möglichkeit von 1014, mithin 100 Billionen von Verbindungen zwischen den Neuronen auf. Man muss davon ausgehen, dass die enorme Zunahme der Zahl der Neuronen und ihrer Verschaltungen die Grundlage der Intelligenz des Menschen darstellt, mithin auch das, was ihre Vernunft ausmacht. 10 Gleichwohl erklärt die Zunahme der Zahl der Neuronen für sich genommen noch nicht die Lebensform des Menschen, auch nicht seine geistig-kulturelle Ausprägung. Die nämlich lässt sich nur klären, wenn man die konstitutionellen Veränderungen klärt, die mit der Evolution des Gehirns einhergegangen sind.
2.2. Die strukturbildenden Errungenschaften der anthropologischen Konstellation Drei strukturbildende Errungenschaften sind es, durch die sich die humane Lebensform mit der Evolution des Gehirns hat ausbilden können. Es sind diese: – – –
das Öffnen der Welt, das Schwinden der organischen Schaltkreise des Verhaltens, der konstruktive Aufbau der Lebenswelt.
Die drei Errungenschaften müssen als systemische Einheit verstanden werden. Eben weil sich auf ihrer Grundlage die geistig-kulturelle Lebensform des Menschen auszubilden vermochte, verstehe ich sie als »anthropologische Konstellation«. Erörtern wir, was mit ihr gemeint ist. Öffnen der Welt will sagen: Im Unterschied zu den Tieren, deren Lebensform weithin durch genetisch fixierte organische Schaltkreise – Instinkte – bestimmt wird, finden in der Evolution die Vorformen des Homo – nennen wir sie Homininen – in ihrer Lebenspraxis 10
Ebd., S. 20.
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Zugang zu einer zunehmend größeren, praktisch unbegrenzten Zahl von Objekten und Ereignissen. Überdies sehen sich die Homininen durch das Öffnen der Welt in die Lage versetzt, die Objekte und Ereignisse in ihrer inneren Verfasstheit aufzuschließen und dadurch der praktischen wie kognitiven Verwendung des Menschen zuzuführen. Überliefert sind Objekte und Ereignisse von Menschenaffen und Australopithecinen in genetisch bestimmten Formen, eingebunden in Formen des Verhaltens; mit dem Öffnen der Welt eröffnet sich die Möglichkeit, die Kompaktheit genetisch fixierter Formen in kategorial-relationale Bezüge aufzuschließen. Um das älteste Werkzeug, einen Faustkeil aus der Olduwai-Schlucht, als Beispiel anzuführen: – ich habe ihn in der Ausarbeitung der humanen Lebensform eine geradezu mythologische Deutung erfahren lassen – musste der Stein, um als Faustkeil zu dienen oder einen Abschlag als Messer zu ergeben, als von mehreren Seiten eingeschlossen, mithin relational verfasst wahrgenommen werden. Überdies musste er sich als ein Objekt darstellen, an dem ein erstes Mal in der Geschichte der Menschheit Substanz und Eigenschaft unterschieden wurden – Leibniz lässt grüßen! Das Öffnen der Welt und eröffnete in Evolution und Geschichte die Möglichkeit einer kategorial-relationalen Formierung, durch die die an allen Objekten aufscheinenden Möglichkeiten ihrer differenten Bestimmungen festgehalten werden. Die kategorial-relationalen Unterscheidungen müssen deshalb als ein Verfahren verstanden werden, durch das sich die Effizienz im Umgang mit der Welt steigern lässt. Mit ihr setzt sich ein Prozess in Gang, in dem der Mensch in das Innere der Welt einzudringen und deren Prozessualität zu erfassen vermag. Es ist deshalb sicher richtig, wenn man sagt, das Öffnen der Welt gehe mit einer Steigerung der information processing capacity des Menschen einher. 11 Die gern genutzte Formel ist gleichwohl unterkomplex. Ja, der Mensch verfügt im Vergleich zum Tier über eine größere information processing capacity. Doch die Pointe daran ist, dass er sie, wie wir sehen werden, durch den konstruktiven Aufbau einer Welt in kulturellen und das heißt geistig gebildeten Lebensformen gewonnen hat. Der konstruktive Prozess beginnt in der Evolution mit der Ausbildung einer Handlungsform und HandlungsKathleen R. Gibson, Tool use, language and social behavior in relatioship to information processing capacity. In: Gibson, Kathleen, R., Ingold Tom (Hrsg.), Tools, Language and Kognition in Human Evolution, Cambridge 1993, S. 251–269.
11
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Kausalität, er setzt sich diesseits des Übergangs in die Geschichte des Homo sapiens in der Ausbildung systemisch verschränkter Kausalitätsformen fort und führt schließlich zu Konstruktionen wie denen der Quarks und Strings in den atomaren physikalischen Theorien in der Moderne. Die zweite der mit der Evolution erworbenen Errungenschaften, das Schwinden der organischen Schaltkreise des Gehirns, ist das Korrelat zur Öffnung der Welt. Man kann sich den ungemeinen Zuwachs des Gehirns zu einer Größenordnung von hundert Milliarden Neuronen und hundert Billionen Möglichkeiten ihrer Verschaltungen ja nur vorstellen, wenn man damit das Schwinden der genetisch fix installierten Verschaltungen der Praxisformen der Lebensführung einhergehen sieht. Denn sonst hätte sich die Frage gestellt, was die Homininen mit dem Zuerwerb hätten anfangen sollen. Wir würden immer noch der hangelnden Lebensform und dem Trott der Schimpansen verhaftet sein. Schwinden der organischen Schaltkreise des Verhaltens als Folge der Evolution des Gehirns soll mithin heißen: Soweit die bis dahin bestimmenden Praxisformen der Lebensführung der Menschenaffen und Australopithecinen auf genetisch fixierten Verhaltensformen beruhten, die deren Organismus in die Welt einbanden, beginnen diese Verbindungen durch die Zunahme der Encephalisation obsolet zu werden. An ihre Stelle treten die mit der offenen Welt und dem Schwinden der organischen Schaltkreise konstruktiv geschaffenen Möglichkeiten, die Praxisformen der Lebensführung durch den Menschen selbst zu schaffen. In der systemischen Einheit der evolutiven Errungenschaften stellt deren konstruktive Umsetzung den eigentlichen Prozess dar, in dem sich die humane Lebensform ausbildet. In eben diesem Prozess hat sich die Grundlage der für die Ausbildung des Weltbildes der Neuzeit bahnbrechenden Einsicht, dass die Lebensformen des Menschen vom Menschen selbst geschaffene Lebensformen sind, – Vico hat sie 1725 und 1730 ein erstes Mal formuliert 12 – ausgebildet. Und in eben diesem Prozess hat sich mit der biophysischen auch die geistige Lebensform des Menschen ausgebildet. Die alles entscheidende Frage ist naturgemäß, wodurch ihre Ausbildung möglich wurde. Die Antwort wird sein: durch die konstruktive Ausbildung der Handlungsform. Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hamburg 2009.
12
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Mit der Ausbildung der Handlungsform wird die Grundverfassung der humanen Lebensform geschaffen; denn an den Erwerb der Handlungskompetenz heftet sich auch die Ausbildung von Denken und Sprache. Doch halten wir inne, bevor wir sie erörtern. Denn die Frage drängt sich auf: Woher wissen wir das alles? Schließlich hat den Prozess der Evolution niemand beobachtet, niemand hat die Öffnung der Welt und das Schwinden der organischen Schaltkreise notiert und niemand hat den konstruktiven Prozess festgehalten. Ich weiß darauf nur eine Antwort, indem ich, den von Kant genutzten Topos der »Bedingung der Möglichkeit« nutze: Hätte sich nicht in der Evolution die zuvor bestimmte tripartite anthropologische Konstellation gebildet, gäbe es uns nicht, nicht in den gemeinen Handlungsformen der Lebensführung, nicht in den geistigen Ausprägungen dieser Lebensform im Denken und in der Sprache. Ich räume jedoch bereitwillig ein, dass es einmal mehr schlaflose Nächte bereiten kann, um sich zu vergegenwärtigen, dass sich die durch die Evolution geschaffene anthropologische Konstellation als Bedingung der Möglichkeit der humanen Lebensform ausgebildet haben musste, wenn sich eben diese Lebensform des Menschen als geistige Lebensform sollte ausbilden können.
3.
Die Ausbildung der Handlungsform
Jedermann wird bestätigen können, dass die Handlungsform die Grundform der Lebensführung des Menschen ausmacht. Alles müssen Menschen in der Form des Handelns verrichten, die Zubereitung des Essens so gut wie das Spazierengehen im Wald. In der philosophischen Anthropologie ist die Annahme gut belegt – Plessner, Gehlen, Gewirth können gleicher Weise als Zeugen aufgerufen werden. 13
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. In: Gesammelte Schriften, Band 4, Frankfurt a. M. 1981; Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt am Main 1966; Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago / London 1978. – Die Form des Handelns kennt unterschiedliche Ausprägungen, Formen des Handelns sind es allemal.
13
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3.1. Die Überbrückung des Hiatus Die alles entscheidende Frage ist, wodurch der Erwerb der Handlungskompetenz möglich wurde. Zwei Überlegungen können die Frage klären. Die eine schließt unmittelbar an die Thematisierung der anthropologischen Konstellation an: Wenn wir davon ausgehen müssen, dass sich mit der Evolution des Gehirns die Welt geöffnet hat und die organischen Schaltkreise im Schwinden begriffen waren, dann muss das unumgänglich zu einem Hiatus zwischen Organismus und Außenwelt geführt haben. Mit dem Schwinden der organischen Schaltkreise muss der Organismus seiner vormaligen instinktiven Anbindung an die Außenwelt verlustig gegangen sein. So unumgänglich diese Konsequenz erscheint, es konnte bei ihr nicht sein Bewenden haben. Denn man muss es als ein die Organisationsformen des Lebens umfassendes Grundgesetz verstehen, dass jeder Organismus so in die Außenwelt eingebunden sein muss, dass dadurch dessen Überleben gesichert wird. Tatsächlich vermochte sich jede der Arten in der Evolution des Lebens nur dadurch zu bilden, dass die genetisch eingeleiteten Entwicklungen durch Lebensformen aufgefangen werden konnten, die sich erfolgreich in die Umwelt einzubringen vermochten. Wenn deshalb durch das Öffnen der Umwelt und das Schwinden der organischen Schaltkreise ein Hiatus zwischen Organismus und Außenwelt bewirkt wurde, der zur Folge hatte, dass der Organismus nicht mehr in die Außenwelt integriert war, dann war eine solche Konsequenz überhaupt nur möglich, weil sich mit der Evolution des Gehirns die Möglichkeit bot, eine konstruktive Anschlussform an die Außenwelt zu entwickeln, eben als Handlungsform. Die aber ließ sich nur als intentionale und reflexive Form ausbilden. Beide, Intentionalität und Reflexivität, machen ihre Geistigkeit aus. Wer der Argumentation bis hierher gefolgt ist, dem wird sich die Frage stellen, wovon wir ausgehen sollen: dass erst die genetischen Schaltkreise schwanden und sich dann an deren Stelle Handlungsformen zu entwickeln vermochten oder dass sich erst Handlungsformen entwickelten, die dann die instinktiven Fixierungen der organischen Schaltkreise obsolet werden ließen? Die eine Annahme ist so wenig möglich wie die andere. Wenn die genetisch fixierten organischen Schaltkreise geschwunden wären, ohne dass instantan Handlungsformen an ihre Stelle getreten wären, wären die Homininen lebensunfähig geworden und eingegangen. Wenn sich Handlungsformen 176 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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gebildet hätten, ohne dass die organischen Schaltkreise abgebaut worden wären, wäre nicht ersichtlich, wie sie neben den organischen Schaltkreisen (Instinkten) hätten umgesetzt werden können. Möglich kann nach allem einzig eines gewesen sein: In der langen Phase der Evolution müssen die instinktiven Fixierungen der organischen Schaltkreise langsam, aber in einem anhaltenden Prozess durch kulturelle Organisationsformen unterwandert worden sein. Mit ihm muss sich auch die Geistigkeit der humanen Lebensform ausgebildet haben, ebenfalls nur langsam. Wie man sich den Prozess, geistige Lebensformen auszubilden, vorzustellen hat, erhellt, wenn man klärt, wodurch es überhaupt möglich war, kulturelle Lebensformen als geistige Lebensformen auszubilden – wie nämlich?
3.2. Die Ausbildung der Handlungskompetenz in der Ontogenese Jedem ist aus der Anschauung der eigenen Gesellschaft bekannt, dass sich die konstruktiv geschaffenen Lebensformen als kulturelle Lebensformen vom Tag der Geburt an in der Ontogenese der nachkommenden Gattungsmitglieder auszubilden beginnen. Das war auch in der Evolution so. Denn die Veränderungen in der genetischen Anlage, sagen wir bei der Homininin Eva, kommen erst in der nächsten Generation, bei ihren Kindern, zum Tragen. Wenn sich bei denen als Folge der Evolution des Gehirns ein Schwinden der genetisch fixierten organischen Schaltkreise zeigt, dann sind sie es, die den Prozess der Enkulturation in Gang setzen können, aber auch in Gang setzen müssen. Sie also werden die ersten Handlungsformen ausbilden und im Verlauf ihrer Ontogenese in die von ihren Eltern überkommenen Lebensformen einfädeln. Möglich war das, weil sich bei denen ja ohnehin Schwundphänomene bemerkbar machten. Wie sich in der frühen Kindheit Handlungsformen auszubilden vermögen, lässt sich an den Kindern in unserer eigenen Gesellschaft beobachten. Darüber wissen wir eine Menge. Es machte keinen Sinn, sie hier erneut erörtern zu wollen. Im Kontext unserer Erörterung geht es mir lediglich darum eines zu tun: Einsichtig zu machen, dass sich in der Phase der Evolution der Prozess der Ausbildung kultureller Lebensformen als Handlungsformen dadurch in Gang zu setzen vermochte, dass sie 177 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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in der Ontogenese entwickelt wurden. Schlechterdings grundlegend für ihre Ausbildung ist, dass sie aus den Erfahrungen in der Interaktion mit der Außenwelt ausgebildet werden. In den Geistes- und Sozialwissenschaften stößt die Einsicht, dass die Geschichte sich aus den in der Kindheit entwickelten kulturellen Lebensformen in Bewegung gesetzt hat, auf nachhaltigen Widerstand. Mir will die Annahme unumgänglich erscheinen; kulturelle Lebensformen lassen sich nun einmal nur unter der Bedingung einer Evolution bilden, die in der Ontogenese der nachkommenden Gattungsmitglieder ankommt. Ohne den kulturellen Bildungsprozess aus der Ontogenese der nachgekommenen Gattungsmitglieder herauszuführen, würde überdies nicht verständlich, wie sich die konstruktiv entwickelten Lebensformen als geistige Lebensformen in die noch genetisch fixierten Verhaltensformen der Erwachsenen einzubringen vermocht und sie schließlich zu unterlaufen vermocht hätten.
4.
Zwischenbilanz
In der anthropologischen Literatur ist schier nicht auszumachen, wie sich in der Evolution die geistige Lebensform des Menschen aus dem ja ganz ungeistigen Stratum des Universums heraus entwickelt haben könnte. Tatsächlich war es nach allem, was wir erörtert haben, ein faszinierender Prozess. Ich will hier den Bildungsprozess der geistigen Lebensformen in drei Sätzen zu rekapitulieren suchen: – Mit der anthropologischen Konstellation, dem Öffnen der Welt und dem Schwinden der organischen Schaltkreise des Verhaltens, bildet sich zwischen Organismus und Welt ein Hiatus. Hineingeboren in die Welt, befanden sich Organismus und Welt zwar aufeinander bezogen, der Organismus war aber nicht in der Welt vertäut. Die jedem Organismus eigene Lebensform, der Welt eingebunden zu sein, ließ den Organismus lediglich auf die Welt hin ausgerichtet sein, aber eben nur als Tendenz. Konkretisiert werden konnte die Tendenz nur dadurch, dass sie an der Welt dingfest gemacht wurde. Exakt dadurch formiert sich Handeln. Im Handeln werden Organismus und Welt verbunden. Das Handeln richtet sich intentional auf die Welt, um ihr den Organismus zu verbinden. Dabei ist sich der Organismus im Handeln seines Handelns bewusst. Anders gelänge es ihm nicht, sich der Welt einzupassen und 178 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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sein Handeln entsprechend zu lenken. Handeln kann sich mithin nur als reflexiver Prozess formieren. Exakt diese beiden Momente am Handeln, Intentionalität und Reflexivität sind es, die die Geistigkeit des Handelns ausmachen. Sie sind medial verfasste Momente, liegen im Bewusstsein und wirken von ihm aus in die Welt hinein. – Einpassen lassen sich Intentionalität und Reflexivität dem ja in der Evolution prinzipiell noch instinktiv verorteten Verhalten der Erwachsenen, weil sie unter dem Schwinden der organischen Schaltkreise des Verhaltens dessen Steuerungsfähigkeit erhöhen. Ausgebildet wird das Handeln, wie wir gesehen haben, in der Ontogenese der nachkommenden Gattungsmitglieder, in ihr setzt sich die Ausbildung kultureller, geistiger Lebensformen in Gang, um sich dann in die Erwachsenenwelt einzubinden. Die Folge ist, dass die lange Phase der Evolution von einer Gemengelage von tradierten, noch genetisch bestimmten Verhaltensformen und kulturell geschaffenen Handlungsformen bestimmt wird, in der die kulturell geschaffenen Handlungsformen schließlich die Oberhand gewinnen. Mit der biophysischen Ausbildung des Homo sapiens vor 200.000 bis 150.000 Jahren formiert sich zwischen Evolution und Geschichte eine virtuelle Grenzlinie. Mit ihr ist ein Bildungsstand der Lebensformen der Homines sapientes erreicht, auf dem so gut wie alle Lebensformen konstruktiv als kulturelle Lebensformen ausgebildet werden. Mit eben dieser umfassenden konstruktiven Kompetenz zu einer kulturellen Form der Lebensführung ist der Mensch in die Geschichte eingetreten. Die knappe Zwischenbilanz macht noch einmal deutlich: Die Menschwerdung des Menschen wurde vom Erwerb der Handlungskompetenz bewirkt, aber natürlich – ohne Denken, der geistigsten der geistigen Lebensform des Menschen, wäre sie so wenig möglich gewesen wie ohne die Ausbildung der Sprache.
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5.
Denken
Bereits der Erwerb der Handlungsform hat gezeigt, dass sich die kulturelle Lebensform nur medial, im Bewusstsein, auszubilden vermochte. Ob die Welt mit den Gedanken über sie auch tatsächlich erreicht wird, lässt sich einzig in der Praxis des Handelns überprüfen. Denken zielt, wenn es darum geht, Wissen von der Welt zu gewinnen, darauf ab, den Zugang zur Welt in den kategorial-relationalen Bezügen der Begrifflichkeit so zu bestimmen, dass sich auf deren Wahrheit die Probe an ihr machen lässt. Wie ist das möglich? In den letzten Jahrzehnten hat sich unter dem Label eines Radikalen Konstruktivismus eine philosophische Erkenntnistheorie ausgebildet, die sich damit zufrieden gibt, Denkformen und Denkinhalte des Menschen als konstruktiv geschaffene Formen zu verstehen. 14 Dass wir es mit Konstrukten zu tun haben, ist nicht zweifelhaft. Die Konstruktivität der humanen Lebensform will jedoch richtig verstanden werden. Anthropologisch stellt sie, wie ich deutlich zu machen gesucht habe, eine von drei Errungenschaften der anthropologischen Konstellation dar. Wenn man mithin fragt, weshalb es sie gibt, so sieht man sich an die als Folge der Evolution des Gehirns ausgebildete anthropologische Konstellation verwiesen. Sie stellt noch nicht den Geist dar, sie stellt jedoch eine der Bedingungen dar, unter denen sich die geistige Lebensform zu bilden vermocht hat. Denn Bedingungen setzen sich ins Resultat um. Der Umstand, dass die Konstruktivität an die anthropologische Konstellation gebunden ist, zeitigt zwei für die Geistigkeit der humanen Lebensform bedeutsame Konsequenzen: Die eine besteht darin, dass der Geist als Folge der Offenheit der Welt an sich grenzenlos erscheint. Grenzen werden ihm erst dadurch gesetzt, dass er sich auf das Universum richtet und es in seinen Ausprägungen zu erfassen sucht, die Lebensform des Menschen eingeschlossen. Ich lasse mich hinreißen zu sagen: Geist an sich gibt es gar nicht. Er stellt sich immer erst in einem Erwerbsprozess von Wissen dar, durch das er sich bildet. Die zweite Konsequenz ist nicht weniger grundlegend für das Verständnis der humanen Lebensform: Wenn man die KonstruktiviFür viele: Ernst von Glasersfeld, Der Radikale Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt a. M. 1996.
