Paradoxie und Konsens: Praktiken antikonsensualer Rede in Philosophie und Rhetorik der Antike, Frühen Neuzeit und Moderne 3770564928, 9783770564927

Widerspruch gegen Konsens dient der Durchsetzung von Interessen, dem ästhetischen Vergnügen und der Verbreitung der Wahr

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German Pages 320 [318] Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Zwei Thesen des Buches: Vorbemerkung
1.2 Ein vergessener Begriff: die ‚Paradoxie‘ vor ihrem grundsätzlichen Bedeutungswandel im 19. und 20. Jahrhundert
1.3 Gegenstand der Untersuchung: fach- und kulturgeschichtliche Stationen antikonsensualer Rede
1.4 Theoretische Grundlagen
1.4.1 „Paradoxe Rede“ als rhetorisches Phänomen
1.4.2 Praktiken antikonsensualer Rede und ihre Grundlage in implizitem Wissen
1.4.2.1 Anthropologisches Wissen
1.4.2.2 Strategisches Wissen
1.4.3 Teilnahme oder Kritik an Praktiken antikonsensualer Rede
1.5 Stand der Forschung zur Paradoxie im traditionellen Verständnis
1.5.1 Allgemeine und allgemein-rhetorische Studien
1.5.2 Historisierende Studien mit Fokus auf verschiedene Programme der Rhetorik oder Philosophie
1.5.3 Literaturgeschichtliche Einzelstudien
2 Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias’ Helena
2.1 Einleitung
2.2 Die sophistischen Paradoxien und ihr pädagogischer Nutzen
2.2.1 Liste der überlieferten paradoxen Schaureden
2.2.2 Historisch-politischer Kontext: das demokratische Handlungsfeld der Sophisten
2.2.3 Globales Handlungsziel: Reaktionskompetenz
2.2.3.1 Antilogie: die sophistische Kunst der Widerlegung und ihr universaler Einsatz
2.2.3.2 Schutzfunktion: (paradoxe) Rede als Mittel der Selbstverteidigung
2.3 Epideixis: die Darstellungsstrategie der sophistischen Paradoxien
2.3.1 Epideiktische Beredsamkeit
2.3.2 Zurschaustellung der Fähigkeit zur nützlichen Gegenrede
2.4 Gorgias’ Helena-Rede
2.4.1 Gorgias als Begründer paradoxer Rhetorik
2.4.2 Zur impliziten Rede- und Argumentationslehre der Helena
2.4.3 Gorgias’ Anknüpfung an mythologische Klischees
2.4.4 Die Schwachheit des Menschen: anthropologische Legitimation der Rhetorik
2.5 Die Seite der Kritiker: alternative Praktiken antikonsensualer Rede (Isokrates, Platon)
2.5.1 Isokrates’ Sicht auf paradoxe Rede im Proemium seiner Helena-Rede
2.5.2 Die platonisch-sokratische Praxis antikonsensualer Rede
2.5.2.1 Platons Gorgias: Konfrontation sophistischer und philosophischer Gegenrede
2.5.2.2 Platonischer Gegenentwurf: Apologie des Sokrates
2.5.3 Endoxie und Paradoxie in der aristotelischen Rhetorik und Dialektik
2.5.3.1 Zur positiven Bewertung der Endoxie
2.5.3.2 Zur negativen Bewertung der Paradoxie
3 Stoische Deutung einer politischen Krise: Ciceros Paradoxa Stoicorum
3.1 Einleitung
3.2 Ciceros philosophische Schriftstellerei
3.2.1 Die Paradoxa Stoicorum
3.2.2 Situativer Anlass der Paradoxa Stoicorum
3.2.3 Globales Handlungsziel von Ciceros philosophischer Schriftstellerei
3.2.3.1 Vermittlung eines Wissens, das kritisiert und tröstet
3.2.3.2 Konjekturaler Modus
3.3 Stoische Paradoxien als metaphysische Situationsdefinitionen
3.3.1 Das stoische Verfahren der Umdeutung alltagssprachlicher Wertbegriffe
3.3.2 Ciceros Strategie der Plausibilisierung in den Paradoxa Stoicorum
3.4 Fehlende Legitimation für Paradoxalität bei Stoa und Cicero
3.4.1 Glaubhaftigkeitsgrade (genera causarum) praktisch-konkreter Fälle
3.4.2 Der sensus communis bei theoretisch-abstrakten Fragen
3.4.3 Epistemologisches Hintergrundwissen
3.4.3.1 Erkenntnismodell der realistischen Metaphysik
3.4.3.2 Erkenntnismodell der konjekturalen Metaphysik
4 Ästhetisches Vergnügen für Gebildete: Lukians Lob der Fliege
4.1 Einleitung
4.2 Politische, kulturelle und rhetorische Kontexte
4.2.1 Epideiktische Beredsamkeit in der Monarchie
4.2.2 Neusophistische Paradoxien im Feld kaiserzeitlicher Unterhaltung
4.2.3 Paradoxe Rede als Medium der Solidarisierung
4.3 Konventionen der paradoxen Lobrede in der Zweiten Sophistik
4.3.1 Zur kaiserzeitlichen Gattungstypologie der Lobrede
4.3.1.1 Endoxes, amphidoxes und paradoxes/adoxes Lob bei Menander Rhetor
4.3.1.2 Verstoß gegen die Konvention des Personenlobs
4.3.2 Zur ästhetischen Legitimation der paradoxen Lobrede (Lukian, Fronto und Philostrat)
4.4 Ästhetisches Vergnügen: zur Darstellungsstrategie in Lukians Fliegenlob
4.4.1 Inhalt, Aufbau und Deutungs-Hypothese
4.4.2 Mit feierlichem Ernst über die Fliege reden: Zitate aus Wissenschaft, Mythos und Literatur
4.4.3 Mythos der Myia als ‚ausgeklügelte Lügengeschichte‘
4.5 Zum Globaltelos neusophistischer Unterhaltungskunst
4.5.1 Zeitvertreib und Erholung für die Oberschicht
4.5.2 Anerkennung des normalen Lebens: Lukians Affinität zur pyrrhonischen Skepsis
5 Kritik und Anerkennung: Erasmus’ von Rotterdam Lob der Torheit
5.1 Einleitung
5.2 Parrhesiastische Eloquenz: humanistische Reform des Triviums
5.2.1 Humanistische Dialektik und christliche Parrhesia
5.2.2 Rhetorik
5.3 Christliche Paradoxalität und Ambiguität im Enchiridion
5.3.1 Erasmus’ Handlungsstrategie der Öffnung des christlichen Glaubens
5.3.2 Paradoxalität: zur Zwiespältigkeit ihres Inhalts und ihrer Legitimation
5.4 Das Lob der Torheit: Moraltheologie und ihre stilistische Überformung
5.4.1 Emphatisierung paradoxer Aufwertung der Frömmigkeit
5.4.2 Emphatisierung paradoxer Entwertung des unchristlichen Lebens
5.4.3 Umgänglichkeit: Kultivierung der christlichen Parrhesia
5.4.4 Das Lob der Torheit als vielstimmige Mitteilung von religiösem Wissen
5.5 Alles hat zwei Seiten: die Sileni Alcibiadis als Rechtfertigung paradoxer Rede
6 Pluralistisches Selbstdenken: ‚Paradoxie‘ in der Aufklärung
6.1 Einleitung
6.2 Selbstdenken: Apologien der Paradoxie bei Zedler und Kant
6.2.1 Anthropologische Legitimierung der Paradoxie (Kant)
6.2.2 Kants Maximen des gemeinen Menschenverstands
6.2.3 Aufklärung als globales Handlungsziel paradoxer Rede
6.3 „Paradoxomanie“: Warnung vor Entnormierungsgefahr
6.3.1 Aufklärerische vs. humanistische Verträglichkeit: Meiners’ Revision der Philosophie
6.3.2 Abbé André Morellets Theorie des Paradoxen
6.3.3 Noch eine Warnung: Johann Georg Wiggers’ Kritik an der „Paradoxomanie“
6.4 Zur Anregungsfunktion der Paradoxie: F.H. Lachmanns Über das Paradoxe
6.5 Vom Appell zur Bildung: die offene Frage nach der Genese des Selbstdenkens
7 Reizmittel des Denkens: ‚Paradoxie‘ in der Frühromantik
7.1 Einleitung
7.2 Der Übergang von der Aufklärung zur Frühromantik: Paradoxie als Anregung zum Selbstdenken
7.3 Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen des gemeinen Menschenverstands
7.3.1 Das Unendliche: Widerstreit des Bewusstseins mit sich selbst
7.3.2 Von der Geschichte des Bewusstseins zur Historisierung der allgemeinen Meinung
7.3.3 Ambivalente Aufladung der Paradoxie: die philosophische Äußerung zwischen Widerlegung und Bildung
7.4 Streit als Kur der Vereinzelung des Lebens: Dosierte und verstetigte Konsens-Kritik
7.4.1 Dosierung der Paradoxie
7.4.2 Zwischen der Norm der Abweichung und dem „Gebot der Schicklichkeit“: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit
7.4.3 Verstetigung der Paradoxie
7.4.4 Paradoxie und Konsens bei Friedrich Karl Forberg
7.5 Kritik am logisch-konsistenten System
7.5.1 Integration der Paradoxie in die freie Form (Schlegel) der Philosophie
7.5.2 Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit
7.5.3 Utopische Intensivierung: Novalis’ höchstes Paradoxon
8 Zusammenfassung: Vorschlag einer Heuristik
Literaturverzeichnis
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Paradoxie und Konsens: Praktiken antikonsensualer Rede in Philosophie und Rhetorik der Antike, Frühen Neuzeit und Moderne
 3770564928, 9783770564927

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Paradoxie und Konsens

Ethik – Text – Kultur Herausgegeben von Joachim Jacob, Christine Lubkoll, Mathias Mayer und Claudia Öhlschläger Wissenschaftlicher Beirat Tobias Döring, Astrid Erll, Sebastian Rödl, Marion Schmaus

Band 16

Christian Wilke

Paradoxie und Konsens Praktiken antikonsensualer Rede in Philosophie und Rhetorik der Antike, Frühen Neuzeit und Moderne

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2020 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2365-1741 ISBN 978-3-7705-6492-7 (paperback) ISBN 978-3-8467-6492-3 (e-book)

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zwei Thesen des Buches: Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Ein vergessener Begriff: die ‚Paradoxie‘ vor ihrem grundsätzlichen Bedeutungswandel im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Gegenstand der Untersuchung: fach- und kulturgeschichtliche Stationen antikonsensualer Rede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.4 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.4.1 „Paradoxe Rede“ als rhetorisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.4.2 Praktiken antikonsensualer Rede und ihre Grundlage in implizitem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.4.2.1 Anthropologisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.4.2.2 Strategisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.4.3 Teilnahme oder Kritik an Praktiken antikonsensualer Rede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.5 Stand der Forschung zur Paradoxie im traditionellen Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.5.1 Allgemeine und allgemein-rhetorische Studien . . . . . . . . . . . . . 21 1.5.2 Historisierende Studien mit Fokus auf verschiedene Programme der Rhetorik oder Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.5.3 Literaturgeschichtliche Einzelstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2 Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias’ Helena . . . . . . . 35 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2 Die sophistischen Paradoxien und ihr pädagogischer Nutzen . . . 38 2.2.1 Liste der überlieferten paradoxen Schaureden . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.2 Historisch-politischer Kontext: das demokratische Handlungsfeld der Sophisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.2.3 Globales Handlungsziel: Reaktionskompetenz . . . . . . . . . . . . . . 42 2.2.3.1 Antilogie: die sophistische Kunst der Widerlegung und ihr universaler Einsatz . . . . . . . . . . 43 2.2.3.2 Schutzfunktion: (paradoxe) Rede als Mittel der Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

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Inhalt

2.3 Epideixis: die Darstellungsstrategie der sophistischen Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.3.1 Epideiktische Beredsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.3.2 Zurschaustellung der Fähigkeit zur nützlichen Gegenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.4 Gorgias’ Helena-Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.4.1 Gorgias als Begründer paradoxer Rhetorik. . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.4.2 Zur impliziten Rede- und Argumentationslehre der Helena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.4.3 Gorgias’ Anknüpfung an mythologische Klischees . . . . . . . . . . 56 2.4.4 Die Schwachheit des Menschen: anthropologische Legitimation der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.5 Die Seite der Kritiker: alternative Praktiken antikonsensualer Rede (Isokrates, Platon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.5.1 Isokrates’ Sicht auf paradoxe Rede im Prœmium seiner Helena-Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.5.2 Die platonisch-sokratische Praxis antikonsensualer Rede. . . . 67 2.5.2.1 Platons Gorgias: Konfrontation sophistischer und philosophischer Gegenrede. . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.5.2.2 Platonischer Gegenentwurf: Apologie des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.5.3 Endoxie und Paradoxie in der aristotelischen Rhetorik und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2.5.3.1 Zur positiven Bewertung der Endoxie . . . . . . . . . . . . . 75 2.5.3.2 Zur negativen Bewertung der Paradoxie . . . . . . . . . . 78 3 Stoische Deutung einer politischen Krise: Ciceros Paradoxa Stoicorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.2 Ciceros philosophische Schriftstellerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.2.1 Die Paradoxa Stoicorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.2.2 Situativer Anlass der Paradoxa Stoicorum . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.2.3 Globales Handlungsziel von Ciceros philosophischer Schriftstellerei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.2.3.1 Vermittlung eines Wissens, das kritisiert und tröstet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.2.3.2 Konjekturaler Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

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3.3 Stoische Paradoxien als metaphysische Situationsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.3.1 Das stoische Verfahren der Umdeutung alltagssprachlicher Wertbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.3.2 Ciceros Strategie der Plausibilisierung in den Paradoxa Stoicorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.4 Fehlende Legitimation für Paradoxalität bei Stoa und Cicero . . . . 116 3.4.1 Glaubhaftigkeitsgrade (genera causarum) praktisch-konkreter Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.4.2 Der sensus communis bei theoretisch-abstrakten Fragen . . . 119 3.4.3 Epistemologisches Hintergrundwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.4.3.1 Erkenntnismodell der realistischen Metaphysik . . . 123 3.4.3.2 Erkenntnismodell der konjekturalen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4 Ästhetisches Vergnügen für Gebildete: Lukians Lob der Fliege . . . . . . 131 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.2 Politische, kulturelle und rhetorische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.2.1 Epideiktische Beredsamkeit in der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . 134 4.2.2 Neusophistische Paradoxien im Feld kaiserzeitlicher Unterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.2.3 Paradoxe Rede als Medium der Solidarisierung . . . . . . . . . . . . . 138 4.3 Konventionen der paradoxen Lobrede in der Zweiten Sophistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.3.1 Zur kaiserzeitlichen Gattungstypologie der Lobrede. . . . . . . . . 140 4.3.1.1 Endoxes, amphidoxes und paradoxes/adoxes Lob bei Menander Rhetor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.3.1.2 Verstoß gegen die Konvention des Personenlobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.3.2 Zur ästhetischen Legitimation der paradoxen Lobrede (Lukian, Fronto und Philostrat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4.4 Ästhetisches Vergnügen: zur Darstellungsstrategie in Lukians Fliegenlob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.4.1 Inhalt, Aufbau und Deutungs-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.4.2 Mit feierlichem Ernst über die Fliege reden: Zitate aus Wissenschaft, Mythos und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.4.3 Mythos der Myia als ‚ausgeklügelte Lügengeschichte‘ . . . . . . . 157

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4.5 Zum Globaltelos neusophistischer Unterhaltungskunst . . . . . . . . . 159 4.5.1 Zeitvertreib und Erholung für die Oberschicht . . . . . . . . . . . . . . 160 4.5.2 Anerkennung des normalen Lebens: Lukians Affinität zur pyrrhonischen Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5 Kritik und Anerkennung: Erasmus’ von Rotterdam Lob der Torheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.2 Parrhesiastische Eloquenz: humanistische Reform des Triviums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.2.1 Humanistische Dialektik und christliche Parrhesia . . . . . . . . . . 170 5.2.2 Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.3 Christliche Paradoxalität und Ambiguität im Enchiridion. . . . . . . . 177 5.3.1 Erasmus’ Handlungsstrategie der Öffnung des christlichen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.3.2 Paradoxalität: zur Zwiespältigkeit ihres Inhalts und ihrer Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.4 Das Lob der Torheit: Moraltheologie und ihre stilistische Überformung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.4.1 Emphatisierung paradoxer Aufwertung der Frömmigkeit. . . . 190 5.4.2 Emphatisierung paradoxer Entwertung des unchristlichen Lebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.4.3 Umgänglichkeit: Kultivierung der christlichen Parrhesia . . . . 199 5.4.4 Das Lob der Torheit als vielstimmige Mitteilung von religiösem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.5 Alles hat zwei Seiten: die Sileni Alcibiadis als Rechtfertigung paradoxer Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6 Pluralistisches Selbstdenken: ‚Paradoxie‘ in der Aufklärung . . . . . . . . 213 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6.2 Selbstdenken: Apologien der Paradoxie bei Zedler und Kant . . . . 216 6.2.1 Anthropologische Legitimierung der Paradoxie (Kant) . . . . . . 218 6.2.2 Kants Maximen des gemeinen Menschenverstands . . . . . . . . 222 6.2.3 Aufklärung als globales Handlungsziel paradoxer Rede . . . . . 224 6.3 „Paradoxomanie“: Warnung vor Entnormierungsgefahr . . . . . . . . . 227 6.3.1 Aufklärerische vs. humanistische Verträglichkeit: Meiners’ Revision der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 6.3.2 Abbé André Morellets Theorie des Paradoxen . . . . . . . . . . . . . . 230 6.3.3 Noch eine Warnung: Johann Georg Wiggers’ Kritik an der „Paradoxomanie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

Inhalt

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6.4 Zur Anregungsfunktion der Paradoxie: F.H. Lachmanns Über das Paradoxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6.5 Vom Appell zur Bildung: die offene Frage nach der Genese des Selbstdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 7 Reizmittel des Denkens: ‚Paradoxie‘ in der Frühromantik . . . . . . . . . . 243 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 7.2 Der Übergang von der Aufklärung zur Frühromantik: Paradoxie als Anregung zum Selbstdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 7.3 Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen des gemeinen Menschenverstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 7.3.1 Das Unendliche: Widerstreit des Bewusstseins mit sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 7.3.2 Von der Geschichte des Bewusstseins zur Historisierung der allgemeinen Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 7.3.3 Ambivalente Aufladung der Paradoxie: die philosophische Äußerung zwischen Widerlegung und Bildung . . . . . . . . . . . . . 254 7.4 Streit als Kur der Vereinzelung des Lebens: Dosierte und verstetigte Konsens-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 7.4.1 Dosierung der Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 7.4.2 Zwischen der Norm der Abweichung und dem „Gebot der Schicklichkeit“: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit . . . . 261 7.4.3 Verstetigung der Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 7.4.4 Paradoxie und Konsens bei Friedrich Karl Forberg . . . . . . . . . . 268 7.5 Kritik am logisch-konsistenten System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 7.5.1 Integration der Paradoxie in die freie Form (Schlegel) der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 7.5.2 Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 278 7.5.3 Utopische Intensivierung: Novalis’ höchstes Paradoxon . . . . . 280 8 Zusammenfassung: Vorschlag einer Heuristik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im November  2018 im Fachbereich 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen verteidigt habe. Den wichtigsten Menschen und auch Institutionen, die mich während der Promotionsphase unterstützt haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Prof. Dr. Stefan Matuschek von der Friedrich-Schiller-Universität Jena danke ich als dem wissenschaftlichen Wegbereiter und Zweitgutachter dieser Dissertation. Behandelte er doch in seiner Lehre Themen wie „Rhetorik und Philosophie“ und „Frühromantik“, die mich im Sommer 2008 zu einer Semi­ nararbeit über die rhetorische Paradoxie bei Friedrich Schlegel inspirierten – welche ich wiederum mit seiner Unterstützung zu einer Magisterarbeit und einem Promotionsexposé weiterentwickelte. Dem International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Justus-Liebig-Universität Gießen danke ich für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, den vielfältigen kulturwissenschaftlichen Austausch und zahlreiche bereichernde interkulturelle Begegnungen sehr. Prof. Dr. Joachim Jacob von der Justus-Liebig-Universität Gießen hat sich dankenswerter Weise meines Projektes als Erstgutachter angenommen. Es wäre schön, wenn dieses Buch etwas von der Genauigkeit der Lektüren und Formulierungen zeugte, für die er selbst bei allen unseren Treffen einstand. Auch danke ich Dr. Anja Oesterhelt und allen anderen Kolleginnen und Kollegen der Gießener Germanistik für das überaus angenehme und anregende Miteinander während meiner Zeit am Lehrstuhl sowie Prof. Dr. Peter von Möllendorff, Dr. Helge Baumann und PD Dr. Mario Baumann, die mir bei meinen Ausflügen in die Klassische Philologie mit Rat und Tat zur Seite standen. Nicht zuletzt danke ich meiner Familie – für all das, was sie mich lehrte, und meiner Partnerin Inês für ihre keineswegs selbstverständliche Unterstützung und Anteilnahme. Meinen lieben Freunden Robert, Marco, Stefan, Hannes, Florian, Daniel und Julia danke ich für ihr motivierendes Interesse am seltsamen Themenkreis der Paradoxie, für ihren Vieles erleichternden Humor und ihre fantastische Hilfsbereitschaft. Der Justus-Liebig-Universität Gießen bin ich besonders dankbar dafür, dass sie dieses Buch mit dem Preis für die beste geisteswissenschaftliche Dissertation des akademischen Jahres 2018/2019 ausgezeichnet hat. Der VG Wort schulde ich schließlich großen Dank für die Bezuschussung der Drucklegung des Manuskripts. Für die freundliche Aufnahme dieses Buches in sein Programm danke ich dem Fink-Verlag, für die Zustimmung zur Publikation in der Reihe „Ethik – Text – Kultur“ den Herausgeber/innen.

Kapitel 1

Einleitung 1.1

Zwei Thesen des Buches: Vorbemerkung

Der Widerspruch gegen einen Konsens treibt ganze Professionen an. Von der Wissenschaft über die Kunst, die Religion und den Journalismus bis hin zu Politik und Aktivismus lässt sich kaum ein Bereich der Gegenwartsgesellschaft finden, in dem er nicht wenigstens angestrebt oder doch eingefordert werden würde. Auch in der abendländischen Geistesgeschichte steht antikonsensuale Rede immer wieder hoch im Kurs. Weit davon entfernt, außerhalb von sozialen Ordnungen zu stehen, macht sie dort häufig sogar – und dies ist eine erste These dieses Buches – den Kern von kulturellen Bewegungen aus. Was auch immer also jemand von einzelnen abweichenden Meinungen oder auch von der Wirksamkeit von Rede allgemein halten mag: Die Idee der Kritisierbarkeit von Konsens war und ist von größtem kulturellen Wert, besonders dann, wenn sie nicht einfach bedeutet, sich von der Allgemeinheit abzuwenden oder Konsens generell abzulehnen, sondern im Blick auf eine größere Idee eine andere Perspektive vorzuschlagen. Der Begriff der Paradoxie nun, der heute zumeist für logische Widersprüche verwendet wird, bezeichnet seit der Klassischen Antike bis in die Romantik hinein genau das: eine Rede – d.h. hier auch: eine These –, die sich gegen (gr. pará) einen Konsens (gr. dóxa) richtet und dabei Anspruch auf einen wahren Kern macht. So heißt Paradoxie im Folgenden immer die im Rahmen einer kulturellen Bewegung getätigte Äußerung einer abweichenden Meinung. Exemplarische Typen dafür sind reale oder fiktionale Plädoyers für übel beleumdete Personen, scherzhafte Lobreden auf Allerweltsgegenstände, die kritische Erinnerung an ethische Weisheiten oder die Behauptung neuen Wissens in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Paradoxe Rede mag dann ihrerseits übertreiben oder inszenieren, welchem weithin herrschenden Irrtum sie sich gerade gegenüberstehen sieht, und sie mag auch sonst im Einzelfall sachlich, taktisch oder ethisch kritisierbar sein: Sie ist als ein alternativer Vorschlag zum Konsens jedenfalls mehr als dessen Ablehnung. Obwohl der traditionelle Begriff der Paradoxie keine formallogischen Widersprüche bezeichnet hat, sind die mit ihm benannten Reden und Thesen aus Rhetorik und Philosophie also zumindest in pragmatischer Hinsicht durch eine gewisse Ambivalenz geprägt. Sie knüpfen an ein etabliertes Thema an, um eine andere Perspektive darauf zu richten, verbinden die Kritik mit einer Korrektur,

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_002

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Einleitung

die Abgrenzung von der Allgemeinheit mit dem Willen zur Einigung auf etwas vielleicht Besseres. Auch die Kritik an der Allgemeinheit appelliert an ein Gemeinsames, dessen Glaubhaftigkeit sie voraussetzt: an die Wahrheit, die Natur oder an Jesus Christus, an den gesunden Menschenverstand oder die Freiheit des Menschen. Gewisse allgemeine Meinungen infrage zu stellen und dabei zugleich, an bestimmte Auffassungen von Vernünftigkeit appellierend, Mehrheiten anzustreben, das ist vielleicht genau die pragmatische Ambivalenz, die antikonsensuale Rede zur Erbringung besonderer kultureller Leistungen geeignet macht.1 Spätestens seit der Frühen Neuzeit aber – und damit sei auch eine wichtige historische These dieses Buches hier einleitend formuliert – zeichnet sich eine gegenüber den antiken Beispielen auffällige Wendung in der Geschichte paradoxer Rede ab, die in der Forschung bisher nur selten thematisiert worden ist. Sie besteht in der Herausbildung dessen, was man pluralistische Formen der Kommunikation und Darstellung von antikonsensualer Rede nennen kann. Sie zeigt sich nicht nur in einer ambivalenten Einstellung zum Publikum, sondern einer geradezu zwiespältigen Einstellung gegenüber antikonsensualer Rede selbst. Bei Erasmus von Rotterdam ebenso wie in Aufklärung und Frühromantik weiten neue Argumente für antikonsensuale Rede deren Legitimität aus, während zugleich die normative Richtigkeit von antikonsensualer Rede sowohl performativ in Frage als auch theoretisch zur Diskussion gestellt wird. Was die Theorie betrifft, wird im Zeichen von Nachsicht, Umgänglichkeit und Toleranz das Aussprechen der Wahrheit unter gewissen Umständen als zu einfach kritisierbar, während aus dem christlich-humanistischen Verhältnis zur Transzendenz und dem modernen Paradigma der Selbstbestimmung heraus zugleich ein höheres Maß an akzeptabler Uneinigkeit in der Gesellschaft gefordert wird. Neuzeitliche Praktiken antikonsensualer Rede rechnen dabei noch mehr als ihre antiken Vorgänger sowohl mit der Beschränktheit ihres eigenen Horizonts als auch mit der Selbstaktivität des Publikums. Formensprachlich äußert sich dies besonders in Texten des Erasmus von Rotterdam und der Frühromantik. Dort streitet die essayistische Darstellung und Argumentation gerade gegen die Logik der Einseitigkeit und die Mittel zur Herstellung von Verständlichkeit und Evidenz, wie sie zur Konvention paradoxer Lobreden und Streitschriften der Antike gehörten. Mögen diese knappen Vorbemerkungen zu den großen Bögen des Buches – vor der systematischen Einführung von Gegenstandsbereich und 1  Für eine – hier nicht zu leistende – systematisch kulturtheoretische Perspektive auf Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, vgl. Baecker, Dirk: Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie. Berlin: 2013.

Ein vergessener Begriff: die ‚Paradoxie ‘

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Instrumentarium, die nun folgt, – zur leichteren Orientierung bei der Lektüre dieses Buches beitragen. 1.2

Ein vergessener Begriff: die ‚Paradoxie‘ vor ihrem grundsätzlichen Bedeutungswandel im 19. und 20. Jahrhundert

Das Wort ‚Paradoxie‘ meinte mindestens bis in das 19. Jahrhundert hinein etwas vom heutigen Sprachgebrauch gänzlich Verschiedenes. In den rhetorischen und philosophischen Fachdiskursen, um die es im Folgenden geht, war der Begriff der Paradoxie dem des Konsenses (Endoxie, consensus omnium, allgemeine Meinung u.ä.) entgegengesetzt.2 Er beschrieb eine sprachliche Handlung als eine Rede gegen eine allgemeine Meinung. Insofern klassifizierte er sie als eine Rede, die aus Sicht des Publikums abweichend, erstaunlich, unglaubhaft ist. Die heute weitgehend in Vergessenheit geratene rhetorische Terminologie, die man dank Heinrich Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik allerdings schnell nachschlagen kann,3 unterschied wenigstens seit Aristoteles, seit der hellenistischen Gerichtsrhetorik sogar formelhaft zwischen endoxen (angesehenen), amphidoxen (strittigen) und paradoxen oder adoxen (also erstaunlichen oder anstößigen) Sprecheranliegen.4 Ersichtlich weicht diese traditionelle Bedeutung ihrerseits von der heute allgemein gebräuchlichen ab. Spätestens im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich in der Wissenschaft5 und darüber hinaus6 weitgehend durchgesetzt, dass Paradoxie das Gegenteil von Tautologie bezeichnet. Paradoxien in diesem Sinne 2  Eine gute Einführung bietet immer noch Schilder, Klaas: Zur Begriffsgeschichte des ‚Paradoxon‘. Mit besonderer Berücksichtigung Calvins und des nach-kierkegaardschen ‚Paradoxon‘. Kampen: 1933. 3   Vgl. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. 1990: Stuttgart. S. 56-60, 131, 156. 4  Vgl. Plett: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S. 93; und ausführlicher Gast, Wolfgang: Vertretbarkeitsgrade. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen: 2009. Sp. 1115-1131. 5  Vgl. etwa die überwiegende Mehrheit der Aufsätze in den drei wichtigsten deutschen Herausgeberschriften zur Paradoxie aus den 1990er Jahren: Romahn, Carolina/SchipperHönicke, Gerold (Hg.): Das Paradoxe. Literatur zwischen Logik und Rhetorik. Festschrift für Ralph-Rainer Wuthenow zum 70. Geburtstag. Würzburg: 1999. Gumbrecht, Hans Ulrich/ Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/Main: 1991. Hagenbüchle, Roland/Geyer, Paul (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Würzburg: 1992. 6   Vgl. hier nur den Bedeutungswandel, den das Brockhaus-Konversationslexikon in den Lemmata Paradox, Paradoxie, Paradoxon dokumentiert: Von der ersten Auflage (1809) bis zur 14. Auflage (1892ff.) herrscht die traditionelle Bedeutung vor. Diese wird ab der 15. Auflage

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Einleitung

beschreiben die Struktur einer Sache als widersprüchlich, sei es die Struktur einer sprachlichen Äußerung,7 eines logischen Phänomens8 oder einer soziokulturellen Entwicklung.9 Schon diese große begriffsgeschichtliche Wende von dem pragmatischen zum logischen Paradoxie-Konzept, die eine eigene Untersuchung verdient hätte, zeigt, dass der alte Begriff der Paradoxie aufs engste mit der Geschichte der Rhetorik zusammenhängt. Schließlich ist es wohl kein Zufall, dass sich diese Wende eben im 19. Jahrhundert und im beginnenden 20. Jahrhundert ereignete, als die Rhetorik ihren Rang als eigenständige Disziplin zunehmend verlor.10 Wo Rhetorik im 19. Jahrhundert überdauerte, etwa in den modernen Philologien und im Schulunterricht, tat sie dies meist in stiltheoretisch reduzierter, also entpragmatisierter Gestalt.11 Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts taucht die Paradoxie in der rhetorischen Fachliteratur erstmals als Figur des scheinbaren Selbstwiderspruchs auf, der bei genauerer Betrachtung eine Wahrheit enthält.12 Trotz dieses Bedeutungswandels ist es wichtig, an (1928ff.) durch die neue Bedeutung zunächst erweitert und schon ab der 16. Auflage (1952ff.) beinahe vollständig ersetzt. 7  Vgl. Lanham, A. Richard: A handlist of rhetorical terms. 2. Aufl. Berkeley: 1991. S. 107: „A seemingly self-contradictory statement, which yet is shown to be (sometimes in a surprising way) true: ‚She makes the black night bright by smiling on it.‘ See also Oxymoron“. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert: „Eine verblüffende, widersprüchliche Behauptung, die sich auf den zweiten Blick überraschend als sinnvoll und treffend erweisen kann“. Chapuis, André: Paradox. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin: 2007. S. 15-19, hier: S. 15. 8  Vgl. Sainsbury, Richard M.: Paradoxien. Übers. v. Vincent C. Müller u. Volker Ellerbeck. 4. Aufl. Stuttgart: 2010. Die antiken Beispiele, die Sainsbury behandelt, wie die Paradoxien des Zenon von Elea (S. 17-48, zum Beispiel Achill und die Schildkröte) sowie die Haufenparadoxie (S. 86-139) wurden in der Antike nicht als Paradoxien bezeichnet. 9  Vgl. etwa Hartmann, Martin: Widersprüche, Ambivalenzen, Paradoxien – Begriffliche Wandlungen in der neueren Gesellschaftstheorie. In: Honneth, Axel (Hg.): Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Frankfurt am Main: Campus, 2002. 221-251. „Die Analyse paradoxer sozialer Entwicklungen hat einen ihrer Ausgangspunkte in menschlichen Absichten, die in institutionell verwirklichter Form oder als bewusstseinsprägendes Ideenraster zu Ergebnissen führen, die diesen Absichten widersprechen, sie verkehren oder ihr Gegenteil bewirken“. S. 241. 10   Vgl. Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 3. Aufl. Stuttgart: 1994. S. 134f. 11  Vgl. Genette, Gérard: Die restringierte Rhetorik. In: Theorie der Metapher. Hg. v. Anselm Haverkamp. 2. Aufl. Darmstadt: 1996. S. 229-252; Breuer, Dieter: Schulrhetorik im 19. Jahrhundert. In: Schanze, Helmut (Hg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Frankfurt/Main: 1974. S. 145-179. 12  Vgl. Fontanier, Pierre: Les figures du discours (1821/1827). Paris: 1977. S.  137-141: „Le Paradoxisme, qui revient à ce qu’on appelle communément Alliance des mots, ordinaire­ ment opposés et contradictoires entre eux, se trouvent rapprochés et combinés de

Ein vergessener Begriff: die ‚Paradoxie ‘

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das pragmatische Konzept der Paradoxie zu erinnern. Nicht nur lassen sich dadurch Missverständnisse und anachronistische Rückprojektionen in der Forschung zur traditionellen Philosophie und Rhetorik vermeiden, sondern es lassen sich so auch Auffassungen über das Reden gegen allgemeine Meinungen vergleichend untersuchen, die bisher kaum oder nur vereinzelt im Fokus standen. Wie dieses Buch zu zeigen versucht, wurden mit dem Begriff der Paradoxie in weiten Teilen der Rhetorik und Philosophie besondere Fälle bezeichnet,13 in denen das Reden gegen allgemeine Meinungen legitimiert und zu einem zentralen Gegenstand der Ausbildung gemacht wurde. Es gilt, genauer gesagt, ausgewählte Modellfälle von „paradoxer Rede“ zu beschreiben und miteinander zu vergleichen, die in der antiken, frühneuzeitlichen und modernen rhetorisch-philosophischen Fachgeschichte gelehrt, diskutiert oder demonstriert wurden. Dadurch soll fassbar gemacht werden, dass das pragmatische Paradoxie-Konzept letztlich auf eine Menge verschiedener sozialer Praktiken hinführt, die nicht allein diese und jene abweichende Meinung enthalten, sondern die vor allem auch einen bestimmten Modus antikonsensualer Rede als solchen reflektieren und legitimieren. Jede einzelne Praxis antikonsensualer Rede erlaubt im Rahmen der ihr zugrunde liegenden Wertbegriffe eine gewisse Vielzahl und auch Vielfalt an rhetorischen Handlungen (Reden und Texte). Das heißt, eine solche Praxis stiftet einen gemeinsamen Handlungsraum für all jene, die aktiv oder passiv an ihr teilnehmen (Autoren, solidarisches Publikum), sie kann aber auch selbst zum Gegenstand der Kritik oder der Veränderung werden. „Paradoxe Rede“ in der manière que, tout en semblant se combattre et s’exclure réciproquement, ils frappent l’intelligence par le plus étonnant accord, et produisent le sens le plus vrai, comme le plus profond et le plus énergique“. S. 137. 13  Zu ergänzen wären andere frühe Bedeutungsverwendungen, auf die hier nicht näher eingegangen wird. Zum einen der rhetoriksystematisch weniger relevante Terminus der Paradoxie als Stilfigur; mit ihr verlieh ein Redner in einer Wendung an das Publikum (communicatio) seinem Erstaunen über ein unerwartetes Geschehen Ausdruck oder versuchte er das Publikum durch Hinhaltung in Erstaunen zu setzen. Vgl. Plett, Heinrich F.: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S. 98-100. In: Geyer, Paul/Hagenbüchle, Roland (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Tübingen: 1992. S. 89-104. – Zum anderen die nicht im engeren Kontext der Rhetorik oder Philosophie stehenden, seit dem 19. Jahrhundert Paradoxographie genannten Sammlungen von erstaunlichen, ja wundersamen Phänomenen der Natur und der Geschichte. Vgl. Schepens, Guido: Ancient Paradoxography: Origin, Evolution, Production and Reception. Part I. The Hellenistic Period. In: Pecere, Oronzo/Stramaglia, Antonio (Hg.): La letteratura di consumo nel mondo greco-latino. Cassino: 1996. S.  375-409; sowie Delcroix, Kris: Ancient Paradoxography: Origin, Evolution, Production and Reception. Part  II. The Roman Period. In: ebd. S. 410-452.

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Einleitung

Philosophie und Rhetorik hat ebenso eine Geschichte wie diese Fächer selbst sie haben. Ihre programmatischen Grundannahmen und Ideale veränderten und verändern sich, nicht zuletzt deshalb, weil sie im Kontext langfristiger soziokultureller Entwicklungen stehen.14 Es leuchtet ein, dass „paradoxe Rede“ im Platonismus, dem Renaissance-Humanismus oder dem Deutschen Idealismus auf unterschiedliche Weise begründet und eingesetzt wird. Dasselbe gilt, wie die noch relativ junge Rhetorikforschung15 gezeigt hat, für die Geschichte der Rhetorik: Es macht schon einen erheblichen Unterschied, ob man sein Verständnis von Rhetorik aus Texten eines Platon oder eines Aristoteles, eines Cicero oder einer deutschen Frühaufklärung, eines italienischen Humanismus oder eines Nietzsche gewinnt.16

Genau auf solche Unterschiede und ihre Konkretisierung in unterschiedlichen Paradoxie-Konzepten der Philosophie und der Rhetorik wird es in diesem Buch ankommen. Da rhetorisch-philosophische Modellfälle „paradoxer Rede“ sogar wesentlich zu dem gehörten, worin verschiedene Vertreter beider Fächer die kulturelle Leistung ihres Fachs sahen, versteht sich dieses Buch auch als Beitrag zur Erforschung der Rhetorik- und Philosophiegeschichte. Die fachgeschichtliche Rahmung bedeutet auch, dass im Folgenden nicht auf allgemein-textlinguistische Weise Formeln wie „Es klingt paradox, ist aber wahr, dass …“17 oder gegen irgendeinen Konsens gerichtete Sprecherpositionen untersucht werden. Gefragt wird vielmehr danach, was beide Fächer zu dem Fall der paradoxen oder im Folgenden synonym: antikonsensualen Rede gesagt haben, der offenkundig verbreitete Denk- und Redeweisen negiert oder sich ausdrücklich von gewissen Instanzen der Meinungsbildung abgrenzt. Dabei erschöpft zwar die methodische Bindung dieser Untersuchung an den Gebrauch des Wortes Paradoxie sicher nicht alles, was in der Geschichte der Rhetorik und der Philosophie über die Legitimität des Redens gegen allgemeine Meinungen gesagt wurde. Doch ermöglicht der begriffsgeschichtliche 14  Vgl. für einen analogen Ansatz, der den Kontext-Begriff historisch kontextualisiert, Burke, Peter: Context in context. In: Common Knowledge 8,1 (2002). S. 152-177. 15  Vgl. Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik. S. 157-204. 16  Kopperschmidt, Josef: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik. Einleitende Anmerkungen zum heutigen Interesse an Rhetorik. S. 8. In: ders. (Hg.): Rhetorik. Bd. 1. Rhetorik als Texttheorie. Darmstadt: 1990. S. 1-33. 17  Vgl. dazu die Bemerkungen zu einer möglichen korpuslinguistischen Analyse dieses Sprachmusters am Ende des Schlusskapitels.

Gegenstand der Untersuchung

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Rekurs zumindest einen möglichen und zudem leicht nachvollziehbaren Zugang zu diesem fachgeschichtlich relativ umfangreichen Gegenstandsbereich, so oft und so lange eben der pragmatische Paradoxie-Begriff bekannt und gebräuchlich war. 1.3

Gegenstand der Untersuchung: fach- und kulturgeschichtliche Stationen antikonsensualer Rede

Schon innerhalb der Großepoche der Antike gab es verschiedene rhetorischphilosophische Programme, in deren Zentrum jeweils eine bestimmte Art der „paradoxen Rede“ stand. In den fachgeschichtlichen Kontext der Gründung der Disziplin der Rhetorik gehört die Bewegung der klassischen Sophisten. Im Zentrum der Analyse steht dabei die paradoxe Musterrede Lobpreis der Helena von Gorgias von Leontinoi, ein fiktionales juristisches Plädoyer für eine übel beleumdete mythologische Figur. Die von den Sophisten verfolgte Idealform paradoxer Rede, die in der Helena sinnfällig wird, soll den Einzelnen dazu befähigen, sich unter demokratisch-politischen Bedingungen selbst zu behaupten und so möglichen Schaden von sich abzuwenden. Eine andere berühmte paradoxe Lobrede der Antike, die einen ganz anderen, weil unpolitischen Typ paradoxer Rede zur Schau stellt, stammt aus der sogenannten Zweiten Sophistik der Römischen Kaiserzeit, die eine Hochzeit der rhetorischen Unterhaltungskunst war: das Lob der Fliege von Lukian von Samosata. Es zeigt, dass zwei Vertreter derselben Gattung, der paradoxen Lobrede, innerhalb zweier unterschiedlicher Programmatiken und soziokultureller Rahmenbedingungen der Rhetorik auch völlig unterschiedliche Funktionen haben und völlig unterschiedliche Paradigmen der Rhetorik exemplifizieren konnten. Doch wurden in der Antike neben paradoxen Lobreden besonders häufig auch philosophische Thesen als Paradoxien bezeichnet. Daher seien schließlich auch jene Thesen der stoischen Ethik (zum Beispiel: „Nur der Weise ist reich“) besonders hervorgehoben, wie sie Marcus Tullius Cicero in seiner sowohl rhetorik- als auch philosophiegeschichtlich überaus einflussreichen Schrift Paradoxa Stoicorum erläutert und verteidigt hat. Sollte diese im Spätstadium der Krise der Römischen Republik verfasste Demonstration paradoxer Redekunst damals zur Wiederherstellung einer sittlichen Lebensweise beitragen, blieb der Paradoxie-Begriff gerade in der Neuzeit oft mit der antiken philosophischen Vorstellung verbunden, die Wahrheit auszusprechen. Während der Begriff der Paradoxie im Mittelalter, das vorwiegend lateinischsprachig war und keine programmatische Antikerezeption kannte,

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Einleitung

anscheinend relativ sparsam gebraucht wurde,18 scheint er erst wieder im literarisch-gelehrten Diskurs der Renaissance, für welchen die Antikerezeption konstitutiv war,19 weitreichende Präsenz erlangt zu haben. Mehr noch: Entsprechend der allgemein frühneuzeitlichen Tendenz zur Pluralisierung von Normen20 erlangt die Paradoxie im literarisch-gelehrten Diskurs der Renaissance sogar eine neuartige Legitimität. Ein eindrückliches Beispiel davon – und möglicher Zwischenschritt zwischen antiken und modernen Modellfällen paradoxer Rede – ist das Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam. Diese berühmteste paradoxe Lobrede der Frühen Neuzeit,21 die im Kontext der rhetorischen Philosophie des Humanismus und deren Reform sprachlicher Bildung zu interpretieren ist, mobilisiert gemäß der historischgelehrten Methode der Humanisten ausdrücklich heterogene antike Quellen, sogar zur „paradoxen Rede“ selbst, etwa die neusophistische Unterhaltungskunst, die stoische Philosophie und das Neue Testament. Darüber hinaus sind Erasmus’ moraltheologische Grundannahmen, wie eine antikonsensuale Rede aussehen dürfe, durch eine ambivalente Struktur gekennzeichnet. Etwa setzt das Lob der Torheit einerseits eine gegenüber der sokratisch-ciceronianischen Tradition erweiterte Legitimität der Kritik an allgemeinen Meinungen voraus, welche an die Autorität antik-historischer Quellen appelliert und die Abweichung vom Gegebenen zu den Merkmalen der Identität des Christen zählt. Doch zugleich limitiert Erasmus diese Legitimität von innen her – eine Art Selbstbegrenzung des christlichen Widerspruchsgeistes – im Sinne einer sozialverträglichen, nachsichtig-milden Einkleidung der Wahrheit in Unterhaltung und Schmeichelei.

18  Vgl. Probst, Peter/Schröer, Henning/von Kutschera, Franz: Paradox. Sp. 84. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter et. al. Bd. 7. Basel: 1989. Sp. 81-97; sowie Neumeyer, Martina: Paradoxe, das. Sp.  518. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen: 2003. Sp. 516-524. – Verweise auf mittelalterliche Belege gibt Gast, Wolfgang: Vertretbarkeitsgrade. Sp. 1125f. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 9. Tübingen: 2009. Sp. 115-1130. 19  Vgl. dazu Hempfer, Klaus  W.: Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘. S.  14, 17. In: Ders. (Hg.): Renaissance: Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur, Philosophie, bildende Kunst. Stuttgart: 1993. S. 9-45. 20  Vgl. Jaumann, Herbert: Frühe Neuzeit. S.  635. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin: 2007. S. 632-636. 21  Hier als allgemeingeschichtlicher Begriff für die Zeit vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Vgl. ebd.

Gegenstand der Untersuchung

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Bevor sich im 19. und 20. Jahrhundert die neue, an der Logik orientierte Bedeutung der Paradoxie durchzusetzen beginnt, erlebt der Begriff mindestens noch eine dritte Hochzeit in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Hier entstehen nun nicht nur mehr oder weniger ausführliche Reflexionen, sondern sogar eigenständige, dezidiert theoretische Abhandlungen zum Thema der „Paradoxie“. Daher steht am Ende des zweiten Teils auch die Reflexion dieses Phänomens in philosophischen Schriften der deutschen Aufklärung und Frühromantik im Vordergrund, während die Analyse verschiedener Paradoxie-Konzeptionen in den vier bisher genannten Stationen jeweils bei exemplarischen Fällen „paradoxer Rede“ ansetzte. Dass sich diese philosophische Tradition der Paradoxie von exemplarischen Weisheiten distanzierte, lässt sich dabei als Entsprechung zu den spezifisch modernen, individuelle Selbstreflexion fordernden Normen und Idealen des sprachlichen Handelns22 deuten: Im aufklärerischen Vorurteils-Diskurs und der Philosophie des Idealismus, in denen die Erweiterung des individuell gegebenen Horizonts als ein Bedürfnis des Menschen gilt, erhält der Terminus der Paradoxie erstmals den Sinn eines freilich immer noch human zu regulierenden, aber grundsätzlich doch legitimen Prinzips ergebnisoffenen, Neues hervorbringenden Miteinanderredens. Die traditionelle Disziplin der Rhetorik, die rednerische Selbstbehauptung als Glaubhaftmachung bestimmter Standpunkte und insofern als abschließende Überzeugung definierte, wird durch dieses neue philosophische Paradigma der Offenheit und der Dynamisierung des gelehrten Diskurses zumindest für akademische Zwecke delegitimiert.23 In der deutschen Frühromantik erreicht die herkömmliche paradoxe These dann zugleich den Höhepunkt und das Ende ihrer philosophischen Legitimation, weil sie immer aufs Neue nötig sei, aber nie genügen könne. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Konzepte des Redens gegen allgemeine Meinungen, welche Rhetorik und Philosophie hervorgebracht haben, analytisch beschreiben und miteinander vergleichen?

22  Moderne im soziologischen Sinne der primären Differenzierung der Gesellschaft in selbstregulative Funktionssysteme (Kunst, Wirtschaft, Politik, Religion etc.) im 18. Jahrhundert und der damit einhergehenden Anpassung der sozialen Semantik u.a. in Richtung auf Individualismus. Vgl. Luhmann, Niklas: Individuum, Individualität, Individualismus. In: Ders: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt/Main: 1993. S. 149-258. 23  Vgl. nochmals Ueding/Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. S. 134f.

10 1.4

Einleitung

Theoretische Grundlagen

1.4.1 „Paradoxe Rede“ als rhetorisches Phänomen „Paradoxe Rede“ ist offenbar ein Phänomen mittlerer Größe: Zwar ist es an individuelle Sprecher und deren jeweiligen Sprachgebrauch gebunden, doch kann es als ein Handeln, an dem andere teilnehmen können und sollen, zugleich zur Signatur kultureller Bewegungen werden. Die Frage lautet deshalb, wie man sich einen Typus paradoxer Rede vorstellen kann, dem einerseits eine Vielzahl an paradoxen Stellungnahmen zugeordnet werden kann (zum Beispiel alle klassisch-sophistischen Paradoxien), der sich andererseits aber auch von anderen Typen paradoxer Rede unterscheiden lässt. Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, dass alle Typen paradoxer Rede spezifisch rhetorische Handlungen umfassen. Auf diese These führt schon der Umstand, dass der traditionelle anders als der heutige Paradoxie-Begriff ein pragmatisches Modell der Sprache voraussetzt: Die Annahme, dass eine Äußerung von einer allgemeinen Meinung abweiche, stellt diese Äußerung eben dadurch in den Kontext einer bestimmten Kommunikationssituation, in der sich ein Autor mit einem bestimmten Ziel an bestimmte Adressaten richtet. Eine solche Situation eben, in der es um Selbstbehauptung mit sprachlichen Mitteln geht, ist eine rhetorische Situation. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass der traditionelle Paradoxie-Begriff in die Geschichte der Rhetorik oder doch in die Geschichte rhetorischer Fragen hineinführt. Denn jedes sprachliche Handeln, das beim Publikum etwas zu bewirken sucht und in diesem Sinne erfolgsorientiert ist, ist rhetorisches Handeln.24 Die rhetorische Erfolgsorientierung eines Menschen impliziert die Orientierung an den zu beeinflussenden Adressaten und damit auch an möglichen situativen Widerständen.25 Redegegenstände nach der wahrscheinlichen Einschätzung des Publikums zu klassifizieren, das war gerade der Zweck der bereits erwähnten Unterscheidung zwischen Endoxie, Amphidoxie und Paradoxie/ Adoxie. Jedes Sprecheranliegen, das die allgemeine Meinung des Publikums nicht bestätigt oder verstärkt, weicht in gewissem Grade von ihr ab, und die

24  „Rhetorik ist die kommunikative Möglichkeit des Menschen, einem von ihm als berechtigt angesehenen Anliegen, dem oratorischen Telos, soziale Geltung zu verschaffen und sich selbst damit, wenigstens im Moment des kommunikativen Erfolgs, aus sozialer Determination zu befreien. Rhetorik war von Beginn an der Ausgang des Menschen aus gesellschaftlicher Sprachlosigkeit, und der rhetorische Imperativ lautet: Perorare aude. – Habe Mut, dich deiner eigenen Ausdrucksfähigkeit zu bedienen!“ Knape, Joachim: Was ist Rhetorik? Bibliogr. ergänzte Ausgabe. Stuttgart: 2012. S. 32. 25  Vgl. zum situativen Widerstand der Rede ebd. S. 63.

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Paradoxie beschreibt dabei den Fall größter Differenz zwischen dem Gegenstand der Rede und der Erwartung des Publikums. Die Definition des rhetorischen Handelns als rednerische Selbstbehauptung lässt noch offen, um welche Form von Bedrängnis (bzw. um was für ein Gegnerbild) und um welche Art von rednerischem Wirken es sich handelt. Genau das lässt Spielraum für historische Differenzierungen. In einem ersten, eher unpräzisen Versuch lassen sich die Vorstellungen von paradoxer Rede dadurch unterscheiden, auf welche „Schwierigkeit“ sie mit welchen „Arten des rhetorischen Handelns“ reagieren: ob sie mit metaphysischem Wahrheitsanspruch von der Falschheit einer allgemeinen Ansicht überzeugen (Cicero), die alltäglichen Muster der Imagination durch fiktionale Unterhaltung durchbrechen (Lukian) oder der Tendenz zur Schulbildung und Dogmatisierung neuer Gedanken durch eine Rhetorik der Anregung und der Irritation (Frühromantik) entgegenarbeiten wollen. Eine Schlussfolgerung aus dieser allgemeinrhetorischen Bedeutung der Paradoxie betrifft den Umstand, dass die Philosophie, die ja auch rhetorisch handelt, mehrere Typen „paradoxer Rede“ umfasst. Wenn die Paradoxie nicht nur den Gegenbegriff des Konsenses, sondern auch einen Akteur voraussetzt, der um soziale Anerkennung irgendeiner Art wirbt, dann wird auch verständlich, was philosophische Modelle paradoxer Rede triftig macht: Sie thematisieren in der Regel den Philosophen selbst als eine Person, die die Wahrheit nicht im luftleeren Raum, sondern in der Gesellschaft ausspricht, und die daher das Risiko sozialer Ächtung eingeht. Wie Michel Foucault gezeigt hat, ist genau das ein Inbegriff der antiken Philosophie von den Kynikern über Platon und Sokrates bis zur Stoa: Das philosophische Ethos verpflichtet hier zur Parrhesia, das heißt dazu, auch auf die Gefahr der Verspottung und des Todes hin die Wahrheit auszusprechen, und es dient dazu, einen qualitativen Unterschied der eigenen Rede gegenüber den beliebigen Meinungsäußerungen zu behaupten, die von der demokratischen Redefreiheit geschützt werden.26 Statt bloß als Systeme von Behauptungen über die Wirklichkeit lasse sich die Philosophie der Antike, aber auch die der Neuzeit und besonders wieder die der Aufklärung als eine Folge von Lebensweisen verstehen, welche den prototypisch in der Figur des Kynikers verkörperten Mut zum Aussprechen der Wahrheit aufbringen.27 Wie an geeigneter Stelle zu zeigen ist, überschneidet sich 26  Vgl. zur wechselseitigen Abhängigkeit von Parrhesia und Demokratie Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Übers. v. Jürgen Schröder. Frankfurt/Main: 2012. S. 221-237, bes. 235f. 27  Zur Parrhesia bei den Kynikern und Sokrates vgl. Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Übers. v. Jürgen Schröder. Frankfurt/Main: 2012. Zur Wiederaufnahme der antiken

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tatsächlich die Geschichte der philosophischen Paradoxie-Konzeptionen (in den Stationen Platon/Sokrates, Stoizismus, Cicero, Erasmus von Rotterdam, Kant und Schlegel) wesentlich mit der Geschichte des philosophischen Ideals der Parrhesia. Dabei ist es allerdings wichtig zu sehen, dass das freimütige Aussprechen der Wahrheit, wie Foucault beiläufig erwähnt, im Kern zwar gerade nicht auf den Erfolg der Rede zielt, weil die Wahrheit einer Aussage unabhängig davon ist, ob sie geglaubt wird; dass dieses Wahrsprechen aber mit Rhetorik verbunden ist, eben weil der Sprecher der Wahrheit gleichwohl auch überzeugen will und dafür diese oder jene rhetorische Form auswählt.28 Da Philosophie und Wissenschaft als öffentliche Rede bzw. als adressierte Texte stets im lebensweltlich-öffentlichen Kontext stehen und dort um Anerkennung ringen, sprach Hans-Georg Gadamer von der „Ubiquität der Rhetorik“29. Die Philosophie existiert demnach nicht jenseits der Rhetorik, sondern sie hat Anteil an ihr. Im Anschluss an diese Position untersuchte Peter L. Oesterreich exemplarisch, wie sich Texte der antiken und modernen Philosophie der von ihm sogenannten „rhetorischen Differenz zwischen philosophischer Wahrheit und lebensweltlicher Glaubwürdigkeit“30 aussetzen. „Die rhetorische Differenz kennzeichnet dabei die Grundsituation der Philosophie in der politischen Welt, in der die Vernünftigkeit der geschichtlichen Wirklichkeit eben nicht a priori vorausgesetzt werden kann, sondern prinzipiell kontingent bleibt“.31 Oesterreich formulierte in diesem Zusammenhang programmatisch die Forderung nach einer regelrechten rhetorikanalytischen Revision der Philosophie, die das Geschäft der Philosophie unter den Bedingungen der nicht notwendig vernünftigen Öffentlichkeit auch wesentlich als eine rhetorische Aufgabe zu verstehen sucht, nämlich als die Aufgabe, „inmitten einer Pluralität anderer Stimmen, konkurrierender Theoriegegner und irrationaler Mächte um freie Zustimmung für ihre theoretischen Überzeugungen zu werben“.32 In diesem Forschungsfeld lassen sich auch die rhetorischen Strategien der philosophischen Stationen dieses Buches (Cicero, Erasmus, Kant und Schlegel) verorten, die aufgrund verPhilosophie als einer parrhesiastischen Praxis in der Neuzeit und besonders der Aufklärung vgl. ders.: Die Regierung des Selbst und der anderen. S. 433-439. 28  Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. S. 78-80. 29  Gadamer: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu ‚Wahrheit und Methode‘. S. 117. In: Ders. Kleine Schriften I. Philosophie. Hermeneutik. 2. Aufl. Tübingen: 1976. S. 113-130. 30  Oesterreich, Peter L.: Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs. Darmstadt: 1994. S. 1. 31  Ebd. 32  Ebd.

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schiedener Wert- und Wahrheitsbegriffe sehr verschieden ausfallen. Genauer wird jedoch danach zu fragen sein, ob nach ihrer jeweiligen Auffassung die Konfliktsituation zwischen Wahrheit und Lebenswelt zu den natürlichen Bedingungen des menschlichen Lebens gehöre (Erasmus, Kant, Schlegel) oder nicht (Cicero), und, mehr noch, ob die Durchsetzung der Wahrheit auf den Respekt gegenüber der bestehenden Lebenswelt angewiesen ist, und das nicht nur im Falle von geprüften Meinungen (Cicero, Kant u.a.), sondern auch und gerade in deren Irrtümern (Erasmus, Spätaufklärung/Frühromantik), weil nur so die soziale Verträglichkeit gewahrt bleibe.33 Diese Fragen deuten bereits darauf hin, dass zumindest hinter verschiedenen philosophischen Typen „paradoxer Rede“ weit mehr steht als nur die Infragestellung dieser oder jener Überzeugung des Publikums. Unabhängig davon, welchen konkreten Redegegenstand sie haben (die Fliege, die Torheit etc.), lassen sich – philosophische ebenso wie sophistische – Paradoxien typologisch dadurch unterscheiden, auf welchen anthropologischen Prämissen sie beruhen, das heißt, welche Annahme über die Natur des Menschen und das gute Leben jeweils gewählt worden sind. Mit anderen Worten: Es geht darum, Paradoxien und ihre normativ-reflexive Regulierung im Zusammenhang verschiedener Menschenbilder zu interpretieren, welche jeweils in einer besonderen Art der rednerischen Selbstbehauptung die Bestimmung des Menschen sehen. Dabei kann ein Begriff der Praxis helfen, der die Basis von Handlung in Hintergrundwissen oder Deutungsmustern verortet. Praktiken antikonsensualer Rede und ihre Grundlage in implizitem Wissen Die in diesem Buch vorgeschlagene Typologie verschiedener ParadoxieKonzepte in der Geschichte der Rhetorik und der Philosophie bezieht sich, wie gesagt, auf den Handlungsaspekt der Paradoxie im traditionellen Sinne. Bei aller notwendigen Kontextualisierung dieser Konzepte waren doch in allen untersuchten Fällen damit sprachliche Handlungen gemeint, die primär oder zumindest teilweise erfolgsorientiert sind. Um diesen Handlungsaspekt „paradoxer Rede“ genauer bestimmen und differenzieren zu können, nimmt 1.4.2

33  Ein von Oesterreich nur knapp behandelter, aber wichtiger Aspekt ist, dass Schlegel und andere Frühromantiker nicht nur die Wahrheit gegen den sogenannten gesunden Menschenverstand in Stellung bringen, sondern dass sie ihn, wenn und solange es nötig ist, auch umgekehrt – wie schon Erasmus es tat – gegen die kompromisslose Zumutung der ganzen Wahrheit verteidigen. Vgl. zur „Gefahr der Selbstaufhebung ‚öffentlicher Vernunft‘ im unendlichen ironischen Regreß“ ebd. S. 116-119.

