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German Pages 184 [188] Year 1935
BEIHEFTE ZUR Z E I T S C H R I F T FÜR
ROMANISCHE PHILOLOGIE BEGRÜNDET VON
GUSTAV GRÖBER
PROF. D R .
FORTGEFÜHRT
UND
f
HERAUSGEGEBEN
VON
DR.
W A L T H E R
v.
W A R T B U R G
P R O F E S S O R AN D E R U N I V E R S I T Ä T L E I P Z I G
LXXXIV. HEFT \Y. T H E O D O R GESCHICHTSAUFFASSUNG
ELWERT
UND
ERZÄHLUNGSTECHNIK
IN DEN HISTORISCHEN ROMANEN F. D. G U E R R A Z Z I S
MAX N I E M E Y E R V E R L A G
/
H A L L E / S A A L E 1935
GESCHICHTSAUFFASSUNG UND ERZÄHLUNGSTECHNIK IN DEN HISTORISCHEN ROMANEN F. D. GUERRAZZIS VON
W. THEODOR ELWERT
MAX N I E M E Y E R
VERLAG
/ HALLE/SAALE
1935
Alle Rechte, auch d a s der Ü b e r s e t z u n g in f r e m d e Sprachen, Copyright
b y M a x Niemeyer Verlag,
vorbehalten
Halle (Saale),
1935
P r i n t e d in G e r m a n y
G e d r u c k t m i t U n t e r s t ü t z u n g der Philosophischen F a k u l t ä t I. S e k t i o n der U n i v e r s i t ä t München
M ü n c h n e r D i s s e r t a t i o n (Mündliche P r ü f u n g : 28. 6. 1934; B e g u t a c h t e r : Professor Dr. H.
Rheinfelder;
R e f e r e n t : G e h e i m r a t Prof. Dr. K . Vossler)
U r a c k TOD C. S o h n l z e A Co.
G. m. b. H., Or&fcnhalniobcD
Meinen
Eltern
Vorwort. Die vorliegende Arbeit stellt die dritte E t a p p e einer über längere Zeit sich erstreckenden, äußeren Umständen zufolge zeitweise unterbrochenen Beschäftigung mit der Person und dem Werk des italienischen Risorgimentodichters Francesco Domenico G u e r r a z z i dar. Zwischen der ersten Formulierung eigener Gedanken, die in Forin eines in italienischer Sprache am 25. Mai 1932 im I s t i t u t o F a s r i s t a di C u l t u r a zu Florenz gehaltenen V o r t r a g e s erfolgte, und der zweiten, die als Z u l a s s u n g s a r b e i t z u r S t a a t s p r ü f u n g f ü r d a s h ö h e r e L e h r a m t in Baden im Frühling und Sommer 11)33 abgefaßt wurde, liegt eine geraume Zeitspanne, in der sich mein Interesse an Guerrazzi immer mehr von der Person des Autors fort zu der rein literarischen Seite seines Werkes hin verschob. Gleichzeitig verengerte sich der Rahmen, in den ich meine Untersuchung spannen wollte, so daß schließlich für die Staatsexamensarbeit sich eine ganz enge Problemstellung ergab, die in der Fassung des Themas Ausdruck f a n d : K o m p o s i t i o n u n d G e s c h i c h t s b i l d b e i G u e r r a z z i . Aus Zeitmangel konnte das Problem, das ich verfolgen wollte, nämlich des Verhältnisses von Komposition zu Geschichtsbild in der Entwicklung von Guerrazzis historischen Romanen, dort nur erst an dem ersten Roman, der Battaglia di Benevento, dargetan werden. Die vollständige Ausführung meines Gedankens hat nun, nachdem ich wieder freie Zeit gefunden habe, in den drei Kapiteln der vorliegenden Arbeit Gestalt gefunden. Der Wunsch, meine Vorstellung von Guerrazzis Werk auch ganz deutlich zu machen, hat hier dann wieder zu einer Erweiterung der in der Staatsexamensarbeit gesetzten Grenzen geführt, und die Einbeziehung des l y r i s c h e n G e s i c h t e s der Guerrazzischen Prosa zur Folge gehabt. Meine Gedanken hierüber haben im dritten Abschnitt des ersten Kapitels und im Schlußteil des zweiten Platz gefunden. Doch waren sie schon einmal, etwa ein J a h r zuvor, kurz skizziert worden in einem R e f e r a t , das ich im Wintersemester 1932/33 im Seminar meines verehrten Lehrers, Herrn Professor H e i ß , in Freiburg i. Br. halten durfte. Schließlich, als ich mit der eigentlichen Untersuchung fertig war, fühlte ich das Bedürfnis, über die Person und das literarische Schicksal Guerrazzis Auskunft zu geben. Wieder auf weiter zurückliegendes Material zurückgreifend, schrieb ich die Einleitung. Und
VIII
Vorwort.
als ich so zu meinen Anfängen zurückkehrte, bedauerte ich, meine Untersuchung nicht in einem Zuge haben durchführen zu können. Die Anregung zur Beschäftigung mit Guerrazzi ist mir von Herrn Professor H e i ß in Freiburg i. Br. gekommen. Für seine freundliche Unterstützung meiner Studien durch seinen immerbereiten Rat und durch sein stets waches Interesse möchte ich ihm hier meinen aufrichtigen Dank aussprechen, — aber durch sein frühes Hinscheiden ist es mir benommen, ihm diese Zeilen vorzulegen. So bleibt mir nur, seiner dankbar zu gedenken. Nicht minder dankbar bin ich für das Interesse, das mir von meinen Lehrern in München, Herrn Geheimrat V o ß l e r und Herrn Professor R h e i n f e l d e r , entgegengebracht worden ist. Ferner danke ich Herrn Professor v. W a r t b u r g in Leipzig für seine freundlichen Bemühungen um die Drucklegung. Hier sei auch der U n i v e r s i t ä t M ü n c h e n für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses gedankt. Dank gebührt auch denen, die mir bei meinem Aufenthalt in Florenz mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, Herrn Konsul S t i l l e r vom Deutschen Konsulat und Herrn Cav. Uff. A v v . A. L u c h i n i vom Istituto Fascista di Cultura. Ganz persönlich danke ich noch denen, die mittelbar am Zustandekommen dieser Arbeit teilhaben: Stephen P h i l i p p s , Salem, Mass. und Roy D. W e l c h , Northampton, Mass. M ü n c h e n , den 31. August 1935.
Inhaltsübersicht. Seite
Einleitung
i
E r s t e s K a p i t e l : D i e Battaglia
di
Benevento
17
Yorbetrachtung
17
Erster A b s c h n i t t : Gesanitaufbau und H a n d l u n g s f ü h r u n g Zweiter A b s c h n i t t : Guerrazzi» Geschichtsbild wendung des geschichtlichen
und die
S t o f f e s in d e r BdB.
.
Ver. . .
D r i t t e r A b s c h n i t t : D i e L y r i s i e r u n g des R o m a n s Zweites Kapitel:
D e r Assedio
di Firenze.
Der
sche Persönlichkeitsroman" Exkurs:
G u e r r a z z i und C h a t e a u b r i a n d
Verzeichnis der benützten Literatur
64 93
episch-lyrische
Roman D r i t t e s K a p i t e l : D i e R o m a n e n a c h d e m Assedio.
20
116 Der
„histori151 164 171
Einleitung. Erster
Abschnitt.
Heutige Beurteilung Guerrazzis in Italien. Das Denkmal, für das gerade eine Geldsammlung veranstaltet wurde, als Karl Hillebrand in den letzten Septembertagen des Jahres 1873 seinen klugen Nachruf auf Francesco Domenico G u e r r a z z i verfaßte, steht nun auf der Nordseite des Platzes, dem damals schon die Stadtverwaltung von Livorno den Namen ihres bedeutendsten Bürgers gegeben hatte 1 ). Mehr als ein D e n k m a l ist es ein S i n n b i l d für die Gestalt, unter der der Dargestellte im Pantheon der nationalen Geschichte weiterlebt. Freilich, die Figur oben auf dem Sockel legt nur Zeugnis ab von dem geringen künstlerischen Geschmack der Gründerzeit. Guerrazzi sitzt etwas vorgebeugt auf einem Sessel, von dem lange feierliche Fransen herabhängen; den linken Arm hat er auf die Lehne gestützt; die rechte Hand bewegt sich gerade auf das Kinn zu, als habe er eben einen glücklichen Einfall gehabt; der Blick ist angespannt ins Weite gerichtet; die in die Stirn fallende geschwungene Locke vollendet den Eindruck des Genialischen. Interessant ist an diesem Steinbild nur die naturalistische Wiedergabe der Gesichtszüge mit ihrer auffallenden, fast weibischen Weichheit, die so gar nicht zur herkömmlichen Vorstellung vom wütenden Tribunen passen will, und die schulmeisterliche Drahtbrille, die einen hinter der Geniepose lauernden kleinen Pedanten verraten zu wollen scheint. Hier schon ein A b glanz der Problematik, die die Würdigung seiner Erscheinung so schwer macht. Wesentlicher als dieses Musterstück einer im Plastischen unschöpferischen Zeit sind die Bronzereliefs, die rechts und links bedeutsame Situationen aus dem Leben des Mannes festhalten wollen. (Die Tafel auf der Vorderseite des Sockels verkündet den Dank des Vaterlandes.) Rechts sieht man den Dichter in einer Gefängniszelle mit vergitterten Fenstern. Hier eine Pritsche, dort ein Tisch ') Artikel „Guerrazzi" in: Karl H i l l e b r a n d , Zeiten, Völker und Menschen. Straßburg 1892. Bd. 2: Wälsches und Deutsches. S. 75. E l w e r t , Beiheft zur Zeiljchr. {. rom. Phil. L X X X I V .
1
2
Einleitung.
mit vielen Büchern. Den einen A r m hinterm Rücken, in der andern Hand ein Buch, geht er nachdenklich auf und ab. Auf dem Relief links erscheint Guerrazzi von ehrwürdigen Männern und einer Menge Volkes umringt, eine Ansprache haltend, wie mir schien, vor dem Palazzo Vecchio. Jedenfalls eine Szene aus den 48 er Jahren. Guerrazzi erscheint also einmal als der Tribun, der Volksmann der Revolutionstage und ein andermal als der Dichter, aber auch hier wieder als der politische Dichter, der Freiheitsheld, der die kühne aufrührerische Sprache seiner Werke mit Kerkerhaft büßen muß. Der politische Aspekt seiner Erscheinung ist vorherrschend. A l s Politiker der 48 er Zeit und als Verfasser von Romanen, die zur Erweckung des Nationalgefühls und damit zur Befreiung Italiens beigetragen haben, lebt Guerrazzi heute im Andenken der Italiener fort. In dieser Auffassung begegnen sich der Journalist, der für ein breites Publikum schreibt, und der Gelehrte, der zu einem Neudruck eines guerrazzischen Werkes eine Einleitung verfaßt. So schreibt 1924, kurz nach Guerrazzis 50. Todestag, Giuseppe C e c c h i a in der populären Zeitschrift Scena illustrata'): cosi potremo osservare nel Livornese il romanziere e il tribuno in cui l'amore fu più potente dell'odio, l'indomito idealista dell'azione politica e civile, il fiero atleta della libertà, della dignità e della grandezza della Nazione . . ." Und 1928 schreibt Zino Z i n i im Vorwort zur Neuausgabe von Guerrazzis Asino*): „II giudizio sull'opera del Guerrazzi . . . può considerarsi come definitivo . . . L'uomo e il suo fenomeno letterario sono ornai acquisiti alla storia. E all'uno come all'altro debbonsi assegnare prevalentemente valori di contingenza non eccedenti quelle limitate condizioni di tempo e luogo, che imposero al Guerrazzi politico le sue effimere funzioni statali di Dittatore . . . e al Guerrazzi scrittore quelle non meno transitorie, ma certo più efficaci, di pubblico eloquentissimo banditore di italianità. Fuori di questi schemi il veemente livornese molto perde di significato." Guerrazzis politische Tätigkeit und der politische Aspekt seiner Werke haben auch bisher die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nimmt man die Bibliographie des Guerrazzi-Schrifttums von Pietro M i n i a ti 3 ) in die Hand, so findet man, daß von den Scena illustrata, anno L X , Nr. 19—20. Firenze 1924. *) F. D. G u e r r a z z i , L'Asino, sogno. Introduzione e note di Zino Zini. Torino 1928. ') Pietro M i n i a t i , F. D. Guerrazzi. Guide Bibliografiche. Roma 1927. Eine vollständige Biographie. Für den, der sich rasch und doch über das Wesentliche an Guerrazzi-Literatur orientieren will, sind aber immer noch die bibliographischen Angaben bei G. M a z z o n i , L'Ottocento, Bd. II, S. I402ff., 1491 das Beste, da Miniati auch die belanglosesten Zeitungsartikel verzeichnet. Vgl. auch die Nachträge in der 2. Aufl., 1934, S. 914 ff. Eine kleine Auslese gibt die Bibliographie zum Artikel „Guerrazzi" in der Enciclopedia Italiana, Bd. 18, S. 211.
Heutige Beurteilung Guerrazzis in Italien.
3
Schriften über Guerrazzi, die im zweiten Teil derselben aufgeführt sind (zum großen Teil sind es Zeitungsartikel und Denkreden), vier Fünftel sich mit der politischen Rolle Guerrazzis und seiner Schriften befassen. Im ersten Teil nimmt die A u f z ä h l u n g der politischen Schriften Guerrazzis a u s den Jahren 1847—1853 und der Werke (Sammelwerke, Memoiren, Zeitungsartikel, polemische Schriften, historische Darstellungen), in denen diese Schriften Guerrazzis ganz oder auszugsweise wieder abgedruckt sind, etwa ein Drittel des R a u mes ein (Nr. 72—213, S. 39—120). Die einzigen bisher erschienenen wissenschaftlichen Monographien beschäftigen sich mit dem Politiker, E . M i c h e l 1 ) befaßt sich mit dem Verschwörer der Jahre 1830—1835, F. M a r t i n i mit dem Oppositionellen der Jahre 1859—1866. Ist f ü r den Politiker und den Schriftsteller als Politiker das Interesse bis in die neueste Zeit wach gewesen, so ist dagegen das Interesse für das W e r k Guerrazzis als literarischem Erzeugnis seit langem im Schwinden begriffen gewesen und schließlich ganz geschwunden. Die ästhetische Ablehnung Guerrazzis begann mit der scharfen Kritik, die D e S a n c t i s an der Beatrice Cenci übte 2 ). Sie fand ihre Fortsetzung in der kategorischen Leugnung jeglichen künstlerischen W e r t e s durch L u i g i S e t t e m b r i n i , der auch leugnete, d a ß Guerrazzi mit der Battaglia di Benevento und dem Assedio di Firenze überhaupt zur E r w e c k u n g der Vaterlandsliebe beigetragen habe3). So sagt er (a. a. O. S. 378): „ S a p p i a t e o giovani, che il Guerrazzi non v'insegna ad amare niente, neppure la patria, la quale si a m a non con le parole furiose, ma col senno e con le opere generose e costanti." A u s dieser letzten Äußerung spricht natürlich vor allem ein Nachklang der Mißachtung, der die Politik der Ideologen vor 1848 nach dem Zusammenbruch von 1849 verfallen w a r ' ) . Mit Giacomo B a r z e l l o t t i k o m m t dann eine Generation zu W o r t e , die das Risorgimento nicht mehr erlebt hat und ihm, wie auch der politischen R o m a n t i k , denkbar fernsteht. Barzellottis Forderung geht außerdem nach Realismus. So k a n n er weder der P h a n t a s t i k der Werke Guerrazzis einen Geschmack abgewinnen, noch in dem Patriotismus, ') E. M i c h e l , F. D. Guerrazzi e le cospirazioni politiche in Toscana dal 1830 al 1835. Roma 1904, Biblioteca storica del Risorgimento italiano, serie 4, Nr. 5. F. M a r t i n i , Due dell'estrema: Guerrazzi e Brofferio, Firenze 1920. Unkritisch ist Maria A m e n d o l a , La vita politica di F. D. Guerrazzi, specialmente nel triennio 1847—48—49. Caserta 1921. (Bei Muniati nicht verzeichnet.) l) D e S a n c t i s in II Cimento, III, vol. 5. Torino 1855; dann in Saggi critici. 3) L. S e t t e m b r i n i , Lezioni di letteratura italiana, Napoli 12 i887. Bd. III, S. 374ff. *) D e S a n c t i s , Saggi critici. Prima edizione milanese a cura e con note di Paolo A r c a r i . Milano (1926), vol. I, S. n 6 f . B. C r o c e , Storia della storiografia italiana ecc. II, 95ff. G. B a r z e l l o t t i , La rivoluzione e la letteratura in Italia avanti e dopo gli anni 1848 e 1849; jetzt in: Dal Rinascimento al Risorgimento. Milano 1909. 1*
4
Einleitung.
der sie durchglüht, den Ausdruck eines echten Gefühls entdecken 1 ). Schließlich konnte Guerrazzis Werk auch nicht die Billigung Benedetto Croces*) finden, der das patriotische Gefühl Guerrazzis für unecht und damit seine Werke für Nicht-Kunst erklärte und ihnen auch jede Wirksamkeit absprach. (Solo il vero educa le menti, solo la sincerità chiama la sincerità e riscalda i cuori . . .) Mit der einhelligen Ablehnung seitens der Kritiker ging auch die Ablehnung durch das Publikum einher, man hörte auf, seine Werke zu lesen. So konnte man 1904 bei einer Denkrede zum 100. Geburtstag hören: ,,. . . questo scrittore originalissimo . . ., è, si può dire, dimenticato ')." Und zum 50. Todestag, 1923, konnte A. Caiumi in „ L a Cultura" schreiben: ,,. . . il 23 settembre (se. 1923) è trascorso senza rumore di plausi o risveglio d'interesse per l'opera del livornese4)." Angesichts der heute in Italien herrschenden abschätzigen Beurteilung Guerrazzis überrascht es nicht, daß man sein Werk einer besonderen literarhistorischen Betrachtung nicht für würdig erachtet hat. (Bezeichnend für diese Einstellung ist u. a., daß ihm in der für die Schulen bestimmten Anthologie A t t i l i o M o m i g l i a n o s , in der doch auch ein Dichter zweiten Ranges und geringer Originalität wie Tommaseo G r o s s i Platz gefunden hat, kein Platz eingeräumt worden ist®).) In der Tat, wer heute sich über Guerrazzi informieren will, bleibt auf die kurzen Abschnitte angewiesen, die ihm in Literaturgeschichten eingeräumt worden sind. (Auf eine besonders gute, aber nur die Battaglia di Benevento erfassende Charakteristik von Guerrazzis Schaffen in der Arbeit eines Nicht-Italieners sei hier hingewiesen: Julien L u c h a i r e , Essai sur l'évolution intellectuelle de l'Italie de 18x5 à 1830. Paris 1906, S. 289ff.) Der Aufsatz von A. A l b e r t a z z i , II Guerrazzi romanziere (in Nuova Antologia, 1904, Bd. 196, fase 784) kommt über allgemeine Redensarten nicht hinaus. Völlig wertlos ist G. Zumbini, L'Assedio di Firenze, Padova 1877 und desgleichen Cesare F e n i n i , F. D. Guerrazzi. Saggi critici, Milano, Hoepli, 1874. So fehlt bis heute eine literarische Einzeldarstellung von Guerrazzis Werk, denn auch das Ausland hat ihm, von der Behandlung in Literaturgeschichten abgesehen, keine Beachtung geschenkt. Wenn ich mich nun darum bemüht habe, einige Züge von Guerrazzis Werk hier ins Licht zu rücken, so ist das aus der Überzeugung heraus geschehen, daß Guerrazzis Werk doch nicht so ganz unbedeutend ist, wie die italienischen Kritiker uns glauben machen ') Giacomo B a r z e l l o t t i , Artikel: Della sincerità nell'arte e nello stile dei nostri scrittori, in: Dal Rinascimento al Risorgimento. Milano 1904, S. 2o6ff. ') B. C r o c e , Artikel: Gli ultimi romanzi di F. D. Guerrazzi in: L a letteratura della nuova Italia. Bari 1914, Bd. I, S. 27ii. *) Pietro M i c h e l i , F. D. Guerrazzi. Conferenza. Milano 1904, S. 3. *) ,,La Cultura", vol. III, fase. 3 (1924) S. n o . ') A. M o m i g l i a n o , Antologia della letteratura italiana. Vol. I I I : Dall'Ottocento ai nostri giorni. Messina, Principato, o. J . (1930).
Heutige Beurteilung Guerrazzis in Italien.
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möchten, sondern d a ß hier eine wirklich originelle und kraftvolle Persönlichkeit ein W e r k s c h a f f t , d a s auch künstlerisch von einiger Bedeutung ist und jedenfalls, historisch betrachtet, im R a h m e n der italienischen R o m a n t i k eine durchaus einzigartige Stellung einnimmt. In dieser meiner A u f f a s s u n g sah ich mich gestützt durch das Echo, das die ersten beiden R o m a n e Guerrazzis, die Battaglia di Benevento und der Assedio di Firenze bei seinen Zeitgenossen gefunden hatten. W o die spätere K r i t i k , S e t t e m b r i n i , B a r z e l l o t t i und C r o c e hohle Phrasen und unechtes P a t h o s sehen, rühmen M a z z i n i und T o m m a s e o die E c h t h e i t und Tiefe des Gefühls und die Lebendigkeit der Darstellung 1 ). Diese Tatsache bleibt, wenn auch gerade M a z z i n i und T o m m a s e o wieder danach manche Einschränkung machen. Man darf das N e g a t i v e in den Urteilen dieser beiden nicht zu sehr betonen, wenn die positive Seite ihres Urteils durch einen so ekletanten Publikumserfolg, wie er gerade der BdB. und dem Assedio zuteil wurde, b e k r ä f t i g t wird. Mein Urteil über Guerrazzis W e r k s t i m m t im übrigen durchaus mit dem Benedetto C r o c e s überein, wenn er die Romane v o m Pasquale Paoli an als kunstlos bezeichnet 2 ). A u c h mir erscheinen sie wertlos. Auch pflichte ich ihm bei, wenn er sagt, d a ß ihre Artung im wesentlichen die gleiche sei wie die der früheren R o m a n e : BdB., Assedio, Isabella Orsini, Beatrice Cenci. Ich kann i h m aber nicht folgen, wenn er diese mit den späteren R o m a n e n in einen Topf w i r f t 3 ) und alle zusammen als N i c h t - K u n s t , weil seiner Auffassung von K u n s t nicht entsprechend, a b t u t . Denn die Battaglia di Benevento und der Assedio scheinen mir immerhin beachtlich, wenn auch die letzten Romane unbedeutend und bedeutungslos sind. Ebensowenig kann ich denjenigen R e c h t geben, die in den Werken, in denen Guerrazzi gerade von seiner Eigenart verliert, und aus dem sarkastischen, weltschmerzlichen, blutrünstigen und eifernd patriotischen Verfasser von historischen R o m a n e n ein Erzähler von dürftigem und plattem H u m o r wird, in der Serpicina und im Buco nel muro, das Beste, das Guerrazzi geleistet habe, sehen 4 ). Für mich 1 ) N. T o m m a s e o über BdB. in ,,Antologia", Firenze 1828, X X X I , S. 73—100; G. Mazzini über BdB. in Indicatore Genovese Nr. 16 u. 17, August 1828, jetzt in Scritti, 1862, II, 62ff. Ferner der Artikel ,,Del moto letterario in Italia" (1837) über B d B . und Ass., jetzt in Scritti, 1862, IV, 303ff.; über „Assedio": „Frammento di lettera di G. Mazzini sull'Ass. d. F . " zusammen mit Guerrazzis „Memorie", Livorno 1848. ') Letteratura della nuova Italia, I, 27. 3) Letteratura della nuova Italia, I, 38. *) Für die Bevorzugung des „Humoristen", vgl. anon. Artikel zum 50. Todestag im Giornale d'Italia vom 26. 9. 1923, ferner Pio Rajna in Le Lettere, Roma 1924, anno IV, Nr. 16, F. M o m i g l i a n o in Rivista d'Italia, anno X X X V I I , fase. i° (15. 1. 1924) und D'Ancona e Bacci, Bd. V, S. 457f., wo Buco nel muro, Serpicina und Pasquale Paoli bevorzugt werden. Den Buco nel muro schätzen ferner am höchsten ein U. B o s c o in Encicl. Ital. Bd. X V I I I , S. 211 und F. L o p e z - C e l l y , F. D. Guer-
6
Einleitung.
bleibt der Verfasser historischer R o m a n e und Erzählungen der echte und interessante Guerrazzi. Dieser Guerrazzi ist es, der zu seiner Zeit die großen Publikumserfolge hatte. Dieser Guerrazzi ist es auch, den ich z u m eigentlichen Gegenstand meiner Erzählung gewählt habe. A u s meiner Untersuchung habe ich ausgeschlossen die Frühwerke und z w a r die Stanze alla memoria di Lord Byron (1825), das klassizistische D r a m a Priamo (1826) und das historische D r a m a I Bianchi e i Neri (1827), die Satiren La Serpicina (1835), I nuovi Tartufi (1847), L'Asino (1857), die nicht-historischen R o m a n e und E r zählungen: II buco nel muro (1862), II secolo che muore (1885), sowie alle anderen Erzählungen und Schriften, die nicht historische Romane und Erzählungen sind. D a m i t habe ich auf eine Gesamtdarstellung v o n Guerrazzis literarischem Schaffen verzichtet und mich auf die B e t r a c h t u n g jenes Ausschnittes aus seiner reichen literarischen T ä t i g k e i t beschränkt, der für ihn a m charakteristischsten ist, in dem er sein Bestes geleistet, und durch den er sich in der italienischen Literatur eine Stelle erworben hat als eine eigenartige, wenn auch nicht meisterliche Erscheinung. I m besonderen zielt meine Untersuchung darauf hin, dasjenige in eingehender Analyse herauszuarbeiten, was sich mir bei der ersten L e k t ü r e der historischen R o m a n e undeutlich ahnend v o r A u g e n gestellt h a t t e : d a s B i l d v o m E n t s t e h e n u n d V e r g e h e n e i n e r F o r m , und ferner der Vermutung nachzugehen, daß das Entstehen und Vergehen dieser F o r m einerseits mit Guerrazzis eigentümlicher A r t den Geschichtsprozeß aufzufassen, und andererseits m i t dem Maß und der A r t u n g seines patriotischen Gefühls in Zusammenhang stehe. I c h habe zeigen wollen, wie in Guerrazzis erstem Roman, der Battaglia di Benevento (1827), die fremden Vorbilder m i t den schon v o l l ausgeprägten Eigenheiten des guerrazzischen Schauens i m Streit liegend, zu einem K o m p r o m i ß führen, in dem aber schon die Umrisse des folgenden Werkes, des Assedio di Firenze (1836), erkennbar werden. Die Untersuchung der T e k t o n i k der Battaglia, ihrer inneren Gliederung und der Einzelheiten der Handlungsführung, dann der Behandlung des geschichtlichen Stoffes und der zugrunde liegenden Geschichtsauffassung Guerrazzis und schließlich der eigentümlichen Lyrisierung der Erzählung bildet den Inhalt des ersten Kapitels. Darauf habe ich, in einem zweiten K a p i t e l , zu zeigen versucht, wie im Assedio die fremden Einflüsse überwunden werden und aus der spezifisch guerrazzischen Geschichtsauffassung heraus als Ausrazzi nell'arte e nella vita, Milano, 1918, S. 101, Lopez-Celly widmet außerdem ein ganzes Kapitel (S. 143—192) dem Nachweis des Humoristen Guerrazzi in den histor. Romanen Ass., BC., Is. ors. Allerdings betont er zweimal (S. 93, 225), der echte Guerrazzi sei der Pessimist der patriotischen Romane, aber seinem Geschmack sagt offenbar mehr der Humorist Guerrazzi zu.
Guerrazzis Leben im Hinblick auf seine literarische Produktivität.
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Wirkung des zur Reife gelangten Bewußtseins seiner patriotischen A u f g a b e sich die Form des „epischen" R o m a n s bildet. Schließlich wird zu zeigen versucht, wie die spezifischen Möglichkeiten Guerrazzis mit diesem seinem reifsten W e r k erschöpft sind, wie er zwar danach eine F o r m wählt, die in manchem neu und eigenartig ist — die Form des „historischen Persönlichkeitsromans" — , die aber zu seiner besonderen künstlerischen Begabung in einem Mißverhältnis steht, wie er sich darin festrennt und sie abwandelt, bis sie völlig verbraucht ist. E s wird also hier darauf verzichtet, alle Eigenheiten der historischen R o m a n e Guerrazzis herauszuarbeiten, das künstlerische Phänomen Guerrazzi in seiner Vollständigkeit zu erfassen und darzustellen. Die Darstellung beschränkt sich darauf, die innere E n t wicklung der Romanform aufzuzeigen und zu der spezifischen Geschichtsauffassung in Beziehung zu setzen, zu zeigen, daß aus i n n e r e n Gründen der Assedio di Firenze Guerrazzis reifstes W e r k ist. Doch möchten wir, ehe wir in die eigentliche Untersuchung eintreten, einen kurzen Überblick über Guerrazzis Leben und die Entstehungszeit seiner Werke geben, in dem wir zur Anschauung bringen möchten, wie seine besten W e r k e , BdB. und Assedio, in der Epoche seines Lebens geschaffen wurden, in der er in erster Linie Dichter und P a t r i o t ist.
Zweiter
Abschnitt.
Guerrazzis Leben1) im Hinblids. auf seine literarisdbe Produktivität. Die menschliche Arbeitskraft, auch die größte, hat ihre Grenzen. A u c h da, wo sie sehr groß ist — und das w a r sie bei Guerrazzi (Zeugnis dafür legt a b die Unmenge seiner Schriften, vgl. Miniatis Biblio*) Für die folgende kurze Biographie wird kein Anspruch darauf erhoben, in den äußeren Lebensdaten Eigenes und Neues zu bieten. Neu will nur der Gesichtspunkt sein, von dem aus die Verschmelzung des von anderen zusammengetragenen Stoffes versucht wird. In Anbetracht der verwirrenden Fülle der bei Miniati angegebenen Literatur und des Umstandes, daß seit dem Erscheinen von Guido Mazzonis Ottocento (I, 779—806, II, 1402—1404, 1491) einige neuere Literatur über Guerrazzi erschienen ist, dürfte es vielleicht nützlich erscheinen, den heutigen Stand der b i o g r a p h i s c h e n Literatur über G. zu schildern. Seit ich die nachfolgende Übersicht schrieb, ist von Mazzonis Ottocento die 2. Aufl. 1934 erschienen. M. führt auf S. 914 f. noch die folgenden Schriften zur Biographie auf: G. C a d o 1 i n i , F. D. G. Ricordi personali, in NA. 16. 10. 1917; C. S f o r z a , La Toscana sotto il G. in una descrizione del tempo, in CR. 20. 7. 1926. Z u n ä c h s t i s t f e s t z u s t e l l e n , d a ß es e i n e d e n m o d e r n e n A n f o r d e r u n g e n der P h i l o l o g i e g e n ü g e n d e B i o g r a p h i e G.s nicht gibt.
8
Einleitung.
graphie) — wird eine Aufteilung auf verschiedene Interessengebiete eine Schwä chung der Leistungsfähigkeit im einzelnen zur Folge haben. Es dürfte daher nicht unwesentlich sein, die Energieverteilung im Leben eines Künstlers zu beobachten. Vielleicht, daß sich darauf Rückschlüsse auf das Verhältnis des Autors zu seinem Werk ziehen und Völlig wertlos ist F. B o s i o , Vita-opere di F. D. Guerrazzi, con 40 lettere inedite. Milano 1877. E s ist eine Erweiterung des Buches des gleichen Autors : F. D. Guerrazzi e le sue opere. L i v o r n o 1865. D a s W e r k ist v o n dem Wunsche beseelt, G . zu verherrlichen und gegen V o r w ü r f e zu verteidigen. E n t h ä l t wenige T a t s a c h e n aus G.s L e b e n ; genaue Daten, j a Daten Oberh a u p t fehlen fast völlig. B e i den langen Zitaten aus G . s Briefen und Schriften fehlen Quellenangaben. I m Literarischen völlig unkritisch und verständnislos. Die Briefe im A n h a n g nicht sehr belangreich, da sie meist an F. Bosio selbst gerichtet sind, mit dem G. nicht sonderlich intim war. E i n weitaus glücklicherer Versuch ist: Rosolino G u a s t a l l a , L a v i t a e le opere di F. D. Guerrazzi. R o c c a S. Casciano, 1903. D a s W e r k ist unvollständig. E s ist nur der erste B a n d erschienen, G . s Leben von 1804—1835 behandelnd. Hier wird zum ersten Male versucht, G . s L e b e n a u f Grund eines größeren Quellenmaterials, auch aus Archiven, darzustellen. D a s Wichtigste ist das Material über G.s erste schriftstellerische Versuche. Die literarischen Erörterungen der Jugendwerke und der B d B . sind völlig unkritisch und unzulänglich. Eine tiefere Deutung v o n G.s Wesen darf hier nicht gesucht werden. A l s zusammenhängende S t o f f s a m m l u n g behält das Buch immer noch einen gewissen Wert. Auf diesem W e r k e f u ß t für einige der Prozesse gegen Guerrazzi die Schilderung v o n Guerrazzis Verschwörertätigkeit in den Jahren 1830—1835 durch Ersilio M i c h e l , F . D . G . e le cospirazioni politiche in Toscana dall'anno 1830 all'anno 1835. R o m a i 9 0 4 ; in: Biblioteca storica del Risorgimento italiano IV, 5. — Die Schicksale G.s machen aber nur einen bescheidenen Teil des Buches aus. Wertvoll ist hier die eingehende Schilderung aller Verschwörungen in der T o s k a n a in dieser Zeit. Man gewinnt daraus eine lebhafte Anschauung des damaligen politischen und sozialen Lebens. Die Darstellung beruht auf eigenem Quellenstudium. E r g ä n z t wird die Schilderung der Schwierigkeiten, in die Guerrazzi durch seine R e d e für Cosimo del F a n t e geriet, durch den A u f s a t z d e s g l e i c h e n A u t o r s : ,,Dalle prime l o t t e " in: Comitato toscano per la storia del risorgimento: ,,F. D. G u e r r a z z i " , Studi e documenti. Firenze 1924, S. 7 ff. Eine Gesamtdarstellung v o n Leben und Werk G . s unternimmt F. L o p e z - C e l l y , F . D . Guerrazzi, nell'arte e nella v i t a . AIbrighi, Segati & C., Milano 1918. T r o t z bester Absichten nur eine völlig unkritische, triviale K o m p i l a t i o n . (Bei Miniati nicht verzeichnet.) Wertvoll ist Ferdinando M a r t i n i , D u e dell'estrema, Il Guerrazzi e il Brofferio. Carteggi inediti (1855—1866). Firenze, Le Monnier 1920. Die Briefe sind in K a p i t e l n z u s a m m e n g e f a ß t mit einem begleitenden erläuternden T e x t Martinis, einem V o r w o r t von Martini und einem interessanten Anhang, in dem T o m m a s o Corsi, der Verteidiger Guerrazzis in seinem Prozeß, die G r ü n d e für das Aufhören ihrer Beziehungen a n g i b t . D a s B u c h gibt A u f s c h l u ß darüber, wie an der Verschärfung der T o n a r t G.s gegen die Moderati 1859 sein enttäuschter Geltungsdrang den H a u p t anteil hatte. Der K o m m e n t a r Martinis ist, wie sich bei M. versteht, gut. Den wertvollsten B e i t r a g zur Lebensgeschichte G.s bringt A d o l f o M a n g i n i , F. D . Guerrazzi. Memorie legali e scritti giuridici, preceduti da uno studio sulla v i t a forense di F. D . Guerrazzi. Livorno 1923.