14
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tät der humanen Lebensform durch die anthropologische Konstellation bedingt versteht, will es schlicht unsinnig erscheinen, das Wissen, in das sich die Konstruktivität umsetzt, gleichsam im Blindflug über die Erde ausgebildet zu sehen. Bereits der Bildungsprozess der Konstrukte in der Ontogenese zeigt, dass sie sich aus der Interaktion mit einer immer schon vorgegebenen Welt formieren. Die Konstrukte sind von allem Anfang an sachhaltige Konstrukte. In sie gehen die Erfahrungen mit der Umwelt ein. In ihnen sind deshalb auch die bis dahin möglich gewordenen Überprüfungen im Handeln festgehalten worden. Es ist dieses Verständnis, das sich in seinen Weiterungen am Beginn der Neuzeit abzeichnet. Durch den Umbruch im Weltbild verschiebt sich das Denken im Ausgang von einem Absoluten – dem Sein – zu dem, was Menschen vermöge ihres konstruktiven Vermögens im Umgang mit der Welt als Wissen gewinnen. Dabei formiert sich als Strategie des Erkennens, als Wissen so festhalten zu wollen, wie es sich aus den Erfahrungen im Umgang mit der Welt gebildet hat. 15 Just auf dieser Strategie sollte die Bedeutsamkeit beruhen, die in den folgenden Jahrhunderten das Experiment für die Naturwissenschaft gewann. Der Radikale Konstruktivismus, und in eins mit ihm die ihm affine Theorie Luhmanns, hat sich redliche Mühe gegeben, das Experiment für die moderne Theorie als illusorisch zu verstehen. 16 Hinter das Konstrukt soll nicht zurückgegangen werden können. 17 Sinn macht das nicht. Die Aktualität der Bedeutsamkeit des Experiments lässt sich kaum eindrücklicher dokumentieren als durch das vor zwei Jahren im »Cern« angestellte Experiment, das theoretisch von Higgs postulierte und nach ihm benannte atomare Teilchen im Experiment finden zu wollen. Es wurde gefunden. Die Spitze erfährt die Bindung, die in der Neuzeit zwischen dem Experiment und dem Naturverständnis hergestellt wurde, durch die Feststellung Werner Heisenbergs, als Natur könne überhaupt nur
So bereits bei Francis Bacon, Neues Organ der Wissenschaft (1620), Darmstadt 1990; dann aber vor allem bei Giambattista Vico, in der sciencia nova von 1730 (a. a. O.). 16 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990. 17 Niklas Luhmann sieht sich vor allem durch eine Studie bestätigt, die Karin Knorr Cetina in einem amerikanischen Forschungslabor in den 70er Jahren angestellt hat: Die Fabrikation von Erkenntnis, Frankfurt am Main 2002. Die Studie ist weit davon entfernt, das Theorem zu tragen. 15
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verstanden werden, was sich im Experiment als Natur beobachten lasse. 18 Worum es mir bei der Aufklärung des Bildungsprozesses der humanen Lebensform als einer geistigen Lebensform zu tun ist, ist deutlich geworden: Mit der anthropologischen Konstellation sieht sich der Mensch darauf verwiesen, Wissen von der Welt dadurch zu gewinnen, dass er sich im Denken der in der Welt vorgefundenen Prozessualität vergewissert und ihrer bemächtigt. Das war unter den Bedingungen, unter denen der Mensch in die Geschichte eintrat, nicht anders als dadurch möglich, dass er das Geschehen in der Welt subjektivischen Mächten zuschrieb und am Grunde eines Absoluten verortete. Durch die Geschichte hat sich die Menschheit an diese Struktur des Weltverständnisses gebunden gesehen. Die historisch gebildeten Strukturen haben sich jedoch als entwicklungsfähig und reversibel erwiesen. Die naturwissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts hatte einen langen historischen Vorlauf. Sie wäre ohne die antike Erkenntniskritik und das dabei im Horizont des Bewusstseins sichtbar werdende Verständnis, dass Wissensformen und Wissensinhalte auf den Menschen konvergierten, nicht möglich gewesen. Bereits im Mittelalter zielte das Interesse an einer Mechanisierung der Kraftquellen darauf ab, der physikalischen Prozessualität des Universums eine Gesetzesform zu unterlegen und durch sie dem Universum eine durch sich selbst stabilisierte Dauer zu sichern. 19 Die Bewegungsgesetze Newtons in dem epochemachenden Werk von 1687: Principia mathematica 20, sicherten der in sich bewegten Materie diese Stabilität in der unbestimmbaren Vielfalt der Bewegungsfolgen zu. Eben das ist der Inhalt des Trägheitsgesetzes: Jede Bewegung dauert, bis sie durch eine entgegengesetzte Bewegung daran gehindert wird. Das Trägheitsgesetz ist der Garant einer Dauer und Stabilität, die dem Universum in einer zuständlich verstandenen Dynamik immanent ist. Es ist gar nicht zu übersehen, bereits die Bewegungsgesetze der Principia mathematica Newtons führten zu einer Welt, die in sich autonom verstanden werden musste, säkular. Heute stellt sich die
Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart 1979. Zu den Werken von Buridanus und Oresme siehe Günter Dux, Historisch-genetische Theorie der Kultur, S. 16 ff. (G 2). 20 Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica / Mathematische Prinzipien der Naturlehre, Darmstadt 1687 / 1963. 18 19
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dem Universum eigene Prozessualität in der Theorie der Quantenphysik dar. Mit ihr ist die Welt definitiv zu einer säkular verstandenen Welt geworden. 21 Säkular gewordene Welt soll heißen: Nichts ist in ihr, so haben wir das säkulare Verständnis der Welt charakterisiert, das nicht dem systemischen Gefüge der der Welt immanenten Prozessualität verhaftet wäre.
6.
Sprache
Die Ausbildung der humanen Lebensform als geistige Lebensform wäre ohne die Ausbildung der Sprache nicht möglich geworden. Sprache ist ein Konstrukt des Menschen, das sich unabdingbar mit seiner geistigen Lebensform gebildet hat. Darüber ist man sich in der Wissenschaft einig. Wie ihre Ausbildung möglich wurde, ist jedoch ein Geheimnis, das seit mehr als einem Jahrhundert Generationen von Geisteswissenschaftlern aufzudecken bemüht waren, allesamt spekulativ, allesamt vergebens. Das Problem ist ein erkenntniskritisches Problem so gut wie ein methodologisches: Die Frage ist, auf welchem Wege man einen Zugang zum Verständnis der Sprache zu gewinnen vermag.
6.1. Der Ursprung im Absoluten des Geistes Philosophisch nahm der Versuch, in der frühen Neuzeit die Genese der Sprache aufzuklären, seinen Ausgang wie beim Denken bei einem Absoluten als Geist. Wilhelm von Humboldt geht es in seiner Arbeit »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts« 22 darum, die Welt in ihrer Totalität als eine Entwicklung geistiger Kräfte zu verstehen, die sich aus einem Absoluten des Geistes herausgesetzt Dazu Günter Dux, Die Religion in einer säkular verstandenen Welt. Gesammelte Schriften Band 6, Wiesbaden 2017, S. 251 ff. 22 Eingehend zu Humboldts Sprachphilosophie (Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Schriften zur Sprachphilosophie, Band III, herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1963): Günter Dux, Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform. Gesammelte Schriften Band 1, Wiesbaden 2017, S. 227 ff. (B 1). 21
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haben. Sie haben sich der humanen Daseinsform eingebildet und entwickeln sich historisch mit der menschlichen Lebensform fort. Humboldt ist darin dem Hegel’schen Verständnis nahe, dass er der Sprache als Idee eigen versteht, in der Geschichte den menschlichen Geist offenbar werden zu lassen. Exakt das macht die in der Literatur so schwer verständliche »innere Sprachform« aus, die Humboldt in der Arbeit »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues« entwickelt. Wenn man die Humboldt’sche Sprachtheorie im Absoluten des Geistes verortet sieht, hat man den historischen Wendepunkt gleich mit im Blick. Ich habe ihn bereits genannt: Er liegt in der Wende von einer einem Absoluten verhafteten Welt zu einer säkular gewordenen Welt. In der muss, so haben wir gesagt, alles von der dem Universum immanenten Prozessualität bewirkt verstanden werden. Seither ist es nicht länger denkbar, Sprache in der Totalität eines Absoluten zu verorten und aus ihr hervorgegangen zu verstehen. Sprachwissenschaftler haben deshalb versucht, den Bildungsprozess der Sprache aus dem Erwerbsprozess zu rekonstruieren, durch den Kinder in der Ontogenese Sprache erwerben. Der Erwerbsprozess selbst ist dabei in überaus gründlichen Untersuchungen erfasst worden, 23 an dem Versuch der Rekonstruktion der Genese ist die Sprachwissenschaft jedoch gescheitert. Das gilt insbesondere für die über Jahrzehnte betriebenen Versuche der Rekonstruktion der Sprache durch Chomsky. 24 Der Sündenfall Chomsky liegt schon darin, dass er bemüht war, die Genese der Sprache der Natur einzuschreiben. In diesem Bemühen hat er der Natur ungemein spekulative Theorien eingeschrieben, vergeblich. Heute scheinen auch Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft auf breiter Front zu der Einsicht zu kommen, dass der Naturalismus der Chomsky’schen Theorie die Genese der Sprache nicht aufzuklären vermag. 25 Ich nenne im gegenwärtigen Kontext lediglich zwei Arbeiten: Dan I. Slobin, Kognitive Voraussetzungen der Sprachentwicklung. In: Helen Leuninger / Max H. Miller / Frank Müller (Hrsg.), Linguistik und Psychologie, Band 2, S. 122–165, Frankfurt am Main 1974, hier S. 122 ff., sowie Roger Brown, A First Language. The Early Stages, Cambridge 1973. 24 Noam Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt am Main 1968. Ders., The minimalist programm Chomsky, Massachusetts 1995. 25 Zur Kritik an Chomsky vgl. meine eingehende Erörterung in Günter Dux, Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform. Gesammelte Schriften Band 1, Wiesbaden 2017, S. 236–254. 23
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Geist als humane Lebensform – wie er in die Welt kam
In einem aufgeklärten Verständnis der humanen Lebensform kann die Genese der Sprache nur dann eine Aufklärung finden, wenn man davon ausgeht, dass Sprache wie auch die anderen Formen der Geistigkeit, Handeln und Denken, nur aus Bedingungen heraus entstanden sein kann, die sich im Universum gebildet haben. Die Pointe ihres Bildungsprozesses ist allerdings, dass sie nicht schon selbst im Universum gelegen sein kann, das kennt nämlich keine Geistigkeit, sie muss als erst durch den Menschen konstruktiv geschaffen verstanden werden. Die Geistigkeit der menschlichen Lebensform bildet sich erst im Prozess mit dem Erwerb der Handlungskompetenz. Das gilt auch für die Genese der Sprache. Wir haben die Grundlage ihres Bildungsprozesses in einer anthropologischen Konstellation gesehen, die den Menschen dazu führen musste, den mit der Evolution des Gehirns entstandenen Hiatus zwischen Organismus und Welt durch die Ausbildung einer Handlungskompetenz zu überwinden. Es war der Bildungsprozess der Handlungskompetenz, der den Bildungsprozess des Denkens wie der Sprache mit sich führte. So grenzenlos spekulativ sich die zahlreichen Theorien über die Genese der Sprache ausnehmen, so einfach will mir ihre Erklärung erscheinen, wenn man sie an den Erwerb der Handlungsform gebunden sieht. Denn der geht mit zwei Bestimmungen einher: mit einer ausdifferenzierten Bestimmung des Tuns: pflanzen, kochen, rufen, und mit einer ebenso ausdifferenzierten Bestimmung des Objekts, auf die hin das Tun sich richtet. Im Verlauf der Evolution fanden die, die anfingen zu sprechen, keine dieser Bestimmungen vor. Jedes Tun musste, um als Handlungsform dauerhafte Bedeutung zu gewinnen, erst objektiviert und als Form festgehalten werden. Und objektiviert und festgehalten werden musste es vor allem, wenn es anderen vermittelt, also kommuniziert werden sollte. Das gleiche gilt für die Objekte, auf die hin sich das Tun richtet: die Erde, der Stein, der Garten. In ihrer elementarsten Bedeutung, noch vor jeder Reflexion über so komplexe und komplizierte Gebilde wie eine Grammatik, wird das Konstrukt der Sprache dadurch bestimmt, dass Tätigkeits- und Ereignisformen wie Objektformen Lautformen angeheftet worden sind. Sprachforscher werden aufstöhnen, ein so komplexes wie subtiles Gebilde wie Sprache auf so elementare Formen heruntergebracht zu sehen wie die Verbindung von Handlungsformen und Objektformen mit Lautformen. Es will mir jedoch keinen Sinn machen, noch weitere hundert Jahre fortzufahren das fertige Gebilde Sprache zu analysieren, um spekulativ zu verstehen zu suchen, wie sich Sprache 185 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Günter Dux
auszubilden vermochte. Man muss den Bildungsprozess der Sprache aus den Vorgaben rekonstruieren, unter denen er in der Evolution möglich wurde. Nicht der geringste Vorteil ist jedoch, dass mit einer solchen Vorgehensweise auch der Grundprozess der Differenzierung der Lautformen bestimmt wird. Lautformen werden von den Handlungs- und Objektformen verlangt und heften sich ihnen an. Man muss, das habe ich deutlich zu machen gesucht, dem Bildungsprozess der Sprache den Bildungsprozess der Handlungsform unterlegen. Dann verschafft man sich neben dem Bildungsprozess der Lautformen einen nicht minder elementaren Zugang zum Bildungsprozess des Satzes, von dem doch auch Sprachwissenschaftler sagen, dass er den Kern der Sprache ausmache. Denn wiederum gilt es, festzustellen, dass es die Handlungsform ist, die evolutiv nach der Satzform verlangt und ihre Ausbildung bewirkt hat. Sprache mag man philosophisch verstehen, wie immer man es will, wenn man ihren Bildungsprozess historisch-genetisch der Handlungsform verbunden hält, muss sie für eine Tätigkeit wie die, dass ein Mann ein Boot zu Wasser bringt, die Aussageform eines Satzes schaffen. Das muss nicht in der genial-einfachen Form einer indogermanischen Sprache geschehen, in der die Aussage »Der Mann bringt das Boot zu Wasser« dem Handlungsverlauf nahezu synchron überschrieben ist. Die Sprache ist ein selbständiges Konstrukt. Die sprachliche Ausdrucksform des Tuns könnte durchaus in einer Weise geschehen, dass das Subjekt des Geschehens keinen Ausdruck findet oder das Geschehen überhaupt in einem einzigen Wort zusammengefasst würde. Dann würde immer noch die gedankliche Form des Geschehens mitlaufen und den Sinn der sprachlichen Äußerung bestimmen.
7.
Zum Schluss
Es wird Zeit, dass ich die Überlegungen hier abbreche. Ich tue das, indem ich noch eine Frage aufwerfe: Was ist im Verlauf unserer Reflexionen mit dem Geist geschehen? Er wurde, haben wir am Anfang gesagt, in der Geschichte der Menschheit als ein Absolutes verstanden, das der Welt als Substanz zugrunde lag. Und als was stellt er sich dar, nachdem wir ihn in seinem Bildungsprozess und seiner historischen Entwicklung als Konstrukt des Menschen verstanden haben? Mit ihm ist ein Erwerb von Wissen im Verständnis des Universums einhergegangen, das Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann. 186 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Geist als humane Lebensform – wie er in die Welt kam
Mit ihm ist dem Menschen auch möglich geworden, sich selbst in seiner Lebensform zu verstehen. Nichts hindert uns, wenn man einmal den Bildungsprozess der humanen Lebensform verstanden hat, wie ich ihn zuvor zu skizzieren gesucht habe, ihr nicht endende Bedeutungsgehalte zuzuschreiben. Die Literatur bietet dafür eine reiche Anschauung. Den Geist selbst gibt es in seiner vormaligen singulären Substanzialität nicht länger. Er ist, mit Plessner zu sprechen, bodenlos geworden. 26 Er existiert nur noch in dem Wissen, das der Mensch über das Universum, die Sozialwelt und sich selbst gewonnen hat. Seine Manifestation findet er in den Lebens- und Ausdrucksformen, die sich der Mensch als Subjekt durch ihn hat schaffen können.
Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur, Ges. Schriften Band 5, Frankfurt am Main 1982, S. 135–234.
26
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Gunter Scholtz
Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften 1
Vor nicht sehr langer Zeit dachte man in unserem Fach unter dem Begriff der Philosophie des Geistes vor allem an die Philosophie Hegels. Heute aber versteht man darunter überall die im angelsächsischen Bereich entstandene Philosophy of Mind, die sich zusammen mit der Hirnforschung, den Kognitionswissenschaften und der empirischen Psychologie ausgebildet hat. 2 Hegels Philosophie des Geistes und überhaupt die nachkantische Philosophie des sog. deutschen Idealismus hatten großen Einfluss auf die Geisteswissenschaften, und diese Disziplinen, die man natürlich auch Kultur- und Sozialwissenschaften oder anders nennen kann, profitierten von der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Philosophie, auch wenn sie dann eigene Wege gingen. Das war möglich, weil jene Philosophie des Geistes von vornherein die gesamte menschliche Welt in den Blick nahm. Dazu hatte die historische Situation herausgefordert. Durch den Kantischen Kritizismus war die Schulphilosophie an ihr Ende gelangt, durch die Französische RevoDieser Beitrag ist die leicht überarbeitete schriftliche Fassung eines Vortrages, den ich im November 2015 auf einer Tagung an der Universität in Urbino gehalten habe. Das Tagungsthema lautete La »Filosofia dello Spirito« oggi. Mit Zufriedenheit stellte ich fest, dass man in Italien unter dem Term »Philosophie des Geistes« auch heute keineswegs bloß an die Philosophy of Mind denkt. 2 Es gibt inzwischen mehrere Einführungen dazu. Thomas Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes, Bd. 1: Phänomenales Bewusstsein, Paderborn 2006. Bd. 2: Das Leib-Seele-Problem, a. a. O., 2007. Bd. 3: Intentionalität und mentale Repräsentation, a. a. O., 2010. – Ansgar Beckermann, Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Berlin / New York 2008 (mit ausführlicher Bibliographie). – Jasper Liptow, Philosophie des Geistes. Zur Einführung, Hamburg 2013. – Albert Newen, Philosophie des Geistes. Eine Einführung, München 2013. – Es gibt aber auch andere Konzeptionen, welche die Ergebnisse der Kognitionswissenschaften nur als eine bestimmte Perspektive betrachten. Siehe z. B.: Bernhard Irrgang, Gehirn und leiblicher Geist. Phänomenologisch-hermeneutische Philosophie des Geistes, Stuttgart 2007. 1
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Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
lution war das staatliche Feudalsystem ins Wanken geraten, und die Aufklärung hatte mit ihrer Kritik auch der Religion die Selbstverständlichkeit genommen. Da fast alle Konventionen brüchig geworden waren, musste die Philosophie in Auseinandersetzung mit der neuen Situation ihre Stellung zur Wirklichkeit neu zu begründen versuchen. Sie musste den historischen Wandel des philosophischen Denkens und den Wandel der sozialen und kulturellen Welt bedenken. Dadurch hatte sie sogleich eine weite Perspektive und konnte allen Disziplinen, die sich mit der menschlichen Welt befassten, Anregungen für die Orientierung geben. Das ist nun in der neuen Philosophie des Geistes, in der Philosophy of Mind, vollkommen anders. Ihre Basis wurde nicht durch philosophische Reflexion gewonnen, sondern ihr fundamentum inconcussum besteht in den Forschungsergebnissen der Kognitionswissenschaften und der Hirnphysiologie. Hatte die Philosophie seit Platon zumeist die Bedingungen der empirischen Wissenschaften und ihre Grenzen zu erhellen versucht, so akzeptiert diese neue Philosophie des Geistes die Ergebnisse der empirischen Forschung als unbestreitbare Wahrheiten, von denen man philosophisch ausgehen müsse. Das ist höchst merkwürdig auch deshalb, weil die kritische Wissenschaftsphilosophie dieses Verfahren gar nicht stützt und die historische Wissenschaftsforschung immer mehr die kulturellen Bedingungen und Beeinflussungen des empirischen Wissens aufdeckt. Die neuen Geistphilosophen schaffen diese historischen Forschungen, von denen besonders die Arbeit von Thomas S. Kuhn berühmt wurde, in der Regel mit dem Argument schnell beiseite, dass ja dadurch nur der context of discovery historisch aufgeweicht werde, nicht aber der context of justification. Das aber ist ein Irrtum. Andernfalls hätte Wolfgang Stegmüller wohl kaum über Kuhns Historismus sagen können, er sei »die größte existierende Herausforderung an die gegenwärtige Wissenschaftsphilosophie«. 3
1.
Der Charakter dieser Philosophie
Die Philosophy of Mind rechtfertigt ihr Vorgehen als »wissenschaftlichen Realismus« und begründet diesen mit ihrer schlichten vorkanWolfgang Stegmüller, Neue Wege der Wissenschaftsphilosophie, Berlin / Heidelberg 1980, S. 27.
3
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Gunter Scholtz
tischen Erkenntnistheorie. Sie besagt, dass sich in unserem Hirn »Repräsentationen« der wirklichen Dinge aufbauen. 4 Man glaubt also offensichtlich, zwischen den realen Dingen und unseren Erkenntnissen hin- und hergehen zu können, und ahnt nicht oder klammert bewusst aus, dass die sog. Realität ja auch erst durch unsere Erkenntnismöglichkeiten geformt wurde. Genauso naiv ist das Bemühen, das subjektive Denken und Fühlen durch empirisch bezeugte Hirnprozesse möglichst zu ersetzen. Schließlich könnte man sie nicht einmal ersetzen wollen, wenn man sie nie gehabt hätte. Aufgrund ihrer Basis – also im Kern der Hirnforschung – ist die Perspektive dieser Philosophy of Mind äußerst schmal. Man zögert sogar zu sagen, sie nehme lediglich das in Angriff, was bei Hegel die Sphäre des subjektiven Geistes ausfüllt, also Anthropologie und Psychologie. Diese geistige Enge – die man vermutlich als notwendige Spezialisierung versteht – zeigt sich schon an dem, was hier als ein »geistiges Phänomen« gilt. Ein Phänomen des Geistes ist nämlich nicht ein literarisches Kunstwerk oder eine wissenschaftliche Theorie, sondern als geistige Phänomene gelten innere Vorgänge wie Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, aber auch Verhaltensneigungen wie Hilfsbereitschaft und Aggressivität. Diese inneren Vorgänge, diese »mentalen Prozesse«, mit »Hirnzuständen« in Verbindung zu bringen, mit messbaren Aktivitäten von Hirnbereichen, ist die leitende Aufgabe, die sich diese Philosophie zumeist stellt. Und das Ziel ihrer Bemühung besteht in der Regel in dem Aufweis, dass in den Naturwissenschaften auch der Schlüssel zum Verständnis der geistigen Phänomene enthalten ist. Was sich bisher in ein physikalisches Weltbild noch nicht so recht einfügte, das Denken, Glauben, Fühlen, Wollen usw., soll eingepasst oder mit ihm zumindest vereinbar gemacht werden. Die Vorgehensweise erinnert an den Materialismus des 19. Jahrhunderts, an Karl Vogt, Ludwig Büchner und Jakob Moleschott, welche aus den Ergebnissen der Naturwissenschaften eine geschlossene Weltanschauung zu formten suchten. Mit diesem Materialismus wollten jene Autoren die durch Religion und alte Traditionen geprägte Gesellschaft reformieren. Der Naturalist Ernst Haeckel beanspruchte, mit seinem naturalistischen Monismus die Religion zu ersetzen und auch die Ethik und die Ästhetik mit naturwissenschaftlichem Verfahren neu zu begründen. Dieser Reformeifer ist der 4
Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes, Bd. 1, a. a. O., S. 22 f.