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diese Studie den Begriff der sozialen Praxis zu Hilfe.34 Paradoxien der Rhetorik und auch der Philosophie als – theoretisch beschriebene oder tatsächlich ausgeführte – soziale Praktiken zu verstehen, soll zunächst einmal besagen, dass sie nicht nur Gegenstände abbilden, sondern dass sie auch Handlungsaspekte besitzen, weil der Autor gewisse Anliegen oder Handlungsziele mit ihnen verfolgt.35 Generell gilt, dass paradoxe Rede in rhetorisch-philosophischen Konzep­ tionen eine soziale Praxis ist, insofern sie implizit oder explizit behauptet, dass die Auffassung des Autors bzw. des Sprechers hinsichtlich des vorliegenden Themas von der mehrheitlichen Auffassung der Gesellschaft oder eines Teils von ihr abweiche. Gekennzeichnet durch die Geste des mehr oder weniger umfassenden Perspektivwechsels, sind Praktiken antikonsensualer Rede Praktiken der Umdeutung. Wichtig ist, dass sie ihre eigene Deutung, also Beschreibung, Bewertung etc., als Abweichung vom Etablierten vorstellen, egal ob sie nun tatsächlich Begriffe umdefinieren und gängige Urteile umkehren oder dies irrtümlich glauben oder bewusst vorspielen. Als soziale Praxis rechnet paradoxe Rede, anders gesagt, mit den beiden Rollen des Autors bzw. des Sprechers und einer mehr oder weniger spezifischen Allgemeinheit – und dabei vermittelt sie gegebenenfalls einem Dritten, nämlich dem Rezipienten, ein gewisses Selbst- und Gegnerbild. Zwar ist es für die Charakterisierung einer Praxis antikonsensualer Rede nie ganz unerheblich, etwa mithilfe diskursanalytischer oder linguistischer Methoden zu erfahren, ob eine sogenannte Paradoxie tatsächlich so paradox ist, wie sie vorgibt. Gleichwohl beschränkt sich diese Untersuchung darauf, die pragmatische Dimension paradoxer Rede, wie sie als rhetorisch-philosophischer Handlungstyp reflektiert oder praktiziert wird, zunächst einmal über die typischerweise oppositionelle Einstellung der in ihr textuell implementierten Sprecherposition zu erschließen. Die typologische Funktion des Begriffs der sozialen Praxis für diese Untersuchung schließlich liegt darin, dass eine Praxis auf deskriptiven und normativen Grundannahmen aufbaut, die einerseits als Spielregel für die Teilnahme an dieser Praxis fungieren, die aber andererseits auch durch Dritte negiert, kritisiert oder abgewandelt werden können. Der Begriff der Praxis paradoxer – synonym immer auch: antikonsensualer – Rede soll also verstehbar machen, wie sich eine solche Praxis nicht allein von dem jeweiligen Konsens, dem ihre einzelnen paradoxen Äußerungen opponieren, sondern auch von 34  Vgl. Schäfer, Hilmar (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld: 2016. 35  Zum rhetorischen „Handeln“ des Textes vgl. Knape, Joachim: Was ist Rhetorik? Bibliogr. ergänzte Ausgabe. Stuttgart: 2012. S. 110-135.

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anderen Praktiken antikonsensualer Rede abgrenzen kann. Ausgehend von einem kulturtheoretischen Praxisbegriff, dem zufolge Handeln auf veränderlichen, in jedem Fall aber impliziten, das heißt: situativ gebrauchten Deutungsmustern aufbaut, ist im Folgenden die Frage entscheidend, von welchem impliziten Wissen ein Autor (im Unterschied zu einem anderen Autor) ausgeht, wenn er paradoxe Texte produziert oder diskutiert. Damit schließt die folgende Begriffsverwendung zum einen an Überlegungen von Michael Polanyi zur impliziten Dimension des Wissens36 (tacit knowledge) und zum anderen an den Forschungsüberblick von Andreas Reckwitz zur impliziten Dimension sozialer Praxis an.37 Die implizite Dimension dieses Wissens soll im Folgenden darauf hinweisen, nicht dass es nicht explizierbar sei, sondern dass es die Wahrnehmung und das Handeln orientiert oder orientieren kann. Der Blick auf das Hintergrundwissen ist nicht zuletzt deshalb nötig, um die „Einbettung des Handelns in sozial zirkulierende und inkorporierte Wissensordnungen“38 sichtbar zu machen, wie zum Beispiel in zeitgenössische Fachdiskurse, die für die untersuchten Autoren eine Rolle spielen. Nun kommt es freilich auch darauf an, dieses Handlungen orientierende Wissen seinem möglichen Inhalt nach zu benennen. Dafür ist es hilfreich, Wissen nach unterschiedlichen Arten von Gegenständen zu unterscheiden (wie etwa Konzepte, Prozeduren, Situationen und Strategien).39 Für Praktiken antikonsensualer Rede ist aufgrund ihrer wenigstens partiellen Erfolgsorientierung zum einen strategisch-prozedurales Wissen relevant, und zwar sowohl globale Handlungspläne als auch Schreibstrategien im Sinne von Vertextungsverfahren. Zum anderen geht es um situationales und konzeptuelles Wissen, und zwar speziell um die vom Autor vorgenommenen oder akzeptierten Definitionen der Situation und der Rolle, in der er als

36   Polanyi, Michael: The Tacit Dimension. Chicago: 1966; ders.: Personal Knowledge: Towards a Post-Crititcal Philosophy. Chicago: 1974. Zur Theorie des impliziten Wissens allgemein vgl. Neuweg, Georg Hans: Könnerschaft und implizites Wissen: Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis. Münster: Waxmann, 2001. 37  Vgl. Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32, 4 (2003). S. 282-301. 38  Schäfer, Hilmar: Einleitung. Grundlagen, Rezeption und Forschungsperspektiven der Praxistheorie. S.  10. In: Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Hg. v. dems. Bielefeld: 2016. S. 9-25. 39  Vgl. für eine hilfreiche Klassifikation des Wissens nach Zuständen und nach Gegenständen De Jong, Ton und Monica G.M. Ferguson-Hessler: Types and Qualities of Knowledge. In: Educational Psychologist 31/2 (1996). S. 105–113.

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professioneller Sprecher, aber auch als Mensch überhaupt agiert.40 Dieses teils soziokulturell vermittelte, teils von den Autoren veränderte Wissen schlägt sich in paradoxen Texten selbst meist nur implizit nieder, wird aber in der Regel auch in fachtheoretischen Texten expliziert. 1.4.2.1 Anthropologisches Wissen Unter dem situationalen und konzeptuellen Wissen, das für die Rhetorik allgemein, für rhetorische Fragen innerhalb der Philosophie und so auch für rhetorisch-philosophische Modellfälle paradoxer Rede zentral ist, nimmt das anthropologische Wissen vielleicht den ersten Rang ein. Dass Rhetorik als Disziplin immer auch darüber philosophierte, was der Mensch ist, hat wohl zuerst Hans Blumenberg hervorgehoben.41 Die damit ins Zentrum der Rhetorikgeschichte gestellte philosophisch-anthropologische Fragestellung lautet nach Blumenberg genauer, ob der Mensch in den Besitz der Wahrheit gelangen könne oder nicht. Als radikale Positionen in dieser Frage stellt Blumenberg exemplarisch Cicero und die Sophistik einander gegenüber. Die von starken metaphysischen Vorannahmen geprägte Rhetorik Ciceros „geht vom möglichen Wahrheitsbesitz aus und gibt der Redekunst die Funktion, die Mitteilung dieser Wahrheit zu verschönen, sie eingängig und eindrucksvoll zu machen“42. Auf der anderen Seite sieht Blumenberg die klassische Sophistik, deren Rhetorik wenigstens ihrem großen Kritiker Platon zufolge „auf der These von der Unmöglichkeit der Wahrheit“43 beruhe; sophistische Rhetorik fungiere somit nicht als ornatus der Wahrheit, sondern als ihr pragmatischer Ersatz, als Technik zur Herstellung von Konsens, die auf den Anspruch auf Wahr­heit generell verzichtet: „Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhetorik als der Kunst des Scheins, die ihn mit seinem Mangel an Wahrheit fertig werden läßt“.44 Tatsächlich legitimiert die Sophistik, wie bereits erwähnt, die Kritik der allgemeinen Meinung als ein Mittel zur politisch-rechtlichen Selbstbehauptung, ohne dass damit philosophische Wahrheitsansprüche 40  Zu einer ähnlichen Auffächerung verschiedener Wissensarten vgl. De Jong, Ton/Monica G.M. Ferguson-Hessler: Types and Qualities of Knowledge. Educational Psychologist 31/2 (1996). S. 105–113. 41  Vgl. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart: 1999. S. 104-136. Mittlerweile ist diese These weiter erläutert und bekräftigt worden, vgl. Kopperschmidt, Josef (Hg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum homo rhetoricus. München: 2000. 42  Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. S. 105. 43  Ebd. 44  Ebd.

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verbunden sein müssten. Und Cicero legitimiert, wie zu zeigen ist, die im Dienst der Wahrheit stehende Kritik der allgemeinen Meinung, aber nicht die paradoxe Anmutung dieser Kritik, die er vielmehr durch rhetorische Überformung eingängig zu machen und so als unmittelbar glaubhaft darzustellen sucht. Durch eine derartige Analyse des anthropologischen Wissens und der – eher metaphysischen oder eher skeptischen – Erkenntnismodelle lassen sich auch Praktiken antikonsensualer Rede typologisch unterscheiden. Der Stellenwert von anthropologischen Fragen für die Rhetorik erklärt nicht zuletzt, warum die idealistische Subjektphilosophie (Kant, Schiller, Schlegel) für die Geschichte des Paradoxie-Konzepts und ihre Erforschung wichtig ist: Sie relativiert die in den einflussreichsten philosophischen Paradoxie-Konzepten der Vormoderne vorausgesetzte Prämisse des möglichen Wahrheitsbesitzes des Menschen und erhebt die Skepsis, die Kritik und mit ihnen die Paradoxie zu einem Prinzip der Erkenntnis. In der Aufklärung, spätestens aber in der Frühromantik gilt sogar jegliche Praxis aufgrund ihrer vorausgesetzten normativen Maßstäbe als potentiell kritisierbar. So reflektiert sich hier auch die philosophische Praxis antikonsensualer Rede als eine ergänzungsbedürftige und insofern problematische Praxis. Schließlich erhält spätestens an dieser Stelle auch die Kategorie des Widerspruchs eine typologische Bedeutung für die Analyse von Praktiken antikonsensualer Rede. Es ist schon deutlich geworden, dass dieses Buch nicht Paradoxien im Sinne widersprüchlicher Strukturen untersucht. Gleichwohl kann und muss diese Untersuchung analytisch getrennt und ergänzend im Folgenden mit einbezogen werden. Denn wenigstens seit der Frühen Neuzeit postuliert das anthropologische Wissen, das philosophische Praktiken antikonsensualer Rede orientiert, strukturelle Widersprüche in der Natur des Menschen: Steht der Mensch im Humanismus zwischen leidenschaftlicher Naturanlage und religiöser Bestimmung, sodass er nur graduelle Fortschritte machen kann, so ist er sowohl zur Vergeistigung als auch zur Nachsicht gegenüber Fehlern gezwungen. Ähnlich ambivalent, fordert das individualistische Menschenbild der Aufklärung zum Balanceakt zwischen Selbstdenken und der Anerkennung der Meinungen anderer auf, während die idealistisch-frühromantische Ansicht des Menschen als endlich und unendlich zugleich jede Position des Denkens einerseits als wertvolles Lebenszeichen und andererseits als ergänzungsbedürftig betrachtet. Diese ausgeprägten Ambivalenzen in den normativen Maßstäben der drei neuzeitlich-modernen Paradoxie-Konzepte sind wesentliche Merkmale der jeweiligen Praktiken antikonsensualer Rede (vgl. Kap. V, VI, VII).

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1.4.2.2 Strategisches Wissen Da das anthropologische Wissen die gegebenen Ziele (Ideen vom gelungenen Leben) und die verfügbaren Mittel (Erkenntnisfähigkeit, Affizierbarkeit durch Rede) des Menschen postuliert, hängt es eng mit dem strategischen Wissen zusammen, auf dem verschiedene Praktiken antikonsensualer Rede aufbauen.45 Wie bereits angedeutet, hat dieses strategische Wissen, in dem die jeweiligen Akteure das Reden gegen allgemeine Meinungen hinsichtlich seines Einsatzbereichs und seiner angemessenen sprachlichen Gestalt für bestimmte Zwecke legitimieren, vor der Aufklärung und der Frühromantik selten die Form einer Theorie oder einer eigenständigen Abhandlung. Als Gegenstände fachlicher Diskurse lagen Praktiken antikonsensualer Rede jedoch immer schon relativ elaborierte Handlungspläne, also komplexe Strategien zugrunde. Die im Folgenden zu untersuchenden Strategien sind komplex, weil sie sich stets aus zwei Arten von Strategien zusammensetzen, die zum einen die Situation und zum anderen das Schreiben des Autors betreffen.46 Erstens geht es um globale Handlungspläne, die eine gewisse Form des paradoxen Sprachhandelns typischerweise als ein Mittel instrumentalisieren, mit dem man gesellschaftlichen Schwierigkeiten begegnet und bestimmte Ideale des Zusammenlebens verfolgt. In diesem Sinne sind Praktiken antikonsensualer Rede gewissermaßen Könnerschaften oder Kompetenzen, die Lösungen für gesellschaftliche Probleme anbieten, zum Beispiel Kompetenzen der Selbstbehauptung in der Demokratie durch die Macht des argumentativen Dagegenhaltens (Gorgias), der erholsamen Unterbrechung des Alltags durch fiktionale Rede (Lukian) oder der Beförderung der Einsicht des Publikums in die christliche Sache durch das eloquente Aussprechen der Wahrheit (Erasmus).47 Mit den globalen Handlungsplänen sind häufig, zweitens, Strategien der literarischrhetorischen Darstellung eng verbunden. Je nach verschiedenen rhetorischästhetischen Wertbegriffen des Angemessenen oder Unangemessenen (wie Verständlichkeit, Begründungsbedürftigkeit, Annehmlichkeit, Ausdrucksfülle, 45  Im Anschluss an Knape, Joachim/Becker, N./Böhme/K.: Strategie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9 Hg. v. Gert Ueding. Tübingen: 2009. Sp. 152-172. „Eine rhetorische Strategie ist das auf einen komplexen kommunikativen Prozeß bezogene Erfolgs- und Effektivitätskalkül des Orators, in dessen Mittelpunkt die Analyse der relevanten ZielWiderstand-Mittel-Relationen steht“. Sp. 153. 46   „Strategien beziehen sich sowohl auf die weiträumig in den Blick genommenen Kommunikationszusammenhänge als auch auf die Vertextungslehre im engeren Bereich des oratorischen Tuns“. Ebd. Sp. 152f. 47  Alle drei Beispiele lassen sich als paradoxe Lobreden bezeichnen, welche die Gattung unterschiedlich funktionalisieren, stehen doch dahinter ästhetische, politisch-juristische und moraltheologische Legitimationsmuster; aber auch ihre Darstellungsweisen unterscheiden sich freilich bei genauerem Hinsehen stark voneinander.

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Rätselhaftigkeit etc.) regeln sie den Umgang mit paradoxen Gegenständen durch die Empfehlung besonderer Mittel der Gestaltung der Rede. So zielt etwa Cicero mit seinem Ideal passiver Verständlichkeit darauf, in den Paradoxa Stoicorum die Grundthesen der stoischen Ethik in eine allgemeinverständliche, unmittelbar einleuchtende Redeweise zu übertragen, während Erasmus mit seinem Eloquenz-Ideal, das auch aktives, analytisches Sprachverstehen einschließt, zumindest im Falle des Lobs der Torheit geradezu umgekehrt vorgeht und die Paradoxalität der christlichen Lehre stilistisch noch übertreibt. So führen unterschiedliche Menschenbilder zu unterschiedlichen rhetorisch-ästhetischen Wertbegriffen und Gestaltungsmitteln paradoxer Rede. Auch wenn die Paradoxie-Konzepte nicht exemplarisch demonstriert, sondern vorwiegend theoretisch expliziert werden, wie im Falle der Aufklärung und der Frühromantik, vertritt dieses Buch die These: Erst die Rekonstruktion der globalen Handlungs- und der lokalen Darstellungsstrategie schließt die pragmatische Dimension paradoxer Rede – auch über deren stets unterstellten Abweichungscharakter hinaus – auf, das heißt das, was Rhetorik und Philosophie in unterschiedlichen historisch-kulturellen Kontexten mit paradoxer Rede anfangen konnten oder nicht. Diese Strategien sind elementarer Bestandteil des Wissens der Rhetorik und der Philosophie über Paradoxie und Konsens und sie verdienen daher die größte Aufmerksamkeit gerade bei der epochenübergreifenden Untersuchung der rhetorisch-philosophischen Kategorie des Paradoxen. 1.4.3 Teilnahme oder Kritik an Praktiken antikonsensualer Rede Paradoxe Stellungnahmen scheinen auf den ersten Blick „die Entzweiung von Subjektivität und Sozietät“48 vorauszusetzen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sie oftmals in Praktiken antikonsensualer Rede eingebettet sind, die nicht unbedingt nur von einer Person, die allein „der Gesellschaft“ gegenübersteht, ausgeübt werden. Vielfach werden diese Praktiken im Gegenteil gerade wesentlich daraufhin entworfen, dass die Gesellschaft im Ganzen oder in Teilen durch eigene Beiträge oder doch durch Zustimmung an ihnen teilnimmt. Die normativen Maßstäbe, auf denen sie aufbauen, gehen ihrerseits häufig aus Sozialisierungsprozessen hervor und sollen oft auch eben solche anstoßen.49 Auch wenn die innerhalb einer Praxis antikonsensualer Rede vorgebrachten paradoxen Stellungnahmen suggerieren, singuläre Stimmen gegen die herrschende Meinung zu sein, stehen hinter ihnen wiederum konsen­ tierbare Grundannahmen und vermittelbare Fähigkeiten zu erfolgreichem 48  Probst/Schröer/von Kutschera: Paradox. Sp. 84. 49  Vgl. Knape: Was ist Rhetorik? S. 116-121.

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sprachlichen Handeln. Wie die im Folgenden zu untersuchenden „großen Autoren“ Exponenten einflussreicher kultureller Strömungen waren, die zum Teil sogar Epoche gemacht haben, so setzen auch ihre „Paradoxien“ fachliche Überzeugungen und darüber hinaus gewisse autoritative Normen ihres Kulturraums als selbstverständlich voraus (zum Beispiel Cicero den Wertbegriff des mos maiorum, Erasmus die christliche Religion, Kant und Schlegel das Paradigma des souveränen Subjekts etc.). Auch Paradoxien haben also normativ geregelte Anteile, vor allem anthropologisches und strategisches Wissen, sodass andere Autoren sich der jeweiligen Praxis wie Schüler anschließen oder ihr wie Kritiker entgegenarbeiten können.50 Eben dieser Umstand, dass natürlich nicht nur paradoxe Texte, sondern auch und gerade Praktiken antikonsensualer Rede selbst auf den Widerstand von Kritikern stießen und sogar mit anderen Praktiken antikonsensualer Rede konfrontiert wurden, steht in diesem Buch wenigstens dreimal im Fokus der Aufmerksamkeit. Zum einen wird von dem sokratisch-platonischen Gegenentwurf zur sophistischen Rhetorik zu sprechen sein (Kap. II. 5), der als wahrheitsorientierte Praxis antikonsensualer Rede die erfolgsorientierte der Sophistik geradezu negiert. Zum anderen gilt es am Beispiel von Ciceros Paradoxa Stoicorum zu beachten, dass dieser die sokratisch-platonische Praxis antikonsensualer Rede, in deren Tradition die von der Stoa selbst als Paradoxien bezeichneten ethischen Thesen standen, durch die Akzeptanz und den extensiven Gebrauch rhetorischer Mittel ergänzte. Die beiden letzten Kapitel setzen dann das aufklärerische und das frühromantische Konzept der Paradoxie in den gemeinsamen Bezugsrahmen der idealistischen Subjektphilosophie, in dem letzteres als eine Radikalisierung von ersterem erläutert werden kann. Insgesamt zeigen gerade diese größeren und kleineren Konflikte zwischen verschiedenen Paradoxie-Konzepten besonders gut, dass die Kategorien der Konformität und der Abweichung bei der Analyse von Paradoxien zu kurz greifen. Denn offenbar zeichnen sich Praktiken antikonsensualer Rede gerade dadurch aus, dass sie beide Kategorien auf eine bestimmte Weise 50  Ein Umstand, der auch die aktuelle philosophisch-anthropologische Theoriebildung interessieren könnte: „Fähigkeiten, Vermögen sind als erworbene abgestuft; sie unterscheiden uns in Könner und Nichtkönner, in Mehr- oder Wenigerkönner. Und vielleicht viel tiefer und weitreichender noch als in der Art und im Grad unserer Fähigkeiten selbst unterscheiden wir uns in unseren Urteilen darüber, wer ein Könner und wer ein Nichtkönner ist, was einen Könner ausmacht. Vermögen gibt es nicht nur in unterschiedlichen Arten und Graden, sondern in unterschiedlichen, ja unvereinbaren und einander bekämpfenden Auslegungen und Anwendungen. Unsere Vermögen vergesellschaften und entzweien uns. Sie sind wesentlich das Feld, weil der Gegenstand von Konkurrenzen und Kämpfen“. Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst. 2. Aufl. Berlin: 2013. S. 167.

Stand der Forschung zur Paradoxie

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deuten und bewerten, die ihrerseits zur Basis kooperativen Handelns werden und von Dritten kritisiert werden kann. 1.5

Stand der Forschung zur Paradoxie im traditionellen Verständnis

Mit diesem Ansatz soll ein Beitrag zu einer disziplinär bisher vor allem altphilologisch und romanistisch geprägten Forschungsrichtung geleistet werden. Diese besteht aus fach-, begriffs- und gattungsgeschichtlichen Aufsätzen, Lexikonartikeln sowie aus einigen wenigen Monographien zum Begriff der Paradoxie und mit ihm mehr oder weniger eng verbundenen Texten. Diese Studien lassen sich vielleicht am besten anhand der Frage näher beschreiben, ob die jeweils gewählte Einstellungsgröße eher von Weitem das historische Panorama eines Begriffs oder einer Art von Texten (zum Beispiel der Gattung der paradoxen Lobrede) etabliert und also einen Grundtypus vorstellt, ohne den Blick auf seine verschiedene Ausprägungen zu lenken, oder ob der Fokus stattdessen auf dem Begriff oder auf paradoxen Texten in einzelnen Strömungen und fachlichen Programmen, ja sogar im Werk einzelner Autoren liegt. 1.5.1 Allgemeine und allgemein-rhetorische Studien Die ersten Appelle zur historischen Erforschung der Paradoxie reichen bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.51 Das ist wohl kein Zufall, da spätestens zu dieser Zeit die neue Bedeutung des Wortes Paradoxie in der Wissenschaft und im allgemeinen Sprachgebrauch die traditionelle Bedeutung zu verdrängen begann. Wichtige Referenzen für die neue Bedeutung waren schon damals zum einen das Werk Sören Kierkegaards52 und zum anderen die Grundlagenkrise der Mathematik, die in Folge der Veröffentlichung der heute 51  „Uns fehlt in der Geschichte der deutschen Literatur eine Geschichte des Paradoxen. Wir würden eine Untersuchung brauchen, welche die Entwicklung des Paradoxen sowohl als Stilart, als in besonderer Weise auch als geistige Haltung darstellt. Es wäre zu zeigen, wie und durch welche Wandlungen hindurch das Paradoxe – zugleich Kunst und Philosophie[…] – unsere Literatur durchzieht. Es wäre vor allem die innere Umstellung zu verfolgen und zu erklären, die das Paradoxe in der Dichtung und Ästhetik des 18. Jahrhunderts erfährt“. Stefansky, Georg: Theorie des Paradoxen. Eine bisher unbekannte Schrift Wilhelm Heinses. S. 388f. In: Euphorion 25 (1924). S. 379-389. 52  Vgl. die Lemmata Paradox („was gegen die allgemeine Geltung und Auffassung verstößt, widersinnig“) und Paradoxie („der Widerstreit zweier an sich gleichbegründeter Sinngehalte“, mit Verweis auf Kierkegaard) sowie Paradoxon („eine ungewöhnliche Behauptung“, und in der Rhetorik: „eine Sinnfigur, die auf einem scheinbaren Widerspruch in der Verbindung entgegengesetzter Begriffe beruht“) im damals aktuellen Brockhaus.

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sogenannten Russell’schen Paradoxie im Jahr 1903 begann und bis in die 1930er Jahre andauerte.53 So skizziert wohl zuerst Klaas Schilder eine allgemeine, über einzelne Fächer hinausgehende Begriffsgeschichte der Paradoxie von der Antike bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts.54 Im ersten, allgemeinen Teil, der freilich auf Differenzierungen zwischen verschiedenen inhaltlichen Ausdeutungen und Bewertungen in den Paradoxie-Konzeptionen unterschiedlicher Fächer und Autoren verzichtet, stellt er fest: „[D]as Merkmal der logischen Absurdität ist für den Begriff ‚paradox‘ nicht konstitutiv“.55 Das Wort sei zunächst von den Sophisten als rhetorischer Fachterminus verwendet und ferner zur Bezeichnung wunderlicher Dinge, der Stilfigur des rednerischen Erstaunens sowie herausragender Sportler gebraucht worden.56 Im Mittelalter sei es „seine wissenschaftliche Bedeutung völlig los geworden“,57 während es in der Neuzeit wiederum überliefert werden konnte „in derselben Bedeutung, die es beim Absterben der klassischen Sprache schon hatte: wunderbar, wider Erwarten, au dessus de ce qu’on peut croire, extraordinaire“.58 Eine grundsätzliche Wendung in der Begriffsgeschichte nehme „unstreitig ihren Anfang bei dem Dänen Sören Kierkegaard“59, bei dem ein ‚paradoxer‘ Gedankeninhalt dem, der das Paradoxe in ein Gedankensystem zu inkorporieren versucht, nicht nur (wie früher) Mühe verursacht, sondern – und das ist das tatsächlich Neue – dass zwischen dem wesentlich Paradoxen und dem wesentlich Systematischen ein (unversöhnlicher) Gegensatz behauptet wird.60

Bei Kierkegaard kann es tatsächlich niemanden geben, der im Sinne des alten Begriffs im Gegensatz zu einer Allgemeinheit von einer Paradoxie überzeugt ist, Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. 15. Auflage. 14. Bd. S. 155. Leipzig: 1933. 53  Vgl. Probst, Peter: Paradox. S. 90f. – Vgl. für die synonyme Verwendung von paradox und contradiction etwa Russell, Bertrand/Whitehead, Alfred North: Principia mathematica. Cambridge: 1910. S. 64, 66, 67. Für eine logisch-systematische Einführung in Russells Paradoxie vgl. Sainsbury: Paradoxien. S. 235-280. 54  Vgl. Schilder: Zur Begriffsgeschichte des ‚Paradoxon‘. 55  Ebd. S. 75. 56  Vgl. ebd. S. 4-16. 57  Vgl. ebd. S.  22f. – Das lässt sich so pauschal nicht bestätigen. Vgl. erneut die Belege von mittelalterlichen Begriffsverwendungen bei Gast, Wolfgang: Vertretbarkeitsgrade. Sp. 1125f. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 9. Tübingen: 2009. Sp. 115-1130. 58  Ebd. S. 26. 59  Ebd. S. 89. 60  Ebd. S. 90. (Herv. im Orig.).

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weil die Paradoxie selbst, definiert als Ewigkeit Gottes, die mit der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins kollidiert, keine ungewöhnliche Meinung, sondern eine ontologische Kategorie bezeichnet, welche per definitionem die Fassungskraft des menschlichen Verstandes schlechthin übersteigt.61 Gemeint ist hier also nicht mehr nur die Kategorie des geringen Glaubhaftigkeitsgrads einer Rede im Vergleich mit der allgemeinen Meinung, sondern eine „Lehre von der Paradoxalität der Wahrheit“62. Schilder hat darüber hinaus zuerst auf einen weiteren wichtigen Faktor der Veränderung des alten Begriffs der Paradoxie hingewiesen, nämlich die Grundlagenkrise der Mathematik. Sie „gab auch auf dem Gebiet der Mathematik den Begriff ‚Paradoxon‘ einer allgemeinen Verwirrung preis“.63 Antinomie, Kontradiktion und Paradoxie wurden seither austauschbare Begriffe der Logik und der Mathematik, während der Aspekt der sozialen Differenz völlig in den Hintergrund rückte.64 Schilder wirft zwar die Frage nach einem gemeinsamen Ausgangspunkt der theologischen und mathematischen Begriffsneuerung im 19. und 20. Jahrhundert auf und weist für eine mögliche Antwort auf das Problem des Unendlichen hin, auf „Verbindungsdrähte zwischen einer Philosophie der Antithese „absolutexistentiell“ und der Mathematik mit ihrem Unendlich-Endlich-Problem“.65 Doch ist für ihn in erster Linie wichtig festzustellen, dass man fälschlicherweise „Calvin durch eine Brille vom 20. Jahrhundert“66 betrachte, wenn man behauptet, dass die an Kierkegaard anschließende dialektische Theologie um Karl Barth und Friedrich Gogarten67 sich auch in ihrem Verständnis der Paradoxie aus den Gedanken jenes Reformators speise. Einen Fokus auf die Rhetorik richtete dagegen Michael J. Hyde, der unter Berücksichtigung maßgeblicher fachgeschichtlicher Quellen von der Antike bis zur Renaissance richtigerweise zwischen zwei Bedeutungen der Paradoxie unterscheidet.68 Zur Paradoxie als embellishment auf der Ebene der Figurenlehre zählt er die Figur, mit der der Redner sein eigenes Erstaunen ausdrückt oder das Publikum hinhält, sowie, dies allerdings anachronistischer Weise, das Oxymoron. Die Paradoxie als argumentation siedelt er im Kontext der 61  Vgl. zum Begriff der Paradoxie in der christlichen Theologiegeschichte mit weiteren Hinweisen zu Kierkegaard Schröer, H.: Paradox. In: HWdPh, Sp. 90-96. 62  Vgl. Schilder: Zur Begriffsgeschichte des ‚Paradoxon‘. S. 415. 63  Ebd. S. 122. 64  Vgl. ebd. S. 119-165. 65  Ebd. S. 119. 66  Ebd. S. 34. 67  Vgl. ebd. S. 295-387. 68  Vgl. Hyde, Michael  J.: Paradox: The Evolution of a Figure of Rhetoric. In: Rhetoric 78. Proceedings of Theory of Rhetoric: An Interdisciplinary Conference. Hg. v. Robert  L. Brown Jr. und Martin Steinmann Jr. Minneapolis: 1979. S. 201-225.

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Diskussion einer These nach pro und contra an, wofür er auf die aristotelische Dialektik und die bereits erwähnte formelhafte Unterscheidung verschiedener Vertretbarkeits- oder Glaubhaftigkeitsgrade von Redegegenständen seit der hellenistischen Gerichtsrhetorik hinweist. Aus der letzteren Definition der Paradoxie als einer pragmatischen Kategorie der Wirkung zieht Hyde nicht die nötige Konsequenz. Er stellt das ausschließende Verständnis der Paradoxie als einer Figur, das seinem Aufsatz den Titel gibt, nicht in Frage – vielleicht wegen der immer noch latenten Konfusion von Rhetorik und Logik in diesem historischen Abriss zur Paradoxie und dem Widerspruch und Oxymoron in antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Rhetoriktheorie. Stärker wiegt aus heutiger Sicht freilich, dass Hyde auf einer allgemeinen definitorischen Ebene verbleibt, die keine Rückschlüsse auf Besonderheiten der jeweiligen Sichtweisen auf die Paradoxie (etwa bei den von ihm genannten Autoren Aristoteles, Cicero und Erasmus) als einer argumentativen Rede erlaubt, die aus Sicht des Publikums von geringer Glaubhaftigkeit ist. Die Triftigkeit der Argumente gegen das einseitig-strukturalistische, auf die Figurenlehre reduzierte Verständnis der Paradoxie macht etwa zehn Jahre später zuerst Jean-Claude Margolin deutlich.69 In seinem Aufsatz vermischt zwar auch er Paradoxie und Oxymoron bzw. Widerspruch, doch rückt er die pragmatische Definition der Paradoxie als „opinion contraire à l’opinion commune“70 ins Zentrum, wie man sie aus der vormodernen Rhetorik und Dialektik gewinnen kann. Statt nun jedoch genauer danach zu fragen, was in der Geschichte der Rhetorik oder der Dialektik jeweils als „l’opinion commune“ verstanden wurde und welche rhetorischen Mittel im paradoxen Fall der Rede jeweils einzusetzen waren, verlässt Margolin die fachgeschichtliche Perspektive auf das Phänomen und gibt, freilich mit guten Gründen, zu bedenken, dass sich nicht ein für allemal feststellen lässt, was eine Paradoxie ist, weil der Gegenbegriff der allgemeinen Meinung dafür zu vage sei: [Q]u’est-ce que l’opinion commune? Repose-t-elle sur un socle logico-sémantique, historique ou psycho-sociologique solide? Ne varie-t-elle pas avec le temps, les groupes sociaux, les individus?71

Diese Fragen stellen sich dann, wenn man einen analytischen Gebrauch von den Kategorien der allgemeinen und der abweichenden Meinung machen

69  Vgl. Margolin, Jean-Claude: Le paradoxe est-il une figure de rhétorique? In: Nouvelle revue du seizième siècle 6 (1988). S. 5-14. 70  Ebd. S. 6. 71  Ebd. S. 7.

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möchte.72 Mit Blick auf die Geschichte der Rhetorik und der Philosophie ist jedoch interessant, dass sie zumindest in den meisten hier untersuchten Stationen den Begriff der allgemeinen Meinung (resp. den der abweichenden Meinung) zumindest in deskriptiver Hinsicht als unproblematisch voraussetzen. In der hier gewählten, fachgeschichtlichen Perspektive wäre zu sagen, dass Margolins relativistisches Verständnis von Paradoxie und Konsens ein spezifisch modernes und damit vergleichsweise junges Konzept ist.73 Die Problematisierung, dass man sich nicht leicht darauf einigen könne, was die Allgemeinheit glaube, gehört insofern weniger zum analytischen Instrumentarium als vielmehr zum Gegenstandsbereich dieser Arbeit. Wenige Jahre später gibt Heinrich F. Plett im bis heute wichtigsten allgemeinrhetorischen Aufsatz zur Paradoxie, der die anachronistische Assoziation mit logischen Paradoxien wahrscheinlich erstmals konsequent vermeidet, eine grundlegende Übersicht zur Paradoxie anhand der als zeitlos gültig angesehenen Renaissance-Rhetorik und stellt fest: Unsere landläufige Auffassung vom Paradoxon als rhetorischer Kategorie ist korrekturbedürftig. […] Im Gegensatz zur heutigen (semio)-syntaktischen Explikation des Paradoxie-Konzepts, die auf logischen Vorstellungen beruht, interpretiert die Renaissance-Rhetorik dieses eher pragmatisch.74

Auch er unterscheidet wie Hyde zwischen der Klassifikation der Glaubhaftigkeit eines Redegegenstands im Rahmen der Auffindung der Argumente (inventio) und der, systematisch allerdings weit weniger wichtigen, Stilfigur der Verwunderung des Redners oder des gezielten Erwartungstrugs (elocutio). Dabei notiert er für beide Fälle: 72  Vgl. in dieser Richtung zum Beispiel Geertz, Clifford: Common Sense als kulturelles System. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übers. v. Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann. Frankfurt/Main: 1987. S. 261-288. 73  Siehe etwa das geistesgeschichtliche Konzept des „gesunden Verstandes“ in Friedrich Schlegels Transzendentalphilosophie-Vorlesung, die er 1800/01 in Jena hielt: „Was man Aussprüche des gesunden Verstandes nennt, ist höchstens nur der mittlere Durchschnitt des Geistes des Zeitalters. Und vergleicht man nun diesen Geist verschiedener Länder, oder verschiedener Zeiten, so steht er oft in gradem Wiederspruche. Wie ist das möglich, wenn es Ausspruch der gesunden Vernunft ist? (29)“ Kritische-Friedrich-SchlegelAusgabe. Hg. v. Ernst Behler. XII. Bd. Philosophische Vorlesungen [1800-1807]. Hg. v. J.-J. Anstett. München: 1964. S. 29. Vgl. Lachmann, Ferdinand Heinrich: Ueber Paradoxie und Originalität. Zwey philosophische Versuche. Zittau und Leipzig, 1801, S. 20: „Selbst über Paradoxie wird nicht leicht eine allgemeine Stimme herrschen“. 74  Plett, Heinrich  F.: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S.  101. In: Geyer, Paul/ Hagenbüchle, Roland (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Tübingen: 1992. S. 89-104.

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Einleitung Das rhetorische Paradoxon ist primär eine Wirkungskategorie und erst in zweiter Linie eine Strukturkategorie. Das legen bereits antike Äquivalente wie ὑπομονύ, sustentatio, inopinatum oder admirabile nahe – Ausdrücke, die sich auf das Hinhalten und In-Spannung-Versetzen des Rezipienten sowie das Unerwartete und Verblüffende des Redeinhalts beziehen. Semiotisch gesprochen, heißt dies: die Pragmatik dominiert die Syntaktik.75

Der Verdienst dieses Aufsatzes um ein rhetorikgeschichtlich angemessenes Verständnis der Paradoxie und für ein geschärftes Problembewusstsein für die weitere Forschung steht außer Frage. Es liegt vor allem in der deutlichen Abgrenzung des pragmatischen vom logischen Paradoxie-Konzept: Nicht zu verwechseln mit dem Paradoxon sind die rhetorischen Figuren des Widerspruchs: Synoeciosis, Oxymoron, Antithese, Ironie, Antonymie, ‚kühne‘ Metapher. […] Obgleich kein rhetorischer Traktat der Antike und der Renaissance zwischen ihnen und dem Paradoxen eine explizite Beziehung herstellt, ist die Möglichkeit denkbar, sie zur Erzeugung rhetorischer Paradoxa zu instrumentalisieren.76

Systematischer als Hyde bezieht Plett auch literatur- und rhetorikgeschichtlich exemplarische Paradoxien als Beispiele mit ein, unter anderem paradoxe Lobreden der Renaissance und der Antike sowie die in der Renaissance entstehenden Sammlungen kommentierter paradoxer Thesen.77 Gleichwohl muss eine Weiterführung dieser Erkenntnisse über Pletts methodischen Ansatz hinausgehen. Denn in seinem Ansatz fungierte die Renaissance-Rhetorik „zugleich als historisches Paradigma und als zeitenthobener Modellentwurf“, weil sie einen „hohen Entwicklungsstand“ aufweise.78 Freilich eignet sich die Renaissance-Rhetorik als eine Referenz dafür, was die Disziplin der Rhetorik bisher unter dem Terminus Paradoxie verstanden habe. Sie darf aber nicht als „zeitenthoben“, sondern muss gerade als historische Station der Rhetorik betrachtet werden. Denn die Legitimationsbasis, der inhaltliche Schwerpunkt und auch die Möglichkeit der sprachlichen Präsentation der Paradoxie sah im Kontext der Renaissancerhetorik anders aus als etwa zur Zeit eines Aristoteles oder Cicero, die weder das renaissancetypische Konzept der sogenannten Eloquenz-Rhetorik79 noch das humanistische Programm der historisch-ge75  Ebd. S. 92. 76  Ebd. S. 102. 77  Vgl. S. 95-97. 78  Ebd. S. 102. 79  Vgl. Wels, Volkhard: Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert. Berlin: 2000. S. 15-27.

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lehrten Bildung,80 noch die Tradition des Christentums kannte. Daher gilt es zu konkreten und prägnanten Paradoxie-Verständnissen vorzudringen. Dies gelang der Forschung bisher meistens dort, wo sie mit einem dezidiert begriffs- oder literaturgeschichtlichen Interesse die Paradoxie innerhalb einzelner Stationen der Rhetorik und der Philosophie genauer betrachtete. Historisierende Studien mit Fokus auf verschiedene Programme der Rhetorik oder Philosophie Studien zu Gegenbegriffen der Paradoxie haben bereits gezeigt, wie wichtig es ist, nicht nur die Präsenz der Kategorien allgemeine vs. abweichende Meinung in Philosophie und Rhetorik herauszustellen, sondern verschiedene Deutungen und Bewertungen dieser Kategorien im Kontext verschiedener Programme oder Entwicklungen beider Fächer zu unterscheiden. Insbesondere gehört dazu eine Beobachtung, welche den Status der Kategorie der allgemeinen Meinung für die Gültigkeit einer Argumentation betrifft. In der Tradition von Aristoteles und Cicero konnte die allgemeine Meinung (Endoxa, Locus communis, Consensus omnium) oder doch das, was man plausibel als allgemeine Meinung ausgeben konnte, wie traditionelle Wertbegriffe, als Kriterium der Wahrheit gelten, das heißt als Argument für die Übereinstimmung dieser Wertbegriffe mit der Natur der Dinge.81 Spätestens in der Philosophie der Aufklärung, die das Selbstdenken auf eine Ebene mit der allgemeinen Meinung stellte, wurde eben dieser ihre wahrheitsverbürgende Qualität abgesprochen.82 Die These einer parallelen Entwicklung in der zumindest philosophischen Begriffsgeschichte der Paradoxie wurde bisher kaum eingehend untersucht, wenngleich wichtige Belegstellen etwa bei Aristoteles, Kant, Friedrich Schlegel oder Novalis bereits versammelt sind, die sie stützen könnten.83 Fachgeschichtlich 1.5.2

80  Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanis­ tischer und barocker Wissenschaft. Hamburg: 1983. S. 15-21. 81  Vgl. Oehler, Klaus: Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik. Eine Studie zur Geschichte des Begriffs der Allgemeinen Meinung. In: Antike und Abendland 10 (1961). S. 103-128. Vgl. ferner von Moos, Peter: Was allen oder den meisten oder den Sachkundigen richtig scheint. In: Mojsisch, B./Pluta, O. (Hg.): Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Festschrift für Kurt Flasch. Bd. 2. Amsterdam: 1991. S. 711-743. 82  Vgl. Oehler: Der Consensus omnium. S.  127f.; Ptassek, Peter: Endoxa. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen: 1994. Sp. 1134-1138; Coenen, Hans Georg: Locus communis. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5. Tübingen: 2001. Sp. 398-412. 83  Vgl. Probst, Peter/Schröer, Henning/von Kutschera, Franz: Paradox. Sp. 81-90; Neumeyer, Martina: Paradoxe, das. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen: 2003. Sp.  516-524; Mathy, Dietrich: „Nichts ist dem Geist erreichbarer,

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kontextualisiert, können sie zeigen, inwiefern und vor dem Hintergrund welcher Erkenntnismodelle die vor allem philosophischen Konzeptionen der Paradoxie in Antike, Früher Neuzeit und Moderne vermutlich tatsächlich einer Tendenz zur Delegitimierung der allgemeinen Meinung als einer Quelle für die Argumentation folgen, sodass dafür geworben wird, gewohnte Ansichten nicht absolut zu setzen und Paradoxien einen gewissen Vertrauensvorschuss zu geben. 1.5.3 Literaturgeschichtliche Einzelstudien Als Kategorie der Wirkung ist die Paradoxie nicht auf eine Textstruktur festgelegt, sondern sie kann sich in verschiedenen Textsorten, Schreibweisen und Gattungen niederschlagen. Da Praktiken antikonsensualer Rede eine solche variable Formgebung und darüber hinaus eine variable Zwecksetzung haben können, wäre eine diskurs- oder funktionsgeschichtliche Perspektive auf das rhetorisch-philosophische Phänomen der Paradoxie erstrebenswert. Dem steht jedoch entgegen, dass die Literaturgeschichtsschreibung bisher weitgehend damit beschäftigt war, das Phänomen der Paradoxie zumindest dort gattungshaft zu identifizieren, wo dies immerhin leicht möglich ist: im Fall der paradoxen Lobrede. Ein solcher Fokus war zugegebenermaßen schon deshalb nötig, da diese Gattung, die in der Antike entstand und eine zweite Hochphase zur Zeit der Renaissance erlebte, fast in Vergessenheit geriet. Durch kommentierte Editionen, gattungsgeschichtliche Monographien und eine Reihe von Aufsätzen ist sie mittlerweile relativ gut erforscht. So weiß man, dass Vertreter dieser Gattung typischerweise Regeln der normalen Lobrede auf solche Gegenstände anwandten, die als nicht lobenswert oder sogar tadelnswert erachtet wurden, und dass diese Gegenstände mit großer Häufigkeit Laster, Krankheiten oder Tiere waren.84 Ferner ist bekannt, dass paradoxe Lobreden der Antike und der Renaissance jeweils zumeist in Rezeptions- und Nachahmungsverhältnissen zueinander standen, wobei der kreative Umgang mit den Gattungskonventionen und ihre gekonnt originelle Anwendung auf den jeweiligen Stoff gängige Qualitätsmerkmale waren.85 Diese Herangehensals das Unendliche“ Novalis: Paradoxie als Erkenntnis. In: Romahn, Carolina/SchipperHönicke, Gerold (Hg.): Das Paradoxe. Literatur zwischen Logik und Rhetorik. Festschrift für Ralph-Rainer-Wuthenow zum 70. Geburtstag. Würzburg: 1999. S. 26-34. 84  Vgl. nur Hauffen, Adolf: Zur Litteratur der ironischen Enkomien. In: Vierteljahresschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893). S.  161-185; sowie Tomarken, Annette  H.: The Smile of Truth: The French Satirical Eulogy and Its Antecedents. Princeton: 1990. S. 102-229. 85  Vgl. zur Gattungsgeschichte des paradoxen Enkomiums der Antike Billerbeck, Margarethe/ Zubler, Christian: Das Lob der Fliege von Lukian bis L.B.  Alberti. Gattungsgeschichte, Texte, Übersetzungen und Kommentar. Bern: 2000. S. 6-26. Zur paradoxen Lobrede der

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weise, die einzelne Vertreter eher nicht ausführlich bespricht und interpretiert, sondern einführende Übersichten (besonders für Italien, Frankreich, England, Deutschland) erstellt,86 hat einige Vorzüge: Die Fixierung großer literaturgeschichtlicher Einheiten belegt eindrücklicher als die hier gewählte Konzentration auf Einzeltexte, dass Paradoxalität keineswegs, wie es nahezuliegen scheint, außerhalb der Gesellschaft steht. Wie schon gesagt, können Paradoxien eine gewisse Konventionalität erreichen, weil zum Beispiel hinter paradoxen Lobreden soziale Gruppen und Praktiken stehen, die sich mindestens durch den gemeinsamen Bezug auf Konventionen dieser Gattung herausbilden. Damit zusammenhängend trägt die gattungsgeschichtliche Perspektive dazu bei, die formensprachlichen Entwicklungen der paradoxen Lobrede nachvollziehbar zu machen und diese Gattung so als ein anspruchsvolles und dynamisches Betätigungsfeld zu würdigen: Hier werden technische, stilistische und generische Konventionen etabliert, mehr oder weniger streng befolgt, wesentlich erweitert oder regelrecht aufgelöst. Nicht zuletzt gewähren die gattungstheoretischen Quellen gerade im Fall der antiken Rhetorik schon einen guten Einblick in die verschiedenen Intentionen und Begründungen der Redner. So ist bekannt, dass die paradoxe Lobrede der klassischen Sophisten vorwiegend dem Training einer im politischen Alltag behilflichen argumentativen Redemacht diente, während sie in der Zweiten Sophistik vor allem unpolitische Unterhaltungszwecke erfüllen sollte.87 Um solche Erkenntnisse weiterzuführen, darf man bei diesem Ansatz allerdings nicht stehen bleiben. Abgesehen davon, dass die Gattungsperspektive von der politischen und der soziokulturellen Situation absieht, in denen die verschiedenen Lobreden wirken sollen, ist sie auch nicht an den möglichen Wechselwirkungen zwischen der Rhetorik der paradoxen Lobrede einerseits und den anthropologischen Fragen der Erkenntnistheorie, der Ethik

Neuzeit in verschiedenen europäischen Ländern vgl. Miller, Henry Knight: The Paradoxical Encomium with Special Reference to Its Vogue in England, 1600-1800. In: Modern Philology 53, No. 3 (Feb., 1956). S.  145-178; Geraldine,  M.: Erasmus and the Tradition of Paradox. In: Studies in Philology 61 (1964). S. 41-63; Tomarken: The Smile of Truth: The French Satirical Eulogy and Its Antecedents; Dandrey, Patrick: L’éloge paradoxale. Paris: 2015 (zuerst 1997). 86  So bezeichnet etwa Dandrey seine Geschichte der paradoxen Lobrede als „une introduc­ tion à l’étude de la tradition pseudo-encomiastiques“ Ders.: L’éloge paradoxale. S. 7. 87  Vgl. zur neusophistischen Unterhaltungskunst Pease, Arthur Stanley: Things without Honor. In: Classical Philology. (21) 1926. S.  27-42. Dandrey differenziert entsprechend zwischen paradoxen Lobreden der ersten und der zweiten Sophistik (philosophisches Spiel vs. Unterhaltung), ohne jedoch näher auf die jeweiligen weltanschaulichen oder soziokulturellen Hintergründe einzugehen, vgl. Dandrey: L’éloge paradoxale. S. 28.

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und der Theologie andererseits interessiert.88 Schon für den Fall der paradoxen Lobrede der Antike lässt sich eine solche Wechselwirkung annehmen. Denn obwohl gerade die beiden Sophistiken das Lob auf paradoxe Gegenstände im Rahmen einer ideologisch weitgehend dezentrierten, nicht auf die Wahrheit bedachte, sondern auf die Technik der Rede konzentrierte Rhetorik pflegten, es also den Anschein haben könnte, als genügten gattungspoetologische Quellen, um hinreichend Aufschluss über die Begründungszusammenhänge des sophistischen Handelns zu geben, so resultiert diese Indifferenz gegenüber der Wahrheit wahrscheinlich doch aus einem bestimmten, nämlich skeptischen Verhältnis zur Wahrheit und damit zusammenhängend auch aus der Anerkennung des normalen Lebens der Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen, Ansichten und Lebensweisen. Schon für die Antike wäre es insofern unzureichend, strikt zwischen sophistischen und philosophischen Praktiken antikonsensualer Rede zu unterscheiden, auch wenn eine solche Unterscheidung zur ersten Orientierung sinnvoll ist. Spätestens im Fall der paradoxen Lobrede der Renaissance ist eine enge Wechselwirkung zwischen der Gattung einerseits und der Philosophie und der Theologie andererseits offensichtlich. Form und Funktion der paradoxen Lobrede lassen sich hier nicht hinreichend mithilfe der Rhetoriken der Zeit, die ohnehin auf die Ebene der Stilistik bzw. elocutio beschränkt waren, sondern erst unter Hinzunahme anderer, etwa moraltheologischer Schriften erklären. Aufgrund der weithin bekannten Dominanz der moraltheologischbelehrenden Funktion von Texten wie dem Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam89 lassen die beiden Monographien von Annette H. Tomarken und Patrick Dandrey zur Geschichte der Gattung der paradoxen Lobrede, die beide ihren Schwerpunkt auf die Renaissance legen, auch keinen Zweifel an dem moraltheologisch-philosophischen Status ihres Gegenstands und damit an einem eklatanten Unterschied zu dessen gattungsgeschichtlichen Vorläufern in der klassischen oder kaiserzeitlichen Sophistik.90 Dennoch 88  Vgl. in dieser Richtung schon für die italienische Renaissance Schulz-Buschhaus, Ulrich: Vom Lob der Pest und vom Lob der Perfidie: Burleske und politische Paradoxographie in der italienischen Renaissance-Literatur. In: Gumbrecht, Hans  U./Pfeiffer, K.  Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M.: 1991. S.  259-273; und Hartung, Stefan: Rehierarchisierungen in der paradoxen Epideixis der Renaissance. In: Varietas und Ordo: Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock. Hg. von Marc Föcking u. Bernhard Huss. Stuttgart: 2003. S. 91-114. 89  Schon Hauffen erkennt die Zwecksetzung der humanistischen paradoxen Lobrede, „in ironischer und derb-komischer Einkleidung heilsame Wahrheiten vorzutragen“. Ders.: Zur Litteratur der ironischen Enkomien. S. 163. 90  Vgl. Tomarken: The smile of truth; Dandrey: L’éloge paradoxale.

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beschränken sich beide weitgehend auf die Untersuchung der freilich ebenso bemerkenswerten formensprachlichen Innovativität der paradoxen Lobreden der Renaissance, die ernstes und ironisch-satirisches Lob miteinander vermischen.91 Ihr Interesse galt nicht dem inhaltlichen, epistemologischen und moraltheologischen Deutungsrahmen, der eine solche Ausdrucksweise motivierte, und so thematisierten sie ihn auch nur punktuell.92 Insofern ist hier die primär philosophie- und theologiegeschichtlich orientierte und dabei überwiegend selbst philosophisch Stellung beziehende Monographie von Rosalie L. Colie zur Paradoxia Epidemica der Renaissance richtungsweisend.93 Obwohl sie tatsächlich kaum Wert auf die pragmatische Dimension des frühneuzeitlichen Paradoxiebegriffs legt und vielmehr dem bewussten Widerspruch94 in Texten und Gedanken von Autoren wie François Rabelais, Blaise 91  Tomarken hebt die philosophische Indienstnahme rhetorischer Formen explizit hervor: Erasmus nutzt „the peculiar brilliance and novelty of the Lucianic paradoxical encomium as a vehicle for philosophic and rhetoric exploration and satire“, S. 48. Ohne jedoch auf die entsprechenden philosophischen Gründe dafür näher einzugehen, konzentriert sie ihre Untersuchung auf das typische „blending of praise and satire“ (S. 231) der paradoxen Lobrede des 16. Jahrhunderts. Vgl. ebenso Dandrey: L’éloge paradoxale. S. 50-53. Er bezeichnet Erasmus’ Lob der Torheit als „à la fois facétieux, satirique et paradoxal“ ebd. S. 50. 92  Dandrey macht immerhin einen längeren Exkurs zum Erkenntnismodell des Erasmus von Rotterdam, vgl. ders.: L’éloge paradoxale. S. 47-61, geht aber wegen des engen gattungsgeschichtlichen Fokus nicht auf die antike philosophische Tradition ein, die Erasmus aufnimmt. 93  Vgl. Colie, Rosalie Littell: Paradoxia Epidemica. The Renaissance Tradition of Paradox. Hamden, Connecticut: 1976. (Reprint von Princeton: 1966.) Mit Blick auf dieses Buch bekennt Plett, dass seine eigene, allgemein-rhetorische Studie aus den Bereichen Philosophie und Theologie zu ergänzen wäre, vgl. Plett: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S.  101. Colies eigener philosophischer Standpunkt, der ihre Affinität für das philosophische Denken in Widersprüchen erklärt, scheint die Unzulänglichkeit der begrifflich-konsistenten Sprache zu sein: „The genre and rhetoric of paradox […] are proper manipulations of the lame language by which men attempt to approximate their sensations of love’s transcendence, whether that transcendence be momentary or eternal“, Colie: Paradoxia Epidemica,  S.  141; „The essence of paradox is its doubleness, with its concomitant detachment and post-ponement of commitment“, S.  480; und: „[P]aradox reveals and reinforces very simple truths – perhaps, really, only one simple truth, that truth is One“, S. 519. 94  Colie referiert das pragmatische Paradoxie-Konzept der Rhetorik, subsumiert es aber – aus der doch parteiischen Perspektive der paradoxen Stellungnahme herausgehend – als Ausdruck der Anerkennung konfligierender Wertsetzungen unter das logische ParadoxieKonzept. Vgl. ebd. S. 5-8. Dies ist als anachronistische Rückprojektion bereits verschiedentlich kritisiert worden, vgl. Platt, Peter  G.: Shakespeare and the Culture of Paradox. Farnham: 2009. S. 5f., 10f., 40-45 sowie Traninger, Anita: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. Stuttgart: 2012. S. 215f.

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Pascal und Michel de Montaigne nachspürt, stellt sie doch auf überzeugende Weise auch die paradoxe Lobrede der Humanisten in den Kontext des weiteren literarisch-gelehrten Diskurses der Renaissance, in dem das Erkenntnisinteresse Priorität hat.95 In diesem Zusammenhang sind einige wenige Aufsätze und schließlich auch die an Colie anschließende Studie von Peter G. Platt besonders hervorzuheben, die neben begriffs- und gattungsgeschichtlichen Quellen auch ausgewählte Bezugstexte der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Philosophiegeschichte in die Interpretation der paradoxen Lobrede der Renaissance einfließen lassen.96 Während der Bezug neuzeitlicher Paradoxie-Konzeptionen auf philosophische Vorläufer in der Antike (bes. Sokrates, die Stoa und Cicero) zumindest manchmal erwähnt wird, ist deren Bezug zur Philosophie der Aufklärung oder gar zur Romantik geradezu unterbeleuchtet.97 Positive Ausnahmen, die sich bezeichnenderweise weder auf die Gattung der paradoxen Lobrede beschränken noch von einem anachronistischen Paradoxie-Begriff irreführen lassen, sehen das Reden gegen allgemeine Meinungen nach der Renaissance in einem regelrechten take off begriffen, sei es in soziologischer Perspektive aufgrund „der Ausdifferenzierung multipler (politischer, ökonomischer usw.) Regelsysteme aus dem zuvor gemeinsamen System der abendländischen Ethik“98 oder in stil- und ideengeschichtlicher Perspektive, 95  Vgl. ebd. S. 33-35. 96  Vgl. Malloch, A.E.: Techniques and Function of the Renaissance Paradox. In: Studies in Philology 53, 2 (1956). S. 191-203; van der Poel, Marc: Paradoxon et adoxon chez Ménandre le Rhéteur et chez les humanistes du début du XVIe siècle. In: Landheer, Ronald/Smith, Paul  J. (Hg.): Le paradoxe en linguistique et en littérature. Genève: 1996. S.  199-220; Jones-Davies, Marie-Thérèse: Paradoxes élisabéthains: ‚Les guerres de la vérité‘. In: Dies. (Hg.): Le Paradoxe au Temps de la Renaissance. Paris: 1982. S. 105-123; Hartung, Stefan: Kontingenz des Spiels und des Geschichtsurteils bei Girolamo Cardano: Liber de ludo aleae (1526) und Encomium Neronis (1562). In: Hempfer, Klaus W./Pfeiffer, Helmut (Hg.): Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance. Stuttgart: 2002; sowie Platt: Shakespeare and the Culture of Paradox. 97  Da Colie von einem logischen Paradoxie-Begriff ausgeht, lässt sie die Paradoxia Epidemica mit dem aufklärerischen Rationalismus enden, vgl. Colie: Paradoxia Epidemica. S. 508ff. Mit ihrem gattungs- und formengeschichtlichen Fokus auf die paradoxe Lobrede kann ebenso auch Tomarken keinen immanenten Zusammenhang zur Aufklärung herstellen, da das aufklärerische Paradoxie-Konzept nicht an diese Gattung gebunden ist und die Zeit der eigenständigen paradoxen Lobreden hier tatsächlich endet, vgl. Tomarken: Smile of truth. S. 231. 98   Schulz-Buschhaus, Ulrich: Vom Lob der Pest und vom Lob der Perfidie: Burleske und politische Paradoxographie in der italienischen Renaissance-Literatur. S.  273. In: Gumbrecht, Hans  U./Pfeiffer, K.  Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbruche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M.: 1991. S. 259-273.

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weil sich einige europäische Nationen „im 18. (und schon 17.) Jahrhundert um einen deutlichen denkerischen Modernismus bemühen“.99 Bei dieser Lage der Forschung verwundert es nicht, dass vergleichende Darstellungen antiker, frühneuzeitlicher und moderner Paradoxie-Konzeptionen bisher fehlen. Hier setzt dieses Buch an.