Guerrazzis Leben im Hinblick auf seine literarische Produktivität.
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damit Unterschiede des künstlerischen Wertes der Werke im einzelnen erklären lassen. Der Betrachter, der diesen Standpunkt einnimmt, sieht das Leben Francesco Domenico Guerrazzis so: Im J a h r e 1824 bestand der Zwanzigjährige in Pisa das juristische Abschlußexamen und kehrte in seine Geburtsstadt Livorno zurück. Hier bildete er sich eifrig in seinem Fache fort und gründete bald mit einem Studiengenossen ein Anwaltsbüro. Trotz angestrengter Berufsarbeit lag indessen der Schwerpunkt seines Tuns und Treibens nicht dort. In dieser ersten Periode seines tätigen Lebens warf er seine ganze K r a f t in die literarische und politische Tätigkeit 1 ). E r Auf den ersten 200 Seiten gibt Mangini eine Studie „ L a vita forense di F. D. Guerrazzi", die, ohne eine tiefe Wesensdeutung zu erstreben, dennoch durch die sachliche, von allem Schönfärberischen ferne und von gesundem Menschenverstand getragene Darstellung, durch die Fülle und Neuartigkeit des verarbeiteten Materials ein neues und lebendiges Bild von G. vermittelt. M. beschränkt sich nicht auf die Schilderung von G.s Anwaltstätigkeit, sondern greift weit darüber hinaus mit der Aufhellung bisher unzulänglich bekannter Punkte in G.s Leben, so den Streit mit S. Uzielli und den mit G. A. Sanna, überhaupt in der Darstellung von G.s Privatleben und seiner geschäftlichen Tätigkeit. Das Buch bildet eine notwendige Ergänzung zu allem, was bisher über G. an biographischen Versuchen geschrieben worden ist. Etwas größere Genauigkeit in der Angabe der Quellen wäre erwünscht. Einen Abriß des g a n z e n L e b e n s von F. D. G. findet man im Manuale von D ' A n c o n a & B a c c i ; aber in dem Verfahren, nur das Nachteilige, was Tommaseo, Mazzini, Capponi, Giusti über G. geäußert haben, zu zitieren, äußert sich die herkömmliche guerrazzifeindliche Tendenz. Desgleichen wird literarisch der milde Guerazzi des Buco nel muro und des Paolo Pelliccioni tendenziös überschätzt. Sonst ist die beste und am leichtesten zugängliche kurze Darstellung vom äußeren Verlauf von G.s Leben, politisch und literarisch: Rosolino G u a s t a l l a , Con la penna e con la spada, jetzt in Le più belle pagine di F. D. Guerrazzi, scelte di Sabatino Lopez. Milano 1927. Nicht kritisch genug und in den Daten nicht immer genau sind F a b i o F e d i s Cenni biografici in F. D. Guerrazzi. Scritti scelti. Con prefazione, cenni biografici e note di F. Fedi. Prato 1904. (Mazzoni, Ottocento II, S. 1402 irrtümlich 1909.) A. T o s c a n o , La psiche di F.D.G., Catania 1909, erhebt sich nicht über eine Sammlung von Guerrazzizitaten, geordnet nach Gruppen wie „Liebe", „Freundschaft" usw. G. B u s o l l i , F. D. Guerrazzi, ritratto, Parma 1912, enthält eine gute Anekdote. Antonio M a n g i n i , F. D. Guerrazzi, Livorno 1904, ist keine Darstellung, enthält aber interessante biographische Einzelheiten und vor allem ein unveröffentlichtes Vorwort der BdB. L. F i o r e n t i n o , La giovenezza di F. D. Guerrazzi e la Battaglia di Benevento. Firenze 1900. Wertlos. G. T a g l i a n o , Il pessimismo di F. D. Guerrazzi, Casale 1904, war mir unzugänglich. In unserer Darstellung folgen wir für die erste Periode meist Guastalla, Vita e Opere, für die späteren Perioden D'Ancona & Bacci, Guastalla und der übrigen hier angegebenen Literatur. ') Genauere Daten sind hierfür nicht zu erhalten. Mang. vit. for. sagt: (S. 9) Tornato a Livorno, il G. . . . si accinse subito all'esercizio
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Einleitung.
veröffentlichte zuerst Stanzen zum Gedenken Loyd Byrons, dann zwei Dramen, 1827 einen historischen Roman, Die Schlackt von Benevent, sein erstes größeres Werk. Dann hielt er mehrere Denkreden — als Redner hatte er sich bald einen Namen gemacht — ; er gründete eine Wochenschrift, L'Indicatore Livornese, die bald verboten wurde, und schrieb seinen zweiten großen Roman: L'Assedio di Firenze. Im Italien jener Zeit mußte natürlich dieses literarische Treiben politischen Charakter tragen. Die Denkrede für Cosimo del Fante, einen Livorneser, der im Heere Napoleons gedient hatte, trug dem jungen Guerrazzi 1830 eine Verbannung auf sechs Monate nach Montepulciano, einem entlegenen Dorf oben im Appennin, ein. Aber er beschränkte sich nicht auf literarische Demonstrationen; er war auch ein eifriger Verschwörer. Deswegen mußte sich im Jahre 1831 die Polizei zweimal mit ihm befassen. Im Jahre 1832 dann bekam er als Mitglied der Geheimgesellschaft „Die Söhne des Brutus" einen Monat Festung, und 1833 wurde er abermals eingesperrt, in Portoferraio, diesmal auf drei Monate, weil er mit der Geheimgesellschaft der „Veri Italiani", einer Parallelgesellschaft zur „Giovane Italia", in Verbindung gestanden hatte. Damit hatte er aber genug. della professione legale. Aveva a collega e compagno di università, Tommaso Bargellini . . . Das erste feste Datum, das Mang. vit. for. für den Beginn von G.s Anwaltstätigkeit gibt, ist: (S. 10) Nel 1828 trovo che l'undici ottobre, il G. si costituiva procuratore di R. Watson. — Man darf annehmen, daß G. in der Zwischenzeit (1824—1826) sich der weiteren Ausbildung widmete. Damals dürften die Bände angelegt worden sein, von denen Mang. vit. for. spricht: (S. 10) Conservo i tre volumi, . . ., ove il G., e il B., copiavano le massime estratte dalle decisioni dei vari tribunali . . . In der Zeit 1828—1830 werden die Klienten zahlreicher, und es erscheinen G.s erste juristische Schriften, aber noch für 1831—1833 gibt Mang. vit. for. an: (S. 13) Esso (G.) scriveva le memorie e si occupava dei migliori clienti: ma lo studio legale, dal 1831 al 1833, fu in gran parte affidato al Bargellini . . . che, . . ., accudiva specialmente in cotesti anni, agli affari. Dafür, daß in der Zeit 1824—1828/29 der Beruf noch nicht viel abwarf, d. h. also, daß G. noch in der Vorbereitung begriffen war, spricht, daß G. sich damals viel mit Ubersetzungen abgab; in den Jahren 1828/29 erscheinen drei Werke von Cooper in seiner Ubersetzung. Bei den Übersetzungen darf jedoch nicht allein der Verdienst als ausschlaggebend betrachtet werden. In die Übersetzung der zuerst in französischer Sprache erschienenen Storia dei popoli italiani von Carlo Botta (1826) legte Guerrazzi einigen literarischen Ehrgeiz, wie das Vorwort zeigt: Se la brevità di che ho fatto prova foggiare la locuzione, e lo studio posto in tor via tutte le parole che buone italiane non fossero sono un motivo di grazia . . . confido altamente non esserti discaro questo allora bene incominciato lavoro. (Zitiert nach der ersten Ausgabe, Livorno, Vignozzi 1826.) Von intellektuellem Ehrgeiz spricht auch, daß G. seine erste juristische Denkschrift seinem Lehrer Carmignani in Pisa vorlegt (Mang. vit. for. S. 12). Also: Eifrige Berufsarbeit, Hauptakzent aber doch im Literarischen, sogar innerhalb des Beruflichen, vgl. auch oben (S. 9, Anm.) Mang. vit. for. S. 13. Esso scriveva le memorie . . .
Guerrazzis Leben im Hinblick auf seine literarische Produktivität,
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Schon v o r dem Prozeß hatte es mit den Mitverschworenen Unstimmigkeiten gegeben; m i t Mazzini, mit dem er 1830 in V e r b i n d u n g getreten war, hatte er sich schon vorher überworfen. S o z o g er sich, aus Portoferraio heimgekehrt, von den Geheimgesellschaften ganz zurück. I m Laufe des Jahres 1835 beendete er die A r b e i t a m Assedio. A l s er im September 1835 zum Vormund der K i n d e r seines Bruders Giovanni Gualberto bestellt wurde, hatte er sich bereits ganz der Berufstätigkeit und dem Broterwerb zugewandt 1 ). Die Übernahme dieser V e r a n t w o r t u n g bedeutete nur den letzten Schritt in einem Übergang zur gesetzten Bürgerlichkeit. In den Jahren nach 1835 widmete Guerrazzi sich in erster Linie seinem Berufe. Die stattliche A n z a h l seiner Klienten und die Wichtigkeit der von ihm vertretenen Fälle sprechen für seine Tüchtigkeit, wie sein wachsender Wohlstand von seinem Erfolge beredtes Zeugnis ablegt. In dieser Zeit versuchte er sich auch in geschäftlichen Spekulationen, und es fehlt nicht an Zeugnissen dafür, d a ß die B e h a u p t u n g G i u s t i s , Guerrazzi habe sich damals ganz aufs Verdienen gelegt, z u t r i f f t 2 ) . Doch w a r er auch weiterhin schriftstellerisch tätig. E r veröffentlichte eine historische Erzählung, einen historischen R o m a n und mehrere Aufsätze. A b e r allein schon der geringe U m f a n g dieser Arbeiten zeigt, wie wenig Zeit er auf sie verwandte. Vollends deutlich, wie sehr er d a s Schreiben nun als Nebenbeschäftigung betrachtete, erhellt ferner auch daraus, in welch kurzer Spanne Zeit 3 ) er den doch umfangreicheren R o m a n Isabella Orsini verfaßte. U m Politik kümmerte er sich in dieser Zeit überhaupt nicht. E r s t 1847, als es überall in Italien zu gären a n f i n g , t r a t auch Guerrazzi mit politischen Ansprachen und F l u g b l ä t t e r n hervor. Eines davon, das in den ersten Januartagen des Jahres 1848 erschien. *) M a n g i n i , 1. c., gibt für die Jahre 1834 und 1835 an, G. habe viele Klienten gehabt und zitiert einen Brief G.s an Mazzini, in dem G. seiner Freude am Beruf Ausdruck gibt. 1835 beginnt auch G.s Übersetzung der Werke des französischen Juristen G. R. Pothier zu erscheinen (Miniati Nr. 28, S. 21). Ich schließe michMangini an, wenn er meint (S. 16), auf diese Zeit — d. h. nach 1833 (Portoferraio!) — b e z ö g e n sich die Worte Giustis (Mem. S. 110): . . . tornato in libertà, disse che non v'era altro che darsi al guadagno . . . doch sind die Worte Giustis außerdem auf die ganze Zeit bis 1847/48 zu beziehen, wie aus dem weiteren Verlauf der Stelle bei Giusti zu ersehen ist, wo das Zerwürfnis mit Enrico Mayer (1846) genannt wird (S. I i i ) . ') Rapporto dell'auditore del governo al Presidente del Buon Governo Giov. Bologno del 23 novembre 1840 cit. in Achille De Rubertis, L'Assedio di Firenze e la Polizia granducale, in Studi e doc. Com. Tose. 1924, S. 36. Mangini, vita for. S. 41 ff.; 65. s ) Lett. Mart. I, 125. An Le Monnier 4. 6. 1843: Ho in mente due racconti: uno sarebbe la Beatrice Cenci, l'altro la Duchessa di Bracciano, Isabella Orsini; primo le darei il secondo verso agosto, o nel settembre. Und: Lett. Mart. I, 138, an dens. schon am 3. 12. 1843: Ecco le carte . . . Sopra le coperte annunziando il romanzo mettete: Isabella Orsini.
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hatte in Livorno einen Volksaufruhr zur Folge, weshalb Guerrazzi verhaftet und nach Portoferraio abgeschoben wurde. I m März jedoch erschien er wieder in Livorno und begann nun in der revolutionären Bewegung eine prominente Rolle zu spielen. I m Oktober wird er Minister des Innern im Ministerium Montanelli, im Februar des folgenden Jahres bildet er, nach der Flucht des Großherzogs Leopold II., mit Mazzoni und Montanelli ein Triumvirat, Ende März wird er Diktator. A m 12. April aber zwang ihn die Stadtverwaltung von Florenz, abzutreten. E r wurde in Schutzhaft genommen, die sich in regelrechte Untersuchungshaft verwandelte, als nach der Rückkehr des Großherzogs gegen ihn Anklage wegen Majestätsverletzung erhoben wurde. Mit der Verhaftung fand die zweite Periode seines Lebens ihren Abschluß. Das J a h r 1849 machte einen tiefen Einschnitt in das Leben F . D. Guerrazzis. Der Zusammenbruch der Revolution bedeutete an sich schon das Versagen jenes politischen Idealismus, dessen Paladin er gewesen war. Hinzu kam die persönliche Kränkung, als Vaterlandsverräter, j a als gemeiner Verbrecher behandelt zu werden. Schließlich wurde er 1853, nach vierjähriger Gefangenschaft, zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, welche Strafe in die Verbannung nach Korsika umgewandelt wurde. Guerrazzi ist von nun an ein verbitterter Außenseiter des Daseins. — Sein politisches Mißgeschick übte eine tiefgehende Wirkung auf seine Lebensgestaltung. Zwar hatte er mit der Wiederaufnahme seiner politischen Tätigkeit (1847) seine Anwaltsgeschäfte ruhen lassen, aber durch die Gefangenschaft und die Verbannung wurde er gezwungen, sie endgültig aufzugeben. 1854 schied er aus dem von ihm gegründeten Anwaltsbüro aus 1 ). Doch scheint er ursprünglich die Absicht gehabt zu haben, seinen Beruf noch lange auszuüben 2 ). Daß er sich jetzt vollständig der Schriftstellerei zuwandte, scheint daher weniger aus innerem Triebe als vielmehr unter dem Druck der äußeren Umstände erfolgt zu sein. Freilich wurde ihm das Schreiben nun, da seinem Schaffensdrang alle anderen Kanäle versperrt waren, zu einer Lebensnotwendigkeit. Und ferner konnte er doch nur in seinen Schriften seinem Grolle L u f t machen. So verwandte Guerrazzi von seiner Gefangensetzung an alle seine K r ä f t e auf die literarische Arbeit und war bis zu seinem Tode rastlos tätig als Verfasser von historischen Romanen, satirischen, polemischen, politischen Schriften, von Geschichtswerken und juristischen Abhandlungen und Gutachten. E r wurde immer mehr ein Vielschreiber, denn, nachdem er seine Giftpfeile auf seine Gegner verschossen hatte, blieb ihm immer noch der Anreiz des x
) Mangini vit. for. S. 165. ) Ebd. S. 75. . . . nel febbraio di quest'anno (1845) entrava nel nuovo studio . . . Lo affitto doveva durare per nove anni, dal 1. 2. 1845 a tutto gennaio 1854 . . . Il G., facendo cotesto affitto, aveva in animo di proseguire a lungo la professione legale . . . 2
Guerrazzis Leben im Hinblick auf seine literarische Produktivität,
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Honorars. Seine Briefe zeigen, d a ß es ihm nicht wenig d a r u m zu tun war 1 ). 1856 f l o h er aus Korsika, lebte darauf in Genua und kehrte 1862 nach L i v o r n o zurück. 1860 wurde er z u m Abgeordneten g e w ä h l t und saß während vier Legislaturen im Parlament. B e i einer abermaligen K a n d i d a t u r , 1870, fiel er durch. Politisch hatte er jedoch seit der R e v o l u t i o n ausgespielt. E r zeichnete sich nur a u s durch seine rhetorische Opposition gegen C a v o u r und die „ M o d e r a t i " , die Gemäßigten, denen er seit 1849 bitter feind war*). A l s er 1873 auf seinem L a n d g u t bei Livorno verschied, sah man mit ihm nur noch ein Überbleibsel einer schon überwundenen Zeit dahingehen. In den Worten, die 1877, wenige Jahre nach G.s Tod, F. T o r r a c a schrieb 3 ), erklingt die Unerbittlichkeit der Jugend und des Lebens: „C'inchiniamo riverenti innanzi a'padri nostri, i quali ci han dato la libertà, la indipendenza e t u t t o ; ma saremmo figli degeneri se non andassimo innanzi. E per andare innanzi a b b i a m bisogno di verità, abbiam bisogno di sgombrarci il passo da' frantumi di un mondo che non è più il nostro. Il Guerrazzi e le sue opere e le sue idee e la sua estetica sono tra quei f r a n t u m i : noi li m e t t i a m o nel museo della nostra storia e proseguiamo il cammino." W i e die Betrachtung dieses Lebenslaufes zeigt, hat Guerrazzi nicht zu allen Zeiten die gleiche K r a f t auf das literarische S c h a f f e n verwandt. A m wenigsten Energie hat er ihm im mittleren A b s c h n i t t seines Lebens zugeführt. W i r haben aus dieser Zeit nur ein einziges umfangreiches Werk, die Isabella Orsini, die in der Eile niedergeschrieben wurde und gegen seine früheren Schöpfungen stark abfällt. Die Ablenkung des Interesses und der A r b e i t s k r a f t v o m Dichterischen fort auf anderes kann natürlich nicht der einzige Grund f ü r d a s ') Schon bei der Isabella Orsini spielt das Honorar eine große Rolle. Belustigend ist, wie G. sich auch die langen Anmerkungen, die nur Zitate aus den Geschichtsquellen enthalten, gleichgut bezahlen lassen will, wie seinen Text. Lett. Mart. S. 443 an Le Monnier, den Verleger: Voi mi scrivete che preferite che le note non vi siano e non volete pagarle a ragguaglio del testo; kurz vorher will er aus einem Neudruck seiner bisher erschienenen Werke Kapital schlagen (Lett. Mart. 131, an M. Puccioni, vom 17. 5. 1843), da er sagt, seine Einnahmen seien nicht groß genug . . . bisognerebbe ch'io ricavassi questo supplemento scrivendo. Das Feilschen im großen Stil kommt später, wegen der Beatrice, dem Asino. Vgl. Lett. Card. I, 413, 479, 489; II, 113, 160, 174, 190, 484. *) Aus D'Ancona e Bacci V, S. 457 könnte man entnehmen, G. habe das Jahr 1859 und die Regierung Ricasoli abgewartet, um seinem Unwillen gegen die Moderati L u f t zu machen. Aber schon in der Beatrice Cenci tobt er sich aus (S. 208, 314, 332, 415 u. pass.). S. 484 eine Spitze gegen commissioni governative, d. h. die Com. gov., die ihn am 12.4. 1849 zum Abschied zwang, und in der Ricasoli und die anderen Gemäßigten waren. *) F. T o r r a c a in Giornale napoletano, anno III, 1877; zit. nach Fedi, Scritti scelti, S. VI.
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Sinken des künstlerischen Wertes sein. Vor allem kann nicht mit Bestimmtheit behauptet werden, das eine habe das andere notwendig zur Folge. Das Wirken der schöpferischen K r a f t ist unberechenbar, und diese Unberechenbarkeit des Schöpferischen, zu dessen Erklärung, wie uns wohl bewußt ist, mechanistisch-schematisches Klügeln nicht ausreicht, offenbart sich nun auch gerade in diesem mittleren Abschnitt von Guerrazzis Leben. Da ist ihm nämlich 1837 eine kleine historische Erzählung Veronica Cybo hervorragend gelungen. Gleichviel, rein tatsachenmäßig läßt sich bei Guerrazzi ein Zusammengehen von Absinken der Schaffensintensität und Minderung des künstlerischen Wertes des Hervorgebrachten beobachten. Für die erste und dritte Periode seines Lebens ist daher auch die Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen bedeutender Werke größer, denn hier richtet G. seine ganze K r a f t auf die literarische Produktion. Aber, wie schon betont, es müssen auch andere bestimmende Umstände berücksichtigt werden, und die sind für die beiden Perioden verschieden. Trotzdem G. in der dritten Periode seine ganze Energie auf die schriftstellerische Arbeit sammelt, gelingen ihm nicht jetzt die bedeutendsten Werke. Das mag einesteils an der weiter oben erwähnten, veränderten inneren Einstellung zur schriftstellerischen Tätigkeit gelegen haben. W a s in der ersten Periode aus freiem inneren Drang erfolgte, geschieht in der dritten unter dem Druck der Notwendigkeit. Entscheidend ist aber, daß in dieser letzten Zeit ein Nachlassen der schöpferischen K r a f t selber sich bemerkbar macht. An Stelle der inneren Sammlung tritt Zersplitterung, und was früher in einem kühnen Wurfe gelang, schleppt sich nun über Jahre hin. Auch hier ist es zunächst äußerer Zwang. Er macht sich an die Ausarbeitung der Beatrice Cenci, zugleich muß er aber an seine Selbstverteidigung denken. Er schreibt die umfangreiche Apologia, sowie die nicht minder lange Verteidigungsrede, leitet die Zusammenstellung des von der Verteidigung zu verwendenden Materials und verfaßt einige andere Schriften. In dieser Zeit befaßt er sich aber auch mit einer anderen literarischen Arbeit, der umfänglichen Satire L'Asino1). Bezeichnender ist, wie sich die Fertigstellung der Arbeiten in die Länge zieht. Der Gedanke einer Beatrice Cenci wurde im Juni 1843 zusammen mit dem Plan zur Isabella Orsini gefaßt 1 ). Nachdem letztere erschienen war, wurde die Arbeit an der Beatrice im Juli 1844 in Angriff genommen 3 ), und im Winter 1844 auf 1845 x) Die Arbeit am Asino wurde schon vor der Gefangenschaft begonnen, dann ruhen gelassen, 1853 wieder aufgenommen und 1855 zu Ende geführt. Vgl. Lett. Card. I, 372, 376, 408, 430, 431, 472 und II, 172. a) Lett. Mart. S. 125. Vgl. o. S. 11, Anm. 2. 3) Lett. Card. II, 41 f.
Gucrrazzis Leben im Hinblick auf seine literarische Produktivität.
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sehen w i r den A u t o r sehr u m Material b e m ü h t 1 ) . D a n n scheint die Arbeit geruht zu haben. Jedenfalls wird im Dezember 1847 die BC. immer noch als progetto bezeichnet, und es wird immer noch Material g e s a m m e l t 1 ) . In der Folgezeit wissen wir G. vollkommen von der Politik in Anspruch genommen, so daß die Beschäftigung mit der BC. 1847—1849 unwahrscheinlich ist. Die Niederschrift erfolgte dann wohl erst im Gefängnis. I m R o m a n wird auf diesen Umstand B e z u g genommen, und G. bezeichnet selbst in einem Briefe die BC. als die F r u c h t seiner Gefangenenjahre 3 ). I m Januar 1850 muß die Arbeit dann schon weit fortgeschritten, wenn nicht dem Abschluß (oder einem vermeintlichen Abschluß) nahe gewesen sein 4 ). Im Juli 1850 kommen Verlagsverhandlungen in Gang®). In B u c h f o r m erscheint d a s W e r k jedoch erst 1854"). Schwierigkeiten mit den Verlegern und mit den Gefängnisbehörden') mögen daran schuld sein. Möglich ist aber auch, d a ß das W e r k v o m Verfasser als unfertig empfunden und deswegen zurückbehalten wurde. E s sind ja zwei V o r e n t w ü r f e erhalten 8 ). B e i dem einen bildet die Erzählung v o m Marchese di S. Prassede, die 1853 f ü r sich erschien, noch einen Bestandteil des Romans selbst. E i n e grundlegende Umgestaltung nach 1850 ist daher nicht ausgeschlossen 9 ). W i r wissen auch, d a ß G. in der Zwischenzeit (1850—1853) an dem Werk gefeilt hat 1 "). Doch kann d a s auch Folge und nicht Ursache sein. Jedenfalls aber ist ersichtlich, über welch lange Zeit die Abfassung der BC. sich erstreckt hat. Bei dem nächsten R o m a n , Pasqttale Paoli, ist für aen Leser das Nachlassen der gestalterischen K r a f t augenfällig. S o läßt sich auch beobachten, wie die A b f a s s u n g des R o m a n s sich außerordentlich lange hinzieht und anderen Arbeiten zuliebe unterbrochen wird. Im Oktober 1854 schreibt Guerrazzi, die A r b e i t daran sei weit fortgeschritten 1 1 ), und im Dezember h o f f t er den R o m a n für das folgende 1)
Lett. Card. I, 17, 19. •) Lett. Mart. S. 223. 3) Lett. Card. II, 115, 151. *) Lett. Card. II, 95. ') Lett. Mart. S. 452f. *) Miniati, S. 122, gibt an als erste Ausgabe Pisa, Pucci 1853. — Aus den Briefen ist aber mit Sicherheit zu entnehmen, daß der Roman Aug./Sept. 1854 erschien. Lett. Card. II, 125, 137, 142, 143. ') Lett. Card. I, 203. •) Von mir in der Biblioteca Labronica zu Livorno kurz eingesehen. Es sind die MS. Nr. 5 und 6 der von Francesco Michele Guerrazzi geschenkten MSS. Guerrazzis. •) An Emile Girardin, Paris, 18. 1. 1854 (Lett. Card. II, 115): En revoyant le manuscrit . . . j'ai cru devoir en détacher un épisode dont je me propose de faire une publication à part sous ce titre: Le Marquis de Santa Prassede . . . 10) Lett. Card. I, 208. " ) Lett. Card. II, 159.
Einleitung.
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Jahr 1855 fertigstellen zu können 1 ). Dann wendet er sich anderem zu 1 ). In der Tat erscheinen 1857 der nun fertig gewordene Asino, Pasquak Sottocorno (eine Art Biographie eines Mailänder Volksführers des Jahres 1848) und Fides (eine phantastische Erzählung). Dem korsischen Vorwurf des Pasquale Paoli standen die Erzählungen La Torre di Nonza3) und La Storia di un moscone *), die 1857 und 1858 erschienen, näher. Sie spielen auf Korsika, und in beiden wird ein Begebnis aus der korsischen Geschichte erzählt. Nach diesen Schilderungen kehrt G. wieder zum Pasquale Paoli zurück; aber erst im November 1859, lange nachdem er Korsika verlassen hat, ist das Manuskript fertig4). Das Buch erscheint 1860. Inzwischen war nämlich ein neuer Plan aufgetaucht. Bei der Arbeit an der Beatrice Cenci bzw. am Marchese di Santa Prassede war ihm schon der Stoff des Paolo Pelliccioni bemerkenswert erschienen*). 1857, also vor der Erledigung des Pasquale Paoli, bemühter sich um Material dafür 7 ), aber 1859 ist das Werk noch nicht über ein Projekt hinausgekommen8). Es erscheint erst 1864. Wieder waren andere Dinge dazwischengekommen. Zunächst der autobiographische Roman II buco nel muro (1862 veröffentlicht) und dann vor allem seine „Geschichtswerke" L'Assedio di Roma und die Vite des Andrea Doria, des F. Ferruccio und des Sampiero D'Ornano, unförmige Kompilationen, die insgesamt über 3300 Seiten umfassen'). Sie erschienen 1863—1865, also kurz vor und nach dem Pelliccioni. Gegenüber der materiellen Interessiertheit an der schriftstellerischen Arbeit in der zweiten und dritten Periode seines Lebens und der Zerfahrenheit in der dritten steht in der ersten die uneigennützige Hingabe an die Aufgabe des Patrioten und Dichters, die völlige Widmung seiner Arbeitskraft seiner dichterischen Aufgabe. Doch ist es nicht dieser äußere Umstand allein, der die BdB. und vor allem den Assedio zu seinen besten Werken werden lassen. Wichtiger sind die inneren Gründe, an deren Aufdeckung wir uns nun machen. M ') ') *)
Lett. Card. Lett. Card. Lag Anfang Geschrieben
II, 173. II, 308, 321, 327, 336, 359. 1857 fertig vor. Lett. Card. II, 300. Dez. 1857 (Januar 1858 gedruckt. Lett. Card. II, 348,
353. 357)») •) 7) •) ,J)
Lett. Card. II, 481. Guerrazzi, Racconti. Lett. Card. II, 338. Lett. Card. II, 481. Von mir eingesehen.
S. 130 Anm. Vgl. auch Miniati S. 166.
Erstes
Kapitel.
Die Battaglia di Benevento. Komposition — Geschichtsbild — Lyrismus. Vorbetrachtung : Die literarischen Einflüsse. Daß Guerrazzi in der Battaglia di Benevento sich an Vorgänger anlehnt, ist nicht notwendig eine Folge davon, daß er sich hier zum ersten Male in der Gattung des Romans versucht — es wäre ja durchaus denkbar, daß er sich in bewußte Opposition zu seinen Vorgängern gestellt hätte, wie das z. B. bei F i e l d i n g der Fall war, als er seinen Joseph Andrews verfaßte (Dibelius I, 87f.) — , sondern das ist eine Tatsache, die wir als solche hinnehmen müssen, wenn wir sie nicht aus einer gewissen Unselbständigkeit erklären wollen, die gerade in diesen Jahren in dem Verhalten Guerrazzis einmal deutlich sichtbar wird, was zu dem gewohnten Bilde des selbstbewußten und herrischen Mannes in einem auffälligen, aber nicht unerklärlichen Gegensatz steht. An einer solchen psychologischen Erklärung ist uns aber hier nicht gelegen. Die Romane, die auf Guerrazzi bei der Abfassung der BdB. als Vorbilder wirkten, waren einmal die Romane W a l t e r S c o t t s und andererseits die Schauerromane, speziell die der Mrs. R a d c l i f f e . Wir betrachten nun die besonderen Umstände, die es mit sich brachten, daß dies Guerrazzis Vorbilder wurden, und anschließend suchen wir in der Verschiedenheit von Guerrazzis innerem Verhältnis zu ihnen bereits eine Erklärung für die Eigenart der BdB. Die BdB. wurde in der Zeit von Mai 1827 bis 1828 konzipiert und verfaßt. Das ließ ein Vorbild als natürlich erscheinen: S c o t t . Wieso ? Der einheimische italienische Roman des 18. Jahrhunderts war vergessen. Der Briefroman im Wertherstil, wie ihn F o s c o l o mit seinem Ortis aus den besonderen italienischen Verhältnissen heraus neu gestaltet hatte, lebte nur noch in faden Nachahmungen fort, die einen jungen originellen Geist schwerlich zur Nacheiferung reizen konnten. Der empfindsame Briefroman war überhaupt überlebt, entsprach nicht mehr dem Zeitgeschmack. Seit 1816 erschienen jedoch in Frankreich Übersetzungen Scottscher Romane, die auch wohl in Italien gelesen worden sein mögen, wenn sie auch erst 1821 in italienischen Zeitschriften Erwähnung finden (Fassö, S. 5, Anm. 2). E l v e r t , Beiheft i . Zeiuchr. (. rora. Phil. L X X X I V .
2
lg
Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
In diesem Jahre erschien auch die erste italienische Übersetzung eines Scottschen Werkes, der dann rasch weitere folgten (Fassò, S. 5). Die Kritik verhielt sich zunächst kühl. Die klassizistisch eingestellte Biblioteca italiana blieb immer prinzipiell ablehnend, konnte aber nicht umhin, ein kühles Lob zu spenden; besonders nach 1823 wird jede Neuerscheinung mit einem lobenden Beiwort angezeigt (Fassò, S. i6f.). Die romantische Antologia ließ 1824 in einem Artikel von U z i e l l i ein beifälliges Urteil über Scott laut werden, und 1826 erscheint ebendaselbst ein Aufsatz, in welchem sich T o m m a s e o als Bewunderer Scotts zeigt (Fassò, S. i8f.). Das Publikum liest, denkt und redet nur noch von Scott (Mazzoni. I, 270). Aus dieser Atmosphäre der Scottbegeisterung kommt nun Guerrazzi die Anregung zur Abfassung eines historischen Romans. Anfang Mai 1827 schreibt er an seinen Lehrer C a r m i g n a n i in Pisa: „Gli amici miei mi si son messi attorno e mi sollecitano a comporre un romanzo storico, dicendomi di questo genere di componimenti andare difettosa la Italia, le altre nazioni onorate, questo esser fonte di fama, questo opera importante per la quale è concesso narrare quelle cose che la storia non può; e già l'animo mio v'inchina, come quello che è vago di casi misteriosi, intollerante di freno, e anelo di ordire lunga serie di eventi; . . ." (Lett. Mart. S. 7). Hieraus geht deutlich hervor, wie sehr Scott als das nachahmenswerte Vorbild erschien, denn nur Scott kann hier gemeint sein ; sagt Guerrazzi doch, daß es dergleichen Romane nin Italien nicht gäbe. (Von M a z z o n i s Castello di Trezzo und den Promessi Sposi weiß er erst im Oktober 1827. Vgl. Lett. Mart. S. 8.) Daß die Romane Scotts Guerrazzi während der Abfassung der BdB. fortwährend im Gedächtnis waren, zeigen die Anspielungen darauf, die sich an verschiedenen Stellen derselben finden. So wird einmal Scott direkt genannt. „Questa è la crociata . . . esposta con tanta sagacia di storia, dal chiarissimo Gualtiero Scott" (I, 166). Oder es schimmert nur eine Reminiszenz durch, hier an Kenilworth: ,,Ai tempi di Elisabetta regina d'Inghilterra costumavano le dame aggirarsi per le vie con un lungo strascico di seta; . . ." (I, 190). Und an einer anderen Stelle: ,,. . . e in questo come in ogni altra cosa, converrà cedere la mano al Romanziere scozzese . . ." (II, 104). Zu den Büchern nun, die in früher Jugend auf Guerrazzi einen tiefen Eindruck machten, gehören die Romane der Mrs. R a d c l i f f e . Er sagt in den Note autobiografiche aus dem Jahre 1833: „Insieme con l'Ariosto, e senza di lui mi sarebbero riusciti fatali, mi caddero tra le mani i romanzi della Radcliffe. I Misteri di Udolfo, Il Castello dei Pirenei, La Badia di Granville scossero altamente la mia anima; sopra ogni altro poi il Confessionario dei Penitenti neri; io da quel tempo non gli ho più tocchi, e pure mi sembra averli sempre davanti agli occhi; . . . (Er schildert dann die Szene, in der Schedoni seine Tochter ermorden will, und fährt fort) : Siffatti mezzi per commuo-
Vorbetrachtung: Die literarischen Einflüsse.