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Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
neuen Philosophy of Mind zumeist fremd – kein Wunder, da es ja in ihrem Sinn kaum noch etwas zu reformieren gibt, schließlich hat sich das naturwissenschaftliche Denken in Bereichen wie Erziehung, Ökonomie und Psychotherapie bereits weitgehend durchsetzt. Aber die Ausrichtung auf eine Weltanschauung blieb in der Philosophy of Mind insofern erhalten, als man sich allenthalben bemüht, die naturwissenschaftlichen Methoden als die einzig wissenschaftlichen zu behaupten und ein geschlossenes physikalisches Weltbild zu verteidigen. Dass dieses Bemühen im deutschen Sprachbereich sich unter dem Terminus »Philosophie des Geistes« etabliert hat, ist ein Kuriosum und irritierend. Denn während man mit dem Begriff des Geistes immer die Selbstreflexion verbunden hatte und folglich Tieren zwar Gefühle, aber keinen Geist zusprach, dürften die Ergebnisse der Philosophy of Mind zumeist auch für Primaten Geltung haben. Um ein konsistentes kausales Weltbild zu verteidigen, müssen natürlich alle Bedenken heruntergespielt und möglichst schnell unter den Teppich gekehrt werden. Der scharfsinnige Autor einer umfänglichen Einführung in diese Denkweise erläutert sie an dem Beispiel, dass man zum Gruß den Arm hebt. Die Kausalkette rekonstruierend, berichtet er uns von den Muskelbewegungen über die Nervenbahnen bis zur Gehirnrinde alles, was die Physiologie zu einer Armbewegung lehren kann. Dann fährt er fort: »Nach allem, was wir wissen, bricht die physiologische Kausalkette aber auch an dieser Stelle nicht ab. Vielmehr spricht alles dafür, dass auch das Feuern der Neuronen der motorischen Hirnrinde durch die Aktivität anderer Neuronenverbände und zum Schluss vielleicht zumindest teilweise durch die Aktivität bestimmter Rezeptorzellen verursacht wird.« 5 Es ist natürlich keine sehr erfreuliche Aussicht, dass sich eines Tages »vielleicht zumindest teilweise« das geschlossene physikalische Weltbild als richtig erweisen wird, denn wenn es nur teilweise richtig ist, ist es insgesamt falsch. Dass aber das Heben des Armes zum Gruß einer bestimmten Sitte folgt, z. B. im Dritten Reich streng normiert war und keineswegs von der gesamten Menschheit geteilt wird, kommt dem Verfasser jener Einführung gar nicht in den Sinn – und damit hat er uns auch schon in die Bedeutung der Philosophy of Mind für die Geistes- und Sozialwissenschaften hinlänglich eingeführt. John Searle beendete 1992 sein Buch über Die Wiederentdeckung des Beckermann, Analytische Einführung, a. a. O., S. 116 (Hervorhebung von mir, G. S.).
5
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Gunter Scholtz
Geistes mit dem Satz: »Wir müssen den sozialen Charakter des Geistes wiederentdecken.« 6
2.
Die Grundprobleme der Philosophy of Mind
Inzwischen hat sich ein Zitierkartell herausgebildet, das den Kreis der Themen und eine bestimmte Terminologie festgelegt hat. Zwar ist man sich noch nicht ganz einig, ob man einen ganz konsequenten Materialismus vertreten soll oder dem eigenen Denken doch noch ein bisschen Platz lassen muss, aber der Diskussionsrahmen liegt fest. Die Fragen und Probleme dieser Philosophie des Geistes sind zum Teil solche, die nur auf ihrem eigenen Boden entstehen konnten, aus ihrem Bemühen um eine eigene Dogmatik. Dazu gehört die Frage, wo die »räumlichen Grenzen des Geistes« sind. Da man sich den Geist leiblich und recht gegenständlich vorstellt, taucht hier die Frage auf, ob der Geist bei Haut und Haaren endet oder ob auch das Smartphone zum Geist hinzugehört, da es ja auch Informationen bietet. Einer der Diskutanten wählt einen Mittelweg und entscheidet sich dafür zu sagen, das Smartphone gehöre nur insofern zum Geist, als gezielt auf dem Gerät etwas abgespeichert werde. 7 Der Frage, ob dann nicht auch Zeitungen, Bibliotheken und Fernsehanstalten, ja auch Bahnhöfe, Finanzverwaltungen und Regierungen etc. zum Geist hinzugehören, da ja auch sie Informationen für mich bereithalten, die ich mir aneignen kann, geht man aber aus dem Weg und zwar offensichtlich deshalb, weil sie denn doch zu weit vom Zentrum des Ganzen, vom Gehirn, wegführen. Das ist ein Lehrstück. Man sieht, wie die Betrachtung des Geistes als eines Gegenstandes neben anderen Gegenständen zu Absurditäten führt. Es ist fast befreiend und erholsam, bei Hegel zu lesen, es sei das Wesen des Geistes, sich tätig in der äußeren Welt zu manifestieren. 8 Aber man nimmt in der Philosophy of Mind auch Probleme in Angriff, welche auch sonst das philosophische Nachdenken in Bewegung gesetzt haben. Dazu gehören die Frage nach dem Bewusst-
John S. Searle, The Rediscovery of the Mind (1992). Deutsch: Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt a. M. 1993, S. 277. 7 Newen, Philosophie des Geistes, a. a. O., 53. 8 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 383. Akad.-Ausg. Bd. 20, S. 382. 6
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Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
sein, das Problem der Freiheit und das Verhältnis von Geist und Leib, zwischen mentalen und physischen Phänomenen. Besonders die Phänomenologie Husserls hatte das Bewusstsein als stets »intentionales Bewusstsein« interpretiert, das sich auf etwas richtet. Aber die Philosophy of Mind folgt ihm darin nicht. Sie weiß zwar, dass geistige Phänomene oft auf etwas gerichtet sind, wie z. B. an der Liebe deutlich sei. Aber da sich bewusste Intentionen nicht gut mit der Auffassung einer durchgehenden Naturgesetzlichkeit vereinbaren lassen, hat man sich die »Naturalisierung der Intentionalität« zur Aufgabe gemacht. 9 Das kann nur darauf hinauslaufen, hinter allen Intentionen – also auch hinter der Intention der Philosophy of Mind – nur unbewusste Naturkräfte am Werk zu sehen. Natürlich sucht man die Quelle des Bewusstseins im Gehirn und ist überzeugt, dass die empirischen Wissenschaften eines Tages ein »neuronales Korrelat« finden und das »Rätsel des Bewusstseins« lösen werden. 10 Aber wäre durch den Aufweis eines solchen Korrelats wirklich sehr viel für das Verständnis des Bewusstseins gewonnen? Gelangte man dann zu einem besseren Verständnis der eigenen Gedankenarbeit? Am bekanntesten wurde, dass von Seiten der Hirnforschung die menschliche Freiheit in Zweifel gezogen wurde. Auch hier ist die neue Geistphilosophie noch zu keinem ganz einhelligen Resultat gelangt, nur die Tendenz liegt bereits fest. Die Vorreiter erklären, die Annahme der Freiheit sei durch bestimmte Experimente bereits widerlegt; die Vorsichtigen und Zögerlichen behaupten, diese Widerlegung werde sicherlich bald zweifelsfrei gelingen; und nur die kritischen Köpfe sagen, dass aus den entsprechenden Experimenten sich gar nichts für die Freiheit ableiten lasse. Gewinnt gegenwärtig diese dritte Auffassung wachsend an Zuspruch, so zielt die Haupttendenz der Philosophy of Mind doch auf die Abschaffung der Freiheit. Der Grund: Man meint, im Zeichen der Aufklärung und der Wissenschaft dürfe es nur Naturgesetze geben, die Freiheit aber bringe etwas Irrationales in die Welt und das störe. Man staunt wieder, wie die lange und intensive philosophische Freiheitsdiskussion schlicht ignoriert wird. Kant hatte die gesamte Philosophie revolutioniert, um die Vereinbarkeit von Naturnotwendigkeit und Freiheit denkbar zu machen. Aber nicht einmal der Name Kants taucht in der Philosophy of Mind noch auf, und natürlich wird erst recht nicht ein Philosoph wie Hegel 9 10
Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes, a. a. O., S. 21. Siehe z. B. Newen, Philosophie des Geistes, a. a. O., S. 93 f.
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Gunter Scholtz
erwähnt, der solche Entgegensetzungen des Verstandes wie Notwendigkeit und Freiheit auf einer anderen Ebene der Vernunft aufzulösen bemüht war. Für Kant und Hegel war der menschliche Geist ohne Freiheit gar nicht denkbar. Und deshalb konnten sie jeweils der praktischen Philosophie eine zentrale Stelle einräumen. An dergleichen aber zeigt die neue Philosophy of Mind kein Interesse. Wichtig ist ihr allein das physikalische Weltbild. Und vielleicht passt gerade dieses ja auch sehr gut zu einer ausweglosen Weltlage. Wie beruhigend zu erfahren, dass alles naturgesetzlich ganz von allein abläuft. Man kann und braucht nicht mehr Verantwortungen zu übernehmen und zu handeln, ja nicht einmal Stellung zu beziehen. Die Freiheitsproblematik ist natürlich eingegliedert in die Hauptfrage der neuen Philosophie des Geistes, und die gilt dem Verhältnis von mentalen und physischen Phänomenen, von Geist und Hirn. Dazwischen sollen die Kausalverhältnisse aufgespürt werden. Wir werden hier auf verschlungenen Wegen belehrt, dass ein mentales, also ein nicht-physisches Phänomen – z. B. ein Gedanke – unmöglich auf die physische Natur kausal einwirken könne, was aber bei jeder Handlung geschehe. Deshalb müsse man auch die mentalen Phänomene, also z. B. die Gedanken, als physische Phänomene begreifen, die der Naturgesetzlichkeit unterliegen. Ich habe nicht den Eindruck, dass man genau weiß, was man da gesagt und sogar geschrieben hat. Denn diese These läuft darauf hinaus, dass der ganze Diskurs der Philosophy of Mind auch nur ein Naturprozess ist und genauso wenig einen Wahrheitsanspruch stellen kann, wie das Bellen der Hunde und das Röhren der Hirsche. Träfe jene Behauptung zu, man brauchte gar nicht zu argumentieren, man könnte sich gleich auf die unveränderlichen Naturgesetze im eigenen Gehirn berufen, die keine andere Lösung duldeten. Während man schon im Grundkurs der Philosophie den Unterschied von Ursache (causa) und Grund (ratio) lernt, bemüht sich diese Denkrichtung darum, alle vernünftigen Gründe in Ursachen zu verwandeln und damit hinterrücks das vernünftige Argumentieren abzuschaffen. Andere Fragen dieser Philosophy of Mind sind in der Geschichte der Philosophie bereits hinreichend beantwortet, was aber die neuen Geistphilosophen in der Regel nicht zur Kenntnis nehmen. So ist man jetzt zur Überzeugung gelangt, dass der Geist sich »verkörpere«, und spricht vom embodiment des Geistes, ein Grundbegriff dieser Richtung. Gemeint ist, dass zur Erklärung der mentalen Prozesse das Gehirn allein nicht ausreicht, sondern der Kopf oben auf einem lebendi194 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
gen Leib festsitzen muss. Ohne mich einmischen zu wollen, erlaube ich mir den Hinweis, dass Verkörperung mir kein guter Ausdruck zu sein scheint, da er den Eindruck erweckt, am Anfang sei der Geist etwas Unkörperliches, und es handele sich bei der Verkörperung um eine Art Inkarnation, was nicht zu den Voraussetzungen dieses Denkstils passt. Außerdem steht aufgrund der neueren Forschungen zu erwarten, dass die Rolle des Darms für das Gehirn in ein genaueres Licht treten wird, so dass sich die Zentralfrage der Philosophy of Mind vielleicht bald auf die Relation Geist und Darm verlagern wird. Die Sache des embodiment aber ist das, was wir in Deutschland einen alten Hut nennen. Die Sprach- und Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts war bereits weitgehend beherrscht von der Einsicht, dass sich Sprache, künstlerische Zeichen und auch das Denken nur auf der Basis vieler sinnlicher Erfahrungen wie Tastempfinden und Widerstandserfahrung ausbilden konnten und keineswegs nur in einer reinen apriorischen Vernunft wurzeln. Ein wichtiger Zeuge dafür ist Herder. Schon bei W. von Humboldt liest man, für die historische Erkenntnis werde der »ganze Mensch« vorausgesetzt. Auf dem Hintergrund solcher Einsichten entwickelte Dilthey später das, was man mit Recht eine Erkenntnisanthropologie nannte. Ich kenne keine einzige Anthropologie, welche sich lediglich für das Gehirn des Menschen interessiert hätte. Immer wurden seine ganze Gestalt, sein aufrechter Gang und seine freien Hände in Betracht gezogen, um den Menschen als ein geistfähiges Wesen begreiflich zu machen. Auch und gerade Hegel äußert sich in seiner Philosophie des subjektiven Geistes auch zur Leiblichkeit des Menschen. 11 Die neue Philosophy of Mind aber nimmt dergleichen nicht zur Kenntnis und gefällt sich darin, den Eindruck zu verbreiten, sie habe etwas Neues entdeckt. Bemühte sich Hegel, das Wahre anderer philosophischer Positionen, ja die Resultate der gesamten Philosophiegeschichte in das eigene Denken einzubeziehen, so bemüht sich die neue Geistphilosophie darum, die Philosophiegeschichte vergessen zu machen und nur die neuen Kognitionswissenschaften zur Kenntnis zu nehmen, da man nur von ihnen Wahrheit erwartet. Dahinter steht natürlich auch ein Universitätssystem, das streng zwischen analytischer Philosophie und Philosophiegeschichte unterscheidet, und man sieht die bedauerlichen Konsequenzen: Die Geschichte der Philosophie wird zum veralteten, langweiligen Kram, den man vergessen kann, und die ana11
Hegel, Enzyklopädie, a. a. O., § 411, S. 419 f.
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lytische Philosophie – die bei uns die systematische heißt – läuft den empirischen Wissenschaften hinterher. 12 Dadurch aber sägt die Philosophie den Ast ab, auf dem sie als universitäre Disziplin noch sitzt. Wenn alle wichtigen Einsichten nur aus den empirischen Wissenschaften hervorgehen, dann braucht man keine Philosophie. Man kann die Professuren für Philosophie streichen und den Naturwissenschaften und der Psychologie übergeben. Die Unkenntnis dessen, was vormals Philosophie hieß, führt in der Philosophy of Mind auch zu Irrtümern. So wird in ihr behauptet, die idealistische Philosophie sei von einem fertigen Geist ausgegangen, die neue Philosophie aber wisse, dass sich der Geist erst »im Kontext von Wahrnehmen, Handeln und sozialer Interaktion« entwickele. 13 Wie gern würde ich diesen Kollegen darüber berichten, dass bei Schelling und seinen Schülern sich der Geist erst in einem sehr langen Prozess aus der Natur losringt und dass Hegels Geistphilosophie nichts anderes ist als der Aufweis der Entwicklung des Geistes in jedem Einzelnen und in der menschlichen Gattung. Ist man von solcher Entwicklung überzeugt, muss man aber den Begriff des Geistes kennen und den Geist als Möglichkeit und Anlage bereits voraussetzen, und ich finde nicht, dass die neue Philosophie das tut. Im Gegenteil möchten einige Vertreter dieser Richtung den Geist ganz durch Hirnprozesse ersetzen, damit das naturalistische Weltbild schön konsistent wird. Sodann hatte Hegel die Entwicklung des Geistes so vor Augen geführt, dass mit ihr auch die Entstehung aller Gestaltungen der menschlichen Welt gezeigt waren, die Sphären des sozialen und kulturellen Lebens, und dass zuletzt auch der eigene Standpunkt, die eigene Wissenschaft, als Resultat der gesamten Entwicklung erschien. Der Ausgangspunkt und das Ziel von Hegels Philosophie des Geistes ist ja das delphische »Erkenne dich selbst«. Ich sehe nicht, dass sich der Ansatz der Philosophy of Mind in dieser Richtung ausarbeiten ließe. Denn was die Hirnforschung und was die Philosophy of Mind selbst sind und tun, das lässt sich aus der empirischen Erforschung des Gehirns doch wohl kaum ableiten. Oder steht zu erwarten, dass man inmitten des Zerebralsystems auch plötzlich die Hirnphysiologie entdecken wird?
12 13
Dazu Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes, a. a. O., S. 23. Newen, Philosophie des Geistes, a. a. O., S. 46 f.
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Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
3.
Kultur und Geisteswissenschaften
Die Beschränkung auf mentale Prozesse ist also von vornherein unzureichend, um Kultur und Kulturwissenschaften begreiflich machen zu können. Hegels Philosophie gewann nicht durch ihre Ausführungen zu Anthropologie und Psychologie ihren großen Einfluss auf die einzelnen Wissenschaften, nicht durch seine Philosophie des subjektiven Geistes, sondern Hegel übte große Wirkung aus, weil er vor allem zu den einzelnen Sozial- und Kulturformen Grundsätzliches gesagt hatte. Das tat er in seiner Philosophie des objektiven und des absoluten Geistes, die jeweils systematische und historische Aspekte verbinden. Allerdings hatte er seine Ausführungen zu Anthropologie und Psychologie so angelegt, dass sie als Basis dienen konnten und von ihnen aus der Übergang zu den anderen Sphären, zu Gesellschaft und Kultur, möglich und nötig war, und so kommt Hegel z. B. schon bei Darstellung der ersten Stufe der Entwicklung des Geistes auf die wechselseitige Anerkennung der Menschen und auf Recht, Moral und Religion zu sprechen. 14 In allen philosophischen Anthropologien wurde in dieser Weise bisher der Mensch so charakterisiert, dass er als Urheber seiner Kultur verständlich wurde. Immer sah man die wichtigste Aufgabe einer Lehre vom Menschen darin, seine Fähigkeit zu technischen Erfindungen, zu sozialen Einrichtungen und zu verschiedenen kulturellen Leistungen zu erklären. Schon die antiken Mythen – man denke an die Geschichten von Prometheus und von Hephaistos – hatten ja den Menschen als das Wesen verständlich gemacht, das mit Hilfe des Feuers Werkzeuge herstellt und seine Umwelt zu einer spezifisch menschlichen Welt umformt. Vor diesem Hintergrund ist es nun doch sehr befremdlich, dass die Philosophy of Mind – die eine neue Form der Anthropologie darstellt – für das Verständnis des Menschen als Schöpfer von Kultur- und Sozialformen so gut wie gar nichts anzubieten hat. Schon der Ausgang von »Hirnzuständen« und »mentalen Prozessen« scheint mir der Kreativität und Produktivität des Menschen nicht gerecht werden zu können. Alle Begriffe Kants und des sog. Idealismus scheinen mir angemessener zu sein, von der »Spontaneität« über die »produktive Einbildungskraft« und die »Tathandlung« bis zur »Arbeit des Geistes«.
14
Hegel, Enzyklopädie, a. a. O., §§ 430–435, §§ 430–432; §§ 469–472, §§ 466–470.
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Gunter Scholtz
Es ist aufschlussreich, wie man in dem Kreis der Philosophy of Mind mit der Philosophie Karl Poppers umgeht. Der späte Popper hatte drei verschiedene Bereiche unterschieden, »drei Welten«, wie er sagt: die Welt der psychischen Vorgänge, die Welt der materiellen Gegenstände und die Welt der Theorien und Systeme, der Kulturprodukte. Ein neuer Mentalphilosoph zitiert das – aber nur um zu zeigen, dass Popper und sein Partner Eccles den Zusammenhang von psychischer und materieller Welt nicht überzeugend erklären können. 15 Über die Frage, ob Popper jene dritte Welt der Gedanken nicht mit Recht vom Fluss des subjektiven Denkens abgehoben hat, schweigt er sich aus; dieser ganze Bereich wird ausgeklammert und ignoriert, denn damit weiß man nichts anzufangen. Dabei ist es gerade diese »dritte Welt«, nämlich die Macht und die Autorität der fortschreitenden Naturwissenschaften, welche die Philosophy of Mind überhaupt ins Leben brachten. Und es dürfte doch nicht leicht zu bestreiten sein, dass Gedankensysteme und auch schon die Sprache etwas ganz anderes sind als »mentale Prozesse« oder »Hirnzustände«, und dass die naturwissenschaftlichen Theorien sich nicht auf derselben Ebene wie Angstgefühle, Hoffnungen und Schmerzen ansiedeln lassen. Georg Simmel hat sogar – zuerst ausführlich in seiner Philosophie des Geldes – plausibel dargestellt, wie es in der Geschichte zu einem Konflikt zwischen der immer umfangreicher werdenden objektiven Kultur und der subjektiven Bildung der Einzelnen kommt: Die objektive Kultur werde immer mächtiger und verselbständige sich, was Simmel am Geldumlauf sehr gut zeigen kann, und die subjektive Kultur, die Bildung der Einzelnen, werde immer dürftiger und gerate in vollkommene Abhängigkeit von dem, was sich in der Gesellschaft als mächtig durchsetzt. 16 Unter der Perspektive Simmels betrachtet, sind die neuen Geistphilosophen nur noch Handlanger der mächtigen Naturwissenschaften, sie sind Zuarbeiter, die nun keinerlei eigene Gedanken mehr zu haben wagen, ganz ähnlich wie die Bankangestellten Elemente und Diener des Finanzsystems sind. Simmels Hoffnung, die Kunst und die Philosophie könnten ein Gegengewicht gegen die
Newen, Philosophie des Geistes, a. a. O., S. 18. Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900). Gesamtausgabe Bd. 6, Frankfurt a. M. 1989. Ders., Persönliche und sachliche Kultur (1900), Gesamtausgabe Bd. 5, S. 560–582. Ders., Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1918), Gesamtausgabe Bd. 14, S. 385–416.