99  Sckommodau, Hans: Die Thematik des Paradoxes in der Aufklärung. Wiesbaden: 1972. S. 5.

Kapitel 2

Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias’ Helena 2.1

Einleitung

Im Zentrum dieses Kapitels steht die Interpretation einer Rede, die man als erste paradoxe Schaurede bezeichnen kann, die uns überliefert ist: Gorgias’ von Leontinoi Lobpreis der Helena (vermutlich vor 415 v.Chr.).1 Gorgias lobte und verteidigte in dieser Schrift die mythologische Figur der Helena, die zumindest in der damals aktuellen Dichtung als Verursacherin des Trojanischen Krieges verurteilt wurde, um seine Fertigkeiten als professioneller Redner und Redelehrer zur Schau zu stellen. Es waren demonstrative Reden wie diese, die ihm noch sechs Jahrhunderte später, in der sogenannten Zweiten Sophistik der römischen Kaiserzeit, den Ruf eintragen sollten, als erster Sophist „mit der Behandlung paradoxer Thesen (paradoxologías)“2 begonnen zu haben. Seine Helena-Rede ist insofern Exempel einer rhetorischen Technik der Gegenrede, und als solches weist sie über den mythologischen Gegenstand hinaus, von dem sie vordergründig handelt. Die Helena-Rede und ähnliche sophistische Paradoxien lassen sich, so die These des Kapitels, als kunstvolle, fiktionalitätsbewusste und insofern spielerische Demonstrationen einer Technik der Gegenrede interpretieren, einer Art der Rede also, die in ihrem eigenen Selbstverständnis gegen eine aktuell vorherrschende Auffassung des Publikums gerichtet ist. Sophistische Paradoxien waren virtuose, werbewirksam überzeichnete Musterbeispiele rhetorischer Schlagfertigkeit und Wehrhaftigkeit, in welcher die Sophisten all jene zu unterrichten versprachen, die im damals noch jungen demokratischen Stadtstaat Athen ein Mitspracherecht als Bürger genossen und wahrzunehmen hatten. Denn, so lautete die Begründung und Zielsetzung des sophistischen 1  Vgl. Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien. Übers., mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Thomas Buchheim. 2. Aufl. Hamburg: 2012. S. 3-17. Da der (dem §21 der Rede entnommene) Titel der teils lobenden, hauptsächlich aber verteidigenden Rede irreführend ist, im Folgenden einfach Helena-Rede genannt. Aus dem Redetext wird im Folgenden nur unter Angabe der Paragraphen zitiert. Die Zitate beziehen sich auf die Übersetzung von Thomas Buchheim. – Zur unsicheren Datierung vgl. ebd. Anm. 1. S. 159f. 2  Philostrat, Vitae sophistarum I, 9, 2. Übersetzung und griechisches Original aus Schirren, Thomas/Zinsmaier, Thomas (Hg.): Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Stuttgart: 2003. S. 54f.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_003

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Rhetorikunterrichts, mit einer erlernten Technik von Rede und Gegenrede könnten diese Bürger im öffentlichen und privaten Leben ihre Interessen erfolgreicher vertreten und sich gerade auch vor den Gefahren gegnerischer Anfeindungen und Verleumdungen besser schützen. Die sophistischen Paradoxien lassen sich so genauer als Gegenstände der Vermittlung eines spezifischen rhetorischen Handlungstyps beschreiben, denen nicht nur ein Wissen vom jeweiligen Redegegenstand, sondern mehr oder weniger explizit auch ein epistemologisches und strategisches Wissen zugrunde liegt: zum einen konzeptionelle Annahmen über die Natur der Rhetorik, zum anderen jener sophistische Masterplan, die Polisbürger am Beginn der Demokratisierung griechischer Stadtstaaten mit einer den Schwerpunkt auf die Gegenrede verlagernden Redefertigkeit gegen Gefährdungen durch andere Polisbürger zu wappnen, denen sie sonst mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert wären.3 Mit dieser These ist bei der Interpretation der sophistischen Paradoxien zwischen zwei Praktiken zu unterscheiden: der erwünschten, tatsächlich hilfreichen Praxis antikonsensualer Rede im öffentlichen wie privaten Leben der Bürger und der diese Praxis kunstvoll stilisierenden, also nur spielerisch darstellenden Praxis antikonsensualer Rede im sophistischen Lehrbetrieb. Von Zuletztgenannter haben wir direkte Zeugnisse nur durch wenige vollständig überlieferte paradoxe Schaureden wie etwa die Helena-Rede des Gorgias. Vielfach auf fiktive Gegenstände aus der Mythologie bezogen, konnten die sophistischen Paradoxien dem Zweck des rhetorischen Notfalltrainings für Polisbürger nicht so unmittelbar dienen wie etwa ein Lehrbuch der juristischen Rhetorik, das von realistischen Fällen, realen Gesetzen u.s.f. ausging. Dabei ist zu bedenken, dass die sophistischen Paradoxien zum Großteil vor der Etablierung der Disziplin der Rhetorik, das heißt hier: vor den ersten Rhetoriklehrbüchern im 4. Jh. v.Chr. entstanden – und dies offenbar als Mischschriften, in denen die exemplarische Vermittlung, die ostentativ-kunstvolle Darstellung und die philosophisch-fachliche Reflexion von Redetechnik noch zusammengehörten.4 Entscheidend für den hier gewählten Paradoxie-Begriff ist, dass die sophistischen Paradoxien sowie andere historische Quellen auf die Gegenrede als rhetorischen Lehrinhalt und zwar als einen Handlungstyp eigener 3  Zur Reaktionskompetenz als allgemeinem Ziel des sophistischen Unterrichts vgl. Buchheim, Thomas: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg: Meiner, 1986. S. 97-108. 4  Schiappa, Edward: Toward a Predisciplinary Analysis of Gorgias’ Helen. In: Johnstone, Christopher Lyle (Hg.): Theory, text, context: issues in Greek rhetoric and oratory. Albany: State University of New York Press, 1996. S. 65-86.

Einleitung

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Art schließen lassen. Die Praxis antikonsensualer Rede, die der Lehrbetrieb der Sophisten vorsah, ist von besonderer Art: Die Sophisten profilierten und legitimierten sie einerseits dadurch, dass sie als Mittel der Gefahrenabwehr und der Schadensbegrenzung dem einzelnen Bürger in seinem Alltag nützlich sein und ihm in diesem Sinne zu einem gelungenen Leben verhelfen sollte. Andererseits konnte diese Praxis in dieser starken Profilgebung und Zwecksetzung auch leicht von den Zeitgenossen beurteilt und kritisiert und durch eine alternative Praxis sogar direkt herausgefordert werden. Am Ende dieses Kapitels ist daher auf eine bestimmte, mit der sophistischen direkt konkurrierende Praxis antikonsensualer Rede näher einzugehen. Diese schlug in ihrer ethischen Verpflichtung auf das Gemeinwohl und das Aussprechen der Wahrheit einen derart anderen Ton an als jene, dass sie sich geradezu als Gegenentwurf zur sophistischen Praxis antikonsensualer Rede verstand  – gemeint ist jene sogenannte Parrhesia, das heißt das freimütige Aussprechen der Wahrheit, das Sokrates in den Dialogen Platons ethisch fundierte und selbst verkörperte.5 Der Seitenblick auf diese Kritik Platons an der Sophistik wird am Ende dieses Kapitels den systematisch-typologischen Vergleich verschiedener Praktiken antikonsensualer Rede eröffnen. Historisch gesehen, gerät mit der sokratischen Parrhesia eine alternative Praxis antikonsensualer Rede in den Blick, auf die sich noch Cicero bei seiner Verteidigung der stoischen Ethik in seinen Paradoxa Stoicorum (vgl. Kap. III) berufen sollte. In ihr argumentiert ein Redner weniger gegen einen für ihn gefährlichen Konsens, um sich in Sicherheit zu bringen; durch die Problematisierung einer allgemeinen, aber falschen Vorstellung begibt er sich vielmehr selbst in die Gefahr, verspottet oder sogar getötet zu werden. In Auseinandersetzung mit der sophistischen Praxis antikonsensualer Rede entstand also jenes ethisch fundierte Profil der Paradoxie, dem sich bei allen Unterschieden im Detail auch die Stoa und ihr heute prominentester Sympathisant Cicero verpflichtet fühlen sollten. Mit ihnen und also mit dem bisher zweiten Typus von antikonsensualer Rede wird sich jedoch erst das nächste Kapitel eingehender beschäftigen.

5  Vgl. zur sokratischen Parrhesia Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Berlin: Suhrkamp, 2012. Bes. S. 101-206.

38 2.2

Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena

Die sophistischen Paradoxien und ihr pädagogischer Nutzen

2.2.1 Liste der überlieferten paradoxen Schaureden Im Rahmen des sophistischen Unterrichts und seiner Zielsetzung, einem Polisbürger die Voraussetzung zu einem gelungenen Leben an die Hand zu geben, ging es auch um die Befähigung, sich durch Überzeugungskraft gegen eine allgemeine Meinung durchsetzen zu können. Um dies zu zeigen und zu erläutern, ist es nötig, sich mit jenen eigentümlichen Schriften der Sophisten interpretierend zu befassen, die man zwar ohne weiteres als Paradoxien bezeichnen kann, die aber, wie schon erwähnt, auf einen praktischen Nutzen von antikonsensualer Rede in der griechischen Polis allenfalls indirekt oder spielerisch zu verweisen scheinen. Gemeint sind folgende Reden, von denen jedoch die wenigsten erhalten sind6: von Gorgias von Leontinoi (ca. 490-380 v.Chr.) Über die Natur oder über das Nichtseiende (fragmentarisch erhalten, als Paradoxie erwähnt in Isokr. Or. 10, §3) sowie das Lobpreis der Helena (vollständig erhalten, ebenfalls als Paradoxie erwähnt in Isokr. Or. 10,  §14); von Alkidamas (4. Jh. v.Chr., Schüler des Gorgias) die Lobrede auf den Tod (nicht erhalten, kommentiert durch Cic. Tusc. I, 116) und die Lobrede auf Naïs (nicht erhalten, vgl. Athen. 13, 592c); vom Rhetor Polykrates (4. Jh. v.Chr.) die Lobreden auf Thrasybulos (nicht erhalten, vgl. Aristot. rhet. 1401a), auf Klytaimnestra (nicht erhalten; vgl. Quint. inst. II, 17, 4), auf Busiris (nicht erhalten, vgl. Quint. Inst. II, 17, 4; Isokr. Or. 11), auf Mäuse (nicht erhalten; Aristot. rhet. 1401b) sowie auf Töpfe und Steine (nicht erhalten; Alex. Rh. 3, 3, Spengel 1853-1856); von Isokrates (436-338 v.Chr., Schüler des Gorgias) das Lob der Helena (erhalten, s. Isokr. Or. 10; Antwort auf Gorgias’ Helena-Rede) und die Lobrede auf Busiris (erhalten, s. Isokr. Or. 11; Antwort auf Polykrates’ Busiris-Rede); und schließlich von unbekannten Verfassern Lobreden auf Salz und Hummeln (erwähnt in Isokr. Or. 10, §12 sowie in Plat. symp. 177b) sowie auf Bettler und Verbannte (erwähnt in Isokr. Or. 10, §8). Von den meisten dieser Schriften sophistischer oder – im Fall des Isokrates – der Sophistik nahestehender Autoren kennt man kaum mehr als den Titel. Nur drei davon sind vollständig erhalten, namentlich die beiden paradoxen Schaureden des Isokrates7 und eben Gorgias’ HelenaRede. Dennoch scheint relativ klar, was es mit diesen Schriften auf sich hatte: 6  Vgl. für einen knappen Überblick den Abschnitt zur Gattungsgeschichte in Billerbeck, Margarethe: Das Lob der Fliege von Lukian bis L.B. Alberti. S. 6-11. 7  Vgl. Zajonz, Sandra: Isokrates’ Enkomium auf Helena. Göttingen: 2002; Usener, Sylvia: Isokrates’ Busiris. Verschriftlichung des Mythos und Verantwortung des Autors. In: Kullmann, Wolfgang/Althoff, Jochen (Hg.): Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur. Tübingen: 1993. S. 247-262.

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Man hat nicht das wirklich Große gelobt, sondern gerade das Kleine, ja das Abwegige und Verwerfliche. Denn es ging nicht um das Lob, und insofern haben Gorgias und die ihm Folgenden keine Lobreden geschrieben, sondern alleiniges Ziel war die Machterweisung des Logos.8

Es ist weitgehend Forschungskonsens, dass es sich um Übungen oder Musterreden handelte, die auf der Überlegung beruhten: Am schwierigen Gegenstand entwickelt und beweist sich die argumentative Fähigkeit eines Redners am effektivsten; denn der Widerstand des Überzeugens ist beim schwierigen Gegenstand größer als bei der Bekräftigung anerkannter Meinungen.9 Die Lobredner der Bettler und Verbannten argumentierten laut Isokrates selbst auf diese Weise, „daß sie, wenn sie über schlechte Gegenstände irgendetwas zu sagen wissen, über die schönen und guten erst recht mit Leichtigkeit Worte im Überfluß finden werden“.10 Einiges spricht allerdings dafür, dass die Sophisten sich für die Paradoxien nicht nur wegen des Showeffekts interessierten, sondern auch deshalb, weil ihnen zwar nicht an den jeweiligen Gegenständen, wohl aber an der Fähigkeit des rhetorischen Dagegenhaltens besonders gelegen war. Wenn sie Redemacht demonstrierten, dann eben gerade eine Gegenmacht. Um dies zu zeigen, sei zunächst an die Verbundenheit der Sophisten mit dem demokratischen Leben und seinen Herausforderungen für den einzelnen Bürger erinnert (II.2.2). Wahrscheinlich war es gerade der durch die demokratische Redefreiheit potenzierte Meinungsstreit, zu dessen Bewältigung und Perfektionierung die Sophisten beizutragen versuchten, dergestalt, dass sie lehrten, rednerisch geschickt reagieren und so möglichst allen alltäglichen Herausforderungen Paroli bieten zu können (II.2.3.). Dass dies ihr Verständnis von Rhetorik prägte und also ein zentrales Ausbildungsziel war, zeigt sich zum einen darin, dass die Sophisten die zweiseitige Argumentation einer Sache nach Pro und Contra zu einer Technik (Antilogie) entwickelten, die für beliebige Zwecke universal einsetzbar sein sollte (II.2.3.1.). Zum anderen legitimierten einige Sophisten die Rhetorik ausdrücklich als eine Kunst der Verteidigung (II.2.3.2.). Insofern zeugen die sophistischen Schaureden wahrscheinlich nicht nur von dem

8  Buchheit, Vinzenz: Untersuchungen zur Theorie des Genos Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles. München: 1960. S. 32. 9  Vgl. Matuschek, Stefan: Epideiktische Beredsamkeit. Sp.  1259. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen: 1994. Sp.  1258-1267; Guthrie, William K.C.: The Sophists. Cambridge: 1971 (Reprint). S. 42. 10  Isokrates Or. 10, §8. Übersetzung von Zajonz, Sandra: Isokrates’ Enkomium auf Helena. Ein Kommentar. Göttingen: 2002. S. 114.

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„Könnens-Bewusstsein“11, durch die Technik der Rede eine beliebige Wirkung zu erzielen, sondern gerade auch von dem Bewusstsein, dass man die nächste Aktion eines Gegenspielers nicht voraussehen oder verhindern, wohl aber durch entsprechendes Training besser parieren kann. Historisch-politischer Kontext: das demokratische Handlungsfeld der Sophisten Die sophistischen Paradoxien sind, wie man schon ihren Titeln entnehmen kann, selbst keine politischen oder rechtlichen Reden im engeren Sinne. Dennoch ist es wichtig zu sehen, dass das Handlungsfeld, auf dem sich die Sophisten allgemein bewiesen und für das sie sich als Redelehrer letztlich engagierten, in der politisch-rechtlichen Öffentlichkeit verankert war. Genauer gesagt: Wie die Rhetorik als Disziplin allgemein, so entfaltete auch die sophistische Rhetorik ihre besondere Wirksamkeit im ausgehenden 5. Jahr­hundert v.Chr. vor dem Hintergrund, dass damals die Demokratisierung griechischer Städte (Poleis) ihren Höhepunkt erlangte.12 Obwohl die Sophisten aus verschiedenen Teilen der griechischsprachigen Welt kamen und meist als Wanderlehrer an verschiedenen Orten tätig waren, lebten die bekanntesten von ihnen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. zeitweise in dem Stadtstaat Athen, der zu dieser Zeit die politisch und kulturell bedeutendste Demokratie Griechenlands war.13 Hier nahmen sie einerseits selbst am politischen Leben teil: In Athen warb Gorgias als Gesandter für militärische Unterstützung gegen Syrakus, gegen das seine Heimatstadt Krieg führte; im Auftrag des athenischen Staatsmannes Perikles schrieb Protagoras von Abdera mit an einer Verfassung nach athenischem Vorbild für die Stadt Thurien; und Antiphon, selbst Bürger Athens, war dort als professioneller Schreiber von Gerichtsreden (sog. Logograph) tätig. Allerdings erlangten die Sophisten ihre historische Bedeutung wohl erst dadurch, dass sie ihre rhetorischen Fertigkeiten nicht nur erfolgreich einbrachten, sondern jedem interessierten Bürger versprachen, ihm diese Fertigkeiten gegen meist sehr hohes Entgelt beizubringen. Dahinter stand der 2.2.2

11  Vgl. Meier, Christian: Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das ‚KönnensBewusstsein‘ des 5. Jahrhunderts v.Chr. In: Historische Zeitschrift 226 H. 2. (1978). S. 265-316. 12  Vgl. Yunis, Harvey: The Constraints of Democracy and the Rise of the Art of Rhetoric. S. 228-234. In: Boedeker, Deborah D./Raaflaub, Kurt A. (Hg.): Democracy, Empire, and the Arts in Fifth-century Athens. Cambridge: 1998. S. 223-240. 13  Vgl. die Einleitungen der Herausgeber zum Leben der einzelnen Sophisten in Schirren, Thomas/Zinsmaier, Thomas (Hg.): Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Stuttgart: 2003.

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universale Anspruch, Rhetorik sei in allen Lebensbereichen nützlich,14 doch war insbesondere das Handlungsfeld der demokratischen Öffentlichkeit gemeint. So ließ Platon den Gorgias im gleichnamigen Dialog sagen, es sei ihm, Gorgias, um jene Redekunst zu tun, „welche an den Gerichtsstätten vorkommt und bei den andern Volksversammlungen“15. Typische Redeanlässe, auf die der sophistische Schulbetrieb vorbereiten sollte, waren also neben der privaten Unterredung besonders die Rede vor Gericht oder in politischen Entschei­ dungsgremien, mithin wesentliche Teile der Öffentlichkeit der griechischen Polis. In diesem Sinne legten die Sophisten bei all ihrer Verschiedenheit großen Wert auf den praktischen Nutzen ihrer Ausbildung.16 Die Demokratisierung war nicht die Ursache, wahrscheinlich aber ein Anreiz dazu, rhetorische Kompetenz öffentlich zu lehren. Denn ähnlich wie in anderen Demokratien war die Ausübung von politischer Macht in Athen nicht nur einem Alleinherrscher oder wenigen Adligen, sondern prinzipiell allen, die sich des Bürgerstatus’ erfreuten, möglich, wenn sie sich nur durch entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten besonders hervortaten: wenn sie also etwa erfolgreich Gebrauch von der Redefreiheit in der Volksversammlung oder vom Klagerecht vor Gericht zu machen wussten. Als Berufslehrer nutzten die Sophisten den Umstand aus, dass man in der attischen Demokratie der Bildung den Vorzug gegenüber der Abstammung gab.17

14  Vgl. Buchheim, Thomas: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg: 1986. S. 110. 15  Platon: Gorgias 454b (Übersetzung von Schleiermacher nach Platon: Sämtliche Werke. Hg. v. Ursula Wolf. Bd.1. 31. Aufl. Reinbek bei Hamburg: 2009. S. 353.), vgl. auch 352e u.ö. sowie Platon: Protagoras 318e-319a: „Diese Kenntnis aber [die Protagoras lehrt, CW] ist die Klugheit in seinen eigenen Angelegenheiten, wie er [der Schüler, CW] sein Hauswesen am besten verwalten, und dann auch in den Angelegenheiten des Staates, wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden“ (Übers. v. Schleiermacher nach Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. A.a.O. S. 286.). 16  „Trotz ihrer im einzelnen oft sehr unterschiedlichen Auffassungen messen die Sophisten generell dem praktischen Nutzen hohe Bedeutung bei. Stellvertretend sei der Anspruch des sog. Archegeten der Sophistik, Protagoras, genannt, seinen Zuhörern für das private und das öffentliche Leben in der πόλισ ausgesprochen nützliche Lehren zu vermitteln“. Hoffmann, Klaus Friedrich: Das Recht im Denken der Sophistik. Stuttgart; Leipzig: 1997. S. 390. 17  Gleichwohl richteten sie sich vermutlich vor allem an die Bürger adliger Abstammung, die für den Unterricht in politisch-rechtlich kompetentem Handeln die horrenden Geldsummen aufbringen konnten, welche die Sophisten verlangten. Vgl. Schirren, Thomas/ Zinsmaier, Thomas: Einleitung. S. 14-16. In: Dies. (Hg.): Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Stuttgart: 2003. S. 7-31.

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In der Lehrtätigkeit der Sophisten erhielten zwei Themenfelder besonderes Gewicht: das Gemeinwesen und die Sprache.18 Zum Einen behandelten alle oder einzelne Sophisten das Problem der Beziehung zwischen Natur und Gesetz (Physis/Nomos), die Möglichkeiten und Grenzen der Erfüllung von Individualinteressen, die Entstehung von Kultur und Gesellschaft aus einem Urzustand und ähnliches mehr.19 Hier wurde also die politische Ordnung auf bestimmte Weise zu einem zentralen Gegenstand des Denkens gemacht. Zum Anderen bildeten die Analyse der Sprache, der Sätze ebenso wie der Wörter, die Kenntnis und die Kritik der Dichter, und schließlich, wie schon mehrfach erwähnt, die Rhetorik einen thematischen Schwerpunkt der Sophisten.20 Wie die sophistische Präferenz für politisch-rechtliche Fragen, so ist wohl auch der hohe Stellenwert von sprach- und argumentationsbezogener Bildung vor dem Hintergrund der Demokratisierung zu verstehen: Die Sprache gehörte bekanntlich zu den wichtigsten Instrumenten der demokratischen Machtausübung durch die Bürgerschaft. 2.2.3 Globales Handlungsziel: Reaktionskompetenz Der Sophistik war es besonders wichtig, dass der Mensch in seinem Sprachhandeln auf eine situative Vorgabe zu reagieren versteht oder zu reagieren lernt. Laut Buchheim war dies jedenfalls ihr philosophisch-anthropologisches Bild vom Menschen, dass er ein gelungenes Leben nicht aufgrund einer Gewissheit über das Gute und Wahre führen kann, sondern immerzu aufs Neue dem Lauf der Dinge etwas Handlungsspielraum abtrotzen muss.21 Handeln ist im Kern ein Re-agieren. […] Der generelle Charakter der Situation, auf deren Anforderungen hin der Mensch reagiert, ist dabei weniger als ‚Chance‘ zu bezeichnen denn als ‚Herausforderung‘, ja sogar als ‚Bedrohung‘.22

18  Vgl. für diese Schwerpunktsetzung die Übersichten über sophistische Themen bei Barney, Rachel: The Sophistic Movement. In: Blackwell Companions to Philosophy. A Companion to Ancient Philosophy. Hg. v. Mary Louise Gill und Pierre Pellegrin. Oxford: 2006. S. 77-97 sowie Schirren/Zinsmaier: Einleitung. S. 7-31. 19  Vgl. Hoffmann, Klaus Friedrich: Das Recht im Denken der Sophistik. Stuttgart/Leipzig: 1997. S. 358-423. 20  Vgl. Baumhauer, Otto A.: Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommu­ nikation. Stuttgart: 1986. S. 130-179. 21  Vgl. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens. bes. S.  97-108, der die implizite sophistische Theorie des Handelns als eines Reagierens auf Bedrohungen rekonstruiert. 22  Ebd. S. 98. (Herv. im Orig.) „Die reine Betroffenheit des Menschen durch den Wechsel wird dadurch abgemildert, daß die betroffen machenden Verhältnisse Interferenzprodukt der wechselnden Umstände einerseits und der menschlichen Reaktion andererseits sind;

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Die Sophistik sah das gelungene Leben in dieser Weise allgemein als ein muddling through an, in dem der Einzelne durch wechselnde Umstände hindurch die Balance hielt. Auch und gerade das rhetorische Können, das die Sophistik lehrt, lässt sich vor diesem Hintergrund als Reaktionsfähigkeit, als Fähigkeit zur Gegenrede verstehen. Wie ist diese Fähigkeit genauer zu fassen, wenn sie nicht auf theoretisch-systematischer Evidenz („Was ist wahr?“) basiert, und worin besteht ihr praktischer Zweck? 2.2.3.1

Antilogie: die sophistische Kunst der Widerlegung und ihr universaler Einsatz Zu dem Verständnis der Paradoxie in der sophistischen Rhetorik trägt besonders die für diese Rhetorik grundlegende Annahme bei, dass die Möglichkeit der Gegenrede universell sei. Gemeint ist damit, dass jedes Argument, das dem Anschein nach richtig ist, auch dem Anschein nach angefochten werden könne,23 oder wie es von Protagoras überliefert ist, „daß es zwei einander entgegengesetzte Aussagen über jegliche Sache gebe“24. Das heißt nicht, dass alle Sophisten in allen Fragen eine skeptische Einstellung gehabt hätten,25 wohl aber, dass sie dem Umstand, dass es entgegengesetzte Einschätzungen gibt, nicht durch das Beharren auf einer Wahrheit zu begegnen versuchten. In dem berüchtigten Relativismus der Sophistik kommt das Bewusstsein zum Ausdruck, dass Rede und Gegenrede wie Aktion und Reaktion zu den „Bedingungen des sprachlichen Handelns“26 gehören. Dieses Bewusstsein, das sich wahrscheinlich „eng an der Praxis der athenischen Demokratie orientierte“27, ist für die Rhetorik von besonderem Wert. Gerade ein guter Redner wird zu einer Einschätzung auch jeweils die Gegenposition kennen oder antizipieren und sie auf irgendeine Weise zu entkräften versuchen. Aus dem sophistischen, für die reale Auffassungsvielfalt geschärften Bewusstsein lassen sich also praktische Konsequenzen für die rhetorische Technik ziehen und unter dem Stichwort der Antilogie haben die Sophisten dies in ihrem Unterricht auch getan.

es ist gleichsam, als habe der Mensch schwimmen gelernt, wo er zuvor nur getrieben wurde“. ebd. S. 102. 23  Vgl. ebd. S. 12-18. 24  Diog. Laert.: Lebensbeschreibungen der Philosophen, VIII, §51. Zit. nach ders.: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übers. v. Otto Apelt. Bd. 2. Hamburg: Meiner, 2008. S. 174. 25  Vgl. Stroh, Wilfried: Die Macht der Rede. Eine kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom. Berlin: 2009. S. 71f. 26  Schirren/Zinsmaier: Einleitung. S. 30. 27  Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. S. 95.

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Als Antilogie bezeichnet man eine rhetorische Praxis, die so typisch für die Sophisten war, dass man darin den Schlüssel zu ihrem Verständnis überhaupt sah.28 Antilogie bedeutet im Wortsinn Gegenrede, Einwand, Widerlegung. Die sophistische Kunst der Widerlegung hielt Aristoteles für ebenso unlauter wie einflussreich; ihrer Kritik widmete er darum ein eigenes Buch (Sophistische Widerlegungen).29 Antilogie wurde aber auch auf das Debattieren allgemein übertragen sowie auf die Zusammenstellung gegensätzlicher Thesen und Argumente.30 Später nannte man dies das zweiseitige, das Argumentieren in beide Richtungen (in utramque partem dicere/dissere).31 In diesem weiten Sinne dienten zum Beispiel die Debattierclubs, die Protagoras eingerichtet haben soll,32 der Ausbildung einer antilogischen Technik oder schlicht einer Debattierkunst. Nicht weniger dienten die fingierten Gerichtsreden (Tetralogien), die Antiphon zu verschiedenen real möglichen Streitfällen jeweils aus der Sicht beider Parteien geschrieben hat, eben jenem Lehrzweck, das Argumentieren in beide Richtungen zu schulen.33 Unklar ist, ob auch die anonymen Dissoi Logoi (Zweierlei Reden), die sowohl für als auch wider die Relativität verschiedener Wertbegriffe argumentieren, zu rhetorischen Lehrzwecken geschrieben wurden. Entscheidend war in allen Beispielen der erkennbare Anspruch der Sophisten, das Debattieren und das zweiseitige Argumentieren, das außerhalb der Sophistik in gewissem Maße ohnehin stattfand, mit methodischer Konsequenz zu betreiben. Die sophistischen Paradoxien sind vor diesem Hintergrund zu sehen: Sie stellen sozusagen nur die Hälfte eines Rede-Agons oder des Sprechens nach beiden Seiten dar. Mit Bezug auf Gorgias’ Helena-Rede und andere bemerkt Michael Gagarin treffend, dass „some sophistic logoi that are not composed in pairs may be best

28  Vgl. Kerferd, G.B.: The sophistic movement. Cambridge: 1981. S. 62; dazu ausführlich Kraus, Manfred: Antilogia – Zu den Grundlagen sophistischer Debattierkunst. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 25 (2006). S. 1-13. Vgl. auch Neumann, Uwe: Agonistik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Tübingen: 1992. Sp. 261-284. Bes. Sp. 266f. 29  Es sollte vor allem über Scheinargumente aufklären und somit das richtige Argumentieren normieren. 30  Vgl. Schiappa, Edward: Antilogie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen: 1992. Sp. 701-708. 31  Cicero wird es den Ausweis eines vollendeten Redners nennen, Quintilian es zumindest als nützlich hervorheben. Vgl. Cic. de orat. III, 80; Quint. Inst. XII, 1, 35. 32  Vgl. Diog. Laert. De clarorum philosophorum vitis. IX, 52. Zit. nach Schirren/Zinsmaier: Die Sophisten S. 37. 33  Vgl. Schirren/Zinsmaier: Die Sophisten, S. 128-131.

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understood in the context of this agonistic form of composition as implicit parts of an antilogy“34. Mit der Antilogie verbindet sich der universalistische Anspruch der Sophistik, jede gegebene Rede zumindest dem Anschein nach widerlegen zu können. Insofern gehörte es zur globalen Handlungsstrategie der Sophistik wesentlich dazu, gerade nicht intrinsisch dieses oder jenes Interesse zu verfolgen; sie wollte vor allem technische Unterstützung dafür anbieten, ein potentiell beliebiges Interesse oder Thema mit sprachlichen Mitteln (zum Beispiel vor Gericht) effektvoll präsentieren zu können. Lässt sich also der Ernstfall, auf den sophistische Debattierkunst allgemein und sophistische Paradoxien im Besonderen vorbereiten sollten, gar nicht genau bestimmen? In Kombination mit der universalistischen Strategie des Einsatzes von Rhetorik existierte auch eine spezielle Abwandlung, in der die Fähigkeit zur Gegenrede dann doch im Sinne einer bestimmten Lebens- oder Handlungsweise eingesetzt werden sollte. Schutz und Sicherheit, Gefahrenabwehr und Leidbewältigung des Einzelnen kam hierbei eine herausragende Stellung zu. 2.2.3.2 Schutzfunktion: (paradoxe) Rede als Mittel der Selbstverteidigung In Platons Gorgias wird die Schutzfunktion der sophistischen Rhetorik zum Thema. Innerhalb des Dialogs hat die (sophistische) Rhetorik einen schlechten Stand: Als bloße Technik ist sie gegenüber ihren Gegenständen indifferent und wird daher, wie erwähnt, nicht durch eine Evidenz, nicht durch ein Wissen um Wahrheit und Gerechtigkeit orientiert oder kontrolliert. Gorgias zieht diesen Vorwurf (vgl. Platon, Gorgias 460c-461b) unter anderem dadurch auf sich, dass er die Universalität bzw. die Indifferenz der rhetorischen Technik zugesteht. Sie lasse sich wie jede andere ‚Streitkunst‘ sowohl rechtlich als auch unrechtlich gebrauchen: Indessen muß man sich, o Sokrates, der Redekunst bedienen wie auch jeder andern Streitkunst. […] [W]enn einer, der den Übungsplatz besucht hat und ein tüchtiger Fechter geworden ist, hernach Vater und Mutter schlägt oder sonst einen von Verwandten und Freunden, darf man deshalb die Turnmeister und die Fechtmeister verfolgen und aus den Städten vertreiben? Denn diese haben ihre Kunst mitgeteilt, damit man sich ihrer rechtlich bediene gegen Feinde und Beleidiger zur Verteidigung, nicht zum Angriff, und nur jene kehren es um und bedienen sich der Stärke und der Kunst nicht richtig.35

34  Mit Bezug auf Helena, Palamedes u.a. Gagarin, Michael: Did the Sophists Aim to Persuade? S. 283. In: Rhetorica: A Journal of the History of Rhetoric. 19, Nr. 3 (2001). S. 275-291. 35  Plat. Gorg. 456c-457a. Zit. nach Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 356.

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Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena

Mit der Kampfkunst wie mit der Redekunst soll man keinen Schaden anrichten. Es liegt nahe, dass man beide Künste jedoch zur Abwehr von Schaden ‚gegen Feinde und Beleidiger‘ einsetzen darf. Wenn diese Interpretation stimmt, macht Gorgias den Gebrauch der Redekunst davon abhängig, dass man damit auf eine gegebene Notfallsituation angemessen reagieren kann. Gorgias’ Schüler Alkidamas benennt eine etwas größere Bandbreite legitimer Einsätze von Rhetorik, hebt den Aspekt der Gefahrenabwehr und der Leidbewältigung aber explizit hervor. Er schreibt über die allgemeine Funktion der (mündlichen) Rhetorik: [S]ooft es darauf ankommt, Missetäter zurechtzuweisen, Unglückliche zu trösten, Zornige zu beschwichtigen oder sich gegen unerwartete Anschuldigungen zu rechtfertigen, dann ist die Redefertigkeit in der Lage, den Menschen in ihren Bedürfnissen zu helfen[…].36

Die Redemacht hat, soviel ist auch für Alkidamas klar, ihren Ort im praktischen Leben. Sie dient zudem auch hier nicht der Vermittlung einer zentralen Wahrheit, sondern geht von einer ganzen Reihe typischer Situationen aus, die durch ein jeweiliges Ungleichgewicht oder einen jeweiligen Widerstand einen der Situation entsprechend angepassten Handlungsbedarf anzeigen. Will man darüber hinaus in allen von Alkidamas genannten Fällen eine einheitliche Charakteristik suchen, könnte man zuspitzend sagen: Es geht darum, Schaden zu minimieren, jenen Schaden, den ein Einzelner entweder durch ein Unglück oder durch kriminelle, verleumderische oder jedenfalls aufgebrachte Zeitgenossen erlitten hat oder zu erleiden droht. Das oben erwähnte sophistische Postulat der universellen Möglichkeit der Gegenrede erhält hier so gesehen das programmatische Profil, seelisches Leid zu lindern und Gefahren für das Ansehen oder das Leben der Menschen abzuwenden. 2.3

Epideixis: die Darstellungsstrategie der sophistischen Paradoxien

Die sophistischen Paradoxien dienten offenbar nicht auf direkte Weise dem globalen Handlungsziel der Schadensminimierung. Wie oben schon kurz erwähnt, werden sie gemeinhin als Demonstrationen von Redemacht gedeutet. Damit ist eine Praxis angesprochen, die man Epideixis nennt und die zunächst einmal unabhängig von einer bestimmten Könnerschaft wie der Rede- und

36  Alk. Soph. §10. Übersetzung von Schirren/Zinsmaier: Die Sophisten. S. 351.

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Debattierkunst besteht.37 Das bedeutet, dass die Sophisten, nicht anders als zum Beispiel Ärzte, die Nützlichkeit und die Wirksamkeit ihrer Dienstleistung in der Öffentlichkeit effektvoll zur Schau stellen mussten, um auch unter Konkurrenzbedingungen ein Publikum von ihrer Könnerschaft zu überzeugen und so ein potentielles Klientel zu gewinnen. Gehörte es nun, wie dargelegt, wesentlich zum professionellen Selbstverständnis der Sophisten, eine zwar universell einsetzbare, insbesondere aber für den Alltag des Polisbürgers hilfreiche Technik der Gegenrede zu vermitteln, so mussten sie diese Technik (vor Schülern oder auch außerhalb des eigentlichen Unterrichts?) effektvoll zur Schau stellen. Wie man sich denken kann, gehörte dazu mehr als der Vortrag irgendeiner realistischen Gerichtsrede oder gar eines Stücks Sprachanalyse oder Rechtsphilosophie. Zu dem globalen Handlungsziel trat die eher lokale, weil textvermittelte Absicht hinzu, diese Technik durch unterhaltsame, semantisch vielschichtige rhetorische Kunststücke zu inszenieren: u.a. durch die sophistischen Paradoxien. Zu dem globalen Handlungsplan der Sophistik (Kommunikationspädagogik im Kontext der Demokratisierung) kam insofern die Strategie der Darstellung der von diesem Plan versprochenen Fähigkeit hinzu. Die Interpretation der sophistischen Paradoxien muss beide Strategien analysieren. Was macht die epideiktische Schreibweise in diesen Schriften grundsätzlich aus? 2.3.1 Epideiktische Beredsamkeit Bei epideiktischer Beredsamkeit will der Redner typischerweise keinen Meinungs- oder Einstellungswechsel herbeiführen. Er will durch seine Fähigkeit gefallen, das Wertempfinden des Publikums effektvoll auszudrücken und zu bestätigen.38 Dies ist für gewöhnliche Lob-, Fest-, Sieges- und Grabreden charakteristisch, da deren Gegenstände einhellig als lobenswert eingeschätzt sein sollten. Besteht über die Lobenswürdigkeit der jeweils Geehrten tatsächlich schon Konsens, dann wird das Publikum anders als bei juristischen und politischen Reden nicht zu einer Diskussion in der Sache veranlasst und auch 37  Dass Epideixis im fünften Jahrhundert v.Chr. nicht nur in der Rhetorik, sondern unter allen Experten aller Techniken notwendig und üblich war, zeigt Demont, Paul: Die Epideixis über Techne im V. und IV. Jahrhundert. In: Kullmann, Wolfgang/Althoff, Jochen (Hg.): Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur. Tübingen: 1993. S. 181-209. 38  Vgl. Matuschek, Stefan: Epideiktische Beredsamkeit. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen: 1994. Sp.  1258-1267. Sowie Zinsmaier, Thomas: Epideiktik zwischen Affirmation und Artistik. Die antike Theorie der feiernden Rede im historischen Aufriss. In: Kopperschmidt, Josef/Schanze, Helmut (Hg.): Fest und Festrhetorik: zur Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik. München: 1999. S. 375-398.

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nicht zu einer bestimmten Einstellung oder Handlungsweise bewegt. Die epideiktische Schreibstrategie besteht insofern im Normalfall eher darin, mithilfe der feierlichen Bekräftigung einer ohnehin bestehenden symbolischen Ordnung den Beifall oder einfach die Zustimmung des Publikums zu erregen. Im Falle der sophistischen Paradoxien war die epideiktische Redeabsicht, die Fähigkeit des Redners zu unterstreichen, genauso wichtig. Wie zu zeigen ist, geschah dies hier allerdings durch einen hohen Anteil an uneigentlicher Rede, die diese Reden semantisch vielschichtig macht. Die sophistischen Paradoxien gehören zu jenen epideiktischen Reden, die nicht oder nicht in allen Teilen wörtlich ernst genommen werden sollen.39 In den drei vollständig erhaltenen paradoxen Lobreden von Gorgias (Helena) und Isokrates (Helena, Busiris) treten die Autoren stellenweise aus ihrer Rolle des Fürsprechers heraus, die eben dadurch als fingierte Rolle markiert wird. Sie geben dabei ausdrücklich zu verstehen, dass sie eine spielerische Absicht verfolgen (vgl. Gorg. Hel. §21), oder reflektieren im Sinne einer professionellen Selbstverständigung auf verschiedene Belange der rhetorischen Technik (vgl. Isokr. or. 10,  §§1-15, Isokr. or. 11,  §§1-4, 18-25). Meist wird die Schreibweise suspendierter Geltung jedoch schon durch die Art der Darstellung signalisiert: entweder durch die Wahl mythologischer und insofern fiktionaler Redegegenstände (wie Naïs oder Klytaimnestra) oder durch die gattungskonforme und insofern als kunstmäßig durchschaubare Präsentation unkonventioneller Gegenstände des Lobs (wie Thrasybulos, Töpfe oder Steine). „Die Gattung Lobrede zwingt zur Einseitigkeit“40 – das kommt beim Lob von nicht als lobenswert erachteten Gegenständen in provokanter Weise zum Tragen. In solcher Stilisierung zur paradoxen Lobrede konnte der Autor Formen und Merkmale persuasiver Gegenrede vorführen, ohne sie jeweils inhaltlich teilen zu müssen. Er war aber auch nicht durchgängig zur Darstellung ihm fremder Äußerungen gezwungen. Das ist im Allgemeinen die Strategie der Darstellung der sophistischen Technik hilfreicher Gegenrede. Sie umfasste die titelgebende Redeabsicht und ihre gattungskonforme Implementierung in einen Text (paradoxe Lobrede) ebenso wie die mehr oder weniger deutliche Signalisierung von suspendierter Geltung und nicht zuletzt eine Ebene uneigentlicher Bedeutung sowie gewissermaßen professionell-gattungstheoretische und metarhetorische Kommentare und Reflexionen. Stand dadurch zu vermuten, dass die Aufgabe des Redners, 39  Vgl. Gagarin, Michael: Did the Sophists Aim to Persuade? S. 283. In: Rhetorica: A Journal of the History of Rhetoric. 19, 3 (2001). S. 275-291. 40  Matuschek, Stefan: Antirhetorik, Propaganda, Streit, Spiel und Ironie. Zur Formengeschichte der Lobrede. S. 181.

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also die titelgebende Redeabsicht, nicht ernst gemeint war, rückte auch die technische Fähigkeit des Redners, einen schwierigen Stoff für eine Lobrede zu behandeln, in den Fokus der Aufmerksamkeit. 2.3.2 Zurschaustellung der Fähigkeit zur nützlichen Gegenrede Inwiefern sprechen nun die sophistischen Paradoxien selbst dafür, sie als Darstellungen der Fähigkeit zur universell einsetzbaren, aber praktisch in gewisser Weise hilfreichen Technik der Gegenrede zu interpretieren? Natürlich kann man über den Inhalt verlorener Lobreden auf Töpfe, Steine, Hummeln und Salz nur spekulieren. Vielleicht sind sie gerade durch ihren Abstand zu den wichtigen Fragen des öffentlichen Lebens Ausdruck des universalistischen Anspruchs der Sophistik, tatsächlich über alles Mögliche gut reden zu können.41 Dafür liegt bei anderen sophistischen Paradoxien der Zusammenhang mit Fragen der Schadensminimierung auf der Hand. So lässt sich zunächst Alkidamas’ eigene Lobrede auf den Tod, die laut Cicero menschliche Übel und Leiden vergegenwärtigte,42 mit jener Funktionsbestimmung der Rhetorik in Verbindung bringen, Leiden zu lindern.43 Alkidamas mag selbst vielleicht nicht ganz hinter seiner (laut Cicero) pointiert eingesetzten Strategie gestanden haben, das Leben (und das Leiden) in dunkelsten Farben zu zeichnen, um den Tod erträglich, ja lobenswert erscheinen zu lassen. Auf diese Weise ließen sich jedenfalls effektvoll eben diese rhetorische Präsentationstechnik und ihr möglicher konsolatorischer Einsatzort zur Darstellung bringen.44 Ähnliches lässt sich auch für Alkidamas’ bereits zitierte Behauptung anführen, dass Rhetorik dabei helfe, ‚sich gegen unerwartete Anschuldigungen zu rechtfertigen‘. Hierin liegt vielleicht eine der wichtigsten Legitimierungsstrategien der Sophisten für ihre Praxis antikonsensualer Rede. Die sieben sophistischen Lobreden auf übel beleumdete Personen aus der Mythologie 41  Vgl. Isokr. or. 10, §§4f. – Das Thema banaler Alltagsgegenstände spielte in der Zweiten Sophistik eine wesentliche Rolle, vgl. hier Kap. IV. 42  Vgl. Cic. Tusc. I, 116. 43  Auf den genealogischen und systematischen Zusammenhang zwischen sophistischen Paradoxien und Konsolationsliteratur macht Rudolf Kassel aufmerksam, der die griechische und römische Konsolationsliteratur untersucht. Er belegt unter anderem mit den Ausführungen des Gorgias zum Logos (Gorg. Hel. §§8-11) sowie dem Lob des Todes von Alkidamas, dass „Anspruch und Programm sophistischer Wortmächtigkeit […] den Hintergrund für die Idee systematischer Bestreitung jeglichen Leids und aller seiner Anlässe durch die psychagogische Kraft der Rede [geben]“. Ders.: Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur. München: 1958. S. 11. 44  Ähnliches könnte man vielleicht für die Lobreden auf Armut und Verbannung in Anschlag bringen.

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(Naïs, Klytaimnestra, zweimal Helena, zweimal Busiris) und aus der Geschichte (Thrasybulos von Syrakus) stützen bereits die Vermutung, dass die Zurückweisung bestehender Anschuldigungen ein besonders relevantes Thema war. Während über den Inhalt der verlorenen Reden auf Naïs und Klytaimnestra leider nichts Sicheres gesagt werden kann, findet sich in Isokrates’ Lob des mythologischen Tyrannen Busiris45 der Topos der Legitimierung der Rhetorik als Selbstverteidigung ausdrücklich wieder. Isokrates, der sich im Laufe seines Lebens durch sein ethisches und philosophisches Selbstverständnis von der sophistischen Bewegung distanzierte, warf in seinen beiden Reden auf Busiris und Helena46 zwar schon einen kritisch gebrochenen Blick auf die sophistische Praxis antikonsensualer Rede, um die es hier geht. Doch diese Halbdistanz zur Sophistik hinderte ihn nicht, in eben jenen paradoxen Enkomien die in dieser Redegattung liegende technische Herausforderung im Großen und Ganzen anzunehmen und eine angeblich bessere, geschicktere Lösung für die von Gorgias und Polykrates gewählte Aufgabe anzubieten. Isokrates’ beide Schriften zeigen insofern in ihrem Überbietungsgestus vielleicht exemplarisch auf, dass die oben angeführten Schriften durch ihre gemeinsame Intention der Darstellung der Technik der Gegenrede einen gemeinsamen öffentlichen Handlungsraum eröffnen konnten: Mit ihren Paradoxien traten die Redelehrer in einen – vermutlich auch werbewirksamen – Wettstreit und Verständigungsprozess darüber ein, wer die bessere antilogische Technik besaß, wer also in diesem Sinne der größere Könner war. Isokrates knüpft in seiner Busiris-Rede ausdrücklich an Polykrates’ nicht erhaltenes Lob auf Busiris an und unterstellt ihm folgende Absicht: Polykrates habe mit seiner Rede eine Musterverteidigung gegen perfide Unterstellungen verfassen wollen (§§46-48).47 Nur habe er Busiris dafür noch immer zu wenig günstige Eigenschaften beigelegt. Dadurch bringe Polykrates’ Rede die Rhetorik in Verruf, da sie jemandem, der das darin gezeichnete Bild einer lobenswerten Person für sich selbst in Anschlag bringen wollte, eher schaden als nützen würde (§49). Isokrates’ eigene Rede erklärt Busiris auf eine Art und Weise zum Wohltäter, mit der Isokrates ein besseres, der vorgeblichen Redeabsicht dienlicheres Muster zu geben meint als sein Vorläufer. Isokrates macht keine 45  Vgl. Usener, Sylvia: Isokrates’ Busiris. Verschriftlichung des Mythos und Verantwortung des Autors. In: Kullmann/Althoff (Hg.): Vermittlung und Tradierung von Wissen. S. 247-262. 46  Vgl. Zajonz, Sandra: Isokrates’ Enkomium auf Helena. Göttingen: 2002. 47  Die Nachweise erfolgen unter Angabe des Abschnitts im Text und beziehen sich auf die Ausgabe Isokrates: Sämtliche Werke. Band 2. Übers. v. Christine Ley-Hutton. Stuttgart: 1997. S. 35-44.

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Zugeständnisse an das negative Busirisbild, trägt also zur Gattungskonvention der Einseitigkeit bei, und er verwendet konsequent Kriterien des Lobs, die sich bis in die spätere Rhetoriktheorie hinein als einschlägig für die Gattung bewähren sollten (insbesondere edle Herkunft  §10 und Wohltaten  §§11-29).48 Seine Argumente sind zum Beispiel, dass der ägyptische Tyrann ein fruchtbares Land in seinen Besitz gebracht (§11), sich für den Unterhalt der Leute in Priesteramt, Handwerk und Kriegswesen (§15) und für die Wissenschaften (§§21f.) und die Frömmigkeit (§§24, 26f.) eingesetzt habe. Insofern verfolgt Isokrates explizit und implizit ein ethisch-philosophisches Interesse: Nicht nur setzt er die sophistische Einsicht um, dass das technische Potential der Rhetorik darin besteht, einen gegebenen und sogar eigentlich ungünstigen Sachverhalt (Stoff) konsequent im Sinne einer bestimmten Redeabsicht präsentieren zu können.49 Er will auch, dass die Argumentation inhaltlich vorbildlich ist, dass, wenn auch die Bewertung selbst angezweifelt werden könnte, zumindest der ihr zugrunde gelegte Wertekatalog vorbildlich ist. So sprechen auch die sophistischen Paradoxien dafür, sie als Darstellungen einer spezifischen rhetorischen Könnerschaft zu interpretieren, die darin besteht, durch Rede bestehende Vorwürfe gegen eine Person abzuwehren und bestehendes Leid zu minimieren. Aber auch Gorgias’ Helena-Rede lässt sich vor diesem Hintergrund interpretieren. 2.4

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2.4.1 Gorgias als Begründer paradoxer Rhetorik Philostrat, der im 2. Jahrhundert n.Chr. eine Geschichte der Sophistik schrieb, verglich die Bedeutung des Gorgias für die Sophistik mit der, die man Aischylos für die Tragödie zusprach (vgl. Philostr. Soph. I, 9, 1). Beide seien die Gründungsväter ihrer Zunft gewesen, indem sie gewisse technische Reformen eingeführt hätten. Zu den Neuerungen, die Gorgias unter den Sophisten eingeführt habe, zählte Philostrat auch die hier in Frage stehende Praxis antikonsensualer Rede:

48  So etwa edle Herkunft (Arist. Rhet. I, 5, §5) und Tugendhaftigkeit als das Vermögen, wohltätig zu sein, Arist. Rhet. I, 9. 49  Isokrates sagt in seiner Busiris-Rede ausdrücklich (gegen Polykrates): „Wer eine Lobrede verfassen will, muß – wie allgemein bekannt ist – noch mehr Vorzüge nennen, als der Gerühmte tatsächlich besitzt, wer anklagen will, muß das Gegenteil tun“ (§4). Zit. nach Isokrates: Sämtliche Werke. Bd. 2. S. 35.

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Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena Er begann mit der Behandlung paradoxer Thesen (paradoxologías), dem richtigen Atmen, dem Prinzip über Großes groß zu sprechen, Abbruch und unvermitteltem Einstieg, wodurch die Rede immer angenehmer wird und prächtiger, und er schmückte seine Reden mit poetischen Wörtern, die sogar jenseits von Schmuck und Würde lagen.50

Dies sei als begriffsgeschichtlicher Beleg dafür angeführt, dass die sophistischen Paradoxien, auch unter dieser Bezeichnung, als Bestandteile des technischen Repertoires der sophistischen Rhetorik verstanden wurden und insofern aus einer lehr- und lernbaren Praktik hervorgingen. Von einem solchen Repertoire des Gorgias zeugen neben dem Traktat Über die Natur oder das Nichtsein, der die These behandelt, dass nichts sei,51 insbesondere die beiden mythologischen Schaureden Lobrede auf Helena und Verteidigung des Palamedes. Beide Reden des Gorgias sind halbernste Versuche der Rehabilitation übel beleumdeter Figuren der griechischen Mythologie. Von ihnen kann die Verteidigung des Palamedes allein schon durch den ausgewählten mythologischen Fall die These bekräftigen, dass Gorgias in seinem Selbstverständnis als Rhetoriklehrer bei aller Universalität des rednerischen Könnens auf die apologetische Funktion der Rhetorik besonderen Wert legte. Im Mythos um den Trojanischen Krieg wurde Palamedes durch Odysseus verleumdet und daraufhin zum Tode verurteilt. Gorgias’ Rede setzt zeitlich vor der irrtümlichen Verurteilung des Helden als Rollenrede ein und zeigt, wie sich Palamedes auf rhetorisch virtuose Weise vor einem fiktiven Gericht selbst gegen die Anklage 50  Philostr. Soph. I, 9, 2. Übersetzung und griechisches Original hier in Transkription zitiert nach Schirren/Zinsmaier: Die Sophisten. S.  55. – Nicht aus historisch naheliegenden Gründen, aber vor dem Hintergrund des modernen Verständnisses der rhetorischen Paradoxie als eines dem Oxymoron ähnlichen Selbstwiderspruchs mag man sich fragen, ob mit paradoxologías nicht auch die Verwendung einer solchen rhetorischen Figur gemeint gewesen sein könnte. Dies lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen. Erstens zählte Isokrates in der Einleitung seiner Helena-Rede Gorgias ausdrücklich als Autor der Schrift Über die Natur oder das Nichtseiende – und implizit auch als Autor der Helena, auf die Isokrates reagierte – zu einer Reihe von Autoren, die dafür bekannt seien, dass sie „eine absurde und aller Erwartung zuwider laufende These (hypóthesin átopon kai parádoxon) aufstellen“ (Isokr. or. 10, §1. Übersetzung und griechisches Original hier in Transkription zit. nach Zajonz, Sandra: Isokrates’ Enkomium auf Helena. S. 79). Zweitens würde man erwarten, dass, wenn Gorgias tatsächlich als erster eine Redefigur Paradoxie eingesetzt hätte, diese Figur unter den sogenannten gorgianischen Figuren erwähnt worden wäre, für die er wirklich bekannt ist. Das ist aber nicht der Fall. Vgl. Schirren/ Zinsmaier: Die Sophisten. S. 57. 51  Vgl. Newiger, Hans J.: Untersuchungen zu Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende. Berlin: 1973. Newiger geht nach dem principle of charity vor und zeigt, dass Gorgias philosophisch ernstzunehmen ist; er zeigt jedoch auch (gewissermaßen rein epideiktische) Punkte auf, die der Sophist so nicht geglaubt haben kann.

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des Odysseus verteidigt. In der Suggestion eines alternativen, positiven Ausgangs für Palamedes durch seine sophistisch geschulte Rede erscheint der griechische Held hier geradezu als paradigmatische Figur für eine Rhetorik, die wie jede andere Streitkunst ihre Legitimation im Schutz vor ‚Feinden und Beleidigern‘ (Platon) finden soll. Paradox im Sinne von unglaubhaft ist diese Rede wohl nur innerhalb der Fiktion, und zwar für diejenigen, die sich von den fingierten Beweisen des Odysseus täuschen lassen; das reale Publikum dürfte gerade im Wissen um die Verleumdung auf der Seite des Palamedes gewesen sein. Die Verteidigung des Palamedes lässt sich so vielleicht ebenso als spielerische Vergegenwärtigung der Wahrscheinlichkeit falscher Anschuldigungen wie als Anpreisung der apologetischen Funktion der Rhetorik verstehen. Der Gestus wäre demnach dieser: Erinnert ihr euch an den Fall des Palamedes, der zu Unrecht verurteilt wurde? Mithilfe der sophistischen Redekunst hätte er sich wahrscheinlich vor dem Tod retten können. Auch mit der Helena-Rede,52 die trotz ihrer Selbstbezeichnung als Enkomion (vgl. Gorg. Hel., §21) hauptsächlich eine Verteidigungsrede für Helena ist (vgl. den Hinweis in Isokrates, or. 10, §14), gibt Gorgias eine Demonstration seiner Redekunst auf dem Gebiet der Apologie. Insofern besteht auch hier schon eine Nähe zwischen dem Sujet der Schaurede und der sophistischen Legitimation der Rhetorik als ein Mittel gegen ‚Feinde und Beleidiger‘. Die Paradoxalität ist hier jedoch anders gelagert: Während sich in der Palamedes-Rede Palamedes an ein fiktives Publikum (seine Richter) wendet, um einen innerhalb der Fiktion schon als Täuschung markierten Widerstand zu überwinden, nämlich die von Odysseus fingierten Beweise zu entkräften, gibt Gorgias hier vor, sich im Fall Helena an das reale Publikum zu wenden, als ob es tatsächlich vor der Aufgabe stünde, über den Ruf der Helena zu urteilen. Dieses Publikum kennt die Figur der Helena aus der Dichtung als eine Person, die anders als Palamedes tatsächlich einen zumindest zweifelhaften Ruf hat. Sie ist jene Griechin, deren Fahrt mit dem trojanischen Prinzen Paris nach Troja den gleichnamigen Krieg nach sich zog. Dass Helena gemeinhin verurteilt werde, das stellt Gorgias als gegeben hin; und dass sie zu Unrecht beschuldigt werde, davon versucht Gorgias nun das reale Publikum zu überzeugen, oder genauer: diese apologetische Redeabsicht und diese (tendenziell) antikonsensuale Überzeugungsarbeit implementiert er in seine Rede.

52   Übersetzung und griechisches Original in Transkription zitiert nach Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien. Griechisch – Deutsch. Übers. v. Thomas Buchheim. 2. Aufl. Hamburg: 2012. S. 3-17.

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2.4.2 Zur impliziten Rede- und Argumentationslehre der Helena Wie die Busiris-Reden und die Palamedes-Rede stellte auch Gorgias’ pseudojuristischer Anschluss an den Mythos Verfahren der Textstrukturierung zur Schau, die man zumindest partiell auch zum eigenen Nutzen nachahmen konnte. Besonders hervorzuheben ist hier zunächst die strikte Gliederung der Rede. In der Einleitung betont der Helena-Orator, wie man die fiktionsbezogene Rolle des Sprechers nennen könnte,53 seine Bindung an die Wahrheit und das Ehrenvolle (§1). Seine Absicht bestehe darin, die negative Beurteilung der Helena mithilfe einer rationalen Überlegung (logismós) zu widerlegen und ihr so die Ehre zurückzugeben, die ihr gebühre (§2). Im argumentativen Hauptteil führt der Orator zunächst die edle Herkunft (§3) und die Schönheit (§4) der Helena an – zwei Kriterien des Lobs, die sich für Schüler sehr gut zur Übernahme in Lobreden und zur Sympathiegewinnung wohl auch in Gerichtsreden eigneten und die ja später als allgemein geteilte Werte (Güter) in rhetorischen Lehrbüchern beschrieben und zur Berücksichtigung empfohlen wurden.54 Das Herzstück der Rede, mit dem Gorgias vermutlich sogar Qualitätsstandards der Prosa gesetzt hat,55 ist die Argumentation. Der Orator benennt und erläutert darin schrittweise vier Gründe, aus denen es „wahrscheinlich (eikós) zu Helenas Fahrt nach Troja kam“ (§5). Was hier das Wahrscheinliche heißt, das bemisst sich allerdings an der Welt des Mythos. Die naheliegende Möglichkeit, dass Helena aus Vorsatz handelte, kommt dabei gar nicht in Betracht. Vielmehr gilt es dem Orator als wahrscheinlich, dass sie von einer der folgenden vier Mächte überwältigt worden sein muss: entweder nämlich durch den Ratschluss der Götter oder, wie man es nun nennen wolle, durch das Schicksal (§6) oder aber durch die Gewalt des Paris (§7), durch die zwingende Kraft der Rede (§§8-14) oder schließlich durch den Eros, sei er nun „ein Gott“ oder ein „menschlich Gebrechen“ (§19; vgl. §§15-19). Nacheinander wird für alle diese vermeintlich wahrscheinlichen Ursachen in teilweise alltagsnahen, teilweise philosophischen Ausführungen dargelegt, warum es sich jeweils um Kräfte handele, die stärker seien als irgendein Mensch. Wie die Rede im Ganzen,

53  Es ist anzunehmen, dass Gorgias sich der Fiktionalität seiner Rede bewusst war, da er seine Schrift am Ende, in §21, ein Spiel (paígnion) nennt. Vgl. zum Fiktionalitätsbewusstsein des Gorgias mit weiteren Belegen Franz, Michael: Von Gorgias bis Lukrez: Antike Ästhetik und Poetik als Zeichentheorie. Berlin: 1999. S. 145-148. 54  Vgl. Arist. Rhet. I, 5, 5 und I, 5, 11. 55  In Bezug auf die vorbildliche Struktur der Argumentation vgl. Schiappa, Edward: Toward a Predisciplinary Analysis of Gorgias’ Helen. S.  75-78. In: Johnstone, Christopher Lyle (Hg.): Theory, text, context: issues in Greek rhetoric and oratory. Albany: 1996. S. 65-86.

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so ist auch ihr Ende aufgebaut: Nüchtern und bündig fasst der Orator seine Argumente und seine Absicht zusammen (§20f.). Eng verbunden mit der Gliederung, ist auch die Rolle des Sprechers klar und eindeutig: Gorgias nahm in seiner Rede bis zum Schluss, in dem er sie als ein Spiel (paígnion) bezeichnet (§21), die Rolle des Redners ein, der zwar von der allgemeinen Meinung abweicht, der das Recht und die Wahrheit aber auf seiner Seite wähnt und der in dieser Situation genügend Fassung bewahrt,56 um klare und überzeugende Argumente vorzutragen. Der Orator eröffnet seine Rede, wie schon erwähnt, mit der Setzung oder vielmehr der Bekräftigung der Norm, dass „man, was des Lobes wert ist, mit Lob ehren, dem Unwerten dagegen Tadel entgegenbringen [muß]“ (§1). Bereits die Eröffnungsstrategie des Helena-Orators etabliert ein rhetorisches Rollenmodell, das sich wohl auch außerhalb eines mythologischen Plädoyers empfiehlt: Die Prätention darauf, als Redner dem Wahren und Guten verpflichtet zu sein und nach eigener Überzeugung vorzutragen, ist für die rednerische Durchsetzung eines Standpunktes im Rahmen einvernehmlicher Verständigung unverzichtbar.57 Das muss nicht als Aufforderung verstanden werden, wider besseres Wissen zu argumentieren. Gorgias implementiert und vermittelt dadurch zunächst einmal nur ein bestimmtes (und noch heute gültiges) Kommunikationswissen, das die Polisbürger in ihrem eigenen Interesse ebenso ostentativ einsetzen sollten. Gorgias spielte nicht nur selbst die Rolle des Helena-Orators, der im Namen der Wahrheit spricht. Wie es sich für eine paradoxe Lob- und Verteidigungsrede gehört, sah das Rollenmodell des Gorgias auch die Geste vor, sich gegen einen verbreiteten angeblichen Irrtum zu wenden. Es gelte nämlich, „dem Unverstand ein Ende zu setzen“ (§2) und jene zu widerlegen, die Helena tadeln, eine Frau, über die gleichlautend und einmütig geworden ist der Glaube der vom Hörensagen geleiteten Dichter und das Gerücht um diesen Namen, der zum Erinnerungsmal des unheilvollen Geschehens ward. (§2)

Eine kurze Beschäftigung mit dem antiken Mythos der Helena soll nun zeigen, dass Gorgias ein polemisch zugespitztes Bild der Dichter gab, die über Helena 56  Zur Schwierigkeit, bei falschen Anschuldigungen die Fassung zu bewahren, vgl. Gorg. Pal. §4. 57  Vgl. ganz analog in den Reden Antiphons die Verwendung des Begriffs Wahrheit als, wie Zinsmaier es nennt, „Leerformel“, Zinsmaier, Thomas: Wahrheit, Gerechtigkeit und Rhetorik in den Reden Antiphons. Zur Genese einiger Topoi der Gerichtsrede. S. 410. In: Hermes 126, 4 (1998). S. 398-422.