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vere sono tragici davvero . . ." (Not. aut. S. 55ff.). Diese Worte über die Radcliffe legen beredtes Zeugnis ab dafür, wie stark der Eindruck ihrer Romane auf Guerrazzi gewesen war. Nirgends finden wir ihn in gleich begeisterter Weise sich über Scott äußern. Auch die oben angeführten Stellen aus der BdB., die aus der Zeit der Scottbegeisterung stammen, und die die bejahendsten Äußerungen Guerrazzis über Scott darstellen, gehen nicht über eine kühle Bewunderung hinaus. Bemerken wir nun noch, welchen Geschmack Guerrazzi überhaupt an Schauerromanen fand. Als er an der BdB. schrieb, kannte er H o r a c e W a l p o l e s Castle of Otranto (vgl. u. S. 57) und möglicherweise M a t u r i n , wenn wir annehmen, daß er zu M a t u r i n s Geschichte der Albigenser, die er in der BdB. nennt (I, 176), auf dem Umwege über dessen Romane gelangt ist. Daß Guerrazzi diese überhaupt gekannt hat, ist uns aus späterer Zeit bezeugt, wo er uns auch sagt, wie sehr ihn diese Bücher in ihren Bann schlugen. In der Erzählung I nuovi Tartufi sagt er: „Mi parve ch'ei m'inchiodasse, appunto come leggendo Hoffmann, o Lewis, o Maturino, volli talora gittare via il libro, e non potei, tenuto schiavo dalla potenza di coteste infernali immaginazioni" (Scritti, S. 126). W i r erinnern uns nun an eine Bemerkung N i e t z s c h e s , die so lautet: „ W a s sind denn unsere Erlebnisse? Viel mehr das, was wir hineinlegen, als das, was darin liegt! Oder muß es gar heißen: an sich liegt nichts darin? Erleben ist ein Erdichten?" (MusarionUnd an anderer Stelle: „Zuletzt kann niemand ausgabe X , 116). aus den Dingen, die Bücher eingerechnet, mehr heraushören, als er bereits weiß" (ebd. X X I , 214). So verstehen wir auch Guerrazzis Gefallen an den Romanen der Radcliffe und an anderen Schauerromanen als den Ausdruck einer Guerrazzi selber eigenen Vorstellungsweise, das jugendliche Radcliffe-Erlebnis als ein Innewerden einer wesenseigenen Empfindungsart. Warum haben wir nun diese Betrachtungen angestellt ? Weil es uns scheint, daß die Feststellung dieser Umstände bis zu einem gewissen Grade eine Erklärung gibt für die Art, wie die BdB. gestaltet ist. Guerrazzi nimmt sich vor, einen historischen Roman zu schreiben, er folgt aber in Wirklichkeit weniger dem Beispiel Scotts als dem der Radcliffe, welch letzterer Umstand aber wiederum nicht als Nachahmung zu werten ist, sondern als der Durchbruch einer ganz persönlichen Geschmacksrichtung. Wenn wir nun auch bedenken, daß Guerrazzi den Sinn des Scottschen Romans nicht begreifen konnte und jetzt nur erst dunkel ahnte, was er mit der Geschichte als Stoff anfangen konnte — Dinge, die wir im zweiten Teil unserer Untersuchung aufzuzeigen bestrebt sind — , so erscheint uns die Überbetonung des Schauerromanhaften fast als ein Lückenbüßer, gleichsam als habe Guerrazzi eine Schauergeschichte geschrieben, weil er mit der Form des historischen Romans nichts Rechtes anzufangen gewußt. 2*
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
Wir wenden uns nun zur Betrachtung des Gesamtaufbaus und der Handlungsgestaltung, wo wir die Verdrängung des S c o t t sehen Vorbildes durch das der R a d c l i f f e beobachten wollen. Erster
Abschnitt.
Gesamtaufbau und Handlungsführung. I. Kompositionsprinzip und dessen Objekt (Fabel) 1. Das Konstruktionsprinzlp. Die Anlage des Scottschen Romans ist, auf eine knappe Formel gebracht, die: Im Mittelpunkt einer erfundenen Fabel stehen eine oder mehrere erfundene Gestalten. Die Fabel ist jedoch von untergeordneter Bedeutung, sie ist letztlich nur so weit vorhanden, als sie dem eigentlichen Zwecke des Romans dient, das ist, das Leben einer vergangenen Zeit anschaulich zu machen. Die abenteuerlichen und romanhaften Ereignisse treten gegenüber der Veranschaulichung der Geschichte in den Hintergrund. „Ce qui avait été jusqu'alors comme le secondaire devient maintenant le principal (sc. l'élément historique) . . . : ce qui veut dire que l'élément romanesque est rejeté au dernier plan." (Maigron S. 81; für eine auf eigenen Untersuchungen beruhende Charakterisierung Scotts siehe unseren zweiten Teil, S. 65f.) An diesem Sachverhalt ändert nichts, daß S c o t t die Handlung durch Verwendung von Motiven des Schauerromans reizvoll gestaltet (Dibelius II, i23ff.). Die „Intrige" bleibt dabei doch sekundär. Anders ist es nun, wenn die spannende Gestaltung der Handlung wieder Selbstzweck wird. Damit ist im wesentlichen Punkte das Verhalten S c o t t s aufgegeben. Dies ist nun bei Guerrazzi der Fall. Guerrazzi wendet sich bewußt zur Spannungsgeschichte hin. Er spricht gewissermaßen das Prinzip aus, von dem aus er sich bei der Komposition seines Romans leiten läßt, wenn er in der Einleitung zum X X I . Kapitel sagt: ,,. . . mentre che nel romanzo è altramente: ben l'arte ammaestra a disporre gli eventi in certa bizzaria misteriosa, e presentarli con quanto di fantastico può immaginare il poeta, onde la passione di chi legge di mano in mano infiammata aneli la fine, ma al punto stesso ne avverte esser debito svilupparli con naturale spiegazione affinchè non si sdegni di aver sparso il suo pianto sopra casi in nulla appartenenti all'umana natura" (II, 149). Daß Guerrazzi hier die Notwendigkeit natürlicher Erklärung ungewöhnlicher Ereignisse betont, zeigt eindeutig, von wem er diese Theorie von den Aufgaben des Romans hat, nämlich von der R a d c l i f f e , denn die Verwendung der natürlichen Erklärung ist ein Charakteristikum ihrer Romane (vgl. Dibelius I, 337; Killen S. 31). Daß Guerrazzi sich dieses Prinzip zum Leitstern gemacht hat, ist, was uns an der Gestaltung der BdB. als das Entscheidende er-
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung.
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scheint. Wenn er dabei, wie wir bei der Analyse sehen werden, in der Art Scotts einen erfundenen Helden in den Mittelpunkt einer erfundenen Handlung stellt, so ist das nicht mehr als eine nur äußerliche Nachahmung. Im folgenden versuchen wir, den Gesamtaufbau und die Einzelheiten der Handlungsführung in der BdB. darzustellen und dabei zu zeigen, wie Guerrazzi seine Absicht, Spannung zu erwecken, zu verwirklichen versucht. Zum besseren Verständnis schicken wir eine kurze Wiedergabe der Fabel voraus, aber nicht in der Anordnung, die der Autor ihr im Roman gegeben hat. Wir geben also gewissermaßen nur den Rohstoff, den er gestaltet hat. 2. Die Fabel. König Manfred hat mit Madonna Spina ein Liebesverhältnis. Die Spina heiratet den Grafen von Caserta, der nach der Hochzeit entdeckt, daß sie nicht von ihm schwanger ist. Er läßt sie von seinem Freunde, dem Grafen Cerra, umbringen. Im Todesschreck bringt sie ein Kind zur Welt, das Cerra in Unwissenheit seiner Herkunft aufwachsen läßt; weder Cerra noch Caserta ahnen etwas von der Existenz dieses Kindes namens Rogiero. Zwanzig Jahre nach der Ermordung der Spina entschließt sich Caserta, an Manfred wegen der erlittenen Schmach Rache zu nehmen. Cerra und Caserta beschließen zu diesem Zwecke, Karl von Anjou, der sich schon zum Feldzuge gegen Manfred rüstet, die Eroberung von Manfreds Reich zu erleichtern, indem sie sich an die Spitze einer Gruppe gegen Manfred verschworener Adliger stellen und mit Karl in Verbindung treten. Als Boten schicken sie mit ihren Briefen Rogiero. Den Gedanken, Rogiero, den Sohn Manfreds zu dieser Rachetat zu benutzen, hat Cerra seinem Freunde, dem von Manfred getäuschten Caserta, eingegeben. Rogiero, der nichtsahnend das zwanzigste Lebensjahr erreicht hat, ist ein Knappe im Dienste des Königs Manfred. Um ihn zum Bruch seines Treueids zu bewegen, reden die Grafen ihm ein, er sei der Sohn Heinrichs des Lahmen, den Manfred, um an seiner Statt herrschen zu können, im Kerker schmachten lasse. Rogiero ist schwer zu überzeugen. Doch läßt er sich umstimmen, nachdem er den Tod Heinrichs des Lahmen miterlebt hat, der vorher noch rasch in ihm seinen Sohn erkannte. Rogiero reitet nun mit den Briefen der Verschwörer dem Heere Karls entgegen. Sein Gewissen läßt ihm jedoch keine Ruhe, denn, Karl ins Land rufen, heißt Manfred, seinen Herrn, verraten, heißt Italien den Fremden preisgeben. Aber eine geheimnisvolle Stimme treibt ihn immer an mit den Worten: Gedenke deines Vaters I Unterwegs trifft er eine Räuberbande, mit deren Anführer, Ghino di Tacco, er sich anfreundet. Dieser erzählt ihm seine Lebensgeschichte, Rogiero erzählt ihm die seine, zum Schluß wird er von Ghino bemitleidet, weil er, um seinen Vater zu rächen, Italien an einen
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
Fremden verraten müsse. Rogiero zieht weiter, übergibt seine Briefe, erlebt, mit welchem Zynismus der Ghibelline Buoso v o n Doara, der eigentlich zu Manfred halten sollte, den W e g nach Süden dem Feinde für Geld freigibt. Auf dem Rückwege nimmt Rogiero in Rom an einem Turnier gegen die inzwischen dort eingetroffenen Ritter aus dem Heere Karls teil. Danach kommt er in ein Kloster, wo ein Helfer des Grafen Cerra, Roberto, ihm mitteilt, daß er gar nicht der Sohn Heinrichs des Lahmen sei. Damit tritt ein Umschwung ein. Rogiero ist nun nicht mehr verpflichtet, sich an Manfred zu rächen, also will er ihn retten. E r will zu ihm zurück, um ihn vor dem Verrat Casertas zu warnen. Unterwegs wird er von einem geheimnisvollen Pilger gefangengenommen und in einen Kerker geworfen, aus dem ihn Manfreds Tochter Yole, die ihn liebt, befreit. Nun gelangt er zu Manfred; zusammen kommen sie den Verrätern auf die Spur. Cerra wird von Rogiero im Duell verwundet und von seinem Spießgesellen Caserta ermordet. Unterdessen ist der Feind herangerückt. Verlust von S. Germano, da Manfreds sarazenische Truppen wegen eines Zwistes ihn im Stiche lassen. Schlacht bei Benevent. Manfred erkennt auf dem Schlachtfeld, ehe er stirbt, Rogiero als seinen Sohn. Caserta wohnt der Szene bei, um seine Rache voll auszukosten, wird aber um seine Freude betrogen, da Manfred ihm als guter Christ verzeiht. Dies ist die Fabel. Betrachten wir nun die Art, auf die Guerrazzi sie erzählt, seine erzählerische Technik.
II. Analyse des Gesamtaufbaues. Wir betrachten zuerst die Komposition des Romans a l s G a n z e m daraufhin, wie Guerrazzi ihn zum Zwecke der Spannungserweckung gestaltet. 1. Das historische Grundmotiv. Das zentrale Erzählungsmotiv, das den zuerst von Guerrazzi vorgesehenen Titel des Romans rechtfertigte La caduta della famiglia dt Svevia nel regno di Napoli (Lett. Mart. S. 8) ist das Schicksal des Hohenstaufen Manfred und seiner Familie, einschließlich des unehelichen Rogiero. Dieses Motiv wollen wir als d a s h i s t o r i s c h e M o t i v bezeichnen. Es wird in zwei Handlungssträngen vorgeführt, in deren Mittelpunkt jeweils Manfred bzw. K a r l von Anjou stehen. Für Guerrazzis Verfahren in der Erzählung ist nun bezeichnend, daß dieses Motiv, das den Kern der Erzählung bildet, von Guerrazzi nur langsam in den Mittelpunkt der Erzählung geführt wird. Guerrazzi hält mit dem großen E f f e k t zurück und bringt ihn erst zum Schluß vor. Im einzelnen stellt sich das so dar: Im 2. Kapitel erhalten wir eine erste Skizzierung" der Situation, in der sich Manfred befindet. Manfreds Tochter, Yole, wird v o n
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. einem Gefühl nahenden Unheils beunruhigt, das die Zofe Gismonda zu zerstreuen versucht. Aus den Worten der Frauen ist zu entnehmen, daß Karl von Anjou auf Veranlassung des Papstes Manfreds Reich erobern will, und daß sein Einmarsch in Italien zu befürchten ist. Diese Situationserklärung erfolgt aber nur beiläufig, der Hauptakzent der Szene liegt auf der Darstellung von Yoles Gemütsverfassung. Von Karl von Anjou erfahren wir erst wieder im 8. Kapitel. Guerrazzi bringt am Schluß des Berichtes über die politische Situation Manfreds vor Beginn der Handlung die Mitteilung, daß der Papst bei Karl von Anjou auf Ausführung des Feldzuges gegen Manfred dränge. Doch bleibt es auch hier bei einer kurzen Erwähnung. Danach tritt das Motiv zurück, und erst im n . Kapitel wird nach einer weitschweifigen Erzählung über die Art, wie Karl von Anjou in den Besitz der Provence gekommen ist, ausführlicher von den Gründen gehandelt, die Karl von Anjou zum Italienzug bewegen, und abschließend gesagt, daß Karl von Anjou mit der Flotte, seine Gattin Beatrix mit dem Landheer aufbricht. Hier setzt also erst die eigentliche K a r l - H a n d l u n g ein. Nach diesen verschiedenen Vorberichten tritt Karl selbst erst im 12. Kapitel auf, d. h. an einem Punkte, wo die Mitte des Romans schon sehr nahe rückt (im ganzen 29 Kapitel!). Im 12. und 13. Kapitel wird eine Seeschlacht geschildert, in der Karl von Anjou gegen Manfred siegreich bleibt. Den Kern dieser beiden Kapitel bildet jedoch die Erzählung des Steuermanns auf Karls Schiff, Gorello, wodurch die Aufmerksamkeit von Karl und der Bedeutung der Schlacht für Manfred abgelenkt wird. Nach einer abermaligen Pause (Kap. 14) wird im 15. Kapitel der Alpenzug von Karls Landheer dargestellt, und der Verrat Buosos von Doara, der Guido von Monfort und Beatrix den Weg nach Rom freigibt. Im 16. Kapitel wird die Krönung Karls in Rom geschildert. Danach tritt die Erzählung dieses Teils des historischen Geschehens ganz zurück, während 8 Kapitel, und erst im 25. Kapitel lesen wir, daß Karl von Anjou dank Casertas Verrat den Garigliano überschritten hat und auf S. Germano marschiert. Im 28. Kapitel tritt Karl von Anjou noch einmal auf, es ist vor der Schlacht von Benevent. Noch ausgesprochener ist das Zurückhalten mit der Erzählung des historischen Geschehens bei dem M a n f r e d - S t r a n g des Motivs. Nachdem im 2. Kapitel die Lage Manfreds angedeutet worden war, wird Manfred im 8. Kapitel eingeführt. E r wird aber hier noch nicht in Beziehung zur Handlung gesetzt. Was hier erzählt wird, liegt vor dem Beginn der Handlung des Romans und steht zu ihr nur in lockerer Beziehung. Es wird Manfred im Kampf um die Erwerbung seines Reiches gezeigt. Im Rahmen der Romanhandlung erscheint Manfred erst im 22. Kapitell Hier wird gezeigt, in welchem inneren Zustand er sich befindet, bevor das Verhängnis über ihn hereinbricht. Aktiv in die Handlung greift er erst ein im 23. Kapitel, wo
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
er anfängt, die gegen ihn gesponnene Intrige zu Fall zu bringen. In den Kapiteln 23 und 24 wird Cerra entlarvt und beseitigt. Doch wird Casertas Verrat dennoch ausgeführt (Kap. 25); Manfred verliert S. Germano (Kap. 26), flieht nach Benevent (Kap. 27), wird dort geschlagen (Kap. 28) und stirbt auf dem Schlachtfeld (Kap. 29). Wir sehen also, wie Guerrazzi mit der Erzählung des historischen Motivs und der Einführung seiner Hauptgestalten zurückhält. Nachdem im 2. Kapitel die Situation angedeutet ist, dauert es eine Weile, ehe sie ganz klargestellt wird (Kap. 8 und 1 1 ) und noch länger, ehe die Hauptpersonen handelnd auftreten, K a r l im 12., Manfred im 22. Kapitel. Guerrazzi hält die Trümpfe zurück und spielt vorsichtig einen nach dem anderen aus. Diese V e r s c h l e p p u n g s t e c h n i k werden wir an der Gestaltung der einzelnen Kapitel nochmals beobachten können (vgl. u. S. 3 7 ! ) . Die Erwartung, in die der Leser hinsichtlich des Verlaufes des historischen Motivs versetzt wird, wird jedoch herabgesetzt. Guerrazzi hat hier das Verfahren gewählt, die Spannung über den Ausgang des Kampfes zwischen Karl und Manfred aufzuheben, indem er von einem sehr frühen Zeitpunkte an den Ausgang desselben mitteilt. Bei der Einführung Karl von Anjous (Kap. 12) sagt der Autor: ,,Le forze del Re di tutta Francia, non che quelle di un Conte, parevano insufficienti a potergli far danno; pure tanto sono fallaci gli umani disegni, che e per mare, e per terra fu con mirabile agevolezza abbattuto, siccome andremo narrando nel processo di questa storia" (I, 287). Ebenso heißt es, nachdem Rogiero die Briefe der Verschwörer abgegeben hat: „Ora comincia la Serie dei prosperevoli eventi che lo condusse a sovvertire in pochi mesi la nobilissima monarchia di Manfredi" (Kap. 15 = I, 416). Die gleiche Mitteilung erfolgt zweimal zu Anfang des 16. Kapitels und noch einmal im 24. Kapitel. Damit wird das Interesse vom Ausgang der Handlung auf die Umstände, die diesen Ausgang herbeiführen, gelenkt. Die Umstände, die zu Manfreds Sturz führen, bilden nun auch den Kern der Erzählung. E s sind das die Intrige Casertas und Cerras gegen Manfred und der Vorfall, der zu dieser Intrige geführt hat: Manfreds Verhältnis mit der Spina, dem Rogiero entstammt. Das historische Motiv wird damit zu einem Vorwand, aus dem sich ein anderes Motiv, das der Intrige, ablöst, um den eigentlichen Kern der Erzählung zu bilden. Seiner Absicht getreu, Spannung zu erwecken, hüllt nun Guerrazzi die Intrige in ein Geheimnis, indem er ihre Anzettelung unter ganz unklaren Umständen erfolgen läßt, die deswegen unklar sind, weil der Leser mit den Hintergründen, d. s. die Geburtsumstände Rogieros, nicht vorher bekannt gemacht wird. Darin nun, daß Guerrazzi Intrige und Geheimnis zu Konstruktionsmotiven macht, bewegt er sich auf den Bahnen, die für den Schauerroman charakteristisch sind (Dibelius I, 290). Die Verknüpfung von Intrige und Geheimnis
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. hatte mit großem Erfolg die R a d c l i f f e in ihrem Roman The Italian angewandt (Dibelius I, 292), von dessen tiefem Eindruck auf Guerrazzi wir bereits wissen. (II confessionario dei penitenti neri war der Untertitel; vgl. o. S. i8f.) Die Intrige Casertas und das Geheimnis von Rogieros Geburt bilden also das Kemgerüst der Erzählung. Indem wir nun verfolgen, wie Guerrazzi diese Motive durchführt, versuchen wir ein Bild davon zu geben, wie der Roman aufgebaut ist. 2. Die dominierenden Konstraktionsmotive: Intrige und Geheimnis. Verhältnis
zum
historischen Motiv Raumökonomie.
hinsichtlich
der
Während das historische Geschehen erst gegen Ende des Buches, namentlich von Kapitel 25 (Karl von Anjou überschreitet den Garigliano) an, mit der dort erst entschieden hervortretenden Persönlichkeit Manfreds in den Vordergrund kommt, ist der vorhergehende Teil des Romans von der Gestalt Rogieros beherrscht, der Person, die einerseits durch ihr Vorhandensein den indirekten Anlaß zu Casertas Intrige gegen Manfred gibt, und die andererseits zugleich ein Objekt in den Händen der Intriganten, ein Mittel zur Durchführung ihrer Pläne ist. Sie tritt erst vom 23. Kapitel an hinter Manfred zurück, als die Intrige aufgedeckt zu werden beginnt. Doch bleibt Rogiero bis zum Schluß im Gesichtskreis des Lesers, und die letzte Klärung hinsichtlich seines Verhältnisses zu Manfred erfolgt auf den letzten Seiten. Die
Durchführung
von
Geheimnis
und
Intrige.
Der Roman beginnt mit der Einführung Rogieros. Es geht keine Erklärung der Situation vorauf, sondern die Geschichte hebt in medias res mit einem langen Monolog Rogieros an. Aus ihm ist zu entnehmen, daß Rogiero ein Knappe am Hofe Manfreds ist, daß er elternlos ist und selbst nicht weiß, wer seine Eltern waren. Es wird damit um die Person Rogieros der Schleier des Geheimnisses gelegt, der dadurch nicht durchsichtiger wird, daß Rogiero einem dunklen Gefühle Ausdruck verleiht, er sei von edlem Blute, er sei zum Herrschen geboren. Mit dieser Ahnung, die zutrifft, Rogiero ist ja Manfreds Sohn, beginnt also schon dort, wo das Geheimnis zum ersten Male gegeben wird, die Serie von immer durchsichtiger werdenden Andeutungen, mit denen Guerrazzi an der Aufdeckung des Geheimnisses arbeitet. Wir können durch den ganzen Roman hindurch verfolgen, wie parallel mit der Verwirrung des Lesers diese gegenläufige Bewegung seiner Aufklärung geht. Wir sehen hier nun auch, wie Guerrazzi es macht, daß die Figur Rogieros und später die Intrige geheimnisvoll und durchsichtig bleiben: es wird dem
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
Leser die Vorgeschichte, die Geschichte von Manfreds Verhältnis mit der Spina, vorenthalten. Außer dem Motiv von Rogieros Geburt wird im i . Kapitel noch ein zweites angeschlagen. Rogiero ist verliebt in die Königstochter. Im nächsten Kapitel wird das Liebesmotiv von der anderen Seite her weitergeführt. Es wird Yole im Gespräch mit der Zofe Gismonda gezeigt. Aus ihren Worten ist zu entnehmen, daß sie jemanden liebt, doch sagt sie nicht, wen. Dem Leser wird ein neues Rätsel aufgegeben, doch erfolgt die Lösung nicht unmittelbar, sondern Guerrazzi geht zur Schilderung einer Situation über, die mit diesem Motiv nichts zu tun hat. Die zweite Hälfte des Kapitels wird nämlich von der Schilderung der nach dem Weggehen Yoles zurückbleibenden Hofdamen eingenommen. Eine weitere Entfernung von diesem Motiv bringt die Geschichte von dem Großen Teufel von Sizilien, die der Hofdame Matelda in den Mund gelegt wird. Im 3. Kapitel erscheint zuerst Rogiero, der in einem Monolog seine unglückliche Liebe klagt. Yole kommt hinzu, sie hat seine letzten Worte gehört, fragt ihn nach ihrem Sinn, er bekennt ihr seine Liebe, sie weist ihn mit schmerzvoller Gebärde zurück (schon ahnt der Leser, daß sie ihn liebt); daraufhin will sich Rogiero das Leben nehmen. Da wirft sie sich zwischen den gezückten Dolch und seine Brust — ein trotz aller Vorbereitung durch den Autor überraschendes Liebesbekenntnis. Das im vorigen Kapitel angedeutete Geheimnis findet hier erst seine Klärung. Durch dieses eingeschobene neue Motiv, das Liebesmotiv, ist aber die Aufmerksamkeit des Lesers von dem Geheimnis, das Rogiero umgibt, abgelenkt worden. E r ist verleitet worden, weniger auf das Geheimnis um die Person des Helden als auf seine Liebe zu achten. E r erwartet nun weiter eine Liebesgeschichte. E r befindet sich nicht in gedanklicher Bereitschaft, das im folgenden Kapitel Erzählte mit Rogieros geheimnisvoller Geburt in Verbindung zu bringen. Dieses Motiv wird nun gerade wieder aufgenommen, aber von einer anderen Seite her. Mit dem 4. Kapitel wird der Leser in eine neue Umgebung versetzt, über deren Verhältnis zur bisherigen, dem Königsschloß, nichts verlautet. E r erwartet also nicht die Fortführung der bisherigen Erzählung, sondern die Einführung von etwas Neuem. Die Bereitschaft, das im folgenden Erzählte mit dem im 1. Kapitel angedeuteten Geheimnis um Rogiero in Verbindung zu bringen, wird noch gemindert. In Wirklichkeit wird in diesem Kapitel die Vorgeschichte, Manfreds Liebschaft, und zwar die ganze Vorgeschichte, dargeboten, aber nur in ganz dunklen Umrissen. E s wird ein Crescendo von Andeutungen gegeben, die von ganz unbestimmten Bemerkungen zu etwas konkreteren Angaben aufsteigen. Um sie aber zu einem Bild zusammenfügen zu können, sind sie zu dunkel. Außer ihrer eigenen Dunkelheit stehen noch andere Hemnisse ihrer Verknüpfung
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. im Wege. Erstens sind die entscheidenden Worte in einen Schwall von begleitenden lyrischen Ausbrüchen eingebettet, und zweitens erfolgen die Anspielungen auf die früheren Ereignisse nicht in der Reihenfolge, in der die Ereignisse sich abgespielt hatten. Der Schauplatz ist ein Zimmer in Casertas Schloß. Caserta richtet einen lyrischen Monolog an einen Totenschädel. Aus seinen Worten ist zu erraten, daß der Schädel der einer Frau ist. In seinen Worten liegt sowohl Verehrung als Anklage. E r spricht dunkel von einer Rache, die er üben will. Von welcher Frau die Rede ist, und an wem er Rache üben will, wird nicht klar. Es schimmert schwach durch, daß die Frau eine Schuld auf sich geladen hat. Dies ist nun das Vorspiel, das von der Hauptszene durch die Einführung Cerras getrennt wird. Der Verfasser schlägt also eine Note an und läßt sie verklingen, ehe er sie wieder anschlägt (Verschleppungstechnik). Erst das nun beginnende Gespräch zwischen Caserta und Cerra bringt weitere Aufschlüsse. Technisch ist die Sache so gemacht, daß, von einer Verhöhnung Casertas durch Cerra ausgehend, sich eine Unterhaltung über frühere Vorgänge — eben die vom Verfasser hintangehaltene Vorgeschichte — entspinnt. Die Unterhaltung wird damit für den Leser so undurchsichtig, wie für einen unbeteiligten Dritten jedes Gespräch über eine Angelegenheit, die er nicht kennt. Da Cerra und Caserta sich auf jene gemeinsamen Erlebnisse beziehen, können sie beliebig den einen oder anderen Punkt herausgreifen. Für den Leser wird es aber auf diese Weise unmöglich, einen Zusammenhang herzustellen. Hinzu kommt, daß die beiden Sprecher sich einer geheimniskrämerischen Ausdrucksweise bedienen. So wird das Objekt von Casertas Rachsucht durch ein mysteriöses, mit besonderer Betonung gesprochenes (was im Text durch Kursivdruck angedeutet wird), ,,ihn" bezeichnet. Oder Caserta wirft Cerra vor, er habe Rogiero noch im Mutterleib getötet, indem er ihm sagt: ,,Perchè voi gli avete portato la morte fin colà dentro dove la natura ha posto il luogo acconcio all'opera della v i t a ? " (I, 103). Was der Leser hier von der Vorgeschichte erfährt, ist, daß die Frau, deren Schädel Caserta anbetete und verfluchte, treulos gewesen ist, daß Caserta Cerra befohlen hatte, sie und das Kind zu töten, daß Cerra aber nur die Frau getötet hat, und daß das Kind lebt. Der Leser kann also vermuten, daß die Frau Casertas Gattin war, aber ausdrücklich gesagt wird das nicht. Über die Identität des Kindes, insbesondere sein Verhältnis zu Caserta, kann der Leser vollends keine Klarheit gewinnen, denn er erhält darüber widersprechende Angaben. Von Caserta wird es als sein Kind bezeichnet; ein Wort Cerras scheint diese Aussage zu bestätigen, aber dann sagt Caserta bald darauf, daß es nicht sein Kind sei. Damit ist erreicht, daß der Verdacht der Vaterschaft auf Caserta gelenkt wird, daß aber die Richtigkeit des Verdachtes stark in Zweifel gezogen wird ; das Urteil des Lesers wird unsicher gemacht. Hiermit wird etwas vorbereitet.
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
was im nächsten Kapitel erfolgt: die Irreführung des Lesers. Nur eines geht ganz klar aus dem Gespräch hervor: daß Caserta sich rächen will. Wir schließen: an dem Verführer der Frau; aber gesagt wird das nicht. Auch das Kind, das bei der Ermordung der Frau nicht ums Leben kam, will er jetzt töten lassen. Da hat Cerra einen Vorschlag zu machen. Seinen Plan teilt er aber Caserta nur flüsternd mit, so daß der Leser ihn nicht „hören" kann. Damit wird eine Spannung geschaffen. Wils haben die beiden vor ? Diese Frage wird alsbald beantwortet, aber in so rätselhaften Worten, daß damit die Spannung nur gesteigert wird. Caserta ruft nämlich aus: ,,11 tradimento, e il parricidio commesso pera amore di vendicare il padre, era un pensiero degno di meditarlo il Cerra" (I, 105). Nachdem während des ganzen Kapitels die Rachegelüste Casertas dargestellt worden sind, kommt am Schluß folgerichtig, daß ein Plan zur Ausführung der Rache geschmiedet wird. An wem und auf welche Weise bleibt jedoch ganz im Dunkeln. Die Intrige ist eingeleitet. Im folgenden 5. Kapitel wird vor allen Dingen die Irreführung des Lesers hinsichtlich Rogieros Abstammung in die Wege geleitet. Außerdem macht die Intrige hier einen Fortschritt. In der ersten Hälfte des Kapitels wird Rogiero von dem Reisigen Roberto eröffnet, daß er erfahren könne, wer sein Vater sei. Zugleich sagt er ihm, daß er, ehe die Nacht um sei, Manfred, seinen Herrn, hassen und bekämpfen werde. Rogiero weigert sich, das zu glauben, läßt sich aber dahin führen, wo er weiteres über seine Herkunft hören wird. Das Geheimnis von Rogieros Geburt rückt in den Mittelpunkt des Interesses. Die sonderbare Voraussage Robertos läßt auf die versprochenen Enthüllungen gespannt sein. Rogiero gelangt zu zwei vermummten Gestalten, in denen der Leser Cerra und Caserta errät, die Rogiero glauben zu machen versuchen, er sei der Sohn Heinrichs des Lahmen, den Manfred gefangen halte. Rogiero weigert sich zu glauben, daß Manfred Heinrich derart behandle. Um ihn zu überzeugen, beschließen die Grafen, ihn zu Heinrich zu führen. Vorher teilen sie Rogiero mit, daß Heinrich im Sterben liege, worauf Rogiero von seinen Gefühlen überwältigt, zu Boden sinkt. Darin äußert sich, daß er schon halb überzeugt ist. Auch der Leser beginnt es zu glauben. Doch wird er in seiner Vermutung unsicher gemacht durch das Verhalten Casertas. Als dieser nämlich Rogiero hereinkommen sieht, will er mit ihm sprechen, aber die Stimme versagt ihm. Und wieder: als Rogiero von der ungeheuren Nachricht erschüttert zu Boden sinkt, zeigt sich Caserta rührend um ihn besorgt und ist schmerzlich betroffen, als Rogiero seine Hilfe zurückweist. Dem aufmerksamen Leser steigt der Verdacht auf, daß Rogiero vielleicht das Kind sei, von dem Caserta im vorigen Kapitel gesprochen. Wir haben es hier wieder mit einem der Hinweise zu tun, die in die Richtung der Aufklärung des Geheimnisses weisen.
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung.