15 16
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Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
Macht der objektiven Kultur bilden, kann innerhalb der Philosophy of Mind gar nicht mehr entstehen. Da die neue Anthropologie nicht die menschliche Kultur verständlich machen kann, verwundert es nicht, dass sie auch für die Geisteswissenschaften nichts anzubieten hat. Als Kerndisziplinen der Geisteswissenschaften im engeren Sinn, der humanities, galten seit dem 19. Jahrhundert die Geschichtswissenschaft und die Philologie. Ihre Methoden kamen auch in andern Bereichen wie Rechtsgeschichte und Religionswissenschaften zur Anwendung. Der Geschichtswissenschaft kann die neue Geistphilosophie ihre Forschungsergebnisse zum Gedächtnis anbieten und der Philologie ihre Erkenntnisse zum Verstehen als Einfühlung. Aber beides führt nicht sehr weit. Zwar haben bereits Francis Bacon und dann die große französische Enzyklopädie die Geschichtsschreibung in der memoria, im Gedächtnis verankert. Aber die historische Forschung stützt sich höchst selten auf die Erinnerung derer, welche von dem erlebten Geschehen erzählen. Man weiß, dass die Erinnerung der Einzelnen oft täuscht, verzerrt, wichtige Aspekte auslässt usw. Nietzsche hat einen Aspekt des oft trügerischen Gedächtnisses mit einem Aphorismus so auf den Punkt gebracht: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.« 17 Deshalb stützen sich die Historiker lieber auf Quellen, die sie interpretieren, und persönliche Erzählungen versuchen sie zu prüfen. Historisches Wissen ist fast immer mittelbares, erschlossenes Wissen, nicht Ergebnis von individuellen Erinnerungen. Und für diese Form des mittelbaren Wissens bietet m. E. die neue Geistphilosophie keine Grundlagen. Dass mit ihrer Hilfe sich jemals beschreiben ließe, was das »historische Bewusstsein« ist und welche wichtigen Funktionen das historische Wissen in der modernen Gesellschaft ausübt, steht von vornherein zu bezweifeln, man denkt ja auch selbst ganz unhistorisch. Völlig folgenlos für die Geschichtswissenschaft ist auch die Tendenz, die Freiheit zu leugnen, da die Gesetze, welche angeblich die mentalen Prozesse beherrschen, von der Philosophy of Mind ja gar nicht aufgewiesen werden können. Ein großes Geschichtswerk von 10 Bänden, die Propyläen Weltgeschichte, enthält am Beginn einen Essay von Helmuth Plessner über die Conditio humana, eine ZusamFriedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 68. Werke in drei Bänden, hrsgg. von Karl Schlechta, Bd. 2, S. 625.
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Gunter Scholtz
menfassung seiner philosophischen Anthropologie. 18 Plessner beschreibt hier das Wesen des Menschen so, dass der Mensch als der verständlich wird, der all diese Dinge tun und erleiden konnte, von denen jene zehn Bände berichten. Es ist undenkbar, diesen Essay durch einen Text aus der Philosophy of Mind zu ersetzen. Denn was sollte die allgemeine Hypothese, der Mensch sei von Naturgesetzen beherrscht, denn für Einsichten vermitteln, wenn kein einziges Gesetz gezeigt wird, welches einen historischen Vorgang erklären könnte? Hingegen benutzen und erarbeiten die Historiker selbst Verhaltensregeln, die durch die menschliche Natur, den Charakter der historischen Akteure und die jeweilige kulturelle Situation gegeben oder nahegelegt sind. Deshalb kann man mehr von den Historikern über den Menschen lernen als von der neuen Philosophie des Geistes. Dilthey hat dem Rechnung getragen. Er entwickelte zwar eine eigene Anthropologie, fügte aber hinzu, was der Mensch sei, erfahre er nur in der Geschichte. 19 Gemeint: Jede Anthropologie ist vorerst formal und bedarf der Ergänzung durch die Geschichte, da sich der Mensch wandelt. Das neue Projekt einer historischen Anthropologie macht diese Einsicht zum Prinzip. Dürftig ist auch der Ertrag der Philosophy of Mind zum Textverstehen, das in den philologischen Fächern kultiviert, aber auch in allen anderen Wissenschaften benötigt wird. Die Mentalphilosophen übernehmen die inzwischen allbekannte Entdeckung des italienischen Biologen Giacomo Rizzolatti, der herausfand, dass das Gehirn sog. Spiegelneuronen enthält, welche die Gefühle eines andern simulieren können, wenn entsprechende Auslöser vorhanden sind. Sehe ich jemanden weinen, verstehe ich unmittelbar seine Traurigkeit und kann sie nachfühlen. Die Tatsache der Gefühlsübertragung war immer bekannt. Sowohl die aristotelische Tragödientheorie als auch die antike Rhetorik setzten sie voraus, und der englische Empirismus des 18. Jahrhunderts baute darauf seine Sozialphilosophie auf. Es war m. W. Herder, der für den unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen anderer das Wort »einfühlen« 20 prägte, und um 1900 erschienen umHelmuth Plessner, Conditio humana. In: Golo Mann / Alfred Heuß (Hrsg.), Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Frankfurt a. M. / Berlin 1991, Bd. 1, S. 33–86 (1. Aufl. 1960). 19 Wilhelm Dilthey, Traum. Gesammelte Schriften, Bd. 8, 4. Aufl. Göttingen 1968, S. 220–226, hier S. 226. 20 Siehe Gunter Scholtz, Die Wurzeln des »Einfühlenden Verstehens«. Konzepte des Verstehens in den Geisteswissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Person. 18
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Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
fangreiche Systeme der philosophischen Ästhetik, die sich auf das Vermögen der Einfühlung stützten (z. B. das von Theodor Lipps). Da man in Deutschland dann in den Geisteswissenschaften viel zu viel von Einfühlung sprach, wurde das Wort obsolet, man musste es meiden. Jetzt aber hat man durch die Theorie der Spiegelneuronen die Basis der Einfühlung im Gehirn gefunden, und jetzt darf man den Term wieder benutzen; aber nur in englischer Form als empathy oder – etwas eingedeutscht – als Empathie. Das ist das einzig Neue: man wählt das englische Übersetzungswort. Wenn man also heute mit Berufung auf die Spiegelneuronen stolz eine Neurogermanistik begründet, füllt man nur alten Wein in neue Schläuche, um ihn besser zu verkaufen. Auch das ist wieder ein Lehrstück für die Reichweite der neuen Philosophie des Geistes: Wir erhalten in manchen Fällen zu altbekannten Phänomenen, die niemand bezweifelt, die hirnphysiologischen Bedingungen oder Begleiterscheinungen hinzugefügt. Manche Zeitgenossen trauen inzwischen ihren eigenen Erfahrungen – z. B. dem Gefühl ihrer Liebe – nur noch dann, wenn sie nachgewiesen bekommen, dass sich tatsächlich in ihrem Hirn etwas bewegt hat. Und diese Einstellung wird von der Philosophy of Mind unterstützt, da sie subjektive Erfahrungen nur dann akzeptiert, wenn sie wissenschaftlich kontrolliert sind. Laut Metzinger sagt mir nur die Hirnphysiologie genau, was ich wahrnehme und fühle. 21 In der Philosophy of Mind spricht man oft ausführlich von Gefühlen und systematisiert sie auch. Wiederum sehe ich nicht, dass sich mit diesen neuen Analysen für das Verständnis der Kultur sehr viel anfangen ließe. Die englischen Empiristen des 18. Jahrhunderts wie Hume, Burke, Hutcheson und Adam Smith hatten ausgehend von den Gefühlen interessante Theorien der Ästhetik und der Ethik entwickelt. Edmund Burke begründete auf dieser Basis erstmals die Unterscheidung des Schönen und Erhabenen, die zum festen Bestand der philosophischen Ästhetik wurde. Die neue Philosophie des Geistes fällt hinter diesen Diskussionsstand des 18. Jahrhunderts wieder zurück. Denn nirgends werden, soweit ich sehe, ästhetische und moralische Gefühle überhaupt in Betracht gezogen. Gefühle werden wesentlich aufgrund ihrer somatischen Bedingungen und Äußerungen untersucht. Es ist kein Wunder, wenn in dieser Perspektive ästhetiInternationale Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzelle Psychotherapie und Beratung Jg. 15/2 (2011), S. 93–102, hier S. 99. 21 Siehe Metzinger, Grundkurs Philosophie des Geistes a. a. O., S. 27 f.
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Gunter Scholtz
sche und moralische Gefühle gar nicht auftauchen. Man müsste ja einen Begriff des Ästhetischen und Moralischen bereits mitbringen. Dergleichen Begriffe aber lassen sich durch die empirischen Kognitionswissenschaften genauso wenig gewinnen wie ein Begriff von Wissenschaft. Ist die neue Gehirnphilosophie für die historischen und philologischen Fächer nutzlos, so halte ich sie für alle Disziplinen sogar für schädlich, die sich mit Handlungsnormen befassen wie Ethik, Rechtslehre, Politik, Ökonomie und Pädagogik. Denn da die Philosophy of Mind letztlich nur Naturgesetze akzeptiert, kann sie nicht nur keine normativen Aussagen begründen oder rechtfertigen, sondern sie verwandelt stillschweigend alle Normen in Wirkungen von Naturgesetzen. Das zerstört sogar die traditionelle Logik. Denn auch diese schreibt ja nicht auf, wie Menschen faktisch denken, sondern sie lehrt das richtige, das logische Denken. Der in Deutschland einflussreichste Vertreter der neuen Philosophie des Geistes sagt voraus, man werde bald eine neue Ethik benötigen, da der menschliche Geist sich aufgrund der Hirnforschung als sehr leicht manipulierbar erweise. 22 Dieser Autor scheint gar nicht zu merken, dass er mit seinem Kampf für ein geschlossenes physikalisches Weltbild aller Ethik den Boden entzieht.
4.
Schluss
Die Philosophie sollte sich wie alle Wissenschaften nicht darum bemühen, einer bestimmten Denkweise zur Herrschaft zu verhelfen, sondern der Wirklichkeit gerecht zu werden, zu der auch praktische Aufgaben gehören. Wie schon kurz erläutert, versucht die Philosophy of Mind dem Physikalismus oder Materialismus zum Sieg zu verhelfen, indem sie auch dort Naturgesetze annimmt, wo man keine findet und wo ihre Annahme auch nicht sinnvoll ist. Deshalb handelt es sich hier nicht um moderne Philosophie oder Wissenschaft, sondern um eine Weltanschauung, wenngleich das von einigen ausdrücklich zurückgewiesen wird. Weltanschauungen gelten spätestens seit Dilthey nicht als wissenschaftlich, da sich ihre Wahrheit weder bestätigen noch widerlegen lässt, weshalb die Weltanschauungen –
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Ebd., S. 29 f.
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Die neue Philosophie des Geistes und die Geisteswissenschaften
wie Dilthey feststellt – sich miteinander in beständigem Kampf befinden. Der Materialismus ist laut Dilthey ein berühmter Typus solcher Weltanschauung. Und in der Tat vertraten ihn in der Antike schon Demokrit und Epikur, für welche auch die Seele materiell war und aus Atomen bestand, und in der Neuzeit gaben die Erfolge der Naturwissenschaften der materialistischen Weltanschauung neue Nahrung, neue Grundlagen. Insofern ist es wenig erstaunlich, dass nun im Ausgang von den neuen Bio- und Kognitionswissenschaften das wiederum errichtet wird, was für uns keine Wissenschaft mehr ist, sondern Weltanschauung. Dennoch ist es befremdlich, dass inzwischen auf einigen akademischen Lehrstühlen für Philosophie so gearbeitet wird, als habe es gar keine Auseinandersetzung mit dem Materialismus gegeben und dass diese Denkweise solche großen institutionellen Erfolge verzeichnen kann. Ich glaube, man muss sagen: Sie liegt im Trend, sie gehört zum Geist unserer Zeit. Erstens erfüllt sie das Bedürfnis nach Sicherheit. Nachdem alle Religionen und Großideologien wie der Marxismus ihre allgemeine Überzeugungskraft verloren und die Postmoderne hinreichend Chaos in den humanistischen Fächern angerichtet hat, sucht man etwas Solides, Sicheres, Festes, Wissenschaftliches, und man meint es in den Naturwissenschaften finden zu können, die auf dem Gebiet der Biowissenschaften in der Tat zu neuen, erstaunlichen Erkenntnissen kamen. Zweitens fügt sich diese Denkweise gut in das Bemühen ein, alles – auch das Innenleben des Menschen – mit einfachen Mitteln zu beherrschen. In den USA sind Neuro-Enhancement (d. h. intellektuelle Leistungssteigerung durch Medikamente) und die Ruhigstellung von Schulkindern durch Ritalin schon gängige Praxis. Und so passt die neue Philosophie des Geistes drittens auch gut zur allgemeinen Ökonomisierung, sie dient der Verkaufssteigerung von pharmazeutischen Produkten. Denn den größten Einfluss hat die Hirnphysiologie in der Medizin und der Psychotherapie. Die Psychologie ist heute überwiegend naturwissenschaftlich ausgerichtet, und die Psychotherapeuten bevorzugen folglich immer die Medikation, da man im Fall von seelischen Störungen die Ursachen im Gehirn meint allein mit Medikamenten bekämpfen zu können. Die Pharmaindustrie unterstützt nachdrücklich diese Strategie, und auch die Krankenkassen tun es, da diese Therapieform billig ist. Die neue Philosophie des Geistes passt zu dieser Tendenz, und sie stabilisiert dieses Denken und Handeln, indem sie ihm eine allgemeine (pseudo-) philosophische Grundlage liefert. 203 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Gunter Scholtz
Allerdings versichern Psychotherapeuten, dass bei vielen Erkrankungen wie der Depression die Medikamente allein selten zum Ziel führen. Deshalb kommen dann doch immer noch therapeutische Verfahren wie die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers und die Logotherapie von Viktor Frankl zum Einsatz – alles Methoden, in denen nicht das Gehirn des Klienten, sondern sein individuelles Schicksal, seine Suche nach Sinn und die Kommunikation mit dem Therapeuten im Zentrum stehen. Die Logotherapie von Viktor Frankl geht mit Erfolg davon aus, dass in vielen Fällen der Sinnverlust zu seelischen Krankheiten führte – dass es aber eine Instanz im Menschen gibt, die nicht korrumpierbar ist und an die der Therapeut appellieren kann: der Geist. Dieser Geist ist nicht der Geist der Philosophy of Mind. 23
Viktor Frankl ist in Deutschland nicht so bekannt wie etwa in Österreich. Die Voraussetzungen seines Denkens und sein Verständnis von »Geist« hat er ausführlich dargestellt in seinem Buch: Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, Bern / Stuttgart / Wien 1975.
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Jörn Bohr
Natura altera facit saltum Über den Ur-Sprung der Kultur
Kulturkrisen der Gegenwart oder besser, als ihr mögliches Symptom: Revisionen des Woher und Wohin – denn jede Gegenwart begreift sich als Krise, wenn nicht als bloßen Durchgangspunkt – sind bekanntlich kein neues Thema der Kulturphilosophie und Kulturkritik. Die Gegner und Bedrohungen wechseln graduell. Heute z. B. steht nicht so sehr eine »Tragödie der Kultur« oder eine nuklear-ökokatastrophische Bedrohung vor Augen, als vielmehr die absichtsvollen, ja mehr noch die fahrlässigen Manipulationen des Menschen am Menschen. Einer selbstgefährdenden Somatik in der Praxis folgt ein homogenisierender Biologismus in der Theorie. Es sind heute für die Kulturphilosophie nicht bloß mehr »kulturelle Grundlagen seelischer Konflikte« (Michael Landmann), die eine Analyse und womöglich Therapie herausfordern, sondern naturalistische Verdinglichungen kultureller Konflikte – ein »Verblendungszusammenhang« eigener Art und zwar nicht unter neuen, aber sich verschärfenden globalen Bedingungen »planetarer Endkultur« (Landmann). »Wo stehen wir heute?« 1, das fragten sich bereits Toynbee, Jaspers, Buber, Jünger u. a. – wobei die Bestimmung der Gruppe des »Wir« auch damals offen blieb. »Wir« – sind das die sich äußernden Fachleute gegenüber den Fragen der Zeit oder doch wir alle, die wir die Antworten lesen, und wenn nicht von diesen Antworten, so doch von dem Stand dessen, was da in Frage steht, betroffen sind? Spürbar ist: Ganz ohne normative Aussagen geht es in beiden Fällen nicht. »Die Frage: Wo stehen wir heute? würde voraussetzen die Antwort auf die Frage: Wo steht von seinem Ursprung her der Mensch? Was ist die menschliche Grundsituation? Was ist überhaupt der Mensch? Welches ist seine Stellung im All? Welche Aufgabe hat er?«
Walter Bähr (Hrsg.), Wo stehen wir heute? Gütersloh 1960; hiernach im Folgenden Jünger und Jaspers.
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Jörn Bohr
1.