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geschrieben haben. Denn das dürfte zusätzlich darauf hinweisen, dass es ihm gerade darum ging, die Rolle eines Redners darzustellen, der einen paradoxen Standpunkt vertritt. Drei der vier Argumente der Helena-Rede hatte man schon bei Homer und Sappho lesen können, während ein entschieden negatives Bild der Helena erst Gorgias’ Zeitgenosse Euripides vermittelte. Wieso den Gegner größer machen, als er ist, wenn es nicht darum geht, die eigene rhetorische Fähigkeit zur Gegenrede in den Vordergrund zu rücken? Die Manipulation des Stoffes deutet noch einmal darauf hin, dass Gorgias mit seiner Helena die rhetorische Geste des Dagegenhaltens, den Handlungstyp der paradoxen Verteidigungsrede – mit einer konfrontativen, für ein Streitgespräch geeigneten Rolle und einem polemisch gefärbten Gegnerbild – bewusst konstruierte und wie auch immer spielerisch als eine rhetorische Leistung inszenierte. 2.4.3 Gorgias’ Anknüpfung an mythologische Klischees Für alle vier Argumente, mit denen der Orator vorgibt, Helena gegen die Dichter zu verteidigen, lassen sich Vorläufer in der Literatur- und Kunstgeschichte finden.58 Die erste mögliche Erklärung des Orators ist, Helena sei „nach den Ratschlüssen der Götter und der Abstimmung der Notwendigkeit“ (§6) mit Paris nach Troja gefahren. Sei dies der Fall, „dann verdient beschuldigt zu werden der, der eine Anschuldigung hervorbringt: denn eines Gottes Vorsatz kann menschliche Vorsicht unmöglich hindern“ (ebd.). Ganz Ähnliches wird in einer wichtigen Szene der Ilias vorgebracht. Am Anfang der Mauerschau-Szene, in der Helena die trojanischen Greise über das anrückende griechische Heer informiert,59 nimmt der trojanische König Priamos Helena vor den Angriffen der übrigen Ältesten in Schutz, die sich auf dem Turm versammelt haben. Diese sind sich einig, dass Helena zwar an Schönheit einer Göttin gleiche,60 aber doch lieber nach Sparta zurückkehren solle, um nicht noch mehr Jammer nach Troja zu bringen.61 Priamos bittet Helena daraufhin 58  Vgl. einführend zum Mythos der Helena die Monographien Schmid, Gisela Bärbel: Die Beurteilung der Helena in der frühgriechischen Literatur. Freiburg: 1982; Homeyer, Helene: Die spartanische Helena und der Trojanische Krieg: Wandlungen und Wanderungen eines Sagenkreises vom Altertum bis zur Gegenwart. Wiesbaden: 1977. Bes. S. 1-63; und immer noch aufschlussreich Becker, Matthias: Helena. Ihr Wesen und ihre Wandlungen im Klassischen Altertum. Leipzig: 1939. Vgl. ferner – das traditionelle Bild der Helena entschieden und damit wohl zu negativ zeichnend – Kannicht, Richard: Einleitung. In: Euripides: Helena. Hg., übers. u. eingel. v. Richard Kannicht. Heidelberg: 1969. S.  21-77; sowie Worman, Nancy: The Body as Argument: Helen in Four Greek Texts. In: Classical Antiquity 16 (1997). S. 151-203. 59  Vgl. Hom. Il. III, 121-244. 60  Vgl. Hom. Il. III, 158; ferner Gorg., Hel. §4. 61  Vgl. Hom. Il. III, 159f.

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näher zu sich und den anderen Greisen heran, um sich von ihr die Namen und Positionen der Griechen nennen zu lassen, und erklärt: „Du nicht trägst mir die Schuld; die Unsterblichen sind es mir schuldig, / Welche mir zugesandt den bejammerten Krieg der Archaier!“62 Das ist zwar nicht der gleiche Wortlaut, in der Sache aber ist es dieselbe Verteidigung. Der zweite mögliche Grund, den der Orator anführt, ist, dass Helena „mit Gewalt geraubt und gesetzlos überwältigt wurde und unrechtem Frevel ausgesetzt war“ (§7). Der Frauenraub ist ein häufiges Motiv im griechischen Mythos, wie die Entführungen Ios, Europas und Medeas zeigen. Von Helena, der Sage nach der schönsten Frau Griechenlands, hieß es, dass sie gleich zweimal geraubt wurde, zuerst als Zwölfjährige durch Theseus und Peirithoos. Von ihren Brüdern, den Dioskuren Kastor und Polydeukes (lateinisch: Pollux), wieder befreit und von vielen Griechen umworben, sollten ihre Freier schwören, ihre Wahl anzuerkennen und gegen jeden zu verteidigen. Sie erwählte sich Menelaos, den späteren König von Sparta, zum Mann und wurde von dem trojanischen Prinzen Paris geraubt. Selbst die Erklärung, die man für eine „gorgianische Spezialität“63 gehalten hat, nämlich dass es „Rede war, die bekehrte und ihre Seele trog“ (§8), ist nicht neu. In der Ilias ist die Rede ein Mittel der Aphrodite, um jetzt in Troja wie damals in Sparta Helena zu verleiten.64 Und in der Odyssee schildert Penelope dem Odysseus, den sie nicht gleich erkannt hatte, ihre Sorge, von irgendjemandem „mit täuschenden Worten“65 hintergangen zu werden wie Helena durch die Verführung des Paris.66 Schließlich findet sich das Motiv der Redemacht im Helena-Mythos auch schon in der Vasenmalerei: Auf einer Trinkschale des athenischen Malers Makron um 490/80 v.Chr. wird Helena am Handgelenk von Paris fortgeführt, ihr nach folgen Eros, Aphrodite und Peitho.67 Die Überzeugungskraft, personifiziert durch die Göttin Peitho, trat demnach schon vor Gorgias im Mythos der Helenas als eine eigene Macht auf. Genauso ist es, das kann schon dieselbe Trinkschale zeigen, um den Einfluss des Eros bestellt. Der Helena-Orator meinte dazu: 62  Hom. Il. III, 164f. (Übers. v. Voss). 63  Buchheim: Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. S. 102. 64  Vgl. Hom. Il. III, 380-412 und die Interpretation dieser Stelle von Worman: The Body as Argument. S. 156f. 65  Hom. Od. XXIII, 216. (Übersetzung v. Voss). 66  Vgl. Hom. Od. 215-224. 67  Vgl. Ritter, Stefan: Eros und Gewalt: Menelaos und Helena in der attischen Vasenmalerei des 5. Jhs. v.Chr. S. 268, Abb. 2a. In: Fischer, Günter/Moraw, Susanne (Hg.): Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. Stuttgart: 2005. S. 265-285. Zu betonen ist, dass es sich nicht um eine Entführungs-, sondern um eine Hochzeitsszene handelt, dass die Schuldfrage also nicht im Mittelpunkt steht.

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Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena Wenn nun durch den Körper Alexanders [sc. Paris’, CW] Helenas Auge entzückt ward, und er in ihrer Seele Drängen und Tumult des Eros auslöste, was für ein Wunder? Wenn der ein Gott ist und der Götter göttliche Wirkkraft besitzt, wie wäre dann, wer doch schwächer ist, fähig, ihn wegzustoßen und abzuwehren? Ist er dagegen ein menschlich Gebrechen und eine Unbedachtsamkeit der Seele, so ist dies nicht als Verfehlung zu tadeln, sondern als Unglücksfall einzuschätzen. (§19)

Auf ähnliche Weise, nur die Liebe als göttliche Kraft deutend, hat schon Sappho in ihrer Priamel-Ode die Fahrt der Helena nach Troja verteidigt. Dort soll der Einfluss der Kypris (Aphrodite) den Ehebruch der Helena erklären: „In der Göttin Hand ist das Herz geschmeidig / jedes Menschen, unsre Gedanken lenksam“.68 Man wird wohl davon ausgehen können, dass Gorgias und seinem Publikum diese Stellen oder zumindest diese literarischen Motive bekannt waren. Der Orator hätte sich, anstatt sich gegen ein vermeintliches Helena-Bild der Dichtung zu wenden, genauso gut und mit Recht auf diese berufen können, um Helena – mit denselben Argumenten – zu verteidigen. Wer sich auf die Seite Helenas stellen wollte, dem war die Form der paradoxen Verteidigungsrede offenbar nicht durch die Literaturgeschichte vorgegeben. Diese Formgebung war also eine bewusste Konstruktion des Gorgias und soviel sollte an dieser Stelle zunächst gezeigt werden. Gleichwohl ist die ablehnende Haltung der Dichter nicht ganz aus der Luft gegriffen. Gerade wenn man die damals aktuelle Literatur in Betracht zieht, wird man bemerken, dass sich das Helena-Bild in der Tat verdüstert hat69 – und dies mit einem psychologischen und normativen Beurteilungsmaßstab, den der Helena-Orator konsequent ausgeblendet hat: Der Mensch soll sich an den Wert der maßvollen Selbstbeherrschung halten und er hat auch die nötige Entscheidungsfreiheit, um für sein Handeln verantwortlich gemacht werden zu können. In dieser Hinsicht scheinen die Argumente des Helena-Orators ein Menschenbild zu aktualisieren, das zur Zeit der Rede gerade verspottet wurde. 68  Vgl. Fränkel, Hermann: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik und Prosa bis zur Mitte des fünften Jahrhunderts. 5. Aufl. München: 2006. S. 211. Hier: ebd. Vgl. zum Helena-Bild in dieser Ode ausführlich Schmid: Die Beurteilung der Helena in der frühgriechischen Literatur. S. 74-88. – Schmid interpretiert die Ode übrigens im hier verfolgten Sinne als Paradoxie, da Sappho im ersten Abschnitt die Liebe über die zu ihrer Zeit wohl konsensuellen militärischen Werte stellt. Vgl. ferner Homeyer: Die spartanische Helena. S. 15f. 69  Darin einig u.a. Zajonz: Isokrates’ Enkomion auf Helena. S. 15; Homeyer: Die spartanische Helena. S. 27; Becker: Helena. S. 50. – Dass dieser Kontext für Gorgias’ Rede wichtig ist, zeigt Braun, Ludwig: Die schöne Helena, wie Gorgias und Isokrates sie sehen. S. 163f., bes. 163, Anm. 19. In: Hermes 110 (1982). S. 158-174.

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Um zunächst bei dem Eros-Motiv zu bleiben: In der Tragödie Andromache (zwischen 428-424 v.Chr.) des Euripides hat die Kriegsgefangene Andromache den Verdacht auf sich gezogen, die Gattin ihres griechischen Herrn Neoptolemos, Hermione, zugleich Tochter von Menelaos und Helena, durch Zauberei unfruchtbar gemacht zu haben. Menelaos droht ihr nun an, sie – ohne Urteil – zu töten, doch überschüttet sie ihn und seine Frau mit Hohn. Zwar werden die beiden insbesondere als Spartaner verspottet (vgl. V. 445ff.), was als Engagement des Euripides für den Peleponnesischen Krieg (431-404 v.Chr.) zwischen dem Attischen Seebund und dem von Sparta geführten Peleponnesischen Bund erklärt werden könnte. Doch stellt Andromache die Helena eben auch als notorisch männersüchtig hin (vgl. V. 229-231). Und auch der Großvater des Neoptolemos, Peleus, der den gefühllosen Menelaos zur Rede stellt, ist in seiner Spartafeindlichkeit weit davon entfernt, Helenas Verlangen als Entschuldigung anzuerkennen: Du Feigster, feiger Eltern Sohn, du wärst ein Mann? Wo spricht man denn mit dir gleichwie mit einem Mann? Der seine Gattin rauben ließ vom Phrygier Und unverschlossen, unbewacht sein Haus verließ, Als walte drinnen im Gemach ein züchtig Weib – Sie, die der Frauen schlimmste war! Selbst wenn sie will, Kann eine Frau aus Sparta nicht enthaltsam sein70

Das meint nicht den Eros als entschuldigende Übermacht, wie es bei Sappho und Gorgias der Fall ist, sondern unterstellt auch im Geschlechterleben generelle Entscheidungsfreiheit, die dann im Falle der Frauen Spartas nur polemisch geleugnet wird. Dem hat Menelaos nichts entgegenzusetzen als das mythologische Klischee „Nicht willig, nein, nach Götterschluss litt Helena“71 und, ablenkend von der Moral, die Aufwertung des Trojanischen Kriegs durch den Ruhm, den die Griechen darin errangen. Dass Helena im Mythos eine moralisch fragwürdige, weil männersüchtige und eitel auf ihr Äußeres bedachte Figur sei, war in Athen offenbar eine verbreitete Vorstellung: Das würde auch erklären, warum die berüchtigte Gattin des Perikles, Aspasia, in einer Komödie des Eupolis (429 v.Chr.) ausgerechnet eine zweite Helena genannt wurde.72 70  Eur. Andr. 590ff. Zitiert nach Euripides: Sämtliche Tragödien. Nach der Übers. von J.J. Donner, bearb. v. Richard Kannicht. Bd. 1. Stuttgart: 1958. S. 69. 71  Eur. Andr. 680. Zitiert nach Euripides: Sämtliche Tragödien. Bd. 1. S. 71. 72  Gemeint ist das Stück Prospaltioi. Vgl. Schwarze, Joachim: Die Beurteilung des Perikles durch die attische Komödie und ihre historische und historiographische Bedeutung. München: 1971. S. 15, 122. Ferner Homeyer: Die spartanische Helena. S. 36, Anm. 17. – Aspasia

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Überhaupt scheint die Macht des Eros und die Norm der Selbstbeherrschung ein virulentes Thema der Zeit gewesen zu sein. Im Jahr 428 v.Chr. – ein Jahr vor dem wohl ersten Aufenthalt des Gorgias in Athen – gewann Euripides mit seinem Hippolytos, der von der Macht des Eros und dem Wert der Selbstbeherrschung handelt, den ersten Platz bei den Dionysien. Wenn auch hier die Göttin Aphrodite auf tragische Weise Einfluss auf das Leben der Menschen nimmt, so steht dem doch der Wert der Selbstbeherrschung entgegen. Denn Phaidra, die Identifikationsfigur des Stücks, versucht der Erfüllung der erotischen Liebe zu ihrem Stiefsohn Hippolytos zu entsagen. Zwar rät ihr die Amme: „[…] nichts anderes / Als Trotz ist’s, will man besser sein als Götter sind! / Ja, füge dich der Liebe, weil’s ein Gott gewollt“.73 Doch dieser Rat wird sogleich von Chor und Phaidra als Schmeichelrede (vgl. V. 482-89) diskreditiert. Allerdings ist Phaidra schon so liebeskrank, dass sie dem Plan der Amme nichts entgegensetzen kann, die ihre Herrin vom frommen Leiden erlösen will und das Geheimnis ans Tageslicht bringt. Wenige Jahre später und damit möglicherweise bereits nach der HelenaRede, nämlich im Jahr 423 v.Chr., wurde die Komödie Die Wolken des Aristo­ phanes aufgeführt, in der die neue Bildungsbewegung von Sophistik und Sokratik zum Gegenstand satirischer Überzeichnung wurde. Mit unverkennbarem Seitenblick auf die Sophistik ist hier die antilogische Technik im berühmten Redewettstreit zwischen den beiden Personifikationen des rechten und des unrechten Logos dargestellt. Unter anderem sagt der letztere, vom Stück selbst also diskreditierte Logos: Wirst du im fremden Bett erwischt, sag ins Gesicht dem Manne, Du seist dir keiner Schuld bewußt, und zwar beruf auf Zeus dich, Der Weiberlust und Liebesdrang so oft schon unterlegen. Wie solltest du, der sterblich ist, mehr als ein Gott vermögen!74

Da nicht ausgeschlossen ist, dass die Helena-Rede nach 415 v.Chr. entstanden sein könnte, sei zuletzt noch ein Wort zu Euripides’ Tragödie Die Troerinnen war als Nicht-Athenerin und äußerst attraktive, zweite Frau von Perikles, die sich mit den Philosophen ihrer Zeit umgab, umstritten und wurde von der Komödie als Hetäre verspottet. – Dass schon vor der Ankunft des Gorgias in Athen buchstäblich ein Gerücht um diesen Namen existierte, wie Gorgias schreibt (Gorg. Hel. §2), könnte allerdings auch durch Aischylos’ Agamemnon (458 v.Chr.) belegt werden, worin der Name Helena volksetymologisch als ‚Rafferin‘ ausgelegt wird (Aischyl. Ag. 681ff.). Vgl. den Kommentar von Emil Staiger in Aischylos: Die Orestie. Übers. v. Emil Staiger. Stuttgart: 2011. S. 147. 73  Euripides: Hipp. 474-476. Übersetzung aus Euripides: Sämtliche Tragödien. Bd. 1. S. 418. 74  Aristoph. Nub. 1079-1082. Übers. aus Aristophanes: Die Wolken. Übers. v. Otto Seel. Stuttgart: 2008. S. 68.

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aus diesem Jahr gesagt, an deren Ende Helena und Hekabe, die unglückliche Königin Trojas, einen Rede-Agon vor dem wütenden Menelaos abhalten (vgl. V. 915-1032). Helena weiß die Schuld am Ausbruch des Krieges auf andere zu schieben: Hekabe und ihren grausam ermordeten Mann, Priamos, ferner auf Athene, Aphrodite und sogar auf Menelaos selbst, weil er sie in Sparta vorübergehend allein gelassen hatte. Dagegen hat Hekabe, eine der großen Identifikationsfiguren des Euripides, leichtes Spiel: Der Verweis auf die Götter sei nur Übertreibung und Lüge, eigentlicher Grund für die Fahrt nach Troja dagegen die Gier der Helena nach dem Reichtum des orientalischen Prinzen und die Unvernunft, mit der sie seiner Schönheit erlegen ist. Wenn Helena gewaltsam geraubt worden sei, so fragt Hekabe weiter, warum habe sie dann kein Jammergeschrei von sich gegeben? Und wenn sie wider ihren Willen in Troja festgehalten worden sei, warum habe sie dann niemand Seile knüpfen und Messer schärfen sehen? Auch Euripides lässt also das Argument der mythologischen Abhängigkeit des Menschen von höheren Mächten lächerlich wirken. Aus all dem folgt erstens, dass die vier Argumente des gorgianischen HelenaApologeten keineswegs alle Dichter gegen sich hatten, sondern vielmehr an frühe Mythenbearbeitungen anknüpften. Zweitens aktualisierten diese Argumente konsequent ein Welt- und Menschenbild, das zumindest in der damals aktuellen Literatur vehement in Frage gestellt wurde. Was in Gorgias’ HelenaRede als wahrscheinlich gilt, nämlich die Heteronomie des Menschen, wird dort mehrfach gerade als schlechte Ausrede vorgeführt. Bei genauerer Betrachtung scheint die Helena-Rede eine bewusste Auswahl aus dem damals bekannten Helena-Stoff zu sein, welche stillschweigend an das traditionelle mythologische Motiv von der Heteronomie des Menschen anknüpft, ohne die zeitgenössischen Angriffe auf dieses Motiv einzuarbeiten. Es ist festzuhalten, dass die Helena-Rede offenbar die Form der Paradoxie voranbringen und vermitteln wollte – und dabei wohl nicht zufällig ein Sujet behandelte, das den Polisbürger interessierte: eine Verteidigung gegen (angeblich) falsche Anschuldigungen. Indirekt folgt aus dem Gesagten auch, dass die Helena-Rede inhaltlich keine Musterverteidigung sein kann.75 Aus der anderen mythologischen Rede des Gorgias, der Verteidigung des Palamedes, ist bekannt, dass Gorgias den Wert der Selbstbeherrschung für die erfolgreiche Lebensbewältigung des 75  Vgl. zu der Beobachtung, dass die fatalistische Argumentationsstrategie in der HelenaRede nicht besonders überzeugt, Porter, James  I.: The Seductions of Gorgias. In: Classical Antiquity 12, Nr. 2 (1993). S. 267-299. – „If the speech is a demonstration of the overwhelming powers of logos, it is a curiously self-defeating one“ (S. 270).

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Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena

Einzelnen ebenfalls anzubringen wusste.76 Ja es ist mit Buchheim sogar anzunehmen, dass wir in diesem Wert eine sophistische Grundüberzeugung erkennen können.77 Der Helena-Orator verschweigt schlicht die Möglichkeit voluntaristischer Schuld – und unterstellt in seinem Plädoyer für sie gewissermaßen ein quintum non datur.78 Gorgias hätte eine Verteidigung mithilfe solcher Argumente wohl auch niemandem empfohlen, im Gegenteil müsste man eher annehmen, wie John Poulakos bemerkt, „that he [Gorgias, CW], too [wie Hekabe in den Troerinnen], contrary to his stand in the Helen would have condemned her“.79 Bei den konkreten Gründen, die der Helena-Orator nennt, endet die Interpretation der Rede als Demonstration einer Technik der Gegenrede, die bei entsprechender Anwendung eine Hilfe in der Not wäre. Zum Abschluss der Redeinterpretation soll versucht werden, das in der Helena-Rede aktualisierte mythologische Motiv von der Heteronomie des Menschen als narrative Vergegenwärtigung eben jenes Nichtkönnens zu interpretieren, für das die Sophistik einen Ausgleich anbieten wollte. Manches von dem, was Gorgias in seinem Plädoyer für Helena anführt, dient in dieser Perspektive als Begründung der Disziplin, der es entstammt. Die Schwachheit des Menschen: anthropologische Legitimation der Rhetorik Wenn die Sophisten als politische Lehrer die Rhetorik als eine Fähigkeit vermitteln wollten, die den Menschen in ihren Bedürfnissen hilft (Alkidamas), dann wird die Helena-Rede auch als eine Darstellung dieser Bedürftigkeit einerseits und dieses Hilfsangebots andererseits deutbar. Diese Deutung geht zunächst von der merkwürdigen Tatsache aus, dass die wahrscheinliche Welt, die der Helena-Orator unterstellt, durch die Abwesenheit einer politischen und 2.4.4

76  In Gorg. Pal. §15 sagt Palamedes, dass er wie all jene, „die Herr über die Verlockungen ihrer Natur sind“, kein Interesse an viel Geld habe. Übers. aus Die Sophisten. Hg. u. übers. v. Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier. S. 97. 77  Mit Bezug auf Protagoras, auf den Palamedes, entlarvend auf die Helena-Rede sowie auf Antiphon vgl. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. S. 102f. 78  Zu der Vortäuschung, die vier Faktoren seien die einzig denkbaren Gründe, vgl. auch Braun: Die schöne Helena. S.  162. Braun führt den naheliegenden  §7 der Helena-Rede an, in dem Paris verurteilt wird, um zu zeigen, dass Gorgias die Möglichkeit subjektiver Schuld voraussetzt, für Helena aber nicht einmal erwägt. 79  Poulakos, John: Gorgias’ Encomium to Helen and the Defense of Rhetoric. S.  10. In: Rhetorica: A Journal of the History of Rhetoric. 1, 2 (1983). S. 1-16. Das sagt er unter Berufung auf das von Hegel gezeichnete Bild der Sophisten als Rationalisten, auf das (wenig aussagende) Fragment DK B22 sowie auf die (rationalen) Argumente der Hekabe in Eur. Tro. 969-1032. Vgl. Pulakos: Gorgias’ Encomium to Helen. S. 9f.

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sittlichen Ordnung gekennzeichnet ist. An deren Stelle herrschen Schicksalsmächte, Gewalt, betrügerischer Einsatz von Redekunst und die Macht der Triebe. Darauf scheint es dem Orator auch anzukommen. Denn gerade wenn man sich den langen Teil zur Beeinflussung durch Rede ansieht, wird deutlich, dass der Orator nicht nur mythologische Anleihen nimmt, sondern auch triftige Argumente für eine konstitutive Schwäche des Menschen vorbringt. Wenn das Argument der Beeinflussbarkeit des Menschen zur Zeit des Gorgias zwar normalerweise als Ausrede wahrgenommen wurde, so aktualisiert und plausibilisiert er es doch im Hinblick auf die gegenwärtige Bedeutung der Rede als des entscheidenden Instruments zur Beeinflussung des Menschen. So heißt es unter anderem: Wieviele bekehrten und bekehren noch wieviele andere zu wievielem, indem sie eine irreführende Rede bildeten. Wenn freilich alle an alles Vergangene Erinnerung, in alles Gegenwärtige Einsicht und Voraussicht auf alles Kommende hätten, dann wäre die Rede, selbst gleich, nicht in gleicher Weise; dabei steht es jetzt keineswegs gut weder mit dem Erinnern des Vergangenen noch dem Beachten der Gegenwart geschweige denn der Ahnung des Kommenden. Und daher bestellen die meisten in den meisten Fällen die Ansicht (dóxa) zum Beirat ihrer Seele. Die Ansicht aber – trügerisch und unsicher wie sie ist – umgibt den, der sich ihrer bedient, mit trügerischen und unsicheren Geschicken. (Gorg. Hel. §11)

Der Orator begründet die Übermacht der Rede nicht durch den Verweis auf die Göttin Peitho oder die trügerischen Worte der Aphrodite, sondern durch einen sprachphilosophischen bzw. metarhetorischen Exkurs über das, was er den Logos nennt (vgl.  §§8-14). Die lenkende Kraft der Rede hängt mit der Unsicherheit des Meinungswissens zusammen, auf das der Mensch meist angewiesen ist. Die Meinungen sind veränderlich und daher herrsche eine allgemeine Diskurs-Notlage vor, wie man unschwer an dem ständigen Meinungswechsel sowohl unter den Himmelskundigen als auch unter den Streitrednern als auch unter den Philosophen erkennen könne (vgl.  §13). Diese Überlegung ist aus heutiger Sicht für die Geschichte der rhetorischen und philosophisch-anthropologischen Theoriebildung außerordentlich interessant; und in der Tat erinnert sie an die sophistische Grundüberzeugung, dass der Mensch nicht über eine absolute Gewissheit verfüge und daher in Rede und Gegenrede mit diesem Mangel umgehen lernen müsse (vgl. Kap.II.2.3.).80 An dieser Stelle wird die Helena-Rede in ihrem genauen Anschluss an den Mythos zur originellen Reflexion auf die Voraussetzungen des 80  Vgl. Segal, Charles  P.: Gorgias and the Psychology of the Logos. In: Havard Studies in Classical Philology 66 (1962). S. 99-155; Oesterreich, Peter L.: Philosophen als politische

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Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena

Fachs der Sophisten. Denn indem diese das Meinungswissen in seiner Veränderlichkeit als Bedingung des alltäglichen Zusammenlebens anerkannten, trugen sie zur Begründung der Rhetorik als einer eigenständigen Technik des wirkungsorientierten Redens bei. Die Helena-Rede ist an dieser Stelle wohl keine Musterverteidigung, keine Absage an das Autonomiebestreben des Menschen, sondern, indem die Helen-Rede erklärt und veranschaulicht, wie einflussreich und gefährlich die Rhetorik ist, ist sie auch Werbung dafür, sich damit näher zu befassen – und vielleicht so die eigene Handlungsfreiheit zu steigern. Wenn diese Beobachtung einer die Grenzen und Möglichkeiten der Rhetorik reflektierenden Bedeutungsebene der Helena-Rede richtig ist, wäre Gorgias jedenfalls nicht der einzige Sophist, der die sophistische Ansicht von der mangelhaften Ausstattung des Menschen mit mythologischen Bildern beschrieben hat. Die Welt der Helena, die er beschreibt, erinnert sogar an den Naturzustand aus dem Mythos des Protagoras über die Kulturentstehung.81 Während der Mensch dort noch der Gewöhnung an das Recht bedarf, um sich nicht selbst durch Gewalt, Betrug und Begierde ins Unglück zu stürzen, erinnert die Helena-Rede vielleicht wie auch immer spielerisch daran, dass das Eintreten des Einzelnen für seine Interessen ohne rednerisches Können und besonders ohne eine Praxis antikonsensualer Rede nicht zu gewährleisten ist. Die sophistischen Paradoxien bestimmen sich, das sollte nun deutlich geworden sein, nicht allein dadurch, das sie sich von vermeintlich allgemeinen Meinungen abgrenzen, sondern auch und vor allem dadurch, dass sie in der Art und Weise, wie sie das tun, Grundüberzeugungen über die Natur des Menschen und die Legitimation der Rhetorik im politisch-rechtlichen Handlungsfeld der Demokratie teilen. Eben diese Grundüberzeugungen – und das ist ein wesentliches Merkmal einer jeden Praxis antikonsensualer Rede – bieten Dritten eine Möglichkeit zur Beurteilung und Bewertung. Sie können somit auch als Folie zur Abgrenzung einer anderen Praxis antikonsensualer Rede dienen, die auf anderen Prämissen beruht. Genau das lässt sich anhand jenes berühmten Widerspruchs genauer erläutern, den die sophistische Kunst der Gegenrede vonseiten der platonischen Philosophie auf sich gezogen hat.

Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs. Darmstadt: 1994. S. 61-74, bes. S. 65-67; Schiappa: Toward a Predisciplinary Analysis of Gorgias’ Helen. S. 81-85. 81  Plat. Prot. 320c-328d.

Die Seite der Kritiker

2.5

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Die Seite der Kritiker: alternative Praktiken antikonsensualer Rede (Isokrates, Platon)

In dem epideiktischen Diskurs der sophistischen Paradoxien artikulierte und bildete sich ein geteiltes Wissen der Sophisten zumindest über das gobale Handlungsziel und die lokale Darstellbarkeit ihrer rhetorischen Könnerschaft in einzelnen Reden. Dieses Wissen über die sophistische Könnerschaft eröffnete freilich einen Spielraum für die mehr oder weniger begeisterte Rezeption und die gegenseitige professionelle Kritik und Überbietung der Redner (Isokrates’ Busiris, u.a.) in der Frage, wer der größere Könner sei. Dieses „Wissen“, das in der konkreten Praxis zum Teil implizit blieb, konnte jedoch auch als eine unberechtigte Vorannahme kritisiert und somit grundsätzlich in Frage gestellt werden. Während die Kritik des Isokrates an den sophistischen Paradoxien vielleicht noch als ein Beitrag zur sophistischen Könnerschaft verstanden werden darf, machte Platon einen radikalen Gegenentwurf, der die Legitimität der sophistischen Könnerschaft bestritt und ihr eine eigene Praxis antikonsensualer Rede entgegenstellte. 2.5.1 Isokrates’ Sicht auf paradoxe Rede im Prœmium seiner Helena-Rede Bemerkenswerterweise leitete Isokrates den Hauptteil seiner Lobrede auf Helena, die an Gorgias’ Helena-Rede explizit anschloss (Isokr. or. 10,  §14) und sie verbessern bzw. überbieten sollte, mit einer allgemeinen Reflexion auf das Phänomen der Paradoxie ein.82 An dieser Reflexion sei hier – für die These, dass sich Paradoxien als wissensbasierte und strategisch orientierte Handlungsweisen verstehen lassen – vor allem hervorgehoben, dass Isokrates selbst das Phänomen der Paradoxie als einen Zusammenhang verschiedener Handlungsweisen darstellt, insofern er eine diskursive Praxis bestimmter Akteure beschreibt, diesen Akteuren (eher unrühmliche) Motivationen unterstellt und die (angeblich eher schlimmen) Auswirkungen ihrer Praxis kritisch diskutiert. Iskorates’ Rede beginnt so: Es gibt Leute, die sich viel darauf einbilden, wenn sie eine absurde und aller Erwartung zuwider laufende These (hypóthesin átopon kai parádoxon) aufstellen und über diese in erträglicher Weise reden können. Und so sind die einen darüber alt geworden zu behaupten, es sei nicht möglich, die Unwahrheit zu sagen und zu widersprechen und zwei Aussagen über dieselben Dinge zu 82  Vgl. einführend zum Proömium der Helena-Rede Eucken, Christoph: Isokrates: Seine Positionen in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit den Philosophen. Berlin: 1983. S. 44-73.

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Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena machen, die anderen darüber, in allen Einzelheiten darzulegen, daß Tapferkeit und Weisheit und Gerechtigkeit dasselbe ist und daß wir von Natur aus nichts davon besitzen, sondern daß es ein einziges Wissen von allen Tugenden gibt. Andere beschäftigen sich mit den Streitreden, die keinen Nutzen haben, aber den Schülern Schwierigkeiten zu bereiten vermögen.83

Offenbar konnte man schon in nächster historischer Nähe zur griechischen Philosophie des 5. Jahrhunderts v.Chr. der Auffassung sein, dass die Abweichung von allgemeinen Meinungen ihrerseits ein weit verbreitetes Phänomen war. Denn bemerkenswerterweise beschreibt Isokrates eine regelrechte Mode sowohl unter Rednern als auch unter Philosophen des gesamten 5. Jahrhunderts v.Chr.: Auf Antisthenes, Sokrates und Eristiker, auf die §1 anspielt, folgen in §3 die Eleaten Zenon und Melissos sowie der Sophist Gorgias. Obwohl das Beiwort parádoxon (genauso wie átopon) nicht definiert und so zum terminus technicus gemacht wird, kann man in dieser Zuordnung einzelner Schulen zum Phänomen der Paradoxie vielleicht den Beginn einer Kanonisierung philosophiegeschichtlicher Beispiele für Paradoxien sehen.84 Isokrates lehnte aber die seiner Meinung nach modisch gewordene Abweichung nicht einfach ab. Im Sinne einer Kollegenschelte, die wohl auch der Selbstdarstellung dienen sollte, behauptet er vielmehr, dass er in dieser Redeweise der bessere, verantwortungsvollere Könner sei. Mit der agonalen Geste, die verbreitete Praktiken antikonsensualer Rede nicht wertungsfrei vergleicht, sondern alle miteinander kritisiert, behauptet Isokrates, jene Leute seien allesamt „auf die Neuartigkeit ihrer Erfindungen stolz“ (§2) und gerade die Eristiker versuchten, mithilfe „der Effekthascherei und Gaukelspielen“ (§7) „sich an den Jugendlichen zu bereichern“ (§8). Um eine vollständige Verurteilung paradoxer Rhetorik ging es Isokrates jedoch nicht. Denn davon abgesehen, dass er diese Rhetorik selber pflegte, würdigte er im gleichen Atemzug Gorgias’ Schrift Über die Natur oder über das Nicht-Seiende, sowie Thesen von Zenon von Elea und dessen Schüler Melissos damit, dass sie viel schwieriger als die Thesen von Antisthenes, Sokrates und den Eristikern seien, ja unüberbietbar (vgl. §§2f.). 83  Isokr. Hel.  §1. – Übersetzung und Original zitiert nach Zajonz, Sandra: Isokrates’ Enkomium auf Helena. Göttingen 2002. S. 79. 84  Aristoteles wird unter dem gleichen Stichwort der Paradoxie zum Teil gleiche Beispiele benennen: „Eine These aber ist eine paradoxe Meinung eines angesehenen Philosophen, z.B. daß es keinen Widerspruch geben kann, wie Antisthenes behauptete, oder daß, wie Heraklit will, alles sich bewegt, oder daß das Seiende eins ist, wie Melissus sagt“, Aristot. top. 104b. Übersetzung nach Aristoteles: Topik. Sophistische Widerlegungen. Übersetzt von Eugen Rolfes. Hamburg: 1995, S. 14f. Vgl. auch Aristot. top. 8, 9. – Eine partielle Übernahme ist zumindest nicht unwahrscheinlich, da Aristoteles Isokrates’ Helena-Rede kannte, vgl. Aristot. rhet. III, 14, 1.

Die Seite der Kritiker

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Von dieser Mode hob sich Isokrates – dessen Helena ja selbst ein paradoxes Enkomium war – ironisch ab, um für das in Frage stehende Kommunikationsphänomen seine ethischen Maßstäbe durchzusetzen. Sein Proœmium scheint der Versuch einer professionellen Verständigung darüber zu sein, durch welche Qualitäten sich eine Rede auszeichnen sollte, um berechtigterweise von der allgemeinen Meinung abzuweichen: Originalität dürfe nicht auf Kosten der pädagogischen Nützlichkeit (vgl. §9-13) gehen. Die sophistische Rhetorik wurde bekanntlich auch noch schärfer, nämlich grundsätzlich durch Platon kritisiert. Indem Isokrates bei seiner Aufzählung von Paradoxien Philosophen und Sophisten gewissermaßen über einen Kamm schor, verhehlte er wichtige Unterschiede. Gerade Sokratiker sähen sich wohl ungern in eine Reihe mit den Sophisten gestellt. Denn gerade sie übten heftige Kritik an der Sophistik und reflektierten auch die sophistische Praxis antikonsensualer Rede. 2.5.2 Die platonisch-sokratische Praxis antikonsensualer Rede Das pragmatische Selbstverständnis der Sophisten, Rhetorik für die Leidbewältigung und Gefahrenabwehr im alltäglichen Leben zu lehren und einzusetzen, war geradezu einer der Hauptangriffspunkte ihrer damaligen und bis heute nachwirkenden Skandalisierung. Die platonische Kritik an der Sophistik kann exemplarisch vor Augen führen, inwiefern eine Praxis antikonsensualer Rede nicht nur in ihren einzelnen paradoxen Äußerungen, sondern auch in der sie insgesamt orientierenden Handlungsstrategie Widerspruch hervorrufen konnte. Die Kritik Platons an der Sophistik enthielt darüber hinaus einen Gegenentwurf zur sophistischen Praxis antikonsensualer Rede. Insofern im Streit zwischen Sophistik und Platon zwei verschiedene Auffassungen einander gegenüberstanden, was es heißt und wozu es dient, einer allgemeinen Meinung zu widersprechen, kann an diesem Streit versucht werden, eine Typologie der Paradoxie zu eröffnen. Dies wird im nächsten Kapitel über die stoischen Paradoxien und ihre Verteidigung durch Cicero (Paradoxa Stoicorum) fortgesetzt, die sich weitgehend an den platonisch-sokratischen Typus anlehnten. Die platonisch-sokratische Praxis antikonsensualer Rede, wie sie im Folgenden anhand Platons Gorgias und Apologie beschrieben wird, ist ein eigener Handlungstyp, der durch drei Merkmale gekennzeichnet ist: durch seinen Bezug auf eine metaphysische Wirklichkeit und seine Funktionen der Gesellschaftskritik und des Trosts. Erstens basiert er auf dem epistemologischen Wissen, dass es eine normative Wirklichkeit gebe, die jedem Menschen zugänglich sei. Ihr ist der Redner, hier Sokrates, in seinem Bemühen um Wahrheit verpflichtet. Das

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sokratische Wahrsprechen versteht sich selbst in Hinsicht auf diese prinzipielle Erkenntnisfähigkeit des Menschen als nicht paradox, denn nach bestem Wissen und Gewissen sagt es doch nur, was wahr und also allgemein akzeptabel sein sollte; nur kommt es eben allzu häufig vor, dass Sokrates sich de facto antikonsensuale Positionen vertreten sieht, nämlich vor all jenen Zuhörern, deren natürliche Erkenntnisfähigkeit aus diversen Gründen (Jugend, Laster, Einfluss von Gerüchten etc.) beeinträchtigt ist.85 Das sokratische Wahrsprechen verfolgt nicht primär das Ziel, andere zu überzeugen, es soll in erster Linie mit der Wirklichkeit übereinstimmen, also wahr sein. Man kann es, damit zusammenhängend, parrhesiastisch nennen, weil der Redner durch sein freimütiges Aussprechen der Wahrheit gerade vor einem an die Wahrheitssuche nicht gewöhnten Publikum sein Ansehen und sogar sein Leben riskiert.86 Im Zusammenhang mit der Bindung des Sprechers an die Wahrheit zeichnet sich das sokratische Wahrsprechen zweitens durch die Funktion der Gesellschaftskritik aus. Da die sokratische Rede eine normative Wahrheit über das richtige Leben ausspricht, weist sie typischerweise kritisch und sorgenvoll auf die Abweichung der Gesellschaft von der eigentlichen Ordnung hin. Eng damit verbunden ist drittens die Funktion des Trosts für den Redner. Er kann in Hinsicht auf sein eigenes Leben oder Sterben ohne jede Sorge sein, da er in seiner Rede für die Wahrheit einsteht und insofern mit der normativ verstandenen Wirklichkeit übereinstimmt. Platons Dialog Gorgias stellt gewissermaßen die Kollision beider Praktiken dar; die Apologie zeigt die sokratische Praxis antikonsensualer Rede in all ihrer tragischen Konsequenz. 2.5.2.1 Platons Gorgias: Konfrontation sophistischer und philosophischer Gegenrede Platons Dialog Gorgias zeigt, wie Sokrates eine Gruppe von Sophisten – Gorgias, Polos und Kallikles – argumentativ verunsichert, während er sich lediglich über ihre Profession zu erkundigen scheint. In ihrer pragmatischen Einstellung schätzen sie die Rhetorik dafür, dass, wie die Figur des Gorgias es ausdrückt, ein guter Redner so zu reden versteht, „daß er den meisten Glauben findet beim Volk, um es kurz herauszusagen, worüber er nur will“ (457a, 85  Daher lässt sich geradezu von einer „Sokratische[n] Rhetorik der Irritation“ sprechen, vgl. Erler, Michael: Vom admirativen zum irritierten Staunen. In: Früh, Ramona et al. (Hg.): Irritationen. Rhetorische und poetische Verfahren der Verunsicherung. Berlin: 2015. S. 109-123, hier: S. 111. 86  Vgl. zur sokratischen Parrhesia Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Berlin: 2012. Bes. S. 101-206.

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S.  356).87 Damit impliziert Platon wohl, dass der gute Redner laut Gorgias stets Glaubhaftes sagt, ob er nun bestehende Meinungen des Volkes effektvoll bestätigt, Einigkeit in Strittigem herstellt oder – der Fall antikonsensualer Rede – herrschende Meinungen auf erfolgreiche Weise regelrecht invertiert. Mithilfe der Rhetorik könne man sich in diesem Sinne in der Gesellschaft selbst behaupten, egal welcher Sache man sich letztlich annehme. Sokrates vertritt dagegen die Position, dass man wissen müsse, welche Sache die richtige sei, und „daß dies die beste Lebensweise sei, in Übung der Gerechtigkeit und jeder andern Tugend leben und sterben“ (527e, S. 452). Von diesem Standpunkt aus richtet sich das freimütige Wahrsprechen des Sokrates im Gorgias-Dialog gegen die mangelnde Orientierung der Redekunst an der Wahrheit allgemein, insbesondere aber auch gegen die sophistische Legitimation der Rhetorik als Selbstverteidigung. Nachdem Gorgias und Polos in der Anpreisung ihrer Kunst nacheinander widerlegt wurden, stellt Kallikles dem Sokrates den Nutzen der Rhetorik als einer Selbstverteidigung drastisch vor Augen: [D]ünkt es dich nicht schmählich, in solchem Zustande zu sein, in welchem du bist, wie ich glaube, und alle, die es immer weiter treiben mit der Philosophie? Denn wenn jetzt jemand dich oder einen andern solchen ergriffe und ins Gefängnis schleppte, behauptend, du habest etwas verbrochen, da du doch nichts verbrochen hättest: so weißt du wohl, daß du nicht wissen würdest, was du anfangen solltest mit dir selbst, sondern dir würde schwindlig werden, und du würdest mit offenem Munde stehn und nicht wissen, was du sagen solltest. (486ab, S. 396)

Für Kallikles ist es die größte Selbstverständlichkeit, dass ein ordentlicher Mann und Bürger sein eigenes Ansehen, Eigentum und Leben vor Gericht verteidigen können muss. Jemanden wie Sokrates, der auf Verleumdungen und Beleidigungen rhetorisch nicht zu reagieren wisse, der keine persuasive Technik beherrsche, „kann man ja, um es derber zu sagen, ins Angesicht schlagen ungestraft“ (486c, S.  397). Auf die Fähigkeit, sich als Unschuldiger vor einem Gericht verteidigen zu müssen, vor dem man schuldig zu sein scheint, versucht Kallikles die Legitimität seiner Profession zu gründen. Sokrates nun sieht aber weder in der Ehre noch im bloßen Leben ein Gut, dessen Schutz durch eine eigene Disziplin oder sogar eine Lebensform lobenswert wäre. Der Sorge wirklich wert scheint ihm stattdessen die Erkenntnis und die Tugendhaftigkeit der Seele zu sein. Eine tugendhafte Seele ist nicht auf 87  Nachweise erfolgen im Text, bei direkten Zitaten beziehen sich die Seitenzahlen auf Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1.

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gesellschaftliche Anerkennung angewiesen. Man müsse jene Leute viel mehr bedauern und erretten, die Unrecht tun, als die, die Unrecht leiden (468e470c): denn sie hängen einem Irrtum an, den man ihnen aufzeigen muss. Die Orientierung an der Tugend setzt einen anderen Wertbegriff voraus als den des privaten und politischen Erfolgs und Ansehens und damit auch ein anderes epistemologisches und strategisch-motivationelles Wissen, durch das sich das sokratische Wahrsprechen von der sophistischen Gegenrede unterscheidet. Eine andere Klasse von Paradoxien, ein anderes Format von antikonsensualer Rede kündigt sich an, indem Sokrates mit Blick auf das ethische Gut der Tugend radikal umdeutet, was Ehre und Schande, was Rettung und Gefahr, was Glück und Leid wirklich bedeuten. Sokrates bringt den Perspektivwechsel, den er anmahnt und der seinem freimütigen Wahrsprechen zugrundeliegt, im finalen Höhepunkt des Dialogs – dem sogenannten Totengerichtsmythos (523a-527e) – in eine prägnante Form. Dafür greift er Kallikles’ drastische Rechtfertigung der Rhetorik als Selbstverteidigung in einer nicht minder drastischen Weise wieder auf. Er meint diesmal nicht die Verteidigung vor irgendeinem Gericht, sondern jene vor dem Totengericht. Dieses Gericht schickt jene, die im Leben vor allem um Einsicht und Tugend bemüht waren, auf die Inseln der Seligen, die anderen aber, die meistens die Mächtigen seien, in den Tartaros. Sokrates sagt zu Kallikles: Was also anderen Menschen für Ehre gilt, lasse ich gern fahren und will der Wahrheit nachjagend versuchen, wirklich so sehr ich nur kann, als der Beste sowohl zu leben als auch, wenn ich dann sterben soll, zu sterben; ich ermuntere aber auch die übrigen Menschen alle dazu, soweit ich kann. Daher ich dann meinerseits auch dich ermuntere zu dieser Lebensweise und diesem Wettstreit, welcher vor allem, was man hier so nennt, den Vorzug hat, und es dir zum Schimpf vorrücke, daß du nicht vermögend sein wirst, dir selbst zu helfen, wenn jenes Gericht und jenes Urteil dir bevorsteht, wovon ich jetzt eben gesprochen; sondern daß, wenn du vor deinen Richter, den Sohn der Aigina, kommst und er dich vornimmt, du dort ebenso mit offnem Munde stehn und schwindeln wirst, wie ich hier, und dort einer vielleicht dich sogar schmählich ins Angesicht schlagen könnte und auf alle Weise beschimpfen. (526d-527a, S. 450f.)

Sokrates transponiert den Ernstfall der Selbstverteidigung auf metaphysische Verhältnisse. Das Totengericht ist kein Fall situativer Anerkennung mehr, sondern es prüft die Übereinstimmung des Lebens der Menschen mit der objektiven, hier ethisch-normativ verstandenen Wirklichkeit. Der Appell, sich selbst an die Wahrheit und die Tugend zu binden, ist für Sokrates auch der Appell, sich im alltäglichen Leben vor einem imaginären überzeitlichen Dritten, hier vor dem letzten Gericht, zu bewähren und dabei, jedenfalls für das eigene Selbstbild, nichts auf die alltägliche Rechtsprechung und die

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gesellschaftliche Anerkennung zu geben. Mit Blick auf diese Instanz stellt sich – aus Sicht der Sophisten: paradoxerweise – auch das Erleiden einer Handgreiflichkeit als „nichts Arges“ dar: [L]aß dann immer einen dich verachten als unverständig und dich beschimpfen, wenn er will, ja, beim Zeus, auch jenen schimpflichen Schlag laß dir getrost zufügen, denn nichts Arges wird dir daran begegnen, wenn du nur in der Tat edel und trefflich bist und Tugend übst. (527d, S. 451)

Die platonische Tugendethik, die nicht auf gesellschaftliche Anerkennung angewiesen ist und die Sokrates verkörpert, ist es, die eine bestimmte Art von Paradoxien motiviert und konturiert. Diese Art von Paradoxien ist, umgekehrt, im Sinne jener Tugendethik inhaltlich bestimmt, ihr Sprecher nimmt die Rolle des freimütigen Wahrsprechers ein, der einer metaphysischen Instanz verpflichtet ist, während der von diesen Paradoxien angeblich betroffene Konsens typischerweise in einer moralisch falschen Denk- und Handlungsweise verortet und als Irrglaube der Adressaten kritisiert wird. Der Gegenentwurf zur sophistischen Rhetorik, den Sokrates im GorgiasDialog etabliert und im Totengerichtsmythos anschaulich macht, gewissermaßen eine Schlagfertigkeit nicht in alltäglichen, sondern den letzten Dingen, erhält seine vielleicht eindrucksvollste Ausgestaltung in der Apologie des Sokrates. Die Apologie des Sokrates lässt sich geradezu als eine Kontrafaktur sophistischer Selbstverteidigungsrhetorik verstehen, und zwar als ein Gegenentwurf in Hinblick auf die Frage, was es heißt und wozu es nützlich ist, einer allgemeinen Meinung zu widersprechen. In der Apologie nimmt es Sokrates nicht nur in Kauf, etwas für seine Zuhörer Unangenehmes zu sagen, sondern auch, dass er als Angeklagter vor Gericht eben dadurch sein Leben riskiert. 2.5.2.2 Platonischer Gegenentwurf: Apologie des Sokrates Die Situation, in der sich Sokrates in Platons Apologie des Sokrates befindet, ist tragisch. Er ist angeklagt, die Jugend zu verderben und an keine Götter zu glauben. Da aber in Athen, wie er findet, die Sitten und die Gesetze seit langem verdorben sind, hält er es selbst für wenig aussichtsreich, in seiner Verteidigung an das natürliche Wert- und Wahrheitsempfinden der Menschen zu appellieren, an das er doch prinzipiell glaubt (37a-38a). Seit vielen Jahren schon werden üble Gerüchte über ihn verbreitet (18a-19a). Auch wenn das Wort paradox nicht fällt, kann man wohl sagen, dass Sokrates seine Verteidigung danach ausrichtet, dass er für die meisten Zuhörer als ein schwer vertretbarer und in diesem Sinne paradoxer Gegenstand einer Verteidigung gilt. Und das, obwohl er selbst freilich davon überzeugt ist, eigentlich nichts Paradoxes zu sagen.

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Sokrates will die Anklage, er habe ein sittenloses und sittenverderbendes Leben geführt, widerlegen, indem er das Gegenteil, also die Tadellosigkeit seines Lebens evident zu machen versucht. Er stellt seine Argumentation auf die Basis eines philosophischen, nämlich universellen Geltungsanspruchs, was ein tadelloses Leben sei: Jedermann müsse sich um Weisheit bemühen und sich entsprechend von einem anderen, am besten von Sokrates, ausfragen lassen, um eigene Irrtümer einzusehen. Ähnlich wie im Totengerichtsmythos führt Sokrates, ob nun ironisch oder nicht, eine metaphysische Instanz ins Feld, um von der konkreten Gerichtssituation auf das Ganze des richtigen Lebens zu abstrahieren. Er beruft sich auf jenen Spruch des Orakels von Delphi, dass Sokrates der weiseste Mensch sei, und erklärt, dass er diesen Spruch als Befehl interpretiert habe: „damit ich in Aufsuchung der Weisheit mein Leben hinbrächte und in Prüfung meiner selbst und anderer“ (28e, S. 27)88. Was Sokrates sonst gegenüber seinen Mitmenschen zu erweisen versucht, nämlich das Ideal des philosophischen Lebens, präsentiert er hier als seine persönliche Lebensaufgabe, die schon deshalb legitim und richtig ist, weil sie von einem Gott gestellt wurde. Um nun schlussfolgern zu können, dass Sokrates selbst, anders als weithin angenommen, immer ein tadelloses Leben geführt habe, erzählt er sein eigenes Leben als ein Leben nach dem philosophischen Ethos nach (bes. 28a-35c). Bemerkenswert an dieser Argumentation ist, dass Sokrates damit vielmehr sein philosophisches Ethos, nach dem er lebt und das ihn in Verruf gebracht hat, darstellt und bekräftigt, als an anerkannte Meinungen aus dem Publikum anzuschließen.89 Damit führt er in seiner Verteidigung sein philosophisches Leben fort, in welchem es ihm nicht primär auf Erfolg, sondern auf Wahrhaftigkeit und Wahrheit ankommt. Der Rekurs auf eine metaphysische Instanz bzw. auf den Geltungsbereich der Wahrheit mag bei manchen Zuhörern zu Sokrates’ Glaubhaftigkeit beitragen, die Hauptfunktion besteht aber wohl darin, eine Sicht auf die Dinge zu präsentieren, die nicht nur allgemeiner als die zu beweisende Konklusion (Ich, Sokrates, habe ein tadelloses Leben geführt), sondern auch allgemeiner 88  Nachweise direkter Zitate beziehen sich wie schon im vorhergehenden Unterkapitel auf Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. 89  Zumindest in der Apologie beruft sich Sokrates nicht systematisch auf solche Meinungen, die auch seine Zuhörer vermutlich anerkennen, wie er es anscheinend sonst tut, wenn er die Athener mit einem Satz wie dem folgenden zurechtweist: „‚Bester Mann, als ein Athener, aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangst, und für Ruhm und Ehre; – für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken?‘“ (29de, S. 28, Herv. v. Verf., CW.)

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als die Gerichtssituation selbst ist. Indem Sokrates eben nicht nur für sich beansprucht, wahre Behauptungen aufzustellen, sondern auch, für die Sache der Wahrheit einzutreten, macht er sich von der Anerkennung des Publikums unabhängig. Weil er sich in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu sein wähnt, stellt sich ihm auch das augenscheinliche Machtgefälle zwischen ihm und den Richtern (bzw. den stimmberechtigten Athenern) gerade umgekehrt dar: Im Bewusstsein, ein gottgefälliges Leben geführt zu haben, sieht Sokrates seiner wahrscheinlichen Hinrichtung getrost entgegen: „Töten freilich kann mich einer oder vertreiben oder des Bürgerrechts berauben. Allein dies hält dieser vielleicht und sonst mancher für große Übel, ich aber gar nicht“ (30d, S.  29). Sokrates verkraftet das letztendlich gegen ihn gefällte Todesurteil in jenem hoffnungsvollen Bewusstsein, das noch die Paradoxien der stoischen Ethik prägen wird: „daß es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode“ (41c, S. 42). Man könnte fragen: Warum verteidigt sich Sokrates dann noch? Er macht sich Sorgen um die Athener, die im Begriff sind, ihn hinzurichten. Denn durch diese Tat schadeten sie ihrer Seele und brächten sich zugleich um jenen Prüfstein, durch den sie lernen könnten und sollten, Wahrheit von Irrtum zu unterscheiden. Sokrates erklärt: Daher ich auch jetzt, ihr Athener, weit davon entfernt bin, um meiner selbst willen mich zu verteidigen, wie einer wohl denken könnte, sondern um euretwillen, damit ihr nicht gegen des Gottes Gabe an euch etwas sündigt durch meine Verurteilung. Denn wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen andern solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie einem großen und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zur Trägheit neigt und der Anreizung durch einen Sporn bedarf, wie mich der Gott dem Staat als einen solchen zugelegt zu haben scheint, der ich euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch anliegend. (30de-31a, S. 29)

An diesem Gleichnis sei zunächst hervorgehoben, dass Sokrates seine Rolle durch eine antikonsensuale, seine Gesprächspartner verunsichernde Redeweise90 definiert, die sein soziales Handeln bestimmt. Insofern gibt es auch im sokratischen Selbstverständnis eine eigene Praxis antikonsensualer Rede. Und nach dem Gesagten erscheint auch sie durch einzelne paradoxe Äußerungen, durch einzelne rhetorische Anspornungen hindurch als ein eigener Handlungstyp, weil sie auf einem bestimmten epistemologischen Wissen (Metaphysik) sowie strategisch-motivationellen Wissen (Trost und Kritik) basiert. Versucht man von hier aus einen typologischen Vergleich zwischen der sophistischen 90  Vgl. nochmals Erler: Vom admirativen zum irritierten Staunen.

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und der sokratischen Praxis antikonsensualer Rede, liegt der wohl wichtigste Unterschied darin, dass der sokratische Perspektivwechsel aufgrund der dahinterstehenden Metaphysik nicht nur eine in einer Situation gegebene Einschätzung widerlegen soll, sondern das Wirklichkeitsverständnis der Zuhörer insgesamt auf bestimmte Weise in Frage stellt. In der Argumentation der sokratischen Verteidigungsrede zeigt sich dies darin, dass Sokrates die gegnerischen Behauptungen, er führe ein unsittliches Leben, nicht widerlegt, ohne dabei den Prozess selbst und damit die momentane Situation als Ganze aus einer übergeordneten, letztlich metaphysischen Perspektive zu zeigen. Die sophistische Argumentation verlässt in ihrer pragmatischen Auffassung von Rhetorik nicht oder doch nur zu halbernsten Demonstrationszwecken den juristischen Verständnishorizont, in dem die Richter und die Geschworenen situationsmächtig sind, weil sie am Ende das Urteil fällen. Die (platonisch-) philosophische Sprechweise des Sokrates stellt sich hier wie im Gorgias über das apologetische Interesse und auch über die juristische Situation. Sie ist gerade darin platonisch-philosophisch, dass sich Sokrates im Hinblick auf eine metaphysische Instanz verteidigt, die ihm zufolge die in Wahrheit situationsmächtige Instanz sei, eine Instanz, die unabhängig von den Richtern erst eigentlich definiert, welche Rollen den Prozessbeteiligten zukommen bzw. in welcher Situation sie sich befinden. In der sokratischen Situationsdefinition bedeutet die Hinrichtung des Sokrates keinen Schaden für ihn (Trost), sondern für die Athener selbst (Kritik). So viel zur sokratischen Praxis antikonsensualer Rede als einem Gegenentwurf zur sophistischen in Platons Apologie des Sokrates. Wie bereits erwähnt, ähnelt Ciceros Schrift Paradoxa Stoicorum – aber auch die darin verteidigte stoische Ethik selbst – der sokratischen Praxis antikonsensualer Rede; und zwar in den drei Merkmalen der metaphysischen Wissensbasis und den Funktionen, den Sprecher zu trösten und die Gesellschaft zu kritisieren. Das Kapitel III wird also am Beispiel Ciceros, aber auch der Stoa den gleichen Handlungstyp näher untersuchen, der soeben knapp am platonischen Sokrates im Gorgias und der Apologie aufgezeigt wurde. Ciceros Darstellungsstrategie für paradoxe Rede unterschied sich jedoch in einer Weise von dem freimütigen Wahrsprechen eines Platon bzw. Sokrates. Da sie vom wesentlichen Ansatz her bereits bei Aristoteles gefunden werden kann, bietet sich die Gelegenheit, hier auch auf die wichtige Frage einzugehen, wie die aristotelische Rhetorik – darunter sei hier auch die Dialektik begriffen – die Kategorien Paradoxie und Konsens deutet und bewertet. Als Rhetoriker und Philosoph zugleich schloss sich Cicero den platonischen Einwänden gegen die Überzeugungsabsicht der Rhetorik nicht voll und ganz an. Wie schon Aristoteles vor ihm modifizierte er das epistemologische Wissen

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Platons dergestalt, dass der ideale Redner sein stets ethisch fundiertes Anliegen nicht durch ein freimütiges Wahrsprechen, nicht in einer Rhetorik der Verunsicherung vorbrachte, sondern es in eine publikumsorientierte, an der Überzeugung des Publikums interessierte Rhetorik integrierte. Diese Rhetorik ging zwar wie die platonische Philosophie davon aus, dass die Natur nicht nur einem Weisen wie Sokrates, sondern allen Menschen Erkenntnisfähigkeit geschenkt habe, dass also eine gute Rede in dieser Hinsicht keineswegs paradox, sondern für alle einsichtig sei. Doch appellierte sie nicht abstrakt an ein Wert- und Wahrheitsempfinden der Menschen, das doch von gewissen Irrtümern getrübt sein mochte. Sie appellierte konkret an solche Instanzen (den Konsens aller, der Meisten, der Weisen, der Vorväter u.ä.), die das Publikum de facto anerkannte. Die Rhetorik Ciceros und Aristoteles’ setzte ein Publikum voraus, dessen Einsichtsfähigkeit – nach ihrem Maßstab – nicht verdorben war, das etwa einen Sokrates selbstverständlich freigesprochen hätte, und bewertete daher die Kategorie des Konsenses positiv (Endoxie, communis opinio), die Kategorie der Paradoxie hingegen negativ. Sie ging von einem bereits erschlossenen und mehrheitsfähigen Fundus an gültigen oder doch wahrscheinlichen Einsichten in die Natur der Dinge aus, sodass ein Redner es gerade vermeiden sollte, einem Konsens zu widersprechen, außer freilich, es wäre der Konsens eines bestimmten Publikums, dessen natürliche Erkenntnisfähigkeit aus irgendwelchen Gründen beeinträchtigt war. 2.5.3 Endoxie und Paradoxie in der aristotelischen Rhetorik und Dialektik 2.5.3.1 Zur positiven Bewertung der Endoxie Aristoteles modifizierte die platonische Epistemologie, indem er neben dem sicheren Wissen noch weitere Gewissheitsgrade metaphysischen Wissens unterschied. Diese Gewissheitsgrade gilt es zunächst zu verstehen, weil sie für das Thema der Paradoxie zentral sind. Denn sie legitimierten nicht nur eine rhetorisch versierte Philosophie, sondern auch eine philosophische Deutung der Kategorien der angesehenen und der abweichenden Meinung. Was nicht mit Sicherheit wahr oder unwahr ist, nannte Aristoteles den Geltungsbereich des Glaubwürdigen. Während die systematischen Wissenschaften (wie Mathematik) wahre Sätze aufstellten, könne die Rhetorik, aber auch die Dialektik die Wahrheit bloß in der abgeschwächten Form des Glaubwürdigen ausfindig machen. Die Rhetorik, so formuliert Aristoteles, „beschäftigt sich […] mit solchen Dingen, welche Gegenstand unserer Beratung sind, für die wir aber keine systematischen Wissenschaften besitzen“91. Damit 91  Arist. Rhet. 1357a. Hier und im Folgenden zitiert nach Aristoteles: Rhetorik. Übers. v. Franz G. Sieveke. 5. Aufl. München: 1995. S. 16.