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Das Kapitel schließt, ohne daß etwas zum Abschluß gebracht wäre. Erstens ist darüber keine Klarheit gewonnen, ob nun Heinrich wirklich Rogieros Vater ist, und ferner hat der Leser noch nicht erfahren, was Cerra und Caserta eigentlich wollen. Wir sehen nur, daß sie in der Ausführung ihres Planes begriffen sind. Daß Rogiero eine Rolle darin zugedacht ist, können wir nur vermuten. Diese offene Situation wird nun über drei Kapitel hinweg in der Schwebe erhalten. In ihnen wird ein Abriß der Geschichte Süditaliens von der normannischen Eroberung bis zu Manfred gegeben: 9® Seiten, die nichts mit der Haupthandlung zu tun haben. (Der ganze Roman umfaßt rund 800 Seiten.) Die Neugier des Lesers wird erst im 9. Kapitel befriedigt (Verschleppungstechnik). Das 9. Kapitel fährt unmittelbar dort fort, wo das 5. Kapitel aufgehört hat. Rogiero, Cerra und Caserta stiegen gerade die Treppe zum Kerker Heinrichs hinab; nun sind sie dort. Zuerst wird die Frage von Heinrichs Vaterschaft ins Reine gebracht. Dann wird die intrigante Handlung ihrer Vervollständigung zugeführt. Rogiero, nachdem er in Heinrich seinen Vater erkannt hat und durch dessen jämmerlichen Tod gegen Manfred gestimmt worden ist, wird von Caserta mit den Briefen der Verschwörer zu Karl von Anjou geschickt. Die Irreführung des Lesers über Rogieros Abstammung ist ein Meisterwerk der Spannungstechnik. Der Leser erfährt nichts unmittelbar, nichts Klares, sondern wieder nur alles durch Andeutungen, die ohne jeden Zusammenhang miteinander gegeben werden. Die Zusammenhangslosigkeit kommt dadurch zustande, daß er das Wesentliche aus den Reden Heinrichs entnehmen muß. Dieser aber ist irrsinnig; seine Rede ist wirr. Ein zweiter Grund für die Unklarheit seiner Worte für den Leser ist der, daß er, ähnlich wie im Gespräch Cerra-Caserta, auf Dinge anspielt, die dem Leser nicht bekannt sind. Nun scheint Heinrich von den gleichen Vorgängen zu reden, die Cerra Rogiero im 5. Kapitel über Manfred und Heinrich erzählt hat. Wie die spätere Entwicklung zeigt, spricht er zwar von ganz anderen Dingen. Hier kann der Leser das aber nicht beurteilen, sondern er läßt sich wie Rogiero verleiten, in den Worten Heinrichs eine Bestätigung für die Behauptung Cerras zu finden, daß Rogiero Heinrichs Sohn sei. Heinrich redet wirr von Manfreds Herrschsucht, von einer Frau und einem verschwundenen Kinde. Hinzu kommt, daß Heinrich in Rogieros Zügen eine Familienähnlichkeit feststellt. Die Beweiskette ist geschlossen. Doch sollte der Leser hier schon merken, daß etwas nicht stimmt. Die Grafen schicken Rogiero mit den Briefen zu Karl von Anjou. Also führen sie etwas gegen Manfred im Schilde. Würde der Leser sich nun an die rätselhaften Worte erinnern, mit denen Caserta zu Ende des 4. Kapitels Cerras Plan kommentierte (vgl. o. S. 28), so würde er schließen können: Rogiero soll, um seinen Vater zu rächen, also Heinrich zu rächen, einen Vatermord begehen. Nun ist Heinrich aber eben gestorben. An ihm kann er
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also keinen Vatermord begehen. Also ist Heinrich nicht der Vater; derjenige, dessen Untergang er mit herbeiführen hilft, ist Manfred. Also ist Manfred der Vater. Wird sich nun der Leser an jenen kurzen Ausspruch Casertas erinnern, der schon 125 Seiten zurückliegt ? Und wird er zu diesem Schluß geneigt sein, nachdem gerade die Vaterschaft Heinrichs demonstriert worden ist ? E s fehlt aber nicht an Warnungszeichen für den Leser. An drei Stellen, die sich gleichmäßig über die ganze Szene zwischen Rogiero und Heinrich verteilen, legt Caserta wieder ein recht seltsames Gebaren an den Tag. E r windet sich und stöhnt, als der Name Manfred fällt. Was hat er gegen Manfred ? Weiterhin zeigt sich Caserta um Rogiero besorgt, als dieser nach dem Tode Heinrichs in Ohnmacht fällt. Sollte Caserta Vatergefühle hegen? Schließlich stellt Cerra nach Rogieros Weggang fest, Rogiero erinnere sehr an den jugendlichen Manfred. Caserta ruft wie von einem Peitschenhieb getroffen aus: „Leider ähnelt er Manfred nur zu sehr!" Ist Caserta eifersüchtig ? Guerrazzi fährt also fort, Winke für die Lösung des Rätsels zu geben. Das macht er hier wie im 5. Kapitel, indem er durch das Verhalten Casertas den wahren Sachverhalt hindurchschimmern läßt. Die Andeutungen erhalten eine steigende Deutlichkeit. Caserta stellt hier zum Schluß sogar die Familienähnlichkeit zwischen Rogiero und Manfred fest. Dem Leser wird aber andererseits doch das Verständnis der Andeutungen erschwert, einmal dadurch, daß sie voneinander getrennt dargeboten werden, und ferner dadurch, daß sie in sich widersprechend sind. Die erste und die dritte dieser Andeutungen scheinen auf die Vaterschaft Manfreds zu weisen, die mittlere aber zeigt Caserta in der Haltung des besorgten Vaters. Ebenso hatten die Andeutungen im 5. Kapitel einmal auf Caserta und ein andermal auf eine nicht näher bezeichnete Persönlichkeit als den Vater des Kindes verwiesen. Mit dem 9. Kapitel ist auf geschickte Weise die Verknüpfung des Geheimnisses von Rogieros Geburt mit der Intrige durchgeführt. Die Unwissenheit, in der sich Rogiero über seine Herkunft befindet, wird von den Intriganten benützt, um ihn über dieselbe zu täuschen und durch diese Täuschung zu einem gefügigen Werkzeug in ihren Händen zu machen. Mit der Ent-täuschung Rogieros muß somit die Intrige zu Fall kommen. Damit, daß Caserta und Cerra Rogiero gegen Manfred aufgehetzt haben, haben sie ihren Zweck erreicht. Sie treten in den Hintergrund, und das Interesse richtet sich nun auf Rogiero. Wir sehen, wie er im Sinne der Feinde Manfreds handelt. Doch tritt in dem Abschnitt von Kapitel 10 bis 18 das Motiv von Rogieros Geburt zurück. Es wird hier eine ruhigere Partie eingelegt, die dazu dient, die Spannung zu halten, bis mit der Wiederaufnahme des Motivs von Rogieros Abstammung die Intrige zum Scheitern gebracht wird.
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsiahrung. Die beiden Motive ruhen vollkommen im Kapitel 10. Wir sehen hier Rogiero auf der Reise. Hier trifft er die Räuber und wohnt einer Diskussion zwischen dem Hauptmann Ghino und den Unterführer Drengotto über Freiheit, Recht und Gewalt bei. Die beiden Motive werden vollkommen ausgeschaltet in den Kapiteln n , 12 und 13, die der Einführung Karls von Anjou, der Schilderung der Seeschlacht und der Erzählung von des Steuermanns Gorello Abenteuern dienen. Im 14. Kapitel sehen wir, wie Yole um den totgeglaubten Rogiero trauert. Das Liebesmotiv, das zuletzt im 3. Kapitel angeschlagen wurde, wird hier vorübergehend wieder berührt. In der zweiten Hälfte des Kapitels erzählt Ghino seine Lebensgeschichte, und Rogiero holt sich bei ihm Rat, wie er sich in dem Widerstreit zwischen der Pflicht, seinen Vater zu rächen und der, Manfred die Treue zu halten, verhalten soll. Doch Ghino weiß keinen Rat. Im 15. Kapitel erfüllt sich der Rogiero zugefallene Teil der Intrige: er übergibt die Briefe. Hier wird das Geheimnismotiv kurz angeschlagen. Um Rogiero zum Verrat anzutreiben, ruft ihm eine Stimme zu: Gedenke deines Vaters! Nachdem im 16. Kapitel die Krönung Karls und das in Rom stattfindende Turnier, auf dem Rogiero und Ghino für die Ehre Italiens kämpfen, geschildert worden sind, finden wir im 17. Kapitel Rogiero wieder vom Widerspruch seiner Pflichten zerrissen. Die wieder ertönende mahnende Stimme treibt ihn zur Raserei. Im Walde dahinstürmend, trifft er auf einen Mönch, der ihn zu beruhigen sucht. Als dieser beim Ertönen der Sterbeglocke ins Kloster zurückkehrt, folgt Rogiero ihm nach. Dort entpuppt sich der sterbende Mönch als der Reisige Roberto, der ihn zu Cerra und Caserta geführt hatte. Im 18. Kapitel erzählt nun Roberto soviel er über Rogieros Herkunft weiß. Rogiero erfährt, daß er der Sohn Madonna Spinas ist, der Gemahlin Casertas. Hier wird der Gedanke an Heinrichs Vaterschaft hinfällig und das rätselhafte Verhalten Casertas bei früheren Gelegenheiten verständlich. Noch bleibt aber eines unklar: wer eigentlich der Vater gewesen ist. Die Angaben, die Roberto über frühere Besuche Manfreds im Hause der Spina vor ihrer Verheiratung und über Gunstbezeugungen Manfreds gegen Caserta macht, lassen freilich den Verdacht aufsteigen, daß Manfred der Vater sei, doch bleibt für den Leser ein Rest von Ungewißheit. Für Rogiero ist die Ungewißheit vollständig. E r sieht nur, daß Heinrich nicht sein Vater ist, wer es nun aber wirklich ist, weiß er nicht. Für den Leser ergibt sich hieraus ein neuer Effekt. E r selber kann nun schon halb und halb in Manfred den Vater erraten, gleichzeitig sieht er Rogiero noch in der gleichen Unwissenheit über seine Herkunft, in der dieser sich zu Anfang des Buches befand. Der Leser legt sich nun nicht nur die eine Frage vor: wer ist Rogieros Vater, sondern er fragt auch: wann wird Rogiero darauf kommen, wer sein Vater ist.
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Durch die Aufklärung Rogieros ist nun die Voraussetzung für seine Benützung durch Caserta beseitigt. E r ist frei, Manfred zu dienen. Damit beginnt auch die Intrige zu Fall zu kommen, denn der Mitwisser Rogiero geht nun zur Gegenpartei über. Die Intrige wird aber nur langsam zum Scheitern gebracht. Guerrazzi läßt auf das 18. Kapitel einige retardierende Kapitel folgen. Im 19. Kapitel sehen wir Rogiero, vom Willen beseelt, seinen Verrat wieder gutzumachen, eilig aufbrechen. Unterwegs kehrt er aber in einer Schenke ein, dem Albergo della Luna, wo er wieder den geheimnisvollen Pilger antrifft, der ihm bei seinem Ausritt begegnet war. Das Verhalten des Pilgers und einige geheimnisvolle Worte desselben lassen Rogiero in ihm den Sprecher der Worte: Gedenke deines Vaters! vermuten. Rogiero will darüber Gewißheit erlangen und gerät deswegen mit dem Pilger in Streit. Rogiero unterliegt und wird von dem Pilger gefangen abgeführt. Im 20. Kapitel finden wir Rogiero im Kerker, und alles scheint für ihn verloren. Die Hoffnung auf ein Zufallkommen der Intrige scheint zunichte werden zu wollen. Da wird Rogiero aus dieser Lage durch Yole befreit. (Das Liebesmotiv wird wieder aufgenommen.) Im 21. Kapitel wird erklärt, wer eigentlich der Pilger war und wieso Yole Rogiero befreien konnte. Die Handlung ruht hier vollkommen; das Kapitel enthält gewissermaßen nur technische Mitteilungen (vgl. u. S. 51 f.). E s wird gerade da eingelegt, wo der Leser auf die weiteren Schritte Rogieros gespannt ist (Verschleppungstechnik). Das 22. Kapitel bringt auch keinen Fortschritt in der Aufdeckung der Intrige. Hier wird nur Manfred vorgeführt, zuerst allein, dann im Kreise seiner Familie. Im 23. Kapitel erst wird Manfred von der Verschwörung gegen ihn in Kenntnis gesetzt durch einen verkappten Ritter, in dem der Leser Rogiero erkennt. Manfred und Rogiero machen sich zur Verhaftung der Verschwörer auf, kommen aber zu spät. Da Rogiero Manfred die Rädelsführer nicht genannt hat, kommt es, daß Manfred Cerra und Caserta zu sich ruft, um ihnen Anweisungen zur Festnahme der Verschwörer zu geben. Erst im nächsten Kapitel wird wenigstens Cerra entlarvt (Kap. 24). Caserta bleibt jedoch weiter im Besitz des Vertrauens des Königs, so daß er den Verrat üben kann, der im 25. Kapitel mitgeteilt wird: er läßt Karl von Anjou den Garigliano überschreiten. Damit mündet die Intrige in das große historische Geschehen, in das historische Motiv, das nun in den Vordergrund tritt. Noch ist jedoch die Frage nach Rogieros Abstammung nicht völlig geklärt. Nach der halben Lüftung des Geheimnisses in K a pitel 18 erfolgen zunächst keine weiteren Andeutungen. Die nächste erfolgt erst in Kapitel 23. In der Versammlung der Verschwörer, die Manfred durch das Geräusch seines Herannahens auseinanderjagen wird, hält Caserta eine Rede, in der er die Gründe anführt, die zu der Unzufriedenheit mit Manfreds Herrschaft geführt haben.
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Diese Rede wird durch einen Zwischenruf unterbrochen, ob nicht auch die Verführung von Ehefrauen dazu beigetragen habe. Caserta ist entrüstet, stellt sich taub, aber der Zwischenrufer beharrt auf seiner Behauptung; Caserta sinkt sprachlos auf seinen Stuhl nieder. Es wird also hier zu verstehen gegeben, daß Manfred der Verführer von Casertas Frau war. Von dieser Mitteilung zu dem Schlüsse, daß Rogiero Manfreds Sohn ist, ist nicht weit. Der Leser ist hier schon vollständig im Bilde, wenn er das Verhalten Casertas richtig zu deuten verstanden hat. Denn mit einer ausdrücklichen Feststellung hält Guerrazzi hier noch zurück. Das 24. Kapitel bringt nichts zur weiteren Enthüllung des Geheimnisses. Erst im 25. K a pitel tun wir einen Schritt vorwärts. A l s Manfred erfährt, daß Caserta ihn verraten hat, fragt er sich, warum er das getan haben mag. Da kommt ihm eine Erleuchtung: „ A h ! — qual baleno di rimembranza! — la Spina! . . . Ho errato; misero il re che offende!" Damit ist das letzte Glied in der Beweiskette geschlossen. Aber auch hier nur eine indirekte Mitteilung. E s wird noch nicht gesagt, daß Rogiero Manfreds Sohn ist. Wenn nun aber der Leser auch Bescheid weiß, so bleibt immer noch ein Punkt zu klären. Manfred weiß immer noch nicht, daß Rogiero sein Sohn ist und umgekehrt. Wieder folgt ein Kapitel, in dem nichts für die Lüftung des Geheimnisses getan wird. Erst im 27. Kapitel erfolgt ein weiterer Vorstoß. Manfred ist mit den Seinigen auf der Flucht nach Benevent. Während die anderen sich um das Feuer zur Ruhe gelagert haben, befinden sich Y o l e und Rogiero abseits im Gespräch. Da ruft Manfred sie zu sich und läßt sich von Rogiero erzählen, warum er ihn bekämpft habe, verzeiht ihm, will ihm Yole zur Frau geben. Doch hat er ihre Hände noch nicht vereinigt, da reißt er die Liebenden auseinander: er glaubt in Rogieros Antlitz die Züge einer Toten wiederzuerkennen. Da kommen Reiter herangesprengt: es kommt noch nicht zur Erkennungsszene, aber das Geheimnis hat begonnen, sich für Manfred zu enthüllen. Wichtiger noch ist hier aber, daß das Geheimnismotiv mit dem Liebesmotiv durch diese Szene in Verbindung gebracht wird. Dem Leser wird der Gedanke nahegebracht: Rogiero liebt ja seine Schwester! Das Liebesmotiv erhält die echt romantische Färbung des Inzestuösen ( C h a t e a u b r i a n d s René-, B y r o n ) . Wieder ist die völlige Enträtselung verschoben. Sie erfolgt erst im 29. K a pitel (das 28. bringt die Schilderung der Schleicht) und nun ohne Umschweife. Caserta schleppt den sterbenden Rogiero zum sterbenden Manfred hin und sagt ihm, das sei sein Sohn. Das Geheimnismotiv endet mit einer romantischen Erkennungsszene. Zusammenfassung
und s c h e m a t i s c h e
Darstellung.
Längsgliederung. — W i r wollen uns- abschließend den Gesamtaufbau des Romans durch eine schematische Darstellung übersichtlich zu machen versuchen. Wir erhalten sie, indem wir die Namen El wert,
Baiheft 1. Zeitscbr. I. r o m . Phil. L X X X I V .
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derjenigen Personen untereinanderschreiben, deren Schicksale erzählt werden: Manfred in die Mitte als Hauptperson, über ihn Rogiero und unter ihn Yole. Damit wird uns hier augenfällig, daß Guerrazzi die Personen nach dem Familienverhältnis gruppiert: Vater, Sohn, Tochter; eine A r t der Rollenverteilung, die in der Tradition vorgezeichnet lag (Dibelius II, 349); ein bestimmtes Vorbild für Guerrazzi nachweisen zu wollen, wäre vergeblich bei einem zu seiner Zeit nicht nur in der englischen Romanliteratur schon so abgebrauchten Ordnungsprinzip. Immerhin sei erwähnt, daß die Radcliffe gewöhnlich danach verfährt (vgl. Dibelius I, 297). Rechts von den Namen setzen wir fortlaufend die Ziffer des Kapitels, in dem die Person auftritt; eingeklammerte Ziffern bedeuten, daß in dem betr. Kapitel die betr. Person nicht selber auftritt, daß aber darin von ihr die Rede ist, bzw. daß darin etwas geschieht, was für ihr Schicksal bestimmend ist. Da Geheimnis und Intrige mit der Person Rogieros verknüpft sind, zeigen uns die Zahlen, wie diese Motive das Traggerüst der Erzählung bilden. Mit Manfred verbindet sich die Vorstellung des einen Stranges des historischen Motivs, und wir sehen, wie es erst zum Schluß hervortritt. Mit Yole verbindet sich das Liebesmotiv, und wir sehen, wie es hinter den anderen Motiven zurücktritt, aber doch sich durch den ganzen Roman hindurchzieht. Für die zu dieser Gruppe gehörigen Figuren der Königin Elena und des Räuberhauptmanns Ghino di Tacco, Rogieros Freund, setzen wir keinen Platz an, da sie für die Handlung keine Rolle spielen. W i r grenzen die Spalten für Rogiero, Manfred und Yole nach oben und unten mit Doppelstrichen ab. Damit unterstreichen wir ihre engere Zusammengehörigkeit und die Zugehörigkeit von Intrige und Geheimnis zum Manfred-Strang des historischen Grundmotivs. Unter diese Gruppe schreiben wir die Namen Karl und Gorello. Karl ist Mittelpunkt und Repräsentant des KarlStranges des historischen Motivs. Wir sehen, wie Guerrazzi in langsamer Steigerung seiner Effekte das Vorrücken Karls in Abständen über den ganzen Roman verteilt. Als Einlage in diesen Teil der Handlung verzeichnen wir die Episode vom Steuermann Gorello. Über die Manfred-Gruppe schreiben wir H(istorische) E(inlage) und darüber T(echnisches) K(apitel). Aus dem Ganzen des Romans lösen sich nämlich die drei Kapitel 6, 7, 8, die für die Handlung nichts bringen (vgl. o. S. 29 und u. S. 38). Im 21. Kapitel wird ebenfalls nichts für die Fortführung der Handlung getan, es dient im gewissen Sinne technischen Anforderungen von Guerrazzis Gestaltungsprinzip (vgl. o. S. 32 und u. S. 51 f.). Bei einem Überblick über den Gesamtaufbau dürfen sie nicht fehlen. In unserem Schema fehlt jedoch noch ein Raum für Caserta und Cerra. Wir können sie dort auch nicht unterbringen, denn es wird in diesem Roman nicht eigentlich i h r Schicksal erzählt, sondern nur das der schon verzeichneten Personen. Was von ihrem Schicksal
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsffihrung. erzählt wird, geschieht nur beiläufig. Cerras Tod ist weniger wichtig, als daß damit ein Führer der Intrige zu Fall kommt (Kap. 24). Casertas Ende wird am Schluß berichtet, nachdem die Handlung bereits abgeschlossen ist. Sie gehören auch weder zu der einen Partei (Manfred), noch zu der anderen (Karl), sondern sie stehen
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zwischen beiden Parteien als die Kräfte, die die eine Partei gegen die andere lenken. Sie sind die Intriganten, die hinter den Ereignissen stehen und in deren Händen die Fäden der Handlung zusammenlaufen. Sie sind, vom Gesichtspunkt der Romantechnik betrachtet, Regiefiguren, wie Dibelius sie nennt (I, 16). Romanfiguren in dieser Verwendung finden sich bei der R a d c l i f f e und bei S c o t t (Dibelius I, 308 und II, 182ff.). Für sie richten wir abseits vom Hauptteil unseres Schemas eine besondere Spalte ein; an den darin verzeichneten Ziffern sehen wir, daß diese beiden Figuren, wie es Drahtziehern zukommt, im Hintergrund bleiben und nur zu Anfang auftreten, um die Höllenmaschine in Gang zu bringen, und zum Schluß, um bei deren Losgehen ihre Früchte zu ernten. Dieser Längsschnitt durch die BdB. zeigt uns, wie hier dadurch, daß mehrere Motive durch den ganzen Roman konsequent durchgeführt werden, der Gesamtaufbau eine strenge Einheitlichkeit und Geschlossenheit erhält. Dieser Eindruck wird bestätigt bei einer Untersuchung, ob sich nicht die Erzählung als Ganzes irgendwie gegliedert zeigt. Dramatischer Aufbau. — Den Charakter der Geschlossenheit erhält der Roman vollends durch das Bestreben, die Handlung auf Höhe- und Tiefpunkte hin zu ordnen. Die Handlung steigt bis zum Kapitel 18; bis dahin handelt Rogiero gegen Manfred; Rogieros Gewissensqualen werden immer heftiger, im Laufe von Kapitel 15, 16 und 17 (vgl. a. u. S. 91 f.), die Atmosphäre lädt sich mit Spannung; da erfolgt Rogieros Aufklärung durch Roberto, und nun nimmt er für Manfred Partei. Diese Entwicklung erreicht einen Tiefpunkt durch die Einkerkerung Rogieros, wo für ihn und für Manfred alles verloren scheint (Kap. 20). Von hier aus steigt die Handlung wieder mit der Befreiung Rogieros und der Unterrichtung Manfreds bis zur Entlarvung Cerras (24). Dann fällt die Handlung wieder mit Casertas Verrat (25); einen letzten Höhepunkt stellt die Hoffnung dar, daß Manfred sich in S. Germano werde halten können (Anfang 26), aber gleich darauf erfolgt mit der Preisgabe von S. Germano das Absinken zur Katastrophe (28 und 29). Graphisch dargestellt:
III. Die Handlungsfuhrung im einzelnen. Wir haben die BdB. daraufhin betrachtet, wie Guerrazzi sie als Ganzes anlegt, um seine Absicht, den Leser in Spannung zu halten, zu verwirklichen. Um ein vollständiges Bild von
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und HandlungsfQhrung. Guerrazzis Erzählungsart in der BdB. zu gewinnen, müssen wir aber außer der inneren Struktur die Handlungsgestaltung im einzelnen betrachten. 1. Stoffanordnung. Als erstes betrachten wir, wie Guerrazzi den Leser durch die Art, wie er den Stoff anordnet, zu spannen versucht. V e r s e hl e p p u n g s t e c h n i k . Wir haben gesehen, wie Guerrazzi in dem Bestreben, Spannung zu erwecken, den Stoff so darbietet, daß er mit der Einführung der Hauptpersonen und der einzelnen Motive zurückhält. Wir nannten das Verschleppungstechnik. Damit bezeichneten wir die Verzögerung in der Klärung einer Situation, etwa die Verschiebung der Klarstellung von Rogieros innerer Einstellung zu Manfred von Kapitel 5 auf 9, oder der Beantwortung der Frage, was Rogiero nach der Befreiung aus dem Kerker tun werde, um zwei Kapitel. Das gleiche Bestreben, mit einem Effekt zurückzuhalten, finden wir auch in der G e s t a l t u n g d e r e i n z e l n e n S z e n e n . So wird in Kapitel 3 das Bekenntnis Yoles, daß sie Rogiero liebt, um mehr als 10 Seiten hingezögert. Nachdem Yole Rogieros Ausruf: O ambizione, o amore! (74) gehört hat, fragt sie, wer dort spreche. Keine Antwort. Wieder Bitten, diesmal länger. Endlich meldet sich Rogiero. Es entspinnt sich eine Diskussion über das Trügerische der Hoffnung (76—78). Dann kommt eine längere Darlegung Rogieros, daß er jemand liebt, und daß er die Betreffende nicht lieben dürfe und schließlich die Erklärung, daß Yole diese Person ist (78 bis 82). Darauf sagt Yole, daß sie ihn nicht lieben dürfe, und es folgt eine längere Rede Rogieros des Inhalts, daß er sich das Leben nehmen wolle (82—84) und nun endlich Rogieros Selbstmordversuch und Yoles Geständnis (85). — Ein anderes Beispiel liefert der Anfang von Kapitel 5, wo Roberto kommt, um Rogiero zu Caserta und Cerra zu locken. Eine Seite vergeht mit einleitenden Worten, nach einer zweiten hat Roberto angedeutet, daß er wisse, Rogieros Leben sei in Gefahr gewesen, noch eine Seite und Roberto verrät, daß er Rogieros Vater kenne, womit er nun erreicht hat, daß Rogiero zu seinem Vater geführt werden will. Aber Rogiero zögert noch, weil er seinen Posten nicht verlassen will. Nach weiteren zwei Seiten hat ihn Roberto dazu überredet. Da wird Rogiero durch das Verhalten Robertos stutzig. Zwei Seiten vergehen, ehe sich Rogiero von Robertos Vertrauenswürdigkeit überzeugt und mitgeht. Dadurch, daß er Roberto nur langsam mit seinem Vorhaben herausrücken läßt und zwei hemmende Momente bei Rogieros Entschluß eingelegt hat, hat Guerrazzi das Mitgehen Rogieros über 7 Seiten hingezogen.
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento. Unterbrechungen.
Die Betrachtung des Gesamtaufbaus hat gezeigt, wie Guerrazzi den Stoff so disponiert, daß die Erzählung nicht einen gleichmäßigen Fortgang nimmt, sondern immer wieder eine Unterbrechung erfährt. Das gilt vor allem für die erste Hälfte des Romans, wo die Erzählung fortwährend von einem Strang der Erzählung zum anderen übergeht. So folgt auf Kap. i mit Rogiero und dem Geheimnismotiv Kapitel 2 und 3 mit Yole und dem Liebesmotiv; dann geht die Erzählung zu Cerra und Caserta über und kehrt mit dem 4. Kapitel zu Rogiero zurück. Zwischen Kapitel 5 und 9 werden drei Kapitel mit historischem Referat eingelegt usf. (vgl. die schematische Darstellung). Das ist natürlich z. T. durch die Vielfalt der Handlungsstränge und die Notwendigkeit, sie einzeln vorzuführen, ehe sie verflochten werden, bedingt. Die Einführung einer Vielfalt von Handlungsmotiven zeigt aber durchaus ein Bestreben Guerrazzis, durch Abwechslung zu fesseln, und die Verflechtung erfolgt derart, daß Zusammenhänge unterbrochen werden und damit Neugier hinsichtlich des Ausganges der Situation erweckt wird. Freilich wird man nicht überall künstlerische Absicht und Einsicht vermuten dürfen. Nichts dürfte undurchdachter und dem Zweck der Spannungserweckung entgegengesetzter sein als die unmäßige Ausweitung der historischen Kapitel 6, 7, 8. Gleichwohl ist das Verfahren des fortwährenden Wechsels durchaus als etwas Beabsichtigtes zu erkennen an der Art, wie Guerrazzi nicht nur von Kapitel zu Kapitel, sondern auch innerhalb des einzelnen Kapitels das Thema wechselt. Es geschieht das in nicht weniger als 10 Kapiteln von 29. Wir können dabei unterscheiden zwischen Unterbrechungen, die darin bestehen, daß nach Fortgang einiger Personen sich eine neue Situation und ein neuer Vorgang entwickelt ( S u b t r a k t i o n s szenen), und solchen, in denen Personen und Ort gewechselt werden ( S z e n e n w e c h s e l ) . Einen Wechsel der ersten Art finden wir in der BdB. dreimal. Gleich zu Anfang zerfällt Kapitel 2 in zwei deutlich voneinander geschiedene Szenen. Zuerst sehen wir Yole und Gismonda im Gespräch miteinander, umgeben von Hofdamen. Diese kommen jedoch nicht zu Wort, so daß der Leser nur die Anwesenheit Yoles und Gismondas bemerkt. Daß die Hofdamen auch da sind, ist nur zu Eingang des Kapitels kurz gesagt worden. Nachdem Yole und Gismonda in der Mitte des Kapitels fortgegangen sind, kommen nun die Hofdamen zu Wort. Da man von ihrer Anwesenheit vorher kaum etwas gemerkt hat, entwickelt sich eine vollkommen neue Szene, die auch inhaltlich neu ist, da in den Gesprächen der Hofdamen die Themen des Gespräches Yole-Gismonda nicht fortgeführt werden. — In zwei Szenen, die durch eine in beiden zentrale Figur zusammengehalten werden, zerfällt Kapitel 10. Zuerst sehen wir
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. die Räuber unter der Führung Drengottos den gefangenen Pilger martern, sehen, wie dieser durch das Dazwischenkommen Ghinos gerettet wird, und wie in dem darauffolgenden Streit zwischen Drengotto und Ghino Rogiero als Retter auftritt; dann gehen Ghino und Rogiero fort, zurück bleibt Drengotto, dem Rogiero die Hand abgeschlagen hat, und den Schluß bildet die Schilderung seines Todes im Kreise seiner Spießgesellen. — Durch Personalunion verbunden sind auch die beiden Szenen von Kapitel 24. Erst kommt die Entlarvung Cerras vor versammeltem Adel mit dem Duell CerraRogiero, dann Cerras Tod. Bei den Subtraktionsszenen bleiben die verschiedenen Teile des Kapitels durch die Anwesenheit einer oder mehrerer gleicher Personen in beiden Teilen verbunden. Es wird aber ein deutlicher Sprung gemacht, wenn die Erzählung abgebrochen wird, um zu einem anderen Schauplatz und zu einer anderen Person überzugehen. Doch sind auch hier verschiedene Grade des Einschnittes zu beobachten. Am wenigsten tief ist der Einschnitt dort, wo Person und Schauplatz wechseln, um die verschiedenen Phasen eines einzelnen Vorganges zu schildern. So wird in Kapitel 23 die Verfolgung der Verschwörer durch Manfred erzählt. In einer ersten Szene wird gezeigt, wie Manfred die Nachricht von der Verschwörung erhält (179—182). Dann wechselt der Erzähler zu den versammelten Verschwörern hinüber und stellt in aller Breite die Verhandlungen derselben dar, bis sie durch Waffenlärm unterbrochen werden (183 bis 191). Dann kehrt er zu Manfred zurück, der vor dem Schloß der Verschwörer steht, und schildert, wie Manfred dort eindringt und es leer findet (191—194). Dann zurück zu Cerra und Caserta, die auf dem Wege zu Manfred sind, der sie zu sich befohlen hat, und der Empfang, wo Manfred ihnen zur Verhaftung der Verschwörer Befehle erteilt. Die Einschnitte beim Übergang von einer Szene zur anderen werden hier noch gemildert, beim ersten Einschnitt durch eine Wendung: „Mentre che questi casi accadevano nel palazzo reale di Manfredi, il conte Rinaldo di Caserta, raccolti a notturna congrega tutti i baroni congiurati . . ." (II, 183), und an der zweiten Stelle bildet der Waffenlärm, den die Verschwörer vernehmen, einen gedanklichen Übergang. — Eine Auflösung in Einzelbilder haben wir auch bei der Schilderung der Einnahme von S. Germano durch Karl (Kap. 26). Hier ist als besondere Eigentümlichkeit hervorzuheben, daß an einer Stelle nicht die verschiedenen Phasen eines Vorganges, sondern der gleiche Vorgang aus der Perspektive verschiedener Beobachter gegeben wird. So sehen wir zuerst Manfred vom unerwarteten Kampfgeschrei in den Straßen überrascht, dann springt die Erzählung zu Yole und der Königin über; wir sehen, wie auch sie vom Waffenlärm überrascht werden und entnehmen nun weiter aus ihren Worten, wie der Kampf auf der Straße verläuft. — Eine nachträgliche Milderung der Unterbrechung liegt vor,
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
wenn der Erzähler sich zwar zu einer anderen Person auf einem anderen Schauplatz wendet, diese Person dann aber zu den Personen und dem Schauplatz des ersten Abschnittes zurückführt. So wird in Kapitel 3 die Szene zwischen Rogiero und Yole unterbrochen, um die Königin Elena einzuführen. Diese macht sich dann auf die Suche nach Yole und findet sie im Garten. — In Kapitel 15 wird zuerst die Alpenüberschreitung des provenzalischen Heeres geschildert. Dann springt die Erzählung zu Rogiero über und bleibt bei ihm, bis er zu den Führern des provenzalischen Heeres, Beatrix von Anjou und Guido von Montfort, gelangt. — In Kapitel 22 wird zuerst Manfred in einem Privatgemache monologisierend vorgeführt, dann geht die Erzählung zu Yole, Elena und Manfreds Sohn über, die in einem anderen Zimmer sind, und schließlich kommt Manfred hinzu. In Kapitel 15 haben wir einen doppelten Sprung. Die Erzählung bleibt nämlich nicht ununterbrochen bei Rogiero, sondern zum Schluß springt der Erzähler zu Beatrix und Guido von Montfort zurück und läßt Rogiero dann bei ihnen erscheinen. Dieser letzte Sprung ist deshalb besonders interessant, weil er völlig unvermittelt erfolgt. Es fehlt sowohl eine überleitende Wendung des Autors wie auch eine typographische Kennzeichnung des Einschnittes. Auf die Angabe, was Rogiero am Abend vor der Übergabe der Briefe macht, folgt unmittelbar ein Gespräch zwischen Guido von Montfort und Beatrix am folgenden Morgen. Der folgende Abschnitt beginnt mit dem Gespräch selbst, nicht mit einer Situationserklärung (I, 408): II sonno non iscese per quella notte su le sue stanche palpebre. „Che Dio vi conceda il buon giorno, bei cugino", disse la contessa Beatrice . . ." — Zu einer völligen Aufspaltung des Kapitels führt es, wenn Schauplatz und Person gewechselt werden, ohne daß die nun folgende Szene mit dem Vorausgehenden noch auch mit dem Nachfolgenden im Zusammenhang steht, und wenn der Übergang außerdem, wie beim letzten Wechsel in Kapitel 15, ohne jegliche Überleitung erfolgt. Dieses letztere Verfahren fügt zur Abwechslung die Überraschung und Verblüffung. Einen derartigen Schienenstoß erlebt der Leser in der Mitte von Kapitel 14. Zuerst wird eine Szene zwischen Yole und ihrer Mutter gegeben, die damit schließt, daß Yole der Zofe ohnmächtig in die Arme sinkt. Ohne überleitende Wendung erzählt der Autor dann von Ghino und Rogiero: Gismonda la raccolse tra le braccia. Dopo gran tratto di via Rogiero seguendo i passi della fidata sua scorta giunse all'albergo usw. (I, 361). Der Rest des Kapitels handelt nur noch von Rogiero und Ghino; es wird nun also nicht Rogiero zu Yole geführt, sondern die zweite Szene des Kapitels steht zur ersten in keinem Zusammenhang. — Auf den Gipfel wird eine solche Zusammenhangslosigkeit in Kapitel 9 getrieben. Mitten im Kapitel (Rogiero ist im Kerker Heinrichs) wird in der geschilderten Weise unvermittelt erzählt, wie der Knappenmeister bei der Ablösung der Wache Rogiero vermißt. Ebenso un-
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. vermittelt kehrt die Erzählung zu Rogiero zurück. Der Einschub umfaßt wenig mehr als eine Seite. Die Technik der Unterbrechungen dient nicht nur dem Zwecke, durch häufigen Wechsel dem Leser immer neue Situationen und Motive darzubieten, sondern sie steht auch in Verbindung mit zwei anderen Kunstgriffen der Stoffdarbietung zwecks Spannungserweckung, welche sie in der Wirkung verstärken hilft bzw. an deren Zustandekommen sie mitwirken kann. Gemeint sind der dramatische Kapitelschluß und die überraschende Wendung, beides Kunstgriffe, von denen Guerrazzi in der BdB. ausgiebigen Gebrauch macht. Spannungsschluß. Die Wirkung des spannenden oder dramatischen Kapitelschlusses beruht darauf, daß die Erzählung in dem Augenblick abbricht, wo eine für die Situation noch wichtige Erklärung aussteht, wo der Leser auf den weiteren Verlauf der Handlung erpicht ist. Als dramatisch im engeren Sinne ist ein solcher Schluß zu bezeichnen, wenn die Erzählung in dem Augenblick abbricht, wo der Held oder eine sonst für die Handlung wichtige Person sich in einer gefährlichen Lage befindet. Ein solcher Schluß braucht nicht nur am Ende des Kapitels zu erfolgen, sondern auch mitten im Kapitel, wenn die Erzählung von einer Szene zur anderen hinüberwechselt. — Daß ein Themawechsel absichtlich zum Zwecke der Erzielung eines spannenden Schlusses vorgenommen werden kann, sehen wir an dem eben besprochenen Einschub in Kapitel 9. Diese Szene mit dem Knappenmeister, der nach Rogiero sucht, wird nämlich gerade in dem Augenblick eingeschoben, in dem Rogiero, durch den Tod Heinrichs zur Verzweiflung gebracht, mit dem Kopf gegen die Wand gerannt und ohnmächtig niedergesunken ist. Nach dem Einschub fährt die Erzählung da fort, als Rogiero wieder zu sich kommt. — Ein anderer dramatischer Schluß mitten im Kapitel findet sich in Kapitel 14. Yole hat ihre Mutter tief gekränkt. Sie bereut, kann die Reue nicht zum Ausdruck bringen, weil ihr die Stimme versagt, von der Heftigkeit ihrer Gefühle übermannt sinkt sie der Zofe ohnmächtig in die Arme. Schluß. — In gefahrvoller Situation verlassen wir Rogiero zu Ende des 19. Kapitels. Er ist von dem geheimnisvollen Pilger übermannt worden und wird von ihm gefangen abgeführt. Rogiero ist wehrlos seinen Feinden ausgeliefert; der Schluß des Kapitels hinterläßt den Leser in Hangen und Bangen, wie es Rogiero weiter ergehen wird. — Das 13. Kapitel schließt damit, daß das Schiff, auf dem sich Karl von Anjou befindet, mit Mann und Maus untergeht. Geht Karl mit unter ? W i r erfahren es in diesem Kapitel nicht mehr. — Das 5. Kapitel geht zu Ende, ohne daß der Leser erfahren hat, was Caserta und Cerra eigentlich mit Rogiero vorhaben. — Mit einer ungeklärten Situation schließt auch das 2. Kapitel. Die Hofdamen haben eben den Schluß von Mateidas
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Geschichte vernommen, da fliegen plötzlich die Türen auf, ein Luftzug verlöscht die Lichter, sie hören eine laute Stimme, schwere Schritte und das Schleifen von Kleidern auf dem Fußboden; die Damen laufen erschreckt auseinander — da bricht die Erzählung ab. Die Erklärung erfolgt in der zweiten Hälfte des nächsten Kapitels. Die dazwischenstehende erste Hälfte dient dazu, die Spannung zu halten. — Mit dem Schluß von Kapitel 17 und 22 bricht die Erzählung gerade da ab, wo der Leser auf eine Neuigkeit vorbereitet worden ist. In Kapitel 17 hat Rogiero gerade in dem sterbenden Mönch Roberto erkannt, der ihn zu Caserta geführt hatte. Rogiero verlangt Aufklärung, Roberto ist bereit, Rogiero sagt: Sprecht! — Da schließt das Kapitel. — Am Ende von Kapitel 22 sehen wir Manfred dumpf vor sich hinbrüten. Da klopft es an der Tür. Manfred fährt auf, ruft: Herein! Schluß. U n e r w a r t e t e Wendung. Ebenso gern, wie Guerrazzi den Leser durch ein plötzliches Abbrechen der Erzählung um eine erwarteteMitteilung prellt, überrascht er ihn, indem er den Ereignissen eine unerwartete Wendung gibt. Die Zahl der überraschenden Wendungen in der BdB. ist recht groß. — Ein kleiner Überraschungseffekt ist gleich zu Anfang im 4. Kapitel angebracht. Caserta ist dort erst im Glauben, daß das Kind seiner Frau tot sei. Da aber überrascht ihn (und damit den Leser, der hier noch nicht weiß, daß Rogiero dieses Kind ist) Cerra mit der Mitteilung, daß das Kind lebt. — Stärker, weil von langer Hand vorbereitet, ist ein Überraschungseffekt in Kapitel 5. Rogiero ist zu Cerra und Caserto geführt worden. Hier soll er erfahren, wer sein Vater ist. Cerra fängt damit an, daß er ihm erzählt, Friedrich II. habe seinen Sohn Heinrich und dessen Sohn töten lassen wollen, doch seien beide noch am Leben. Rogiero fragt, warum man das Manfred noch nicht mitgeteilt habe; der hätte Heinrichs Sohn doch sicher in seine Rechte eingesetzt. Cerra: er hätte ihn umbringen lassen. Rogiero ist empört und fordert für diese Beleidigung seines Königs Genugtuung. Cerra nimmt an und stellt einen Ersatzmann: Heinrichs Sohn soll es sein. Er sei mit ihnen im Zimmer. Da es nicht Cerras Begleiter ist, — ist es Rogiero selber. Rogiero (und der Leser) werden damit überrascht, daß Rogiero Heinrichs Sohn sein soll. — Im 10. Kapitel gerät der Räuber Drengotto mit Ghino in Streit. Ein Duell soll entscheiden. Drengotto hält sich aber nicht an die Bedingungen, sondern versucht, Ghino hinterrücks zu erdolchen. In dem Augenblick, wo er zustoßen will, kommt ein bewaffneter Arm aus dem Gebüsch und schlägt Drengotto die Hand ab. Ghino ist unversehens gerettet. Aus dem Gebüsch tritt unvermutet Rogiero hervor.—Im 12. Kapitel hat Gorello erzählt, wie seine Freundschaft mit Berardo durch Drogone zerstört worden ist. Im nächsten Kapitel wird die Seeschlacht geschildert, an der auch Gorello teilnimmt
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. Nach beendetem Kampfe wird der gefangene Admiral von Manfreds Flotte Karl und seinen Mitkämpfern, unter denen sich Gorello befindet, vorgeführt. Plötzlich stürzt sich Gorello auf den Admiral und tötet ihn. E r war niemand anders als Drogone. — Im 17. Kapitel geht Rogiero mit zu dem sterbenden Mönch, der erst vor kurzer Zeit ins Kloster gekommen ist, und von dessen früherem Leben die Klosterbrüder nichts wissen. Wie Rogiero über die Schwelle des Sterbezimmers tritt, erkennt er in ihm Roberto, den Helfer Cerras. Im folgenden Kapitel (18) erzählt nun Roberto, wie er dazu gekommen ist, Rogiero zu hintergehen und inwiefern er ihn hintergangen hat. E r holt weit aus, erzählt, wie er im Hause der Spina zur Dienerschaft gehört usf. und wie er schließlich die Spina umgebracht, aber das Kind gerettet habe. Das Kind sei mit den Pagen Manfreds aufgewachsen und wäre noch am Hofe, wenn . . . Mach fertig, ruft Rogiero . . . es nicht vor mir stünde, vollendet Roberto den Satz. — Überraschend kommt es auch, daß Manfred in den Saal eindringt, in dem sich die Verschwörer eben noch zu einem verzweifelten Widerstand rüsteten — und ihn leer findet (23). — In Kapitel 26 finden wir Manfred wohlverschanzt in S. Germano. Plötzlich ertönt Geschrei von der Gasse: der Feind ist in die Festung eingedrungen. — Zum Schluß noch ein Beispiel, das zeigt, wie Guerrazzi den Stoff entweder zu einem spannenden Schluß oder zu einer überraschenden Wendung gestalten konnte und sich für letztere entschloß. Mitten in Kapitel 3 bricht die Liebesszene zwischen Rogiero und Yole da ab, wo sich die Liebenden in die Arme sinken. Die Erzählung geht dazu über, wie die Königin zu den Hofdamen kommt, nach Yole fragt und in den Garten geht, sie zu suchen. Sie findet Yole ohnmächtig am Boden liegend. Das kommt überraschend. Eine Erklärung wird nicht gegeben. Erst zu Anfang des 5. Kapitels erfolgt sie, indem hier nun da weitererzählt wird, wo in der Mitte von Kapitel 3 abgebrochen worden war. Yole ist in Rogieros Armen ohnmächtig geworden. Kaum hat er das bemerkt, da hört er Schritte nahen. Um nicht mit Yole überrascht zu werden, legt er sie auf den Boden und kehrt an seinen Posten zurück. Wäre nun das, was zu Anfang des 5. Kapitels erzählt wird, noch in Kapitel 3 erzählt worden, so hätte das einen Spannungsschluß ergeben: Die Erzählung wäre da abgebrochen worden, wo Yole ohnmächtig am Boden liegt und jemand kommt, ein Feind, wer weiß. So aber hat Guerrazzi einen Uberraschungseffekt und kann den Leser außerdem mit der Erklärung über ein Kapitel hin im Ungewissen halten.