Vom Ursprung der Kultur
Dies sind auch Leitfragen eines Bandes mit dem Titel Vom Ursprung der Kultur, 2 der die Frage: »Wo stehen wir heute?« kulturphilosophisch stellt. Das ist das dritte seiner drei ineinander verschränkten Anliegen, von denen die beiden anderen lauten: 1. die Rede vom Ursprung der Kultur terminologisch ernst zu nehmen und 2. den naturalistischen und biologistischen Rationalitätsansprüchen auf Augenhöhe zu begegnen. Zu erinnern ist daran, dass mit dem »Stand der Dinge« eher eine Position im nautischen – oder Plessner’schen! – Sinne gemeint ist, »wir haben eine bessere Vorstellung von unserem Aufbruch und von unseren Zielen als von der Gegenwart« (Ernst Jünger). Um in der Metapher zu bleiben: Das Thema des Bandes Vom Ursprung der Kultur lässt sich vielleicht auch über den Umweg einer Anekdote am besten anpeilen, die überdies den Vorzug einiger Autorität hat. Damit sind wir beim zweiten Anliegen des Bandes. In einem Zeitungsartikel über Hermann Cohen und die Renaissance der Kantischen Philosophie hat Ernst Cassirer im April 1924 über sein Studium bei Friedrich Paulsen in Berlin berichtet, dass »in allem, was Paulsen vortrug, immer wieder der Grundton durchklang …, daß die empiristische Philosophie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, es nun so herrlich weit über Kant hinausgebracht hätte. Alle Probleme, die Kant bedrängt hatten, die er in angestrengtester Arbeit … zu lösen versucht hatte: sie schienen nun mit einem Schlage völlig geklärt und kraft dieser Klärung überwunden. … Denn was Kant für apriorische Grundbegriffe des Verstandes hielt …, das war, durch die Psychologie und Biologie des neunzehnten Jahrhunderts … nunmehr als das erkannt, was es eigentlich ist: als Produkt der Gattungserfahrung«. 3 Abseits des Anekdotischen sind wir 90 Jahre später anscheinend längst wieder so weit. Ein neurophysiologischer und evolutionstheoretischer, aber nicht zuletzt auch ein (z. T. aus »naturvergessener« Unkenntnis) radikal kulturalistischer Letztbegründungsgestus tritt einer sich diesen Vor-Würfen in kritischer Aufnahme nähernden Kultur- und Sozialphilosophie gegenüber, die ihre Grundfragen für längst nicht beantwortet hält, sonVolker Steenblock / Hans-Ulrich Lessing (Hrsg.), Vom Ursprung der Kultur. Mit einem Gespräch mit Günter Dux, Freiburg / München, Alber 2014. 3 Ernst Cassirer, Gesammelte Werke (ECW), Bd. 24, bearb. von Claus Rosenkranz, Hamburg 2007, S. 645 f. 2
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Natura altera facit saltum. Über den Ur-Sprung der Kultur
dern die im Gegenteil die Grundfragen durch die neuen natur- und lebenswissenschaftlichen Erkenntnisse aufs Neue gestellt sieht. Die Kultur- und Sozialphilosophie hat als Reflexionsinstanz die Herausforderung beizeiten angenommen, und davon legt der Band Vom Ursprung der Kultur ein so kraftvolles Zeugnis ab, dass man ihn als die wichtigste Neuerscheinung der Kulturphilosophie ausrufen könnte; wenn damit nicht genau so wenig gesagt wäre, wie mit der anekdotischen Einführung in das Thema. Denn: Was sind die Grundfragen, die hier nicht nur in Rede, sondern auch in Gefahr stehen, als solche verschwinden gemacht zu werden? Können sie sich behaupten, oder müssen sie sich als ›Scheinprobleme‹ entlarven lassen? Hier kann nur die Lektüre des Bandes Klarheit bringen, der im Folgenden kurz charakterisiert wird. Die Herausgeber fassen ihr Anliegen wie folgt zusammen: »Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen. Das Medium der Kultur umgibt ihn beständig, er schafft sich Kultur und zugleich prägt die fortschreitende Kultur wiederum ihn. Menschwerdung und Kulturentstehung sind voneinander nicht zu trennen. Wie lässt sich unter dieser Perspektive die Frage nach dem Ursprung der Kultur denken? Um die Antwort streiten verschiedene Ansätze. Kann man die Kultur nach dem Paradigma Darwins erklären oder entsteht sie, wie Günter Dux betont, als ›Anschlussorganisation‹ eigener Art eines Wesens, das in Arbeit und Sinn seine Welt selbst schaffen muss? Was leisten sozioökonomische Theorien, was idealistische/kulturalistische und was solche der philosophischen Anthropologie? Der Band Vom Ursprung der Kultur verfolgt das Ziel, diese unterschiedlichen Hinsichten in ein Gespräch zu bringen« – repräsentiert, in der Reihenfolge ihres Auftretens, durch Beiträge von Günter Dux, Volker Steenblock, Wolfgang Welsch, Erhard Wiersing, Gerd Jüttemann, Tobias Reichardt, Ernst Wolfgang Orth, Gerald Hartung, Hans-Ulrich Lessing, Joachim Fischer und Jörn Rüsen. Namhafte Fachvertreter stellen die Diskussion auf eine neue Basis. Der Band ist somit prominent besetzt – und mit Günter Dux als Leitstern der Diskussion will der Rezensent den Herausgebern gern darin folgen, dass dem »Gespräch der Reiz der Erwartung eignet, dass es etwas beitragen könnte zur Einschätzung, wo wir in unserer Gegenwart stehen. Anfang und Prinzip der Kultur erscheinen verknüpft, der Ursprung der Kultur wäre demnach zugleich auch als Blick auf unsere mögliche Zukunft zu verstehen.« Aber so weit sind wir noch nicht. Es gibt ein Problem mit der Begrifflichkeit – wenn es nur eines ist – der Kulturphilosophie: Ob nun von »Kultur« oder »zweiter Na207 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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tur« gesprochen wird, stets steht eine Äquivokation im Raum: Ist »Kultur« als »Kultivierung« gemeint, also normativ besetzt – oder als Inbegriff dessen, was menschlicherseits der Fall ist (»Zivilisation«), also deskriptiv? Ist dieser deskriptive Begriff dann zugleich identisch mit dem der »zweiten Natur« bzw. der natura altera oder gilt es nicht auch hier, den Sinn von »zur zweiten Natur gewordener Gewohnheit« von dem der menschlichen Lebensführung mit und über die erste Natur hinaus zu trennen – durch Schaffung einer gleichsam (Cicero) zweiten Natur – was aber dann v. a. eine Metapher ist, kein Begriff? Und wenn dann noch der (im vorliegenden Band nicht erwähnte) von Moritz Lazarus theoretisch fruchtbar gemachte doppelte Sinn von natura altera – »zweiter Natur« des Menschen – als veränderte Lebensweise und Verhaltensform durch Kultur (in Gewöhnung) und als materielle Hervorbringung von allerlei Errungenschaften der Kultur (inselgleich inmitten der ersten Natur) mitgedacht wird, müssen sich Kulturphilosophie bzw. Kulturwissenschaften fragen lassen, was das überhaupt ist, wovon sie dann eine Wissenschaft sein sollen. Die Beiträge von Ernst Wolfgang Orth und mehr noch von Jörn Rüsen rühren direkt an diese Grund- bzw. Begründungsprobleme. In allen möglichen Konnotationen bleibt jedoch stets die Grenzziehung zu einer »ersten Natur« des Menschen die offene Forschungsfrage. Es stimmt seit der Antike, dass die Art und Weise, wie die erste Natur bzw. »die« Natur des Menschen bewertet wird, auch die Bewertung seiner »zweiten Natur« – seiner Kultur oder Zivilisation – bestimmt. Wenn der Mensch von Natur aus gut ist, so verdirbt er (sich) durch Kultur – wenn der Mensch von Natur aus roh ist, so hat er sich durch Kultur erhoben und zu erheben. Eine bis dato nicht geklärte Ambivalenz im Kulturbegriff erzeugt gleich zwei implizite Dichotomien: Es ergibt einen Unterschied, ob der Mensch als in Opposition zur Natur stehend gedacht wird oder ob sich Mensch und Kultur gegenüber stehen. (Völlig abgesehen werden muss hier von den nicht zuletzt politischen Konfliktlinien zwischen den Begriffen »Kultur« und »Zivilisation«.) Das ist die Folie, die jeder kulturphilosophischen Auseinandersetzung mit den Spielarten des Naturalismus und Biologismus im Bereich der Entwicklungs- und Soziobiologie, der Entwicklungs- und Verhaltenspsychologie und der Humanbiologie und Evolutionären Anthropologie zugrunde liegt. »Man kann über das Naturwesen ›Mensch‹ nicht schweigen, wenn man über den Menschen als Kulturwesen etwas sagen möchte« (Steenblock). Die Fügungen natura altera und animal symbolicum 208 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Natura altera facit saltum. Über den Ur-Sprung der Kultur
sind bewusst gebildet. Einer naturalistischen Engführung kann nicht – quasi im Trotz – mit einer kulturalistischen Engführung entgegnet werden. Der vorliegende Band entgeht dieser Verlockung. Das Feld der Auseinandersetzung ist klar abgesteckt, die Komposition der Beiträge überzeugend. Die überwiegende Zahl der vertretenen Beiträge ist eigens für diesen Band geschrieben worden, die wenigen anderen aus Veröffentlichungen wieder abgedruckten sind für den Band überarbeitet worden. Die Diskussion ist dadurch auf dem neuesten Stand. Zwei Teile des Bandes lassen sich ausmachen. Der erste ist auf die Auseinandersetzung mit einem an Darwin orientierten Naturalismus konzentriert mit dem Ziel, eine umfassendere Perspektive auf das Problem zu erhalten, das damit überhaupt erst in den Blick kommt: Wie lässt sich der Ursprung der Kultur denken, wenn er nicht einfach aus dem wie immer gearteten Prozess einer natürlichen Evolution folgt? Der zweite Teil setzt diese Auseinandersetzung fort, indem er den Naturalismen zwar lebenswissenschaftlich informierte, aber spezifisch kulturphilosophische und philosophischanthropologische Reformulierungen der Frage nach dem Ursprung der Kultur gegenüberstellt. Abschließend werden wissenschaftstheoretische und -politische Konsequenzen für die Kulturwissenschaften umrissen.
2.
Beiträge
Der erste Teil wird eröffnet von Günter Dux über Natur und Geist im Verständnis einer säkular gewordenen Welt – neben dem sehr instruktiven und tiefgehenden Gespräch über Kultur als humane Lebensform, das Volker Steenblock mit Dux geführt hat, eine kurze und intensive Einführung in Dux’ »historisch-genetische Theorie«, die den Menschen in der Weise aus der Natur heraus erklärt, dass er zugleich in ihr zu verbleiben vermag, da nicht nur der Bereich der Natürlichkeit weiter gezogen wird, sondern auch der der kulturellen Seite am Menschen. Dass der von Dux bereitgestellte Theorierahmen für die Erklärung des »natürlichen« Hervorbringens der nicht-natürlichen, sondern sozio-kulturellen Lebensformen nicht zuletzt politisch bedeutsam ist, stellt Dux selbst in wünschenswerter Klarheit heraus. Dux’ Beitrag ist denn auch der Markstein, an dem sich die übrigen Beiträge messen lassen können. Es folgt zunächst Volker 209 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
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Steenblocks Typologie über die unterschiedlichen Projekte eines Darwinizing Culture, die den entscheidenden Vorzug hat, eingehende Darstellung und kenntnisreiche Beurteilung zugleich zu sein, d. h. sich nicht auf vorschnelle Abwehr versteift, sondern aus philosophischer Sicht die Spielarten der darwinistischen Kulturtheorien seit Darwin einer nüchternen Darstellung und Interpretation unterzieht. Wer sich bisher nicht in diesen Kontexten auskannte, wird für Steenblocks Führung dankbar sein, bevor er mit Wolfgang Welsch Das Rätsel der menschlichen Besonderheit zu lösen oder besser: zu formulieren unternimmt; dies am besten übrigens im direkten Vergleich mit dem unmittelbar anschließenden Versuch einer evolutionsbiologischen und frühgeschichtlichen Begründung der Kulturalität von Erhard Wiersing, aus dem deutlich wird, dass ein Gutteil an Spekulation über den Natur-Kultur-Übergang im Menschen sich wohl nicht vermeiden lässt, für die Darstellung des Problems aber – die sich ja nicht zuletzt auch an den angesprochenen Gegner wendet – nicht unbedingt förderlich ist. Es gibt allerdings auch eine Spekulation aus Vorsicht, die sich bei der Frage nach den Anfängen des Menschlichen und des Kulturellen der Äquilibristik am Rande von petitio principii und performativem Selbstwiderspruch bewusst ist. Welsch plädiert für eine Emergenz der Kultur aus der Natur, Wiersing präzisiert, dass diese Emergenz sich »koevolutionär« der menschlichen Intentionalität verdankt (vgl. Tomasello). Gerd Jüttemanns historisch-psychologischer typologischer Zugriff auf die Ahnen der ersten »zehn Stunden« der Mensch- und Kulturwerdung in seinem Beitrag über Kultivierung als Autogenese hat es hier leichter, da eine Typologie prinzipiell davor gefeit ist, mit der Wirklichkeit verwechselt zu werden. Mehr noch: Anhand dieser Typologie lässt sich eine zunehmende autogenetische Praxis (und nicht mehr nur ein Prozess) ablesen, die, wenn sie schon nicht in dieser Weise stattgefunden hat, immerhin uns zur künftigen verantwortlichen Ausübung unserer »Autogenesekompetenz« auffordert. Am Beitrag von Tobias Reichardt, der als Gelenk zum zweiten Teil des Bandes dient, wird zunächst ein Mangel des Buches deutlich, der darin besteht, dass weder Literaturverzeichnisse, noch, was viel wichtiger wäre, ein Namenregister gegeben wird. So hätte man die Erwähnungen von Marx – wie auch die vielen Auseinandersetzungen mit Michael Tomasellos Evolutionärer Anthropologie, die in jedem Beitrag durchgeführt wird, mit allerdings signifikanten Unterschieden, die Steenblock und Lessing in der Einleitung zwar teilweise he210 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Natura altera facit saltum. Über den Ur-Sprung der Kultur
rausstellen, die der Leser aber dann doch selbst aufsuchen muss – direkt aufspüren können, die alleine bereits den Einsatz eines eigenen Beitrages über Kultur als Produkt von Arbeit im Anschluss an Marx und Engels rechtfertigen, wenn er nicht ohnehin thematisch gefordert wäre. Phänomene der Entfremdung und Verdinglichung werden in den vorangehenden Beiträgen immer wieder thematisiert, wenn auch nicht unter diesen Titeln ausgesprochen und nun von Reichardt gebündelt und im Theoriezusammenhang erörtert. Kultur als Produkt von Freiheit – das wäre überhaupt noch ein Ziel für eine auf sich selbst zurückgeführte Arbeit, die nicht in kapitalistischen Verwertungslogiken zum verdinglichten Beschäftigungsimperativ pervertiert. Der zweite Teil des Bandes – zugleich die Einlösung seines ersten Anliegens – beginnt mit Ernst Wolfgang Orths gewichtiger Problemskizze im Anschluss an Ernst Cassirer über Anfang und Ende der Kultur, flankiert von Gerald Hartungs Beitrag Über den Ursprung von Sprache und Kultur, aus dem v. a. zu lernen ist, dass ein zuletzt von Cassirer ausformulierter kritischer Monismus paradigmatisch für jede Auseinandersetzung mit naturalistischen Monismen aller Art stehen kann, da er nicht in klassische Leib-Seele-Dualismen zurückfällt, sondern auf der einmal erreichten empirischen Basis sich gerade nicht auf vorschnelle Verkürzungen einlässt. Es zeigt sich in terminologischer Absicht, worauf v. a. Orths Beitrag insistiert, dass jeder zeitliche Nebensinn im Begriff des Ursprungs unbedingt zu vermeiden ist, damit die Logik des Ursprungs (vgl. Hermann Cohen) entfaltet werden kann. Als Anfang bzw. im logischen Prius Erstes ist Ursprung unzeitlicher Grund fortwährenden Entspringens – d. h. für den konkreten Fall: Kultur und Natur sind – gegen Darwin et al. – gleichursprünglich zu begreifen. Der Übergang von der Natur zur Kultur ist ur-sprünglich und als solcher äußerst riskant. Im Sprung liegen Angst und schöpferische Innovation sehr nahe beieinander. »Was uns als Menschen auszeichnet, das kann nur in uns selbst entspringen« (Hartung). Für Kultur gilt, was Cassirer an anderer Stelle für den Begriff des Lebens festgestellt hat: Das Phänomen ist jedermann zugänglich, aber es ist unverständlich in dem Sinne, dass es keine Definition erlaubt. Wir können es nicht erklären, wenn Erklärung bedeutet, etwas (relativ) Unbekanntes auf etwas (zuvor) Bekanntes zurückzuführen (wie bei Ernst Mach), denn es gibt hier keine besser bekannte Tatsache. Weder ist eine logische Definition möglich, noch ist eine erste Ursache der Kultur mit wissenschaftlichen Mitteln 211 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Jörn Bohr
aufzufinden. 4 Damit hat Cassirer, wie Hartung vorführt, den klassischen Dualismus ausgehebelt. Das Problem der Kulturgenese in der philosophischen Anthropologie ist deswegen auch für Scheler, Plessner und Gehlen gar keines, bzw. die Frage ist in dieser Weise falsch gestellt, wie Hans-Ulrich Lessings Revision zeigt: Was der philosophischen Anthropologie und Cassirers Kulturphilosophie zugänglich ist, sind nicht genetische Fragen, sondern die Grundeinsicht, dass Mensch- und Kulturwerdung eine nicht weiter auflösbare Struktureinheit bilden. Das ist nicht quietistisch misszuverstehen, denn nun ist der Kulturursprung in die menschliche Tätigkeit hineinverlegt, in Freiheit von den Bedingungen der physischen Welt. Kultur besteht in »Überbauung« (N. Hartmann) der Natur. »Genau dieses Moment der Selbständigkeit markiert den Punkt, an dem die menschliche Kultur immer wieder von Neuem entspringt« (Hartung). Der streitbare und in Teilen zum Widerspruch reizende, apodiktische Beitrag Joachim Fischers über Philosophisch-anthropologische Konzepte zur Menschheitsgeschichte von Gehlen, Claessens, Dux und Popitz widmet sich dem von der auf eine Theorie der Moderne konzentrierten Soziologie und (Geschichts-)Philosophie seit Hegel und Weber nicht angepackten oder gar gelösten Thema der Sukzession von archaischen Menschengruppen zur Moderne. Fischer geht es darum, nachzuweisen, dass die Arbeiten von Arnold Gehlen, Dieter Claessens, Heinrich Popitz und Günter Dux parallele Prozessualierungstheorien der Menschwerdung und Menschheitsentwicklung von der Vor- und Frühgeschichte über die Hochkulturen zur Moderne repräsentieren, die in ihrer Verknüpfung eine Koordination der Einzelwissenschaften wie der verschiedenen Dimensionen der menschlichen Lebenswelt bedeuten würden. Das Potential der Philosophischen Anthropologie, sonst nicht beachtete oder für nebensächlich gehaltene, ja für wissenschaftlich nicht zugänglich erklärte Aspekte der Menschwerdung in einem »langen Atem« der Theorie zugänglich zu machen, steht folglich noch immer vor seiner Entfesselung. Der selegierende Entwicklungsdruck von Darwins Theorie auf alle nichtdarwinistischen Kulturtheorien ist bis heute spürbar. Der abschließende Beitrag von Jörn Rüsen über Sinnverlust und Transzendenz – Kultur und Kulturwissenschaften heute geht auf die oben bereits erwähnten terminologischen Probleme ein, die nicht zuErnst Cassirer, Nachgelassene Texte und Manuskripte (ECN), hrsgg. von Jörn Bohr und Gerald Hartung, Hamburg 2011, Bd. 7, S. 183.
4
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Natura altera facit saltum. Über den Ur-Sprung der Kultur
letzt Konsequenzen für den Stand kulturwissenschaftlicher Bildung und ihre politische Verantwortlichkeit haben. Wenn nicht klar ist, wovon im Begriff der Kultur gesprochen wird, so können beste Absichten ohne weiteres – widerspruchslos – in ihr Gegenteil verkehrt werden, kann Deskriptives oder Kreatives zu Normativem gerinnen, zu Lasten von Freiheit. Wo immer den Kulturwissenschaften eine Orientierungsfunktion zugeschrieben wird oder sie eine Orientierungsfunktion meinen anstreben zu sollen, kann eine »Toleranz der Gleichgültigkeit« niemals in eine von Rüsen auch in theoretischer Absicht geforderte »neue Kultur der Anerkennung« transformiert werden, wenn »der« Kulturbegriff bereits als »geklärt« angesehen wird. Ein Kulturbegriff ohne Profil, eine damit einhergehende Entpolitisierung und Marginalisierung der kulturwissenschaftlichen Aussagen, hätte der latenten Ahumanität menschlicher Sinnsetzungsakte nichts mehr entgegenzusetzen. Kulturwissenschaften müssten sich demgegenüber als die soziale Praxis verstehen, in der ihre Begriffe zuallererst ausgehandelt werden.
3.
Resümee
»Wo stehen wir heute?« – »Vor dem Abgrund«, wie Jaspers 1960 befürchtete, oder, wie seine Alternative lautete, »im Anfang der eigentlichen Menschwerdung«? Für den vorliegenden Band ist es nicht in dieser Weise bis zum Äußersten gekommen. Aber Jaspers’ Appell bleibt berechtigt, dass, »wer diese Aufgabe anerkennt, die Frage: wo stehen wir? wahrhaftigerweise nur als Forderung zur Erhellung der Situation, nicht als Bestimmung des Standorts in dem totalen Geschichtsgang auffassen darf«. In der zwar impliziten, aber einhelligen Befolgung dieser Forderung liegt die größte Stärke und die Einheit der Überlegungen zum Ursprung der Kultur.
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Kinga Golus
Zur Relevanz einer kulturphilosophischen Deutung von »Natur« – eine kritische Perspektive auf die neue Naturalisierung des Menschen am Beispiel von Geschlechtlichkeit Man kann in gegenwärtigen Debatten über die Kultur die Tendenz zu einer diskursiven Renaturalisierung des Menschen ausmachen. Nicht nur zu seiner Natur: Auch zur Kultur des Menschen, so scheint es, kann mit den Methoden und Ergebnissen der Naturwissenschaften, insbesondere der Evolutionstheorie, Entscheidendes, wenn nicht gar alles Entscheidende, gesagt werden. Die vormaligen Geisteswissenschaften wirken mehr oder minder überflüssig. Gegen diesen Naturalisierungstrend erhebt sich gleichwohl eine aktuelle kulturwissenschaftliche Kritik.
1.
Eine berechtigte Kritik des Neoevolutionismus
Ein lesenswerter Sammelband von Fabian Deus und anderen setzt sich mit der Thematik des Neoevolutionismus auseinander. 1 Ich schließe an diese Kritik an, möchte sie aber um einen, wie ich denke, wichtigen Punkt erweitern. In diesem Kontext ist es lohnend zu untersuchen, wie in der neoevolutionistischen Kulturdebatte »Natur-Kultur-Binarisierungen« 2 thematisiert werden. Was sofort auffällt und gleichzeitig wundert, wenn man in den gelungenen Sammelband schaut, ist, dass die Geschlechtlichkeit des Menschen in dieser Diskussion keinerlei Erwähnung findet. An diesem Punkt kann in vielerlei Hinsicht darüber
Fabian Deus u. a. (Hrsg.), Die Kultur des Neoevolutionismus. Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft, Bielefeld 2015. 2 Clemens Knobloch, Der Kulturbegriff der neoevolutionistischen Kulturkritik. In: Fabian Deus (Hrsg.), Die Kultur des Neoevolutionismus. Zur diskursiven Renaturalisierung von Mensch und Gesellschaft, Bielefeld 2015, S. 268. 1
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Zur Relevanz einer kulturphilosophischen Deutung von »Natur«
spekuliert werden, warum die Kategorie Geschlecht in einer Diskussion, die sich mit der diskursiven Renaturalisierung des Menschen beschäftigt, nicht thematisiert wird. Vielleicht trägt einen wesentlichen Teil dazu die oben erwähnte »Natur-Kultur-Binarisierung« bei. Denn wenn wir wissen wollen, welches Geschlecht ein Mensch hat, fragen wir quasi intuitiv nach biologischen bzw. natürlichen Merkmalen. Da uns die Natur nur zwei Kategorien auf dieser Ebene anzubieten scheint, ist eine Unterscheidung in Mann und Frau offensichtlich. »Die Evidenz der Zweigeschlechtlichkeit der Menschengattung, die Voraussetzung, dass es zwei Geschlechter ›gibt‹, die sich nach Anatomie, Körpergestalt, Physiologie und hormoneller Ausstattung klar unterscheiden lassen, wird hier zum Ausgangspunkt des Nachdenkens […]«. 3
2.