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ist jedoch nicht gemeint, dass jede beliebige Meinung glaubwürdig ist, sobald sie in einer Gruppe von Menschen akzeptiert wird. Die Aufgabe der Rhetorik ist es nicht „zu überreden, sondern zu untersuchen, was an jeder Sache Glaubwürdiges vorhanden ist“ (1355b). Aristoteles meint offenbar, dass der Redner, obwohl er nicht sicher zwischen wahr und falsch unterscheiden könne, durchaus einen ungefähren Zugang zur Sache selbst habe. Das Glaubwürdige oder auch Wahrscheinliche ist in diesem Sinne Teil eines metaphysischen Wirklichkeitsbegriffs. Auf der Annahme der inneren Glaubhaftigkeit der Sache und der natür­lichen Erkenntnis zumindest des Glaubwürdigen basieren auch die aristotelischen Begriffe der Endoxie und der Paradoxie, der angesehenen und der abweichenden Meinung: Während das Endoxe den höchsten rhetorischen Gewissheitsgrad, nämlich das am meisten Wahrscheinliche, aber nicht entschieden Wahre bezeichnet, meint das Paradoxe den niedrigsten rhetorischen Gewissheitsgrad, nämlich das am wenigsten Wahrscheinliche, aber nicht entschieden Falsche.92 Zunächst zu Aristoteles’ Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Prämissen und dialektischen Endoxien: Wahre und erste Sätze sind solche, die nicht erst durch anderes, sondern durch sich selbst glaubhaft sind. Denn bei den obersten Grundsätzen der Wissenschaften darf man nicht erst nach dem Warum fragen, sondern jeder dieser Sätze muß durch sich selbst glaubhaft sein. Wahrscheinliche Sätze (éndoxa) aber sind diejenigen, die Allen oder den Meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen wieder entweder Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten.93

Was endox ist, bemisst sich hier nicht oder nicht nur an der Meinung eines beliebigen Publikums, sondern an einer Art dritten Instanz (Alle, die Meisten, 92  Vgl. von Moos, Peter: Was allen oder den Meisten oder den Sachkundigen richtig scheint. In: B. Mojsisch/O. Pluta (Hg.): Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Festschrift für Kurt Flasch. Amsterdam, Philadelphia, Penn. Bd. 2. 711-743; ders.: Die angesehene Meinung: Studien zum endoxon im Mittelalter II.  S.  143-145. In: Schirren, Thomas/Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik: ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 143-163. – Vgl. Gast, Wolfgang: Vertretbarkeitsgrade. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen: 2009, Sp. 1115-1131. Sowie Ptassek, P.: Endoxa. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen: 2004. Sp. 1134-1138. 93  Aristot. top.  100b. Übersetzung zit. nach Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd. 2. Topik. Sophistische Widerlegungen. Übers. v. Eugen Rolfes. Hamburg: 1995. S. 1. (Herv. v. Verf., CW). Griechisches Original hier in Transkription zitiert nach Aristotelis opera. Hg. v. Immanuel Bekker. Bd. 1. Berlin: 1831. S. 100.

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die Weisen), an deren Autorität man appellieren kann. Man übersetzt éndoxa durch angesehene Meinungen,94 um sie von dem Konsens in einer beliebigen Gruppe zu unterscheiden, mit dem sie nicht identisch sein müssen. Die Unterscheidung der Instanzen zeigt, dass Aristoteles mit vielfältigem Dissens (zwischen den Weisen und der übrigen Gesellschaft, zwischen den Weisen selbst) rechnete. Doch sie zeugt auch von seinem Vertrauen sowohl in die Konvergenz der Meinungen als einem Anzeichen des Richtigen als auch in die Glaubwürdigkeit des Berufsstands der Weisen. Hervorzuheben ist, dass die aristotelische Kategorie der angesehenen Meinung überhaupt nicht, wie man es aus aufklärerischer Perspektive erwarten würde, polemisch konnotiert ist. Vielmehr ist sie für Aristoteles eine legitime Richtschnur in der öffentlichen Beratung. Das heißt nicht zuletzt, dass eine angesehene Meinung zum Ausgangspunkt antikonsensualer Rede gemacht werden kann, wenn antikonsensual nur heißt: einem beliebigen Konsens widersprechend. Eine angesehene Meinung kann daher als eine qualifizierte Meinung im Extremfall sogar vom Konsens eines maßgeblichen Teils der Gesellschaft abweichen und in diesem Sinne paradox scheinen, aber nichtsdestoweniger als angesehene Meinung klassifiziert werden.95 Die Kategorie der angesehenen Meinung ist also gewissermaßen die Schnittmenge aus philosophisch-normativen und praktisch-deskriptiven Ansprüchen der Rhetorik. Was Aristoteles konkret für eine Endoxie, eine der Sache selbst wahrscheinlich angemessene Meinung hält (er nennt keine Beispiele), davon kann vielleicht der Tugendkatalog im Rhetorik-Kapitel über die Lobrede einen Eindruck (Arist. Rhet. 9,  §§1-13) geben.96 Zum Beispiel meint Aristoteles, dass die Gerechtigkeit und die Tapferkeit allgemein als ehrenhaft betrachtet werden. Da nämlich „die Tugend ein Vermögen ist, wohltätig zu sein“, sie also anderen nützlich ist, lasse sich schließen, dass zumindest unter allen Tugendhaften „die Menschen die Gerechten und Tapferen am meisten ehren“97. Das heißt: Was gut und richtig ist, das macht auch einen guten Eindruck beim Publikum. Die Grundannahme, dass die Menschen in ihren Meinungen zum

94  Vgl. von Moos: Die angesehene Meinung. 95  Das ist der Fall, den Cicero in seinen Paradoxa Stoicorum vertritt. Vgl. hier Kap. III. 96  Hier werden folgende neun Tugenden erläutert: „Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, großartiger Sinn, Hochherzigkeit, Freigebigkeit, Sanftmut, Einsicht, Weisheit“, Arist. rhet. 1366b. Zit nach Aristoteles: Rhetorik. Übers. v. Franz G. Sieveke. 5. Aufl. München: 1995. S. 47. – Seitenangaben der folgenden Belege beziehen sich auf diese Ausgabe. 97  Aristot. rhet. 1366b, S. 47.

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Richtigen tendieren, dass also das Glaubwürdige zugleich das Angesehene ist, zieht sich durch die aristotelische Rhetorik hindurch.98 Dass die Endoxie nicht gleichzusetzen ist mit dem Konsens einer beliebigen Gruppe, heißt auch, dass es nicht trivial ist, eine Endoxie zu erkennen. Um in der Menge der geteilten Meinungen diejenigen erkennen zu können, die ihre Glaubwürdigkeit aus der Sache selbst beziehen, um also zum Beispiel in Gerechtigkeit und Tapferkeit die beiden größten Tugenden zu erkennen, muss der Redner über ein epistemisches Können verfügen: [D]as Wahre und das dem Wahren Ähnliche zu sehen, ist Aufgabe ein und derselben Fähigkeit. Zugleich sind auch die Menschen von Natur aus für die Wahrheit hinlänglich begabt, und meistens gelangen sie auch zur Wahrheit. Daher ist die Veranlagung zum Erzielen der gewöhnlichen Meinung (éndoxa) die gleiche wie die zur Erzielung der Wahrheit.99

Die aristotelische These, dass eine Ansicht, die konsentiert wird, im Normalfall auch sachlich angemessen sein dürfte, hat direkte Konsequenzen nicht nur für den Begriff der Endoxie, sondern auch für den der Paradoxie. 2.5.3.2 Zur negativen Bewertung der Paradoxie Die Paradoxie nun verhält sich spiegelbildlich zur Endoxie. Die Paradoxie ist negativ konnotiert. Denn im Normalfall, von dem Aristoteles ausgeht, widerspricht ein Redner, der der Wahrheit und der Tugend verpflichtet ist, nicht dem Konsens des Publikums. Dies ist gerade nicht der Fall der platonischen Apologie, in welcher Sokrates dem moralischen Verfall der Athener und also einer konkreten Beeinträchtigung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zum Opfer fiel. Mit einer solchen verhängnisvollen Situation rechnet Aristoteles in 98  Ein Redner zum Beispiel, dessen Ethos gut ist, dessen Charakter also aus philosophischer Sicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, ist laut Aristoteles eben darum auch überzeugender als ein moralisch schlechter Redner (vgl. Aristot. rhet. 1355a). Und was das Überzeugungsmittel der Argumentation angeht, so wird deren Überzeugungskraft nicht nur durch das Vertrauen in das Verfahren gültiger Schlussfolgerung garantiert, sondern auch durch die inhärente Überzeugungskraft dessen, was in Wirklichkeit gut und richtig ist. Da nämlich „die Menschen von Natur aus für die Wahrheit hinlänglich begabt [sind]“ (Ebd. 1355a, S. 10), gilt für jede Pro- und Contra-Argumentation: „[D]as Wahre und das der Natur nach Bessere sind immer das besser zu Beweisende und – um es kurz zu sagen – das Glaubhaftere“ (ebd. 1355a, S. 11). Dort heißt es auch, dass „von Natur aus das Wahre und das Gerechte stärker sind als ihr Gegenteil“ (ebd. 1355a, S. 10). – In diesem Sinne setzt auch der Endoxie-Begriff eine Situation voraus, in der man darauf vertrauen kann, dass die Wahrheit bzw. das Wahrähnliche die Menschen von selbst überzeugt. 99  Aristot. rhet. 1355a, S. 10. Griechisches Original hier in Transkription zitiert nach Aristotelis opera. Hg. v. Immanuel Bekker. Bd. 2. Berlin: 1831. S. 1355.

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seiner Rhetorik und Dialektik nicht. Er selbst klassifiziert Aussagen als paradox (bzw. adox), die von seinem philosophischen Welt- und Menschenbild abweichen, und das natürliche Wert- und Wahrheitsempfinden der Menschen urteilt seiner Meinung nach genauso. Da es also wahrscheinlich nicht richtig und, mit Aristoteles müsste man sagen, daher auch nicht erfolgreich sei, etwas Paradoxes zu verteidigen, rät er dem Schüler der Dialektik davon ab: „Eines unwahrscheinlichen Satzes (ádoxon hypóthesin) sich anzunehmen vermeide man“.100 An Beispielen führt Aristoteles die beiden seinsphilosophischen Extreme an, „daß alles oder daß nichts sich bewegt“, sowie Aussagen, deren Wahl eine minderwertige Gesinnung gerät und die mit rechtschaffenem Wollen nicht vereinbar sind, wie z.B. daß die Lust das höchste Gut und daß es besser ist, Unrecht zu tun als Unrecht zu leiden. Denn man wird gegen die Anwälte solcher Sätze eingenommen, indem man sich vorstellt, daß sie sie nicht der logischen Übung halber verteidigen, sondern als ihre wahre Meinung vortragen. (Arist. top. 160b, S. 190f.)

Die geringe Glaubhaftigkeit von Aussagen wie diesen bemisst sich für Aristoteles am natürlichen Wert- und Wahrheitsempfinden der Menschen. Er stimmt darin mit dem platonischen Sokrates überein, der im Gorgias zu seinem sophistischen Gesprächspartner Polos sagte: „Ich nämlich glaube, daß ich und du und alle Menschen das Unrechttun für schlimmer halten als das Unrechtleiden“101. Polos selbst, der sich der politischen Elite zugehörig fühlt, glaubt, es sich um alles in der Welt nicht leisten zu können, sein Ansehen und womöglich seine Freiheit zu verlieren, und entgegnet: „Ich aber glaube dies weder von mir noch sonst irgendeinem Menschen“.102 Angesichts der sophistischen Weigerung, selbst kürzer zu treten und eigenen Schaden zu akzeptieren, galt den Sophisten die ethische Haltung des Sokrates, für ihn selbst die größte Selbstverständlichkeit, als ein paradoxer Standpunkt. Die aristotelische Rhetorik vertritt eine vergleichbare ethische Position, nur stellt sie diese nicht als Bestandteil einer antikonsensualen Praxis dar. Wenn die aristotelische Rhetorik antikonsensuale Rede legitimiert – und dies gilt ganz ähnlich auch für Cicero –, dann die, die nur einem fehlgeleiteten Publikum (wie den Sophisten) als antikonsensual, einem naturgemäßen 100  Aristot. top. 160b. Übersetzung zitiert nach Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd. 2. S.  190f. Griechisches Original hier in Transkription zitiert nach Aristotelis opera. Hg. v. Immanuel Bekker. Bd. 1. Berlin: 1831. S.  156. – Aristoteles scheint Adoxie und Paradoxie weitgehend synonym zu gebrauchen. Vgl. Hoppmann, Michael: Adoxon. Sp. 2. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 10. Tübingen: 2012. Sp. 1-3. 101  Plat. Gorg. 474a. Zit nach Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 379. 102  Ebd.

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Die sophistische Kunst des Dagegenhaltens: Gorgias ’ Helena

Publikum dagegen als konsensfähig erscheint. Im Normalfall heißt paradox für Aristoteles: so gut wie falsch. Laut Aristoteles braucht man paradoxe Thesen überhaupt nur dann zu prüfen, wenn sie nicht als beliebige Gegenmeinung geäußert, sondern immerhin von einem angesehenen Philosophen aufgestellt wurden: Eine These aber ist eine paradoxe Meinung (hypóthesis parádoxos) eines angesehenen Philosophen, z.B. daß es keinen Widerspruch geben kann, wie Antisthenes behauptete, oder daß, wie Heraklit will, alles sich bewegt, oder daß das Seiende eins ist, wie Melissus sagt. Denn sich um den ersten Besten zu kümmern, der den gewöhnlichen Meinungen Entgegengesetztes aufgestellt hat, wäre einfältig. (Aristot. top.  104b, S.  14f. Original nach Aristotelis opera. Hg. v. Immanuel Bekker. Bd. 1. S. 104.)

Das dialektische Verfahren nimmt das Mehrheitswissen zwar nicht als sicheres Wissen an; es gewährt aber auch umgekehrt dem Unbekannten, Befremdlichen und Neuen als solchem keinen Vertrauensvorschuss. Hier ist es anscheinend nur die Instanz des angesehenen Philosophen, die den Mangel jener ungewöhnlichen Thesen zumindest insoweit ausgleichen kann, dass sie sich überhaupt für die dialektische Prüfung qualifizieren. Dabei neigt Aristoteles im Grunde nicht dazu, das, was nach seiner Einschätzung der Sache und ihrer allgemeinen Beurteilung eine paradoxe These ist, als illegitim aus der Rhetorik und der Dialektik auszuschließen. Es ist ihm zufolge nur so, dass die Person, die sich einer solchen These annimmt, gegenüber dem Publikum in Zugzwang gerät. Um angemessen zu reden, muss sie ihr Publikum beschwichtigen und sich beeilen, die These zu erklären. So heißt es zur Verwendung von paradoxen Sentenzen in Reden: Eines Beweises bedürfen jedoch alle solche [Sentenzen, CW], die etwas Paradoxes oder Strittiges aussagen. Die jedoch, die nichts Paradoxes enthalten, bleiben ohne Nachsatz. (Arist.rhet. 1394b, Aristoteles: Rhetorik. S. 137.)

Und nicht zuletzt rät Aristoteles auch den Lobrednern, die „über etwas Unglaubliches (perí paradóxou lógos) oder über etwas Schwieriges oder über etwas von schon vielen Behandeltes“ reden, einleitend an die Nachsicht des Publikums zu appellieren.103 Es kann also aus der Sicht dieser Rhetorik durchaus angemessen erscheinen, eine paradoxe Meinung zu vertreten, aber nur dann, wenn man sie mithilfe einer angesehenen Meinung stützen kann. 103  Vgl. Aristot. rhet. 1415a. Übersetzung zit. nach Aristoteles: Rhetorik. S. 205. Griechisches Original hier in Transkription zitiert nach Aristotelis opera. Hg. v. Immanuel Bekker. Bd. 2. Berlin: 1831. S. 1415.

Die Seite der Kritiker

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Erscheint die Begründungs- und Erläuterungspflichtigkeit der Paradoxie wohl in den meisten Fällen auch heute noch als zweckmäßig, so ist doch zu betonen, dass Aristoteles in keinem Fall von einem legitimen Interesse ausging, den Horizont der angesehenen Meinungen zu überschreiten. Um auf spätere Kapitel vorzugreifen, könnte man sagen, in aristotelischer Sicht wissen die Menschen im Normalfall bereits, was wahrscheinlich richtig ist. Sie finden in jenen Thesen nicht die historisch-gelehrte Weisheit der Humanisten, die ihrer Natur nach versteckt ist und von der gegenwärtigen Welt verkannt wird. Sie sollen in paradoxen Thesen auch nicht aufklärerisch-romantisch avant la lettre eine Anregung zum Selbstdenken und eine Chance zum Fortschritt suchen. Es zeichnet den aristotelischen Umgang mit der Kategorie der Paradoxie im Gegenteil geradezu wesentlich aus, dass Paradoxien sinnvoll nur mit dem Versprechen darauf behauptet werden können, dass sie mit dem bestehenden Meinungswissen oder Teilen von ihm im Einklang stehen. Dass dies auch für die philosophische Rhetorik Ciceros galt und dessen rhetorische Praxis prägte, soll nun am Beispiel der Paradoxa Stoicorum gezeigt werden.

Kapitel 3

Stoische Deutung einer politischen Krise: Ciceros Paradoxa Stoicorum 3.1

Einleitung

Bei Ciceros Schrift Paradoxa Stoicorum handelt es sich um eine populäre Aufbereitung der stoischen Ethik. Sie steigerte nicht nur den Bekanntheitsgrad der hellenistischen Philosophenschule des Stoizismus, sondern sie prägte auch das Verständnis des Wortes Paradoxa. Denn im Vorwort erklärte Cicero, dass die Stoiker ihre ethischen Kernthesen im Griechischen mit dem Wort parádoxa bezeichnet hätten, weil sie Verwunderung hervorriefen und im Widerspruch zur allgemeinen Meinung stünden (admirabilia contraque opinionem omnium, §4).1 Diese Differenz zwischen paradoxer Wahrheit und allgemeiner Meinung sei es auch, die er durch seine Darstellung zu beseitigen versuche. Da die kleine Schrift, die derart prominent auf das Problem der Paradoxalität der stoischen Ethik einging, zu einem „standard text in school and university curricula from the Middle Ages onward“2 wurde, trug sie maßgeblich dazu bei, dass das Wort parádoxa in der prägnanten Bedeutung einer verkannten philosophischen Wahrheit auch in die lateinisch-humanistische Bildungstradition eingehen konnte.3 In diesem Sinne hat Cicero maßgeblichen Anteil daran, dass Thesen wie die, dass nur der Weise reich sei und einem tugendhaften Menschen im Leben niemals etwas fehlen könne, auch in neuzeitlichen Begriffserklärungen der Paradoxie immer wieder als typische Beispiele herangezogen wurden.4 1  Vgl. Cicero, Tullius M.: De Legibus, Paradoxa Stoicorum. Herausgegeben, übers. u. erläutert von Rainer Nickel. 3. Aufl. München/Zürich: 2004. S. 200-245. Nachweise aus den Paradoxa Stoicorum (Cic.parad.) werden im Text unter Angabe des Abschnitts in Klammern gesetzt. – Übrigens wies Cicero noch öfter auf den stoischen Paradoxie-Begriff hin, vgl. Cic.ac. 2. 44, 136 und Cic.fin. IV, 74. 2  Ronnick, Michele V.: Cicero’s ‚Paradoxa Stoicorum‘. A Commentary, an Interpretation and a Study of Its Influence. Frankfurt/M.: 1991. S. V. – Ronnick zählt zwischen 1465 und 1564 in Europa 184 gedruckte Ausgaben, welche häufig neben anderen ethischen Werken Ciceros auch die Paradoxa Stoicorum enthalten. Vgl. ebd. S. 170-199. 3  Wie in Kapitel II. 5 erwähnt, trugen bereits Isokrates und Aristoteles zur Kanonisierung von philosophischen Thesen als „Paradoxien“ bei. 4  Um nur einige Quellen herauszugreifen: Sebastian Franck definierte das „Paradoxon“ in seiner gleichnamigen Schrift unter historisch-gelehrtem Bezug auf „die Griechen“ als eine

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_004

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Ciceros Paradoxa Stoicorum

Der folgende Vorschlag nun, die Paradoxa Stoicorum als Teil einer bestimmten Praxis antikonsensualer Rede zu interpretieren, konzentriert sich auf die Rekonstruktion zweier Strategien. Was zunächst die globale Handlungsstrategie Ciceros (Kap. III.2.) betrifft, so sind die Paradoxa Stoicorum Bestandteil seiner Reaktion auf den Untergang der römischen Republik, der für ihn in einer nicht mehr respektierten Justiz und einem allgemeinen Verfall der Sitten greifbar wurde. Es war sein Plan, für die zeitgenössische Herrschaftselite oder doch deren künftige Generationen die in der Tradition des Sokrates stehende griechische Philosophie5 aufzubereiten, auf dass man darin den Weg zur Wiederherstellung der res publica finden möge.6 Mit der stoischen Ethik im Besonderen, die er nicht nur in den Paradoxa Stoicorum vorzugsweise behandelte (vgl. etwa De finibus bonorum et malorum, Tusculanae disputationes), versuchte er, im Rahmen einer metaphysischen Theorie darüber, was dem Menschen von der Natur her bestimmt sei, ein Wissen über den außerordentlich hohen Wert der Tugend zu vermitteln. Lag das paradoxe Potential der stoischen – ebenso wie der platonischsokratischen – Ethik in einer metaphysischen Situationsdefinition, der zufolge für den Menschen gerade nicht auf dem Spiel stehe, ob er politischen Einfluss, soziales Ansehen und materiellen Reichtum erlange, sondern ob er mit den Forderungen seiner Vernunftnatur übereinstimme, also tugendhaft lebe (Kap. III.3.1.), so modifizierte Cicero gewissermaßen nur diesen moralphilosophischen Typus antikonsensualer Rede. Besonders an seiner Darstellungsstrategie in den Paradoxa Stoicorum wird diese Modifikation erkennbar (Kap. III.3.2.): In der Absicht einer Plausibilisierung der stoischen Ethik führte verkannte Wahrheit und nannte an erster Stelle eine stoische Paradoxie als Beispiel, vgl. ders.: Paradoxa Ducenta octoginta. Ulm: ca. 1534. f. 1v. Wollgast übersetzt die Stelle: „Paradoxon, liebe Freunde und Brüder, heißt bei den Griechen ein Ausspruch, der gleichwohl gewiß und wahr ist, den aber die ganze Welt und was nach Menschenweise lebt, nichts weniger als für wahr hält, so, daß allein die Weisen und Frommen reich sind, oder daß ein Christ nicht sündigen und sterben kann; […]“. Zit. nach Franck, Sebastian: Paradoxa. Hg. v. Siegfried Wollgast. 2. Aufl. Berlin: 1995. S.  3. – Auch die größte deutschsprachige Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts sah die Stoiker und Cicero als begriffsprägend an: vgl. [Artikel] Paradoxon. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 1731-1754. Bd. 26. Sp. 780f. Selbst Lübker’s Reallexicon des klassischen Altertums verweist (in allen acht Auflagen) unter dem Lemma „Parádoxon“ auf den stoischen Begriff („eine wegen ihres Inhaltes auffallende Lehrmeinung, die sich bei näherer Untersuchung als zutreffend erweist“) sowie auf Ciceros Paradoxa Stoicorum als Beispiel. Vgl. dass. hrsg. v. J. Geffcken und E. Ziebarth. 8. Aufl. Leipzig: 1922. S. 766. 5  Zur wichtigen Rolle des Sokrates für die ethische Wende in der Geschichte der Philosophie, vgl. Cic.Tusc. V, §§7-11; speziell die stoischen Paradoxien sah Cicero als sokratisch an, vgl. Cic. parad. §4. 6  Vgl. Bringmann, Klaus: Cicero. 2. Aufl. Darmstadt: 2014. S. 145ff., 265 u.ö.

Einleitung

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Cicero den Konsens verschiedener Autoritäten (vor allem: den mos maiorum, das heißt die Sitte der Alten) ins Feld. Damit suggerierte er seiner Leserschaft, dass die stoischen Paradoxien mit dem natürlichen Sinn aller Menschen oder doch aller anerkannten Autoritäten dafür übereinstimmen würden, dass die Tugend das wichtigste Gut des Lebens sei. Die Paradoxa Stoicorum lassen sich insofern als eine publikumsorientierte Variante der sokratischphilosophischen Praxis antikonsensualer Rede begreifen (vgl. Kap. II.5.2). Publikumsorientiert heißt dabei, genauer, die Orientierung des Redners Cicero an dem Bild eines Publikums, dessen Wissen (Annahme der natürlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen sowie traditionalistische Wertbegriffe der römischen Republik) philosophischen Maßstäben genüge und daher auch die zentrale Appellationsinstanz des Redners bilde.7 An Ciceros Darstellungsstrategie wird zugleich deutlich, dass er ein Problem mit der Legitimierung von antikonsensualer Rede per se hat; er verteidigt die stoische Ethik, aber nicht die Paradoxalität ihrer Thesen. Vielmehr versucht er, den Eindruck der Paradoxalität durch den Rekurs auf angesehene Meinungen zu zerstreuen. Dieser Befund wird abschließend durch den Hinweis auf Ciceros Modell der Erkenntnis kontextualisiert (Kap. III.4.), das seiner Praxis antikonsensualer Rede konzeptuell zugrunde liegt. Die platonisch-sokratische Philosophie leicht modifizierend und dabei der aristotelischen Rhetorik und Dialektik nahekommend, besagt dieses Modell, dass die Sache selbst (zum Beispiel der Wert der Tugend) durch Evidenz ausgezeichnet und der Mensch aufgrund seines natürlichen Sinns in der Lage sei, diese Evidenz zwar nicht direkt im Modus der Erkenntnis, aber doch indirekt im Modus der Vermutung oder des Konsenses wahrzunehmen (Probabilismus).8 Wie in Ciceros Rhetorik dem Publikum, so kommt in diesem Modell also auch dem Erkenntnissubjekt lediglich die Rolle des Akzeptors dessen zu, was sich zwar vermittelt durch die Rede, aber doch sprachlich unmittelbar als glaubhaft präsentiert. Wie am Ende des vergangenen Kapitels bereits angedeutet, unterscheiden sich philosophische Paradoxien wie die, „daß es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode“,9 oder die, dass nur der Weise reich sei, schon durch ihren Wahrheitsanspruch deutlich von den hier zuerst vorgestellten sophistischen Paradoxien. Diesen ging es um die Vermittlung einer Technik, mit der sich entgegengesetzte Einschätzungen beliebiger Art 7  Vgl. Müller, Jan Dietrich: Decorum. Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance. Berlin: 2011. S. 96-99; ebenso Oehler: Der Consensus omnium. Bes. S. 109-111. 8  Vgl. Peetz, Siegbert: Ciceros Konzept des probabile. In: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005). S. 99-133. 9  Plat.apol. 41c. Zit. nach Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 42.

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Ciceros Paradoxa Stoicorum

durchsetzen lassen, jenen um die Vermittlung von Wissen über die Natur der Dinge und über die moralische Bestimmung der menschlichen Natur. Statt wie die Sophistik dabei zu helfen, beliebige Interessen wirkungsvoll zu vertreten, hob Cicero in bewusster Tradition des Sokrates darauf ab, der Wahrheit verpflichtet zu sein und unter allen möglichen Interessen vor allem das moralische Interesse zu kultivieren.10 Durch die besondere Darstellungsstrategie Ciceros, durch seine evidenzund konsensorientierte Gestik des Redens lassen sich die Paradoxa Stoicorum zudem von späteren und mit besonderer Deutlichkeit von modernen Praktiken antikonsensualer Rede unterscheiden. Denn es handelt sich hier ersichtlich um keine Rhetorik, deren Appellationsinstanz die sich verhüllende Wahrheit oder die Freiheit des Denkens und die Veränderlichkeit des Wissens ist. Es ist keine Rhetorik, die für das Unerhörte einen Vertrauensvorschuss bei einem Publikum erwartet, das diesen idealerweise in dem Wunsch gewährt, deutend hinter den äußerlichen Schein der Dinge zu dringen oder den eigenen Horizont zu erweitern. Darin kann man vielleicht einmal am konkreten Beispiel einen enormen Unterschied zur modernen, aufklärerischen Rhetorik sehen (vgl. Kap. VI und VII). Ciceros Rhetorik ist, noch einmal, keine, die die Paradoxalität der stoischen Ethik oder die gar antikonsensuale Rede per se legitimiert. Cicero setzt vielmehr ostentativ das geteilte Wissen des Publikums als wahrheitsverbürgendes Überzeugungsmittel ein und in diesem Sinne ist seine Praxis antikonsensualer Rede durch die Orientierung an einem fundamentalen Konsens, vergleichbar mit der aristotelischen Endoxie (vgl. Kap. II.5.3), gerahmt. 3.2

Ciceros philosophische Schriftstellerei

Die Paradoxa Stoicorum bestehen, stark vereinfacht gesprochen, aus einer philosophischen Komponente, mit der Cicero Stellung zur politischen Krise nimmt, und einer argumentativ-stilistischen Komponente, die von Ciceros Bemühung zeugt, seine philosophische Stellungnahme mit Blick auf die politische Lebenswelt der römischen Herrschaftselite plausibel zu machen.11 10  Laut Peetz entzündete sich Ciceros relativ erkenntnisoptimistische Parteinahme für und wider bestimmte ethische Positionen (etwa für die stoische, gegen die epikureische) am Problem der beliebigen Lebensweise ohne jede Führung, das durch skeptische Erkenntnistheorien nicht gelöst werden konnte. Vgl. Peetz: Ciceros Konzept des probabile. S. 100, 108. 11  Eine solche Mischung ist typisch für Ciceros Spätwerk: „The same kind of association between philosophy, propaganda, and rhetoric which is visible in Cicero’s other works [die sich mit Philosophie befassen, CW] can be seen in operation in the Paradoxa Stoicorum

Ciceros philosophische Schriftstellerei

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Um die Paradoxa Stoicorum als Bestandteil einer philosophischen Praxis antikonsensualer Rede zu interpretieren, sind sie zunächst als eine Schrift über die stoische Ethik sowie als ein Werk des späten Cicero einzuordnen, der sich von der politisch-rechtlichen Tätigkeit ab- und der philosophischen Schriftstellerei zuwandte. Der Begriff der philosophischen Praxis soll dabei den Handlungsrahmen der ethischen Aussagen hervorheben, mit denen Cicero auf eine situative Schwierigkeit, nämlich die Krise der Römischen Republik, reagierte. Erst nach dieser Einordnung wird es dann auch um Ciceros Art und Weise der schriftstellerischen Präsentation der stoischen Ethik gehen (Kap. III.3), durch welche in jener zunächst einmal philosophischen Praxis die besondere Gestik des Rhetorikers Cicero sichtbar wird. 3.2.1 Die Paradoxa Stoicorum In den Paradoxa Stoicorum behandelte Cicero nacheinander die folgenden sechs Thesen:12 1. Nur das Sittliche ist ein Gut (Quod honestum sit id solum bonum esse) 2. Niemandem, der die Tugend besitzt, fehlt etwas zum glücklichen Leben (In quo virtus sit ei nihil deesse ad beate vivendum) 3. Verfehlungen sind ebenso einander gleich wie gute Taten (Aequalia esse peccata et recte facta) 4. Jeder Dummkopf ist wahnsinnig (Omnem stultum insanire), wobei der Text zum Paradoxon IV von der Überschrift abweicht und hauptsächlich die These behandelt, dass nur der Weise ein Bürger, jeder Dummkopf dagegen ein Exilant sei. 5. Nur der Weise ist frei, und jeder Dummkopf ist ein Sklave (Solum sapientem esse liberum, et omnem stultum servum) 6. Nur der Weise ist reich (Solum sapientem esse divitem) Die Thesen befassen sich mit der Frage nach den Grundsätzen des guten Lebens, mit dem Status der Tugend bzw. des Lasters und mit der idealtypischen Figur des Weisen bzw. des Dummkopfs. Es handelt sich um Wahrheitsgeltungsansprüche, genauer gesagt, um philosophische Thesen aus dem Gebiet der Ethik und weder um solche der Physik bzw. Naturphilosophie noch um solche der Dialektik bzw. Logik. Innerhalb der stoischen Ethik sind diese Paradoxa nicht lediglich kuriose Nebenthesen. Zumindest die von Cicero an den Anfang gestellten Lehren, dass nur das Sittliche ein Gut sei und dem as well“. Colish, Marcia I.: The Stoic Tradition from Antiquity to the Early Middle Age. Bd. 1. Leiden: 1990 S. 131. 12  Vgl. Cicero: Paradoxa Stoicorum. S. 200-245. – Alle folgenden Belege aus den Paradoxa beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Ciceros Paradoxa Stoicorum

Tugendhaften nichts zum glücklichen Leben fehle, stehen vielmehr „[i]m Zentrum der stoischen Ethik“.13 Wie man sieht, setzen die stoischen Paradoxien den Maßstab der Tugend und der Weisheit voraus, aber sie sind selbst keine Normen, keine Sollenssätze. Werte bzw. Unwerte wie Reichtum/Armut und Bürger/Verbannter werden in diesen Thesen vielmehr ontologisch qualifiziert und dabei zu Attributen der moralischen Natur des Menschen umdefiniert. Indem sie derart moralisch umgedeutet werden, verlieren sie ihre herkömmliche, alltagssprachliche Bedeutung. Einzig und allein der innerliche Besitz von Tugend und Weisheit gilt nun als natürlicher Garant für ein gelungenes, glückliches Leben. In diesem Sinne erheben die stoischen Paradoxien Anspruch auf die Geltung einer metaphysischen Situationsdefinition, die von der empirischen Verteilung von Achtung und Verachtung absieht, in der auch soziale Anerkennung und materieller Besitz als erstrebenswert gelten. Wie noch zu erläutern ist, besteht das paradoxe Potential der stoischen Ethik gerade darin, dass sie durch den Bezug auf die moralische Natur des Menschen von der empirischen Zuschreibung von Reichtum, Glück, Freiheit und Staatsbürgerschaft abweichen kann. Ungeachtet ihrer philosophischen Dimension zeichnet sich Ciceros Schrift durch eine an die zeitgenössische politische Lebenswelt angepasste Aufbereitung der stoischen Ethik aus. Cicero argumentiert für die genannten Thesen, um zu erproben, ob sie ans Licht, das heißt an die Öffentlichkeit, gebracht und so formuliert werden könnten, daß sie Anerkennung fänden, oder ob die gelehrte und die allgemein verständliche Redeweise zwei verschiedene Dinge seien […]. tentare volui, possentne proferri in lucem, id est in forum, et ita dici, ut probarentur, an alia quaedam esset erudita, alia popularis oratio […]. (§4)

Diese oratio popularis besteht aus sechs aufeinander folgenden fiktionalen Reden, in denen Cicero so tut, als ob er im Rahmen der politischen Lebenswelt der Römischen Republik für die stoische Ethik argumentierte – wobei sich das Setting von Rede zu Rede leicht unterscheidet (etwa: Invektive gegen Kontrahenten vor Publikum, Rede auf dem Forum). Meist scheinen diese Reden nicht zu vollständigen Reden mit Einleitung, Hauptteil und 13  Forschner, M.: Stoa; Stoizismus. S. 181. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Bd. 10. Basel: 1998. S. 176-184. Long/Sedley bezeichnen die These, dass die Tugend zum glücklichen Leben genüge, als „Bollwerk der stoischen Ethik“. Vgl. Long, A. A., Sedley, D. N.: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übers. v. Karlheinz Hülser. Stuttgart: 2006. S. 435.

Ciceros philosophische Schriftstellerei

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Schluss ausgearbeitet zu sein, was im Rahmen eines genus exercitationum (§5) vielleicht auch nicht erwartet wurde. Mit Ausnahme der dritten Rede14 geht Cicero illustrativ vor: Zum einen tadelt er an konkreten Beispielen das moralisch schlechte Handeln seiner Zeitgenossen (Fehlverhalten dieser Generation [huius saeculi error, §50]), wie er es um 60 v.Chr. selbst erlebte.15 Zum anderen kontrastiert er diese Verhaltensweisen durch positive Beispiele: Denn die abstrakten tugendethischen Definitionen müssen, wie Cicero im Paradoxon I schrieb, „durch das Leben und die Taten der bedeutendsten Männer veranschaulicht werden“ (vita atque factis illustranda sunt summorum virorum,  §10). Mit den heimischen Vorbildern (domesticis exemplis,  §12) rekurriert Cicero historiographisch auf den zentralen Wertbegriff der Sitte der Alten (mos maiorum); wobei Cicero die Vorbildgeschichte zum Teil auch autobiografisch anhand eigener ehrenvoller Taten produktiv fortschreibt. Die oratio popularis veranschaulicht also durch positive und negative Beispiele jene Normen, denen sich die herrschende Klasse Roms in ihrem Dienst am Staat traditionell verpflichtet fühlte und nach denen zu leben – in der oratio erudita der stoischen Ethik formuliert – für ein glückliches Leben in Übereinstimmung mit der Natur des Menschen notwendig und hinreichend sei. Um die Darstellungsstrategie der Paradoxa Stoicorum soll es jedoch erst später genauer gehen. Zunächst ist es nötig, auf den Begriff des mos maiorum, der im Text zusammen mit den entsprechenden historiographischen Exempeln als Ciceros zentrales Überzeugungsmittel fungiert, als den zentralen Wertbegriff der römischen Republik in den Blick zu nehmen. Er verweist auf die politisch-historische Situation, in der sich Cicero für die letztendlich philosophische Perspektive der stoischen Ethik entscheidet und einsetzt. 3.2.2 Situativer Anlass der Paradoxa Stoicorum Will man eine der Schwierigkeiten, auf die Cicero mit den Paradoxa Stoicorum, aber auch mit einigen anderen, moralphilosophische Fragen behandelnden Philosophica reagierte, herausgreifen und knapp charakterisieren, dann ist 14  Die These der Gleichheit aller guten bzw. schlechten Taten (unabhängig von ihrem Grad) nimmt auch insofern eine Ausnahmestellung ein, als sich Cicero vermutlich von ihr distanzierte. So wird sie in De fin IV, §55 angegriffen und §74 als sehr umstritten bezeichnet. Dieser Ansicht ist auch Kumaniecki, Kazimierz: Ciceros Paradoxa Stoicorum und die römische Wirklichkeit. S. 126f. In: Philologus 101 (1957). S. 113-134. 15  Narducci zeigt Übereinstimmungen zwischen Ciceros Rede De domo sua (57 v.Chr) nach seiner Rückkehr aus dem Exil und den Invektiven gegen seinen Erzfeind der 60er und 50er Jahre, Clodius, in den Paradoxa Stoicorum (46 v.Chr.). Vgl. Narducci, Emanuele: Perceptions of Exile in Cicero: The philosophical interpretation of a real experience. In: The American Journal of Philology 118 (1997). S. 55-73, bes. S. 66f.

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Ciceros Paradoxa Stoicorum

sicherlich die Kluft zu nennen, die sich zwischen den sittlichen Ansprüchen und dem praktischen Lebensstil innerhalb der herrschenden Klasse Roms aufgetan hatte, eine Kluft, die durch das verstärkte rechtliche und politische Beharren auf den überkommenen moralischen Wertvorstellungen letztlich kaum noch überbrückbar zu sein schien.16 Die Frage der eigentlichen Gründe für die unterminierte Werteordnung, die man in der Überdehnung der auf stadtstaatliche Verhältnisse angepassten römischen Verfassung während der Expansion Roms zu einer Weltmacht vermutet,17 wird hier ausgeklammert. Stattdessen sei nur die Beobachtung festgehalten, dass diese Werteordnung, also der mos maiorum, vom zweiten Jahrhundert v.Chr. an einerseits idealisiert und verrechtlicht und so zu einer Kontrollinstanz der römischen Herrschaftselite entwickelt wurde, dass aber andererseits deren Wirkungslosigkeit gerade zur Zeit der Niederschrift der Paradoxa Stoicorum für jedermann offenkundig sein musste. Was zunächst die Idealisierung des mos maiorum angeht, in der Ciceros politisch-philosophisches Werk selbst einen letzten Höhepunkt darstellt,18 so ist die Anrufung altrömischer Tugenden, die immer öfter verletzt würden, bereits seit Cato dem Älteren (234-149 v.Chr. ) vorgeprägt.19 Der mos maiorum war hier nicht mehr nur, wie in den Anfängen der Republik, die „amtsorientierte[…] Leistungsethik“20 einzelner Nobilitätsfamilien (Treue, militärische Tüchtigkeit, 16  Dass Cicero mit den Paradoxa Stoicorum und anderen Philosophica auf die politisch nicht mehr zu bewältigende Krise reagierte, ist ein Gemeinplatz in der Forschung, vgl. zu den Paradoxa Stoicorum erneut Kumaniecki. A.a.O. Narducci sieht den philosophischen Rückzug der Tusculanae Disputationes in der politischen Ausweglosigkeit Ciceros (und der übrigen Konservativen) begründet. Vgl. Narducci: Perceptions of Exile in Cicero. A.a.O. S. 69-72. 17  Diese These der Extensivierung der Republik meint diejenigen Maßnahmen, mit denen die überkommenen Verfassungsmittel (wie etwa die vorhandenen Ämter und die faktische Souveränität des Senats) den Anforderungslasten der hegemonialen Republik angepasst wurden. Vgl. Christian Meier: Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik. 3. Aufl. Frankfurt/Main: 1997. S. 64-161. 18  Vgl. Blösel, Wolfgang: Die Geschichte des Begriffes des mos maiorum von den Anfängen bis zu Cicero. S. 27. In: Stemmler, Michael/Linke, Bernhard (Hg.): Mos maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik. Stuttgart: 2000. S. 25-97. 19  Vgl. Blösel S. 53-59. Der ältere Cato war laut Bringmann Exponent einer in der Aristokratie selbst verbreiteten Strömung, die bereits in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr. einen allgemeinen Sittenverfall beklagte. Vgl. Bringmann: Weltherrschaft und innere Krise Roms im Spiegel der Geschichtsschreibung des zweiten und ersten Jahrhunderts. v.Chr. S. 31-35. In: Antike und Abendland 23 (1977). S. 28-49. 20  Blösel: Die Geschichte des Begriffes mos maiorum von den Anfängen bis zu Cicero. S. 46.

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Klugheit etc.), die etwa bei Begräbnissen oder Triumphzügen symbolisch repräsentiert wurde, um die Nachfahren, die am Beginn ihrer staatlichen Laufbahn standen, in das rechte Licht zu rücken. Infolge der krisenbedingten Entwöhnung von dieser Ethik sei der mos maiorum, so Bleicken, als Norm bewusst geworden. Er sei nun zu einem familienübergreifenden Ideal oder Dogma stilisiert worden, dem zufolge die Größe der Republik auf den Tugenden der alten Römer beruhe.21 Die Abweichungen von diesem Ideal schienen jedoch immer mehr zuzunehmen. Dies erklärten die damaligen Historiker von Polybios (200-118 v.Chr.) bis Sallust (86-35 v.Chr.) mit der erfolgreichen Ostpolitik Roms in Griechenland und Kleinasien, die disziplinierende Feinde beseitigt, für einen Zustrom von Geld und Luxusgütern nach Stadtrom gesorgt sowie die Soldaten zu fremdländischen Sitten verführt habe.22 Die Diagnose des Sittenverfalls stellte anscheinend für die Geschichtsschreibung, an der Cicero ja nicht zuletzt in den Paradoxa Stoicorum partizipierte,23 weithin den Maßstab dar, an dem sich Symptome einer Krise festmachen ließen. Ein Blick auf die Verrechtlichung des mos maiorum in der Sittenpflege soll dessen doppelte Entwicklung von gleichermaßen zunehmender Normbekräftigung und Normverletzung noch etwas deutlicher machen.24 Baltrusch geht der These nach, dass in Analogie zur Idealisierung des mos maiorum auch der Versuch unternommen wurde, ihm durch seine Verrechtlichung Geltung zu verschaffen.25 Im Zentrum steht hier das regimen morum, ein Teilgebiet des staatlichen Rechts. Es umfasst das Amt der Zensur26 und die sumptuarische Gesetzgebung, die vor allem Grab-, Kleider-, Schmuck-, Tafel-, Spiel- und Bauluxus betrifft. Dabei ist es hinsichtlich der historischen Umstände der tugendethischen Position der Paradoxa Stoicorum besonders aufschlussreich, die drei 21  Vgl. zur Idealisierung des mos auch Bleicken, Jochen: Lex publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik. Berlin: 1975. S. 373-377. 22  Vgl. hier und im Folgenden Bringmann: Weltherrschaft und innere Krise Roms im Spiegel der Geschichtsschreibung des zweiten und ersten Jahrhunderts v.Chr. 23  Nicht zuletzt durch die Rekapitulation der jüngeren römischen Geschichte und seines eigenen Einsatzes gegen den Sittenverfall in den Paradoxa Stoicorum (siehe etwa das Beispiel der Verschwörung des Catilina, Cic.pad. §40). 24   Vgl. Baltrusch, Ernst: Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und der frühen Kaiserzeit. München: 1989. 25  Diese These wurde von Bleicken entwickelt. Vgl. Bleicken: Lex publica. S. 377-393. 26  Der Zensor ist seit dem 3. Jh. v.Chr. vor allem für die Senatslese zuständig, kann also bestimmte Senatoren rügen, bestrafen oder ausschließen, wenn sie sich als unwürdig oder unanständig erwiesen haben. Ferner kann er in beschränktem Ausmaß Edikte erlassen, Strafmaßnahmen verhängen oder Reden halten, die der öffentlichen Ordnung gelten, das heißt, sich an die gesamte Bevölkerung wenden. Vgl. Baltrusch: Regimen morum. S. 5-30.

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Phasen nachzuvollziehen, in die Baltrusch die zensorische Sittenaufsicht und die Aufwandsgesetzgebung einteilt. Sie beschreiben zugleich den Prozess der Desintegration des Senatsregimes: Phase 1) Zensur und Sittengesetze seien im dritten Jahrhundert noch Institute der geschlossen auftretenden Nobilität gewesen, die mit diesen Mitteln ereignisabhängig – etwa im unmittelbaren Zusammenhang mit schwierigen Kriegslagen oder neuen Handelsmöglichkeiten – in die private Ordnung vorwiegend von Senatoren eingriff.27 Phase 2) Im 2. Jahrhundert, laut Baltrusch der Blütezeit des Sittenrechts, hat sich der Schwerpunkt von der gelegentlichen Intervention ganz auf den standespolitischen Aspekt verschoben, die sichtlich gefährdete Einheit der aristokratischen Klasse zu bewahren. Eine Vielzahl der Aufwandsgesetzgebung galt beispielsweise dem Tafelluxus, wobei die Anzahl der Teilnehmer, die Höhe des erlaubten Aufwands und die Auswahl der erlaubten Speisen reglementiert werden konnten.28 Hintergrund dieser Gesetze scheint neben wirtschaftlichen und rein moralischen Anliegen von Anfang an die Bedeutung persönlicher Beziehungen bei Wahlen und die entsprechend üblichen Gunsterweisungen in Form von üppigen, die Konkurrenz übertreffenden Gastmählern gewesen zu sein.29 Baltrusch veranschlagt für diese Phase neben der Konsensfähigkeit der Aristokratie, die sumptuarischen Gesetzesanfragen zum Teil einstimmig zustimmt,30 eine gleichzeitige Abkehr von der überlieferten Lebensweise. Da die neuen Sozialstrukturen in der expandierenden Republik das Handeln der Menschen veränderten, konnte diese Form der Gesetzgebung jedenfalls keinen durchschlagenden Erfolg haben. Für den Sieg der Gewohnheit über das Recht sei beispielshalber bemerkt, dass die Höchstsätze, die bei Gastmählern aufgewandt werden durften, in den 150 Jahren vor dem Ende der Republik um das 10- bis 20-fache anstiegen – womit wohl nicht nur den wachsenden Preisen, sondern auch den wachsenden Bedürfnissen Genüge getan wurde.31 Phase 3) Spätestens seit der Diktatur Sullas (82 v.Chr.) hatte die Krise jedenfalls auch das Zensoramt und die Luxusgesetze selbst erfasst. Die politische Funktion der Aufwandsgesetzgebung, ambitus (Wahlbestechung) einzudämmen, wurde ausdrücklich formuliert.32 Große Einzelpersönlichkeiten wie Sulla und Caesar erließen ihre Gesetze nun sogar ohne Mitwirkung des Senats und gestalteten die Aufwandsgesetzgebung zu einem – bis in die frühe 27  Vgl. ebd. S. 130f. 28  Vgl. ebd. S. 77-103. 29  Vgl. ebd. S. 80-84, 96. 30  Zum Beispiel bei der Lex Fannia (161 v.Chr.). Vgl. ebd. S. 82. 31  Vgl. ebd. S. 101. 32  Vgl. ebd. S. 119. Das betrifft neben dem Tafel- insbesondere den Spielluxus.

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Kaiserzeit hinein bestehenden – „Disziplinierungsinstitut“33 um, das Sittlichkeit erzwingen sollte oder rein wirtschaftliche bzw. bevölkerungspolitische Zwecke verfolgte. Die unüberbrückbar gewordene Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit trat in dieser Phase besonders deutlich dort zutage, wo Sittenrichter den von ihnen diagnostizierten Sittenverfall selbst auf die Spitze trieben. Etwa heißt es von Sulla, dass er sein eigenes Gesetz zum Aufwand bei Gastmählern aus dem Jahr 81 v.Chr. (Lex Cornelia) selbst gar nicht beachtet habe.34 Ferner scheiterte eine – den Luxus und seine politische Bedeutung als ambitus betreffende – Gesetzesanfrage von Pompeius und Crassus, den Konsularen des Jahres 55 v.Chr., an dem Einwand, beider eigene Aufwandsverpflichtungen seien derartig hoch, dass die Anfrage unglaubwürdig sei.35 Ähnliches gilt für das Zensoramt, das seit Sulla, aber auch schon davor, „immer häufiger zu persönlichen und parteipolitischen Zwecken mißbraucht wurde“.36 Der wichtigste Grund dieses Amtsverfalls lag wohl darin, „daß die Nobilität nicht mehr imstande war, aus sich heraus Personen zu dem Censorenamt zu befördern, deren Lebenseinstellung der der alten mores entsprach“.37 Der seiner Zeit berühmte Redner L. Licinius Crassus (140 v.Chr.-91 v.Chr.), der im Jahr 92 Zensor war, wurde immerhin noch von seinem Kollegen gerügt, weil sein Haus mit sechs Mamorsäulen für einen Zensor zu prachtvoll sei.38 Dass ausgerechnet der Financier Caesars, Marcus Licinius Crassus (114-53 v.Chr.), im Jahr 60 Zensor war, spricht dann aber Bände über den Funktions- und Glaubwürdigkeitsverlust des Amtes. In der Mitte des ersten Jahrhunderts waren die rechtlichen Mittel zur Durchsetzung des mos maiorum offensichtlich weitgehend durch die Krisensymptome, die sie bekämpfen sollten, geschwächt. Es war eine verfahrene Situation, in welcher der Fortbestand der res publica fraglich wurde. Nicht nur auf die Geltungskraft des regimen morum, auch auf die des römischen Rechts insgesamt, das Gesetzesbrüchen Einhalt gebieten könnte, war immer weniger Verlass. Dies war auch Ciceros Beobachtung und, da er seine politischrechtlichen Tätigkeiten spätestens seit dem Ausbruch des letzten Bürgerkriegs der römischen Republik (49 v.Chr.) ohnehin nicht mehr ausüben konnte, wandte sich Cicero mit philosophischen Schriften an die zukünftige 33  Ebd. S. 96. 34  Vgl. ebd. S. 95. 35  Vgl. ebd. S. 98f. 36  Bleicken: Lex publica. S. 386. 37  Ebd. 38  Vgl. Baltrusch: Regimen morum. S. 20.

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Generation.39 Nimmt man diese verfahrene Situation als Anlass für Ciceros Paradoxa Stoicorum, wenn nicht sogar seiner philosophischen Schriftstellerei generell an, ist zunächst einmal festzuhalten: In dieser Situation lag es Cicero fern, das Ideal der res publica, zu dem für ihn neben der traditionellen Vorherrschaft des Senats gegenüber der Volksversammlung eben auch die sittliche Tadellosigkeit der Senatoren gehörte,40 wie Caesar für bedeutungslos zu erklären und sich dem pragmatischen Opportunismus mehr als nötig hinzugeben.41 In den Paradoxa Stoicorum appellierte er noch einmal nachdrücklich an den mos maiorum als gemeinsame Wertebasis der herrschenden Klasse Roms und, mehr noch, er sah in ihm die metaphysische Bestimmung des Menschen veranschaulicht. 3.2.3 Globales Handlungsziel von Ciceros philosophischer Schriftstellerei Schon während des Tiefpunkts seiner politischen Karriere, unter dem Triumvirat von Caesar, Crassus und Pompeius (60-49 v.Chr.), schrieb Cicero seine großen politischen Dialoge (De oratore, De republica, De legibus) als „einen Gegenentwurf zur politischen Theorie seiner Zeit aus dem Glauben an die Vorbildlichkeit des Staates der Vorfahren und unter Rückgriff auf das philosophische Denken der Griechen“.42 Im Jahr 49 begann der letzte Bürgerkrieg der römischen Republik mit der Überschreitung des Rubikon durch Caesar, was einer Kriegserklärung an den Senat gleichkam. Sah Cicero die Sache der res publica schon zu dieser Zeit als verloren an,43 brach seine politische Welt mit dem Sieg Caesars im April 46 völlig zusammen. Zur selben Zeit, im Frühjahr 46 v.Chr., schrieb er die Paradoxa Stoicorum.44 In den Jahren 45 und 44 v.Chr. folgten dann seine großen Philosophica (Academica, De finibus 39  Die Wendung von der eigenen Politikergeneration, die nicht mehr zu retten sei, zur Jugend wird an einer Stelle in De legibus deutlich, wo Atticus meint, der Senatsstand könne „nicht nur die Censoren, sondern auch alle Richter zur völligen Erschöpfung bringen“, woraufhin Cicero antwortet: „Laß das auf sich beruhen, Atticus. Wir sprechen hier nämlich nicht über diesen Senat und auch nicht über diese Menschen, die jetzt leben, sondern über die Menschen der Zukunft, jedenfalls wenn sie diesen Gesetzen gehorchen wollen“. Cic.leg. §29. Zit. nach Cicero: De Legibus. Paradoxa Stoicorum. S. 177. 40  De legibus formuliert mit Bezug auf den Senat als Gesetz: „Dieser Stand soll ohne Fehl und Tadel und allen anderen ein Vorbild sein“ (is ordo vitio careto, ceteris specimen esto) Cic. leg. §28. Zit. nach ebd. 41  Vgl. zu Ciceros Kompromissen gegenüber Caesar sowie zu seiner traditionalistischen Haltung Bringmann: Cicero. S. 128-144, bes. S. 138f. 42  Bringmann: Cicero. S. 145. 43  Vgl. Cic.Ad Att. 9, 5, 2. 44  Vgl. Nickel, Rainer: Einführung. S.  292. In: Cicero: De Legibus. Paradoxa Stoicorum. A.a.O. S. 281-296.

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bonorum et malorum, Tusculanae disputationes, De officiis, De natura deorum und De divinatione). Mit der Vermittlung von ethischem Wissen war zu dieser Zeit, was die Stabilität der politischen Ordnung anging, nichts mehr zu retten. Gleichwohl eröffnete dieses Wissen eine metaphysische Perspektive, mit der Cicero die aktuelle Situation umdeuten konnte. Diese Umdeutung fungierte als Kritik der neuen Machtelite als einer Abweichung von der Natur – sowie als Trost des konservativen Lagers durch die Gewissheit, mit der Natur übereinzustimmen. 3.2.3.1 Vermittlung eines Wissens, das kritisiert und tröstet Interpretiert man Paradoxien ausgehend von der in ihnen selbst zum Ausdruck gebrachten Sprechsituation als Handlungstypen, heißt das auch, danach zu fragen, ob der Redner mit ihnen ein Teilziel innerhalb übergeordneter Pläne verfolgt. Wie die sophistischen Paradoxien in ihrer lokalen (Schreib-)Strategie der spielerischen Inszenierung paradoxer Apologetik sich nur in Hinblick auf die globale Handlungsstrategie des sophistischen Unterrichts verstehen lassen, dem Polisbürger in gewissem Sinne ein gelungenes Leben zu ermöglichen, so ist auch die Schreibstrategie, die in den Paradoxa Stoicorum zum Tragen kommt, eingerahmt durch eine globale Handlungsstrategie Ciceros. Wie Cicero gelegentlich einer Rekapitulation seines philosophischen Werks bemerkte, war ihm die Arbeit daran ein Ersatz für die politische und juristische Sorge um den Staat.45 Cicero hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die griechische, insbesondere die hellenistische Philosophie in der lateinischen Sprache darzustellen und in dieser Hinsicht kulturell mit Griechenland gleichzuziehen. Diese patriotische Anstrengung lässt sich jedoch genauer bestimmen, insofern er dabei, was die Ethik angeht, sehr mit der stoischen Philosophie sympathisierte. Es geht ihm dabei um nichts Geringeres als um die (stoische) Philosophie als die „Lenkerin des Lebens“ (dux vitae).46 Und diese Lenkung sollte nicht direkt durch Wertevermittlung erfolgen, sondern indirekt durch die Vermittlung des Wissens über die metaphysisch verstandene, also von der empirischen Situation unabhängige Wirklichkeit. Dieses Wissen hat zwei Funktionen (Trost und Kritik),47 wovon zunächst die Funktion der Kritik erläutert werden soll. 45  Vgl. Cic.div. §§6f. 46  So im berühmten Lob der Philosophie zu Beginn des Buchs V der Tusculanae disputationes, s. Cic.tusc. 5, §5. 47  Die zeitkritische und die konsolatorische Dimension der Paradoxa Stoicorum werden von der Forschung vielfach hervorgehoben. Vgl. Narducci: Perceptions of Exile: The philosophical interpretation of a real experience. In: The American Journal of Philology 118 (1997). S. 55-73; Kumaniecki, Kazimierz: Ciceros Paradoxa Stoicorum und die römische

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Cicero nahm den Einwand des platonischen Sokrates gegen die Sophisten auf, dass die Begründung ihrer Technik mit den wechselnden Anforderungen der Situationen unzureichend sei, weil sie sich nicht auf ein Wissen darauf gründe, was von Natur aus richtig sei. Auch nach Cicero soll das gelungene Leben nicht einfach durch geschulte Schadensabwehr, sondern durch die Einsicht oder doch durch eine geprüfte Vermutung erreicht werden, welche Lebensweise der menschlichen Natur entspreche. Die philosophische Einsicht helfe dabei, Vergehen zu verbessern (correctio).48 Die Paradoxie tritt in diesem, wie noch zu zeigen ist, vorwiegend tugendethischen Zusammenhang also nicht lediglich als erstaunliche Schulweisheit, sondern als Aussage über die Richtigkeit bestimmter Normen und damit als Ermahnung zu einer bestimmten Lebensgestaltung auf. Diese Ermahnung unterscheidet sich nur unwesentlich von der Art und Weise, in der der platonische Sokrates die Menschen zu ermahnen pflegte. In der Apologie gibt Sokrates mit einem Selbstzitat ein Beispiel für seine gewöhnliche Redeweise: Wie, bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; – für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken?49

Wie weit die Übereinstimmung zwischen Sokrates und der Stoa tatsächlich geht, braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. Zumindest die Geste des Philosophen, der im Namen der Weisheit und um der tugendhaften Seele willen die gewohnten Präferenzen der Menschen relativiert und diese daran erinnert, was das Wesentliche sei, diese Geste findet die Stoa mindestens schon bei Sokrates vorgeprägt. Durch die These von der Autarkie der Tugend, dass also andere Güter außer der Tugend für ein glückliches Leben nicht im Geringsten notwendig seien (Paradoxon II), ist der stoische Standpunkt freilich von besonderer Rigorosität. In Ciceros Parteinahme für die stoische Ethik profilierte sich antikonsensuale Rede jedenfalls zum Teil als eine Kritik der Lebensweisen, welche das naturgemäße Leben in der Vergangenheit verwirklicht sah. Sie erhielt dadurch sehr deutlich das Profil einer Praxis, die sich – mit einem Begriff von Konersmann – als restitutive Kulturkritik bezeichnen lässt.50 Wirklichkeit. Philologus 101 (1957). S. 113-134; Nickel, Rainer: Einführung. In: Cicero: De Legibus. Paradoxa Stoicorum. A.a.O. S. 281-296. 48  Vgl. nochmals den Beginn des Lobs der Philosophie, Cic.tusc. 5, §5. 49  Plat. apol. 29de. Zit. nach Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 28. 50  Vgl. Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt am Main: 2008. S. 26, 53-65.