2. Stimmungseffekte. Das
Geheimnis.
Bei der Betrachtung des Gesamtaufbaues haben wir gesehen, wie zu einem der tragenden Konstruktionsmotive das Geheimnis von
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
Rogieros Geburt gemacht wurde. Die weitere Untersuchung der BdB. zeigt uns, wie Guerrazzi nicht nur dieses Geheimnis in seinen Roman hineinverwoben hat, sondern noch eine Fülle von anderen hineinstreut. Er sucht nicht nur zu „disporre gli eventi in certa bizarria misteriosa" (II, 149; vgl. o. S. 20), sondern auch Personen und Ort der Handlung werden mit Geheimnis umhüllt. Ort der Handlung. —• Die geheimnisvolle Atmosphäre um den Ort der Handlung läßt Guerrazzi auf zweierlei Art zustande kommen. Einmal schildert er den Ort so, daß er geheimnisvoll erscheint, und andererseits läßt er den Ort ganz unbestimmt, unvorstellbar. Letzteres, indem er einmal überhaupt die Lokalisation des Ortes, seine geographische Lage nicht oder nur nachträglich gibt, ein Umstand, der für einen Roman, in dem die Personen von Ort zu Ort sich bewegen, nicht unwesentlich ist; und ferner unterläßt er oder vernachlässigt er es, von der Beschaffenheit des Ortes, gleichviel, ob er geographisch oder topographisch lokalisiert wird, eine Vorstellung zu geben, indem er ihn beschreibt. Durch das Fehlen der Beschreibung des Ortes spielt die Handlung dann in einer vollkommen unbestimmbaren Umgebung, in einer abstrakten Schattenwelt. Bei diesem Verfahren kann es mehrere Kombinationen geben: Nicht lokalisierter Ort mit Beschreibung, lokalisierter Ort ohne Beschreibung, geheimnisvoller lokalisierter Ort usw. Es kommt uns nun nicht darauf an, die Handlungsorte in der BdB. nach den vorkommenden Kombinationen zu rubrizieren, sondern die Haupttendenzen festzustellen. Die topographische Unbestimmtheit des Ortes ist deshalb besonders fühlbar, weil der Roman ja nicht durchweg an einem fingierten Ort oder Orten spielt, sondern durchaus an einem in der Wirklichkeit gegebenen, der im Roman angegeben wird. Das 1. Kapitel spielt beim Schloß von Capua am Golf von Neapel, es wird das ausdrücklich eingangs festgestellt. Das 16. Kapitel spielt in Rom, das 26. in S. Germano, das 28. bei Benevent. Mit diesen konkreten Angaben kontrastieren nun die Kapitel, in denen der Leser sich gar kein Bild davon machen kann, wo die Handlung sich eigentlich abspielt. In Kapitel 10 und 14 sehen wir Rogiero im Wald bei den Räubern. Er ist auf der Reise, aber wo genau ? Erst im 15. Kapitel wird gesagt, das sei irgendwo in der Terra di Lavoro gewesen. Im 15. Kapitel wird Rogiero nach Cremona zu Buoso geführt. Danach übergibt er die Briefe im Lager Guido von Montforts. Wo ist aber dieses Lager ? Der Leser muß sich erinnern, daß Buoso gesagt hat, daß es nicht weit von ihm sei, also nicht weit von Cremona. Ausdrücklich festgestellt wird das aber nicht. Von Rom aus kehrt Rogiero zu Ghinos Lager zurück. Ist es dort, wo er Ghino zum ersten Male traf ? Unweit von Ghinos Lager muß das Kloster sein, in dem er Roberto trifft; aber wo liegt das
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. alles ? Ebensowenig erfahren wir, wo Rogiero eingekerkert worden ist (19). Entsprechend der guerrazzischen Praxis, den Leser hinzuhalten, wird erst im 21. Kapitel, 120 bzw. 40 Seiten später, mitgeteilt, wo jene örtlichkeiten lagen. — In Kapitel 22 wird Manfred vorgeführt. Er befindet sich in einem mit Ahnenbildern geschmückten Saal, aber wo ? Hier wird er von Rogiero über die Verschwörung unterrichtet, und von hier aus machen sie sich zur Verhaftung der Verschwörer auf (23). Erst in der Mitte dieses Kapitels kann der Leser aus der Angabe, daß das Schloß, in dem die Verschwörer versammelt waren, während der Regierungszeit des päpstlichen Statthalters in Benevent gebaut worden war, entnehmen, daß Kapitel 22 und 23 in Benevent spielen. Aus dieser letzten Ortsangabe können wir sehen, wie Guerrazzi dazu neigt, die Angabe des Ortes überhaupt zu vernachlässigen, sie als etwas Belangloses nebenbei zu geben. Wir können das auch aus den Ortsangaben in Kapitel 2 und 3 entnehmen. Hier werden nun ganz genaue Angaben gemacht, aber in einer Weise, daß sie leicht vom Leser unbeachtet bleiben, so daß auch diese genaue Ortsangabe fast gleichzusetzen ist mit gar keiner. E s wird hier nämlich die Ortsangabe zu Anfang des Kapitels als untergeordnetes Satzglied in einem Satze, dessen eigentliche Aussage sich auf etwas anderes erstreckt, gegeben. Über den Ort, an dem das Gespräch Yole-Gismonda stattfindet, erfahren wir nur: „Nelle sale del castello capuano vive una creatura . . ." Anfang des 3. Kapitels wird nur kurz angedeutet, wo Rogiero sich a u f h ä l t : ,,I fantasmi della gloria aveano abbandonato il giovane scudiero posto alla guardia dei giardini reali . . ." Die genaue Ortsangabe tut keine Wirkung, weil die Angabe des Ortes nicht genügt, um dem Leser eine Vorstellung davon zu geben. Das ist nun das zweite Charakteristikum der Ortsangaben in der BdB. Der Leser ist nicht nur darüber im Unklaren, wo die Handlung sich eigentlich abspielt, sondern er hat auch von diesen Örtlichkeiten keine eigentliche Vorstellung. Fast überall fehlt eine genaue Schilderung, nur an einigen wenigen Stellen versucht er sie, um die Vorstellung des historischen Milieus zu vermitteln (vgl. u. S. 76) und an einigen anderen, um den Eindruck des Geheimnisvollen zu erwecken. Als geheimnisvoll wird das Zimmer geschildert, in dem Caserta den Schädel seiner Frau anbetet. E s ist vollkommen würfelförmig, ganz schwarz ausgeschlagen, keine Möbel darin, nur ein gotischer Schrein. — Der Kerker, in den Rogiero geworfen wird, ist vollkommen finster; als Rogiero sich darin herumbewegt, tritt er auf Totengebein; eine Treppe ohne Geländer führt zu einer versperrten Bohlentüre. — Das Schloß, in dem die Verschwörer überrascht werden, ist mit versteckten Türen und langen Geheimkorridoren ausgestattet. — Das Geheimnis des Ortes kann noch dadurch erhöht werden, daß der Ort selber auf geheimnisvolle Weise eingeführt
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
wird. Das ist der Fall bei dem Ort, wo Rogiero von Cerra erfährt, wer sein Vater ist. Roberto hat Rogiero überredet, mitzugehen. Nun verbindet er Rogiero erst die Augen, dann wird Rogiero auf verschlungenen Pfaden hin- und hergeführt, schließlich gehts über eine Zugbrücke, die mit Steinen gepflastert ist, damit derjenige, der darüber geführt wird, nicht merkt, daß er die Straße verläßt, weiter geht es durch lange Korridore, und endlich darf Rogiero seine Binde abnehmen: er befindet sich in einem von einer Lampe matt erleuchteten Gewölbe. An einer Stelle ist eine Gittertüre; vor ihr führt eine Treppe hinab zum Kerker Heinrichs des Lahmen. In welchem Schloß sich dieses Gewölbe und dieser Kerker befinden, erfährt der Leser nie (5 und 9). Das Geheimnis bleibt undurchdringlich. Personen mit Geheimnis umgeben. — Nicht nur der Ort der Handlung, sondern auch die auftretenden Personen erhalten einen geheimnisvollen Nimbus. E s treten einmal eine Reihe von Personen auf, die in ihrer Erscheinung oder in ihrem Gehaben verraten, daß es mit ihnen eine besondere Bewandtnis haben müsse. Sie werden so eingeführt, daß sie für den Leser eine festumrissene Identität besitzen, daß ihm aber etwas an ihnen seltsam erscheint. Daneben kommen vermummte Gestalten vor. Schließlich kommt eine geheimnisvolle Figur vor, die sich als eine alte Bekannte entpuppt. Unter den zahlreichen Personen des Romans, an die sich ein Geheimnis knüpft, ist, neben Rogiero, Manfred die wichtigste. Auch ihn umgibt von Anfang bis Schluß ein Geheimnis, das nur langsam und schrittweise gelüftet wird. Im 8. Kapitel ist von Manfreds Charakter und seinen Kämpfen um die Eroberung seines Reiches die Rede gewesen; dann geht die Erzählung in Handlung über. Manfred befindet sich auf dem Ritt nach Luceria. Unterwegs wird er mit seinen Begleitern vom Gewitter überrascht. Sie befinden sich gerade in der Nähe eines Schlößchens, das Manfreds Vater, Friedrich II., hat erbauen lassen, und wo er auch gestorben ist. Nun legt Manfred ein seltsames Gebaren an den Tag. E r will nicht dorthin, gibt aber doch nach. Sein Verhalten bleibt aber weiterhin auffallend. Immer wieder sucht er dem Geschwätz des Jagdmeisters eine andere Richtung zu geben, denn dieser erzählt dauernd davon, wie Friedrich hier gestorben ist. Warum ist Manfred so nervös ? Auf eine Erklärung dieser Andeutungen läßt der Autor den Leser natürlich warten (Verschleppungstechnik). Im 22. Kapitel sehen wir Manfred erst wieder. Manfred geht ruhelos in seinem Zimmer auf und ab. Draußen erhebt sich ein Sturm. E s ist Nacht. Manfred erscheint es, als wäre der Kampf der Elemente gegen ihn gerichtet. Als ein Blitz aufzuckt, schaut er gerade auf ein Bild seines Vaters Friedrich. Das Bild scheint sich zu beleben : e certo il ritratto storse le pupille scintillanti nel sangue, e agitò i labbri a parole di fuoco; — guai a Manfredi se quella vista fosse durata più d'un lampo ! Welches
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung.
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Geheimnis enthält uns der Autor hier vor ? Was ist zwischen Manfred und Friedrich ? Wir erfahren es hier nicht. Warum singt Manfred nachher im Zimmer seiner Gemahlin ein Lied, in dem vom Vatermord die Rede ist ? Sollte der Inhalt des Liedes nicht erfunden, sondern ein Bekenntnis sein ? Über die Erweckung dieses Verdachtes führt jedoch dieses Kapitel nicht hinaus. Erst zu Ende des 25. Kapitels findet dieser Verdacht eine Bekräftigung. Manfred reitet in Nacht und Sturm nach S. Germano. Da erscheint ein Gespenst, packt sein Pferd am Zügel und führt es. Das Gespenst trägt eine Krone: es ist Friedrichs Geist. Im letzten Kapitel erst erfolgt die völlige Aufklärung. Manfred beichtet, er habe seinen Vater mit einem Kissen erstickt. — Ein Geheimnis hat auch Roberto zu hüten. E r sagt Rogiero, er habe ihm das Leben gerettet. E r hat es Rogiero aber früher nicht sagen dürfen, denn: E me costrinse la forza degli uomini potenti quanto Lucífero. Dann ist sein Verhalten befremdlich. E r erschrickt so sonderbar, als seine Stimme seine letzten Worte immer wiederholt: Keine Treue mehr! Du bist ein Verräter! Du lügst! Sollten diese Worte von Rogiero als Vorwurf empfunden werden ? Das scheint auch der Fall zu sein, denn in einem Aparté am Schluß der Unterredung bezeichnet sich Roberto selbst als das Gegenteil eines edeldenkenden Menschen, und der Autor sagt, dies seien die letzten Regungen seines Gewissens. Das Geheimnis findet seine Klärung — natürlich erst — im 17. und 18. Kapitel, wo sich Roberto als Gehilfe Cerras entpuppt. — Auch Ghino ist geheimnisumwoben. Unerklärlich erscheint die Anwesenheit einer so edlen Gestalt unter den Räubern, dahinter steckt ein Geheimnis. Rogiero, der sich auch nicht erklären kann, wieso Ghino ein Räuberhauptmann ist, bittet Ghino um Aufklärung. Die gibt Ghino, indem er seine Geschichte erzählt, natürlich auch erst einige Zeit, nachdem der Leser ihn kennengelernt hat (Kap. 10 und 14). — Mit besonderer Sorgfalt wird dem Leser für die Gestalt des Steuermanns Gorello die Vorstellung des Ungewöhnlichen und Geheimnisvollen suggeriert (Kap. 12). Karl geht eines Tages auf dem Deck des Schiffes auf und ab. Niemand ist da, außer ihm und dem Steuermann. Karl versucht sich dem Steuermann bemerkbar zu machen, aber der beachtet ihn nicht. Dann wendet sich Karl an den Kapitän, wer der Steuermann sei. Dieser erzählt ihm eine lange Geschichte darüber, wie er in den Besitz des Schiffes gelangt sei, aber zum Schluß sagt er, daß er über den Steuermann auch nichts wisse. Die Neugier des Lesers ist mit dem Interesse, das Karl für den Steuermann zeigt, geweckt worden und zweimal unbefriedigt geblieben. Es wird ganz unheimlich — sogar der Kapitän weiß nichts über ihn. Nun wendet sich Karl unmittelbar an den Steuermann und fängt ein Gespräch mit ihm an. Dieser ist erst einsilbig, doch plötzlich bricht er in eine Klage darüber aus, wie trügerisch alle Hoffnung sei. Warum dieser Pessimismus ? fragt der Leser. Zum Schluß des lyrischen Ausbruchs
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kommt als kleiner Knalleffekt eine erste Angabe über seine Person, die aber nur zur Steigerung der Spannung beiträgt: der Steuermann ist Italiener. Wieso ist er dann bei Italiens Feinden, fragt Karl (und der Leser). Folgt nun ein Gespräch, das zunächst zur Mitteilung führt, daß er aus Rachsucht gegen sein eigenes Land kämpft. Damit hat die Schaffung der geheimnisvollen Atmosphäre ihren Höhepunkt erreicht, dann kommt erst ein kleiner Teil der Geschichte, die durch eine Hymne über die Freundestreue unterbrochen wird, und schließlich wird die ganze Geschichte erzählt, worin das Geheimnis, der Grund, warum er gegen Italien kämpft, gelüftet wird. — In Gorcllos Geschichte erscheint wiederum eine geheimnisvolle Gestalt. Gorellos Freund Berardo ist mit Messinella glücklich verheiratet. Wie sie einmal alle zusammen auf die Jagd reiten, werden sie von einem Ritter auf dessen Schloß geladen. Gorello ist er gleich unheimlich. Einige Tage danach besucht der Ritter Berardo und Messinella. Die Besuche wiederholen sich, bis er es so weit gebracht hat, daß Berardo Gorello für den Liebhaber Messinellas hält und ihre Freundschaft zerstört ist. Schließlich wird Gorello von dem Ritter von seinem Schloß vertrieben und außer Landes gejagt. Warum der Ritter Gorello verfolgt, bleibt rätselhaft, ebenso wie seine Persönlichkeit. Die Vorliebe, mit der Guerrazzi derartige geheimnisvolle Gestalten einführt, läßt ihn auch noch Episoden einlegen, in denen weitere derartige Figuren erscheinen. Zu Anfang des n . Kapitels bringt Guerrazzi eine Nacherzählung der bei Dante (Paradiso 6) vorkommenden Geschichte von dem Pilger, der als Unbekannter dem Grafen Berlinghier Wohltaten erweist und wieder davongeht, ohne daß jemand hat herausbringen können, wer er eigentlich war. — Die Geschichte der Hofdame Matelda (Kap. 2) ist auch allein um ihrer Geheimnis- und Schauerwirkung willen da. Darin wird erzählt, wie zu dem Präfekten von Palermo, Solino, einmal eine Frau kommt, die niemand vorher noch nachher gesehen, und mit geheimnisvollen Zeichen seinen Tod prophezeit. Ein formales Mittel. E s sei hier noch ein kleines formales Mittel genannt, dessen sich Guerrazzi bedient, um seine Personen, gleichviel, ob an und für sich schon mit einem geheimnisvollen Nimbus umgeben oder nicht, noch mit einem kleinen Extrageheimnis zu versehen. E r läßt den Leser darüber im Unklaren, wie eigentlich eine eben eingeführte Person heißt. Dabei kann er seiner Verschleppungstaktik gemäß die Nennung des Namens recht lange verschieben. So erfährt der Leser den Namen Rogieros, der einem durch seine Monologe im 1. Kapitel zu einer festumrissenen Gestalt geworden ist, erst im dritten Kapitel. Ähnlich bei Caserta. Zwar wird gleich zu Anfang des Kapitels (3) angegeben, daß die nachfolgende Szene sich im Schloß des Grafen Caserta abspielt, aber woher soll der Leser wissen, daß die zuerst
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. auftretende Person Caserta selber ist ? Das erfährt er erst 10 Seiten später, als der Mann, der da mit dem Totenschädel gesprochen hat, mit „Conte di Caserta" angesprochen wird. Nur um 2 Seiten wird die Namensnennung Drengottos (Kap. 10) hingezögert; ebenso bei Ghino. Dafür folgt aber bei der Einführung Gorellos eine neue Höchstleistung: er wird auf Seite 295 eingeführt, auf Seite 316 erfahren wir, wie er heißt. Der Name des Ritters, der Gorello verfolgt, wird schon nach 15 Seiten genannt. Zur Schaffung einer allgemeinen geheimnisvollen Stimmung trägt ferner das I n k o g n i t o bei. Wir meinen damit den Fall, daß eine schon eingeführte Romanfigur in vermummter Gestalt auftritt. Das Inkognito ist dabei in gewissem Sinne doppelt. Einmal den anderen Gestalten im Roman gegenüber, denen ja die Vermummung gilt, und andererseits auch dem Leser gegenüber. Natürlich ist das Inkognito dem Leser gegenüber immer etwas durchsichtig gehalten. Denn die Wirkung dieses Kniffes beruht ja darauf, daß aus kleinen Winken, die vom Autor gegeben werden, der Leser nach einer gewissen Zeit der Verblüffung die Identität der Personen erraten kann. Dieses Mittel bietet außerdem noch die Möglichkeit, einen weiteren Effekt zu erzielen, indem das Inkognito dem Leser gegenüber zu einer anderen Zeit fallen gelassen wird als gegenüber den Personen im Roman, so daß, nachdem der Leser schon weiß, wer die vermummten Gestalten sind, noch immer die Frage bleibt, wann sie von den anderen Romanfiguren erkannt werden, und was sich nach dieser Entlarvung ergeben wird. Vom Inkognito hat Guerrazzi in der BdB. mehrfach Gebrauch gemacht. So wird Rogiero zu zwei maskierten Männern geführt (Kap. 5), die ihm sagen, sein Vater sei Heinrich der Lahme. A u s ihren Worten und aus ihrem Verhalten können wir erraten, daß es Cerra und Caserta sind. Völlige Aufklärung des Lesers erfolgt erst zu Ende des Kapitels. Wie Rogiero nämlich nicht mehr in Hörweite ist, gebrauchen die beiden im Flüstergespräch miteinander ihre Namen. Rogiero erfährt aber erst im 18. Kapitel, wer seine Verführer, die vermummten Gestalten waren. — Beim Turnier in Rom erscheinen zwei Ritter mit geschlossenem Visier, um für Italiens Ehre zu kämpfen. Spärliche Anzeichen lassen uns in ihnen Rogiero und Ghino vermuten. Völlige Aufklärung ergibt sich für den Leser erst zu Anfang des nächsten Kapitels, wo Rogiero und Ghino einander erkennen. — Im 23. Kapitel erscheint vor Manfred ein Ritter mit geschlossenem Visier, der ihm mitteilt, daß eine Verschwörung gegen ihn im Gange ist. Der Leser erkennt Rogiero. Hier haben wir es übrigens mit einer Überschneidung zweier Geheimniseffekte zu tun. Nachdem Rogiero später vor Manfred nicht mehr in verkappter Gestalt erscheint und Manfred ihn als den Knappen Rogiero erkennt, bleibt ihm Rogiero doch rätselhaft und unbekannt, denn er weiß dann immer noch nicht, daß Rogiero sein Sohn ist (Kap. 27). — E l w e r t , Beiheft IUT Zeitschr. f. rom. Phil. L X X X I V .
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
In S. Germano erscheint im Augenblick höchster Gefahr ein Ritter, der durch sein Eingreifen in den Kampf Manfred und seiner Familie die Flucht ermöglicht. Wir ahnen, daß es Ghino di Tacco ist, denn er ist von riesiger Gestalt, und am Helm hat er das Bild einer Wölfin, seines Wappentieres. Im folgenden wird die Vermutung bestätigt. — Im gleichen Kapitel wird Yole durch einen ganz in Eisen gehüllten Ritter gerettet: wir erkennen Rogiero. — Im letzten Kapitel kommt zu dem auf dem Schlachtfeld liegenden sterbenden Manfred ein Mönch, der Manfreds Beichte hört. Hinterher entpuppt er sich als Caserta. Zu einem interessanten Ergebnis führt die Frage, inwiefern das vermummte Auftreten von Personen durch die Handlung motiviert ist. E s zeigt sich, daß das nur in einigen Fällen der Fall ist. Damit erweisen sich die übrigen Vermummungen als nur um ihrer selbst willen eingeflochten, rein um der ästhetischen Wirkung willen. Motiviert ist die Vermummung Cerras und Casertas. Sie wollen natürlich nicht, daß Rogiero weiß, wer sie sind. Einen Grund hat auch, daß Rogiero vor Manfred mit geschlossenem Visier erscheint. E r will sich vor Manfreds Rache schützen, falls dieser ihm nicht seinen Verrat verzeiht. Begründet ist auch Casertas Verkleidung am Schluß. E r will den Genuß haben, Manfred durch religiöse Vorstellungen zu quälen. Ohne jeden Grund vermummt erscheinen dagegen Ghino und Rogiero in Rom und in S. Germano. Mit dem Inkognito verwandt, aber nicht mit ihm gleichzusetzen ist der Fall, daß eine geheimnisvolle Gestalt eingeführt wird, die sich nachträglich als eine Gestalt entpuppt, die der Leser schon kennt. Im 10. Kapitel trifft Rogiero beim Ausritt zur Überbringung der Briefe einen Pilger, der sich ihm anschließen will, dessen Begleitung er jedoch barsch zurückweist. Der Leser sieht diese Figur, über die ihm nichts weiter mitgeteilt wird, als eine neue Person des Romans an. Auch weiterhin erscheint der Pilger, ohne daß mehr über ihn erzählt würde als die Erlebnisse, die gerade dargestellt werden. Im gleichen Kapitel wird der Pilger von den Räubern gemartert und von Rogiero befreit. Es scheint, als sei er immer in Rogieros Nähe. Auf der Rückreise trifft Rogiero den Pilger wieder im Albergo della Luna und argwöhnt in ihm den Sprecher der Mahnworte. Der Pilger weiß auch über Rogieros Taten in Rom Bescheid. Seltsam. Schließlich erscheint der Pilger in Rogieros Kerker (Kap. 20) und wird dort von Rogiero, den Yole befreit, eingesperrt, so daß er dort verhungert. Im 21. Kapitel nun, das zeitlich vor dem 20. liegt, erscheint der Pilger vor Cerra und entpuppt sich als einer seiner Helfer, namens Gisfredo, den der Leser schon vorher (Kap. 5) als den Kerkermeister Heinrichs des Lahmen kennengelernt hat. Der Pilger war also niemand anders als der verkleidete Gisfredo. Anders nun als beim Inkognito ist seine Vermummung dem Leser gegenüber nicht durchsichtig gehalten gewesen. Statt
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. dem Leser die Freude zu lassen, zu erraten, wer die geheimnisvolle Figur sei, wird eine rätselhafte Figur immer rätselhafter gemacht und ihre Enthüllung als eine Überraschung gegeben. — Ähnlich liegt der Fall, wenn der Mönch, den Rogiero im Walde trifft, vom sterbenden Vater Egidius spricht, der noch nicht lange im Kloster sei, und von dem niemand wisse, wer er sei und woher er komme — und der Leser nun denkt, er werde eine neue Person kennenlernen, diese sich aber als der alte Bekannte Roberto entpuppt (Kap. 17). Natürliche Erklärung geheimnisvoller Geschehnisse. — In der BdB. sind nicht nur Ort und Personen von Geheimnis umgeben, sondern es geschehen dort auch Dinge, die seltsam und rätselhaft erscheinen. Die Mehrzahl von ihnen steht im Zusammenhang mit Gisfredo. Charakteristisch für Guerrazzi ist nun, daß er ausnahmslos alles, was nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint, als durch Umstände, die durchaus im Bereich der menschlichen Erfahrung liegen, zustande gekommen zeigt. Die Bedeutung, die er der natürlichen Erklärung beimißt, spricht sich darin aus, daß er dem Kapitel, in dem er die mit Gisfredo in Zusammenhang stehenden geheimnisvollen Geschehnisse aufklärt, jene programmatische Erklärung: ,,ben l'arte ammaestra a disporre gli eventi in certa bizarria misteriosa . . . ma al punto stesso ne avverte esser debito svilupparli con naturale spiegazione" (II, 149) voranstellt, die uns gezeigt hat, wie sehr das Beispiel der Radcliffe für ihn maßgebend war (vgl. o. S. 20). Ziemlich unkünstlerisch ist es freilich nun, wenn Guerrazzi die Geschehnisse um Gisfredo alle zusammen in einem Kapitel (21.), das eigens dafür eingerichtet ist und zur Förderung der Handlung nichts beiträgt, erklärt. Das Kapitel scheint lediglich um der Einhaltung eines Prinzips willen da. Mit der natürlichen Erklärung wird hier keine ästhetische Wirkung erzielt, wie das die Radcliffe getan hatte. Mehr als ein „Aha, so war das" wird Guerrazzi seinen Lesern wohl nicht zu entlocken vermögen. Betrachten wir kurz dieses Kapitel, um zu sehen, wie Guerrazzi hier gewissermaßen eine Pauschalaufklärung gibt. Gisfredo war es, der Rogiero in Mirandola zurief: Gedenke deines Vaters; er war es, der Buoso mitteilte, daß Rogiero zur Gegenpartei überzugehen drohe, woraus sich erklärt, daß Rogiero von einem Reitertrupp, der zu seiner Verblüffung wußte, wer er sei, zu Buoso geführt wurde. Hier findet es seine Erklärung, daß Rogiero in Buosos Schloß wieder den Mahnruf vernahm. Die gespenstische Erscheinung, die er als die Ruferin erkannte, und die ihm entkam, war Gisfredo. Gisfredo war beim Turnier in Rom, an dem Rogiero vermummt teilnahm. So erklärt sich die Allwissenheit des Pilgers im Albergo della Luna. Der Pilger war Gisfredo, und er hat ihn auch gefangengesetzt. Schließlich erfahren wir, wieso Yole Rogiero befreien konnte. Cerra hatte Gisfredo in Manfreds Palast geschickt, um dort zu spionieren. Dort wird er einmal nachts von Yole überrascht; in seiner Angst verrät er, er 4*
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
kenne den Aufenthaltsort Rogieros, und Y o l e zwingt ihn, sie dorthin zu führen. — Geheimnisvolle Vorgänge finden auch an anderen Stellen des Romans eine natürliche Erklärung. So wird erklärt, wieso Manfred beim Eindringen in den Saal, in dem eben noch die Verschwörer sich zur Wehr setzten, diesen plötzlich leer findet: im letzten Augenblick ist noch ein geheimer Ausgang entdeckt worden (Kap. 23). — Wenn die Königin Y o l e plötzlich blutüberströmt am Boden liegend findet, nachdem wir sie eben noch in den Armen Rogieros gesehen haben, so ist das befremdlich (Kap. 3). Zwei Kapitel später wird der seltsame Fall erklärt. Kapitelmotti. — In den Dienst der Schaffung einer geheimnisvollen Atmosphäre stellt Guerrazzi auch die äußere Formgebung. In der BdB. kündigt Guerrazzi den Inhalt des Kapitels nicht durch eine Überschrift an, die dem Leser mit Bestimmtheit ein Thema ankündigt, z. B. der Verrat, die Flucht oder dgl., sondern er stellt dem Kapitel nur ein kurzes Zitat, meist aus einer Versdichtung voran, in dem von ähnlichen Dingen die Rede ist, wie nachher im Kapitel. Aus dem Zitat, das wegen seiner Kürze und des fehlenden Zusammenhanges nie ganz eindeutig auszulegen ist, muß dann der Leser erraten, wovon das folgende Kapitel handeln wird. Die Wirkung ist manchmal die, daß der Leser nicht das Motto liest, um zu wissen, was im Kapitel steht, sondern das Kapitel rasch herunterschlingt, um zu wissen, was eigentlich das Motto besagen soll. (In der umgearbeiteten Fassung des Romans, die von 1852 an allen späteren Ausgaben zugrunde liegt, hat Guerrazzi Kapitelüberschriften neben die Motti gestellt.) In der Verwendung von Kapitelmotti wandelte Guerrazzi auf ausgetretenen Pfaden. Die Radcliffe und Lewis hatten sich dieses Mittels bedient, und Scott war ihnen hierin gefolgt. Überhaupt war das Kapitelmotto zu einem Modetrick geworden. Dabei gebrauchte man es nicht nur, um den Roman spannend zu gestalten, sondern es wurde dazu mißbraucht, die Belesenheit des Autors in vielen Literaturen zu zeigen, oder man kehrte die Verwendung des Mottos selber ins Lächerliche (vgl. Greiner S. i 2 i f f . ) . Guerrazzi hält sich sowohl von der eitlen wie von der humoristischen Verwendung des Kapitelmottos fern. E r hält konsequent, ja pedantisch an dem Grundsatz fest, daß das Motiv des Mottos das oder eines der Motive des Kapitels ankündigen soll. In keinem Falle ist diese Regel von ihm durchbrochen worden. W i e geschickt Guerrazzi den Inhalt eines ganzen Kapitels anzudeuten weiß, möge das Zitat aus der Gerusalemme liberata zeigen, das er dem 21. Kapitel voranstellt : Quanta, e qual sia quell'oste, e ciò che pensi Il duce loro a voi ridir prometto, Vantomi in lui scoprir gl'intimi sensi, E i secreti pensier trargli dal petto.