Grenzen einer lediglich naturwissenschaftlichen Deutung von Geschlecht
Kulturphilosophisch wird die Geschlechtlichkeit des Menschen erst interessant, wenn wir diesen naturalistischen Zugang durch folgende Fragen erweitern: Was meinen wir, wenn wir von biologischen bzw. natürlichen Unterschieden sprechen? Wie natürlich sind diese Unterschiede, die eine geradezu erschlagende Evidenz zu haben scheinen? Existiert Geschlecht noch auf einer anderen Ebene als der biologisch hergeleiteten? Eine naturwissenschaftliche Perspektive auf Geschlecht greift zu kurz, da sie eine Deutung des menschlichen Körpers ermöglicht, diese allerdings – im Sinne eines Naturalismus – als einzig legitim setzt. Ein kulturphilosophischer Zugang wird möglich, wenn man beginnt, »Geschlecht nicht als Apriori zu behandeln« 4 und gleichzeitig seine biologische Materialität nicht negiert. Damit wird die biologisch hergeleitete Definitionsgrundlage von Männern und Frauen infrage gestellt. Diese Perspektive, die insbesondere für die Gender Studies konstitutiv ist, richtet sich gegen eine ontologische Setzung von Geschlecht und einer daran geknüpften dichotomen Geschlechterdifferenz. »Eine sozialwissenschaftliche Analyse des Körpers braucht die Regina Becker-Schmidt u. a. (Hrsg.), Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg 2003, S. 74. 4 Paula-Irene Villa, Judith Butler. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2012, S. 48. 3
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Kinga Golus
Biologie zum Verständnis dessen, was er anatomisch, hormonell, physiologisch – auch – ist, aber diese Dimension schließt das Verständnis vom Körper als sozial konstruiert nicht aus.« 5 Dieses Zitat macht darauf aufmerksam, dass es durchaus möglich ist, wissenschaftlich über Geschlechtlichkeit zu sprechen, ohne in hegemoniale Deutungshoheiten zu verfallen und daraus entsprechende Degradierungen gegenüber anderen Disziplinen auszusprechen. Eine rein naturwissenschaftliche Definitionsgrundlage greift schon deshalb zu kurz, weil sich auf dieser Ebene naturalistische Fehlschlüsse manifestieren können. Vor allem im Zuge der Zweiten Frauenbewegung wurde der Satz, die Natur sei kein Schicksal in erster Linie politisch genutzt. Frauen wollten damit zeigen, dass aus der körperlichen Fähigkeit, Kinder zu gebären, keinerlei natürliche Aufgaben oder Verpflichtungen abzuleiten seien. Die »Natur der Frau« wurde somit als Definitionsbasis benutzt für eine hochgradig kulturelle Zuordnung. In diesem Zusammenhang wurde zwar das Ordnungssystem der Zweigeschlechtlichkeit nicht hinterfragt, doch es wurde unterschieden zwischen einem kulturellen Geschlecht (gender) und einem natürlichen Geschlecht (sex). Wie Männlichkeit und Weiblichkeit auf einer kulturellen Ebene (gender) definiert werden, ist stets abhängig von dem soziokulturellen und historischen Kontext. Es wird eine symbolische Ordnung generiert, die Männern und Frauen bestimmte Aufgaben als »natürlich« zuweist. Es erfolgte eine Naturalisierung der dichotom aufeinander bezogen Aufgaben und Verpflichtungen für beide Geschlechter. Es gibt dementsprechend keine kulturunabhängige Definition von Geschlechterrollen und Geschlechtscharakteren, da die scheinbar natürliche Herleitung stets eine kulturelle Deutung des Natürlichen darstellt. Es erfolgte somit eine »Demaskierung ontologischer und naturalisierender Effekte«. 6 Die dichotome Unterscheidung in zwei Geschlechter, die phänomenologisch als evident erscheinen, wird durch Judith Butlers Thesen zur Geschlechtlichkeit des Menschen grundsätzlich infrage gestellt. Vor allem das in den 90er Jahren erschienene Buch Gender Trouble trug maßgeblich dazu bei, die auch in feministischen Kontexten als
Paula-Irene Villa, Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Wiesbaden 2011, S. 31. 6 Heike Kämpf, Judith Butler. Die störende Wiederkehr des kulturell Verdrängten. In: Stephan Moebius u. a. (Hrsg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2011, S. 346. 5
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Zur Relevanz einer kulturphilosophischen Deutung von »Natur«
biologisch legitimierte Unterscheidung von Mann und Frau zu hinterfragen. Geschlecht als kulturphilosophischen Gegenstand zu thematisieren war – bei einer rein biologischen Definitionsbasis – kaum möglich, da hier die Thematik »hartnäckig an die Vorstellung eines natürlichen Substrats« 7 geknüpft wurde. Die Radikalität Butlers Thesen zeigt sich in erster Linie darin, dass sie sich gegen eine präkulturelle Existenz, gegen ein »natürliches Substrat« von Geschlechtlichkeit auflehnt, das die Grundlage für eine binäre Geschlechterdifferenz bildet. »Ich bestreite keineswegs, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Doch wenn wir sagen, es gibt sie, müssen wir auch präzisieren, was sie sind, und dabei sind wir in kulturelle Deutungsmuster verstrickt«. 8 Demnach wird die biologische Existenz von Körpern nicht bestritten. Allerdings erhalten Körper stets eine kulturelle Bedeutung, die wiederum abhängt von dem kulturellen Gefüge, indem man aufwächst. Eine der stärksten hegemonialen Setzungen ist nach Butler der Zwang zur binären Interpretation von Geschlechtlichkeit. Biologische Geschlechtsunterschiede werden stets in binäre Logiken gefasst. Die Radikalität der Butler’schen Thesen zeigt sich darin, dass sie eine vorkulturelle, statische und überzeitliche binäre Geschlechterdifferenz, die auf biologische »Tatsachen« rekurriert, negiert. Somit nimmt sie dem biologischen Geschlecht (sex) die »natürliche« Basis. Stattdessen wird die Auffassung vertreten, »dass Geschlecht eine ausschließlich soziale Konstruktion darstellt, die dem Körper ein – biologisches – Geschlecht als Norm erst einschreibt und diese [Einschreibung] nachträglich als körperlich-natürliches Substrat wertet«. 9 Der Annahme folgend kann Geschlecht nicht als eine naturgegebene Eigenschaft von Körpern gedeutet werden. Das binäre System von Geschlechtlichkeit ist ein Produkt einer hegemonialen Kultur, die sich auf körperlicher Ebene durch eine Zwangsdichotomisierung manifestiert. Eine andere Perspektive in Hinblick auf den Einfluss einer hegemonialen Kultur und ihrer leiblichen Einschreibungen wird deutlich, wenn man sich der Thematik des Begehrens zuwendet. Normative Implikationen im Sinne eines legitimen sexuellen Begehrens werden Sabine Gürtler, Weiblichkeit – Ein Effekt von Diskursen? Der konstruktivistische Ansatz von Judith Butler und das Verständnis der Geschlechterdifferenz von Emmanuel Lévinas. In: ZDPE 3/95, S. 169. 8 Judith Butler, Heterosexualität ist ein Fantasiebild. Interview in: Wolfram Eilenberger u. a. (Hrsg.), Philosophie-Magazin 01/2013, Berlin, S. 66. 9 Hannelore Bublitz, Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2005, S. 51. 7
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Kinga Golus
innerhalb einer hegemonialen Kultur festgelegt. Die Regulierung der Sexualität erfolgt, indem »ein Mann/eine Frau zu sein bedeutet, keinen Mann bzw. keine Frau zu begehren. Dieser Regulierung des Begehrens im System der Zwangsheterosexualität […] geht allerdings […] kein ursprüngliches Begehren oder eine ursprüngliche Lust (jouissance) voraus, die durch repressive Gesetze unterdrückt würde«. 10 Ein präkulturelles und somit ursprüngliches Begehren als Teil der biologischen Anatomie des Menschen weist Butler zurück. Weiterführend schließt ihre Perspektive auch die Forderung ein, die evident erscheinende »Matrix der Zweigeschlechtlichkeit« 11 als kulturell bedingtes Phänomen zu deuten, das durch die permanente Wiederholung performativer Akte der propagierten Zweigeschlechtlichkeit reproduziert wird. Es dominiert eine binäre Definition von Geschlechtlichkeit, die nur zwei Kategorien offeriert, die aufeinander bezogen eine legitime Form der Sexualität ausüben (sollen). Diese heterosexuell angelegte Geschlechtermatrix wird hegemonial gesetzt und ist gleichzeitig, um diese überlegene Stellung zu bewahren, auf permanente kulturelle Reproduktion angewiesen. Geschlechtlichkeit bekommt somit einen performativen Charakter. Menschen, die in diese kulturell festgelegte Definition dessen, was Geschlechtlichkeit sein darf, nicht passen, haben keinen gesellschaftlichen Ort, der für sie legitim ist. 12
3.
Resümee
Abschließend ist zu konstatieren, dass in Hinblick auf Tendenzen von Renaturalisierung die Thematik der Geschlechtlichkeit nicht ausgeblendet bleiben sollte, da sonst durchaus die Gefahr besteht, bei rein naturwissenschaftlichen Deutungen von Geschlecht Argumente und Implikationen zu generieren, die seit über 30 Jahren obsolet sind.
Kämpf, Judith Butler, a. a. O., S. 351. Bublitz, Judith Butler zur Einführung, a. a. O., S. 73. 12 Vgl. Kinga Golus, Dekonstruktion bedeutet nicht Destruktion. Judith Butlers Thesen zur Geschlechtlichkeit des Menschen. Meisterstück. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE), Heft 3 / 2014. 10 11
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Volker Steenblock
Über das Verhältnis von Naturalismus, Kultur und Bildung – oder: wie es ist, ein Mensch zu sein und philosophieren zu können »Der Mensch beginnt, sich aus der Natur herauszudrehen, und er beginnt eben deshalb, sich seiner Stellung in ihr inne zu werden.« Günter Dux »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« Ernst Bloch »Wenn die Kultur eine Person wäre, würde sie Bildung heißen.« Dietrich Schwanitz »Philosophie ist in der Struktur des Menschen angelegt, jeder, an welcher Stelle er stehe, ist er in irgendeiner Annäherung an sie begriffen, und jede menschliche Leistung tendiert, zur philosophischen Besinnung zu gelangen«. Wilhelm Dilthey 1
In unserem kleinen Symposion an der Ruhr-Universität Bochum »Kultur und Bildung – Die Geisteswissenschaften und der Zeitgeist des Naturalismus« habe ich – ausgehend vom »Turmbau zu Babel« als Kultursymbol – mich mit der Tatsache auseinanderzusetzen versucht, 2 warum der Mensch, so sehr die Arbeit, beginnend am Acker, Günter Dux, Liebe und Tod im Gilgamesch-Epos. Geschichte als Weg zum Selbstbewusstsein des Menschen, Wien 1992, S. 64; Ernst Bloch, Tübinger Einleitung, Frankfurt 1963; Dietrich Schwanitz, Bildung, Frankfurt 1999, S. 394. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, verschiedene Herausgeber und verschiedene Auflagen der einzelnen Bände; 26 Bde. und 4 Briefbände, Leipzig usw., später Göttingen 1914 ff.; ab Bd. XVIII hrsgg. von Frithjof Rodi, Hans-Ulrich Lessing, Gudrun Kühne-Bertram u. a., Band V, S. 375 (frdl. Hinweis von H.-U. Lessing). 2 Vgl. Volker Steenblock (V. St.), Arbeit am Sinn. Kulturphilosophische Überlegungen im Ausgang von Pieter Bruegels Bild: Der Turmbau zu Babel. Erscheint in Julia Gruevska / Kevin Liggieri (Hrsg.), Vom Wissen um den Menschen. Geschichte, Philosophie, Materialität, Freiburg 2018. 1
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Volker Steenblock
geradezu kulturkonstitutiv ist und so komplex zivilisatorische Strukturen sich aufbauen können, offenbar weder praktisch noch theoretisch diese seine eigene kulturelle Arbeit wirklich beherrschen kann. Die Probleme kultureller Praxis zeigen uns bereits die Nachrichtensendungen eines jeden Tages, an dem unser Planet sich weiter um seine Sonne ins Zeitalter des Anthropozän dreht. Die Probleme der Theorie, die hier mein Thema sind, ergeben sich aus einer Musterung der Deutungshorizonte von Natur, Gesellschaft und Geist, wie ich zu sortieren vorschlage, in denen Erklärungsmodelle der Kultur entwickelt werden (1). Diese allesamt erhellenden, hochinteressanten und faszinierenden Deutungen scheinen am Ende dennoch zu scheitern, wenn und je mehr sie mit grundsätzlichen »weltanschaulichen« Dignitätsansprüchen daherkommen. Weshalb das so ist, mag eine quasi »transzendentale« Irritation dieser großen Theorieformate zeigen, welche darin wurzelt, dass wir uns als Erkenntnissubjekte der Welt gegenüber positioniert finden (2). Aus der (weder objektiv-idealistisch noch makrosoziologisch noch eben »naturalistisch« aufzulösenden) Spannung von Ich und Welt kann man die Kultur als Weltbewältigungsversuch durch unser Ich resultieren sehen. Dieses »Ich« wiederum lässt sich dadurch definieren, dass es eine solche Weltbewältigung um seiner Selbstbehauptung bzw. -konstitution willen leisten muss; es vollzieht zugleich mit der dabei nötigen kulturellen Arbeit für sich selbst einen Prozess der Bildung (4). Wie es ist, ein Mensch zu sein, erschließt die Hermeneutik (5). »Natürlich« sind alle Theoriefelder aufschlussreich, nötig und interessant, wenn man den Menschen und seine Kultur verstehen will (3). Nur im Begriff des Sinns als Projekt des Menschen aber zeigt sich am Ende: Das Rätsel der Kultur im Ganzen wurzelt in dem Rätsel von etwas, das wir tagtäglich erfahren: unserer menschlichen Existenz, und in eben dieser wurzelt auch die Chance des Menschenwesens, philosophieren zu können.
1.
Drei Paradigmata von Natur, Gesellschaft und Geist als Denkhorizonte des Kulturverständnisses
Eine kurze Arbeitsdefinition von »Kultur« erkennt diese i. e. S. als Kunst, Religion, Moral und Sinnbildung, eingebettet in / ebenso wie als Ausdrucksgestalt von jeweiligen Lebensformen in immer wieder neuer Weise, d. h. in globalen Wechselwirkungen, aber auch in einem 220 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Über das Verhältnis von Naturalismus, Kultur und Bildung
konstitutiven Differenzmodus vorfindlich. Ebenfalls »Kultur«, aber i. w. S., wäre alles, was nicht von der Natur, sondern vom Menschen hervorgebracht ist, inclusive von Gesellschaft und Wirtschaft. 3 Nun gibt es großartige, umfassende wissenschaftlich-philosophische Konzepte, welche antreten, die menschliche Kultur zu erklären und ihren Gang zu verstehen. Diese Theorieformen sind Modellvorstellungen, gleichsam Spiegel, in denen der menschliche Geist sein Verhältnis zur Welt und damit seine eigenen Verortung in der Welt wissenschaftlich untersuchen und für sich bestimmen kann. Sie suchen das Wesen ihres Gegenstandes zu erschließen und erkennen dabei gar nicht selten sogar eine veritable Entwicklung der Menschheit. Man kann folgende Deutungshorizonte unterscheiden: 4 Einmal einen Deutungshorizont 5 Natur: die biologische Evolution/Hirnausstattung des Menschen ist nicht nur Gegenstand der Naturforschung, sondern sie bestimmt, so wird hier angenommen, auch die Kultur und deren Zukunft (kann auch daneben gehen, man lese Ronald Wright). 6 Kunst, Religion und Moral lassen sich aus ihrer evolutionären Funktionalität erklären und werden gar zu überlebensnützlichen Illusionskulissen bzw. zugleich im Zusammengang mit mancher »Hirnforschung« zu naturfunktionaler zerebraler Inszenierung. Jenes »Ich« bzw. »Selbst« gilt dann gar nicht mehr in der Weise, in der zu seiner Pflege ein normativer Humanismus naturwissenschaftlich voraufgeklärt antreten wollte. Zweitens gibt es einen Horizont: Gesellschaft/Ökonomie, in dem Kultur erklärt wird. Die Entfesselung der ungeheuren Dynamik und Beschleunigung der Menschenausbreitung von kleinsten Gruppen auf eine den Planeten beeinflussende ungeheure Milliardenmacht im »Anthropozän« dürfte in diesem Deutungshorizont zu verhandeln sein. Mehr als vereinfacht: Ein mögliches gutes Leben für alle Menschen wird gegen den Kapitalismus und über den KapitalisMan könnte in diesem weiteren Verständnis auch von »Zivilisation« sprechen. Beide Definitionen schließen sich nicht aus; sie ergänzen einander vielmehr. 4 Zu den Deutungshorizonten »Natur« (S. 27–95), »Gesellschaft/Ökonomie« (S. 271–341) und »Geist/Sinn« (S. 96–270) siehe V. St., Kulturphilosophie. Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen, Freiburg 2018. 5 Wenn im Folgenden zu allererst von einem Deutungshorizont »Natur« zu sprechen ist, so geht es wohlgemerkt um Deutungshorizonte zur Erklärung der Kultur (!), in diesem Fall um Annahmen und Vorgehensweisen, die sich zur Erklärung der Natur bewährt haben und deswegen nach Überzeugung mancher Wissenschaftler und Philosophen auch auf die Kultur übertragen werden sollten. 6 Ronald Wright, A Short History of Progress, Edinburgh 2005. 3
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Volker Steenblock
mus als Motor der Moderne hinaus erstritten (Marx) bzw. gerade durch eine Marktrationalität möglich werden (Modernisierungstheorie); Max Weber, hier auch zu nennen, ist letztlich zutiefst skeptisch gegenüber der selbst konstatierten europäischen Rationalisierung. Der zur Beantwortung der Sinnfrage entwickelten Religion kommt via Kapitalismus der Sinn am Ende abhanden, ökonomisch/soziale Systeme können ihrer inneren Verfasstheit nach ebenso autonomprozessual verstanden werden wie die der Natur. Drittens schließlich wurde und wird die Kultur als Geist gedeutet – bis hin zu Vorstellungen, dieser vermöge begrifflich-dialektisch den Gang der Welt schlichthinnig zu erfassen bzw. mache ihn in einem höchsten Verständnis gar selbst aus. All diese Theoriebemühungen sind für die Kulturdeutung nicht nur hochinteressant, sondern sie treten auch durchaus selbstbewusst auf. Wenn man die Reichweite der Theoriebildung in einem dieser soeben genannten Deutungshorizonte Natur, Gesellschaft oder Geist sehr umfassend ansetzt, wenn die Gewichtung eines zugehörigen Methodenparadigmas bis zur Konkurrenzlosigkeit hochgeschraubt wird, dann mögen auch die Gegenstandsbestimmungen bzw. deren ontologische Behauptungen am Ende so stark werden, dass sie in der Frage, wie sie denn zustande kommen, alle Zugriffe einer eigenständigen Erkenntnisreflexion bzw. -philosophie aufheben und alle Überlegungen zur Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis gleichsam in ihren Objektbereich einordnen. In der Selbsteinholung ihrer Konstruktivität durch materiale Forschung bzw. ideelle Begriffsarbeit wäre ein maximaler objektiver Dignitätsanspruch »großer« Theorie qua Detranszendentalisierung erreicht (d. h. die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis wird unabhängig von der eigenen Theorie, weil von dieser selbst beantwortet, keiner Instanz mehr zugetraut resp. gestattet). Alle »großen« Theorien kennen diese Versuchung, ihr Fundament aus sich selbst grundzulegen. Die größte Impulskraft unter ihnen liegt nach großen Auftritten des Idealismus und Soziologismus gegenwärtig eindeutig im Forschungshorizont »Natur«. Gegenüber den eindrucksvollen Theoriegebäuden des Objektiven gibt es aber so etwas wie einen allersubjektivsten Stolperstein in der Kultur: uns selbst.
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Über das Verhältnis von Naturalismus, Kultur und Bildung
2.