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Restitutive Kulturkritik kritisiert die Gegenwart nicht wie die postrestitutive Kulturkritik mit Blick auf eine offene Zukunft, sondern mit Blick auf die Wiederherstellung einer ursprünglichen, verlorenen oder vergessenen Ordnung. Laut Konersmann ist dies der typische Modus der vormodernen, bis zu Rousseau reichenden Phase der Kulturkritik, was sich hier im Fall Ciceros bestätigt. Die Kritik der Lebensweisen ist jedoch nur eine von zwei Funktionen der stoischen Ethik, auf die es Cicero wohl ankam. Gerade in Hinblick auf die Aushöhlung des mos maiorum wuchs der Philosophie ein besonderer Sinn zu. Denn die philosophische Position schien gegenüber der verfahrenen empirischen Situation, in der Tugendideale und Rechtsprechung auseinanderklafften, einen entscheidenden Vorteil mitzubringen, der schon Sokrates angesichts seiner drohenden Hinrichtung, die auch ein Fall von dysfunktionaler Justiz war, geholfen hatte, ruhig zu bleiben: Da sie die empirische Situation vor dem Hintergrund einer metaphysischen Wirklichkeit zeigte, konnte sie Cicero und indirekt dessen zeitgenössische und künftige Leser dazu ermutigen, auch dann noch das Glück in der Tugend zu suchen, wenn dieses Verhalten nach äußerlichen Maßstäben betrachtet Gefahren mit sich brachte. Dass die Referenz auf eine „eigentliche“ Welt einige der empirisch vorherrschenden Sinnbezüge (Situationsdefinitionen, Rollenverteilungen etc.) relativiert, ermöglicht es, auch in gefahrvollen Situationen guten Mutes zu sein.51 Es ist wohl das besondere Potential der sokratisch geprägten Philosophie, dass die Deutung der empirischen Situation, in der ein Mensch steckt, mithilfe der Referenz auf eine „eigentliche“ Welt, eine „Natur der Dinge“ (natura) gegen die tatsächlich geltenden Deutungsmuster immunisiert. Zumindest was die stoische Ethik angeht, vermittelte Cicero also ein Wissen über die richtige Lebensweise, das nicht nur eine Sorge um die Menschen artikulierte, die anders leben, als es die Natur vorsehe, sondern auch denjenigen Trost verschaffte, die das richtige Leben führten. Wer nur der Wahrheit verpflichtet 51  Am Beginn des fünften Buchs der Tusculanae disputationes, das die stoische These von der Autarkie der Tugend behandelt, heißt es: „Schon von unserer frühesten Jugend an hat mich mein Wille und Interesse in ihren Schoß getrieben und unter den gegenwärtigen harten Schlägen und bei großem Sturm habe ich mich nun in diesen selben Hafen geflüchtet, von dem ich ausgegangen war“ (Cuius in sinum cum a primis temporibus aetatis nostra voluntas studiumque nos compulisset, his gravissimis casibus in eundem portum, ex quo eramus egressi, magna iactati tempestate confugimus, Tusc. 5,  §5). Zit. nach Cicero: Gespräche in Tusculum. Hg. v. Olof Gigon. 6. Aufl. Zürich: 1992. S. 318f. Darauf folgt das bereits zitierte Lob der Philosophie als dux vitae (ebd.). Vgl. zur These, dass Cicero speziell durch die stoische Ethik, die er in den Paradoxa Stoicorum vorstellt, Trost fand und spenden wollte, erneut Kumaniecki: Ciceros Paradoxa Stoicorum und die römische Wirklichkeit.

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ist, verkraftet es auch, ohne Erfolg zu bleiben – zumindest ist so die ideale Einstellung beschaffen, um die sich Cicero selbst bemühte (Tusc. 5, §3) und die anzustreben er auch anderen empfahl. Die Paradoxa Stoicorum sind, so die These, ein Versuch der Popularisierung einer metaphysischen Situationsdefinition, in der die Verteidiger der überlieferten, aber bedrohten Tugendideale Roms sich philosophisch der Übereinstimmung mit der moralischen Natur des Menschen vergewissern sollten, die auch dann eine Tatsache sei, wenn das Recht anders entscheidet. Der patriotische Sinn von Ciceros Vermittlung tugendethischen Wissens lag, so verstanden, darin, dass sie der moralischen Erziehung der künftigen Generation dienen sollte.52 Diese Generation muss man deshalb auch in den Kreis der potentiellen Adressaten der Paradoxa Stoicorum mit einrechnen. – Dass Cicero in den Paradoxa Stoicorum tatsächlich an der Sache der stoischen Ethik interessiert war, ist weitgehend Forschungskonsens. Die Art und Weise seiner Parteinahme muss jedoch etwas genauer erklärt werden. 3.2.3.2 Konjekturaler Modus Vieles spricht dafür, dass Cicero in den Paradoxa Stoicorum zumindest nicht durchgehend seine eigene Position verteidigt. Ciceros erkenntnistheoretische Überzeugung, von der noch genauer zu sprechen sein wird, ist es gerade, dass man sich der Wahrheit nur annähern könne, indem man das Vermutliche, das Glaubhafte, das Wahrscheinliche identifiziere.53 Es ist schon aus diesem Grund nicht verwunderlich, dass man in Ciceros sonstigen Schriften manche kritische Anmerkung und durchaus kein dogmatisches Bekenntnis zur stoischen Ethik findet. In anderen Philosophica wie etwa De finibus bonorum et malorum stellte Cicero die stoische Ethik nicht in Monologen, sondern in (ebenfalls fiktiven) Diskussionsrunden vor, so dass sie im Zusammenhang des Redens nach beiden Seiten (in utramque partem dicere, Cic. de orat. III, 80) immer wieder kritisch hinterfragt wurde. Dadurch distanzierte sich Cicero zumindest von der unkritischen Übernahme einer philosophischen Position. Und so argumentierte er für die stoische Ethik in den Paradoxa Stoicorum vermutlich deshalb nur in Gestalt von Übungsreden (genus exercitationum,  §5), deren Verfahren er

52  Zu seiner philosophischen Schriftstellerei bemerkte Cicero: „Denn welchen größeren oder besseren Dienst können wir dem Staat erweisen, als wenn wir die Jugend unterrichten und bilden, zumal bei dem sittlichen Zustand unserer Zeit, da sie derart auf die abschüssige Bahn geraten ist, daß man sie mit allen denkbaren Mitteln zügeln und zurückhalten muß?“ Cicero: De Divinatione (II, §4). Hg., übers. u. erl. v. Christoph Schäublin. Zürich: 1991. S. 137. 53  Vgl. Peetz, Siegbert: Ciceros Konzept des probabile. In: Philos. Jb. 112 (2005), 99-133.

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zudem spielerisch nannte (ludens,  §3), um damit die dogmatische Parteinahme als Formvorgabe zu markieren. Tatsächlich wäre es jedoch verfehlt, Ciceros Parteinahme für die stoische Ethik als ein bloßes Spiel zu verstehen.54 Wie schon dem Widmungsschreiben an Brutus zu entnehmen ist, behauptet Cicero, dass ihm „diese Paradoxa, wie die Stoiker sie nennen, ganz besonders sokratisch zu sein und den bei weitem größten Wahrheitsgehalt zu haben scheinen“ (§4). An dieser Behauptung sei hier das Wort „scheinen“ (videntur, ebd.) hervorgehoben, denn die Modalität von Ciceros Geltungsanspruch ist die Vermutung. Wie oben schon in anderem Zusammenhang zitiert, will er prüfen, ob die stoischen Paradoxien glaubhaft gemacht werden (probarentur, §4) könnten, was auf Ciceros epistemologischen Grundbegiff des probabile hinweist. Unter dem Vorbehalt also, dass Cicero die verteidigten Thesen zumindest für sehr wahrscheinlich, zum Teil aber auch für zumindest diskussionsbedürftig hielt (besonders Paradoxon III), ist Ciceros Behauptung durchaus ernstzunehmen. Eine solche, modal abgestufte Stellungnahme lässt sich immerhin auch im großen Dialog Ciceros über die Ethiken der hellenistischen Philosophenschulen (De finibus bonorum et malorum) beobachten, der keineswegs in der gleichwertigen Konstellation der verschiedenen Schulen verharrt. Durch den unterschiedlichen Ausgang, den die inszenierten Meinungsfindungsprozesse nehmen, wird klar, dass Cicero die epikureische Position ablehnte (Cic.fin. I-II), nach der die Lust als höchstes Gut zu gelten hatte, und die stoische sowie die peripatetische bzw. 54  Mit Blick auf die Stoakritik in Ciceros übrigem Werk urteilt Sigsbee über die Paradoxa: Sie seien „not to be taken as a serious defense of the Stoic teachings“, Sigsbee, David Lee: The Ridicule of the Stoic Paradoxes in ancient satirical Literature. Michigan: 1968, S. 4. Auch Bowman scheint die Paradoxa mit Ausnahme der ersten These, der Cicero sonst nie ernsthaft widersprochen habe, für ein rhetorisches Spiel zu halten, mit dem Cicero sich selbst und Brutus amüsieren wollte, vgl. Bowman, Phyllis Snyder: The treatment of the Stoic paradoxes by Cicero, Horace, and Persius. Michigan: 1972, bes. S. 25f., 44. Das Gegenteil ist heute Forschungskonsens: Kumaniecki meint, dass Cicero hier kein rhetorische Spiel veranstaltet, sondern in einer biografisch-politischen Krisensituation sich im Briefwerk der stoischen Ethik tatsächlich angenähert und so auch in den Paradoxa Trost in ihr gefunden habe, vgl. Kumaniecki, Kazimierz: Ciceros Paradoxa Stoicorum und die römische Wirklichkeit. Philologus 101 (1957). S. 113-134; dem schließt sich Bringmann weitestgehend an, vgl. Bringmann, Klaus: Untersuchungen zum späten Cicero. Göttingen: 1971. S. 60-71. Auch Ronnick warnt in der bisher einzigen Monographie zu den Paradoxa Stoicorum vor der Überbewertung des spielerischen Aspekts und würdigt sie als artistisch-eloquente Meisterleistung, vgl. Ronnick, Michele V.: Cicero’s „Paradoxa Stoicorum“. A Commentary, an Interpretation and a Study of Its Influence. Frankfurt/M.: 1991, bes. S. 2f., 6; in seiner Einführung in die Paradoxa in der deutschen Werkausgabe betont Rainer Nickel den „ernsthaften Kern dieses Spiels“, der in Zeitkritik und Konsolation liege, vgl. Nickel: Einführung, 2. Paradoxa Stoicorum. S. 292-296, hier 295.

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akademische Position, welche die Tugend als einziges (Stoizismus) oder doch als höchstes Gut (Akademiker, Peripatetiker) bestimmten, für wahrscheinlich hielt (Cic.fin. III-V). Cicero ging gelegentlich einer Rekapitulation seiner philosophischen Schriftstellerei sogar soweit zu sagen, dass die im fünften Buch der Tusculanae disputationes behandelte These, der Besitz der Tugend genüge zum glücklichen Leben (ad beate vivendum virtutem se ipsa esse contentam), „die Philosophie insgesamt ins hellste Licht stellt“ (totam philosophiam maxime inlustrat).55 Eben diese These verteidigte Cicero an zweiter Stelle in den Paradoxa Stoicorum, und sie stand ja, wie gesagt, zusammen mit der ebenda zuerst behandelten These, dass nur das Sittliche ein Gut sei, „[i]m Zentrum der stoischen Ethik“.56 In der stoischen Tugendlehre sah Cicero offenbar die ehrenwerteste Lehre der gesamten Philosophie. Somit bleibt festzuhalten: Um die Paradoxa Stoicorum als Bestandteil einer spezifischen, sokratisch geprägten philosophischen Praxis antikonsensualer Rede einzuordnen, muss man sich klar machen, dass diese Praxis für den Wertemaßstab, den sie anlegte, eine metaphysische, das heißt eine von der empirischen Welt unabhängige Geltung beanspruchte. Diesen metaphysischen Anspruch erhob auch Cicero, wenngleich in der modifizierten Form einer konjekturalen Metaphysik,57 die sich auf begründete Vermutungen darüber beschränkte, was sich in der Nähe der absoluten Wahrheit befinde. Die Referenz auf eine metaphysische Wirklichkeit orientierte die hier betrachtete Praxis antikonsensualer Rede jedenfalls auf grundlegende Weise. 3.3

Stoische Paradoxien als metaphysische Situationsdefinitionen

In diesem Abschnitt soll es zunächst (3.1.) um den besonderen, metaphysi­ schen Perspektivwechsel gehen, der die stoischen Paradoxien zu Paradoxien 55  Cicero: De Divinatione (II,  §2). Zit. nach. De divinatione. Hg. u. übers. v. Christoph Schäublin. S. 135. 56  Bereits zitiert: Forschner, M.: Stoa; Stoizismus. S. 181. Long/Sedley bezeichnen die These, dass die Tugend zum glücklichen Leben genüge, als „Bollwerk der stoischen Ethik“. Vgl. Long, A. A., Sedley, D. N.: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übers. v. Karlheinz Hülser. Stuttgart: 2006. S. 435. 57   Peetz unterscheidet zwischen realistischer Metaphysik (zum Beispiel Stoizismus), der zufolge die Wahrheit in ihrer Korrespondenz mit den Dingen erkennbar sei, und konjekturaler Metaphysik (Cicero), der zufolge diese Erkennbarkeit zur Möglichkeit der begründeten Vermutung abgeschwächt werde. Vgl. Peetz: Ciceros Konzept des probabile. S. 112.

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macht,58 sowie um dessen Funktionen des Trostes und der Kritik. Danach (3.2.) geht es darum, wie Cicero diesen Perspektivwechsel aufnimmt und rhetorisch gestaltet. Wie gerade dargelegt, transferiert er ihn vom philosophischen Geltungsbereich der Wahrheit auf den rhetorischen Geltungsbereich der Wahrscheinlichkeit. Dies bedeutet für seine Darstellungsstrategie, dass nicht die Wahrheit selbst, sondern der Konsens glaubhafter Männer, die angesehene Meinung zur Appellationsinstanz avanciert. Es geht ihm darum, die vermeintlich paradoxe ethische Umdeutung in Einklang mit bestehendem Meinungswissen zu bringen. Das stoische Verfahren der Umdeutung alltagssprachlicher Wertbegriffe Während in den sophistischen Paradoxien hauptsächlich mythologische Gegenstände auf spielerische Weise umgedeutet wurden, deuteten die stoischen Paradoxien auf ernsthafte Weise nicht weniger als die Beziehung der Werteordnung zur Wirklichkeit um. Damit ist gemeint, dass die stoische Ethik nicht lediglich Werte vermittelte, sondern ein Wissen über die Qualifikation gewisser Werte als naturgemäß oder nicht, als wirklichkeitsadäquat oder nicht. Für die Zwecke dieses Kapitels lässt sich dies vielleicht am besten so formulieren, dass dieses Wissen zeitgenössische Selbstverständnisse und normative Beurteilungen einer aktuellen Situation mit einer alternativen, einer metaphysischen Situationsdefinition (Natur) konfrontiert, der zufolge die Zuschreibung von Achtung oder Verachtung zu verschiedenen Rollen (der Weise, der Tor) oder Attributen (reich, ehrsüchtig etc.) auf eine bestimmte Weise geschehe, die gerade unabhängig von den tatsächlichen Zuschreibungen in der empirischen Welt sei. Genau das bringt die grundlegende These der stoischen Paradoxien zum Ausdruck, dass der Weise bzw. Tugendhafte all jene Attribute besitze, die alltagssprachlich als Güter bezeichnet werden (Reichtum etc.). Erst in zweiter Linie, nämlich mit Blick auf die historisch-empirische Situation des Hier-und-Jetzt hat dieses Faktum die Funktion eines Wertes 3.3.1

58  Vgl. Früh, Ramona: Verunsicherung im philosophischen Brief. Senecas Epistulae Morales. In: Früh, Ramona et. al. (Hg.): Irritationen. Rhetorische und poetische Verfahren der Verunsicherung. Berlin: 2015. 87-108. Auch dort rückt aus rhetorischer Perspektive die Widerständigkeit des Paradoxen in den Fokus, insofern Seneca bei der Kommunikation stoischer Paradoxien seinem Dialogpartner Lucilius – als einem Anhänger der Doxa – Verständnisschwierigkeiten zuschreibt. Am Beispiel des Armutsparadoxons hebt auch Früh dabei auf das Verfahren der Umdeutung ab, das die Paradoxalität hervorbringt: „Es erfolgt eine Neudefinition von Armut, die sich nicht mehr am Fehlen materieller Güter bemisst, sondern auf Grundlage der individuellen Einstellung zum Besitz erfolgt und somit die Armut als subjektive Kategorie erweist“. S. 97.

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(Sei tugendhaft!). Wie jeder andere Wert auch gilt er kontrafaktisch, insofern man auch dann danach streben soll, mit der „Natur“ übereinzustimmen, wenn viele Zeitgenossen faktisch von ihr abweichen. Der metaphysische Geltungsanspruch, der hinter dieser Norm steht, besagt jedoch dabei gerade, dass ihre Anwendung auch dann noch in einem gewissen Sinne tatsächlich anerkannt werde – nämlich durch die Zusicherung aller bekannten Attribute des glücklichen Lebens  –, wenn ihr diese Anerkennung in der empirischen Situation versagt bleibt. Um die metaphysische Klassifikation von Werten in der stoischen Ethik, etwa in der These „Nur die Tugend ist ein Gut“, zu verstehen, muss man fragen: Was ist mit den übrigen Dingen, die damals ebenfalls als Güter bezeichnet worden sind, wie zum Beispiel das Leben selbst oder Gesundheit, Reichtum, Lust, Schönheit, Kraft, Ansehen oder adlige Abstammung?59 Die Stoa nannte diese Dinge Adiaphora (lat. indifferentia), also gleichgültige Dinge, Mitteldinge.60 Sie gestand den anderen hellenistischen Philosophenschulen wie dem Epikureismus und dem Peripatos zwar zu, dass es sich dabei um Vorzüge, um naturgemäße Werte und bei den entsprechenden Gegenbegriffen um naturwidrige Werte handele. Sie bestritt jedoch, dass es dem Menschen auf diese Dinge irgend ankommen sollte, da sie nicht oder nicht völlig in unserer Macht stünden und folglich moralisch indifferent seien. Insofern gebe es wohl so etwas wie „indifferente Vorzüge“, aber darüber stehe die Tugend nicht lediglich als höchstes Gut, wie etwa Aristoteles in scharfer Kritik der stoischen Ethik meinte (Aristot.eth.Nic. 1153b), sondern tatsächlich als einziges Gut.61 So gelte auch umgekehrt – im Sinne eines „indifferenten Nachteils“ – der Verlust von Leben, Gesundheit, Reichtum etc. nicht als ein Übel. In der Rigorosität dieser ethischen Beurteilung, nicht in sprachlicher Übertreibung liegt die moralphilosophische Umdefinition alltagssprachlicher Wertbegriffe begründet, welche die stoischen Paradoxien zu Paradoxien machten. Im Verfahren der Umdefinition alltagssprachlicher Wertbegriffe sehen Long/ Sedley zudem gerade die Besonderheit der stoischen Ethik: „Das auffälligste 59  Diese Aufzählung referiert Diogenes Laërtius 7, 102. 60  Vgl. Aland,  K.: Adiaphora. Sp.  83f. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Bd. 1. Basel: 1971. Sp. 83-85. 61  Aus der Annahme „indifferenter Vorzüge“ wurde der Stoa der Vorwurf gemacht, zwei (inkonsistente) höchste Ziele aufgestellt zu haben. Zu dieser – viel über die stoische Ethik vermittelnden – Kritik an der Inkonsistenz zwischen der These der Autarkie der Tugend einerseits und der Hierarchie der nicht-moralischen ‚Güter‘ andererseits vgl. Quellen und Kommentar bei Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen S. 479-489.

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Charakteristikum der stoischen Ethik ist, daß sie die normalen griechischen Ausdrücke für ‚gut‘ und ‚schlecht‘ auf das beschränkt, was wir den moralischen Sinn dieser Wörter nennen würden“.62 Das griechische to agathón konnte wie das lateinische bonum sowohl „das Gute“ als auch „das Gut“ bedeuten. Daher lässt sich die Paradoxalität einer These wie „Nur die Tugend ist ein Gut“ auch im Deutschen leicht verstehen: Man muss nur den nicht-moralischen Sinn des Wortes „Gut“ mithören und etwa an das „Hab und Gut“ denken. Merkwürdigerweise ist das „Hab und Gut“ in der stoischen Perspektive keines mehr, während die Tugend als das einzige Gut die Konnotation des materiellen, allerdings unverlierbaren Besitzes erhält. Diese Form der Umdeutung betrifft nicht nur das Wort „gut“. Im Hinblick auf die Tugend neu interpretiert werden zum Beispiel auch Schönheit/Hässlichkeit, Reichtum/Armut (vgl. Paradoxon VI), Freiheit/Sklaverei (vgl. Paradoxon V), Gesundheit/Wahnsinn, Bürger/Verbannter (vgl. Paradoxon IV), Glück/Unglück etc.63 Die Liste der stoischen Paradoxien ist prinzipiell unendlich lang: Ihr Prinzip der moralischen Umdeutung lässt sich auf alle möglichen vermeintlichen Werte und Unwerte anwenden.64 Sie schließen an die Alltagsprache an, tun das aber durch die moralische Auslegung restriktiv oder negativ. Sie rufen das normale Verständnis auf und enttäuschen es zugleich 62  Long/Sedley S. 446. Long/Sedley stellen den Zusammenhang selbst her: „Die Konzeption von Gut und Schlecht als moralischer Nutzen bzw. moralischer Schaden gab Anlaß zu einigen der bekanntesten stoischen Paradoxien: Den guten Mann kann kein Schaden treffen, weil ihm durch Laster kein Unrecht widerfahren kann und nichts außer einem Laster im strengen Sinne schädlich ist“. S.  449. Vgl. ferner S.  426, 459 und Text und Kommentar zur stoischen Unterscheidung gut/schlecht, S. 439-449. – Auch Bowman hebt diese gerade für die Paradoxalität der stoischen Ethik wichtige semantische Besonderheit hervor, vgl. ders.: The treatment of the Stoic paradoxes. A.a.O. S. 13. 63  Vgl. zu liber und servus Bowman: The treatment of Stoic paradoxes S.  38-40; zu Verbannung, Bürger, Bürgerschaft und Staatsfeind Bringmann: Untersuchungen zum späten Cicero. S. 68f. 64  Neben den sechs bzw. sieben Thesen aus den Paradoxa Stoicorum bezeichnet Cicero in De fin IV, §74 noch folgende ausdrücklich als Paradoxien: Nur der Weise ist König; Nur der Weise ist Befehlshaber; Nur der Weise ist schön. Vgl. ohne ausdrückliches ParadoxieEtikett die Apotheose des Weisen durch Cato in De fin III, §75f., in dessen Attribut-Liste noch die folgenden hinzukommen: Nur der Weise ist Lehrmeister des Volkes; Nur der Weise ist unbesiegbar. Weitere, allerdings zum Spott aufgezählte Attribute des Weisen (mitleidlos, unnachsichtig, unerbittlich, unfehlbar etc.) referiert Cicero, auf Zenon verweisend, in Pro Murena 61. Dass die Liste wahrscheinlich offen war, zeigt Seneca, wo er expressis verbis die Paradoxie hinzufügt, dass nur der Weise es verstehe, Dank abzustatten. Vgl. Epist. 81, 10f. – Attribute des stoischen Weisen sind begreiflicherweise häufig regelrecht aufgelistet worden, um Anmaßung und Lächerlichkeit der stoischen Ethik (bzw. Eiferer) vorzuführen. Für die Satire zeigt u.a. das Sigsbee: The Ridicule of the Stoic Paradoxes in ancient satirical Literature. A.a.O.

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durch die veränderte Bedeutung der Wörter. Da die Thesen selbst schon der umgangssprachlichen Bedeutung der darin verwendeten Attribute widersprechen, ist ihre Paradoxalität – anders als in der Behauptung „Helena ist unschuldig“ – schon linguistisch verankert und somit auch weitgehend unabhängig von speziellem Kontextwissen wahrnehmbar. Einige Beispiele mögen das Gesagte illustrieren. Dabei achte man besonders darauf, dass die moralphilosophische Umdefinition alltagssprachlicher Wertbegriffe ebenso sehr als gesellschaftskritische Infragestellung vermeintlicher Güter wie auch als tröstliche Relativierung vermeintlicher Übel fungieren kann. Von dem Stoiker Poseidonios, der mit Rheumaschüben im Bett liegend für Pompeius über die Autarkie der Tugend (also: „Die Tugend genügt für ein glückliches Leben“) referierte, ist der Ausruf überliefert: „Du richtest nichts aus Schmerz. Denn magst du auch lästig (molestus) sein, so werde ich nie zugeben, daß Du ein Übel (malum) seist“.65 Cicero selbst, der bei Poseidonios Vorlesungen gehört hatte, bediente sich einer ähnlichen Geste der strikt moralischen Bewertung einige Jahre vor der Niederschrift der Paradoxa Stoicorum zum Beispiel in der Dankesrede (De domo sua), die er anlässlich der Beendigung seiner Verbannung in Rom hielt: Da er die Tat, für die er bestraft worden war, als eine Ehrentat an der res publica ansah, sah er gewissermaßen nach dem Credo „Nur der sittlich Gute ist ein Staatsbürger“ nicht sich selbst in der Verbannung, sondern den Staat, der erst jetzt durch die Rückberufung Ciceros wiederhergestellt worden sei.66 Dieselbe Argumentation taucht dann Jahre später in dem Text zum Paradoxon IV wieder auf (PS  §27f.), der im Grunde eine Invektive von Ciceros Alter Ego gegen jenen (zur Zeit der Niederschrift der PS bereits gestorbenen) Clodius in Szene setzt, der die Ächtung Ciceros durchgesetzt hatte67: Ihm, Cicero, habe Clodius gar kein Leid antun können, während umgekehrt Clodius, obwohl er nie ins Exil musste, allein wegen seiner räuberischen Taten schon kein Bürger mehr gewesen sei. Man sieht hieran erneut gut, was Cicero vermutlich als das ‚besonders Sokratische‘ der stoischen Paradoxien betrachtete: Denn im Beharren auf ihnen drehte Cicero den Sinn der geläufigen Situationsbeschreibung und damit virtuell das für ihn und seine Gesinnungsgenossen ungünstige Machtverhältnis zwischen dem Staat und sich selbst auf die gleiche Weise auf den Kopf, wie es Platon 65  Cicero, Tusc. II, §61. Übersetzung und Original nach Cicero: Gespräche in Tusculum. Hg. u. übers. v. Olof Gigon. 6. Aufl. Zürich: 1992. S. 165. 66  Vgl. Bringmann: Cicero. S. 124f. 67  Narducci weist auf mehrere solcher Übereinstimmungen zwischen den Invektiven gegen Clodius in den Paradoxa (II und IV) und Ciceros Rede De domo sua aus dem Jahr 57 v.Chr. nach seiner Rückkehr aus dem Exil hin. Narducci, Emanuele: Perceptions of Exile in Cicero. S. 55-73, bes. S. 66f.

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zufolge Sokrates in seiner Apologie getan hatte. Im gleichnamigen Dialog hatte ja auch Sokrates durch die moralische Bewertung der Situation, in der ihm Vertreibung oder Tod drohten, seine Seelenruhe mit Blick auf sich selbst kundgetan, aber große Sorge um seine Mitbürger geäußert.68 3.3.2 Ciceros Strategie der Plausibilisierung in den Paradoxa Stoicorum Es gilt nun zu untersuchen, wie Cicero die stoischen Paradoxien rhetorisch aufbereitete. Dabei wird es zwar immer wieder um die Doppelfunktion des metaphysischen Tugendwissens gehen, sowohl dem Sprecher Trost zu spenden als auch Kritik an der Gesellschaft zu üben. Zentral ist an dieser Stelle jedoch weniger die Fortschreibung und Anwendung der stoischen Ethik durch Cicero, als vielmehr sein darstellungsstragisches Kalkül, die Paradoxien auf einen Konsens des Publikums zurückzuführen. Sein Verfahren ist es ausdrücklich, die Paradoxien in kollektive Sprachmuster der römischen Lebenswelt (loci communes, §3) zu übersetzen und ihnen dadurch ihre Paradoxalität zu nehmen.69 Im historisch-typologischen Vergleich mit jüngeren Praktiken antikonsen­ sualer Rede ist an diesem Verfahren Folgendes hervorzuheben: Cicero verteidigte nicht die Paradoxalität selbst, wie dies spätestens in der Neuzeit, verkürzt gesagt, durch die Annahme einer interpretationsbedürftigen, weil sich verhüllenden Wahrheit (16. Jahrhundert) oder durch die Annahme einer Historizität und Progressivität des Wissens (18. Jahrhundert) möglich wurde. Seine Annahme war vielmehr, wie noch genauer zu erläutern ist (4.), dass sich die Wahrheit durch eine nicht wesentlich getrübte Evidenz auszeichne und dass auch das römische Publikum seine eigenen Evidenzerfahrungen letztlich nicht hinterfragen müsse, um die stoische Ethik für glaubhaft zu befinden. Bei aller Kritik, die Cicero in den Paradoxa Stoicorum an den Präferenzen seiner Landsleute übt, so übt er sie doch – im Rahmen der Fiktion – sozusagen im 68  Vgl. Kapitel II, 5.2. Siehe erneut Sokrates’ Behauptung, „daß es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode“ (Plat.apol. 41c. Zit. nach Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 42.). 69  Konsensorientierung ist als Ciceros generelle Darstellungsstrategie bekannt, die mit dessen probabilistischer Erkenntnistheorie zusammenhängt. Vgl. für die hier bevorzugte, weil auch das aristotelische Endoxie-Gebot berücksichtigende Rekonstruktion insbesondere von Moos, Peter: Studien zum endoxon im Mittelalter II. S. 152-157. In: Schirren, Thomas/Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik: ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen: 2000. S.  143-163. Ferner Müller, Jan Dietrich: Decorum. Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance. Berlin: 2011. S. 96-99; sowie Oehler: Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik. S. 109-111. – Selten wurde danach gefragt, wie diese Konsensorientierung in den Paradoxa Stoicorum konkret aussieht.

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Beisein einer, wie er meint, in ethischen Fragen hinreichend vertrauenswürdigen dritten Instanz, eines in der römischen Lebenswelt verankerten Publikums, das im Rahmen dieser Lebenswelt mit einem natürlichen Sinn für das Glaubhafte ausgestattet ist. Vor dieses im Text angesprochene Publikum tritt er gewissermaßen mit der Geste: ‚Führt euch nur die römischen Vorbilder vor Augen, die ihr kennt und denen wir als Römer doch verpflichtet sind, dann werdet ihr hoffentlich sofort einsehen, dass diese Vorbilder gemäß jener natürlichen Werteordnung handelten, die von der griechischen Philosophenschule der Stoa behauptet wird; und dass der natürliche Sinn der alten Römer die heute fatalerweise zur Konvention gewordene Werteordnung ebenso kritisieren würde, wie ich das hier mit den ungewöhnlichen Worten der Stoa tue; kurz: dass die stoischen Paradoxien nicht so verwunderlich sind, wie sie in euren Ohren zunächst klingen.‘ a) Paradoxon I (§§6-15) Im ersten Paradoxon („Nur das Sittliche ist ein Gut“ [Quod honestum sit id solum bonum esse]) spricht Cicero gegenüber einer namenlosen Menge von Zuhörern zunächst darüber, in welchem Verhältnis er den Besitz, den Einfluss und das Wohlleben gewisser Leute (iste, eas) zu den guten oder erstrebenswerten Dingen (res bonae aut expetendae,  §6) sieht. Er selbst habe weder deren Geld, noch ihre herrlichen Villen, noch ihre politische Macht und Befehlsgewalt, ihre einflussreichen Stellungen oder ihre Vergnügungen, denen sie am meisten ausgeliefert seien, je zu den guten oder erstrebenswerten Dingen gezählt (neque pecunias istorum neque tecta magnifica neque opes neque imperia neque eas, quibus maxime astricti sunt, voluptates in bonis rebus aut expetendis esse duxi, §6). Denn, so lautet die formelle Begründung, diese Leute seien von unersättlicher Begierde (cupiditas) geplagt; beunruhigt nicht nur vom Streben nach mehr, sondern auch von der Angst vor dem Verlust ihrer „Güter“. Um die paradoxe Deutung des Sittlichen als des einzigen Guts auch populär plausibel zu machen, weist Cicero sein Publikum nun schon auf die gemeinsamen Vorfahren hin, die zwar nicht dieselbe Redeweise gepflegt, wohl aber die dahinter stehende Beurteilung geteilt hätten: In dieser Hinsicht vermisse ich oft die Klugheit unserer Vorfahren, die zwar ein Höchstmaß an Genügsamkeit und Selbstbeherrschung bewiesen, aber der Meinung waren, daß diese vergänglichen und veränderlichen Dinge mit dem Wort „Güter“ zu bezeichnen seien, während sie sie in Wirklichkeit ganz anders beurteilten.

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In quo equidem continentissimorum hominum maiorum nostrorum saepe requiro prudentiam, qui haec imbecilla et commutabilia verbo bona putaverunt appellanda, cum re ac factis longe aliter iudicavissent. (§7)

Interessanterweise appelliert Cicero also an eine gemeinsame, tradierte Wertebasis, die sich von jener, die seiner Ansicht nach vorherrscht, unterscheidet. Seine Achtung vor dem, was beim Publikum in Geltung steht, betrifft zwar in jedem Fall nicht alle beliebigen Meinungen. Doch erst unter den gegebenen Umständen, da er sich die Klugheit der Vorfahren zurückwünscht (requiro), schrumpft die Größe des Publikums, das er zu erreichen hofft, zusammen. Erst in der akuten Krise vergrößert sich die Differenz zwischen den tatsächlich herrschenden und den angesehenen Meinungen so sehr, dass Cicero den Dissens mit der Meinung der Masse (vulgi opinio) in Kauf nimmt, um der richtigen Denkart (vera ratio) treu zu bleiben (§8). Man verstünde seine rhetorische Strategie daher wohl falsch, wenn man sie einfach als polemische Disqualifikation herrschender Ansichten begriffe; schon die Argumentation mithilfe anerkannter Autoritäten zeugt von dem Vertrauen darauf, dass die vera ratio (hier die Tugendethik) zumindest unter normalen Umständen von sich aus hinreichend überzeugend sei, wie sie ja auch viele griechische Philosophen, Cicero selbst sowie die alten Römer überzeugt habe. Nicht direkt die Wahrheit selbst gegen die Irrenden zu verteidigen, sondern die Tradition der Gleichgesinnten sozusagen als Zeugen heraufzubeschwören, diese Geste der Paradoxa Stoicorum ist charakteristisch für das Argumentieren des Rhetorikers Cicero aus einer angesehenen, geteilten Meinung heraus.70 Es ist seine rhetorische Redeweise, nicht nur logisch zu argumentieren, sondern die Evidenz der Sache in einem schon bestehenden Konsens aller oder zumindest einer besonders glaubhaften Gruppe aufzuzeigen. Wo er demonstrativ seine Auffassung über die enge Bedeutung des Wortes „Gut“ wiederholt und kundgibt, er werde „niemals behaupten, jemand habe Güter verloren, wenn ihm ein Stück Vieh oder Möbel abhanden kamen“ (§8), da zitiert er im Anschluss einen der Sieben Weisen, der bei einer Belagerung gelassen geblieben sei und gesagt habe, er trage alles Seinige bei sich (§8f.). Dieser Ausspruch dient Cicero als suggestiver Beleg dafür, dass man sich darüber, was des Lobes wert sei, nämlich gut zu sein und gut zu handeln, unter den Philosophen schon immer einig gewesen sei. 70  Wie Peetz zeigt, muss dabei nicht immer die römische Tradition heraufbeschworen werden; es genügt der Nachweis der Kohärenz verschiedener Sprecher, und damit können auch andere Philosophen gemeint sein. Vgl. Peetz: Ciceros Konzept des probabile. Bes. S. 110f., 118ff.

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Doch müsse man nicht bis nach Griechenland gehen, um moralisch gute, vorbildliche Verhaltensweisen zu finden, da es mehr als genug heimische Vorbilder gebe (domestica exempla, §12). Die Vergegenwärtigung anerkannter, vorbildlicher Männer auch jenseits des Kreises der Philosophen stellt Cicero noch im Paradoxon I ausdrücklich als seine Darstellungsstrategie heraus: Aber diese Gedanken können einem ziemlich anstößig vorkommen, wenn man sie mit zu dürren Worten erörtert: Sie müssen durch das Leben und die Taten der bedeutendsten Männer veranschaulicht werden; beschränkt man sich auf das bloße Wort, so erwecken sie den Anschein übertriebener Spitzfindigkeit. Sed haec videri possunt odiosiora, cum lentius disputantur: vita atque factis illustranda sunt summorum virorum haec, quae verbis subtilius, quam satis est, disputari videntur. (§10)

Von den Königen bis zu den Feldherren der Punischen Kriege (§11-12) solle sich das Publikum jeden einzelnen derer vor Augen stellen (Ponite ante oculos unum quemque […]), die den römischen Staat jemals gerettet oder verbessert haben. Ob diese Leute, fragt Cicero hier jedes Mal in leicht variierter Weise, ihren Nachruhm durch die Befriedigung ihrer Habgier (avaritia) und ihrer Lust (voluptas) oder durch die „Pflicht eines tapferen und großen Mannes“ (officio fortis et magni viri) verdient hätten? Natürlich sind dies rhetorische Fragen, denn Cicero unterstellt, dass bei der Beurteilung der bedeutendsten Männer Roms Konsens bestanden habe. Cicero setzt seine Strategie, die Paradoxalität der stoischen Ethik zu beseitigen, durch die Erinnerung und Vergegenwärtigung eines vergessenen oder verdrängten Konsenses um, der mit dieser Ethik übereinstimme. Insofern dieser Konsens die Seite der vera ratio repräsentiert, ist es ein Konsens der Guten, dem nicht nur griechische Philosophen und Cicero selbst, sondern auch die exempla domestica aus der glorreichen Vergangenheit der Römischen Republik zustimmen. Diesem Konsens stellt Cicero eine Auffassung entgegen, der zufolge die Tugend nicht zu den guten oder erstrebenswerten Dingen gehöre, eine Auffassung, die er aus der Lebensweise fast aller seiner Zeitgenossen, allen voran der herrschenden Klasse, schließen zu können meint. Diese Auffassung betrachtet Cicero ungeachtet dessen, dass sie weit verbreitet sei, als falsch (vulgi opinio). Sie ist, wenn man so will, der Konsens der Schlechten. Mit dieser Unterscheidung zwischen einem guten und einem schlechten Konsens lässt sich verstehen, inwiefern Ciceros Parteinahme für die stoische Ethik auch ihrem Selbstverständnis nach eine konsensorientierte antikonsensuale Rede ist, nämlich eine Rede gegen die verdorbenen Sitten (den schlechten Konsens), die nicht etwas Neues mitzuteilen meint, sondern vielmehr das Alte, schon Erkannte (den guten Konsens) retten oder wiederherstellen will.

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Wer sich der stoischen Ethik bzw. der vera ratio anschließt, der hat, solange sich nichts Glaubhafteres findet, Gewissheit über die Natur der Dinge erlangt, insoweit sie das Handeln der Menschen betreffen. Aus der Nähe dieses Standpunkts zur Wahrheit folgt für Cicero seine Überzeugungskraft und sofortige Einsichtigkeit. Und es folgt auch, dass derjenige, der ihn einnimmt, souverän gegenüber dem Spott der Leute sei, gleichgültig ob er sich deren Verachtung aufgrund eines Mangels an Besitztümern und Machtpositionen oder aufgrund seiner Parteinahme für eine rigorose Ethik zuziehe. Da sollen ruhig die Leute kommen, die über diese Rede und diese Auffassung spotten, und gleich auch selbst darüber urteilen, ob sie es vorziehen, einem von denen ähnlich zu sein, die marmorne, in Elfenbein und Gold strahlende Häuser, die Standbilder, die Gemälde, die ziseliertes Gold und Silber und korinthische Vasen im Überfluß besitzen, oder dem Gaius Fabricius, der nichts davon besaß, nichts davon besitzen wollte. Veniant igitur isti irrisores huius orationis ac sententiae, et iam vel ipsi iudicent, utrum se eorum alicuius, qui marmoreis tectis ebore et auro fulgentibus qui signis qui tabulis qui caelato auro et argento qui Corinthiis operibus abundant, an C. Fabricii, qui nihil eorum habuit, nihil habere voluit, similes esse malint. (§13)

Die hier demonstrierte gelassene Haltung des Sprechers ist Ausdruck des Trostes, den das Wissen darüber spendet, was natürlicherweise zu erstreben und was zu vermeiden sei. Von diesem Wissen meinte Cicero offenbar, dass es, in die Vorstellungswelt seiner Landsmänner gebracht, für sich selbst sprechen könne. Denn die Alternative zwischen dem alten Vorbild Fabricius71 und den zeitgenössischen Luxustreibenden sollte dem römischen Publikum ja nicht ernsthaft die Wahl zwischen zwei Lebensweisen eröffnen, sondern vielmehr Wissen über das naturgemäße und das naturwidrige Handeln in eine auch für dieses Publikum anschauliche, glaubhafte Form bringen. Wie viel Anklang die stoische Ethik, derart altrömisch ausgelegt, am Vorabend des kaiserzeitlichen Roms tatsächlich fand, sei hier dahingestellt. Dass die stoische Philosophie überhaupt in der politischen Elite des antiken Roms (man denke neben Cicero nur an Cato den Jüngeren, Seneca oder Marc Aurel) zu beträchtlichem Ansehen gelangte, könnte einen Grund darin haben, dass die metaphysische Gewissheit der Tugendethik nicht dadurch zu erschüttern war, dass sich ‚die Gesellschaft‘ nicht daran hielt und der Zufluss von Geld und Luxus nach Stadtrom immer größere Dimensionen annahm. 71  Gaius Fabricius Luscinus war 282 und 278 Konsul, 275 Zensor; von der Annalistik vielfach ausgezeichnet und ein Lieblingsheld Ciceros.

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b) Paradoxa II und IV 72 In den Paradoxa II und IV wendet sich Cicero mithilfe von Invektiven gegen einen politischen Gegner, nämlich seinen, damals schon ermordeten, einstigen Erzfeind Publius Clodius Pulcher (um 92-52). Dieser hatte dafür gesorgt, dass Cicero wegen seines rechtlich problematischen Vorgehens gegen Catilina verbannt wurde.73 Die erste Rede darüber, dass dem Tugendhaften nichts zum glücklichen Leben fehle (Paradoxon II, §16-19), beginnt mit der Veranschaulichung dieser These durch zwei römische exempla, nämlich Marcus Atilius Regulus und Gaius Marius (§16). Regulus, Feldherr im Ersten Punischen Krieg, soll – das musste Cicero seinem Publikum offenbar nicht erklären – nach seiner Niederlage einen Gefangenenaustausch abgelehnt und damit seine eigene Folter in Kauf genommen haben. Cicero meint nun, dass die damit bewiesenen Tugenden jenes Feldherrn weder gefoltert noch gefangenen genommen werden konnten (ebd.; vgl. Cic.fin II, 65, wo Regulus als Beispiel dafür gilt, dass der gute Mann auch noch unter der Folter glücklicher sei als der Folterknecht). Und genauso sei Marius, der in vielen Kriegen siegreiche Feldherr, zu Zeiten seiner Siege einer der glücklichen Menschen (unus ex fortunatis hominibus, §16) und noch auf seiner lebensgefährlichen Flucht vor Sulla einer der größten Männer (unus ex summis viris, ebd.) gewesen. Ebenso deutet Cicero, der sich nun selbst als Vorbild nennt, das Leid um, das ihn durch das von Clodius erwirkte Verbannungsurteil traf. Da er Clodius, der in senatstreuen Kreisen in der Tat durch unlautere Mittel wie Straßenkämpfe negativ auffiel, zweifelhafte Absichten unterstellte, sah sich Cicero als rechtschaffener Mann auf der richtigen, naturgemäßen Seite, wo ihm kein Übel widerfahren könne:

72  Die dritte Rede – über die These der Gleichheit aller guten Taten resp. Vergehen – nimmt eine Ausnahmestellung ein. Wegen ihres Mangels an konkreten Beispielen und wegen ausführlicher Konzessionen an das römische Strafrecht (§25) gibt sie im Unterschied zu den übrigen Reden Anlass zu einer Interpretation als überwiegend epideiktische Rede. Vgl. erneut Kumaniecki: Ciceros Paradoxa Stoicorum und die römische Wirklichkeit. S. 126f. 73  Nach Englert bildet der aus seiner Sicht nicht überzeugend vermittelte Gegensatz zwischen den politischen Invektiven und dem philosophischen Beweisziel Grund zur Annahme, dass die Monolog-Form der Paradoxa im Unterschied zur Dialog-Form späterer philosophischer Werke als ein (für Cicero) subjektiv gescheiterter Versuch exoterischrhetorischer Darstellung von Philosophie anzusehen sei. Vgl. Englert, Walter: Bringing Philosophy to the Light: Ciceros’ Paradoxa Stoicorum. In: Apeiron. Band 23, Heft 4, 1990. S. 117–142. Cicero selbst betonte den Werkstattcharakter seiner Schrift (§5).

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Diesem Menschen, falls dir ein solcher über den Weg läuft, [dessen Glück von äußeren Umständen abhängt, CW] sollst du Angst einjagen, indem du ihn mit Tod und Verbannung bedrohst; mit mir aber könnte alles, was in einer so undankbaren Bürgerschaft passierte, geschehen: Ich würde nicht nur auf Widerstand verzichten, sondern nicht einmal Einspruch erheben. Eum tu hominem terreto, si quem eris nactus, istis mortis aut exilii minis; mihi vero, quidquid acciderit in tam ingrata civitate, ne recusanti quidem evenerit, non modo non repugnanti. (§17)

Wie Clodius’ Schandtaten ihn in Unruhe versetzen und ihm Angst vor Strafprozessen machen (§18), so könne Cicero selbst in seiner Unbescholtenheit kein Unglück treffen, denn „die Verbannung ist für jene furchtbar, die nur einen gleichsam abgezirkelten Raum zum Leben haben, nicht aber für alle anderen, die den gesamten Erdkreis für eine Stadt halten“ (§18). Das ist die stoische Ansicht, der ganze Kosmos bzw. die Tugend sei die Polis des weisen Mannes.74 Hier soll die moralische Umdeutung des üblichen Wortes für Stadt (urbs) ausdrücken, dass der Gerechte (hier Cicero selbst) durch „das Unrecht meiner Feinde“ (§18) nicht wirklich getroffen, nicht unglücklich gemacht werden kann. Wie schon im ersten Paradoxon kommt Cicero bei seiner Unterscheidung zwischen dem guten Handeln, das als das naturgemäße, dem Menschen entsprechende Handeln ausgezeichnet sei, und dem moralisch bösen Handeln, das sich selbst desavouiere, dem Publikum durch anerkannte Beispiele aus der römischen Lebenswelt entgegen; zumindest dem Teil des Publikums, das mit Ciceros politischer Ausrichtung (für die traditionelle Senatsherrschaft) sympathisierte. Das vierte Paradoxon (§§27-32) behandelt unter irreführendem Titel („Jeder Dummkopf ist wahnsinnig“ [Omnem stultum insanire]) die These, dass nur der Weise ein Bürger sei. Erneut ist es die frühere Auseinandersetzung mit seinem Gegner Clodius, an der Cicero die Evidenz der metaphysischen Situationsdefinition der stoischen Ethik vor Augen führen will.75 Es wurde oben schon kurz angedeutet, wie Cicero seine Verbannung beurteilte, für die Clodius in 74  Vgl. Bringmann: Untersuchungen zum späten Cicero. A.a.O. S. 68f.; Kumaniecki: Ciceros Paradoxa Stoicorum. S. 128-130. 75  Für eine ausführlichere Untersuchung der rhetorischen Mittel, die Cicero in der vierten Rede zur Popularisierung der stoischen Ethik verwendet, vgl. Price Wallach, Barbara: Rhetoric and Paradox: Cicero, ‚Paradoxa IV‘. In: Hermes 118 (1990). S. 171-183. Neben der Ausschmückung dialektischer Schlussverfahren und der Emotionalität der Rede hebt auch Price Wallach die wichtige Rolle von Begriffs-Definitionen (Bürgerschaft, Exil etc.) für die Paradoxie hervor.

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der Folge von Ciceros Niederschlagung der Verschwörung des Catilina sorgte: Cicero betrachtete Clodius’ Anhänger als eine Räuberbande (praedonum concursus, §27), sein eigenes Vorgehen gegen Catilina hingegen als eine ewig wirkende Wohltat (beneficium aeternum, §29). Da die neue Machtelite, zu der Clodius gehörte, gegen Verteidiger der republikanischen Ordnung, die wie Cicero für die traditionelle Vorherrschaft des Senats votierten, laut Cicero mit unlauteren Mitteln vorging, erscheint es ihm sozusagen sachgemäß, die Begriffe „Staat“ und „Bürgerschaft“ (republica, civitas, vgl. §§27f.) sowie „Bürger“ und „Verbannte“ (cives, exules; vgl. §§29-31) moralisch auszulegen: Demnach seien Clodius’ Anhänger, die gegen die Gesetze gehandelt hätten, nicht Teile der Bürgerschaft, sondern die eigentlichen Verbannten gewesen, wohingegen der rechtschaffene Cicero nur scheinbar verbannt worden, sondern selbst im Exil, das hier eine „Reise“ (iter) aufgrund hervorragender Leistungen heißt (§30), ein Bürger geblieben sei. Auch hier steht also der Kritik, die sich gegen „das unerhörte Unrecht“ (iniuria nefaria, §28) des Clodius richtet, ein erbaulicher, ja beruhigender Zweck der Paradoxa Stoicorum für Cicero gegenüber. Wie das Laster des Clodius schon dessen Strafe ist, so gibt es anscheinend auch keinen besseren Rechtsschutz für Cicero als dessen Tugendhaftigkeit. Wie oben schon bemerkt, hatte Cicero seine Exilsituation auf dieselbe paradoxe Weise bereits in jener Dankesrede umgedeutet, die er nach seiner Rückberufung durch Caesar hielt. Schon damals sah er die paradoxe These, dass nur der Weise ein Bürger sei, offenbar als etwas an, was sich in seinem Fall zumindest als evident erwies und somit auch problemlos öffentlich vorgetragen werden konnte. Für die Typologie von Praktiken antikonsensualer Rede ist genau das wichtig, dass sich Cicero als Redner in der Verantwortung sah, seine Ansicht so zu präsentieren, dass dem Publikum nichts mehr zu tun blieb, als zuzustimmen. Noch einmal mit anderen Worten: Der stoische Weisheitsbegriff war in der römischen Lebenswelt nicht unmittelbar einsichtig und musste, nach Ciceros rhetorischen und politischen Überzeugungen, erst in das Konzept des moralisch guten Handelns, das für den Fortbestand der traditionellen Ordnung der res publica sorgt, übersetzt werden, um annehmbar, ja um überhaupt präsentabel erscheinen zu können. c) Paradoxon V Das Paradoxon V (§§33-41) behandelt die These: „Nur der Weise ist frei, und jeder Dummkopf ist ein Sklave“ (Solum sapientem esse liberum, et omnum stultum servum). Auch hier kommt Cicero in der Wahl der Überzeugungsmittel seinem adressierten Publikum entgegen: Da er vor hochgebildeten Männern spreche (apud prudentissimos, §33), weise er darauf hin, dass die Feststellung, dass nur frei sei, wer die Laster aus der eigenen Seele zu vertreiben vermag, von den größten Gelehrten (a doctissimis, §33) getroffen worden sei. Cicero geht

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ferner von dem Ideal aus, dass ein Redegegenstand sich ohne viele Worte – und ohne viel Nachdenken des Publikums – von selbst als evident erweisen sollte. Das sieht man an folgendem skrupulösen Einwand: Er glaube nämlich jene Feststellung, dass nur der Weise frei sei, treffen zu können, obwohl er sie mit so vielen Worten erörtern müsse (Quod etsi ita esse pluribus verbis disserendum est […], §35). Daher sucht Cicero immer wieder, die zugrundeliegenden Umdefinitionen deutlich zu machen. Zwar klinge die Konsequenz, dass alle schlechten Menschen Sklaven seien, „inopinatum et mirabile“ (§35). Doch wenn man „Sklave“ nicht im rechtlichen Sinne, sondern im Sinne einer Unterwerfung einer gebrochenen, wertlosen und ihres Willens beraubten Seele verstehe (obedientia fracti animi et abiecti et arbitrio carentis suo, §35), wer könnte dann schlechte Menschen nicht als Sklaven erkennen? Cicero plausibilisiert diese moralische Umdeutung noch weiter, indem er auf Gemeinplätze seiner Zeitgenossen rekurriert. Zum einen ist da der patriarchalische Gemeinplatz, dass ein Mann nicht vom Willen einer Frau abhängig sein dürfe; stelle man sich einen solchen Mann vor, dann müsse man ihn als unbrauchbaren Sklaven bezeichnen (nequissimum servum  … appellandum,  §36). Zum anderen aktualisiert Cicero auch hier wieder den Gemeinplatz des Sittenverfalls, indem er die Pflichten eines römischen Mannes dem übermäßigen Vergnügen seiner Zeitgenossen an ausländischen Kunstwerken, prachtvollen Bauten und der Aufzucht von Zierfischen gegenüberstellt. In  §38 findet sich die technische Wortwahl, wie sie sich aus dem moralisierenden Perspektivwechsel ergibt, mit altrömischen Exempeln und polemischer Luxuskritik auf engstem Raum verbunden. Man sieht die umdeutende, disqualifizierende Wirkung der stoischen Perspektive auf das von Cicero gezeichnete Sittenbild, und man sieht auch das Bemühen um eine geradezu lebensweltlich-unmittelbare Evidenz der Darstellung: Wenn Lucius Mummius76 sehen würde, wie irgendeiner dieser Leute einen korinthischen Nachttopf mit größter Hingabe streichelte, hielte er jenen, da er selbst für Korinth mit allen seinen Schätzen nur Verachtung empfand, für einen vorbildlichen Staatsbürger oder für einen gewissen Aufseher des Atriums? Wenn Manius Curius wieder lebendig würde oder einer der Männer, in deren Landhaus oder Stadtwohnung kein Glanz und kein Schmuck vorhanden waren außer ihnen selbst, und sähe, wie einer, der die höchsten Auszeichnungen des Volkes besitzt, Meerbarben mit ihren Bärtchen aus seinem Fischteich zieht und befühlt und sich seiner zahlreichen Muränen rühmt: Hielte er diesen Menschen nicht 76  Lucius Mummius wurde durch die Zerstörung Korinths im Jahr 146 v.Chr. bekannt, 142 war er zusammen mit Scipio Aemilianus Zensor. Wenn überhaupt ein bestimmter Politiker in Ciceros Anklage gemeint ist, so Rainer Nickel im Kommentar zu Cicero: Über die Gesetze. Stoische Paradoxien, S. 276, dann vermutlich L. Licinius Lucullus (117 v.Chr.-56 v.Chr.), um dessen Kunstsinn und Sammelleidenschaft es wohl auch in §36f. geht.

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Ciceros Paradoxa Stoicorum für einen Sklaven, und zwar so, daß er ihm nicht einmal in seiner Dienerschaft irgendeine wichtige Aufgabe zutraute? si L. Mummius aliquem istorum videret matellionem Corinthium cupidissime tractantem, cum ipse totam Corinthum contempsisset, utrum illum civem excellentem an atriensem diligentem putaret? Revivescat M’. Curius aut eorum aliquis, quorum in villa ac domo nihil splendidum, nihil ornatum fuit praeter ipsos, et videat aliquem summis populi beneficiis usum barbatulos mullos exceptantem de piscina et pertractantem et murenarum copia gloriantem, nonne hunc hominem ita servum iudicet, ut ne in familia quidem dignum maiore aliquo negotio putet? (§38)

Das Publikum soll nicht überlegen müssen, sondern vielmehr gar nicht anders können, als sich für die richtige Seite dieser rhetorischen Fragen zu entscheiden. Lucius Mummius und Manius Curius galten im traditionalistischen Wertediskurs wenigstens der konservativen Herrschaftselite als vorbildliche Staatsmänner, die, lange bevor die Krise der Republik akut wurde, gerade aufgrund ihrer Tadellosigkeit mit dem Amt der Zensur betraut wurden. Hätten sie dergleichen schon zu ihrer Zeit bei Senatsmitgliedern gesehen, hätten sie es wohl tatsächlich als ihre Aufgabe angesehen, jene luxustreibenden und kunstsammelnden Politiker für ihr Verhalten zu rügen oder zu bestrafen. Wie gleich noch näher zu erläutern ist, begründet Cicero sein Bestreben, bei der Darlegung einer ihn im Wesentlichen überzeugenden paradoxen Position an die Gemeinplätze seines Publikums anzuknüpfen und somit die Paradoxalität möglichst zu minimieren, damit, dass der Wahrheit auch der Schein der Wahrheit innewohne, auch wenn der sich eben nicht direkt, sondern nur indirekt im Konsens der glaubhaften Leute zeige. In den Paradoxa Stoicorum führt er dies freilich nicht näher aus. Doch ist dafür die Behauptung bezeichnend, dass ein verkommener Politiker selbst sehen möge, „wie er Befehlshaber sein kann, wenn ihm die Vernunft und die Wahrheit selbst beweisen, daß er nicht einmal frei ist“ (ille videat, quomodo imperator esse possit, cum eum ne liberum quidem esse ratio et veritas ipsa convincat, §41). Wenn die Vernunftnatur des Menschen und damit die moralische Betrachtung der Wirklichkeit per se überzeugend sind, obliegt es dem Redner, diese Überzeugungskraft hervortreten zu lassen, und dem Publikum, sich der Evidenz des Redegegenstands (hier der eigenen Vernunftnatur) nicht durch das Festhalten an falschen Vorstellungen aktiv zu verschließen. d) Paradoxon VI In der letzten Rede darüber, dass nur der Weise reich sei, wendet sich Cicero zunächst wieder dem Crassus als einem negativen Beispiel des Gewinnstrebens (§§42-48) und dann jenen Ungenannten zu, die Aufwand treiben

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(sumptuosos, §49). Cicero stellt zunächst den Reichtum des Crassus in Frage, mit dem dieser stets geprahlt habe. Denn es sei die eigene Seele und nicht das Gerede der Leute, die ihn für reich erklären müsse (Animus oportet tuus te iudicet divitem […], §43), indem sie nichts weiter wünscht, sondern mit dem Besitz zufrieden ist. Denn wie könne man jemanden als reich ansehen, der das Gefühl hat, etwas zu brauchen (ipse etiam egere se sentiat, §44)? Unter dieser Prämisse macht Cicero die ‚Armut‘ des Crassus plausibel, indem er – polemisch gegen diesen (bereits gestorbenen) Staatsmann, literarisch an den Leser gewendet – in beinahe endloser Reihung die moralisch und rechtlich verurteilenswürdigen Bestrebungen des Crassus nach mehr Geld aufzählt (Crassus hatte sich am Besitz politisch Geächteter bereichert). Die Aufzählung mündet wiederholt in der rhetorischen Frage, wer die Evidenz der stoischen Einschätzung in Zweifel ziehen könne: Wenn einer all die Bestechungen und Räubereien des Crassus sehe, schreibt Cicero, wer könnte da „nicht glauben, daß dieser Mensch zu erkennen gibt, daß er noch mehr Gewinn machen muss“ (quis hunc non putet confiteri sibi quaesto opus esse, §46)? Und da die Unbestechlichkeit des Fabricius gegenüber König Pyrrhus oder die Großzügigkeit des Manius Curius, der seinem Bruder das gemeinsame Erbe überließ, wertvoller als das bloße Geld seien, „wer könnte dann eigentlich daran zweifeln, daß wahrer Reichtum in der Tugend besteht […]“ (Quis igitur … dubitet, quin in virtute divitiae sint, §48)? Diese These exemplifiziert Cicero schließlich noch durch einen weiteren Vergleich zwischen guten und schlechten Beispielen. So kontrastiert Cicero die luxuriöse Einrichtung der Landhäuser gewisser Zeitgenossen mit seiner eigenen Sparsamkeit sowie mit der des Manius Manilius (Konsul des Jahres 149), der für seine Bescheidenheit berühmt war (§§49f.). Cicero wendet hier den paradoxen Perspektivwechsel der stoischen Ethik auf die römischen Verhältnisse an: Sowohl das Streben nach Geld als auch das nach Luxus sind als Gefahr für die überkommene Ordnung präsent; aber diese Vergegenwärtigung dient nur dazu, die (moralische) Armut der neuen Machtelite zu beweisen, die sich durch ihr Handeln selbst desavouiere. Denn gemäß der moralischen Definition von Reichtum als Bedürfnislosigkeit beweisen etwa die Bedürfnisse und Begierden des Multimillionärs Crassus nicht, wie nötig deren Skandalisierung oder Reglementierung wäre, sondern sie beweisen dessen „Bettlerdasein“ (§45). Das Ziel von Ciceros Darstellung ist es auch im Paradoxon VI, durch die Übersetzung in kollektive Sprach- und Deutungsmuster seines Publikums seinen Redegegenstand als fraglos zu präsentieren: die stoische Paradoxie des inneren Reichtums und damit zusammenhängend die Deutung, dass sich ein Reicher wie Crassus in seiner Habsucht als arm und bedürftig erweise.