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung.
Es wird die Erklärung einer Persönlichkeit und ihrer Absichten versprochen: Das Kapitel dient ausschließlich der Lüftung des Geheimnisses um den Pilger = Gisfredo. Manchmal wird im Motto nur ein Motiv des nachfolgenden Kapitels angekündigt. So kündigt das Motto zu Kapitel 22 nur den Stoff der ersten Hälfte des Kapitels an, wo Manfred vor dem Bilde seines Vaters erschrickt. Es ist aus G r o s s i s Lombardi: Visibilmente si tramuta in faccia, E trema d'una larva che il minaccia.
In der zweiten Hälfte des Kapitels sehen wir Manfred im Kreise der Seinen. Wie sich Guerrazzi hier in der BdB. von der spielerischen Verwendung des Kapitelmottos fernhält, so benützt er es auch nicht dazu, seine Belesenheit zu zeigen und den Leser womöglich mit fremdsprachigen Zitaten zu verblüffen. Alle seine Motti sind in italienischer Sprache gegeben, alle sind sie der italienischen Literatur entnommen (was durchaus Absicht sein muß, denn Guerrazzi kannte die französische, englische, deutsche und spanische Literatur in der Ursprache), außer zweien, einem aus V i r g i l und einem aus L u k r e z , aber beide in italienischer Übersetzung. Doch darf man auch diese nicht eigentlich als nicht-italienisch betrachten. Gerade das Virgilzitat läßt uns vermuten, daß Guerrazzi keinen Trennungsstrich zog zwischen römischer und italienischer Literatur. In der Äneis findet er nämlich den gleichen Patriotismus ausgedrückt, der ihn selber und seine Zeitgenossen beseelte, wenn er zitiert : A v e a l'aurora già vermiglia e rancia. Scolorite le stelle, allor che lunge Scoprimmo, e non ben chiari i monti in prima, Poscia i liti d'Italia. Italia, Acate Gridò primieramente; Italia, Italia Di ciascun legno rintonando allegri Tutti la salutammo.
Damit zeigt sich Guerrazzi noch im Banne von Anschauungen, die im Italien von 1830 schon veraltet waren. Die Auffassung der römischen Geschichte als einer Vorstufe der italienischen ist dem klassizistischen Stil der italienischen Vorromantik eigen; nach 1815 bringt die durchbrechende Romantik die Auffassung zur Geltung, daß die eigentliche italienische Geschichte erst nach der Völkerwanderung beginne und von der römischen zu trennen sei (vgl. Croce I, iißf.). Es ist dies nicht der einzige klassizistische Zug, den Guerrazzis Schaffen aufzuweisen hat. Weit davon, mit seinen Zitaten eitel zu prunken, hat Guerrazzi sie vielmehr sorgfältig in der Stimmung, in der ganzen Gedankenwelt, die sich mit ihnen verknüpft, ausgewählt. Er hat sie einer Literatur entnommen, die ihrem Stoff und Stimmungsgehalt nach zu der eigenen Dichtung in engster Beziehung steht. Drei Gebiete
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hat er da herangezogen: die Renaissancedramen eines Geraldi Cinzio, eines Sperone Speroni, eines Giovanni Rucellai u. a. (Motti zu Kap. i, 4, 5, 12, 13, 18, 19, 25, 26, 29), die romantischen Dramen eines Manzoni, eines Pellico u. a. (Kap. 2, 3, 6, 9, 10, 23) und dem Epos der Renaissance und der Romantik, Ariost, Tasso, Boiardo, Pulci und Grossi (Kap. 8, 16, 21, 22, 24, 28). Das Epos läßt die Welt der Ritter, Turniere und Duelle wieder aufleben, und von Rittern, Turnieren und Duellen handelt auch die BdB. Mit dem romantischen Drama stimmt sie durch ihre sentimentale und pessimistische Stimmung überein. Mit dem Renaissancedrama teilt sie den Hang zum Blutrünstigen und Greulichen (vgl. Tonelli S. 167 und vgl u. S. 62). Das
Unheimliche.
Neben dem Stimmungsmittel des Geheimnisses verwendet Guerrazzi das Stimmungsmittel des Unheimlichen. Die beiden Mittel sind nicht gleichzusetzen. Das Geheimnis wird durch den Autor selber geschaffen, indem er mit seinem Wissen über die Personen und Geschehnisse zurückhält bzw. für eine Person oder einen Ort fingiert, daß darüber nichts in Erfahrung zu bringen sei. Die Stimmung des Geheimnisses beruht darauf, daß etwas Erkennbares oder Erfahrbares nicht mitgeteilt wird. E s erweckt Neugier, Spannung, d. h. den Wunsch, das Erfahrbare zu erfahren. Anders liegt es, wenn der Autor solche Motive verwendet wie Ahnungen, Vorzeichen, Naturschauspiele, Gespenstererscheinungen. Ihre Wirkung kann nicht durch den Autor geschaffen werden ; sie tragen ihren Stimmungsgehalt in sich. Hier handelt es sich nicht um ein Geheimnis, sondern diese Motive haben die Wirkung, dem Leser das Unheimliche nahezubringen. Unheimlich war dem Romantiker, was die Anwesenheit von etwas Übermenschlichem, Transzendentalem verriet. So dürfen wir vielleicht die Definition S c h e l l i n g s verstehen: „Unheimlich nennt man alles, was im Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist" (II, II, 649). Das Unheimliche findet sich in der BdB. recht häufig. Ahnungen und Voraussagen. — Ein häufig von Guerrazzi angewandtes Mittel, seinen Lesern das Vorhandensein jenseitiger Kräfte in Erinnerung zu bringen, ist, daß er die Personen seines Romans von düsteren Ahnungen nahenden Unheils, die sich dann erfüllen, beunruhigt sein läßt. Der Präfekt von Palermo, von dem die Hofdame Matelda erzählt (Kap. 2), äußert: ,,. . . una voce, che non è entrata per gli orecchi, ha detto al mio cuore ch'io non vedrò più i raggi del sole." Unmittelbar darauf erscheint das Ungeheuer, das ihn verschlingen wird. — Yole deutet den Kometen als ein Zeichen, daß ihr und Manfred ein größeres Unheil drohe. Der Komet bestärkt sie in ihren Ahnungen (Kap. 2). — Nachdem Rogiero für die Pläne Casertas gewonnen ist, plagen ihn vorahnende Phantasien:
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. er sieht Yole und Manfred in ihrem Blute daliegen (Kap. 9). — Gorello wird beim Anblick des fremden Ritters von dem Gefühl erfaßt, daß dieser ihm Unheil bringen werde. Messinella sagt ihm, daß er sie bald auf dem Sterbebette werde liegen sehen. Tatsächlich stirbt sie bald, nachdem der Ritter ihr und Gorellos Glück zerstört hat. Nachdem Gorello Karl seine Geschichte erzählt hat, sagt er, an diesem Tage werde er noch sterben. In der Tat wird er nach der Seeschlacht von einem umfallenden Mastbaum getötet (Kap. 12 und 13). Hier wird auch ersichtlich, daß diese Ahnungen nicht nur eine Stimmungswirkung ausüben, sondern für die Erzählung auch die technische Bedeutung haben, den Leser auf ein kommendes Ereignis gespannt zu machen. Sie wirken als dunkle Vorankündigungen des Kommenden. Zu den Ahnungen stellen sich die V o r z e i c h e n . Wie Manfred die Schlacht von Benevent zu seinen Ungunsten ausgehen sieht, greift er selbst ein. Bevor er sich ins Kampfgewühl stürzt, fällt ihm der silberne Adler, den er auf dem Helm trägt, vorn auf den Sattelknopf; das böse Vorzeichen läßt ihn erbleichen (Kap. 28). Unheimlich, wenn sie eintreffen — und sie treffen ein —, und geheimnisvoll, wenn sie ausgesprochen werden, sind die W e i s s a g u n g e n . Unter den seltsamsten Umständen erfolgt eine in der Geschichte Mateidas. Das Ungeheuer kommt zum Palaste des Präfekten, schneidet dort einem Löwen ein Ohr ab und schreibt damit geheimnisvolle Buchstaben an die Wand. Eine unbekannte Frau erscheint und deutet sie. M. N. M. P. V. D. heiße: L a tua morte non sarä morte, ma principio di vita di dolore (Guerrazzi verwendet das biblische Motiv des Menetekel). — Über die Schlösser, in denen Gorello und sein Freund Berardo leben, war bei der Gründung geweissagt worden, sie würden so lange stehen, bis die befreundeten Insassen durch eine Täuschung einander hassen und einer den andern gegen seinen eigenen Willen töten werde. Der Spruch erfüllt sich in Gorello, der durch den fremden Ritter mit Berardo verfeindet wird und Berardo, ohne es zu wollen, tötet. Naturschilderungen. — Auf der Vorstellung, daß Mensch und Natur miteinander in engster Beziehung stehen, beruht die Wirkung des Mittels der die menschlichen Ereignisse vordeutenden und begleitenden Naturvorgänge. Durch die romantischen Projektion des menschlichen Gefühls in die Natur wird diese als im Einklang mit dem menschlichen Fühlen aufgefaßt. Der Romantiker empfindet einen Sturm als den Ausdruck seiner eigenen stürmischen Seele. Ahnt er, daß ihm eine Strafe von Gott droht, so geht dieser Strafe deren Androhung durch warnendes Naturgeschehen: Gewitter, blutrote Sonnenuntergänge, voraus. „Sono l'uragano, il fulmine, il terremoto terribilissimi segni dello sdegno di Dio", sagt Guerrazzi an einer Stelle des Romans (I, 167).
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
Die psychologische Voraussetzung für den Umstand, daß Guerrazzi die Ereignisse von Schilderungen der in Aufruhr geratenen Natur begleitet sein läßt, ist sehr deutlich aus dem Roman selber zu entnehmen. In Unkenntnis alles Realismus läßt Guerrazzi seine Romanpersonen ihre Gefühle in die Natur hineinprojizieren, wie es der romantische Mensch um die Wende des 19. Jahrhunderts tat. So sehen wir, wie Manfred an einem Abend, kurz ehe er die Nachricht vom Verrat Casertas erhält, nach Benevent reitet (Kap. 25). Eine schwarze Wolke hat sich vor die Sonne geschoben. Ihre Ränder sind blutrot; einige Strahlen brechen hinter ihr hervor und übergießen alle Dinge mit einem blutigen Schimmer. Windstöße wirbeln Staub auf und rütteln an den Bäumen. Die Vögel fliegen tief und verkünden den nahenden Sturm. Manfred betrachtet das Bild schweigend. D'Angalone glaubt die Gedanken des Königs zu erraten: „Stasera il sole muore innanzi tempo." Manfred schaut ihn finster an: „Muore, ma brilla" (II, 242). Nachdem er in S. Germano vergeblich versucht hat, seine Heerführer zu versöhnen, ruft er, offenbar an diese Szene sich erinnernd, aus: „ I mostri del cielo già si son fatti vedere; questo è il prodigio nella terra . . . costanza Manfredi, il tuo momento si avvicina" (Kap. 26). Die literarische Verwendung der Naturerscheinung stellt eine Umkehr des Verhältnisses von Natur und Mensch dar. Der Romantiker erlebt einen Sturm als den Ausdruck eines Vorganges in seiner Seele. Der romantische Romancier läßt die Seelenvorgänge seiner Personen von Gewitterstürmen u. dgl. begleitet sein. Dies seit der R a d c l i f f e in Schauerroman und Melodram zum notwendigen Requisit gewordene Motiv findet auch bei Guerrazzi ausgiebige Verwendung. Eine Vordeutung kommender Ereignisse ist es, wenn Rogiero beim Eintritt in die Zelle des sterbenden Roberto, der ihm die schreckliche Geschichte von der Ermordung seiner Mutter erzählen wird, alles vom blutroten Schein der untergehenden Sonne übergössen sieht (Kap. 17). — Die Seeschlacht zwischen Karl von Anjou und Manfreds Flotte findet bei rasendem Sturme statt. Dem grausigen Treiben der Menschen geht ein grauenhaftes Wüten der Elemente parallel. Der Höhepunkt des Tobens der Natur fällt zusammen mit dem schrecklichsten Tun der Menschen: der Blitz mit der Tötung Drogones durch Gorello. Die Verbundenheit von Mensch und Natur, deren Kräfte im Dienste Gottes stehen, wird durch den Autor unterstrichen: „Forse l'Eterno stanco di più sopportare, vibrò il fulmine rovente dell'ira a disperdere quel naviglio insanguinato (I, 352). — Von unheimlichen Naturerscheinungen begleitet ist das Erscheinen des Ungeheuers in Mateidas Erzählung (Kap. 2). Dichter Rauch bedeckt den Himmel, wilde Tiere brüllen, kein Vogel fliegt, die Erde bebt. — In dem Augenblick, in dem Rogiero im Kerker zu sich kommt und er von Verzweiflung gepackt wird, bricht über ihm ein fürchterliches Gewitter
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. los. — Fast wie ein Leitmotiv begleitet das Bild der in Aufruhr geratenen Natur Manfred. Das erstemal, wo er dem Leser vorgeführt wird, auf dem Ritt nach Luceria (Kap. 8), tobt ein Gewitter. Als er wieder in den Gesichtskreis des Lesers tritt, in Kap. 22. ist wieder ein Gewitter. Und wieder stürmt es, als Manfred nach S. Germano reitet (Kap. 25). Gespenster. — Während nun Guerrazzi unbedenklich Menschenschicksal und Naturereignis verknüpft, weigert er sich, dem Übernatürlichen in der Form des Gespenstischen in seinem Roman bedingungslos einen Platz einzuräumen. Die Art, wie er ein offensichtlich aus Horace Walpoles Roman entlehntes Motiv umgestaltet, zeigt ihn uns durchaus rationalistisch eingestellt. Wir erinnern uns, daß Manfred (im 22. Kap.) vor dem Bilde seines Vaters erschrickt. Im 1. Kapitel von Walpoles Castle of Otranto erschrickt Manfred (Walpoles Manfred) vor dem Bilde Alfonsos, des rechtmäßigen Besitzers des Schlosses. Das Bild wird plötzlich lebendig, Alfonso steigt leibhaftig aus dem Rahmen herab, ein Gespenst, das wirklich umgeht. Guerrazzi vermeidet nun diese manifeste Unwahrscheinlichkeit. Wenn das Bild Friedrichs sich bewegt, so tut es das nur in der Einbildung Manfreds. Das ist auch ganz natürlich: er befindet sich in einem Zustande der Erregung, ist von Gewissensbissen geplagt in der Erinnerung an Friedrich. Der Autor läßt den Leser nicht darüber im Zweifel, daß es ein Hirngespinst ist, was Manfred sieht: „quella luce vermiglia p a r v e animarlo (sc. Friedrich) di un baleno di vita, e certo il ritratto storse le pupille scintillanti nel sangue, e agitò i labbri a parole di fuoco" (II, 168). Guerrazzi zeigt sich also bemüht, das Gespensterhafte auf das Normalmaß menschlicher Erfahrung zurückzuführen. Der Abgebildete steigt nicht a u s dem Rahmen h e r a b , sondern bewegt sich nur im Rahmen; die Bewegung erfolgt nicht in Wirklichkeit, sondern nur in der Phantasie des Betrachters. Wie er für seltsame Ereignisse pünktlich mit einer Erklärung aufwartet, gibt er auch hier, ganz Rationalist, eine vernunftentsprechende Erklärung. Trotz seiner rationalistischen Einstellung möchte Guerrazzi nun nicht auf die Wirkung verzichten, die ein Gespenst in der Erzählung tut. E r ist daher genötigt, zu besonderen Mitteln zu greifen, um beide Bedürfnisse zu befriedigen, denn es ist ihm offensichtlich daran gelegen zu zeigen, daß er nicht an Gespenster glaubt. Ein Mittel kennen wir nun schon: er läßt das Gespenst in der Phantasie der Romanfiguren vorhanden sein. Ein ganz ähnliches Verfahren ist es, wenn er, um dem Leser das Schloß von Capua recht unheimlich erscheinen zu lassen, es mit einem Gespenst ausstattet, dies aber nicht wirklich, sondern nur in der Phantasie eines fiktiven Beobachters vorhanden sein läßt (Kap. 1 = I, 46). „ L a calda immaginazione dell'osservatore può vedere avvolgersi per quelle rovine lo spettro di Guglielmo il Malvagio."
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Ein anderes Mittel, sich der Verantwortung für das Gespenstische zu entziehen, wendet er an, wenn er einmal ein Gespenst wirklich schildert. E r gibt die Schilderung als einen Bericht von dem, was andere gesagt haben. So hat er das Gespenst geschildert, das in dem Zimmer umgeht, in dem Caserta den Totenschädel seiner Frau aufbewahrt. Er erzählt das aber nicht, als ob das wirklich so wäre, sondern er sagt, die Überlieferung laute so, und die Bedienten hätten es gesehen. Schließlich rückt er noch ausdrücklich von dem Bericht ab und sagt mit rationalistischer Verachtung des „ A b e r g l a u b e n s " : ,,Insomma al naturale orrore del luogo, si aggiungevano le fantastiche paure di menti superstiziose e ignoranti" (I, g2i.). Ebenso wird das Erscheinen von Friedrichs Geist auf dem Ritt nach S. Germano als ein Referat nach einer Chronik geboten. ,,Aggiunge ancora la cronaca che . . . quello splendore all'improvviso cessasse, e di 11 a poco comparisse uno spettro scettrato . . ." (II, 260). W o m i t der Weg zu einer unkompromittierenden weitläufigen Schilderung geebnet ist. —• A m Ende des Romans wird geschildert, wie die Geister der Königin, Yoles und Manfredinos im Castel dell'Ovo erscheinen und, vor dem Altar niederkniend, das Christkind bewegen, mit dem aus der Wunde des gekrönten Gespenstes geflossenen Blut auf den Altar das Wort „ R a c h e " zu schreiben. Die Erzählung wird aber mit den Worten eingeleitet: „Corse un tempo il racconto . . ." und zum Schluß bezeichnet er die Geschichte als Ausgeburt des Aberglaubens. Das ist um so interessanter, als hier nicht nur der Gespensterglaube, sondern auch ein christliches Wunder als Aberglaube abgetan wird. Man glaubt fast die R a d c l i f f e oder B y r o n , beides Lieblingsschriftsteller Guerrazzis, reden zu hören. In diesen Fällen bringt Guerrazzi gewissermaßen indirekte Gespenster, d. h. er erzählt von Erzählungen von Gespenstern. Es kommen aber auch gespenstische Erscheinungen in der Handlung selber vor. In diesem Falle mußte Guerrazzi so verfahren wie die Radcliffe und eine natürliche Erklärung geben. — Nachdem Matelda ihre Geschichte erzählt hat, fliegt die Türe auf, ein Luftzug löscht die Lichter, man hört schwere Schritte, Kleider schleifen auf dem Boden: die Hofdamen halten es für ein Gespenst. Nachher stellt sich heraus, daß es die Königin war. — In Buosos Schloß hört Rogiero die mahnende Stimme. Er wendet sich um und glaubt ein Gespenst zu sehen, das davonschwebt. Rogiero setzt ihm nach, es entkommt aber. Aber ungleich der Radcliffe, die sorgfältig beim Leser die Illusion schafft, daß er wirklich ein Gespenst vor sich habe, um danach mit der Zerstörung der Wirkung wieder eine Illusion zu erzielen, läßt Guerrazzi diese Illusion gar nicht aufkommen. Es zeugt von einer ganz äußerlichen, verständnislosen Nachahmung, wenn er in der natürlichen Erklärung so weit geht, daß er sofort nach der Erzählung der Verfolgung des Gespenstes durch Rogiero anmerkt, daß Rogiero nicht geglaubt habe, es mit einem wirklichen
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und Handlungsführung. Gespenst zu tun gehabt zu haben. „Vero è bene che non sapeva come spiegarla (se. l'apparizione), tuttavia si guardava di attribuirla a cause superiori" (I, 401). (Guerrazzi will nicht den Glauben aufkommen lassen, sein Held huldige einem so schimpflichen Aberglauben, wie es der Gespensterglaube ist.) Er bringt sich aber damit um die Überraschungswirkung, die die Radcliffe mit der natürlichen Erklärung erzielt. Unter diesen Gespensterszenen mit natürlicher Erklärung findet sich jedoch eine, die Guerrazzis Erzählungskunst von einer besonders glücklichen Seite zeigt. Hier kommt etwas zum Durchbruch, was eine charakteristische Beigabe zu den anderen Eigenheiten Guerrazzis bildet: ein Humor, dem es nicht an etwas Bosheit fehlt. Es ist die Szene, in der Roberto Rogiero überredet, mit ihm zu gehen. Rogiero zaudert noch, da beteuert Roberto, daß er ohne Falsch sei. „Dunque abbiatemi maggiore fiducia, scudiero: forse al mondo non v'è più lealtà ?" Da ertönt aus dem Gewölbe, vor dem sie stehen, eine Stimme: „ N o n v'è più lealtà!" Roberto fährt zusammen, denn die Stimme sagt ihm ja die Wahrheit. Er läßt sich aber nichts anmerken, sondern fährt mit seinen Beteuerungen fort. Aber wieder werden seine letzten Worte wiederholt: „Sei un traditore!" Da braust Roberto auf und r u f t : ,,. . . Uomo o demonio, tu ne menti per la gola." Und die Stimme: „Menti per la gola." Das wird Roberto zu bunt, er zieht vom Leder und will auf den verborgenen Sprecher losgehen. Aber Rogiero hält ihn zurück mit der Versicherung, es werde ihm nicht gelingen, dieses Sprechers Herr zu werden. (Ist es also doch ein Gespenst, fragt sich der Leser.) Doch Roberto macht sich von Rogiero los, um sich wieder auf den Feind zu stürzen. Da ruft Rogiero (und nun kommt die große Überraschung): „Bleibt, bleibt, habt Ihr denn nicht gemerkt, daß es das Echo ist ? Mit wem wollt Ihr denn kämpfen, wenn es eure eigne Stimme i s t ? " Rogiero hat also Roberto zum Narren gehabt, was an sich ganz belustigend ist. Aber Guerrazzi hat auch den Leser zum Narren gehabt, der auch an ein Gespenst oder sonst etwas „Geheimnisvolles" geglaubt hat, und das ist doch recht boshaft. Mit dieser Szene zeigt sich Guerrazzi als echter Romantiker. E r erweckt die Illusion des Gespenstischen und zerstört diese Illusion mit einer burlesken Wendung : romantische Ironie.
Blutrünstigkeit
und
Todespathos.
Zu den Stimmungsetfekten, mit denen Guerrazzi — hierin wieder dem romantischen Geschmack folgend (die Ausmalung blutiger Szenen findet sich bei der R a d c l i f f e , bei L e w i s und auch bei B y r o n [The Bryde of Abydos, Lara, Parisina]) — die BdB. ausstattet, gehört das Grausig-Blutrünstige, das ins Sündige und Gotteslästerliche einerseits und ins Sinnlich-Sadistische andererseits hinüber-
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
spielt. Die Häufigkeit, mit der derlei Motive in der BdB. vorkommen, geht aber weit über das hinaus, was in der Schauerromanliteratur jener Zeit üblich ist. Auf die zweite Hälfte des ersten Bandes der BdB., also auf etwa 200 Seiten, kommen etwa 20 solcher Stellen, auf den zweiten Band etwa 15. Es wird von n e u n Morden nicht etwa nur erzählt, sondern sie werden eingehend mit physischen Einzelheiten geschildert: Manfred ermordet Konrad (I, 198), Bonello (I, 201), Friedrich II. (II, 385); Ghino ermordet Benincasa (I, 377); Berardo tötet Messinella (I, 320) ; Gorello tötet Drogone (I, 352) ; Cerra ermordet die Spina (II, 73); Caserta ermordet Cerra (II, 234), und in Mateidas Erzählung wird der Präfekt Solino von dem Ungeheuer erwürgt (I, 70). Es werden nicht weniger als s i e b e n Sterbeszenen breit ausgemalt (Heinrich der Lahme, Gorello, Drengotto, Berardo, Roberto, Caserta, Manfred mit Rogiero; eine achte: Cerra). Jede Seite trieft von Blut. Blutrünstigkeit. Guerrazzi läßt es zunächst nicht an blutbefleckten Gegenständen fehlen. Wie Yole von ihrer Mutter im Garten aufgefunden wird, sind ihre Kleider blutig (Kap. 3). — Rogiero sieht in Ghinos Hütte eine Lanze stehen, an deren Spitze geronnenes Blut klebt; Ghino erzählt, wie man ihm als Kind, um ihn zur Rache für seinen hingerichteten Vater zu treiben, des Vaters blutiges Hemd zeigte und wie man es der Mutter nach der Hinrichtung überbracht hatte (Kap. 14 = I, 363, 373, 375). Wunden und Krankheiten. Mit Behagen verweilt Guerrazzi bei der Ausmalung von Wunden. Ausreichende Gelegenheit bieten hierzu die Schlachtenschilderungen. So bei der Seeschlacht (Kap. 13) : ,,Tu avesti veduto le sarte della galera grondanti di sangue, la coperta sparsa di cervella infrante e di membra recise . . . " Gorello schlägt einem Gegner die Streitaxt in den Bauch, ,,e quando la trasse a sè, gl'intestini si rovesciarono giù penzolini per l'anguinaia e le cosce; il giovanetto urlando smanioso, raccolse con ambe le mani le viscere, e si dette a fuggire . . ." — Blutrünstige Schilderungen finden sich auch bei der Darstellung der Kämpfe von S. Germano (II, 289, 296f., 299, 307). — Zum Gräßlichen gesellt sich das Unheimliche, wenn ein abgeschlagenes Glied sich noch bewegt. So schließt und öffnet sich noch mehrere Male Drengottos Hand, nachdem sie schon abgeschlagen im Grase liegt (I, 107). Eine Besonderheit Guerrazzis ist die Schilderung von widerlichen, ekelerregenden körperlichen Zuständen und von Krankheit überhaupt. Gorello öffnet seinen Rock. Das eiserne Büßerhemd wird sichtbar, „che vi aveva fatto un cerchio di piaghe, dalle quali colavano alcune gocce di nero sangue, e marcioso" (I, 305). — Heinrich der Lahme wird in einem Zustande völliger Verblödung vorgeführt. Als er trinken will, träufelt er sich den Rock voll. — Der körperliche Zustand des sterbenden Konrad
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(Kap. 8) und des sterbenden Roberto wird geschildert (Kap. 17). — Schließlich wird auch ein schon halb von den Wölfen gefressener menschlicher Leichnam beschrieben (Kap. 25). Nicht zufrieden mit den Greueln, die sich in der Erzählung wirklich ereignen, läßt Guerrazzi seine Personen auch noch v o n G r e u e l n p h a n t a s i e r e n . Wie Rogiero mit den Verräterbriefen davonreitet, sieht er in seiner erhitzten Phantasie noch einmal den toten Heinrich mit blutigem Munde daliegen, und dann sieht er Manfred und Yole erdolcht und blutüberströmt (Kap. 9). Yole irrt im Palast umher und malt sich Rogieros Schicksal aus: sie sieht ihn zum Schafott emporsteigen, der Henker schlägt ihm den Kopf ab, Blut spritzt herum (Kap. 21). Das romantische Motiv der Hinrichtung durfte nicht fehlen. Mordszenen. Zu dem Schauder, den die Schilderung von Blut und Gemetzel erweckt, gesellt sich in den Mordszenen ein ausgesprochen sadistischer Zug. Die teuflische Lust an grausamer Vernichtung des Menschenlebens fehlt fast in keiner. — Die Erzählung Mateidas endet damit, daß das Ungeheuer in den Palast des Präfekten Solino eindringt und „con atroce compiacenza lo strangolava" (Kap. 2). Gorellos Schilderung der Leiche Messinellas wird dadurch besonders schaurig, daß ihre Verletzungen zeigen, daß Berardo ihr mit Bedacht die schrecklichsten Wunden beigebracht hat: ,,. . . le sue ferite sono più atroci di quelle con le quali l'odio si compiace lacerare il corpo nemico, elle erano studiate con selvatica ferocità: aveva gli occhi divelti e rovesciati giù penzoloni per le guancie, la faccia tagliata in minutissime righe, la gola aperta . . ." (Kap. 12). — Gorello tötet seinen Feind mit satanischem Genuß: „Gorello aperto il seno all'ammiraglio, gli aveva tratto il cuore, e con diabolica anelito vi soprapponeva le labbra, —• per baciarlo o per divorarlo? (Kap. 13). — Ghino tötet mit Genuß den Richter, der seinen Vater hat hinrichten lassen. E r hat ihn an der Gurgel gepackt: „Poi trassi il coltello . . . gli segai il capo e lo afferrai pe' radi capelli che aveva su la fronte con la gioia dell'amante che stringe la mano della fanciulla desiata" (Kap. 14). — Mit gleicher Intensität des Ausdrucks wird die Dauer des Abschlachtens zum Ausdruck gebracht, wenn Guerrazzi erzählt, wie Manfred Bonello enthauptet: ,,. . . e col pugnale gli sega la gola" (Kap. 8). — Selbst der Henker, den die Romantik als Opfer der Einrichtung der menschlichen Gesellschaft zu idealisieren liebte, ist nicht mitleidig, sondern ein Satan, der sein Werk mit Wollust verrichtet (Yoles Phantasien, Kap. 21). Von Sadismus frei, aber von großer Blutrünstigkeit ist die Sterbeszene der Spina. Zu Tode getroffen hat sie das Kind, dem sie im Todesschreck das Leben gegeben, in die Arme genommen, um es zum Abschied zu küssen; der ihr aus der Wunde quellende Blut-
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
ström ergießt sich über das Kind (Kap. 18). Hier wird nun auch die oben (S. 54) erwähnte stimmungsmäßige Verwandtschaft der BdB. mit dem Renaissancedrama ganz offensichtlich. Aber nicht nur von Verwandtschaft brauchen wir hier zu reden. Wenn wir das Kapitelmotto ansehen, daß Sperone Speronis „Canace" entnommen ist, bemerken wir, daß Guerrazzi hier ein Motiv unmittelbar entlehnt hat. Es lautet : Posta s'era a seder sopra il suo letto La miserella vinta dal dolore. Ed avea nelle braccia Il figliuol pur mo nato: Questo disse è quel latte Che ti può dare il petto Di tua madre infelice, e trapassata Ogni cosa bruttando col suo sangue Fini la vita. Sterbebettszenen. An Blutrünstigem fehlt es nicht in den Sterbeszenen. Drengotto, dem Rogiero die Hand abgehauen, hat den Verband verloren, sein Bett ist eine große Blutlache (I, 273; Kap. 10). Heinrich der Lahme hat sich bei seinem Sturz schrecklich zugerichtet: Mund und Wangen sind blutüberströmt, die Nase zerquetscht, die Augen sind aus den Höhlen getreten (Kap. 9). Das Wesentliche an den Sterbeszenen sind aber nicht diese physischen Einzelheiten. Der Schauder, den die Schilderung des physischen Zustandes, des Blutes, erregt, ist nur ein Nebeneffekt. Die Todesszenen werden um ihrer selbst wegen eingelegt, um der pathetischen Wirkung des Sterbens willen. Der Romantiker genießt die Sterbestunde als etwas Feierliches, durch das Geheimnis des nahen Todes Unheimliches, Schauriges, durch die Nähe des nahen Jenseits Geheiligtes und wegen der Trennung vom Irdischen Schmerzliches und Rührendes, — als einen Augenblick, in dem das Pathos des Abschiedes seine höchste Steigerung erfährt, weil es der ewige Abschied ist. Die Guerrazzische Sterbeszene ist nun aber nicht die, wo Freunde und Anverwandte um das Bett des Sterbenden versammelt sind, von Trauer erfüllt, andächtig angesichts der Nähe des Todes, sondern was Guerrazzi in der Sterbeszene zu geben sucht, ist ein Effekt, der sich aus dem Abweichen von der rührenden und frommen Sterbeszene ergibt. Einmal sucht er durch das Ungewöhnliche der Umstände, unter denen das Ableben erfolgt, das Pathos ins Erhabene zu steigern. Am nächsten steht der frommen und rührenden Sterbeszene noch der Tod Berardos. Er stirbt, während sein Freund Gorello neben ihm liegt und ihm seine Treue versichert, dazu in Anwesenheit des Geistlichen, in einer Atmosphäre von Freundschaft und Gottesfurcht. Hier kommt aber schon eine tragische Note dadurch hinein.