Von einer »transzendentalen« Irritation in der Kultur
Ich muss hier nicht die vielfältigen Debatten um Transzendentalphilosophie und Idealismus und ihre höchst anspruchsvollen Begriffe von »Ich« und »Geist« aufrufen, um ganz einfach auf die Bedeutung hinzuweisen, die der »Stolperstein« unseres schlichten Existenzbewusstseins hat. 7 Auch wenn wir hier nur von uns Menschen in der Art von Marxens »wirklichen Individuen« sprechen wollen, kann in einem bestimmten, ganz grundsätzlichen Sinne die »Idee der Transzendentalität« (Hans Michael Baumgartner) zudem vielleicht helfen, den Status kultureller und philosophischer Orientierung zu bestimmen, die mit Hilfe der Wissenschaften, aber nicht ersetzbar durch die Wissenschaften erfolgt. Tatsächlich können wir uns nicht »wegmachen«, wie man formuliert hat, wir können unsere Existenz nicht leugnen. Unsere Orientierung gründet in der reflexiven Struktur unseres je unvertretbaren, sterblichen Bewusstseins, das zur Welt Stellung beziehen kann und – das ist entscheidend – muss. 8 Dieses »Stellung beziehen« ist unumgänglich, indem und sobald beide, das Subjekt, das Stellung bezieht, und die Welt, zu der es Stellung bezieht, in eine Interaktion treten. Gäbe es kein erkennendes Subjekt, wäre ein solches »Stellung beziehen« ebenso unnötig wie bei Nichtexistenz der Welt. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis wäre schon in einem einfachsten Verständnis gar nicht zu formulieren, weil »Erkennntnis« und »Welt« gar nicht thematisch würden. Vgl. Ernst Wolfgang Orth, Edmund Husserls ›Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‹, Darmstadt 1999, S. 96: »Der Mensch ist die ›Gelegenheit‹ von Transzendentalität«, man mag von einem »Aneinanderrücken des transzendentalphilosophischen und des kulturphilosophischen Programms« (ebd., S. 95) sprechen. – »Das konkrete Subjekt kann sich weder weg-denken noch weg-machen. […] Wir sind dazu verurteilt, da zu sein […]«, Carl Friedrich Gethmann, Was bleibt vom fundamentum inconcussum angesichts der modernen Naturwissenschaften vom Menschen? In: M. Quante (Hrsg.), Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Hamburg 2016, S. 3–28, hier S. 25. – Holm Tetens, Über das Rätselhafte der Selbstreflexion. In: H. Hastedt (Hrsg.), Macht und Reflexion (Tagung an der Universität Rostock), Hamburg 2016, S. 255–266. 8 Ich beziehe mich hier auf Ernst Wolfgang Orths Modalisierungs-Theorem. – Vgl. auch den Exkurs »Endlichkeit und Individualität« in V. St., Kulturphilosophie, a. a. O., S. 150 ff.: Zum Bewusstsein unserer Existenz gehört die aufbrechende Erkenntnis hinzu, dass wir sterben müssen. Man kann entscheidend das, was wir kulturell tun, als eine Reaktion auf diese Erkenntnis interpretieren. 7
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Volker Steenblock
Worauf ich hinaus möchte: Mit diesem »Stellung beziehen«, das wir erkennbar tagtäglich tun und zu tun haben, tritt das Subjekt in den Modus der Kultur ein, indem diese unsere Existenzweise darstellt (und nicht ein Trugbild genetischer oder sozioökonomischer Tiefenkräfte). Mit Ernst Bloch könnte man formulieren: »Ich bin, aber ich habe mich noch nicht orientieren können«. Die Deutungsmühen und Sinnbildungen der Ideensysteme, aber auch unser alltägliches Handeln, wie es die Geschichte darstellt, 9 sind ein theoretisches wie praktisches Stellung-Beziehen zur Welt. Für die theoretische Seite gilt: Weil wir eine Positionierung für uns benötigen – »Sinn« ist ein das Selbst konstituierendes Verortungsbemühen subjektiver individueller Jeweiligkeit 10 – ist diese Positionierung ein konstruktives Unternehmen, darauf angelegt, Bedeutungssphären und Organisationsformen zu erzeugen. Um eine solche Auszeichnung der Stelle unseres Selbstbewusstseins als nötiges Pendent zur Welt kommen wir nicht herum. Keine »Welt« ohne die Zeugenschaft eines Subjekts. Unser vorgefundener Standpunkt, ein Erstes und Letztes, hinter das keiner von uns zurück kann, bestimmt uns als kulturelle Existenzen. Wir verstehen eine Welt, die wir selbst erzeugt haben und noch weiter erzeugen: so sagt es der Klassiker Giambattista Vico. Darum kann das Subjekt keine ahistorische und abstrakte Erkenntniskonstitution Es wäre eine Untersuchung wert, in wie weit eine Kulturgeschichte aller Umstände und Ziele unseres Lebens, von der konkreten Arbeit bis zu Gewinnsucht und Reichtum, vom allzu Menschlichen bis zu seinen Kuriositäten, weil zeitbedingt, heterogen, oft läppisch, auch anspruchslose Zerstreuung, auch körperlich, alltäglich, popkulturell und ordinär, nur gegen die »große Theorie« gewonnen werden kann. Eine Beschäftigung mit der gegenwartsprägenden Popkultur zum Beispiel zeigt, dass solcher Darstellung doch Theorie begegnet, vgl. V. St., Kultur oder: die Abenteuer der Vernunft im Zeitalter des Pop, Leipzig 2004; Ders., Philosophieren mit Filmen, Francke: Tübingen 2014; Ders., Kunst gibt uns zu denken. Philosophieren mit Bildern und Literatur, Oper und Theater, Bochum 2015; Ders., Literatur und Film als Zeitdiagnose. Philosophieren mit Pop und Medien, Bochum 2018. 10 »Sinn« meint keine schlichte »Gutartigkeit« menschlicher Lebenswelten. Die Rede vom Sinn geht davon aus, dass Menschen so leben, dass sie Kenntnis von sich haben und sich ein Bild ihrer selbst und der Welt machen, und dass sie Interpretationen dessen, was sie sind und sein wollen, entwerfen (vgl. Emil Angehrn, Sinngeschehen und Sinnbildung. Kommentar zu Jörn Rüsen. In: Erwägen / Wissen / Ethik EWE 22, 2011, 490–493, 491). Auch die kulturphilosophische Tradition, die an den Idealismus anschließt, sieht im Individuum keineswegs den schlichthinnigen Gebieter des Sinns. Vgl. zur »Tragödie der Kultur« bei Georg Simmel und Ernst Cassirer: Gudrun KühneBertram / Hans-Ulrich Lessing und Volker Steenblock (Hrsg.), Mensch und Kultur. Klassische Texte der Kulturphilosophie, Hannover 3. Aufl. 2015, S. 113 ff. 9
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Über das Verhältnis von Naturalismus, Kultur und Bildung
implizieren (Wilhelm Dilthey gegen Kant), sondern muss sich in Verbindung mit dem Spektrum der von ihm erzeugten Kulturwelt verstehen lassen, aus deren Prozessen alles konkret ansetzende Sinnverstehen und alle Sinnbildung bereits kommt. Über Dilthey hinaus hat Ernst Cassirer die Formen des Geistes und der Kultur als ihrer freigesetzten Entwicklung näher zu bestimmen versucht. Wenn dies so richtig ist, muss dem Naturalismus widersprochen werden. Manche, die die Naturwissenschaften »weltanschaulich« allgültig nehmen, möchten die verursachenden und bestimmenden Voraussetzungen unseres Erlebens und Denkens und der Kultur in der »Hardware« des Gehirns finden. Die Erfolgsprinzipien objektivierenden Gegenstandszugriffs werden aus dem Umgang mit der Natur in den Umgang mit der Kultur übertragen. Die Wirklichkeit gilt für im Letzten materiell, hier ist mit aller Forschung und Wissenschaft anzusetzen, nicht im Geistigen. Dass dies angemessen ist, scheint zweifelhaft, wenn bereits Vico metaphorisch konstatiert, dass ein Naturalismus den von uns selbst erzeugten Charakter der Kultur übersieht, weil er alles incl. der Kultur nur als Außenwelt in den Blick bekommt. Darum hat er auch keine Probleme mit der offensichtlich unsinnigen Behauptung, »das Gehirn erzeuge Kultur«. »Gehirn« wie »Kultur« sind hier einfach objektivierbare Gegenstände und als solche sozusagen auf derselben Ebene anzusiedeln. Dass Sie und ich und wir die Kultur bilden, ist gerade der Schritt, den der Naturalismus nicht gehen kann bzw. will. Dies sei, sagt Vico mit einem Gleichnis, so, wie das Auge – gleichsam fixiert – die gesamte Welt erkennt, aber sich selbst nur im Spiegel wahrnehmen könne. 11 Wenn ich als reflektierendes Ich höre, dass ich (in Vicos Bild: das Auge) entgegen meinem lebendigen Selbstempfinden von Autorschaft in diesem eigentlichen Sinne nicht existiere, mutet diese Aussage recht selbstwidersprüchlich an, da sie mich »Nicht-Existierenden« wie einen Existierenden anspricht, gar – ein solches Paradoxon hat die Diskurstheorie ja herausgestellt – argumentativ auch noch meine Zustimmung zu dieser meiner eigentlichen Nicht-Existenz erheischt. Höchst humorig trägt Daniel Dennett darüber vor, wie sehr wir unwissenschaftlicherweise an unserem Ich-Bewusstsein hängen, wie schwer uns die Erste-Person-Perspektive auszutreiben ist. Aber eben in der Tat: Noch in strengster »Objektivität« arbeitet stets Jemand, ein kulturelles Subjekt; noch wo scheinbar nur naturwissen11
Vgl. V. St., Kulturphilosophie, a. a. O., 15, S. 213 f.
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Volker Steenblock
schaftliche »Fakten« sprechen, wird experimentiert, arrangiert, literarisiert, inszeniert, präsentiert. Nicht nur das erkennende Subjekt, sondern auch die Kultur sind hier sofort im Spiel. Viele wissenschaftshistorische und wissenssoziologische Untersuchungen von Thomas S. Kuhn bis Bruno Latour zeigen dies. Offenbar gilt für einen Idealismus wie für einen Naturalismus, womit Thomas Nagel 12 sich so eindrucksvoll herumschlägt, dass in diesem Hiatus weder das Objektive vom Subjektiven noch das Subjektive vom Objektiven einfach verschluckt werden kann. Wer Ersteres tut, landet in den Unplausibilitäten des Solipsismus, wer Letzteres versucht, will Anker werfen in der zur Weltanschauung aufgeladenen Sicht eines schlechthinnig Ganzen. Grund, um dies zu wiederholen: Wir erleben uns als mit der Welt konfrontiert, nicht als deren Konstrukteure, auch nicht aber als deren bloße Teilobjekte. Bleibt der Zwiespalt von Ich und Welt uneingeebnet, so möchte ich nun überlegen, eröffnet sich der kennzeichnend eigenständige Raum der Kultur, der andernfalls entweder in den Abstraktionen reiner Transzendentalphilosophie oder in einem spekulativen Idealismus 13 aus dem Blick geriete oder durch ein umfassendes Natur- oder Sozial(wissenschafts)paradigma 14 schlicht ersetzt würde. Diesen allen ist gemeinsam, dass sie die konkrete Kultur eigentlich gar nicht adäquat wahrnehmen können. Im mit guten Gründen offenzuhaltenden Zwiespalt, scheint mir weiterhin, gründet zugleich auch die Philosophie als unsere höchste, alles Wissen bündelnde und (erkenntniskritisch) reflektierende (darum vor den Sozial- oder Naturwissenschaften anzusiedelnde) vernunftorientierte Reflexionsform, als BilThomas Nagel, The View from Nowhere. Oxford University Press, New York 1986. 13 Die klassische Kulturtheorie Wilhelm Diltheys, Ernst Cassirers und Georg Simmels, die im vorliegenden, von Ralf Glitza und Kevin Liggieri hrsgg. Band »Kultur und Bildung« Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Ralph Köhnen, Katharina Bauer und Annika Schlitte zum Thema machen, verdankt beiden Perspektiven viel, muss sich aber zugleich in ihrer Kritik bzw. Überschreitung konstituieren, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden. 14 Ideen von einem Rationalitätsprimat der Naturwissenschaften stellen nicht schon per se den »Naturalismus« dar, zu dem sie freilich des Öfteren zu tendieren scheinen. Unter »Naturalismus« verstehe ich in den hier verhandelten Kontexten den Versuch, alle Zugriffe auf »Kultur« ausschließlich von einem unterstellten Paradigma der Naturwissenschaften aus zu denken bzw. in Aufhebung eines »transzendentalen« Vorbehaltes von der Möglichkeit einer völligen Herkunftserklärung unseres Erkenntnisund Kulturvermögens aus der Natur auszugehen. 12
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Über das Verhältnis von Naturalismus, Kultur und Bildung
dung. 15 Da wir alle Sinnerzeugung, zu der es uns drängt, auch prüfen und hinterfragen können, ist diese ein kritisches Geschäft. In ihr gilt es, den Standpunkt zu benennen, von dem aus wir überhaupt nachdenken, hoffen und handeln können. 16 Jeder muss einen solchen Standpunkt in Anspruch nehmen, sobald er etwas als etwas Kohärentes, Erklärendes, Orientierendes – d. h. als Sinn – bestimmt; das gilt noch für die, die diesem Standpunkt von den eigenen wissenschaftlichen und philosophischen Vorgehensweisen her seine Dignität bestreiten. Im Fortschreiten der Kultur in einer Dialektik von Subjektivem und Objektivem gewinnen die Menschen ihre Selbstbilder von diesem Standpunkt aus und zugleich aus den großen, in Generationen entwickelten religiösen und weltanschaulichen Deutungsweisen, mittels deren sie sich in der Gesellschaft anderer Menschen und als deren Traditionserben in der Welt behaupten. Dem Bestimmungsversuch eines Anker- bzw. Fixpunktes im Sinne einer die Welt und uns Menschen erklärenden umfassenden Theorie dürfte eine »weltanschaulich« eindeutige Lösung versagt bleiben, wenn es Kultur gibt: insofern diese ein zugleich kontinuierliches wie innovativ-offenes Projekt darstellt, ist sie nicht an einem der Pole zu befestigen. Als weltbewältigende Subjekte balancieren wir in unserem Orientierungs- und Bildungsbemühen immer schon zwischen dem Objektbereich einerseits und seiner Konstitution andererseits. Indem Sinn genau jenen Zusammenhang stiftet, dessen wir hier bedürfen, wird er zum Kernbegriff eines dynamisierten Erkenntnisverständnisses. Wir investieren einen Sinn, den wir zugleich als »Welt« gewordenen zurückerhalten und neu bearbeiten. Mit der im Vorstehenden entwickelten Zweipoligkeit von Mensch und Welt entsteht demnach nicht nur vermittelnd für jeden von uns die Notwendigkeit einer Positionierung, sondern es setzt gleichursprünglich auch die Kultur insgesamt in ihrem Eigencharakter an, zu existieren. Diesem Vorgang eignet nicht Beliebiges. Man Ich meine damit einen Begriff von Philosophie, der sich nicht auf eine der traditionell oder aktuell diskutierenden Parteien im Metier verpflichtet, sondern lediglich beansprucht, als eine bündelnde, zweieinhalb Jahrtausenden philosophischer Arbeit am Logos verpflichtete Reflexionsform nicht in den Erkenntnisformen der Wissenschaften aufzugehen. 16 Philosophie ist demnach unsere kulturelle Orientierung in der Welt und kann sich als die höchste Form bewussten Kulturvollzuges darstellen. Das schließt weder reine Begriffslogik noch Kognitionsforschung noch irgendeine Form unserer Information durch die Wissenschaften aus, ist aber auf diese nicht zu verkürzen. 15
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hat bemerkt, dass Kultur von Anfang an Überleben sichern muss, sobald wir nicht mehr, wie das Tier, einfach Teil einer »Welt« sind (von der das Tier freilich nichts weiß und von der nur wir als Menschen sprechen können). Dies gilt sowohl in einem agrarisch-praktischen Sinne (durch die Pflege des Ackerbaus) als auch in einem magisch-metaphysischen Sinne (durch Verehrung eines Göttlichen zur Erklärung des Ganzen, das uns umgibt bzw. unserer endlichen und oft bedrohten Rolle in diesem Ganzen). Ein der skizzierten Zweipoligkeit entspringendes Initiativ-Moment nötiger Eigen-Ständigkeit markiert den Umschlagspunkt, jenes Kippmoment, an dem die menschliche Kultur ebenso myriadenfach immer wieder von Neuem entspringt wie sie sodann ihre Traditionen ausbildet. Alle kulturellen Hervorbringungen können von hierher als Objektivationen der uns nötigen Selbst- und Weltinterpretation erscheinen. Durch eine Überwindung seines Fremdseins in der Welt und ein Sichvertrautmachen, das die Welt mit Sinn und Bedeutung auflädt, erzeugt der Mensch zu allen verschiedenen Zeiten und an allen verschiedenen Orten die ideellmateriellen Gespinste objektiver Kultur, ohne die er mit sich selbst, mit seinesgleichen, mit denen er in den Plural gestellt ist, 17 und mit seiner Wirklichkeit nicht handelnd bzw. in der Verarbeitung von Leid umgehen kann. Zugleich entwickelt er sich in einem unabschließbaren Gang, solange es eben Menschen gibt, weiter, der durch alle Errungenschaften ebenso wie durch alles Versagen und alle Bosheit der Weltgeschichte führt und angesichts dessen es Hoffnung und Verzweiflung geben kann – nur eben keine Garantie.
3.
Notwendigkeit einer adäquaten Kulturdeutung mit Zugriffsweisen und Wissensbeständen aus allen drei Theoriefeldern (Natur, Gesellschaft und Geist)
Alle angesprochenen Theoriefelder sind, wie bereits mehrfach betont, zweifellos aufschlussreich, nötig und interessant. Insbesondere macht es in der Moderne keinen Sinn, an den zeitgenössischen Naturwissenschaften »vorbeiphilosophieren« zu wollen. Es ist nicht nur die große technische und ökonomische Bedeutung der NaturwissenMit René Torkler entspringt an dieser Stelle auch das uns zu unseren Mitmenschen nötige und unausweichliche, in einem prinzipiellen Sinne politische Verhältnis in der Kultur, mit Kinga Golus insbesondere das Geschlechterverhältnis. 17
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schaften in unserer Gegenwartszivilisation, die diese Konsequenz erzwingt: Die Naturwissenschaften prägen auch die Rationalitätsvorstellungen, mit denen wir in der Gegenwart unser Leben und die Welt deuten. Wer in der Moderne etwas zur Kultur sagen will, tut das unter dem Eindruck dieser avancierten Wissenschaften, und er tut es noch in Bezug auf das Kulturwesen Mensch ein ganzes Stück weit mit Recht. Zugleich liegt jedoch hier für eine »Hochrechnung« der Naturwissenschaften zum Naturalismus eine Grenze: Der im Naturalismus eingenommenen totalisierenden Perspektive 18 ist ein Perspektivwechsel gegenüberzustellen: hin zu einer durch natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zwar belehrten, nicht jedoch auf sie reduzierten Sicht. Theorien aus allen drei Horizonten zur Kulturerklärung heranzuziehen und ihrem Wettbewerb die besten Plausibilitäten zu entnehmen, kann nur demjenigen inkohärent erscheinen, der sich ohne Einsicht in den kulturellen Konstruktionscharakter aller Wissenschaft auf eine der drei Varianten als »Weltbild« festlegt. Der Perspektivwechsel nimmt seinen Ausgang von der besonderen Irreduzibilität unseres Bewusstseins, die wir als die eigentliche Qualität der Kultur mit den vorbenannten Kautelen auch Geist nennen können. Sie mag noch künftigen Überlegungen wie der Sprung in eine neue Dimension erscheinen, vielleicht ist sie auch (als Schritt um Schritt aus der Natur als ein Anderes hervorgegangen) rekonstruktiv plausilisierbar. 19 Die Erfahrung, der Lebensform der Kultur mächtig zu sein, »dreht« den Menschen aus der Natur heraus (Günter Dux) – natürlich aber nicht in der Art, dass er auf einmal ohne alle deren Prägungen, die ihn haben entstehen lassen, da stünde und standortfreier Bildner seiner selbst wäre. So wie wir als Personen uns über Narrationen konstituieren, d. h. selbst sprechen und nicht einfach Dinge sind, über die Ohne die Mittel der missachteten Hermeneutik bewusst zur Verfügung zu haben, möchten »natürlich« auch Vertreter des Naturparadigmas zum Menschen und seinem Leben etwas zu sagen haben. Das gilt von Epikurs Lebenskunst angesichts seines Atomismus bis zu Daniel Dennetts unbezwingbarem Drang, sich zur Kultur zu äußern, siehe From Bacteria to Bach and Back, New York 2017. 19 Zu den interessantesten Ansätzen gehört in diesem Zusammenhang der von Günter Dux. Vgl. neben dem Beitrag im vorliegenden Band vor allem die Historisch-genetische Theorie der Kultur, 4. Auflage Wiesbaden 2017 im Rahmen der Gesammelten Schriften von Günter Dux, Wiesbaden 2017 ff. (Band 2). Duxens Modell einer Herausführung des Geistes aus der Natur zeichnet sich dadurch aus, dass es jeden Kurzschluss in der Art »How the brain creates culture« vermeidet und zugleich die unumgängliche Desillusionierung festhält, dass der Natur vorab Geist nicht zu unterstellen ist. 18
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gesprochen werden kann, agieren wir als Kulturwesen deutend, bewertend, gestaltend ein Möglichkeitsspektrum in den Dimensionen der Ethik, der Ästhetik und des Sinns aus. Wiewohl vorformatiert durch Naturdispositionen und in die systemischen Kontexte der von uns selbst freigesetzte Eigendynamiken sozialen Zusammenlebens und der Ökonomie eingebunden, sind wir als Menschen unserem Selbstverständnis nach dabei wesentlich Subjekte, die sich Ziele setzen können. Indem wir deutende, bewertende, gestaltende Wesen sind, vermögen wir unsere humane Existenz vor allem in einer Sinnperspektive auszudrücken. Pointe dieser Perspektive ist, dass, wer Zugang zu ihr gewinnen möchte, sie als humanes Projekt »von innen« mitvollziehen muss – und sie nicht lediglich szientifisch objektivieren kann. Es geht gerade nicht um quantitativ erfassbare, von außen beschreibbare Phänomene, sondern um qualitative Fragen, die ein Referenzsubjekt betreffen, das sich selbst als bewusste Instanz wahrnehmen und einbringen kann. Diese Erfahrungsdimensionen (von der die Naturund manche Sozialwissenschaften gerade absehen, um als Wissenschaftsformen ihre Stringenz und Geltungsstärke zu gewinnen) prozedieren in einem komplexen Zusammenspiel von objektivem Kulturprogress mit Selbstbildung und Eigenwerden des Menschen, wobei dieser fortlaufend, durchaus variabel und problematisch, selbst die Bedingungen seiner eigenen Hervorbringungen verändert. Wir sind damit in unserer Präsenz als Menschen die Hervorbringungen eines Übergangs von größter, entscheidender Bedeutung: der Transformation von Natur in Kultur. Was der Mensch ist, bestimmt sich deswegen – das soll unser Perspektivwechsel bedeuten – keineswegs ausschließlich in den Naturwissenschaften, sondern in der »Kulturwirklichkeit« (Max Weber): in der eminenten Dynamik der Zivilisation, in der mehrdimensionalen Sphäre der Kultur und – wenn die großen Philosophen der Kultur Recht haben – in unserer eigentlichen Selbsterzeugung im Medium der Bildung (»Unser Ich ist, sucht sich zu orientieren, und dadurch werden wir«). 20 Unsere Auch wenn der Mensch Natur-, Gesellschafts- und Geistwesen ist, so ist er keineswegs eine auflösbare additive Mischung, sondern jeden Tag, wie er sich vorfindet, ganz Mensch. Clifford Geertz führt uns ironisch eine Reihung vor Augen, die zeigt, was passiert, wenn man dies missachtet: »Strip off the motley forms of culture and one finds the structural and functional regularities of social organisation. Peel off these in turn and one finds the underlying psychological factors – ›basic needs‹ or what-have you – that support and make them possible. Peel off psychological factors and one is left with the biological foundations – anatomical, physiological, neurologi-
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menschliche Wahrheit wird im Kulturprozess Schritt für Schritt für Rückschritt für Seitenschritt von uns selbst erzeugt. Kultur erweist sich demnach als jeweilige »Konstruktion unter Bedingungen«. In allen ihren Ausgestaltungen zeigt sich die Bedeutung dessen, was anfangs wie ein »Stolperstein« erschien: Kultur ist nicht Funktion eines Prinzips bzw. einer Erklärungstotalität »über« unserem menschlichen Bemühen, sei es des Jenseits, des Geistes, einer implizit garantielogischen Dialektik, des mathematisierbaren Marktes, der naturgesetzlichen Evolution usw. Sie ist in keinem erkenntnistheoretisch reklamierbaren Sinne eine »Unverborgenheit«, die Zukunft ist prognostisch nicht zu besetzen. Tatsächlich sehen wir die Arbeit des Menschen – in ihrer Großartigkeit wie Gebrochenheit, Leistungsfülle wie Widersprüchlichkeit und allzuhäufigen Vergeblichkeit – multifaktoriell und interagierend den Gang der Kultur erzeugen. Das Verständnis ihres Ganges als – konstitutiv jeweilige, jedoch interkulturell verhandelbare – menschliche Sinnarbeit im Kontext und in Mitgestaltung naturaler und sozioökonomischer Verhältnisse macht den eigentlichen Begriff der Kultur aus. Unsere kulturelle Wirklichkeit ist der – mit den Menschenmassen des Anthropozäns geradezu dramatische – Vortrieb naturhaft aufgegleister, technisch-ökonomisch gewaltig befeuerter, religiös-ideologisch hin und her bewegter Gestalten und Existenzweisen des menschlichen Seins. Religiöse Vorstellungen, wirtschaftliche Notwendigkeiten und persönliche Ziele füllen die Köpfe so vieler vergänglicher Existenzen und verändern sich zugleich durch die Zeiten hindurch wie im Durchschreiten eines Pluriversums, welches ursprüngliche Handlungsantriebe eines Lebenswollens in immer neue Möglichkeitsfelder führt. Kultur bedeutet dann auch, dass sich durch die Möglichkeiten so vieler innovatorischer Individuen keine gerade Linie ziehen lässt. Das ist das Leben der Kultur: menschliches Reflektieren und Entwerfen höbe sich andernfalls auf, würde stillgestellt, würde Utopie oder, dahin könnten wir es als Gattung auch bringen, cal – of the whole edifice of human life.« The Interpretation of Cultures, New York 1973/2000, S. 37. – Bereits Max Weber, kein unwichtiger Bezugspunkt für den Hermeneutiker Geertz, spricht davon, dass es im Unterschied zu gleichsam »astronomischen«, die Weltkörper betreffenden, »quantitativen, exakter Messung zugänglichen Beziehungen« darauf ankommt, die »uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welche wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart«, und das ist: in ihrer »Kulturbedeutung« zu »verstehen«. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922), 4. Aufl. hrsgg. von J. Winckelmann, Tübingen 1973, S. 170.