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Ciceros Paradoxa Stoicorum

Fehlende Legitimation für Paradoxalität bei Stoa und Cicero

Es wurde gezeigt, wie Cicero die abstrakten Thesen der stoischen Ethik gewissermaßen mit Leben füllte, indem er sie in das übertrug, was er die populäre Sprache nannte. Den allgemeinen Normen, in deren Einhaltung die stoische Ethik die Bestimmung des Menschen sah, ordnete er anerkannte Beispiele, also konkrete Anwendungen zu. Dabei ging er davon aus, dass ein Teil des Publikums die traditionalistischen Wertbegriffe und die dazugehörigen Exempla akzeptiere und dass dieser Teil daher auch in der Lage sei, die stoische Ethik vor dem Hintergrund eigener Überzeugungen zu verstehen. Man mag nun annehmen, dass Ciceros ausdrückliche Darstellungsstrategie der Veranschaulichung und der Verständlichmachung (Cic.parad.  §§3f.) für einen Redner nichts Ungewöhnliches sei. In der Tat gehört es wohl zur rhetorischen Kompetenz, möglicherweise vorhandenen Erklärungsbedarf zu antizipieren und ihm mit entsprechenden Mitteln Abhilfe zu schaffen. Gerade mit Blick auf das zu jeder Zeit virulente Problem der Wissensvermittlung kann man sagen, dass Cicero in den Paradoxa Stoicorum eine noch heute potentiell aktuelle Darstellungsstrategie auswählte, indem er mithilfe eines geeigneten sprachlichen Registers abstrakte Thesen veranschaulichte. Darüber hinaus wird man es im Prinzip für eine kluge Regel der rhetorischen Vernunft halten können, sich unter gewissem Vorbehalt dem Konsens glaubhafter Personen anzuschließen. Für den historisch-typologischen Vergleich verschiedener Praktiken antikonsensualer Rede ist es jedoch wichtig zu sehen, dass die konsensorientierte Geste Ciceros in den Paradoxa Stoicorum nicht nur aus pragmatischem Kalkül erwächst, sondern aufgrund einer epistemologischen Vorannahme, die heute nicht mehr überzeugen kann: dass die Wahrheit aus eigener Kraft heraus überzeuge und sich daher normalerweise im Medium des Konsenses darbiete. Dies sei zunächst an den konkreten Rezepten gezeigt, die Cicero – übrigens ganz ähnlich wie Aristoteles – dem Redner empfiehlt. Diese Rhetorik sieht für jeden paradoxen bzw. paradox scheinenden Fall erst einmal den Redner im Zugzwang. 3.4.1 Glaubhaftigkeitsgrade (genera causarum) praktisch-konkreter Fälle Ciceros rhetorischer Lehre liegt eine bestimmte, normative Auffassung davon zugrunde, wie der Redner einen Gegenstand zu behandeln hat, der dem Publikum als Paradoxie oder als Konsens erscheint. Greifbar wird diese Auffassung im Bezug auf die Frage nach den Regeln für die Gestaltung des exordium in Gerichts-, Beratungs- oder Festreden in Ciceros frühem rhetorischen Lehrbuch

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De inventione.77 Dort geht es um die sogenannten genera causarum, die nicht mit den gleichnamigen Redegattungen zu verwechseln sind. Es handelt sich um eine Unterscheidung verschiedener Fallarten, welche den Redegegenstand je nach dem Grad seiner Glaubhaftigkeit oder Vertretbarkeit einteilen, die er aus der Sicht des Publikums hat. Erinnert die Klassifikation von Redegegenständen nach Glaubhaftigkeitsgraden an die beiden aristotelischen Grundbegriffe der Paradoxie (resp. der Adoxie) und der Endoxie (vgl. II, 5), so ist sie hier in fünf Fallarten aufgefächert. In dieser oder ähnlicher Form – teils nur mit vier, teils auch sechs Fallarten – wurden die genera causarum spätestens seit Herennius (Rhetorica ad Herennium, III, 5 ), Cicero und Quintilian (Quint. inst. IV, 1, 40f.) zu einem festen Bestandteil des rhetorischen Systems, den noch Rhetoriken des Mittelalters und der Renaissance reproduzierten.78 Cicero schreibt dazu: Es gibt fünf Arten von Fällen: die ehrenhafte, die auffallende, die unbedeutende, die zweideutige, die unklare. Ehrenhaft ist die Art eines Falles, welcher der Zuhörer sofort ohne unsere Rede seine Gunst schenkt; auffallend die, welcher die, welche zuhören wollen, entfremdet sind; unbedeutend die, welche vom Zuhörer geringgeschätzt wird und welcher er keine große Aufmerksamkeit schenken zu müssen meint; zweideutig die, bei welcher der strittige Punkt zweifelhaft ist oder der Fall einen Teil Ehrenhaftigkeit und einen Teil Schimpflichkeit hat, so daß er Wohlwollen und Anstoß erregt; unklar die, bei welcher entweder die Zuhörer nur langsam mitgehen oder der Fall mit Angelegenheiten, die ziemlich schwierig zu erkennen sind, verflochten ist. Genera causarum quinque sunt: honestum, admirabile, humile, anceps, obscurum. Honestum causae genus est, cui statim sine oratione nostra favet auditoris animus; admirabile, a quo est alienatus animus eorum, qui audituri sunt; humile, quod neglegitur ab auditore et non magnopere attendendum videtur; anceps, in quo aut iudicatio dubia est aut causa et honestatis et turpitudinis particeps, ut et benivolentiam pariat et offensionem; obscurum, in quo aut tardi auditores sunt aut difficilioribus ad cognoscendum negotiis causa est implicata. (Cic.inv. I, §15, S. 45)

Wie dem zweiten Satz zu entnehmen ist, müsse der Redner im honestum causae genus gar nichts unternehmen. Wie Cicero wenig später erläutert, sei 77  Vgl. Cic.inv. I, §15-18. Hier und im Folgenden zitiert nach Cicero: Über die Auffindung des Stoffes. Über die beste Gattung von Rednern. Hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein. Düsseldorf; Zürich: 1998. S. 44-57. 78   Vgl. Plett, Heinrich  F.: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. In: Geyer, Paul/ Hagenbüchle, Roland (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Tübingen: 1992. S. 89-104.

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in diesem Fall zumindest eine Vorrede nicht notwendig, sondern fakultativ (vgl. §15). Hingegen sei es bei der auffallenden, das heißt paradoxen,79 Art des Falles (admirabile causae genus), welche offenbar das entgegengesetzte Ende des Spektrums möglicher Glaubhaftigkeitsgrade bezeichnet, entweder nötig, in einer Vorrede das Wohlwollen (benevolentia) des Publikums zu wecken, oder, wenn dessen Abneigung besonders groß sei, Zuflucht zu einer Einschmeichelung (insinuatio) zu nehmen (vgl. ebd.). In der Sichtweise Ciceros verlangt also die auffallende Art des Falles dem Redner große Überzeugungsarbeit ab. Doch wer bestimmt, was schimpflich und was ehrenhaft ist? Gibt es da gar keinen Diskussionsbedarf? Die Verlegenheit eines Redners, der vom allgemeinen Wert- und Wahrheitsempfinden abzuweichen scheint, mag man als natürlich ansehen, solange von Fällen die Rede ist, über deren tendenzielle Bewertung in der Tat kaum Zweifel bestehen. So galt zum Beispiel als ein Gemeinplatz (locus communis), dass Vatermord ein besonders übles Vergehen war.80 Ciceros Verteidigung des Sextus Roscius musste vernünftigerweise darauf hinauslaufen, diesen Gemeinplatz anzuerkennen (es handele sich um eine schlimme Rechtsverletzung!) und nach einer weit ausgreifenden Vorrede (Cic.S. Rosc. §§1-4) die Gründe dafür anzugeben, weshalb der Vorwurf des Vatermordes auf Roscius gar nicht zutreffe. Doch das Credo, sich an die Gemeinplätze des Publikums zu halten, sollte ja nicht nur für diesen Fall, sondern für alle Fälle gelten, und zwar nicht nur für alle praktisch-konkreten, sondern auch für alle theoretischallgemeinen Fälle. Wie an den Paradoxa Stoicorum schon sichtbar wurde, geht Cicero nicht nur in Bezug auf konkrete und bestimmte Fälle (certa definitaque causa), sondern auch in Bezug auf unbestimmte Fragen (quaestio) davon aus,81 dass der Redner sich gegenüber einem Publikum verantworten muss, das bei der Beurteilung verschiedener Redegegenstände einen natürlichen, zuverlässigen Sinn für das Ehrenhafte und das Verwerfliche besitzt. Denn bei der Verteidigung der stoischen Paradoxien ging es aus seiner Sicht ja gerade nicht primär darum, Gemeinplätze zu widerlegen, sondern vielmehr darum, die Paradoxien „in allgemeinverständliche Sätze zu fassen“ (conieci in communes locos, §3). Wie nun zu zeigen ist, entspricht diese publikumsorientierte Darstellungsstrategie dem, worin Cicero als Theoretiker geradezu die Aufgabe des idealen Redners sieht. 79  Quintilian (IV, 1, 40f.) ordnet humile adox zu und admirabile paradox; er gibt an, dass auch noch die Kategorie turpe verwendet werde, was manche wiederum unter humile, manche unter admirabile zählten. 80  Vgl. Cic.inv. §47; Cic.de orat. §106. 81  Zur Unterscheidung zwischen einem konkreten Fall und der unbestimmten Fragestellung vgl. Cic.de orat. II, 65.

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3.4.2 Der sensus communis bei theoretisch-abstrakten Fragen Zu Beginn seiner Schrift De oratore (§13) postulierte Cicero zwar beiläufig und indirekt, aber doch deutlich, dass der ideale Redner die übliche Redeweise (vulgare genus orationis) einhalten und den Gemeinsinn (sensus communis) bestätigen muss. Das Postulat ist eingebettet in die Feststellung, dass sich in Rom stets viele Menschen auf jenen Gebieten hervorgetan hätten, die Spezialisten erforderten, wie der Mathematik, der Musik und der Grammatik, dass sich jedoch bis zur Rezeption der griechischen Schriften in Rom kaum jemand um die Redekunst bemüht habe (Cic.de orat. I, §§10-14). Eben das sei allerdings seltsam, da man für das Studium der anderen Gebiete aus versteckten Quellen schöpfen müsse, während die Redekunst vor aller Augen liege. Und dazu heißt es dann näher: [S]o ragt sonst ganz besonders das hervor, was von der Einsicht und Denkweise der Laien am weitesten entfernt ist, während es beim Reden ein ganz massiver Fehler wäre, gegen die übliche Ausdrucksweise und die Gewohnheit des allgemeinen Empfindens zu verstoßen. [U]t in ceteris id maxime excellat, quod longissime sit ab imperitorum intellegentia sensuque disiunctum, in dicendo autem vitium vel maxium sit a vulgari genere orationis atque a consuetudine communis sensus abhorrere (I, §13).82

Der Begriff des sensus communis bezeichnet den jedermann gegebenen und insofern natürlichen Sinn für das, was für ein gesittetes, das heißt gerechtes und taktvolles Zusammenleben nötig ist.83 An diesen Sinn für das Gute und Schlechte sei der ideale Redner also gebunden, um – gemäß der platonischen Kritik an der Sophistik, die Cicero aufgreift,84 – nicht nur über technische Könnerschaft, sondern auch über ein Wissen davon zu verfügen, wovon er spricht. Wenn alle oder viele Menschen in einer Frage übereinstimmen, dann gilt dies Cicero als ein gültiges Argument. Ein schönes Beispiel ist Ciceros Gottesbeweis: Man solle an das Dasein der Götter glauben, weil kein Mensch auf der Erde lebe, der so roh und wild sei, daß er keinerlei Vorstellung von Göttern habe (Cic.tusc.  §30). Hier wie in sonstigen Fragen (wie etwa über 82  Zit. nach Cicero: De oratore. Über den Redner. Übers. u. hrsg. v. Harald Merklin. 3. Aufl. Stuttgart: 1997. S.  49. Vgl. noch einmal deutlicher, allerdings von einer Dialog-Figur (Antonius) gesprochen: de orat. II, 68. 83  Vgl. Bugter, S. E. W.: Sensus Communis in the Works of M. Tullius Cicero. Bes. S. 86-91. In: Van Holthoon, Frits L./Olson, David R. (Hg.): Common Sense. The Foundations for Social Science. Lanham: 1987. S. 83-97. 84  Vgl. die programmatische Kritik an der Aufteilung, dass Rhetorik für Technik, Philosophie hingegen für Wissen zuständig sei, vgl. de orat. I, 5ff.; ähnlich schon De inv. I, 1-3.

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die Unsterblichkeit der Seele) sei die Einstimmigkeit aller Völker (consensio omnium gentium, ebd.) als Naturgesetz (lex naturae, ebd.) anzusehen. Ergänzt sei an dieser Stelle noch, dass der Redner zwar keine Allwissenheit anstreben müsse und innerhalb der Philosophie die Naturphilosophie und die Dialektik beiseite lassen dürfe, dass er sich jedoch mit der Ethik intensiv beschäftigen solle (Cic.de orat. I,  §68; Figurenrede des berühmten Redners Crassus). Denn um die Kenntnis der Ethik hat sich Cicero ja selbst bemüht; und seine Ansicht in den Paradoxa Stoicorum kann man mit den hier verwendeten Begriffen vielleicht so reformulieren: Die stoischen Paradoxien stimmten laut Cicero zwar in der Sache mit dem sensus communis, aber in der Wortwahl nicht mit dem vulgare genus orationis überein. Natürlich hat Cicero auch sachliche Kritik an der stoischen Ethik geübt.85 Doch häufiger echauffierte er sich über die Ausdrucks- und Argumentationsweise der Stoa. So lässt er Crassus in De oratore sagen, dass die Stoa durch ihre ungewöhnliche Sprachverwendung „in scharfem Gegensatz zu einem Redner [steht], wie wir ihn ausbilden“.86 Gemeint ist damit genau der rigorose Jargon, den er in den Paradoxa Stoicorum nur mit vielen Worten glaubt verständlich machen zu können. Da sei zum Beispiel die stoische These daß alle, die nicht weise sind, als Sklaven, Räuber, Feinde und Wahnsinnige zu gelten hätten und trotzdem niemand weise sei. Es wäre aber ganz unsinnig, die Volksversammlung, den Senat oder sonst einen Kreis von Menschen jemandem auszuliefern, der keinen unter den Anwesenden für zurechnungsfähig, für einen Bürger oder einen freien Menschen hält. quod omnis, qui sapientes non sint, servos, latrones, hostis, insanos esse dicunt, neque tamen quemquam esse sapientem: valde autem est absurdum ei contionem aut senatum aut ullum coetum hominum committere, cui nemo illorum, qui adsint, sanus, nemo civis, nemo liber esse videatur. (de orat. III, §65, S. 486f.; vgl. de fin. IV, §7)

Die Ausdrucksweise der Stoiker klinge, so Crassus weiter, in den Ohren des Volkes abschreckend und unverständlich (abhorrens ab auribus vulgi, 85  Vgl. nur den Spott gegenüber dem Stoiker Cato in Pro Murena,  §§60-66, aus Ciceros Konsulatsjahr 63 v.Chr, wo er der Stoa unter anderem auch Empfindungslosigkeit und unmenschliche Härte vorwirft (§60); zu diesem Vorwurf im Kontext von Ciceros Exilerfahrung vgl. auch Narducci, Emanuele: Perceptions of Exile in Cicero: The philosophical interpretation of a real experience. 118 (1997). S. 55-73, bes. S. 57-66; ferner den vierten Teil der 45 v.Chr. entstandenen Schrift De finibus, in dem Cicero kritisch auf die Verteidigung der Stoa antwortet, die Cato im dritten Teil gibt, besonders De fin III, §§74-77 und IV, §§74-80. 86  De orat., III, 65. Zit. nach Cicero: De Oratore. Übers. v. Harald Merklin. S. 487.

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obscurum, III,  §66), „denn gut und böse bedeutet für die Stoiker und für die anderen Bürger, oder besser Völker, nicht dasselbe“ (alia enim et bona et mala videntur Stoicis et ceteris civibus vel potius gentibus, ebd., S.  488f.).87 Die Forderung, die ‚Ohren des Volkes‘ zu achten, sollte dabei wohl nicht nur pragmatisch der Wirkungsabsicht des Redners dienen, sondern auch einen Maßstab für das Richtige und Natürliche postulieren. Zumindest wenn man Ciceros Behauptung ernst nimmt, dass der Konsens aller die Stimme der Natur sei.88 An all dem (III.4.1, 4.2) dürfte deutlich geworden sein, dass der Redner laut Cicero eher keinen Vertrauensvorschuss erwarten könne, wenn er die gewohnten Sprach- und Deutungsmuster des Publikums zu überschreiten scheint. Stattdessen müsse der Redner seinen Gegenstand in der Sache und in der Wortwahl als unmittelbar evident erscheinen lassen durch den Rekurs auf anerkannte Meinungen, Autoritäten sowie auf lebensnahe Vorstellungen. Ein Seitenblick in die moderne Sprachphilosophie mag an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass eben jene Ansicht Ciceros nicht unwidersprochen geblieben ist, dass ein Sprecher seinen Gegenstand als fraglos präsentieren müsse. Jemand wie Michail Bachtin, dessen Sicht auf eine angemessene Sprachverwendung nicht zuletzt von der formalistischen Verfremdungsästhetik und der modernen Literatur geschult war, zeichnete die ideale Geste des Sprechens in ganz anderer Weise als Cicero und polemisierte – ohne Namen zu nennen – gegen eine rhetorische Norm, die sich mit der Ansicht des antiken Rhetorikers deckt: Rein negative Forderungen, die doch nur vom passiven Verstehen ausgehen könnten, wie die nach größerer Klarheit, Überzeugungskraft, Anschaulichkeit usw. belassen den Sprecher in seinem eigenen Kontext und führen ihn nicht über seine Grenzen hinaus […].89

Dieses Zitat setzt das Interesse des Publikums an der Erweiterung seines Horizonts voraus. Damit argumentiert es von einem in Europa erst im Laufe des 18. Jahrhunderts nachdrücklich postulierten und demonstrierten Standpunkt aus. Ganz im Unterschied zu der von der modernen, vor allem von der Aufklärung geprägten Norm der unbefangenen Aufnahme und Prüfung 87  Vgl. zur Sprachkritik an der Stoa auch de orat. II, 159f. – Speziell zur unpopulären Ausdrucksweise auch eine Stelle im Brutus: „[D]ie Redeweise der Stoiker ist knapper und um einiges gedrängter, als die Ohren des Volkes es erfordern“. Cicero, Brutus, 120. Zit. nach Cicero: Brutus. Hg. v. Bernhard Kytzler. München: 1970. S. 91. 88  Bereits zitiert: omnium consensus naturae vox, Tusc. I, 35. 89  Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübele. 9. Aufl. Frankfurt/ Main: 2015. S. 174.

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jeglicher Kritik, ganz gleich welche Sache betreffend, bildete offenbar die Orientierung an einem Wert- und Wahrheitsempfinden des Publikums, das zur unmittelbaren Beurteilung von Sachfragen bereits hinreichend qualifiziert ist, den normativen Rahmen von Ciceros Praxis antikonsensualer Rede. Abschließend sei nun noch ein Versuch gewagt, diesen publikums- oder genauer: konsensorientierten Typus antikonsensualer Rede durch ein an ihr maßgeblich beteiligtes konzeptuelles Wissen wenn nicht zu erklären, so doch genauer zu kennzeichnen. Beruht jede soziale Praxis als eine zeitlich relativ stabile Handlungsweise unter anderem auf einem konzeptuellen Wissen von der Welt, in der sie wirken soll, dann ist für die Beschreibung von Ciceros Praxis antikonsensualer Rede insbesondere sein Konzept von der Struktur der Erkenntnis zu berücksichtigen: Verkürzt gesagt, steht Cicero erkenntnistheoretisch in der Tradition der platonischen Metaphysik, in welcher der Gegenstand der Erkenntnis, die Natur, eine metaphysische, von der empiri­ schen Welt des Redners und des Publikums unabhängige Seinsweise hat. In einem solchen Modell bleibt dem Erkenntnissubjekt (resp. dem Publikum) in der Tat nichts anderes übrig, als passiv die sich – direkt oder indirekt in der Sprache des Redners bzw. im Konsens glaubhafter Personen – darbietende Natur der Dinge wahrzunehmen. Anlass zu der Frage, inwiefern dieses Modell einer das passive Subjekt überwältigenden Objektivität der Dinge Ciceros zumindest sprachkritischem Skrupel gegenüber den stoischen Paradoxien zugrunde liegt, geben Formulierungen wie die folgenden: Jener mag zusehen, wie er Befehlshaber sein kann, wenn ihm die Vernunft und die Wahrheit selbst beweisen, daß er nicht einmal frei ist. [I]lle videat, quomodo imperator esse possit, cum eum ne liberum quidem esse ratio et veritas ipsa convincat. (Cic.parad. §41, Cicero: Paradoxa Stoicorum. S. 234f.) [D]er natürliche Sinn aller und die Natur der Dinge, die Wahrheit selbst, schrien geradezu, sie könnten sich nicht zu der Überzeugung bringen lassen, daß keinerlei Unterschied zwischen den Dingen bestehe, die Zeno hier gleichsetze […].90 90  Der Kontext dieses Zitats handelt von den stoischen Paradoxien: „Alle, die nicht weise sind, sind gleich elend; alle Weisen sind im höchsten Grade glücklich; alles recht Getane ist gleichwertig, alle Fehltaten sind gleich. Das hörte sich zunächst scheinbar prächtig an. Dachte man darüber nach, so war es zu verwerfen. Denn der natürliche Sinn […]“. Cicero: Von den Grenzen im Guten und im Bösen. Eingel. u. übertr. v. Karl Atzert. Zürich: 1964. S. 343-345.

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Sensus enim cuiusque et natura rerum atque ipsa veritas clamabat quodam modo non posse adduci, ut inter eas res, quas Zeno exaequaret, nihil interesset […]. (Cic. De fin. IV,  §55, Cicero: Von den Grenzen im Guten und im Bösen. S. 344f.)

3.4.3 Epistemologisches Hintergrundwissen Der Befund ist in typologischer Hinsicht wichtig: Cicero forderte keinerlei Vertrauensvorschuss oder gar Anstrengung vonseiten des Publikums ein, wie es in der Rhetorik des christlichen Humanismus ebenso wie in der Aufklärung und der Romantik der Fall war. Hierin zeigt sich, dass sich Paradoxien nicht nur durch einen Kontrast zu einem Konsens, sondern auch dadurch auszeichnen, welche Auffassung der Sprecher von antikonsensualer Rede hat. Abgesehen von dem präferierten Handlungsfeld und der strategischen Zielsetzung geht es hierbei um die Frage nach der epistemologischen, also die Struktur der Wirklichkeit und der Erkenntnis betreffenden Begründung für die Paradoxalität der eigenen Rede. Wie schon angedeutet, ist es im Falle Ciceros angebracht, seine Epistemo­ logie von jenem Modell der Erkenntnis her zu beschreiben, das sowohl die platonische als auch die stoische Philosophie auszeichnet (realistische Metaphysik), denn Ciceros Position der konjekturalen Metaphysik ist lediglich eine Modifikation dieses Modells.91 Hier wie da geht es, vereinfacht gesagt, um die Annahme einer der Natur der Dinge inhärenten Verständlichkeit und Überzeugungskraft – eine Annahme, mit der man die Unglaubhaftigkeit einer wahren Aussage jedenfalls nicht als solche rechtfertigen kann. Eine solche Theorie muss mangelnde Evidenz als einen Fehler des Redners oder des Zuhörers verbuchen; sie kann nicht erwarten, dass ein Publikum eine bestimmte These auch dann noch als mögliche Wahrheit anerkennt, wenn sie dessen Anschauungen widerspricht, weil die Evidenz der Sache vorausgesetzt ist. 3.4.3.1 Erkenntnismodell der realistischen Metaphysik Der Wirklichkeitsbegriff der unmittelbaren Evidenz, den Hans Blumenberg ausgehend vom platonischen Höhlengleichnis rekonstruiert,92 besagt, dass sich Wirkliches „von sich selbst her präsentiert und im Augenblick der Präsenz

91  Zur Unterscheidung zwischen realistischer und konjekturaler Metaphysik vgl. erneut Peetz: Ciceros Konzept des probabile. S. 112. 92  Vgl. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. S. 10f. In: Jauß, Hans Robert (Hg.): Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen. 2. Aufl. München: 1969. S. 9-27.

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in seiner Überzeugungskraft unwidersprechlich da ist“.93 Diese Konstruktion, die Vorstellung einer persuasiven Qualität der Wirklichkeit, schreibt auch der Wahrheit eine Macht zu, die über das Erkenntnissubjekt verfügt, solange sich dieses sozusagen nicht wehrt.94 Auch die stoische Epistemologie geht sowohl davon aus, dass der Mensch durch die Natur zur Erkenntnis begabt worden sei, als auch davon, dass ihn die Wahrheit kraft einer ihr immanenten Evidenz überzeuge.95 Wie geht diese Überzeugung mit der geringen Glaubhaftigkeit zusammen, die man der stoischen Ethik nachsagte und die sich die Stoa durch die Benennung ihrer Thesen als Paradoxien selbst eingestand? Tatsächlich liegt darin ein Widerspruch, die Selbstevidenz von Aussagen zu behaupten, die das Wert- und Wahrheitsempfinden vieler Leute verletzen. Daraus wurde den Stoikern auch ein Vorwurf gemacht, nämlich daß sie [die Stoiker, CW] wider die allgemeinen Begriffe und Vorbegriffe philosophieren, aus denen eben, so glauben sie, wie aus Samen die Lehre ihrer Schule hervorsproßt und kraft deren sie behaupten, ihre Lehre stimme einzig mit der Natur überein.96

Wie gesehen, hatten schon vor der Stoa Philosophen wie Platon die Natürlichkeit der Erkenntnis behauptet. Ihnen hätte man daher den gleichen Vorwurf machen können. Im Fadenkreuz der Kritik stand die Stoa jedenfalls weniger durch die Behauptung der Natürlichkeit der Erkenntnis als durch ihre These von der Autarkie der Tugend, also durch ihre kontroverse Auslegung dessen, was das Naturgemäße sei. So hielt etwa Aristoteles die stoische Vorstellung, der Weise sei auch unter der Folter noch glücklich, für Unsinn, weil es ihm naturgemäßer schien, auch Lust und günstige Umstände als Güter anzuerkennen,97 – eine weniger paradoxe Position bei ähnlicher Epistemologie.98 93  Ebd. S. 11. 94  Vgl. dazu, dass die Metaphorik der ‚mächtigen‘ Wahrheit vor allem in der antiken Philosophie verbreitet sei, Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/ Main: 1998. S. 14-22. 95  Vgl. Quellen und Kommentar bei Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen. S. 287301; dazu auch den interessanten Überblick von Oehler, Klaus: Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik. Bes. S. 103, 109; ferner Weinkauf, Wolfgang (Hg.): Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Texte. Stuttgart: 2001. S. 73. 96  Plutarch, De comm. not. 3, 1060A. Übersetzung und Zitat nach Long/Sedley S. 295f. Zu dieser Spannung zwischen Epistemologie und Paradoxie vgl. auch den Kommentar ebd. S. 301, 447. 97  Vgl. Aristot. Eth.Nic. 1153 b 9-21. 98  Vgl. Aristoteles: Topik 100b. „Wahre und erste Sätze sind solche, die nicht erst durch anderes, sondern durch sich selbst glaubhaft sind“. Zit. nach Aristoteles: Philosophische

Fehlende Legitimation für Paradoxalität bei Stoa und Cicero

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Die Sophistik hatte die Frage nach der epistemologischen Legitimation von Paradoxalität pragmatisch mit der Feststellung beantwortet, dass es faktisch zu jeder Meinung eine Gegenmeinung gebe und man die Argumentation nach beiden Seiten trainieren müsse. Im Falle der platonischen und der stoischen Moralphilosophie erhält diese Frage einen ganz anderen Sinn. Denn wie begründet diese Philosophie, die nun im Gegensatz zur Sophistik beansprucht, dass sie den wahren Standpunkt vertrete und also ein qualitativer Unterschied zwischen ihren und den Meinungen irgendeines Dahergelaufenen bestehe, dass sie dennoch vielfach nicht als Wahrheit ernst genommen wird? In Platons Höhlengleichnis ist es die Gewöhnung an das Dunkel, das den Blick in das Sonnenlicht zunächst schmerzlich macht; ist man aber imstande, in dieses Licht zu sehen, dann weiß man sofort sicher, dass man sich bisher getäuscht hat.99 Dass nun das Licht der stoischen Wahrheit nicht gesehen wurde, erklärte sich die Stoa – man kann wohl sagen: analog zum platonischen Höhlengleichnis – durch das Fehlverhalten der Menschen. Widernatürliche Leidenschaften oder Fieber- und Wahnzustände,100 welche den klaren Blick auf die Wirklichkeit trüben, oder der Reifeprozess des Individuums,101 in dem jeder einzelne Mensch die Natur und seine Rolle in ihr erkennen und verkennen, erreichen und verfehlen kann – beides sind typische Erklärungen für die Schwierigkeiten der Wahrheitsvermittlung, die an der Natürlichkeit der Erkenntnis festhalten. Sie führen zur Trennung zwischen der „natürlichen Natur“ des unerschütterlichen Weisen und der „unnatürlichen Natur“ der lei­ denschaftlichen Toren.102 Wenn die Fähigkeit zur Einsicht als Naturgeschenk Schriften II. Topik. Sophistische Widerlegungen. Übers. v. Eugen Rolfes. Hamburg: 1995. S. 1. – Siehe auch Aristoteles: Rhetorik 1355a, wo es heißt, dass „die Menschen von Natur aus für die Wahrheit hinlänglich begabt“ seien. Zit. nach Aristoteles: Rhetorik. Übers. v. Franz F. Sieveke. München: 1980. S. 10. 99  Vgl. Platon: Politeia, VII, 514a-518b. 100  Vgl. Quellen und Kommentar bei Long/Sedley: Die hellenistischen Philosophen. S. 490505. Besonders in Fieber- und Wahnzuständen können laut der Stoa wahre Vorstellungen nicht von falschen unterschieden werden. Vgl. ebd. S. 288f. 101  Vgl. etwa Cato in Cic.fin. III,  §21; Seneca Epist. 121, 14-16; anschaulich diskutiert Galen das Problem, wie das Laster in die Welt kommt bzw. wie Kinder den in ihnen angelegten natürlichen Weg, der zur Vernunft führen würde, verlassen können, vgl. De plac. Hippocr. et. Plat. 5, 5, 8-26 (Zitat nach Long/Sedley S. 495). 102  Vgl. Weinkauf, Wolfgang (Hg.): Die Philosophie der Stoa. Stuttgart: 2001. S. 200f.; Long/ Sedley: Die hellenistischen Philosophen. S.  301-308, 457, 460. – Ausgehend von dem modernen Verständnis der Paradoxie als Selbstwiderspruch kann man sich fragen, ob nicht die ‚unnatürliche Natur‘ eine Paradoxie sei. Im logischen Sinne ist sie das, doch wäre damit weniger eine stoische These bezeichnet als vielmehr der Widerspruch, auf dem die Beobachtung basiert, die Welt sei einerseits nichts als Natur, beinhalte aber andererseits Abweichungen von sich selbst. Dieses Verständnis von Paradoxien entspringt einem dekonstruktivistischen Interesse, das die uneingestandenen Widersprüche innerhalb

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Ciceros Paradoxa Stoicorum

an die Menschen gilt, wie kann dann die Weisheit nur den wenigsten Menschen vorbehalten sein? Vorgreifend auf Ausführungen zur epistemologischen Legitimation antikonsensualer Rede in späteren Kapiteln kann man festhalten: Hier hat es die Wahrheit keineswegs an sich, dem Menschen ungewöhnlich zu scheinen. Die Stoa versteht sie nicht als etwas, das sich verhüllt (christliche Lehre), das den Menschen von dessen Konsensgläubigkeit abbringt und auf sein eigenes Denken zurückwirft (Aufklärung) oder das den Horizont der Menschen fortdauernd erweitert (Romantik). Wenn die Menschen nicht von der Einsicht in die stoische Ethik ergriffen werden, dann müssen es die Gespinste der Leidenschaften oder andere „widernatürliche“ Dinge dieser Art sein, die sie daran hindern. Die Stoa selbst reagierte vermutlich schon, wie gesagt, mit der Bezeichnung ihrer ethischen Thesen als Paradoxien auf die Vorwürfe, die ihnen wegen ihrer rigorosen Ethik gemacht wurden. Zwar konnte sie der Hinweis auf die mangelnde Konsensfähigkeit nicht dazu zwingen, von ihrer Position abzurücken – denn ihre eigene Position galt ihr ja als wahr, und mit Beeinträchtigungen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit rechnete sie ohnehin. Doch entsprechend der Annahme der Natürlichkeit der Erkenntnis hatte die Stoa wie vermutlich auch ihr Publikum kein Argument für die Paradoxalität ihrer Rede. Das aufklärerische Credo etwa, dass man sich mit keiner Erkenntnis zufrieden geben solle, war ihr fremd. Die Stoa verstand die Paradoxalität ihrer Thesen daher als einen Makel, der sie zu Verteidigungen veranlasste. Zum Beispiel schrieb Epiktet (ca. 50-130 n.Chr.), der berühmte Vertreter der späten Stoa, im Kontext der These, dass nur der Weise frei sei, selbst wenn er gefoltert werde: „Und du wirst merken, daß die Philosophen […] vielleicht Dinge sagen, die der allgemeinen Meinung widersprechen (parádoxa), aber sicherlich nichts, was der Vernunft widerspricht (paráloga)“.103 Ganz anders dagegen schon am Beginn der Aufklärung: Der Theologe Buddeus lehnte in seiner Philosophiegeschichte die stoische Ethik in der Sache ab; doch fügte er dabei in einer für theoretischer Beobachtungen aufdeckt. Es könnte die Perspektive dieser Arbeit sehr gut ergänzen, soll hier aber nicht im Fokus stehen. Vgl. für dieses Paradoxie-Verständnis den Sammelband Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K.  Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/Main: 1991. Für eine entsprechende Kurzanalyse des aristotelischen Natur-Begriffs als logische Paradoxie vgl. etwa Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? S. 234f. In: Ders.: Die Moral der Gesellschaft. Hg. v. Detlef Horster. Frankfurt/ Main: 2008. S. 228-252. 103  Epiktet, Über die Freiheit, 4.1. §173. Zit. nach Willms, Lothar: Epiktets Diatribe Über die Freiheit (4.1.). Einleitung, Übersetzung, Kommentar. Bd. 2. Heidelberg: 2012. S. 1027. Vgl. den Kommentar zu der Stelle ebd. S. 980f.

Fehlende Legitimation für Paradoxalität bei Stoa und Cicero

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aufklärerische Auffassungen von antikonsensualer Rede sehr bezeichnenden Weise hinzu, dass deren Thesen gerade nicht deshalb zu verwerfen seien, weil sie parádoxa seien und einem seltsam erschienen, sondern nur deshalb, weil sie paráloga oder unvernünftige Dinge enthielten.104 3.4.3.2 Erkenntnismodell der konjekturalen Metaphysik Es ist weithin bekannt, dass die antike Rhetorik, wie sie von Aristoteles oder Cicero überliefert ist, nicht von der Wahrheit, sondern von der Wahrscheinlichkeit ausgeht; doch wie hinter der platonisch geprägten Philosophie die Annahme eines natürlichen Sinns für die Wahrheit steht, so steht hinter der aristotelisch-ciceronischen Rhetorik die Annahme eines natürlichen Sinns für das Glaubhafte (vgl. II, 5.3). Aus dieser Annahme folgt als rhetorische Norm für den Redner, dass es erklärungsbedürftig sei, einer allgemeinen Meinung zu widersprechen. Ciceros Epistemologie wird zumeist so beschrieben: Was sein natürliches Betätigungsfeld betrifft, vor allem die Ethik und das logische Denken, davon hat der Mensch im Allgemeinen zwar keine absolute Wahrheit, aber doch etwas Wahrähnliches (probabile, verisimile, consensus), einen Abglanz der Wahrheit.105 Nur das übrige (etwa die Naturphilosophie) geht weit über seinen Horizont. Wenn Cicero den heute erstaunlichen Satz formuliert: omnium consensus naturae vox,106 dann geht es ihm sowohl um eine modal abgeschwächte Form des Wissens von der Natur als auch um einen sachlich auf gemeinschaftliche Angelegenheiten eingegrenzten Gegenstandsbereich. Nicht in wissenschaftlichen Spezialgebieten, aber in den Fragen, die alle am öffentlichen Diskurs Beteiligten etwas angehen, ist Konsens möglich; und nur, worin man sich einig ist, das ist von der Natur her gegeben. Doch ist wirklich ein Konsens aller gemeint? Ähnlich wie im Fall des aristotelischen Endoxie-Gebots (vgl. II, 5.3) darf man Ciceros Qualifizierung konsentierten Wissens wohl nicht so 104  Vgl. Buddeus, Johann Franz: Analecta historiae philosophicae, Halle: 1706. S. 132f. – Den Verweis auf Buddeus hebt Zedler zustimmend hervor, vgl. [Artikel] Paradoxon. Sp. 781. In: [Zedler] Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 17311754. Bd. 26. Sp. 780f. 105  Vgl. Peetz, Siegbert: Ciceros Konzept des probabile. In: Philos. Jb. 112 (2005), 99-133; ferner im Kapitel „Wahrscheinlichkeit“ von Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/M.: 1998. S.  119-121; dass Ciceros Rhetorik auf Angemessenheit bedacht und am consensus omnium orientiert ist, vgl. Müller, Jan Dietrich: Decorum. Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance. Berlin: 2011. S. 96-99; ebenso Oehler: Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik. S. 109-111. 106  Cic.Tusc. I, §35. Vgl. Gigon im Nachwort zu den Tuskulanen, Cicero: Gespräche in Tusculum. A.a.O. S. 455.

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Ciceros Paradoxa Stoicorum

verstehen, dass damit jede opinio vulgi gerechtfertigt sei.107 Wie schon Ciceros eigene Argumentation zeigt, ist es vielmehr gerade der Urteilskraft des Redners aufgegeben, sich an glaubhafte Leute zu halten und Autoritäten zu identifizieren, da sich die Stimme der Natur (nach Ciceros Dafürhalten zum Beispiel die stoische Ethik) nicht direkt als verum mitteilt, sondern sich nur indirekt in der Kohärenz verschiedener Positionen108 als probabile erweist. Lässt sich Cicero also in gewissem Sinne von der Annahme leiten, dass sich die Wahrheit indirekt im Medium des Konsenses zeigt, dann ist die rhetorische Forderung, sich als Redner an den sensus communis zu halten, jedenfalls nicht nur eine pragmatische Instrumentalisierung angesehener Meinungen für das Wirkungsinteresse des Redners. Zumindest drückt sich im Rekurs auf diese Meinungen, der auch als technisches Mittel der Überzeugung fungiert oder fungieren soll, durchaus ein starkes Vertrauen in eine geradezu metaphysische Qualität des Gemeinsinns aus. In der Referenz auf eine metaphysische Wirklichkeit und die darin festgeschriebene Werteordnung, kurz: in der Bindung des Sprechers an die Wahrheit, liegt auch die Kontinuität zur sokratischen Praxis antikonsensualer Rede. Wie Platon, so setzte auch die aristotelischciceronische Rhetorik eine prinzipiell zugängliche Präsenz der Wirklichkeit voraus. Wenn diese Rhetorik sich der absoluten Wahrheit auch nur im Medium des qualifizierten Konsenses annähern zu können glaubte, so rechnete sie doch nicht mit jenem grundsätzlichen Mangel an Evidenz, der in der klassischen Sophistik „den pragmatischen Untergrund des consensus wieder sichtbar“109 machte. Mit der Referenz auf eine metaphysische Instanz war freilich überhaupt erst die Möglichkeit eines philosophischen Typs von antikonsensualer Rede gegeben, doch zugleich schränkte eben diese Referenz die Legitimität paradoxer Rede eben auf das ein, was ihr zufolge als die Natur der Dinge zu gelten hatte. Die Legitimität der Kritik an allgemeinen Meinungen war in beiden Fällen eine Folge des Wahrheitsbesitzes. Insoweit beide philosophische Praktiken antikonsensualer Rede bisher betrachtet wurden, zeigte sich allerdings auch ein großer Unterschied. So zitierte Sokrates wie jene Figur im platonischen Höhlengleichnis, die den Weg aus der Höhle heraus gefunden hatte, nicht systematisch die Autoritäten der Vergangenheit und der Gegenwart.110 Die Appellationsinstanz der Philosophie 107  Vgl. von Moos, Peter: Studien zum endoxon im Mittelalter II. S. 152-157. 108  Vgl. Peetz: Ciceros Konzept des probabile. S. 110f. 109  Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik. S. 109. 110  In Sokrates’ Selbstzitat, mit dem er seine gewöhnliche Redeweise wiedergibt, appelliert Sokrates allerdings auch an anerkannte Meinungen; nur prägt diese Art des Appells keineswegs seine Apologie so sehr wie Ciceros Paradoxa Stoicorum: „Wie, bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst

Fehlende Legitimation für Paradoxalität bei Stoa und Cicero

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und der in ihr verwendeten Begriffe, Thesen und Argumente war für ihn die Wirklichkeit in ihrer unmittelbaren Präsenz. Die allgemeinen Meinungen der Leute stellten für die platonische Philosophie eher einen Kontrastbegriff dar (alétheia/dóxa); in der aristotelisch-ciceronischen Rhetorik erhielten sie zumindest eine positive Bewertung im Begriffsfeld der angesehenen, weithin für glaubhaft befundenen Meinung (probabile, locus communis, sensus communis, éndoxa etc.), die hier gleichsam als Sprachrohr einer nicht direkt erkennbaren metaphysischen Instanz fungiert. Ein Blick in die römische Kaiserzeit soll nun dabei helfen, das Feld der antiken Praktiken antikonsensualer Rede weiter zu erkunden. Der kaiserzeitliche Modellfall paradoxer Rede, der hier mit Lukians Lob der Fliege untersucht wird, ist Teil einer betont ästhetischen Praxis antikonsensualer Rede. Als solcher steht er der klassisch-sophistischen Praxis antikonsensualer Rede näher als der soeben untersuchten philosophischen, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein.

du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; – für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken?“ Plat. apol. 29de. Zit. nach Platon: Sämtliche Werke. Bd. 1. S. 28 (Herv. v. CW).

Kapitel 4

Ästhetisches Vergnügen für Gebildete: Lukians Lob der Fliege 4.1

Einleitung

Die Vertreter der Kleingattung der paradoxen Lobrede verdichten sich mindestens zu drei verschiedenen Zeiten in auffälliger Weise: zuerst in der klassischen Sophistik (Kap. II), dann noch einmal in der Kultur der virtuosen Redekünstler der römischen Kaiserzeit, die man schon damals Zweite Sophistik nannte (Philostr. v. soph. 481), und schließlich ein drittes Mal im europäischen Humanismus der Renaissance (Kap. IV).1 Diese gattungsgeschichtliche Einheit, die durch den Vergleich einer Mehrzahl von Texten nach allgemeinen gattungstheoretischen Kriterien konstruiert wurde, erlaubt es oft auch schon, nach internen Differenzierungen, nach individuellen Ausprägungen und verschiedenen typischen Gebrauchs- oder Rezeptionsweisen dieser Gattung zu fragen. Anhand eines Enkomiums der Zweiten Sophistik, das zur Zeit der Renaissance kanonischen Status erhielt2 und heute als „[d]as berühmteste Beispiel eines paradoxen Lobs“3 betrachtet wird, nämlich Lukians Lob der Fliege, soll eben diese Untersuchung verschiedener Ausprägungen des paradoxen Lobs vertieft werden: Es gilt zu zeigen, dass und inwiefern es sich beim Fliegenlob um einen Text handelt, welcher die Gattung, der er angehört, auf eine eigene Weise funktionalisiert, die durchaus typisch für die Zweite Sophistik, aber eher untypisch sowohl für die klassische Sophistik als auch für den an Teile der antiken Gattungsgeschichte explizit anknüpfenden4 Renaissancehumanismus ist. 1  Vgl. zur antiken Geschichte des paradoxen Enkomiums Billerbeck, Margarethe/Zubler, Christian: Das Lob der Fliege von Lukian bis L.B. Alberti. Gattungsgeschichte, Texte, Übersetzungen und Kommentar. Bern: 2000. S.  6-26; ferner Pernot, Laurent: La rhétorique de L’éloge dans le monde greco-romain, 2 Bd. Paris: 1993, der feststellt, „que la vogue de l’éloge paradoxal est aussi grande sous la Seconde Sophistique que sous la Première“ (Bd. 1. S. 79). Und für eine Untersuchung der neuzeitlichen paradoxen Lobrede mit einem Überblick zur antiken Vorgeschichte vgl. Dandrey: L’éloge paradoxale. Paris: 1997; sowie das englischsprachige Gegenstück Tomarken, Annette H.: The Smile of Truth. Princeton: 1990. 2  Vgl. Schulz-Buschhaus: Vom Lob der Pest und vom Lob der Perfidie. S. 259. 3  Billerbeck/Zubler: Das Lob der Fliege. S. 15. 4  Vgl. für die Rezeption des Fliegenlobs in Mittelalter und Frührenaissance Billerbeck/Zubler: Das Lob der Fliege. S.  31-53. Erasmus von Rotterdam reiht es zusammen mit Lukians

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_005

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Lukians Lob der Fliege

Lukian partizipiert mit seinem Fliegenlob an einer gängigen Unterhaltungspraxis der kaiserzeitlichen Oberschicht.5 Die Formgebung seines Textes entspricht weitgehend den explizit auf literarästhetische Unterhaltung zielenden Gattungskonventionen seiner Zeit.6 Durch die spielerische Behandlung eines Allerweltsgegenstandes mit feierlichem Ernst, das heißt so, als ob es sich dabei um einen ethisch höchst bedeutsamen Gegenstand handeln würde, sollte ein primär ästhetisches Vergnügen beim Publikum hervorgerufen werden. Das innerhalb der hier analysierten Texte zu begründende Alleinstellungsmerkmal Lukians besteht also nicht oder nicht allein in der Wahl des Themas7 oder in der Schreibweise suspendierter Geltung. Schließlich findet sich die halbernste Vertiefung in das Lob trivialer Gegenstände zu allen Zeiten. Darüber hinaus genügt es nicht, die im Fliegenlob zum Ausdruck kommende Praxis antikonsensualer Rede Lukians als Zurschaustellung rhetorischer Könnerschaft zu definieren, denn in dem ein oder anderen Sinne kam es schon Gorgias und Cicero darauf an, ihr Können als Redner zu demonstrieren. Entscheidend ist, dass Lukian dieses Können auf eigene Weise konzeptionalisierte: Es sollte sich nicht in politisch-rechtlichen Kontexten als rein technische Überzeugungskraft (Gorgias) oder als eine mit der Natur übereinstimmende Redeweise bewähren (Cicero). Vielmehr sollte es als rhetorisch virtuose Überhöhung alltäglicher Gegenstände einen amüsanten Zeitvertreib für das interessierte Publikum bieten.

Parasiten-Dialog über die Kunst des Schmarotzens und anderen im Widmungsschreiben seines Lobs der Torheit in den Kanon der paradoxen Lobrede ein. Vgl. Erasmus: Werke. Bd. 2. S. 4f. 5  Wie schon Dandrey meinte, liegt darin der größte Unterschied zur paradoxen Lobrede der klassischen Sophistik: „Si la première époque de floraison du genre pseudo-encomiastique en avait défini surtout les enjeux intellectuels et philosophique, celle Lucien, qui est celle aussi de Fronton, nous offre l’exemple concret d’une écriture divertissante, qui se donne apparemment pour seule ambition d’amuser“. L’éloge paradoxale, S. 28. Dass die Paradoxie in der Zweiten Sophistik allgemein im Zusammenhang einer „attitude of learned relaxation“ zu sehen ist, macht Anderson in seinem Überblick plausibel, vgl. Anderson, Graham: The Second Sophistic. A cultural Phenomenon in the Roman Empire. London: 1993. S. 171-199, hier S. 173. 6  Vgl. den für das Folgende wesentlichen Kommentar von Billerbeck/Zubler: Das Lob der Fliege. S. 26-30, 74-115. 7  Vgl. zu einer thematischen Ordnung der paradoxen Lobrede Hauffen, Adolf: Zur Litteratur der ironischen Enkomien. In: Vierteljahresschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893). S. 161-185.

Einleitung

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Es gilt also die These zu begründen, dass Lukian, dessen satirische Seite8 die Rezeptionsgeschichte lange Zeit dominierte,9 zumindest die Kleingattung der paradoxen Lobrede sehr wahrscheinlich ohne satirisch-kritische Intentionen, sondern allein mit dem Ziel des erholsamen Genusses der Darstellung durchführte. Dabei werden im Folgenden zwei Schwerpunkte gesetzt. Über die Produktions- und Rezeptionssituation des Fliegenlobs ist nichts Konkretes bekannt. Dennoch sollte im Folgenden deutlich werden, dass sich dieser Text in seiner Abweichung vom regulären Lob auf bedeutsame Gegenstände, und das hieß vor allem: auf bedeutsame Personen, sowie in seiner damit wahrscheinlich verfolgten Zwecksetzung problemlos in rhetorische und soziokulturelle Normen einfügte, die im Feld der Zweiten Sophistik weithin als wichtig erachtet wurden.10 Auch und gerade die antikonsensuale Redeweise, die anhand des Fliegenlobs beschrieben werden soll, dürfte sich genau deshalb als eine soziale Praxis verstehen lassen, weil sie auf Werten und Vorstellungen gründete, die für all jene gleichermaßen Geltung besaßen, die sich an ihr beteiligten. Der zweite Fokus des Kapitels soll schließlich auf der neusophistischen Handlungsstrategie liegen und dem Umstand nachgehen, dass Lukian und seine sophistischen Kollegen, die in ihren Redeauftritten oft ein großes, eigens dafür versammeltes Publikum begeistern konnten, vor allem Unterhaltung bieten wollten. Wenn man dem Anschein glauben kann, dass sie keinen noch höheren Zweck des rhetorischen Handelns verfolgten, mit dem sie etwa an die bis zum Hellenismus noch metaphysisch aufgeladene Idee des gelungenen Lebens angeknüpft hätten, dann unterschiede sich der Fall Lukian in einer wichtigen Hinsicht von allen anderen hier besprochenen Praktiken antikonsensualer Rede, eben weil diese sonst stets durch eine mehr oder weniger restriktive Norm des guten Lebens legitimiert wurden. Steckte eine über die (originelle) Unterhaltung hinausgehende Handlungsstrategie 8   Vgl. zu Lukians menippeischen Satiren, die Komödie und philosophischen Dialog mischen, Koppenfels, Werner von: Der Andere Blick. Das Vermächtnis des Menippos in der europäischen Literatur. München: 2007. Bes. S. 12-29. 9   Möllendorff, Peter von: Verdichtungen des Alltags. Lukians Meergötter-Gespräche. S.  227. In: Wodianka,  S./Rieger,  D. (Hg.): Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Berlin: 2006. S. 227-245. 10  In der Lukianforschung gelten das Fliegenlob und andere rein rhetorische Schriften (wie Der Tyrannenmörder, Der enterbte Sohn) als typische Produkte der Zeit, die im Unterschied zu den Dialogen (wie Icaromenippus, Totengespräche) und Erzählungen (wie Wahre Geschichten) „auch von anderen Vertretern der Zweiten Sophistik [hätten] geschrieben werden können“ Nesselrath, Heinz-Günther: Lukian: Leben und Werk. S. 19. In: Ebner, Martin/Gzella, Holger/Nesselrath, Heinz-Günther/Ribbat, Ernst (Hg.): Lukian. Die Lügenfreunde oder: Der Ungläubige. Darmstadt: 2001. S. 11-31.

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Lukians Lob der Fliege

hinter der Entgrenzung des Gegenstandsbereichs der Lobrede? Am Ende des Kapitels wird dieser Umstand dahingehend zu diskutieren sein, ob nicht eine solche Praxis des wenngleich spielerischen Lobs von Allerweltsgegenständen einer emphatischen Anerkennung der Bedürfnisse des normalen Lebens11 und damit einem skeptischen Verzicht auf rigorose ethische Wertvorstellungen gleichkommt. 4.2

Politische, kulturelle und rhetorische Kontexte

4.2.1 Epideiktische Beredsamkeit in der Monarchie Dass man die rhetorische Paradoxie als eine soziale Praxis (antikonsensualer Rede) verstehen kann, zeigt sich unter anderem in ihrer relativen Abhängigkeit von den politischen Rahmenbedingungen, in denen man sie jeweils pflegt. Zwar gehört die paradoxe Lobrede als rhetorische Subgattung ebenso in das Bild von der klassischen wie in das von der Zweiten Sophistik. Es macht jedoch einen Unterschied, ob sie im Kontext der Demokratisierung griechischer Stadtstaaten oder im Kontext der Monarchie der römischen Kaiserzeit gebraucht wurde. Dieser Unterschied betrifft vor allem die mögliche Legitimation von antikonsensualer Rede. War die Masse der Bürger im imperialen Rom politisch ohnmächtig, weil sie zu weiten Teilen der politisch-rechtlichen Diskurse keinen Zugang hatte,12 dann konnte die Rhetorik schwerlich als eine Kunst der Gegenrede vor Gericht oder im Parlament gerechtfertigt werden. Damit diente auch die paradoxe Lobrede nicht der Zurschaustellung einer gerade auch in der politisch-rechtlichen Lebenswelt nützlichen Kunst der Gegenrede. Sie bewegte sich nun vielmehr im Rahmen einer Rhetorik, die sich auf das Feld der Fest- oder Schaurede fast vollkommen zurückgezogen hatte (epideiktische Beredsamkeit). Nicht die Gerichts- oder Parlamentsrede, sondern die Lobrede stand in der römischen Kaiserzeit vor allem als eine Form der Ehrung von Personen zu verschiedenen festlichen Anlässen in ihrer Blüte.13 Mag auch dort nicht selten die Verpflichtung bestanden haben, einer Person, 11  Wenn auch auf den praktischen Nutzen und nicht auf Unterhaltung bezogen, könnte im Verzicht auf ein theoretisches System und in der Hinwendung zur irreduziblen Vielfalt der Praxis eine Analogie zur klassischen Sophistik liegen. Vgl. Buchheim, Thomas: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg: 1986. 12  Vgl. Pease: Things without Honor. S. 30; zur Einschränkung juristischer und politischer Rhetorik mit weiteren Belegen Korenjak, Martin: Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit. München: 2000. S. 21. 13   Vgl. Matuschek, Stefan: Epideiktische Beredsamkeit. Sp.  1259-1263. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen: 1994. Sp. 1258-1267. Vgl. ausführlicher Buchheit, Vinzenz: Untersuchungen des Genos Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles. München: 1960. Bes. S. 27ff.

Politische, kulturelle und rhetorische Kontexte

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die wenig Anlass zum Lob gab, öffentlich zu schmeicheln, wurde die paradoxe Lobrede aufgrund ihrer ästhetischen Qualität des Ungewöhnlichen zugleich auch unabhängig von Ehrungen verschiedener Persönlichkeiten, nämlich zum vorrangigen Zweck der Unterhaltung dargeboten. Hierin bestand ein Großteil des Metiers der kaiserzeitlichen Sophisten, die sich auf die virtuose, unterhaltsame Darbietung ihrer rhetorischen Bildung spezialisiert hatten.14 4.2.2 Neusophistische Paradoxien im Feld kaiserzeitlicher Unterhaltung Ist der konkrete Kontext jener paradoxen Lobrede, die hier genauer analysiert werden soll, auch nicht mehr zu rekonstruieren, so lässt sich zumindest annehmen, dass im Zusammenhang der Rhetorik der Zweiten Sophistik der Unterhaltungszweck dominierte.15 Insofern fügen sie sich in das weite Feld der kaiserzeitlichen Unterhaltung: Man denke etwa an „Dramen, Mimen, Pantomimen, Pferderennen, Gladiatorenspiele, Tierhetzen, Gesangsdarbietungen, Flöten- und Kitharakonzerte“.16 Allerdings waren die Sophisten in besonderem Maße der griechischen Bildung verbunden, die seit den Zeiten Ciceros auch in Rom mittlerweile weithin verbreitet war.17 Diese Bildung stützte sich ohne jede antirömische Nebenbedeutung auf Sprache, Philosophie, Rhetorik und Dichtung des klassisch-hellenistischen Griechenlands. Im Sinne der Nachahmung der alten Griechen schrieben sie ihre Reden nicht einmal im damaligen Griechisch, sondern meist im Idiom der klassischen Schriftsteller Athens. Als Angehörige der Oberschicht entschlossen sich die Sophisten, über den an alle Individuen ihrer Klasse gestellten Bildungsanspruch weit hinauszugehen und aus ihrer meisterhaften Beherrschung der attizistischen Sprache und der kunstmäßigen Beredsamkeit eine Profession zu machen.18 14  Vgl. Korenjak: Publikum und Redner. S. 12f., S. 22-24. Für eine knappe Forschungsübersicht zum Begriff „Zweite Sophistik“ vgl. Whitmarsh, Tom: The Second Sophistic. Cambridge: 2005. S. 4-10. 15  Freilich sind subversive Nebenzwecke dabei nicht ausgeschlossen. Vgl. etwa die Interpretation der Troja-Rede von Dion Chrysostomos bei Kindstrand, Jan Frederik: Homer in der Zweiten Sophistik. Uppsala: 1973. S. 141-163, der zusammenfasst, „dass wir in der 11. Rede eine philosophisch-literaturkritische Schrift mit einem ethischen und politischen Zweck haben, die eine sehr unterhaltende Form hat“. S.  162. Ethischer Zweck sei das allegorische ‚Lesen-Können‘, da Homer nicht nur die Wahrheit sage, und der politische Zweck sei in der Rehabilitation Trojas als des mythischen Vorläufers Roms zu sehen. – Von einer regelrechten Werbung für die Kunst der Gegenrede kann man hier wohl nicht ausgehen. 16  Korenjak: Publikum und Redner. S. 43. 17  Vgl. dazu differenzierter Whitmarsh, Tim: Greek Literature and The Roman Empire. The Politics of Imitation. Oxford: 2004. S. 1-89. 18  Schmitz, Thomas  A.: Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit. München: 1997. S. 55. Anderson

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Die Sophisten galten also durch ihre virtuose Darbietung sprachlichrhetorischer Grundfertigkeiten als Spezialisten für gebildete Unterhaltung. Dadurch richteten sie sich vor allem an gebildete Zuhörer, schlossen aber auch Zuhörer unterer Schichten nicht ganz aus. Alle Angehörigen der Oberschicht durchliefen selbstverständlich eine griechische Sozialisation. Darüber hinaus zeugten aber weite Teile der römischen Theater, Tänze, Malerei, Mosaike, Münzen und Statuen von klassisch-griechischer Bildung: Sie lag gleichsam in der Luft.19 Stellte auch die alte Sophistik in gewisser Weise sprachlich-rhetorische Bildung zur Schau, so war diese strategisch und technisch auf einen möglichen Ernstfall in der Lebenswelt der griechischen Polis bezogen (etwa den Fall der üblen Nachrede). Nur weil die Auftritte der neuen Sophisten nun jedoch in keiner vergleichbaren Weise die Kunst der Verteidigung und der öffentlichen Debatte vorführten und bewarben, heißt das nicht, dass es ihnen in dem, was sie taten, überhaupt nicht ernst gewesen wäre. Noch mehr als in der klassischen Sophistik war der rednerische Auftritt gewissermaßen selbst der Ernstfall, auf den es den neuen Sophisten ankam.20 Denn nicht nur hatten sie sich vor ihren gleichfalls professionellen Kollegen zu beweisen, sondern auch vor relativ großen Mengen an sonstigen Zuhörern. Als Kunstredner konkurrierten sie miteinander um die Aufmerksamkeit und vor allem um die Anerkennung eines erstaunlich großen Publikums. Selbst mit Blick auf die Publikumserfolge der alten Sophisten, die freilich schon bevölkerungsmäßig in einem viel kleineren Umfeld auftraten, attestiert man heute manchen der Auftritte der neuen Sophisten historisch singuläre Zuschauerzahlen.21 Es muss ein

fasst dies prägnant zusammen: „The literature of the past was the lifeblood of the sophists“, vgl. ders.: The Second Sophistic. S. 68. 19  Vgl. Schmitz: Bildung und Macht. S. 165-167. 20  Vgl. zur vielfach thematisierten Angst der Sophisten davor, sich lächerlich zu machen, Korenjak: Publikum und Redner, S. 85f., 103, 196-198. Schmitz formuliert, dass vor allem in den Stegreifreden die „Stunde der Wahrheit“ gelegen habe, die den Redner gleich einem Prüfling im Examen als kompetent erweisen musste, Schmitz: Bildung und Macht. S. 158. 21  Korenjak nimmt eine durchschnittliche Publikumsgröße zwischen 50 und 500 Personen an (S. 45) und stellt fest, „daß ein Sprechen, welches primär der Darstellung der Virtuosität des Vortragenden bzw. der Unterhaltung eines eigens versammelten Publikums dient, um die Zeitenwende und in den folgenden Jahrhunderten eine Breitenwirkung gewinnt, die zuvor nicht vorhanden war […]: Von nun an prägt die Schaurede bis zum Ende der Antike das Erscheinungsbild der Antike entscheidend mit und wird für den Habitus eines ganzen Berufsstandes, der Sophisten, konstitutiv“. Korenjak: Publikum und Redner. S. 21. (Herv. v. CW).