Erster Abschnitt: Gesamtaufbau und HandlungsfQhrung. daß Berardo an gebrochenem Herzen stirbt, weil er erkennt, seine Frau zu Unrecht getötet und seinen Freund ohne Grund verdächtigt zu haben. Ferner stirbt er, ohne sich mit Gorello haben aussöhnen zu können; der Tod hat ihn vorher hinweggerafft (Kap. 12). — Heinrich der Lahme stirbt unter dramatischen Umständen. Er stirbt nicht im Bett, von Freunden umgeben und im Frieden, sondern im Kerker, in dem Augenblick, in dem er seinen Sohn wiedergefunden zu haben glaubt, in einem Anfall unbändiger Angst vor seinen Feinden. E r glaubt, man wolle ihn und Rogiero zusammen einsperren, springt auf, um es zu verhindern, stürzt hin, ist tot (Kap. 9). — Gorello stirbt, von dem erhabenen Schauspiel der Natur umgeben, dem Gewittersturm auf dem wilden Meer, vom Mastbaum getötet, den der Blitz gefällt hat: Gott selbst hat ihn hinweggerafft. Die Strafe Gottes hat ihn erreicht. Die Szene wird aber nicht nur durch den unmittelbaren Eingriff Gottes ins Erhabene gesteigert, sondern es wird auch eine Note des Greuelhaften hineingetragen. Der Todeskampf Gorellos wird breit geschildert: der Mastbaum hat ihm das Rückgrat zerschmettert, nun liegt er darunter, eine Körperhälfte ist gelähmt, die andere zappelt, die Hände reißt er sich blutig bei dem Versuch, sich herauszuziehen, schließlich stirbt er. Häufiger als die pathetische Steigerung ins Tragische und Erhabene gibt Guerrazzi die Durchkreuzung der frommen und sentimentalen Stimmung durch das Gotteslästerliche, durch Ehrfurchtslosigkeit, Fühllosigkeit, Zynismus und Grausamkeit. Eine unmittelbare Umkehrung der frommen und rührenden Sterbeszene ist der Tod Drengottos (Kap. 10). Nachdem ihm Rogiero die Hand abgeschlagen, tragen ihn die Räuber in seine Hütte. Drengotto ist ohnmächtig geworden. Die Räuber legen ihn aufs Bett und machen sich vor, er schliefe, damit sie sich nicht um ihn zu bemühen brauchen. Statt liebender Besorgnis Heuchelei, Gleichgültigkeit und Selbstsucht. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, setzen sich die Räuber zum Würfelspiel und trinken dabei Drengottos Wein aus. Da kommt Drengotto zu sich; mitten in die Rufe der Spieler mischen sich die Worte Drengottos, der erkennt, daß er im Sterben liegt. Nun will er sein Testament machen. Die Räuber versammeln sich eiligst um sein Bett. E r vermacht seine Waffen dem, der sie zuerst nimmt, den Wein ihnen allen. Da sagen sie, sie hätten ihn schon ausgetrunken, worauf Drengotto diesen Punkt streicht. Guerrazzi verwendet das Motiv des burlesken Testaments, um die ernste Sterbeszene mit Frivolität zu durchmischen. Hinzu gesellt sich die Gotteslästerung. Drengotto vermacht sein Geld seinen Kameraden, damit sie eine Partie Zara damit spielen können, statt daß Messen dafür gelesen werden. Schließlich bittet er, man solle seine abgeschlagene Hand im Walde suchen und zu ihm in den Sarg legen, damit man sie beim Jüngsten Gericht nicht erst zu suchen brauche. Über diesen Witz lachend, stirbt er. Zuletzt kommt noch durch die Schilderung
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
des Todeskampfes eine schaurige Note hinein. — Von Gotteslästerung umgeben ist der Tod Robertos. Rogiero weigert sich, ihm zu verzeihen, stößt den Priester, der für Roberto bittet, beiseite; dieser stürzt, verletzt sich und verschüttet das heilige Salböl, das sich mit seinem Blute vermischt. Unterdessen stirbt Roberto (Kap. 18). — Zynismus und Sadismus geben die besondere Note von Cerras Tod ab. Caserta sitzt an seinem Bett und wartet darauf, daß er stirbt. Cerra wird plötzlich von religiöser Exstase erfaßt: „Rinaldo . . . egli k un grande arcano la morte! potessi dire la millesima parte . . . di quello che vedo . . . alza gli occhi non contempli la gloria del cielo ?" Und mit gotteslästerlichem Zynismus antwortet Caserta: „ N o n vedo che il soffitto." Wie Cerras Sterben ihm zu lange dauert, stößt er ihm den Dolch ins Herz, weidet sich an dem Anblick, wie das H e f t von den letzten Herzschlägen zuckt, zieht es dann heraus und wischt die Klinge am Bauche des Toten ab. — Manfred stirbt auf dem Schlachtfeld. Caserta hat ihn seine Sünden beichten lassen, gibt sich dann zu erkennen. Manfred weist ihn von sich, aber Caserta sagt: Nein, gestatte vielmehr, daß ich mich setze, um die Krämpfe Deines Todeskampfes zu genießen.
Zweiter
Abschnitt.
Guerrazzis Geschichtsbild und die Verwendung des geschichtlichen Stoffes in der BdB. Wenn Guerrazzi in der BdB. die Entwicklung der Fabel und das Spannungsmäßige in den Vordergrund schiebt, so ist das, wie sehr auch das Schauerromanhafte zu den Stileigentümlichkeiten Guerrazzis überhaupt gehört, hier in der BdB. im wesentlichen als ein Notbehelf anzusehen, als ein Lückenbüßer für das, was Guerrazzi noch nicht mit dem historischen Stoff anzufangen verstand. Dies aufzuzeigen, werden wir im folgenden bemüht sein. Wir werden dabei in drei Etappen fortschreiten. Zuerst untersuchen wir das Verhältnis zu S c o t t , dessen Vorbild den Anstoß zur Abfassung der BdB. gegeben hatte. An einem Vergleich des Scottschen Romans mit der BdB. werden wir sehen, daß die Scottsche Geschichtsauffassung von der Guerrazzischen wesentlich verschieden ist. Dann zeigen wir, daß Guerrazzi Scott infolgedessen nur ganz unvollkommen nachahmen konnte. In einem zweiten Teil stellen wir den Roman Guerrazzis und Guerrazzis Geschichtsauffassung zu der Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung einer bestimmten
Zweiter Abschnitt: Guerrazzis Geschichtsbild.
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italienischen, mit Guerrazzi gleichzeitigen Historikerschule in Beziehung und betrachten die Eigentümlichkeiten der BdB. als eines historischen Romans als den Ausfluß dieser besonderen Art, die Geschichte zu sehen. Schließlich versuchen wir zu zeigen, daß Guerrazzi die Möglichkeiten, die in seiner Geschichtsauffassung für die Gestaltung des Romans beschlossen lagen, nicht voll erfaßt hatte. I. Scott und Guerrazzi. Wir gehen hier von einem Gedanken aus, den M a i g r o n einmal ausspricht (S. 11), und der in seiner Evidenz kaum eines Beweises bedarf (seine Richtigkeit oder Unrichtigkeit wird sich überdies in unserer eigenen Untersuchung zeigen müssen). Maigron sagt: ,,Si le roman historique n'est pas l'histoire, si même il en diffère tellement qu'il ne se peut rien de plus dissemblable, il n'est pas moins vrai que ses destinées sont intimément liées à celles de l'histoire et que des progrès ou de l'intelligence de celle-ci dépendent les mérites ou les défauts de celui-là." Die Verschiedenheit der BdB. (und nicht nur der BdB.) von den Romanen Scotts scheint sich uns nun dadurch zu erklären, daß Scott und Guerrazzi sich vom Wesen des geschichtlichen Geschehens vollkommen verschiedene Vorstellungen machten. 1. Scotts Gesdiiditsauffassung. Die Scottsche Geschichtsauffassung ist von Maigron nicht eigens dargetan worden. Wir wollen versuchen, sie uns klarzumachen, indem wir uns, auf Maigrons und auf eigene Untersuchungen gestützt, das Wesen des Scottschen Romans deutlich machen und nach dem Sinn dieser Wesenseigentümlichkeiten fragen. D a s Wesen des
Scottschen
Romans.
Was bildet den Kern der Darstellung in Scotts Romanen ? Nicht die getreuliche Darstellung in allen Einzelheiten, das wäre ja Geschichtsschreibung, sondern Scott will einen Ausschnitt aus dem Leben in einer bestimmten Epoche geben, ein Sittenbild entwerfen. Aus diesem Grunde gibt er eine erfundene Fabel und läßt auch sie recht schlicht und unkompliziert, denn sie soll ihm ja nur die Möglichkeit geben, eine Reihe von Bildern zu entfalten, in denen das Leben der Vergangenheit zur Anschauung gelangt. Das Leben der Vergangenheit, das will sagen, die Denkweise und die Lebensgewohnheiten früherer Menschen und ferner ihre äußeren Lebensumstände, ihre Behausungen, ihre Kleidung, ihre Städte und ihre Landschaft. Die Schilderung aller dieser Züge, die für die betreffende Zeit charakteristisch sind (denn wenn sie nicht charakteristisch wären oder wenigstens vom Leser als charakteristisch empfunden würden K l w e r t , Beiheft z. Zeiuchr. I. rem. PbiL L X X X I V .
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
hätten sie ja keinen Sinn) — das Lokalkolorit, macht den Kern von Scotts Roman aus. Daß er manchmal nur die Illusion des Charakteristischen geben konnte und durfte, wußte Scott selbst sehr genau; er sagte es in dem Vorwort zu Ivanhoe. Maigron hat gezeigt, wie Scott in Ivanhoe ein Sittenbild aus der Zeit des Richard Löwenherz entwirft, ein Momentbild aus einer historischen Entwicklung festhält, der Assimilation des alten sächsischen Adels an die normannischen Eroberer: hie Prior und Tempelritter, hie Cedric, Athelstane, Rowena. In Ivanhoe bleiben auch die historischen Ereignisse ganz im Hintergrund, wie in den meisten seiner Romane, denn es kommt ja nur auf das Kulturgeschichtliche, wie wir heute sagen, an. Die Gegensätze zwischen dem Prinzen Johann und Richard Löwenherz werden nur gestreift. In e i n e m Roman werden jedoch tatsächlich stattgehabte historische Ereignisse und historische Persönlichkeiten verwendet, es ist dies Quentin Durward. Da dieser Roman gerade darin mit der BdB. zusammenstimmt — denn die BdB. verwendet ja auch tatsächlich historische Ereignisse, wie wir gesehen haben —, wollen wir uns das Wesen des Scottschen Romans noch einmal an Qu. D. vor Augen führen, um den Unterschied zwischen Scott und Guerrazzi recht deutlich zu machen. In Qu. D. nehmen historische Ereignisse einen breiten Raum ein. Das Wesentliche nun ist, daß Scott damit in nichts von seinem Prinzip abweicht. Er schildert die historischen Ereignisse nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie sich in diesem einen Falle am besten zur Schilderung einer ganzen Zeit und einer ganzen geschichtlichen Entwicklung eignen. Die Absicht, die Scott in Qu. D. verfolgt, ist die Schilderung einer Zeit des Umbruchs, die Schilderung des sterbenden Mittelalters: des Gegensatzes zwischen der letzten Übersteigerung ritterlichen Geistes, die sich in Karl dem Kühnen von Burgund verkörpert, und dem aufstrebenden Geiste eines politischen Realismus, der in zynischer Offenheit sein Machtstreben zugibt, verkörpert in Ludwig X I . Es ist die Zeit, in der das Lehenswesen verfällt, die Achtung vor den Privilegien der Freistädte sinkt, und der Typ des monarchistischen, absolutistischen Staates sich entwickelt. Wenn Scott nun den Aufstand der Lütticher, Ludwigs X I . Anwesenheit in P6ronne und dessen durch Karl den Kühnen erzwungenen Zug gegen die Lütticher darstellt und damit auch die beiden historischen Gestalten in den Mittelpunkt rückt (während er sonst die historischen Gestalten im Hintergrunde läßt), so tut er das nicht, um den Leser mit jenen Vorgängen an sich bekannt zu machen, sondern erwählt diesen Abschnitt aus der Zeit und der Geschichte Ludwigs X I . , weil er hier in einer Reihe von eindrucksvollen Szenen den Geist der absterbenden Epoche mit dem der neuen konstrastieren kann: Ludwigs Spekulation auf den ritterlichen Geist Karls, Karls Skrupel, seine
Zweiter Abschnitt: Guerrazzis Geschichtsbild.
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Macht über Ludwig voll auszunützen; den Gegensatz zwischen dem Prunk Karls und seines Gefolges und der Schlichtheit Ludwigs, zwischen den ritterlichen Beratern Karls und den grobschlächtigen Parvenütypen um Ludwig. Einzelheiten in der Gestaltung des Romans lassen deutlich erkennen, wie sehr es Scott um die Darstellung dieser Zwiespältigkeit des Zeitgeistes zu tun war. A m Schluß des Romans (Kap. X X X V ) setzt K a r l als Preis für den, der ihm den Kopf De la Mareks bringt, Isabella von Croye aus. In einer Anmerkung rechtfertigt Scott die Einführung dieses Motivs. „ T h e perilling the hand of an heiress upon the event of a battle, was not so likely to take place in the fourteenth century (er meint 15. Jahrh.) as when the laws of chivalry were in more general observance. Y e t it was not unlikely to occur to so absolute a Prince as Duke Charles, in circumstances like those supposed." Welchem Leser kommt bei der Lektüre dieser Anmerkung nicht der Gedanke : wie altmodisch ist doch das Rittertum Karls! Die hier vorgetragene Auffassung von Qu. D. ist die, welche Scott seinen Lesern im Vorwort vom Jahre 1831 vorlegt. E r stellt dort an den Anfang seiner Ausführungen die Feststellung von den zwei widerstreitenden Geistesrichtungen im ausgehenden 15. Jahrhundert. „ T h e scene of this romance is laid in the fifteenth century, when the feudal system which had been the sinews and the nerves of national defence, and the spirit of chivalry, by which, as by a vivif y i n g soul, that system was animated, began to be innovated upon and abandoned by those grosser characters who centred their sum of happiness in procuring the personal objects on which they had fixed their own exclusive attachment. The same egotism had indeed displayed itself even in more primitive ages; but it was now for the first time openly avowed as a professed principle of action." Dann schildert Scott dem Leser den Charakter Ludwigs X I . als den eines Vertreters eben jener aufkommenden Menschenart, die dem Geist des Rittertums fremd gegenübersteht. Scott verwendet Ludwig X I . (und Karl den Kühnen) also nicht anders als die erfundenen Figuren des Romans (bzw. als die erfundenen Figuren in Ivanhoe), d. h. als typischen Vertreter einer sozialen Gruppe. In diesem Sinne hebt Scott dann hervor, daß er die Gestalt Ludwigs in den Mittelpunkt der Erzählung gerückt habe, weil sich an ihm der Umbildungsprozeß, in dem Europa im 15. Jahrhundert sich befand, am besten veranschaulichen ließ. — W a s Maigron über die historischen Gestalten in den Romanen Scotts, insbesondere über Ludwig X I . sagt, scheint uns das Wesentliche unbeachtet zu lassen (S. 93) : sa (sc. Walter Scotts) grande originalité a été de toujours subordonner le caractère individuel à la fonction royale, bien mieux d'expliquer toujours le caractère par la fonction. Louis X I . est subtil, soupçonneux, défiant, canteleux, tyrannique: mais ne 5*
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
fait il pas servir tous ces défauts ou toutes ces qualités, à l'agrandissement de son royaume ?" Die typische überindividuelle Bedeutung Ludwigs ist hier nicht gesehen. Da es Scott auf das Zeitbild ankommt, läßt er auch die Liebesgeschichte zwischen Quentin und Isabella, die sonst von anderen in andersgearteten Romanen zum eigentlichen Gegenstand der Erzählung gemacht worden wäre, in den Hintergrund treten. Er hebt selbst hervor: ,,it will be easily comprehended that the little intrigue of Quentin is only employed as the means of bringing out the story", d. h. es war ihm nur darum zu tun, ein Konstruktionsmotiv zu haben, das ihm die Zusammenfügung der einzelnen Szenen zu einem einheitlich komponierten Ganzen gestattete. Eine Bemerkung am Schluß des Vorwortes zeigt schließlich, wie Scott die Intrige selbst, die erfundene Handlung, zu einem kulturgeschichtlichen Anschauungsstoff gestaltete. Isabella flüchtet zu Ludwig, weil Karl sie gegen ihren Willen verheiraten will. Wieder in Karls Gewalt, will er sie wieder ungefragt verheiraten und setzt sie schließlich als Preis für den Sieger in der Schlacht. ,,The mainspring of the plot is that which all who know the least of the feudal system can easily understand, though the facts are absolutely fictitious. The right of a feudal superior was in nothing more universally acknowledged than in his power to interfere in the marriage of a female vasall." Die erfundene Handlung beruht in ihrer Voraussetzung auf einer der zu der geschilderten Zeit herrschenden Sitte und dient damit zur Veranschaulichung derselben. Es zeigt sich, warum Scott ruhig eine erfundene Handlung benützen kann. Ob die erzählten Ereignisse sich wirklich zugetragen haben oder nicht, ist für ihn ganz unwesentlich, wenn sie nur derart sind, daß sie nach den Verhältnissen der Zeit, in der sie spielen, so h ä t t e n s e i n k ö n n e n , denn nicht Ereignisse will er berichten, sondern Sitten schildern. Aus diesem Grunde sind auch bei der Erzählung der historischen Ereignisse chronologische Ungenauigkeiten vollkommen gerechtfertigt. So läßt Scott in Qu. D. die Ermordung Louis' von Bourbon zu der Zeit stattfinden, wo Louis XI. sich in Péronne aufhält (Kap. XXII). Da er aber kein Geschichtswerk schreiben will, ist diese Ungenauigkeit unwesentlich. Er hebt es selber in einer Anmerkung hervor. Wichtig ist ihm aber die Einführung des für die Zeitverhältnisse charakteristischen Ereignisses in die Erzählung, um das Zeitgemälde zu vervollständigen. Scotts Geschichtsauffassung. Was bedeutet es nun, daß Scott in seinen Romanen, die er historische nennt, die Erzählung der historischen Fakten, der Begebenheiten, die den Stoff der Geschichte bilden, zugunsten erfundener Ereignisse vernachlässigen und sogar auf chronologische
Zweiter Abschnitt: Guerrazzis Geschichtsbild. Genauigkeit verzichten kann, was bedeutet es, daß er vor allem und im wesentlichen die kulturellen Zustände schildern will ? Nichts anderes, als daß für Scott die Geschichte nicht mehr bloß aus Kriegen und Fürsten besteht, sondern daß sich ihm der Begriff des geschichtlichen Seins erweitert hat zu der Vorstellung kulturellen Lebens. S c o t t zeigt sich damit als der Zeitgenosse H e g e l s , der in seiner Philosophie der Geschichte (Vorlesungen in den Jahren 1822—1831; als Buch Veröffentlichung 1837; Ivanhoe 1820, Quentin Durward 1823) diese Geschichtsauffassung philosophisch formulierte: Die Totalität der kulturellen Äußerungen des Menschen als dem eigentlichen Stoff der Geschichte, als der Erscheinung, in welcher sich der Geist verwirklicht. Die hiermit verbundene Auffassung der Geschichte als einer Entwicklung kommt auch in den Romanen Scotts zum Ausdruck. Sie wird in Ivanhoe und in Qu. D. künstlerisch gestaltet im Bilde zweier sich ablösender Gesellschaftsordnungen. Schließlich finden wir auch bei Scott die großen historischen Persönlichkeiten in gleicher Weise aufgefaßt wie bei Hegel. A l s Persönlichkeiten, in deren partikulären Handlungen, ohne daß sie es selbst wissen, sich der Sinn einer Epoche erfüllt. W i r sehen Ludwig als Individuum auftreten und handeln, aus der Notwendigkeit der einzelnen Situation heraus im Einklang mit seiner Art zu handeln und mit den persönlichen Wünschen, die ihn bewegen. Außerdem zeigt aber Scott, welche Bedeutung Ludwig in der geschichtlichen Entwicklung zuk o m m t : in ihm gewinnt der absolutistische, nichtfeudale Staat Gestalt. (Hegel S. 66: „Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigene partikulare Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist.") Der Leser sieht Ludwig und Karl ihre partikularen Zwecke verfolgen, als Gesamteindruck des ganzen Romans bleibt ihm das Bild einer Entwicklung, die sich in dem K a m p f e der beiden erfüllte. (Hegel: „ D a s besondere Interesse der Leidenschaft ist also unzertrennlich von der Betätigung des Allgemeinen; denn, es ist aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation, daß das Allgemeine resultiert. Es ist das Besondere, das sich aneinander abkämpft, und wovon ein Teil zugrunde gerichtet w i r d " [S. 70].) Wenn wir die Form des Scottschen Romans als den bildhaften Ausdruck der Auffassung der Geschichte als Entwicklung so, wie sie für die gleiche Zeit Hegel philosophisch formulierte, auffassen, so wird es ohne weiteres wahrscheinlich, daß ein Autor mit einer anderen Auffassung der Geschichte die Geschichte im Roman auch ganz anders gestalten wird, eine andere A r t von historischem Roman schaffen wird. Und zwar wird man das um so eher von vornherein annehmen dürfen, als der Zusammenhang von Geschichtsauffassung und Gestalt des Romans, den w i r n a c h t r ä g l i c h durch den Vergleich mit anderen Arten der Geschichtsauffassung und anderen Formen des historischen Romans aufzeigen können, dem Künstler
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
selber verborgen geblieben sein dürfte. Tatsächlich ist dieser Zusammenhang Guerrazzi, von dem hier die Rede ist, in dem Maße verborgen geblieben, daß er — ohne zu wissen, daß ihm die Voraussetzung für die Schaffung eines Romans in der Art Scotts fehlte — versucht hat, diesen nachzubilden, wodurch das Entlehnte sofort als etwas sichtbar wird, das nicht zum eigenen Stil gehört. Wir wollen nun zeigen, welcher Art Guerrazzis Geschichtsbild war und die Auswirkung dieses Geschichtsbildes in der Romanform untersuchen. 2. Guerrazzis Gesdiiditsbild. „Concepire la storia come svolgimento e progresso importa accettarla come necessaria in ogni sua parte, e perciò rifiutare in essa validità ai giudizi negativi ossia ai biasimi e alle condanne . . ." sagt Benedetto C r o c e (I, 26), damit nochmals die Folgerung wiederholend, die sich H e g e l aus seiner Betrachtung der Geschichte ergeben hatte. Hegel hatte gesagt: „Denn die Weltgeschichte bewegt sich auf einem höheren Boden als der ist, auf dem die Moralität ihre eigentliche Stätte hat, welche die Privatgesinnung, das Gewissen der Individuen, ihr eigentümlicher Wille und ihre Handlungsweise ist; diese haben ihren Wert, Imputation, Lohn und Bestrafung für sich. Was der an und für sich seiende Endzweck des Geistes fordert und vollbringt, was die Vorsehung tut, liegt über den Verpflichtungen und der Imputationsfähigkeit und Zumutung, welche auf die Individualität in Rücksicht ihrer Sittlichkeit f ä l l t " (S. 1 1 1 ) . In gleicher Weise fehlt auch bei Scott die moralische Wertung des Geschehens. Wohl hält Scott mit einem abschätzigen Urteil über den Charakter Ludwigs und über die moralische Verwerflichkeit seiner Handlungen nicht zurück, aber er erkennt auch und stellt dar ihre Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit. Dies kommt eindeutig darin zum Ausdruck, daß er bei der Darstellung des Kampfes von Ludwig gegen Karl stehenbleibt und nicht im entferntesten daran denkt, aus der Betrachtung desselben eine historisch-moralische Lehre zu ziehen. Die Darstellung der geschichtlichen Lage ist Selbstzweck: Veranschaulichung einer Entwicklung; darüber hinaus will Scott nicht ein lehrreiches Beispiel dafür liefern, wie Fürsten handeln sollen oder nicht. Guerrazzi ist nun die Vorstellung von einer geschichtlichen Entwicklung, die sich durch die partikularen Handlungen der Einzelnen verwirklicht, ohne daß sie darum wissen, und in deren Lichte betrachtet es unwesentlich ist, ob die betreffenden Handlungen moralisch verwerflich sind oder nicht, unbekannt. Guerrazzi bleibt in einer veralteten Vorstellung befangen, daß Geschichte nichts anderes sei als das, was die einzelnen Individuen an willentlichen Handlungen vollbringen, und daß diese Handlungen moralisch zu billigen und zu verwerfen sind. E r kennt den Begriff der Entwicklung nicht. Nur
Zweiter Abschnitt: Guerrazzis Geschichtsbild.
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einer, dem die neue Art, die Geschichte zu sehen, fremd war, konnte schreiben — um nur eine Äußerung von vielen zu zitieren — (BdB. I, 186): „Sebbene tessendo la storia dei figli di Adamo, si venga necessariamente . . . a raccontare una storia di delitti . . ." Was heißt das anderes, als daß hier die Geschichte als lediglich in den Einzelhandlungen der historischen Persönlichkeiten bestehend aufgefaßt wird, denn nur für solche hat die moralische Wertung einen Sinn. Von dem höheren Sinne, der sich in den Einzelhandlungen erfüllt, weiß er nichts. Das zeigt sich auch deutlich in den eingelegten historischen Kapiteln 6, 7, 8. Guerrazzi gibt hier einen Abriß der Geschichte Italiens unter den Hohenstaufen bis zu Manfred. Wie weit sind wir hier aber von jener Geschichtsauffassung, die das gesamte kulturelle Leben als das in Entwicklung Seiende begreift. Weit davon die soziale, kulturelle und politische Entwicklung Italiens von Barbarossa bis Manfred nach ihren wesentlichen Linien zu skizzieren, so etwa, wie das für das 15. Jahrhundert Scott in der Einleitung zu Quentin Durward getan hatte, gibt uns Guerrazzi nur eine Reihe politischer Handlungen und Vorgänge, ohne an die kulturellen und sozialen Hintergründe zu denken, dabei die Handlungen der Fürsten moralisch wertend, nicht sie nach ihrem eigenen Sinne ergründend. Ein kurzer Abschnitt möge diese chronistenhaft anekdotische und moralisierende, nur das Äußerliche der Geschehnisse wahrnehmende Geschichtsbetrachtung veranschaulichen (I, 140): „Federigo, andando a Viterbo, incontra il pontefice Adriano nei campi di Sutri. Era costume che i regnanti incontrando il pontefice gli si prostrassero, gli baciassero il piede, gli tenessero la staffa, e la Chinea per lo spazio di nove passi romani gli conducessero. Lo Svevo sdegnando coteste cerimonie, si fa arditamente incontro ad Adriano, che lo respinge, e gli nega il bacio della pace. I cardinali spaventati fuggono a Civita-Castellana: una aperta rottura sembrava imminente, allorché Federigo, mosso dall'esempio di Lotario II, si dispone fare a Nepi quello che aveva ricusato a Sutri, e cosi pacificato col Papa s'incamminano insieme alla volta di Roma. È fama che Federigo, nell'eseguire queste cerimonie, sbagliasse staffa; la qual cosa essendogli fatta osservare da un famigliare del Papa, rispondesse: ch'egli non aveva mai fatto lo staffiere, volendo con questo mordere la bassa nascita di papa Adriano, come se non fosse maggior gloria di piccolo farsi potente, che nato grande mantenersi in grandezza." Die gleiche Unfähigkeit, mehr als die bloße Oberfläche der Ereignisse zu sehen, zeigt sich nun auch in der Auffassung des Stoffes der BdB. Guerrazzi wählt zum Thema die Geschichte des Unterganges Manfreds. Welches sind nun die Gründe, die dazu geführt haben ? Guerrazzi sieht letztlich deren zwei : einmal wollte Beatrix von Anjou wie ihre Schwestern ebenfalls eine Krone tragen, darum
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Erstes Kapitel: Die Battaglia di Benevento.
treibt sie ihren Gatten dazu, Manfreds Reich zu erobern (Kap. X I = I, 285) : „ S e molto la naturale cupidigia lo stimolava a quell'acquisto, non meno ve lo stimolarono le vivissime istanze della sua moglie Beatrice . . . Per quello che narrano le chronache del tempo, la cagione di questa caldezza di Beatrice fu che poco innanzi, essendo convenuta a Parigi insieme con le altre sorelle . . . l'avevano fatta sedere un grado più basso, imperciocché ella non portava corona reale." Zweitens hat Manfred die Spina besessen, bevor sie Caserta gehört hat, weswegen Caserta die Verschwörung gegen ihn anzettelt und Karl von Anjou den Garigliano überschreiten läßt. Freilich gibt Guerrazzi auch andere Gründe an. So die Unzufriedenheit des Adels, dessen Privilegien Manfred beseitigt, und dessen Burgen er geschleift habe (II, 185). Ferner wird angedeutet, daß die Adligen von der anderen Seite her v o m aufsteigenden Bürgertum in die Enge getrieben würden (II, 188). Diese Gründe werden aber nur ganz beiläufig in die Rede, die Cerra zur letzten Überredung der Barone hält, eingestreut, fast so, daß sie übersehen werden (Kap. 23). Man sieht, wozu mit dieser Auffassung ein Stoff gegeben wäre: aufstrebendes Bürgertum, absolutistische Bestrebungen eines aufgeklärten Herrschers, Widerstand eines um seine Existenz kämpfenden Adels; das hätte eine Schilderung einer Zeit des Umbruches, wie sie Scott in Quentin Durward gegeben hatte, die Schilderung einer sozial und völkisch aufgespaltenen Gesellschaft abgeben können. 3. Zeitkolorit in der
BdB.
Das Entscheidende ist nun, daß Guerrazzi diese Möglichkeiten nicht gesehen hat. Nach seiner Geschichtsauffassung waren die persönlichen Gründe Karl von Anjous und Casertas zur Erklärung völlig ausreichend. Da er aber den Untergang Manfreds nicht als das Ergebnis sozialer und kultureller Umschichtung ansah, konnte ihm nicht der Gedanke kommen, diese Umschichtung darzustellen. Damit war bei ihm aber auch nicht die Vorbedingung gegeben, in seinem Roman die Sitten, Lebensgewohnheiten und Lebensumstände Süditaliens im 13. Jahrhundert zu schildern, d. h. wie Scott Sitten und Denkweise, Kleidung und Wohnung der betreffenden Zeit zu veranschaulichen, das innere und äußere Lokalkolorit zu geben. Andererseits war nun aber das Beispiel Scotts im Italien des Jahres 1827 so mächtig, daß das Vorhandensein von couleur locale im Roman nahezu unerläßlich wurde. Dieser Mode konnte sich auch Guerrazzi nicht entziehen. Wenn wir also nun die BdB. betrachten, so sehen wir, daß in ihr jegliche e c h t e couleur locale fehlt, daß Guerrazzi nach Möglichkeit überhaupt dem Lokalkolorit aus dem Wege geht, daß er andererseits aber seinem Roman doch etwas
Zweiter Abschnitt: Guerrazzis Geschichtsbild.
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Lokalkolorit zu geben versucht, offensichtlich nur einem äußeren Zwange folgend, widerwillig und verständnislos. Wir untersuchen zuerst, wie es in der BdB. mit der inneren couleur locale, mit der Echtheit der Sitten und Anschauungen steht, und dann, wie es mit der äußeren couleur locale, der Schilderung des Kostüms und des Dekors, Kleidung und Wohnung bestellt ist. (Mit dieser Unterscheidung folgen wir Maigron, vgl. S. 53 u. a.) Couleur
locale
intérieure.