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Tod. Das ist aber auch das Verhängnis der Kultur: Es ist so erstaunlich, was in Kunst und Wissenschaft das Menschenwesen alles kann und was es in seinem Zusammenleben doch alles nicht kann. Der Naturalismus erfüllt seinerseits »Weltbild«-Funktionen; schon dies weist ihn übrigens als eine Hervorbringung der Kultur aus. Besser ein Teilchen in einem Universum ohne Sinn, das sich von kultureller und religiöser Ideologie befreit, als überhaupt kein »Weltbild«. Noch das Dementi der Sinnhaftigkeit impliziert Sinnbezüge, z. B. eine »Aufklärungsemphase« oder eine auf die naturalistisch wahrgenommene Welt reagierende Lebenskunst, wie sie dem kulturellen Arsenal bereits der Antike entstammt. Im kosmischen Rahmen ist eine sinngarantierende »Erheblichkeit« der Welt verloren, wie sie einst ihr Status als eine aus dem Nichts heraus erzeugte göttliche Schöpfung sichern mochte. Illusionen zu verlieren heißt, an Boden zu gewinnen: Tapfer und aufgeklärt ist auf unsere Welt zu blicken: Da umkreist nach aktueller Auffassungsweise unser Planet eine vor den Dimensionen des Weltalls bedeutungslose Sonne, unbewusst und fremd vollzieht seit das Universum seine physikalischen Abläufe. Hinter den unerreichbar weiten Sternen gähnt das All, unbegreiflich, keine Heimstatt und gegenüber früheren Projektionen vom griechischen Kosmos bis zu Johannes Kepler völlig sinnfrei. Niemand wird der naturermöglichten Menschenepisode, die nur kurz aufblitzt, eine Träne nachweinen. 21 Wie immer die spannende Frage der Entstehung sinnfähigen Bewusstseins qua Evolution ihre Antwort finden mag: Die Sinn-Kategorie verlässt den Bereich der Natur und zieht sich in die Sphäre der Kultur zurück; dort jedoch bezeichnet sie deren Eigentliches und thematisiert auch die von der entzauberten Natur nicht mehr getragenen Ziele unseres Lebens.
4.
Zum Zusammenhang von Kultur und Bildung
So faszinierend und so unentbehrlich die Erforschung der Natur und der Umgang mit dem, was in der Kultur Natur ist, aber sind: Nicht lediglich eine Entlarvung allen Seins als »naturhaft« ist wahrhaft unWolfgang Welsch möchte angesichts der Dialektik von Ich und Welt eine Zugehörigkeit des Menschen zur Welt erweisen, in welcher der Geist der Natur nicht zu supponieren ist, sondern qua Emergenz ein Produkt ihres Gesamtprozesses sei, indem das Sein »nicht nur epistemisch seine eigene Erfassung betreibt, sondern sich auch ontologisch weiter vorantreibt«, vgl. Welsch, Mensch und Welt, München 2012, S. 8.
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sere menschliche Sache, sondern viel mehr unsere adäquate Bildung im Umgang mit den Hervorbringungen und Schätzen der Kultur. 22 Eine Nähe der Begriffe von Kultur und Bildung ergibt sich bereits daraus, dass beide sich auf ein analoges Spektrum von Referenzfeldern beziehen können. Dieses Spektrum reicht vom eher subjektbezogen akzentuierten Bildungsbegriff Wilhelm von Humboldts über einen ethnologischen Begriff von Kulturen als jeweiligen unverrechenbaren Einzelformationen sprachlicher und sozialer Traditionsund Wertebildung (von Johann Gottfried Herder zu Franz Boas und Bronisław Malinowski) bis zu der Vorstellung einer Bildung des Menschengeschlechtes überhaupt. 23 Die Nähe beider Konzepte zeigt sich aber vor allem darin, dass beide an dem im Vorstehenden angesprochenen Perspektivenwechsel Anteil haben. Weil wir nicht nur Einzelobjekte der Welt sind, müssen wir selbst etwas aus unserem Dasein in der Welt machen. Kultur- und Bildungsphilosophie können von diesem Ausgangspunkt ihren Gegenstand gar nicht anders als engagiert, d. h. in einem Bezug auf Normen behandeln, weil dieser Bezug einerseits der notwendig kulturellen Selbstpositionierung und Weltbewältigung des Einzelnen bereits im Ansatz zugrunde liegt und andererseits in den überindividuellen historischen Objektivationen nach Form und Gestalt ringt, insoweit diese nur in ihrem Wert- und Sinnbezug zu verstehen sind. Wer das als »nicht wissenschaftlich« ausschließen will, versucht auszuschließen, was auszuschließen unmöglich ist, nämlich, worum es beim Menschen eigentlich geht. Was der Mensch ist, entscheidet sich in der qualitativ mehrdimensionalen Sphäre der Kultur und in unserer eigentlichen Selbsterzeugung im Medium der Bildung. Bedingungsverhältnisse sind zu klären, aber Befreiungsvorgänge und Sinnvollzüge sind das, um was es geht. Kultur, Bildung und Aufklärung sind wesentlich Projekt, 24 LebensaufSo unbestreitbar dies unter den so überaus multiplen Eigenwelten der Kultur ein abendländisches Projekt, ist, so liegen doch Vermittlungsversuche vor, vgl. Jörn Rüsen (Hrsg.), Approaching Humankind. Towards an Intercultural Humanism, Göttingen 2013. 23 Dies stellt heraus Michael N. Forster, Bildung bei Herder und seinen Nachfolgern, in einem Buch mit überhaupt sprechendem Titel: K. Vieweg / M. Winkler (Hrsg.), Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang, Paderborn 2012, S. 75–90. – Dass diese drei Referenzfelder von Kultur und Bildung, dass Individualität, kulturelle Jeweiligkeit bzw. Pfadabhängigkeit und Menschheitsperspektive in einer fruchtbaren Spannung zueinander stehen, ist offensichtlich, einfacher aber ist die Sache nicht zu haben. 24 Diese Begriffe prägen heute eine signifikant deutsche Theoriesprache, freilich heißt 22
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gabe, d. h. beständige Arbeit im Progress, die von uns so gut wie möglich gemeistert werden müssen, wenn wir ausfüllen wollen, was unter dem Begriff des Menschen zu denken ist. 25 Worum es in der Bildung für jeden Einzelnen geht, findet philosophisch seinen Ausdruck im semantischen Feld von »Ich« und »Selbst« im Sinne einer Option, die nicht auf dem Seziertisch des Mediziners (Georg Simmel) oder (heute:) im Tomographen anzeigbar ist: dass unsere Existenz auf ein gleichsam Besseres ihrer selbst ausgerichtet ist, dass eine gewisse Einheitlichkeit und Kontinuität ihrer Einzelzüge dazu erforderlich sind, und dass dieses Ziel für uns viel plausibler eine Form von Zusammenklang, von Symphonie ist als ein bloßes Konglomerat von Einzeltönen. 26 Für seinen Anteil am objektiven Kulturprozess kann jeder Einzelne in der dabei nötigen kulturellen Arbeit für sich selbst einen Prozess der Bildung durchlaufen. Insbesondere die Philosophie kann dabei als unsere vielleicht höchste Kulturerrungenschaft (Wilhelm Dilthey) 27 und als die bündelnde Reflexionsinstanz unserer Existenz gelten. Mit ihr können wir selbst über uns und unsere Welt urteilen. In einer demokratischen Gesellschaft muss ein solches Philosophieren als Bildung begriffen werden, muss Chance und Projekt eines/ einer jeden sein. 28 es beim Philosophen Moses Mendelssohn noch im Jahre 1784, dass die Begriffe »Aufklärung«, »Kultur« und »Bildung« »in unserer Sprache noch Neuankömmlinge« seien, siehe E. Bahr (Hrsg.), Was heißt aufklären?, Stuttgart 1974, S. 3 ff. 25 Während der philosophische Diskurs der Moderne als Humanismus immer verzweifelter mit selbsterklärten »Posthumanismen« ringt, scheint der Markt mit Genpatenten bereits für den Menschen zu sorgen, der ihm gemäß ist. Wenn man es nicht als plausibel ansieht, dass in prähistorischer Zeit ein aufrecht gehendes Affenwesen das Portal zur Kultur durchschritten und als »vollständiger Mensch« wieder verlassen hat, mag dies noch nicht einmal überraschend erscheinen. Eine noch ausstehende mediale und genetische Transformation von Eliten würde dann das Übergangsfeld der biologisch-kulturellen Koevolution, welcher der Mensch sich allererst verdankt, in eine höchst ungewisse Zukunft spiegeln. 26 Vgl. V. St., Theorie der kulturellen Bildung, München 1999. 27 »Philosophie ist das Umfassendste, die allseitigste jener Funktionen, durch die der menschliche Geist zum Bewusstsein seiner Zwecke gelangt: Sinn des Lebens und Universums. Der immer rege Zusammenhang des menschlichen Geistes mit sich selbst. Das Letzte, das Höchste der menschlichen Kultur überhaupt«. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften (GS), a. a. O., Band XXIII, S. 162. 28 Die dem Menschen nötige und zugleich ihm aufgegebene Einfindung in die Sinnbestände der Kultur, deren Thesaurierung und Fortentwicklung, macht Bildung – und gerade philosophische Bildung – zu einem entscheidend wichtigen Thema. Denn die beständig nötige Arbeit am Sinn bedarf (in einem offenkundig ebenso wörtlichen wie grundsätzlichen Begriffsverständnis) einer »kulturellen Lesefähigkeit« (Ernst Wolf-
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5.
Kulturreflexive Ausblicke
Es sei erlaubt, sehr kurz noch einige Bemerkungen anzuschließen, die sich als Resultate aus diesen Überlegungen zum Verhältnis von Naturalismus, Kultur und Bildung aufdrängen. Es entlarvt sich in Konsequenz aus dem Vorstehenden zunächst das Wort von der »Posthermeneutik« ebenso wie das vom »Posthumanismus« und wie bereits manch anderer Post-ism zuvor. 29 Hinsichtlich der eingangs skizzierten Deutungshorizonte heißt das, dass es kein adäquates Kulturverständnis ohne das komplexe, auf mehreren Theorieebenen angelegte Paradigma der Hermeneutik gibt. 30 Weder am Vorbild der Naturwissenschaften ausgerichtete Vorgehensweisen 31 können die Leistungen der Hermeneutik ersetzen, noch jene bunte Fülle der Moden und Methoden, die die Postmoderne in den Geisteswissenschaften hervorgebracht – man kann wohl auch sagen: angerichtet hat (Gunter Scholtz). Das theoretische Spektrum der Kulturwissenschaften an den Universitäten, aber auch in den Institutionalisierungsformen der Institute, »Zentren«, Kollegs usw. mag noch so eigendynamisch erscheinen, es lebt, wo es wirklich lebt, von der Substanz der Hermeneutik. So wenig wir hinter unser bewusstes Menschsein zurück können, so wenig können wir auf ein nach- und mitvollziehendes Verstehen in der Sphäre der Kultur verzichten. In den Kulturwissenschaften ist ein Sinnverstehen jener Deutungen unabdingbar, die wir gang Orth). Vgl. V. St., Kultur und Philosophische Bildung. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie, Heft »Kultur«, 39 (2017), S. 3–4; Philosophie und Lebenswelt, 2 Bde. Hannover 2012 und 2018. 29 Vgl. Jörn Rüsen, Post-ism. The Humanities, Displaced by their Trends. In: Public History Weekly 4 (2016), S. 27. 30 Vgl. als Skizze V. St., Chancen des Verstehens. Die Hermeneutik unter den Theorieformen der Kulturreflexion. In: Kevin Liggieri / Hans-Ulrich Lessing (Hrsg.), Das Wunder des Verstehens, Freiburg 2018, S. 205–241. Ich berufe mich auf die zahlreichen Arbeiten von Gunter Scholtz zur Hermeneutik sowie zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, im genannten Band z. B.: Das Verstehen in der klassischen Hermeneutik, S. 21–40. 31 Ein Dokument dieser Tendenz ist in seiner Anlageweise der Beiträge der Band Simon Lohse / Thomas Reydon (Hrsg.), Grundriss Wissenschaftsphilosophie. Die Philosophien der Einzelwissenschaften, Hamburg 2017, der die hermeneutischen Traditionen ausblendet und statt ihrer im Geiste von Naturwissenschaft und Analytischer Philosophie agiert. Aber auch die »Dekonstruktion« als Deviation der Hermeneutik ist für die in diesem Band vertretene Sicht »weit entfernt vom Ideal rationaler Argumentation« (S. 122).
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Menschen unserer Welt, uns selbst und unserem Handeln angedeihen lassen. Indem wir denkende Wesen sind, sind wir zugleich liebende, deutende, ästhetisch empfindende, moralisch bewertende, gestaltende Menschen. Die Grammatik von Sinn ist eine andere als die von bloßer Gegenständlichkeit. Wie sonst hätten wir Zugang zu Michelangelos »Erschaffung Adams« in der Sixtinischen Kapelle oder zur Musik Mozarts und Bachs? Ihre eigentliche Anwendung findet die Hermeneutik in jenem dichten, sich in einem fort weiter spinnenden und anreichernden Netz von qualitativen Bedeutsamkeiten, im Geschmack unseres je persönlichen Lebens, von Liebe, Bildung, Sinn. Der Mensch existiert als diejenige Lebensform, die sich nicht nicht interpretieren kann. Dabei ist integratives Arbeiten unumgänglich und sind die Naturbedingungen des Menschen so wenig zu leugnen, wie die sozioökonomischen Gesetzmäßigkeiten seiner arbeitenden, wirtschaftenden und gesellschaftlichen Existenz zu vernachlässigen sind, denen derselbe Mensch unterliegt, selbst wenn wir sagen wollen, dass der Geist ihn eigentlich ausmacht. Unter dem Druck machtvoller Naturalisierungstendenzen, unter dem Einfluss der Suggestion, die Welt sei genau das, was die Naturwissenschaften uns zeigen, erscheint es gegenwärtig als die Aufgabe der Kulturphilosophie, die von ihr vertretene Dimension für die Philosophie zu wahren 32 und ihren Gegenstand als Vernunftbemühen, als Arbeit am Logos neu in die Mitte der Diskussion zu stellen. Wo wir als Menschen unter unseresgleichen ein bewusstes Leben führen und unsere Welt entsprechend formen wollen, geschieht dies im Medium von Sinnprozessen, die Bildungsprozesse im Zeichen einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung sind. In diesen kann die Philosophie für mehr gelten als nur eine Pressesprecherin der Naturwissenschaften und ihrer angeblich allumfassenden Erklärungsmöglichkeiten zu sein.
Charles Taylor, Was ohne Deutung bleibt, ist leer. Kontinentale und analytische Philosophie gelten heute nicht mehr als unvereinbar. Doch das harmonische Bild trügt. Mit ihren Reinheitsdogmen entzieht die Analytik dem Denken das kulturelle Fundament, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 01. 2016.
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Über die Autorinnen und Autoren
Katharina Bauer, PD Dr., Philosophin, Assistant Professor (TenureTrack) an der Erasmus Universität Rotterdam. Unter den Publikationen: Einander zu erkennen geben: Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe, Freiburg / München 2012. Jörn Bohr, Dr., Kulturwissenschaftler, Philosophiehistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Grundlagenforschung zur Philosophiegeschichte: Wilhelm Windelband (DFG) und Geschäftsführer der AG Philosophischer Editionen bei der DGPhil, Bergische Universität Wuppertal. Unter den Publikationen, mit einem AK Kultur- und Sozialphilosophie: Der Begriff der Kultur. Kulturphilosophie als Aufgabe, Bielefeld 2013, sowie mit K. Chr. Köhnke: Ernst Cassirer, Davoser Vorträge, Hamburg 2014 (ECN Bd. 17). Günter Dux, Prof. Dr., Soziologe an der Universität Freiburg. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen: Liebe und Tod im GilgameschEpos. Geschichte als Weg zum Selbstbewusstsein des Menschen, Wien 1992; Historisch-genetische Theorie der Kultur 2000, 4. Aufl. 2017, engl. 2011; Gesammelte Schriften, Wiesbaden 2017 ff. Ralf Glitza, Dr., Germanist und Philosoph, i. d. H. abgeordneter StR an der Ruhr-Universität Bochum, vormalig DAAD-Lektor an der Tongji-Universität in Shanghai. Unter den Publikationen: Globalisierung – Über die Notwendigkeit interkulturell-interdisziplinärer Wissenschaften, in: A. Burkhardt, J. Zhao u. J. Zhu (Hrsg.): Alltags- und Fachkommunikation in der globalisierten Welt, Frankfurt 2014. Kinga Golus, Dr., Philosophin, Wissl. Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld. Unter den Publikationen: Abschied von der Androzentrik. Anthropologie, Kulturreflexion und Bildungsprozesse in der Philosophie unter Genderaspekten, Berlin 2015. 237 https://doi.org/10.5771/9783495820360 .
Über die Autorinnen und Autoren
Julia Gruevska, M.A., Philosophin, Wissl. Mitarbeiterin am Lehrstuhl Geschichte der Lebenswissenschaften und Philosophische Anthropologie an der Ruhr-Universität Bochum. Herausgeberin von: Körper und Räume, Reihe: Studien zur Interdisziplinären Anthropologie, Wiesbaden 2019, (mit H.-U. Lessing und K. Liggieri): Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie – Göttinger Vorlesung vom Sommersemester 1961, Berlin 2019. Ralph Köhnen, Prof. Dr., Germanist an der Ruhr-Universität Bochum. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen: Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens. München 2009 und: Die Zauberflöte und das »Populare«. Eine kleine Mediologie der Unterhaltungskunst, Frankfurt a. M. 2016. Gudrun Kühne-Bertram, Dr., M. A., Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen: Wilhelm Dilthey, Briefwechsel, 4 Bde. Göttingen 2011 ff., Otto F. Bollnow, Schriften (beides mit H.U. Lessing); Konzeptionen einer lebenshermeneutischen Theorie des Wissens, Würzburg 2015. Hans-Ulrich Lessing, Prof. Dr., Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen: Die Autonomie der Geisteswissenschaften. Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, 2 Bde. Nordhausen 2015– 16; Mensch und Kultur (mit V. Steenblock), 3. Aufl., Hannover 2015. Kevin Liggieri, Dr., M.A., DGF-Forschungsstipendiat an der Professur für Wissenschaftsforschung, ETH Zürich sowie Carlo-BarckPreis-Stipendiat am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen (mit H.-U. Lessing): Das Wunder des Verstehens, Freiburg / München 2018. Ernst-Wolfgang Orth, Prof. Dr., Philosoph an der Universität Trier. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996; Die Spur des Menschen, Würzburg 2014.
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Über die Autorinnen und Autoren
Annika Schlitte, JProf. Dr., Philosophin an der Universität Mainz. Unter den Publikationen: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur. Georg Simmels ›Philosophie des Geldes‹, München 2012. Gunter Scholtz, Prof. Dr., Dilthey-Forschungsstelle an der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zur Theorie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Zuletzt: Philosophie des Meeres, Hamburg 2016. Volker Steenblock (1958–2018), Prof. Dr., Philosoph an der RuhrUniversität Bochum. Unter den Veröffentlichungen: Theorie der kulturellen Bildung, München 1999; Kulturphilosophie – Der Mensch im Spiegel seiner Deutungsweisen, Freiburg 2018. René Torkler, JProf. Dr., Philosoph an der Universität Eichstätt. Promotion unter dem Titel: Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung, Freiburg / München 2015.
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