Die Frage nach der Zeitechtheit von Anschauungen und Sitten kann nur durch eine Darlegung der Charaktere der in der BdB. auftretenden Personen voll anschaulich gemacht werden. Wir beschränken uns hier darauf, einige bezeichnende Eigentümlichkeiten hervorzu heben. Was die Unechtheit der Denk- und Empfindungsweise angeht, so sei hier nur kurz an die Art erinnert, wie Manfred seine Gefühle in die Natur hineinlegt, und wie diese Gefühle romantisch übersteigert sind (vgl. o. S. 55f.). Oder man denke daran, wie Rogiero in seinem ersten Monolog ausruft: ,,E poi cosa sarebbe lo impero d'Italia? Cosa quello del Mondo? Potresti essere il più grande di tutti i mortali, ma pur sempre mortale; il più forte tra gli uomini: — ma chi vanta nel braccio la forza del turbine ? Il più sapiente dei figli della terra: — ma chi ha l'intelletto dei figli del cielo ?" (Kap. I = I, 47). Was ist das anderes als romantische Vergänglichkeitssentimentalität, Klage über die Nichtigkeit des Menschen und Protest gegen seine Sterblichkeit (Byron, Caini), als der Wunsch nach titanischer Kraft, forza del turbine, und göttlicher Allwissenheit ? Wir hören hier geradezu die ganze Motivskala romantischer Empfindung anklingen. Und dies findet sich auf jeder Seite der BdB., wo man auch aufschlagen möge. Nun finden sich auch bei Scott Fälle von manifester Unechtheit in der Charaktergestaltung; Ivanhoe selbst ist der romantische sentimentale Liebhaber; Hayraddin, der Zigeuner in Qu. D., der romantische Rebell und Feind der Gesellschaft. Doch tritt das bei Scott nicht so in Erscheinung, weil er die Mißtöne durch die zeitechte Schilderung der Sitten und des Dekors vertuscht, wo er nicht, wie bei Ludwig X I . und Karl, wirklich der Zeitechtheit sich nähert. Mit der Schilderung der Sitten ist es bei Guerrazzi jedoch recht kläglich bestellt. Die Gestaltung der Intrige möge zeigen, wie es ihm im Grunde überhaupt nicht darum zu tun ist. Wir erinnern uns daran, wie in Qu. D. die erfundene Handlung einen besonderen Zug mittelalterlicher Sitte veranschaulichte, und mit welcher Sorgfalt Scott auf die Zeitechtheit der Handlung sah, als er sich fragte, ob Isabella von Croye wirklich von K a r l dem Kühnen als Preis für den Sieger hätte gegeben werden können. Mit der Handlung um
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Rogiero ist aber nichts verbunden, was für das 13. Jahrhundert charakteristisch wäre, sondern die ganze erfundene Handlung beruht auf so phantastischen Voraussetzungen, wie sie nirgends und niemals sich erfüllen: eine Frau, die getötet wird, ohne daß ihr Liebhaber, der dauernd mit ihrem Manne in Verbindung ist, etwas erfährt; ihr Kind, das aufwächst, ohne daß ihr Mann davon weiß, und ohne daß das Kind in 20 Jahren etwas über seine Abstammung erfährt. Der Ausgangspunkt, ein Ehebruch, kann zu allen Zeiten sich begeben, nicht nur im 13. Jahrhundert. Zur Schaffung des Zeitkolorits trägt es nicht nur nicht bei, sondern zerstört es vollkommen, wenn Sitten und Anschauungen des Mittelalters eingeflochten werden, die Romanfiguren sich aber dazu stellen, wie es kein mittelalterlicher Mensch getan hätte. So soll ein Duell darüber entscheiden, ob Cerra schuldig ist oder nicht (Kap. 24) ; es soll also ein Gottesgericht stattfinden. Als der Vorschlag gemacht wird, läßt Guerrazzi Manfred aber dagegen protestieren und zwar mit Gründen, die ganz im Stile des Rationalismus des 18. Jahrhunderts sind. In gleicher Weise illusionszerstörend ist es, wenn Roberto Rogiero fragt (Kap. 4), ob er an die Prophezeiungen des Astrologen sich erinnere, und Rogiero antwortet: „Santa Rosalia! Codeste sono vanità; io le ho affatto dimenticate" (I, 109). Bei der fast durchgängigen Unechtheit, ja Phantastik in der Darstellung der Sitten spielt es keine Rolle mehr, wenn Guerrazzi gelegentlich sich um zeitechte Sitten bemüht. So, wenn er eine Herausforderung in vollem Wortlaut abdruckt und den Empfänger dem Boten nach mittelalterlicher Sitte ein Geschenk machen läßt (Kap. 26), oder wenn er eine Diskussion über die Berechtigung der Formel salva vostra grazia einlegt (Kap. 26), oder wenn er durch Verwendung von Redewendungen aus der Bibel und dem Koran der Redeweise des Emirs Yussuf einen Anstrich von Echtheit zu geben versucht (II, 253, 2 7 7 f . , 3 3 3 f.). Couleur locale extérieure. Was die Schilderung des Dekors und der Kostüme angeht, so ist als Grundtendenz festzustellen, daß Guerrazzi beides möglichst unterläßt. Es werden in der BdB. die örtlichkeiten, an denen die Handlung spielt, bis auf wenige Fälle nicht geschildert (vgl. o. S. 44 t.). Das gleiche gilt für die Beschreibung der Kleidung der Personen. Auch hier wird, bis auf wenige Fälle, nichts angegeben. Damit fehlt aber das Element, das bei Scott zum größten Teil dazu dient, das Bild mittelalterlichen Lebens zu entwerfen. Andererseits bildet nun aber die Schilderung von Dekor und Kostüm einen so auffälligen Bestandteil des historischen Romans, wie Scott ihn geschaffen hatte, daß ein historischer Roman ohne das einfach unvollkommen erschienen wäre. Darum sah sich wohl auch Guerrazzi genötigt, derlei Schilderungen zu geben.
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Bezeichnend für ihn aber ist, daß er offenkundig zeigt, daß er das nur gezwungenermaßen tut, und daß ihm Beschreibungen langweilig und unwichtig sind. Damit dokumentiert er aber, daß ihm der Sinn der Schilderung von Ort und Gewandung verschlossen geblieben. Für seine Einstellung kennzeichnend ist die Bemerkung, die er der Schilderung Cerras vorausschickt (I, 97): „Dicono i maestri dell'arte, che la esatta descrizione delle sembianze, e delle vesti di un personaggio . . . giovi maravigliosamente a procacciare attenzione al racconto. Noi son sappiamo quanto questo possa esser vero; ma siccome i maestri meritano sempre rispetto, cosi non esitiamo un momento di descrivere il nuovo personaggio . . . " — Der geringe Wert, den Guerrazzi der Beschreibung beimißt, äußert sich ferner darin, daß, wenn er sich einmal dazu aufrafft, er sich ihrer möglichst rasch entledigt, und zwar in einer Weise, daß er dem Leser auch zeigt, daß es ihm darum zu tun ist, mit der Sache fertig zu werden. So sagt er, um die Beschreibung Cerras abzukürzen (I, 99): „Questo era a un dipresso il suo abbigliamento, quantunque molte cose per amore di brevità tralasciamo." Oder er beschreibt die Soldaten im Hofe von Buosos Burg (Kap. 15) und bricht nach einer halben Seite mit der Bemerkung ab (I, 398): „Altri altra cosa, che a dirle tutte verrebbero meno i moccoli." Oder er schließt die Beschreibung des Einzuges Karls von Anjou und des Papstes in Rom mit der Bemerkung (Kap. 16 = II, 12): „Seguivano quindi i principali Baroni di Provenza e di Francia con vesti ed arme diverse, che a descriverle tutte andremmo di leggieri a mille e più pagine, con troppo gran danno dei nostri editori." Oder er spart sich die ausführliche Schilderung der Adelsversammlung (Kap. 24) mit der Bemerkung (II, 205): „Seguitavano dopo di lui gli ufficiali della corona nel seguente modo, che minutamente descrivere sarebbe troppo grande fastidio nostro e altrui." Wenn wir nun die wenigen Kostümbeschreibungen in der BdB. betrachten: die Beschreibung Cerras (Kap. 4), die Beschreibung des Papstes, Karls von Anjou und Beatrix' beim Einzug in Rom (Kap. 16) und die Ratsversammlung (Kap. 24), so wird uns ohne weiteres klar, warum Guerrazzi Beschreibungen unnnütz und langweilig erscheinen mußten. Es zeigt sich in ihnen, was Guerrazzi abging: der Blick für das Einmalige, Besondere und Charakteristische. In der Kleidung Cerras (I, 99) ist nichts, das für das Wesen Cerras bezeichnend wäre, nichts, das ihn eindeutig als Menschen des 13. Jahrhunderts kennzeichnete. Bezeichnend ist, daß Guerrazzi die Beschreibung schließt mit den Worten: „Questo era a un d i presso 1 ) il suo abbigliamento." — Worauf es aber bei diesen Beschreibungen ankommt, ist gerade die Genauigkeit, die Erfassung !) Sperrdruck von mir.
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eines bezeichnenden Details. Vollends unsinnig ist es, wenn ein solches Detail gegeben wird, das aber gar keinen Aussagewert besitzt, wie es hier der Fall ist: Guerrazzi fügt noch hinzu, Cerra habe ein Schwert besessen, dessen Griff kreuzförmig war, wie es bei denen der Kreuzritter üblich war. Wozu diese Einzelheit gegeben wird, bleibt unverständlich. Cerra ist kein Kreuzritter, noch ist er es gewesen. Auch wird an ihm weder ein martialischer noch ein religiöser Zug herausgearbeitet. Guerrazzi kommt auf diese Weise nie über eine ganz vage Suggerierung mittelalterlichen Kostüms hinaus, hier, wo er Cerra schildert, und auch bei den anderen längeren Beschreibungen nicht. Um nur ein allgemeines und unscharfes Bild zu schaffen, dazu brauchte er — und das fühlte er wohl — keine langen Beschreibungen. Dazu genügten ihm Angaben wie: ein Mönch in einer Kutte, ein gepanzerter Ritter mit geschlossenem Visier u. ä. Guerrazzis Kostümbeschreibungen bleiben von einer farblosen Allgemeinheit, die sie der K r a f t beraubt, über das Wesen des sie tragenden Menschen und die spezifische Zeitbedingtheit seines Wesens etwas auszusagen. W i r sind hier weit von der Kunst Scotts, in Ludwigs X I . schäbiger Kleidung schon den ganzen Menschen und seine historische Rolle anzudeuten, in der Reduktion der Narrenabzeichen in des Hofnarren Karls des Kühnen Kleidung das Ungewöhnliche seines Charakters sichtbar zu machen. Ebensowenig gibt es in der BdB. eine Ortsbeschreibung, die für den darin lebenden Menschen so charakteristisch wäre, wie etwa das Zimmer von Ludwigs Astrolog Galeotti in Quentin Durward. Von dem Zimmer, in dem Rogiero Buoso antrifft (Kap. 15), wird nur gesagt, daß eine Wand mit Teppichen behangen war, die mit Szenen aus dem Leben Karls des Großen und König Arturs bestickt waren, daß an einer zweiten Wand Waffen hingen, und daß schließlich die Fenster mit Bildern aus der biblischen Geschichte verziert waren. Daß solche Bilder in einer Burg etwas unwahrscheinlich sind, nebenbei. Hauptsache ist, daß hier Dinge angeführt sind, die nichts über den Charakter des Schloßherrn Buoso aussagen, und die in nichts einen Ghibellinen des 13. Jahrhunderts bezeichnen, sondern die nur eine allgemeine Atmosphäre von Mittelalterlichkeit erzeugen können. Außer diesem Innenraum wird in der BdB. nur ein einziger anderer beschrieben! Es ist dies das schwarz ausgeschlagene Zimmer, mit einem gotischen Schrein möbliert, in dem Caserta den Schädel seiner verstorbenen Frau verehrt. Hier von couleur locale zu reden, erübrigt sich (vgl. o. S. 45). W i r haben weiter oben gesagt (S. 72), Guerrazzi habe es nicht in den Sinn kommen können, Sitten und Lebensumstände in Süditalien im 13. Jahrhundert zu schildern, weil er Manfreds Untergang ja gar nicht als ein Ergebnis sozialer und kultureller Entwicklung begriff. Hätten wir nicht eher sagen sollen, daß Guerrazzi die Sitten
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usw. nicht schildern konnte, weil er nicht imstande war, das Einmalige und Besondere der historischen Erscheinung zu sehen ? Oder ist nicht beides identisch ? Geht der Sinn für das Einmalige und Besondere nicht Hand in Hand mit dem Blick für historische Entwicklung ? Croce scheint uns im Recht, wenn er sagt (I, 66): ,,E che era mai ciò se non la riconferma . . . del concetto di .svolgimento', il quale richiede ,il colore storico', ossia la v i v a coscienza del particolare nella sua determinatezza e genuina forma ?"
4. Guerrazzi und das Mittelalter. Als einen speziellen Fall von Guerrazzis genereller Verständnislosigkeit für die geschichtliche Erscheinung betrachten wir seine Verständnislosigkeit für das Mittelalter. Ebenso wie die entwicklungsmäßige Auffassung die moralische Wertung der Handlungen als unangebracht unterläßt, liegt es ihr fern, eine Sitte, eine Einrichtung, eine Denkweise der Vergangenheit als lächerlich zu bezeichnen, denn sie nimmt die Erscheinung als solche hin und findet in der Betrachtung ihres Soseins ihre Befriedigung. Der „malerische" Reiz des Mittelalters lag für den Romantiker eben in seinem Sosein. Altmodisch rationalistisch im Stile des 18. Jahrhunderts und fern von der romantischen Auffassung des Mittelalters als etwas gerade wegen seiner Beschaffenheit „Malerischem" zeigt sich Guerrazzi, wenn er an verschiedenen Stellen der BdB. mittelalterliche Einrichtungen als lächerlich bezeichnet oder parodiert. Durchgehends ironisch ist seine Schilderung des Klosters von San Paolo in Rom (Kap. 16). Er bezeichnet es als ein „ f ü r die damalige Zeit schönes" Gebäude. Die Gemälde, die die Taten der Apostel verherrlichten, seien die am wenigsten kümmerlichen (le meno triste) der damaligen Zeit gewesen. Ein A d a m sei auch zu sehen gewesen, der die Erde mit einem schönen eisernen Spaten umgrub. Guerrazzi ist weit davon, über die fromme Kindlichkeit der mittelalterlichen K u n s t in Verzückung zu geraten. In gleicher Weise macht er sich über das Wappen des Erzbischofs von Cosenza lustig (Kap. 28 = II, 367), das drei silberne Bratpfannen führte. A l s Parodie und nicht als ein Versuch Lokalkolorit zu geben, ist das Lied der Hofdame Matelda im zweiten Kapitel aufzufassen (I, 63). Seine mit bisticci geschmückte alberne Inhaltslosigkeit stellt eine Lächerlichmachung der Reimspielereien der mittelalterlichen Dichtung dar. Z u s a m m e n f a s s e n d : eine der zur Herrschaft gelangten Auffassung der Geschichte als einem Entwicklungsprozeß fremd gegenüberstehende Geschichtsauffassung bei Guerrazzi, daher Fehlen wirklichen Zeitkolorits in der BdB. und trotzdem, unter dem Einfluß Scotts, ein mißglücktes Bemühen, couleur locale zu machen — das ist das Ergebnis unseres Vergleiches der BdB. mit den Romanen Scotts. Damit haben wir aber, außer der Feststellung von Guerrazzis
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Geschichtsbild, nichts Positives gewonnen. Wir haben die Eigenart der BdB. nur negativ bestimmt: Sie ist nicht so wie ein Scottscher Roman. Wie ist sie also dann ? II. Guerrazzi und die zeitgenössische italienische Geschichtsschreibung. Verglichen mit Scott, der europäischen Modeerscheinung der zwanziger Jahre, könnte die BdB. als ein Werk erscheinen, das mit seiner ihm zugrunde liegenden Geschichtsauffassung schon bei der Veröffentlichung veraltet war. Das hieße aber die besonderen italienischen Verhältnisse vergessen. Die BdB. ist in Italien erschienen, und dort steht sie nicht als etwas Altmodisches abseits, sondern sie steht im Einklang mit einer ganz bestimmten Richtung des damaligen italienischen Geisteslebens. 1. Evolutionistische and nidrt-evolutionistische Gesdiiditssdireibung in Italien. Freilich war auch in Italien die Vorstellung von der Geschichte als kultureller Entwicklung die herrschende. Die evolutionistische Auffassung lag schon dem 1799 geschriebenen Saggio slorico sulla rivoluzione di Napoli von Vinzenzo C u o c o zugrunde (Croce I, gif.). Mit einer katholisch-liberalen Beifärbung bildete sie die Grundlage der Geschichtsbetrachtung der bis 1848 herrschenden sogenannten ,,guelfischen" Historikerschule, zu der Manzoni, Troya, Capponi, Balbo, Gioberti, Tommaseo u. a. gehören, und als deren erstes Werk M a n z o n i s Discorso sopra alcuni punti di storia longobarda 1822 erschien (Croce I, 23—26 und i25ff.). Daneben blieb aber in Italien noch eine andere Auffassung der Geschichte durch eine andere Gruppe von Historikern vertreten, die dem Gedanken der Entwicklung fremd und verständnislos gegenüberstand. Der wichtigste Vertreter dieser Auffassung in der Zeit des Empire und der Restauration war C a r l o B o t t a . Er lehnte prinzipiell die in Mode kommende Geschichtsphilosophie ab und blieb in der alten Auffassung der Geschichte als einer Häufung von Handlungen einzelner befangen. Er untersuchte die geschichtlichen Ereignisse nicht nach dem, was sie bedeuten, sondern „spendete nur Lob und Tadel, wo es darauf ankam, zu verstehen" (Croce I, 78ff.; das Zitat I, 81). Von Botta unterschied sich die Gruppe der „ghibellinischen" Historiker, die einer späteren Generation als Botta angehören, durch ihre Zuwendung zum Mittelalter und durch eine weniger skeptische Einstellung. Sie blieb aber mit Botta eins in der Verständnislosigkeit für den Begriff der Entwicklung. Ihre Geschichtsauffassung blieb anekdotisch-moralisierend. Statt der inneren Notwendigkeit, die die geschichtliche Entwicklung bestimmt, sahen sie immer noch den
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Gang der Ereignisse „come dovuto alla cattiveria o alla bontà di singoli individui e istituzioni" (Croce I, 182). Zu dieser Gruppe gehören der Dramatiker Giambattista Niccolini, Antonio Ranieri, A t t o Vannucci und Giuseppe la Farina. Ihre historischen Werke erschienen in der Zeit nach 1840, doch war ihre Geschichtsauffassung schon m i t N i c c o l i n i s Drama Giovanni da Procida, das 1830 aufgeführt wurde, öffentlich vertreten.
2. Die BdB. als erster nidit-evolutionistisdier historisdier Roman. Im Rahmen dieser Verhältnisse bekommt nun das literarische Werk Guerrazzis eine besondere Bedeutung. E s erscheint durch die zugrundeliegende Geschichtsauffassung dieser einen Strömung des italienischen Geisteslebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigeordnet. Seine historischen Romane stellen sich als die besondere Romanform dar, die zu dieser nicht-entwicklungsgläubigen Geschichtsauffassung gehört, während die Romane von Manzoni und dessen Schülern der anderen Geschichtsauffassung zugeordnet sind. Diese bezeichnen wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchung kurz als evolutionistische Romane, jene als nichte volutionistische. Zum Wesen der nicht-evolutionistischen Geschichtsschreibung Bottas und der ghibellinischen Historiker gehört zunächst einmal eine unvollkommene Vorstellung vom Wesen der geschichtlichen Forschung. Sie verachten die nun zur Selbstverständlichkeit werdende Quellenforschung und besitzen kein Verständnis für die Notwendigkeit der Quellenkritik. Ihr Verhalten den Quellen gegenüber ist vollkommen unkritisch (Croce I, 79; I, i68f.). Sie sehen nicht die Darstellung des geschichtlichen Vorganges als das Endziel ihrer Bemühungen an, sondern sie benützen den geschichtlichen Stoff zur Erzielung rhetorischer und moralischer Effekte (Croce I, 81, i7off.). Ihre Werke sind ein Mittelding zwischen wissenschaftlicher Darstellung und Belletristik. Ohne Sinn für den Wert wissenschaftlicher Genauigkeit schmücken sie ihre Werke mit phantastischen Schlachtenschilderungen, erfundenen Reden der Feldherren und Staatsmänner und mit poetischen Ortsbeschreibungen. Wie nun bei diesen Historikern das Gefühl für die Grenze zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und Belletristik fehlt, so fehlt es auch bei Guerrazzi. Er sieht keinen scharfen Unterschied zwischen historischem Roman und Historiographie. Wie sehr Guerrazzi davon entfernt war, eine Grenze zwischen beiden zu ziehen, zeigt allein schon die Tatsache, daß er die drei Kapitel 6, 7 und 8 in die BdB. einschiebt, in denen er eine lange weitschweifige Erzählung der Geschichte Süditaliens gibt. Noch bedeutsamer ist jedoch die Tatsache, daß Guerrazzi nicht nur diese Kapitel, wo es verständlich wäre, sondern auch andere, in denen
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romanhaft geschildert wird, als historiographische Leistungen betrachtet. D a ß das wirklich der Fall war, zeigt uns eine Bemerkung Guerrazzis aus späterer Zeit. In seinem Roman Beatrice Cenci, der 1854 erschien, erwähnt er kurz im 18. Kapitel, daß Manfred seinen Vater Friedrich ermordet habe und spielt ferner an auf den Verrat der apulischen Adligen, die vernichtende Schlacht bei Benevent und das Schicksal Konradins. In einer Anmerkung zu dieser Stelle sagt nun Guerrazzi (BC. S. 330, Anm. 8 zu Kap. 18): „ P e r questi fatti vedi i capitoli storici della Baitaglia di Benevento." Guerrazzi besitzt also die Naivität auf die BdB. zu verweisen wie auf ein Nachschlagewerk. Die Stellen nun, wo in der BdB. von diesen Dingen gehandelt wird, sind gerade für unsere Begriffe romanhafte Partien. Die erste Anspielung auf die Ermordung Friedrichs erfolgt im 8. Kapitel, aber nicht im referierenden Teil desselben, sondern gerade dort, wo romanhaft erzählt wird; die endgültige deutliche Mitteilung darüber erfolgt im 29. Kapitel in Manfreds Beichte. Für den Verrat der apulischen Adligen kommt das K a pitel 23 in Betracht, wo Cerra die letzte Rede zu ihrer Überredung hält, und das 25., in dem berichtet wird, daß Caserta den Weg über den Garigliano freigegeben hat. Die Schlacht von Benevent wird in Kap. 28 geschildert, das durchaus nicht berichterstattend gehalten ist, sondern in dem die Personen redend und handelnd vorgeführt werden. Damit ist aber gesagt, daß Guerrazzi alle Kapitel, in denen nur irgendwie von historisch überlieferten Ereignissen die Rede ist, als historische Kapitel mit historiographischem Wert ansieht. E s überrascht nun nicht, wenn wir bei Guerrazzi im Stil der Darstellung den gleichen Mitteln begegnen wie bei den Geschichtsschreibern der gleichen Richtung. Hier wie dort haben wir Schilderungen von Schlachten, die von aller historischen Treue im Detail fern sind, und die sich in anekdotische Schilderungen von einzelnen Begebenheiten auflösen, die letztlich nur als Beispiele dienen für die menschliche Niederträchtigkeit und Dummheit. Dabei ist besonders hervorzuheben, daß diese Schilderungen funktionell mit den Schilderungen in den Werken der gleichartigen Historiker gleichzusetzen sind, da Guerrazzi ja einen Unterschied zwischen historischem Roman, soweit er historische Ergebnisse erzählte, und Geschichtswerk nicht kannte. Solche Schlachtenschilderungen haben wir in Kapitel 13, wo die Seeschlacht zwischen Manfreds und Karls Flotte gezeigt wird, ferner in Kapitel 26, wo die Kämpfe in S. Germano geschildert werden, und in Kapitel 28 mit der Seeschlacht von Benevent. Zu diesem Stil der Geschichtsschreibung und damit auch zu diesem Stil des historischen Romans, der in seinen „historischen" Partien sich als Geschichtsschreibung fühlt, gehört, daß die Feldherrn denkwürdige Reden halten, die der Autor sich aus den Fingern saugt. Wie Botta und Niccolini (Croce I, 81 und I, 171) schmückt Guerrazzi seine Schilderung mit solchen Reden. Im 13. Kapitel hält Karl
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von Anjou eine Ansprache an die durch den Sturm verängstigten Ruderer, in der er ihnen, um sie anzufeuern, die Freiheit verspricht; danach versammelt er seine Barone um sich, ehe er den Kampf beginnt, um auch sie mit einigen Worten anzufeuern. Eine Rede hält auch Guido von Montfort, als die Truppen bei der Alpenüberschreitung den Mut zu verlieren beginnen (Kap. 15). Es ist ein glänzendes Stück Rhetorik, aber keineswegs eine Rede, wie sie Montfort unter den geschilderten Umständen und seiner Art und Zeit entsprechend gehalten hätte. Noch eine Eigentümlichkeit teilt die BdB. mit den Werken der nicht-evolutionistischen Historiker. Es ist die Art, wie die Quellen verwertet werden. Da es dieser Art der Geschichtsauffassung fernliegt, das überlieferte Material einmal auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu prüfen und dann noch sich zu fragen, was die ermittelte Tatsache b e d e u t e t , wird die überlieferte Tatsache schlechthin als Tatsache akzeptiert. Die Quelle wird unverarbeitet in das Geschichtswerk hinübergenommen (vgl. Croce I, 169). So übernimmt auch Guerrazzi die Quelle in völlig unverarbeitetem Zustand, und zwar übernimmt er nicht nur die Tatsachen, so wie die Quelle sie bietet, ohne z. B. zu fragen, welche Geisteshaltung in dieser oder jener Tatsache zum Ausdruck komme, sondern er übernimmt auch die Quelle im Wortlaut und flicht sie in seine Erzählung ein, ohne zwischen der Quelle und der eigenen Erzählung einen Unterschied zu machen — außer vielleicht dem, daß die Quelle wahrer spreche als er selbst. So wird am Ende des 8. Kapitels, in dem die Geschichte Manfreds zusammengefaßt erzählt worden war, über den Anschlag Manfreds auf das Leben Konradins nicht vom Autor berichtet, sondern dieser gibt einfach einen umfangreichen Auszug aus der Chronik Giovanni Villanis, der bezeichnenderweise so eingeleitet wird (I, 212) : „Più grave caso e degno di memoria, è quello sul quale Manfredi di vicario giunse a farsi nominare sovrano del regno di Napoli, e qui lasciato Niccolò Jamsilla scrittore Ghibellino, è di mestieri appigliarci a Giovanni Villani di fazione Guelfa. Narra dunque costui, che Manfredi" usw. (Übrigens gibt Guerrazzi hier nicht die Stelle an, wo sie bei Villani steht. Sie ist in Lib. VI, Kap. XIV, bei Muratori, Bd. XIII, Spalte 187. Die Fassung von Guerrazzi stimmt wörtlich mit der von Muratori gegebenen überein, nur daß er die Wortform gelegentlich modernisiert und die Wortstellung etwas ändert.) Über Manfreds Ende berichtet Guerrazzi nicht selbst (Kap. 29), sondern er setzt einfach Auszüge aus Villani und Jamsilla hin (II, 395f ). An anderen Stellen wird das, was der Autor nun im folgenden erzählen wird, als ein Referat aus der Quelle kenntlich gemacht. So heißt es an einer Stelle (II, 271; Kap. 26): „Menavano l'Amira sanguinoso ai quartieri, e Giovanni Villani racconta (Lib. 7), come i Saraceni vedutolo cosi mal concio" usw. Zu Ende des 11. Kapitels wird die Schilderung von Karl von Anjous E1 w e r t , Beiheft lur Zeitscbr. f. rom. Phil. L X X X 1 V .
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Charakter auf diese Weise nach der Quelle als Referat gebracht. Die Gegenüberstellung von Guerrazzis T e x t und seiner Vorlage (es konnte nur der von Muratori gegebene T e x t sein) möge zeigen, wie diese fast wörtlich, also gedanklich gänzlich unverarbeitet übernommen wurde: G u e r r a z z i (I, 284).
Quale fosse di persona e di costume troviamo con molto bel garbo narrato da un istorico del medesimo secolo, che abbiamo preso per guida di questo capitolo: savio, magnanimo, di alti intendimenti, e severo, sicuro nella avversità veritiero in ogni promessa, poco parlante, molto operante, non ridea che leggermente e di rado, largo del suo, cupido dell'altrui. Trovatori, Giullari, Menestrelli, ed altra gente sollazzevole non tenne in pregio, anzi sprezzò; molto vegliava, e soleva dire che quanto meno si dormiva meno si moriva: lo sguardo ebbe feroce; grande di persona, nerboruto e di colore ulivigno; del rimanente religioso, e, per quanto può essere un soldato, dabbene.
V i l l a n i , Lib. V I I , K a p . I. (Guerrazzi gibt fälschlich an Lib. V I , Kap. 91) = Muratori, Bd. X I I I , Spalte 225. Questo Carlo fu savio, di sano consiglio, prò in arme, & aspro & molto temuto & ridottato da tutti li R e del Mondo; Magnanimo, & d'alti intendimenti in fare ogni grande impresa, sicuro in ogni avversità, fermo & veritiero d'ogni sua promessa, poco parlante & molto aoperante. Quasi non ridea se non poco, honesto come uno religioso, & cattolico; aspro in giustitia & di feroce riguardo; grande di persona, & bene nerboruto, di colore ulivigno, & con grande naso, & bene parea maestà reale più ch'altro signore. Molto vegghia v a & poco dormiva, & usava dire, che dormendo, tanto tempo si perdeva. Largo fu a' cavalieri d'arme, ma curioso d'acquistare terra, signoria e moneta, onde che venisse, per fornire sue imprese & guerre. Di gente di Corte, Ministri, o giucolari non si dilettòe mai.
Nichts beleuchtet krasser den Unterschied zwischen dem „evolutionistischen" Roman (Scott, Manzoni) und dem „nicht-evolutionistischen", wie ihn Guerrazzi hier schafft, als dieses Verfahren, die Quellen in die eigene Erzählung als etwas Gleichwertiges einzuschieben. Das geschieht nirgends bei Scott und auch nicht bei Manzoni, denn für beide hat das Quellenmaterial nur den W e r t eines Rohstoffes, aus dem sie seine Essenz, sein wahres Wesen, seinen Sinn ausziehen, um ihn in einem neuen eigenen Bilde zu gestalten. Scott kann Commynes' Charakterisierung Ludwigs X I . in seiner Einleitung zitieren, er denkt aber beileibe nicht daran, Commynes
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in seine Darstellung zu übernehmen, weil er da seine eigene Auffassung gibt, die er nicht nur an Commynes, sondern auch an anderen (Brantôme [Kap. 28], Wraxall's History of France [Anm. Kap. 9 und 27], Varillas [Kap. 28]) gewonnen hat. Das gleiche bedeutet es, wenn M a n z o n i in seiner theoretischen Schrift Del romanzo storico sagt: „il mezzo e il solo mezzo che uno abbia di rappresentare uno stato dell'umanità . . . è di trasmettere il c o n c e t t o q u a l e è a r r i v a t o a f o r m a r s e l o , coi diversi gradi o di certezza o di probabilità che ha potuto scoprire nelle diverse cose, con le limitazioni, con le deficienze che ha trovato in esse o piuttosto nella attualmente possibile cognizione di esse ; è, insomma, di ripetere agli altri l'ultima e vittoriosa parola che, nel momento più felice d e l l ' o s s e r v a z i o n e , s'è trovato contento di poter dire a sè medesimo" (zitiert nach Croce I, t j l . , — Unterstreichungen von uns.) Scott und Manzoni suchen den Geist einer Zeit, den Zustand einer Gesellschaft anschaulich zu machen. Sie tun das, indem sie Menschen, wie sie hätten sein können, in eine Handlung stellen, die verläuft, wie sie hätte verlaufen können, sie geben also Erfindungen im Sinne des Bildes, das sie sich auf Grund ihrer Quellenstudien von der betreffenden Zeit machen. Guerrazzi dagegen sieht hinter den bloßen Fakten nichts. Er ist daher auf die Erzählung dieser Fakten beschränkt, wenn er Geschichte darstellen will. Das ist nun auch in der BdB. der Fall. Überall, wo Geschichtliches gegeben wird, werden überlieferte Begebnisse dargestellt (wobei „darstellen" freilich gemäß Guerrazzis Vorstellung von historischer Genauigkeit eine phantastische Ausschmückung nicht ausschließt). Da Guerrazzi aber nur die Fakten wiedergibt, die äußeren Geschehnisse nacherzählt, kann er auch die Quellen ohne weiteres mit in die Erzählung hineinnehmen. Diese bilden eben nur dort einen homogenen Bestandteil des Romans, wo nicht eine Entwicklung, ein Bild des Lebens gegeben wird, sondern wo der historische Roman als ein Zwittergebilde von Geschichtsschreibung und Belletristik in der Darstellung des äußeren Aspekts der überlieferten Geschehnisse steckenbleibt.
3. Ansätze zu einer originellen Entwidmung. Es wird evident, daß bei einer derartigen Wesensverschiedenheit zwischen dem Guerrazzischen Roman und dem Scottschen Roman die weitere Entwicklung Guerrazzis nicht zum Scottschen Roman hin, sondern von ihm fortführen muß, wenn sich Guerrazzi einmal von dem Schema des erfundenen Helden in einer erfundenen Handlung, die bei ihm keinen Sinn haben, und dem Bemühen um Lokalkolorit im Stile Scotts freimachen kann und sich auf die seinem Stoffe angemessene Form zu besinnen beginnt. Tatsächlich finden wir diese Form ansatzweise schon in der BdB. vorhanden. Betrachten wir den Anfang von Kapitel 15. Es wird 6*
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dort sehr lebendig geschildert, unter welchen Mühsalen das provenzalische Heer die Alpen überschreitet. Guerrazzi gibt hier eine Massenszene, wie sie bis zu seiner Zeit nie im Roman gegeben worden war, sondern nur im Epos. E r schildert ein Unternehmen, das in seiner Kühnheit ein poetisches Pathos enthält, das für die damals noch nicht sehr hoch angesehene Gattung des Romans fast zu hoch gegriffen scheint. Einen tieferen Sinn gewinnt nun die Szene, wenn wir bedenken, daß sie nichts anderes ist als eine Paraphrasierung und Adaptierung der Schilderung von Napoleons Alpenzug, die B o t t a in seiner Storia d'Italia dal 178g dl 1814 im 20. Kapitel gegeben hatte. (Guerrazzi selbst verrät es, indem er eine Stelle wörtlich von dort übernimmt und die Quelle angibt.) Und hinter dieser Schilderung sehen wir eine andere aufsteigen — eine Assoziation, die das Gefühl poetischer Erhabenheit steigert — die Schilderung von Hannibals Alpenzug durch Livius. Wir sehen Guerrazzi also auf Bottas Spuren wandeln. Wäre es nun nicht möglich, daß Guerrazzi von daher eine andere Anregung bekäme ? Daß sich hinter der Entlehnung dieses epischen Abschnittes aus Botta die Ahnung eines anderen tieferen und fruchtbareren Gedankens verberge ? Führt nicht von hier eine Spur zu dem, was Guerrazzi später machen wird? Sehen wir uns das Werk B o t t a s auf die Möglichkeit zu solchen Anregungen an! Für Botta scheint uns eines sehr bezeichnend: der Stoff, den er später zu seiner Geschichte Amerikas verwendet hat, war ihm zuerst als Stoff zu einem Epos erschienen. E s liegt darin mehr als die Tatsache, daß bei B o t t a die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Belletristik verwischt ist (so hat Croce den Gedanken ausgedeutet; I, 80); es liegt darin ein Zeichen dafür, wie nah Geschichtsschreibung für Botta mit der Gattung des Epos artverwandt war. Denken wir nun auch an Bottas und der Ghibellinen Vorliebe für breit ausgemalte, poetisch erhöhte Schlachtenschilderungen und rhetorische Feldherrnreden! Scheint sich hier nicht eine A r t epischer Geschichtsschreibung zu bilden ? Als Guerrazzi in späteren Jahren einmal notiert, welche Arten von Geschichtsschreibung es gebe und an erster Stelle „storia epica" setzt, sollte er, der Botta Verehrer, damit nicht die Geschichtsschreibung Bottas im Sinne gehabt haben? (II buco nel muro, 1862, prologo; unsere Ausgabe S. 203.) Und sollte er, als er für die BdB. jene epische Stelle aus Botta verwendete, nicht auf dem Wege dazu gewesen sein, eine Art epischen Romans zu schreiben, der in Komposition und Vortragsweise eine Annäherung der überkommenen Romanform an die ältere Form des Versepos bedeutete ? Der Vorwurf, den Guerrazzi zum Grundthema der BdB. gewählt hatte, die Vernichtung Manfreds durch K a r l von Anjou, war groß genug dazu! Noch aber fehlte eines: die klare Erkenntnis der dichterischen Möglichkeiten, die in einem solchen großen Vorwurfe lagen; die sollte ihm erst erwachsen, als er den poetischen Wert der Geschichte
Zweiter Abschnitt: Guerrazzis Geschichtsbild.
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vollauf begreifen lernte. Erst dann sollte er den Weg beschreiten, der ihm ermöglichte, die durch seine Geschichtsauffassung bedingte Erzählung geschichtlicher Ereignisse in einer ihm gemäßen Form dichterisch zu gestalten. Das sollte ihm erst in seinem nächsten Roman, dem Assedio di Firenze, glücken. Welchen poetischen Gehalt die Geschichte für ihn haben konnte, und wie weit er sich dessen schon in der BdB. inne wurde, wollen wir im folgenden kurz untersuchen. III. Die dichterischen Möglichkeiten im Stoffe und ihre unvollkommene Nutzung dur