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regelrechter „Starkult“22 um herausragende Sophisten geherrscht und ein entsprechend großer Druck auf den Rednern gelastet haben. Glaubt man Lukians eigenen Worten, lässt sich sagen, dass er es regelrecht anstrebte, Fangemeinden um sich zu scharen (Harmonides, Herodot oder Aetion), und dass er dieses Phänomen auch aus eigener Erfahrung (Zeuxis und Antiochus, §1) kannte. Um diese Virtuosen-Rolle der neuen Sophisten prägnant zu beschreiben, bemüht man heute aufgrund des enormen Zuspruchs häufig den Vergleich mit der modernen Gesangsdarbietung. Anderson beschreibt den Sophisten etwa als eine „declamatory prima donna“23. Dieser allgemeine Rahmen des gebildeten, aber doch amüsierlichen Zeitvertreibs macht es zumindest wahrscheinlich, dass Unterhaltung auch die dominierende Funktion der paradoxen Lobrede gewesen sein könnte. Zudem erklärt eine solche Funktionalisierung vielleicht auch, weshalb die paradoxe Lobrede, wie die folgende Liste zeigen soll,24 ein „bevorzugtes Kind der Zweiten Sophistik“25 war. Dion von Prusa (ca. 40-112) Lob des Haars (vgl. Synesios von Kyrene: Lob der Kahlheit, §3) Lob des Papageis (erwähnt von Philostr. v. soph. 487) Lob der Mücke (erwähnt von Synes. Dion, 244) Favorinus von Arelate (ca. 80-150) Lob des Thersites (erwähnt von Gell. 17, 12, §2) Lob des Viertagefiebers (erwähnt von Gell. 17, 12, §2) Marcus Cornelius Fronto (100-176) Lob auf Rauch und Staub (Front. Ep. S. 44 §7 Haines) Lob der Nachlässigkeit (Front. Ep. S. 45-48 §§1-5 Haines)

22  Vgl. ebd. S. 96-100. 23  Anderson: The Second Sophistic. S. 56. 24  Vgl. für ausführlichere Übersichten Pease, Arthur Stanley: Things without Honor. In: Classical Philology. (21) 1926. S.  27-42; Tomarken, Annette  H.: The Smile of Truth. The French Satirical Eulogy and Its Antecedents. Princeton: 1990. S.  3-27; Dandrey, Patrick: L’éloge paradoxal: De Gorgias à Molière. Paris: 1997. S.  20-35; Pernot: La rhétorique de L’éloge dans le monde gréco-romain. S. 532-535; und für den weiteren Kontext des ‚ernsten Scherzes‘ in der Kaiserzeit vgl. Anderson, Graham: The Second Sophistic. A cultural Phenomenon in the Roman Empire. London: 1993. S. 171-199. 25  Billerbeck/Zubler: Das Lob der Fliege von Lukian bis L.B. Alberti. S. 11.

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Lukian von Samosata (ca. 120-180) Lob der Fliege mit anderen Gattungen vermischt: Der Parasit, Hippias oder das Bad, Tragopodagra, Phalaris I und Phalaris II u.a. Synesios von Kyrene (ca. 370-412) Lob der Kahlheit26 Libanios (314-ca. 393) Lob des Thersites (Lib. Enc. 4)27 4.2.3 Paradoxe Rede als Medium der Solidarisierung Wenn die Schaurede, und darunter auch die paradoxe Lobrede, eine ungeahnte Breitenwirkung hatte, wenn die Forschung zudem von einem „Solidarisierungseffekt“28 dieser Reden spricht, da sich das Publikum beim Erkennen von gebildeten Anspielungen gemeinsam mit dem Redner als gebildet gegen die Ungebildeten habe abgrenzen können, in welchem Sinne kann man dann überhaupt noch von paradoxen Schaureden sprechen? Oder allgemeiner: Worin genau lag für die neuen Sophisten und ihr Publikum der Reiz gerade dieser Subgattung? Einerseits legte das Publikum eine ausgeprägte Rezeptionshaltung an den Tag, etwas Neues hören zu wollen, wie das u.a. in Lukians Zeuxis und Antiochus deutlich wird.29 Andererseits war jede paradoxe Lobrede offenbar so ganz neu und unerhört nicht, da sie unabhängig davon, ob der jeweilige paradoxe Redegegenstand eher bekannt oder unbekannt war, zunächst einmal eine Subgattung in einer etablierten Disziplin bespielte. Nicht um des Neuerns willen wurde erneuert. Schon den berühmten alten Griechen

26  Vgl. für eine Edition mit deutscher Übersetzung Synesios von Kyrene: Lob der Kahlheit. Hg. v. Werner Golder. Würzburg: 2007. 27  Vgl. Libanii Opera. Bd. 8. Hg. v. Richard Foerster. Hildesheim: 1963. S. 243-251. 28  Schmitz: Bildung und Macht. S. 175. 29  Dort erzählt Lukian, wie er nach einem seiner Vorträge gewissermaßen von Fans umringt worden sei, die gerade die Neuartigkeit seiner Werke – welche genau, wissen wir nicht – bewundert hätten (§1). Allerdings ist es bezeichnend für die Relativität dieser Aufwertung des Neuen, dass Lukian entgegnet, er wolle nicht nur für das Innovative geschätzt sein, sondern für das harmonische Maß der Komposition und die sprachliche Angemessenheit in der Gestaltung (§2). Vgl. eine ähnliche Kritik an bloßer literarischer Neuheit Literarischer Prometheus, §3; sowie an grassierender Sensationslust unter Lukians Zeitgenossen allgemein vgl. zum Beispiel Das Schiff.

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konnte ja in einer neusophistischen Rede unmöglich der Respekt völlig verwehrt werden.30 Hier kommt wieder der Begriff der Praxis antikonsensualer Rede ins Spiel. Er soll anzeigen, dass die Paradoxalität einer einzelnen sophistischen Schaurede sich innerhalb bestimmter soziokultureller und rhetorischer Konventionen bewegt, welche von dieser Paradoxalität gerade nicht verletzt werden. Gerade die neusophistischen Paradoxien fügten sich durch ihren wie auch immer kreativ angewandten, aber doch deutlich hervorstechenden Klassizisimus sowie durch ihre neue, ästhetische Funktion in einen normativen Rahmen ein, durch den sie überhaupt erst dem gemeinsamen Handlungsfeld der Sophisten und ihres Publikums zugerechnet werden konnten. Neusophistische Praxis antikonsensualer Rede, das meint also ein bestimmtes Profil des Einsatzes und der Gestaltung von antikonsensualer Rede. Weit davon entfernt, sich jeder Form von Konsentierbarkeit zu entziehen, gründet diese Praxis vielmehr auf dem Einverständnis der Sophisten und ihrer Zuhörer darüber, woran die rhetorische Könnerschaft eines Sophisten auf dem Gebiet der Paradoxie zu messen sei. Unabhängig von dieser relativen inneren Einigkeit konnte natürlich die angebliche Könnerschaft der Sophisten ihrerseits den Widerspruch Dritter erregen und in diesem Sinne als eine paradoxe Praxis erlebt werden.31 Doch zunächst einmal soll der Begriff der neusophistischen Praxis antikonsensualer Rede daran erinnern, dass sich die Originalität der Sophisten und die Novitätserwartungen ihres Publikums im Rahmen geteilter Erwartungen bewegten, die im Idealfall einer paradoxen Schaurede durchaus nicht gesprengt werden durften. Auch das, was man von der klassisch-sophistischen oder von der sokratisch-ciceronischen Praxis antikonsensualer Rede zu erwarten hatte, hatte man sicherlich nach Bekanntschaft mit den jeweiligen Akteuren ungefähr umreißen und nachahmen (oder kritisieren) können; nur die Züge im jeweiligen Spiel, die konkreten Anwendungsfälle der jeweiligen Art und Weise paradoxer Umdeutung blieben offen (Helena als lobenswürdige mythologische Figur; Crassus der Reiche als Sklave etc.). Besonders deutlich wird der Institutionalisierungsgrad von Praktiken antikonsensualer Rede an der neusophistischen Rhetorik. Denn diese entwickelte, wenn man so will, regelrecht Routinen des überraschenden und abwechslungsreichen Redens, 30   „Audiences demand innovation as well as familiarity. In the competetive sphere of sophistry, carefully measured doses of exoticism (when fused with a respect for traditional values) could prove highly successful“. Whitmarsh, Tim: The Second Sophistic. Cambridge: 2005. S. 35. 31  Lukian selbst wandte sich gegen die Auswüchse der sophistischen Redekunst (zum Beispiel Die Rednerschule), scheint aber genau damit eher ein authentisches Bild sophistischer Könnerschaft verteidigt, als die Sophistik selbst angeklagt zu haben.

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um ihren Unterhaltungszweck zu erfüllen. Dies wird unter anderem deutlich, wenn man anhand kaiserzeitlicher Gattungstypologien untersucht, was für sie rhetorische Könnerschaft bedeutete. 4.3

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4.3.1 Zur kaiserzeitlichen Gattungstypologie der Lobrede Es sei vorweg geschickt, dass die Sophisten es auf das Paradoxe im weiten Sinne als auf etwas Erheiterndes und Erstaunliches absahen.32 Das gilt für die sogenannte Paradoxographie, also die Sammlung unglaublicher Geschichten und Ereignisse;33 und ebenso für das Selbstverständnis Lukians, insofern er als Verfasser wunderlicher Texte, die durch ihre hybride Formgebung Staunen erregen, hervortreten wollte.34 Was die Theorien der Lobrede anbetrifft, so fällt auf, dass es gerade im kaiserzeitlichen Rom zur rhetorischen Könnerschaft zu

32  Vgl. für den weiteren Kontext des ‚ernsten Scherzes‘ in der Zweiten Sophistik Anderson, Graham: The Second Sophistic. A cultural Phenomenon in the Roman Empire. London: 1993. S. 171-199. 33  Paradoxografie ist ein im 19. Jh. geprägter Begriff für eine aus dem Hellenismus stammende Art des Exzerpts, die Berichte über erstaunliche Phänomene aus naturwissenschaftlichen, ethnographischen u.a. Schriften versammelte. Vgl. Schepens, Guido: Ancient Paradoxography: Origin, Evolution, Production and Reception. Part  I.  The  Hellenistic Period. In: Pecere, Oronzo/Stramaglia, Antonio: La letteratura di consumo nel mondo greco-latino. Cassino: 1996. S.  375-409; sowie Delcroix, Kris: Ancient Paradoxography: Origin, Evolution, Production and Reception. Part  II. The Roman Period. In: ebd. S. 410-452. 34  Vgl. Möllendorf, Peter von: Puzzling Beauty. Zur ästhetischen Konstruktion von Paideia in Lukians ‚Bilder‘-Dialogen. In: Millenium 1 (2004). S.  1-24; sowie Popescu, Valentina: Lucian’s Paradoxa: Fiction, Aesthetics, and Identity. Diss. Cincinnati: 2009. Sie macht deutlich, dass Lukian mit dem Begriff der Paradoxie überwiegend nicht auf Aussagen, sondern auf die Neuartigkeit einer Ansicht (zum Beispiel: Totengespräche 13, §1; Icaromenippus, §19), auf paradoxografische Wunderlichkeiten im engen Sinne (zum Beispiel: Wahre Geschichten §18, Das Schiff §44) oder auf hybride Phänome (zum Beispiel: Der Tanz, §§67, 73) referenziert. Da Lukians satirische Schriften selbst solche hybriden Phänome sind und wie andere seiner Schriften Staunen erregen sollen (vgl. Harmonides), kennzeichnet Lukian mit dem Wort ‚parádoxos‘ auch einige seiner eigenen Schriften (zum Beispiel in Zeuxis und Antiochus, §1; Der Doppelt Angeklagte, §33): Es sind wunderliche Phänomene. Insofern also Lukian am Paradoxen als einem ästhetischen oder allgemein gegenständlichen Phänomen (und nicht als einer streitbaren Aussage) interessiert ist, würde die Begriffsgeschichte der Paradoxie im Fall Lukians vermutlich die hier verfolgte These einer Ästhetisierung der rhetorischen Paradoxie für Zwecke der Unterhaltung erhärten und nuancieren können.

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gehören schien, nicht nur Personen, sondern alle möglichen anderen Redegegenstände loben zu können. Ein Blick in die Theorie der Lobrede zeigt, dass diese zwar typischerweise auf Personen als ethische und rationale Gegenstände bezogen ist, dass sie aber schon früh auch mit anderen belebten und mit unbelebten Gegenständen rechnete. Schon Aristoteles erwähnte im ersten Abschnitt seines Kapitels zur Lobrede, „daß man häufig sowohl ernsthaft als auch ohne Ernst nicht nur einen Menschen oder einen Gott, sondern auch andere [sic!] leblose Dinge und die Art anderer Lebewesen lobt“35, beschränkte sich dann aber freilich, gemäß der ethischen Fundierung seiner Rhetorik, auf die Behandlung des Personenlobs. Quintilian scheint dann, vielleicht im Zuge der geografisch erweiterten Lebenswelt des imperialen Roms, zuerst das Lob auf Städte, Gebäude und Plätze vorgeschrieben zu haben.36 Kaiserzeitliche Schulbücher und Traktate zur Lobrede standen demgegenüber bereits ganz im Zeichen der Universalisierung des enkomiastischen Gegenstandsbereichs. So unterteilt Menander Rhetor am Beginn seines ersten Fragments, das er wahrscheinlich unter Diokletian, also gegen Ende des 3. Jh. n.Chr. verfasste, die Gegenstände des Lobs ausgehend von der großzügigen Unterscheidung zwischen unbelebten und belebten Gegenständen.37 Die belebten unterteilt er dann in Objekte wie Städte und Länder einerseits und in Lebewesen andererseits; Lebewesen unterscheidet er weiter in rationale (Mensch) und nicht-rationale (Tiere), um diese (den Menschen übergehend) wiederum in Wasser- und Landtiere und die Landtiere wieder in fliegende und gehende zu unterscheiden. Das ist von rhetoriktheoretischer Seite eine Affirmation des entgrenzten Lobs, und Lukians Fliege wäre darin alles andere als etwas Singuläres, sondern wohl einfach ein Vertreter der Subgattung des Lobs auf geflügelte Tiere. Leider erläutert das Fragment von denjenigen Gegenständen, die keine Personen sind, nachher nur das Lob von Ländern und, sehr ausführlich, von Städten, sowie von Häfen, Buchten und Zitadellen. Im Städtelob geht es im Kern um die Vorteile und Leistungen einer Bürgerschaft38; 35  Arist. Rhet. I, 9, 1. Zit. nach Aristoteles: Rhetorik. S. 47. 36  Vgl. Quint. inst. 3, 7, 26-28. 37  Menander Rhetor, Treatise I, Diaeresis ton epideiktikon, 331. Zit. nach Russell,  D.  A./ Wilson N. G. (Hg.): Menander Rhetor. Oxford: 1981. 38  Vgl. die Ausführungen Menanders ebd. 346.26-351.19 sowie 353.4-367.8, die mit dem aufschlussreichen Satz beginnen: „Praises of cities, then, are combinations of the headings discussed in connection with countries and those which relate to individuals. Thus we should select ‚position‘ from the topics relating to countries, and ‚origins, actions, accomplishments‘ from those relating to individuals“ (Übersetzung von Russell/ Wilson,  S.  33). Als anschauliches Beispiel vgl. Klein, Richard (Hg.): Die Romrede des Aelius Aristides. Übers. v. dems. Darmstadt: 1983.

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Lobreden auf Bauwerke wie Häfen und Zitadellen sind hier Untergattungen des Städtelobs39 und im Lob von Ländern und Landschaften geht es um die Bedingungen, mit denen eine Bevölkerung gesegnet ist oder unter denen sie sich glänzend bewährt.40 Das gegen 400 n.Chr. zu datierende HermogenesSchulbuch schließlich widmet sich zunächst allgemeinen oder individuellen Subjekten, die es nach den Topoi des Personenlobs behandelt. Aber ebenso fügt es auch Dinge wie „Gerechtigkeit“ oder „Jagd“ an, ferner Tiere, Pflanzen, Berge und Flüsse. Zum Beispiel sollen Tiere – in Analogie zum Menschen – je nach Geburtsort, Verbindung zu Göttern, Nahrung, geistigen und körperlichen Eigenschaften, Nützlichkeit und Lebenslänge gelobt werden.41 4.3.1.1

Endoxes, amphidoxes und paradoxes/adoxes Lob bei Menander Rhetor Kaiserzeitliche Theorien der epideiktischen Beredsamkeit sprechen also mit großer Unbefangenheit von einer Vielfalt an möglichen Gegenständen des Lobs, die über den prototypischen Gegenstand, Menschen und Götter, weit hinausgingen. Mit der gleichen lakonischen Selbstverständlichkeit, mit der sich Menander Rhetor zum großen Umfang möglicher Gegenstände verhält, verhält er sich auch zu ihrer Bewertung: Offenbar muss der Redner Gegenstände aller Art auch dann, wenn sie nicht lobenswert scheinen, als lobenswert darstellen können. So überträgt Menander in seinem Traktat die aus der hellenistischen Gerichtsrhetorik stammende Lehre von den genera causarum auf die epideiktische Rede, wobei er offenbar von den endoxen, amphidoxen und paradoxen bzw. adoxen Arten des Lobs selbst keine bevorzugt.42 Menander wendet diese Einteilung stets nur beiläufig und teils unvollständig in drei 39  Vgl. Menander 351.20-353.3. 40  Vgl. Menander 344.15-346.8. 41  Vgl. Billerbeck/Zubler: Das Lob der Fliege. S. 27f. 42  Allerdings unterscheidet Menander entgegen der Darstellung Lausbergs u.a. mit diesen vier Begriffen wahrscheinlich nur drei Fälle. Ich beziehe mich hier auf die Edition von Russell/Wilson, die den bei Menander 346.9ff. genannten adoxen Fall (zum Beispiel Dämonen und manifestes Böses) als christlichen Zusatz ausweisen und ansonsten adox und paradox bei Menander gleichbedeutend sein lassen. Vgl. Dies.: Menander Rhetor. S. 248. – Lausberg, der die Edition von Russell/Wilson nicht kennen konnte, unterscheidet in Anlehnung an die Menander-Passage adoxe und paradoxe Fälle des Lobs, wobei adoxe Fälle ernstliche Übel und paradoxe Fälle Gegenstände beträfen, die ein spielerisches Lob vertragen. Vgl. Lausberg: Handbuch der Rhetorik. §241; seine Aufteilung in vier Fälle wird häufig übernommen, vgl. Probst, Peter: Paradox. Sp. 83; sowie Neumeyer, Martina: Paradoxe, das. Sp. 517. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Sp. 516-524. Für eine ausführliche, Russell/Wilson folgende Widerlegung der von Lausberg u.a. vertretenen Ansicht, Menander hätte paradoxe und adoxe Fälle des Lobs systematisch getrennt und also vier genera causarum unterschieden, vgl. van der Poel, Marc: Paradoxon et adoxon chez Ménandre le Rhéteur et chez les humanistes du début du XVIe siècle. Bes. S. 203-213.

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Zusammenhängen an, die hier tabellarisch zusammengefasst sei: „Lobrede auf Länder“, „theoretischer Exkurs zu den genera causarum“ und „Unterscheidung kriegerischer Handlungen“: Fallbezeichnungen an verschiedenen Stellen seines Traktats

Zur Lobrede auf Länder 43

Theoretische Parenthese zu den genera causarum und Beispiele44

Unterscheidung kriegerischer Handlungen45

Endoxer Fall



Amphidoxer Fall



Lob von Göttern (Hymnen) –

Paradoxer/adoxer Fall

Lob unfruchtbarer Alkidamas’ Lob des Länder („paradox“) Todes und Peregrinus’ Proteus Lob der Armut („paradox“), Dämonen und manifestes Übel („adox“), nach Russell/Wilson christlicher Zusatz

Schlacht bei Marathon Schlacht bei den Thermopylen oder Belagerung von Melos durch die Athener Spartanische Besetzung der thebanischen Stadtburg Kadmeia („adox“)

(Angabe in Klammern gibt den Wortlaut im Text wieder.)

In: Landheer, Ronald/Smith, Paul J. (Hg.): Le paradoxe en linguistique et en littérature. Genève: 1996. S. 199-220. 43  Vgl. Menander Rhetor. 344.15-346.8; der dort untersuchte Fall des Lobs von unfruchtbaren Ländern gibt Anlass zu dem Kurzreferat über die genera causarum und wird (erst) darin auch als paradoxer Fall bezeichnet: „I have inserted this proposition [genera causarum, CW] here, because I have indicated how barren, sterile, waterless or sandy countries should be praised. It is sufficient for the purposes of encomium that it is possible to discover a defence for such ‚paradoxical‘ subjects“ – 346.19-23. (Übersetzung Russell/ Wilson S. 33.) 44  Vgl. Menander Rhetor. 346.9-19. Im Text wird neben einem endoxen, amphidoxen und paradoxen Fall auch ein adoxer Fall genannt und mit dem Beispiel des Lobs von Dämonen und manifestem Bösen illustriert. Vgl. 346, 10-13. – Russell/Wilson sehen darin einen wahrscheinlich christlichen Zusatz. Vgl. ebd. S. 248. 45  Vgl. Menander Rhetor. 364.27-365.4.

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Ob man nun die Götter preisen oder – ein Standardthema der neuen Sophisten – über die griechischen Heldentaten bei Marathon deklamieren,46 oder ob man irgendein armes Wüstenvolk oder gar die Besetzung Thebens, also den Beginn der spartanischen Hegemonie über Griechenland, loben wollte – Menander sah das jeweilige Bedürfnis offenbar als legitim an und war in dieser Indifferenz, was nun die richtige Ansicht sei, den klassischen Sophisten nicht unähnlich. Vielmehr erteilt er noch Ratschläge wie die, dass man zur Ehre eines Wüstenvolkes vorbringen könne, das Leben in der Wüste verhelfe zu Tugendhaftigkeit (Philosophie und Ausdauer).47 Leider geben seine sporadischen Ausführungen zum paradoxen Lob keinen Aufschluss darüber, ob er hierunter auch so etwas wie Lukians Fliegenlob zählte, und vor allem darüber, worin er, jenseits der schieren Könnerschaft, den Reiz einer solchen Rede gesehen haben mag. Immerhin lässt sich festhalten, dass sein Traktat, der „much of the practice of the great age of the Second Sophistic“48 abdeckt, offenbar keine ethischen Einschränkungen formuliert, weder was den Umfang, noch was die übliche Bewertung der Gegenstände anbelangt. 4.3.1.2 Verstoß gegen die Konvention des Personenlobs Worin nun der Reiz eines Fliegenlobs in gattungstypologischer Hinsicht gelegen haben könnte, kann vielleicht der Gedanke etwas erhellen, dass der Normalfall der Lobrede das Personenlob ist,49 also das Lob verstorbener oder lebender Menschen, mythologischer Figuren oder einzelner Gottheiten (Hymnen). Das spiegelt sich in den klassischen Topoi des Lobwürdigen, namentlich der Herkunft, Familie, Geburt, Erziehung, Leistungen und Tugenden einer Person wider50 und ist in Hinblick auf die Standardsituation des Lobens, das Fest, nur natürlich. Lobt man nun aber Töpfe und Spielsteine, Salz, Rauch und Staub, Haare und eben auch die Fliege, dann scheint es nahezuliegen, solches Lob dem bei Quintilian genannten genus humile zuzurechnen (Quint. inst. IV, 1, 40f.), um es von jenem auf Klytaimnestra, Busiris und vielleicht auch dem Lob auf den Tod oder die Armut zu unterscheiden. Doch auch das genus humile ist vom mehr oder weniger ethisch-rationalen Handeln des Menschen her gedacht, also zunächst an Personen und ihre Angelegenheiten geknüpft. Das genus causae humile der Lobrede dürfte daher ebenfalls für Personen 46  Vgl. zu diesem Stereotyp Philostr. v. soph. 595; sowie Lukians Kritik daran in Die Rednerschule, §18. 47  Vgl. Menander Rhetor. 346.7f. 48  Russell/Wilson: Introduction. S. xi. In: Dies.: Menander Rhetor. Oxford: 1981. xi-xlvi. 49  Für die Fährte danke ich Prof. Peter von Möllendorff (Gießen). 50  Vgl. zu den Topoi des Personenlobs der römisch-griechischen Antike Pernot: La rhétorique de L’éloge. S. 134-178.

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oder Handlungen in Frage gekommen sein, allerdings für solche, die einen niedrigen sozialen Status hatten; man denke etwa an die von Dion gelobte Priestertochter Chryseis aus Homers Ilias, deren Belange in der epischen Welt der Helden und Götter als zweitrangig galten, während der Zorn Achills, der sie entführt hatte, im Zentrum stand.51 Was macht ein Lob der Fliege also paradox? Man wird hier zunächst an die Fliege als kleinen, hartnäckigen Quälgeist denken, wie er der Alltagserfahrung erscheint und sich zum Beispiel auch in antiken Fabeln wiederfindet, in denen die Fliege als gieriges und überhebliches Tierchen auftritt.52 Doch wird man zugleich den Eindruck haben, dass schon an der Geste eines Fliegenlobs etwas nicht stimmt und ein Fliegentadel53 wohl auch nicht gerade das sein dürfte, was als Konsens, als eigentlich angemessen betrachtet wurde. Wahrscheinlich lag der Reiz des Lobs der Fliege stattdessen darin, dass es das Regelwissen verletzte, dass Personen der prototypische Gegenstand von Lob- bzw. Tadelreden sind, also Subjekte, die sich unter ethischen Gesichtspunkten beurteilen lassen. Wenn also Lukians Fliegenlob schon allein dadurch auffiel, dass es vom Normalfall des Personenlobs abwich, dann war der Konsens, dem es widersprach, nicht inhaltlicher, sondern generischer Art. Bereits bei dem Lob auf gewöhnlichere Bauten wie Bäder und Säle, die zum Beispiel bei Menander Rhetor, anders als Häfen und Zitadellen, nicht eigens diskutiert werden, zeichnet sich eine Grenze ab, jenseits derer jedes Lob zu einem Sonderfall werden muss. Denn jedes Lob, das weder direkt noch indirekt auf Personen oder Gruppen abzielt, gibt seine ethische Fundierung in der Verantwortlichkeit von Personen auf. Die Schwelle, an der diese Fundierung noch gewahrt, bereits strapaziert oder schon verlassen ist, ist natürlich eine Zone des Übergangs. Das Städtelob mag sie noch wahren, das auf einzelne Bäder oder Säle, auf Kulturtechniken (Jagd) und Künste (Tanz) sie schon reizvoll ausdehnen und das Lob auf Tiere und Pflanzen sie vollends verlassen. Gibt man die generische Personenbezogenheit des Lobs und den entsprechenden Gattungsverstoß des Tier-, Pflanzen- und Dinglobs zu, so muss man zugleich den Eindruck gewinnen, dass solcher Verstoß zur Zeit Lukians bei weitem keine Einzelleistung ist. Er hat vielmehr, wie die eingangs erwähnten 51  Dion Chrysostomos hob Chryseis mit Bezug auf ihre Einfachheit u.a. von Kassandra ab. Vgl. Ders., Chryseis. 52  Vgl. etwa Phaedrus III, 6 (Musca et mula) und IV, 25 (Formica et musca). – Für weitere Nachweise zur antiken Ansicht der Fliege als dreist, beharrlich, zudringlich, frech, ungeladener Gast, faul und schnell, s. Beavis, Ian  C.: Insects and other invertibrates in Classical Antiquity. Exeter: 1988. S. 222f. 53  Einen solchen hat – unter Bezug auf Lukian – Eugenios von Palermo (1130-1203) verfasst. Vgl. Billerbeck/Zubler: Das Lob der Fliege. S. 39-41.

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Beispiele sowie die nachträgliche Theorie Menanders zeigen, den Stellenwert einer Subgattung oder eines konventionalisierten Konventionsbruchs. Lukian stand ja mit seinem Fliegenlob beinahe in einer sophistischen Tradition des Insektenlobs: Isokrates erwähnte eine Lobrede auf die Hummel (Isokr. Or. 10, §12) und laut Synesios lobte Dion Chrysostomos die Mücke (Synes. Dion, 244).54 Solches Lob ist, wie man vielleicht sagen kann, nicht normal und doch zumindest unter Sophisten relativ üblich. Die Konvention, den regulären Referenzbezug der Lobrede zu entgrenzen, behält den Charakter einer Überschreitung ins Spielerische oder Ästhetische bei, anstatt das Personenlob als Schwerpunkt der Lobrede aufzulösen oder auch nur gleichberechtigt neben ihm zu stehen. Insofern ist die Wahl von ethisch irrelevanten Gegenständen des Lobs unter den Sophisten eine konventionelle Strategie zur Herstellung einer unterhaltsamen Lobrede. So mag sich auch erklären, dass man zwar Synesios’ Lob der Kahlköpfigkeit schon in Hinblick auf den ästhetischen, religiösen und psychologischen Wert des Haares paradox nennen kann,55 dass aber die gegenteilige Rede, auf die Synesios antwortete, nämlich Dions Lob auf das Haar, gleichwohl keine reguläre Lobrede war. Erst recht wäre es wohl unsinnig zu sagen, dass Synesios mit Dion in Fragen des Kopfhaars uneins gewesen wäre. Vielmehr fallen beide Reden, ebenso wie das Fliegenlob, durch ihre Verherrlichung von Gegenständen auf, die im Bezug auf die Moralität des Menschen als nebensächlich galten und die doch vor allem unter ethischen Gesichtspunkten spielerisch in den Himmel gehoben wurden. Aus dem gleichen Grund bedarf es für ein merkwürdiges Tierlob nicht einmal eines negativ besetzten Tiers: Als eine scherzhafte Adaption des Personenlobs hatte ein Tierlob wahrscheinlich in jedem Fall den Reiz des Merkwürdigen. Selbst Dions Lob auf den Papagei ist als sophistisches Spiel rezipiert worden, das ernsthafte Arbeit auf leichte Dinge verwendet.56 Zur ästhetischen Legitimation der paradoxen Lobrede (Lukian, Fronto und Philostrat) Über die Zwecke, die Lukian mit dem Lob der Fliege verfolgte und die Rechtfertigung, die eine solche Rede in den Augen seiner damaligen Hörerschaft (oder Leserschaft) hatte, ja über den gesamten Entstehungs- und Darbietungskontext der Rede kann man, wie gesagt, nur Vermutungen anstellen. 4.3.2

54  Ein Selbstlob der Fliege eingebettet in eine dramatische Fiktion findet sich schon bei Phaedrus IV, 25 (Formica et musca), wo es durch die Rede einer fleißig vorsorgenden Ameise widerlegt wird, sowie in Achilleus’ Leukippe und Kleitophon (Ach. Tat. II 22, 1-3). 55  Vgl. Golder, Werner (Hg.): Synesios von Kyrene: Lob der Kahlheit. Würzburg: 2007. S. 104. 56  Vgl. Philostr. v. soph. 487.

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Fiel das Fliegenlob, wie hier angenommen, tatsächlich als eine spielerische Anerkennung des ethisch Nebensächlichen auf, kann vielleicht folgende Stelle am Ende von Lukians Hippias oder das Bad 57 als Schlüsselstelle für die Interpretation herangezogen werden – auch dies eine Schrift, die ebenso demonstrativ wie das Fliegenlob einen Allerweltsgegenstand lobt. Darin heißt es zunächst, der zeitgenössische Architekt Hippias verdiene aus dem Grunde Bewunderung, weil „er in einer so gemeinen Sache“ (§4) wie dem Bau eines Bades einen besonderen Erfindungsgeist bewiesen habe – u.a. deshalb, weil der Bauplatz „uneben, abschüssig und auf der einen Seite sogar steil“ gewesen sei (§4). Am Schluss seiner Rede verallgemeinert Lukian diese Bewunderungswürdigkeit, indem er sie auch auf sich selbst als Lobredner eines Bades anwendet (§8): Übrigens denke niemand, daß es in diesem kleinen Aufsatze darauf abgesehen sei, ein unbedeutendes Werk durch meine Anpreisung aufzustutzen und wichtig zu machen. Meiner Meinung nach ist gerade dies eine der größten Proben, die ein Meister in seiner Kunst ablegen kann, wenn er Mittel aus seinem Kopfe zu ziehen weiß, gemeine Dinge zu verschönern und dem Alltäglichen die Grazie der Neuheit zu geben.

Lukian definiert hier, was für ihn künstlerische und damit indirekt auch rhetorische Könnerschaft bedeutet: das Unbedeutende aufzubauschen und die ästhetischen Qualitäten von Allerweltsgegenständen hervorzukehren. Das ist zugleich eine besondere Legitimation der paradoxen Lobrede. Lukian begründet den Wert von Redemacht nicht – wie die alten Sophisten – durch ihr politisch-rechtliches, sondern durch ihr ästhetisches Potential. Vielleicht kann man diese Stelle auf jede kunstvolle und gebildete Auseinandersetzung Lukians mit Allerweltsgegenständen anwenden, ohne damit gegen das Zeugnis aller seiner satirischen Schriften zu behaupten, er hätte sich in keinem Fall in irgendeinem ethisch-moralischen Interesse für den Widerspruch gegen allgemeine Meinungen entschieden. Das Zitat spricht für Lukians künstlerisches Verständnis der paradoxen Lobrede. Doch belegt der rechtfertigende Ton auch, dass das Lob von lobuntypischen Gegenständen sich tatsächlich unter Erklärungsdruck gestellt sah: Durfte man so viel Aufhebens von Kleinigkeiten machen? Interessanterweise endet Lukians Fliegenlob mit der sprichwörtlichen Wendung, er wolle aus der Fliege keinen Elefanten machen. Damit nahm Lukian also wahrscheinlich nicht ironisch das eigene Lob zurück. Vielmehr wandte er sich wohl wie in 57  Vgl. Lukian: Werke. Bd. 2. S.  459-463. Zitate aus dieser Übersetzung unter Angabe des Abschnitts.

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Hippias oder das Bad an die potentiellen Kritiker seiner Praxis antikonsensualer Rede mit dem Zugeständnis, dass er durchaus Grenzen der Legitimation dieser Praxis akzeptiere. Die paradoxe Lobrede war mit der neusophistischen Könnerschaft offenbar so eng verbunden, dass Lukians etwas älterer Zeitgenosse Marcus Cornelius Fronto (100-170 n.Chr.) selbst in einem Brief an den jungen Mark Aurel (121-180 n.Chr.) die Gattung und das Stilideal paradoxer Lobreden beschrieb.58 Wichtig für die hier verfolgte These ist, dass Fronto ausdrücklich erwähnt, dass die Gattung der paradoxen Schaurede von praktischen Zwecken befreit sei und stattdessen ästhetischen Zwecken diene: Annehmlichkeit ist hier oberstes Gebot. Denn diese Art von Rede schreibt man nicht, um einen Angeklagten in einem Strafprozess zu verteidigen oder um ein Gesetz durchzubringen, auch nicht um eine Truppe zu ermutigen oder in einer Versammlung die Gemüter anzuheizen; sondern was zählt, sind Esprit und Ohrenschmaus. Man muss von der Sache allenthalben reden, als handle es sich um etwas Wichtiges, Grossartiges, muss Unbedeutendes Bedeutendem angleichen und mit Grossem vergleichen. Was schließlich in einer derartigen Rede am meisten zählt, ist der feierliche Ernst.59

Offenbar sieht auch Fronto hier die paradoxe Lobrede dadurch als hinreichend gerechtfertigt an, dass sie Esprit habe ( facetia) und Vergnügen (voluptas) bereite. Und auch er erkennt gewisse Grenzen dieser Gattung an, indem er klar zwischen Realität und Darstellung unterscheidet: Denn man soll nicht das Unbedeutende geradewegs zum Bedeutenden erklären, sondern davon nur wie von Bedeutendem sprechen (ut de re ampla et magnifica loquendum). Gerade in der bewussten Spannung zwischen dem Gegenstand und seiner Behandlung liegt für Fronto also ein besonderes Vergnügen. Er scheint auch nicht anzunehmen, dass es sich um „bloße“ Unterhaltung handle, sondern Unterhaltung gilt als legitimer Zweck rhetorischer Kompositionen. Dass paradoxe Schaureden der neuen Sophisten nicht angemessen mit der binären Unterscheidung zwischen würdiger Beschäftigung und bloßer Unterhaltung und in diesem Sinne zwischen Ernst und Spiel verstanden werden können, sondern beides 58  Vgl. den an den „Caesar“ adressierten Brief Fronto, Epistulae, Laudes Fumi et Pulveris (wahrscheinlich 139 v.Chr.) 59  Übersetzung von Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 4f. – Vgl. Fronto, Epistulae, Laudes Fumi et Pulveris, S.  40,  §3 Haines: In primis autem sectanda est suavitas. Namque hoc genus orationis non capitis defendendi nec suadendae legis nec exercitus hortandi nec inflammandae contionis scribitur, sed facetiarum et voluptatis. Ubique vero ut de re ampla et magnifica loquendum, parvaeque res magnis adsimilandae comparandaeque. Summa denique in hoc genere orationis virtus est asseveratio. Zit. nach Haines,  C.  R. (Hg.): The Correspondence of Marcus Cornelius Fronto. 2 Bd. Bd. 1. London: 1919.

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in der kunstvollen Beschäftigung mit Kleinigkeiten vielmehr miteinander einhergeht, dafür spricht auch eine Stelle bei Philostrat. In einer Passage zu Dion Chrysostomos erklärt er: As for his Tale of Euboea, the Encomium of a Parrot, and all those writings in which he handled themes of no great importance, we must not regard them as mere trifles, but rather as sophistic compositions; for it is characteristic of a sophist to devote serious study to themes even so slight as these.60

Wie nun schon mehrfach erwähnt, lief die klassisch-sophistische Rechtfertigung paradoxer Lobreden ebenso wie des schulmäßigen Argumentierens in utramque partem (für und wider eine Sache) nicht auf einen ästhetischen Wert hinaus, wie Philostrat, Fronto und Lukian ihn behaupten, sondern auf den Zweck einer Schulübung, die sich in der Zukunft auszahlt: Das rhetorische Dagegenhaltenkönnen der alten Sophistik war maßgeblich Training in dem Bewusstsein, leicht in Notsituationen geraten zu können, in denen man gegen Widerstand überzeugen musste. Und laut Isokrates hätten gewisse Lobredner von Bettlern und Verbannten behauptet, „daß sie, wenn sie über schlechte Gegenstände irgendetwas zu sagen wissen, über die schönen und guten erst recht mit Leichtigkeit Worte im Überfluß finden werden“.61 Favorinus, ein Zeitgenosse Lukians, schlug teilweise in die gleiche Kerbe wie Gorgias, als er seine eigenen paradoxen Lobreden über Thersites und das Viertagefieber damit begründete, „dass sie geeignet seien zur Erweckung der geistigen Anlagen, oder zur Uebung des Scharfsinns, oder zur (leichteren) Bewältigung vorkommender Schwierigkeiten“.62 Wie gesagt, soll die These von der ästhetischen Legitimation der neusophistischen Praxis antikonsensualer Rede nicht besagen, dass andere Sophisten oder auch nur andere Texte Lukians sich der Paradoxie niemals im Sinne einer Stellungnahme in ethisch-rationalen Diskursen bedient hätten. Hier wird nur behauptet, dass diese Art der Legitimation wahrscheinlich typisch für Lobreden auf ethische Nebensächlichkeiten war und die kaiserzeitliche Sophistik der paradoxen Lobrede insofern ein eigenes Profil gab. Dandrey beschreibt es kurz und prägnant mit den Worten: „L’éloge paradoxal, c’est […] l’intrusion du rire dans la bibliothèque“.63 60  Philostr. v. soph. 487. Zit. nach Ders.: Live of the Sophists / Eunapius: Lives of Philosophers. Übers. v. Wilmer Cave Wright. Cambridge: 1921. S. 19. 61  Isokrates, Or. 10 (Helena),  §8. – Zitiert nach der Übersetzung von Zajonz, Sandra: Isokrates’ Enkomium auf Helena. Göttingen: 2002. S. 114. 62  Nach dem Zeugnis von Aulus Gellius, Attische Nächte, XVII, 12, 1. – Übersetzung zitiert nach ders: Die Attischen Nächte. Übersetzt von Fritz Weiss. 2. Bd. Darmstadt: 1992. S. 379f. 63  Dandrey: L’éloge paradoxal. S. 29.

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Lukians Lob der Fliege

Ästhetisches Vergnügen: zur Darstellungsstrategie in Lukians Fliegenlob

4.4.1 Inhalt, Aufbau und Deutungs-Hypothese Lukians Fliegenlob64 ist mit zwölf Abschnitten relativ kurz und beginnt ohne Einleitung, also ohne irgendeinen Rechtfertigungszwang anzuzeigen, mit der Aufwertung seines kleinen Helden: „Die Fliege ist keiner von den kleinsten Vögeln, wenn man sie mit den Mücken, Schnaken und andern noch kleinern Insekten vergleicht“ (§1, S. 464). Für einen ersten Eindruck lässt sich die Rede wie folgt zusammenfassen: Mithilfe von heiter-seriösen Beschreibungen ihres Erscheinungsbilds und ihrer Lebensweise (§§1-4) sowie mithilfe von Zitaten aus Literatur (§5, 11), Philosophie (§7) und Mythos (§10) der alten Griechen wird die Fliege als ein schönes und wohlklingendes (§1), kluges und mutiges Tier (§5) dargestellt, das nicht nur überall als erstes bewirtet wird (§8), sondern auch eine unsterbliche Seele hat (§7) und einstmals ein angenehm singendes, in Endymion verliebtes Mädchen war (§10). Die Rede endet, so erklärt der Orator, nicht aus mangelnder Könnerschaft, sondern aus dem Bewusstsein des Redners, dass sein Metier Grenzen hat: „Ich hätte noch vieles über einen so reichen Gegenstand zu sagen; aber es ist Zeit aufzuhören, damit ich nicht, wie das Sprüchwort sagt, aus einer Fliege einen Elefanten zu machen scheine“ (§12, S. 469). Wie lässt sich diese Rede deuten? Gemäß des von seinen satirischen Schriften her geprägten Bildes Lukians schwirrt die Fliege gewissermaßen durch die Forschung, um einmal als Parodie des paradoxen Enkomiums,65 64  Indirekte Zitate werden mit der Nummer des Abschnitts im Text angegeben. Direkte Zitate sind der Übersetzung Wielands entnommen. Vgl. Lukian.: Werke. 3 Bd. Hg. v. Jürgen Werner und Herbert Greiner-Mai. Bd. 2. Berlin: 1974. S.  464-469. Siehe auch die Übersetzung von Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 59-67 sowie den hilfreichen Kommentar S. 74-115. 65  Diese Auffassung kursiert nur als Vermutung und ist auch leicht zu widerlegen. Sie stützt sich auf eine zuerst von Burgess, Theodore C.: Epideictic Literature: Chicago: 1902. S. 159, Anm. 1 hervorgehobene Stelle in dem, wie man heute glaubt, wahrscheinlich pseudolukianischen Pastiche von Platons Symposion, nämlich Charidemus 14, worin paradoxe Lobreden kritisiert werden. Pease: Things without Honor. S. 29, Anm. 8 und Tomarken: The Smile of Truth. S. 4f. vermuten, dass es sich um Lukians eigene Meinung handeln könnte. – Selbst wenn diese Schrift von Lukian sein sollte, so ahmt die genannte Stelle zunächst einmal den kritischen Seitenhieb auf sophistische und paradoxe Lobreden in Symposion 177bc nach und trägt damit einer formalen Anforderung Rechnung. Die Herausgeber der deutschen Werk-Ausgabe führen das Bild von Lukian als Parodisten an, um die Auffassung einiger ungenannter Forscher zu erklären, die im Fliegenlob eine Parodie auf paradoxe Lobreden sehen wollen; vgl. Lukian: Werke. Bd. 3. S. 528. Eine niedrige Meinung Lukians von paradoxen Lobreden verträgt sich m.E. schon nicht mit der Tatsache, dass er

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einmal als Parodie des regulären Enkomiums,66 als Parodie der Insektenkunde67 oder – in Hinblick auf eine Platon-Anspielung – als PlatonismusSchelte68 interpretiert zu werden. Das sind Lesarten, die sich in der Rezeptionsgeschichte des Fliegenlobs aus unterschiedlichen Gründen ergeben haben. Jedoch ist es unwahrscheinlich, dass sie sich mit Lukians Intention sowie mit zeitgenössischen Lesarten decken, weil die Rede durchgängig zeitgenössischem Gattungs- und Regelwissen entspricht, dem zufolge die paradoxe Lobrede einer ästhetischen Funktion dient. Daher stehen diesen Lesarten auch Interpretationen entgegen, welche den Kunstcharakter des Fliegenlobs im Besonderen und der zeitgenössischen paradoxen Lobrede im Allgemeinen betonen.69 Die Vorrangigkeit der ästhetischen Funktion des Fliegenlobs dürfte seit dem Kommentar von Billerbeck/Zubler, die es als „Kabinettstück voller Anmut und Witz“70 bezeichnen, tatsächlich nur schwer bezweifelbar sein. Diese Rede in der gegebenen Kürze als zeitgenössische Unterhaltungskunst verstehbar zu machen, ist Aufgabe dieses Unterkapitels. Genau wie Gorgias’ Helena-Rede ist Lukians Fliegenlob nicht wörtlich ernst gemeint. Lukian versetzt sich zum Zweck der Unterhaltung in die Rolle eines Lobredners der Fliege, der das Publikum überzeugen will. Anders als der Helena-Orator hält der Fliegen-Orator, wie man ihn nennen könnte, eine davon einige geschrieben hat. Vgl. das doppelte Tyrannenlob Phalaris I und II, den Dialog über die vortreffliche Kunst des Schmarotzens Der Parasit, das dramatisierte Lob der Gicht Tragopodagra sowie die leicht paradoxen Lobreden Über den pantomimischen Tanz und Hippias oder Das Bad. Die letztere Schrift erfährt in §8 sogar als paradoxe Lobrede eine (ästhetische) Rechtfertigung. Siehe dazu hier Kap. III.3.2. 66  Tomarken äußert die nicht weiter begründete Behauptung, das Fliegenlob sei „readily recognizable as a skit on the serious panegyric“. Dies.: The Smile of Truth. S.  18f. Wie oben gesagt, war die reguläre Lobrede, das Personenlob, wohl tatsächlich der Konsens, dem Reden wie das Fliegenlob strukturell widersprachen. Allerdings sollte gerade der ästhetische Eigenwert einer Abweichung vom Normalfall des Personenlobs in Rechnung gestellt werden. 67  Vgl. die Angaben bei Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 83. Dazu später mehr. 68  Byzantinische Scholiasten haben Lukian den Beweis der unsterblichen Fliegenseele bzw. den kritischen Seitenhieb auf Platon (§7) übelgenommen. Vgl. die Angaben bei Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 32. Auch dazu später mehr. 69  Hier ist vor allem Dandrey: L’éloge paradoxal. S. 20, 28f. zu nennen, der im Zusammenhang des Fliegenlobs auch die eingangs erwähnte Diskontinuität betont: „Si la première époque de floraison du genre pseudo-encomiastique en avait défini surtout les enjeux intellectuels et philosophique, celle Lucien, qui est celle aussi de Fronton, nous offre l’exemple concret d’une écriture divertissante, qui se donne apparemment pour seule ambition d’amuser“. S. 28. – Dass die Paradoxie in der Zweiten Sophistik allgemein im Zusammenhang einer „attitude of learned relaxation“ zu sehen ist, macht Anderson in seinem Überblick klar, vgl. ders.: The Second Sophistic. S. 171-199, hier S. 173. 70  Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 30.

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reine Lobrede ohne logische Argumentationen und theoretische Exkurse.71 Stattdessen wendet er durchgehend rhetorische Mittel wie Vergleiche, Steigerungen, Beschreibungen, Euphemismen oder autoritative Zitate an, die das Erscheinungsbild und die Lebensweise der Fliege in Einklang mit dem Wertekosmos der Gesellschaft bringen sollen. So heißt es etwa zu Beginn, dass derjenige, der die Fliege beim Ausbreiten der Flügel vor der Sonne betrachtet, „wird gestehen müssen, daß der Schweif des Pfaues nicht von schönern Farben schimmert“ (§1, S. 465). Klugheit, heißt es weiter, beweise sie gegen die Spinne (§5); und mithilfe von homerischen Gleichnissen, in denen die Fliege vorkommt, werden ihr nicht zuletzt auch Tapferkeit und eine das Epos dekorierende Qualität zugesprochen (§5). Wie Billerbeck/Zubler gezeigt haben, lassen sich die zwölf Abschnitte des Fliegenlobs relativ gut der Topik des Personenlobs, wie sie zum Beispiel Menander Rhetor für die Leichenrede gegeben hat, oder der des Tierlobs zuordnen, auf das man jene Topik übertragen hat.72 Nur der Topos der Bildung im Personenlob findet keine Entsprechung und der Topos des Nutzens im Tierlob ist auch nicht wirklich gegeben.73 Besonders Letzteres könnte bereits für die Interpretation der Rede als eine ästhetische Scherzrede ohne vorrangigen moralischen Zweck sprechen. Denn es hätte sich angeboten, die lästige Fliege zu einem vorbildlichen Unruhestifter umzuwerten und so als Bekämpfer der Trägheit zu stilisieren. Literaturgeschichtlich lag eine solche Umwertung mit Blick auf das sogenannte Bremsen-Gleichnis in der Apologie des Sokrates durchaus im Bereich des Möglichen. Die doppelte Bedeutung von myops ausnutzend vergleicht Sokrates dort seine Bedeutung für Athen mit einem Treibstock bzw. einer Bremse an einem Pferd.74 Solch einen nützlichen Effekt auf die faulen Leute führte man in der Renaissance tatsächlich zum Lob der Fliege an.75 Lukian stellt zwar 71  Vgl. zum nicht-argumentativen Verfahren der Lobrede Matuschek, Stefan: Epideiktische Beredsamkeit. Sp.  1258. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen: 1994. Sp. 1258-1267. – Zur gattungstypischen Reflexionslosigkeit bzw. ‚Adiskursivität‘ der Festrede Kopperschmidt, Josef: Zwischen Affirmation und Subversion. Einleitende Bemerkungen zur Theorie und Rhetorik des Festes. S. 15-17. In: Fest und Festrhetorik. Zur Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik. Hg. v. Josef Kopperschmidt und Helmut Schanze. München: 1999. S. 9-21. 72  Vgl. Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 28f. 73  Vgl. ebd. S. 29. Sie erkennen den Topos des Nutzens nur in der paradoxen Umwertung des parasitären Eigennutzens der Fliege wieder. Ebd. 74  Plat. Apol. 30e. 75  Und zwar in der Musca (1441-43) von L.B. Alberti: „Ihr aber in eurer frechen Dummheit, hasst den Findergeist der Fliegen, weil sie, die gewohnt sind zu philosophieren, euch niemals müssig sein lassen? O ihr Faulpelze und letzte aller Säumer, welche die Fliege nur mit grösster Mühe zur Arbeit aufzustacheln vermag, lernt die guten Sitten von der Fliege,

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mithilfe homerischer Gleichnisse die Frechheit der Fliege als Mut und Beharrlichkeit dar, doch damit macht er sie ja nur auf komische Weise für den Topos der seelischen Eigenschaften passend. Eine besondere moralische Lehre für den Rezipienten lässt sich darin nicht erkennen. Die Vorwärtsverteidigung geht ansonsten auch nur dahin, die Lästigkeit der Fliege ins Schöne und Angenehme zu temperieren: Im Vergleich mit Bienen und anderen Insekten stellt der Orator das irritierende Summen der Fliege euphemistisch als wohlklingenden Gesang hin (§2) und der erfundene Verwandlungsmythos kleidet ihre Penetranz in die schmeichelhafte Verliebtheit eines immer plaudernden Mädchens, das einstmals zur Fliege verwandelt wurde (§10). Insofern schlägt der Orator keinen subversiv-moralisierenden Profit aus dem im Tierlob erwarteten Topos des Nutzens, sondern wendet die Lästigkeit auf komische Weise ins Tapfere sowie charmant ins Angenehme. Am Aufbau des Fliegenlobs deutet noch ein weiterer Sachverhalt darauf hin, dass hier vor allem angenehme Töne angeschlagen werden sollten. Denn die übrigen Topoi Familie/Art, Geburt, seelische und körperliche Natur, Jugend/ Wachstum, Leistungen/Lebensgewohnheiten werden nicht streng nacheinander, sondern sprunghaft bedient.76 Zum Beispiel beginnt der Orator nicht mit dem Herkommen der Fliege, sondern abrupt mit der Beschreibung ihres Körpers, um erst in §4 von ihrer Geburt als Larve zu reden, und dann in  §10 die vermutlich selbst erfundene Aitiologie vorzubringen, dass das in Endymion verliebte Mädchen Myia der Sage nach von Selene, ihrer Nebenbuhlerin, zur Fliege verwandelt worden sei. Eine solche Sprunghaftigkeit in der Abarbeitung der Topik dürfte kein Zufall sein. Fronto empfiehlt sie in dem bereits erwähnten Brief an Mark Aurel mit explizitem Bezug auf die paradoxe Lobrede, und Menander rät zur Variation der Reihenfolge in Lobreden innerhalb der typisch neusophistischen, relativ offenen Gattung der Prolalia – und beide sehen darin ein Mittel, besonders reizvoll und annehmlich zu reden.77 Insofern sollte wohl der Aufbau der Rede die schulmäßig feste Gliederung der rührigen Lehrmeisterin der Tugend! Nie gönnt sich die Fliege Ruhe, sondern treibt die Pflichtvergessenen, so gut sie es kann, noch energischer an!“, zit. nach Billerbeck/Zubler: Das Lob der Fliege. S. 223. 76  Vgl. Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 28. 77  Vgl. Marcus Cornelius Fronto, Epistulae, Laudes Fumi et Pulveris,  §5 Haines: Variatio vel cum detrimento aliquo gratior est in oratione quam recta continuatio „Variety even with some sacrifice is more welcome in the discourse than a correct continuity“. Übersetzung aus Fronto, M.C.: The Correspondence of Marcus Cornelius Fronto. Hg. u. übers. v. C.R.  Haines u.a. Bd. 1. Cambridge (Mass.): 1920. S.  43. – Menander, Peri Epideiktikon, 391.19-28: „The best arrangement in a ‚talk‘ is to avoid proceeding always on the same track, but to display continuous disorder. One moment, you may praise the subject on the basis of origin, the next on intention, the next on recent events that have affected him;

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der Topoi auflockern, um damit zeitgemäßen ästhetischen Ansprüchen zu genügen. Mit feierlichem Ernst über die Fliege reden: Zitate aus Wissenschaft, Mythos und Literatur Eine der auffälligsten Eigenschaften von Lukians Fliegenlob ist der Kontrast zwischen dem scherzhaften Sujet und seiner (quasi-)ernsthaften Behandlung. Das zeigt sich neben der ursprünglich für herausragende Personen entwickelten Topik auch in dem seriösen Ton der insektenkundlichen Beschreibungen und später in den zahlreichen direkten und indirekten Zitaten aus Homer, Platon, Tragödie, Komödie und Mythos. Schon der beschreibende Beginn hat manche Forscher an eine Parodie der Entomologie denken lassen, die in der Zweiten Sophistik vermutlich in Form von Exzerpten aus der aristotelischen Tier- bzw. Insektenkunde bekannt gewesen ist.78 Die Übereinstimmungen bis in die Irrtümer hinein, zum Beispiel, dass Fliegenlarven aus Kadavern entstünden, macht eine Nachahmung sehr wahrscheinlich und das mag man dann Parodie nennen. Während es für die Annahme einer eigentlich kritischen Parodie keine besonderen Gründe gibt, wie zum Beispiel absurde Überzeichnung oder ausdrückliche Kritik im übrigen Lukianwerk, lässt sich die Nachahmung selbst, wie Billerbeck/Zubler gezeigt haben, bemerkenswerterweise sehr gut mit dem Stilideal des feierlichen Ernstes (asseveratio) erklären, das Lukians etwas älterer Zeitgenosse Fronto für die paradoxe Lobrede aufstellte: „Was schließlich in einer derartigen Rede am meisten zählt, ist der feierliche Ernst“.79 Lukian übertrug in diesem Sinne den Ernst der Insektenkunde auf das Gebiet der Lobrede, nicht um damit die Fachwissenschaft zu degradieren, sondern um durch die kunstvolle Verbindung von ernster Darstellung und unpassendem Sujet ästhetisches Vergnügen zu bieten. Zitate aus Dichtung, Philosophie und Mythos der alten Griechen (§§5, 7, 10 und 11) machen in einem Insektenlob eine merkwürdige Figur. In §5 stellt der Fliegen-Orator die Behauptung auf, Homer selbst habe die Tapferkeit der Fliege gewürdigt und das Tierchen als einen Schmuck seines Epos betrachtet. Als Nachweis führt er Gleichnisse aus der Ilias an, in denen die Vielzahl und 4.4.2

sometimes again on the basis of fortune, sometimes on a single action“ (Übersetzung Russell/Wilson, S. 121). 78  Vgl. die Nachweise der Forschungspositionen bei Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 83; die Verbreitung entomologischer Exzerpte ebd. S. 30. 79  Übersetzung von Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S.  4f. – Vgl. Fronto, Epistulae, Laudes Fumi et Pulveris, §3 Haines: […] Summa denique in hoc genere orationis virtus est asseveratio.

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die Beharrlichkeit von Fliegen als Bildspender für Szenen oder Charaktere dienen.80 In §10 flicht er die vermutlich selbst erfundene Figur der Myia in den Endymion-Mythos ein, in §11 zitiert er einen Komödienvers, in dem die Fliege als Name (Myia) vorkommt, sowie einen Tragödienvers, der wiederum auf den Fliegenmut abzielt. Es ist wiederum aufschlussreich, diese Zitate in den Kontext von Frontos Forderung nach feierlichem Ernst zu stellen, da dieser gerade durch derartige Zitate erreicht werden könne: „So soll man sich, wo sich Gelegenheit bietet, Götter- und Heldensagen einflechten, ebenso geeignete Verse und passende Sprichwörter“.81 In §7 schließlich setzt der Orator den Höhepunkt seines Lobs, indem er der Fliege die vorzüglichste seelische Eigenschaft überhaupt bescheinigt: Einen alten Volksglauben aufnehmend, führt er dort die wiederbelebende Wirkung von Asche auf Fliegen als Beweis für die unsterbliche Fliegenseele an.82 Witzig wird dieser Beweis nicht allein durch Lukians glücklichen Einfall, den vermutlich bekannten Volksglauben dem hier schwer nachzukommenden Topos der seelischen Eigenschaften zuzuordnen. Er wird es auch dadurch, dass der Orator ihn als Anmerkung zu Platons Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ankündigt, in der ansonsten alles Wichtige gesagt sei. Eben diesen Witz haben byzantinische Scholiasten Lukian allerdings übel genommen.83 Abgesehen von den christlichen Vorbehalten gegenüber dem Satiriker Lukian, die dafür wohl mitverantwortlich waren, konnte sich ihr Verdacht einer spöttischen Kritik an Platon allerdings auf nicht wenige Stellen aus dem übrigen Werk Lukians stützen. Zwar nicht Platons Person selbst, aber doch platonistische Zentralbegriffe (Unsterblichkeit der Seele, Ideen) und Platoniker tauchen immer wieder auf der Zielscheibe von Lukians Philosophenschelten auf.84 In Kenntnis des übrigen Werks kann man daher wohl sagen, dass Lukian an dieser 80  Vgl. Homer, Ilias, XVII, 570-72: Beharrlichkeit des Kämpfers; ebd. II, 469-71: Archaier zahlreich wie Fliegen an Milchgefäßen; bzw. XVI, 641-43: Kämpfer um einen Toten wie Fliegen an Milchgefäßen; IV, 130f.: Athene wehrt Pfeil von Menelaos ab. 81  Übersetzung von Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 5. – Vgl. Fronto, Epistulae, Laudes Fumi et Pulveris, §3 Haines: Fabulae deum vel heroum tempestive inserendae; item versus congruentes et proverbia accomodata. 82  „Aber das Alleraußerordentlichste in ihrer Natur ist dies, was ich sogleich sagen will, und das einzige, was Plato in seinem Dialog von der Unsterblichkeit der Seele übersehen zu haben scheint. Wenn nämlich eine tote Fliege mit Asche bedeckt wird, steht sie wieder auf, ist wie neu geboren und fängt wieder von vorn zu leben an: zum klaren Beweise, daß auch die Fliege eine unsterbliche Seele hat“ (§7, S. 466f.) – Vgl. die Nachweise für den Volksglauben bei Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 101f. 83  Vgl. die Angaben bei Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 32. 84  Vgl. Nesselrath, Heinz-Günther: Lukian und die antike Philosophie. S.  144. In: Ebner, Martin et. al. (Hg.): Lukian. Die Lügenfreunde oder: Der Ungläubige. S. 135-152.

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Stelle in der Rolle des Fliegen-Orators seiner eigenen Skepsis gegenüber der metaphysischen Lehre Platons Ausdruck verleiht. Dies geht aber nicht soweit, dass die Rede selbst sinnvoll zu einem polemischen Manöver gegen Platon oder den Platonismus erklärt werden könnte, die unter dem bloßen Vorwand eines rhetorischen Spiels daherkäme. Auch die Erwähnung hochstechender Philosopheme in paradoxen Lobreden verdankt sich dafür zu sehr jenem von Fronto ausgesprochenen Stilideal, ‚Unbedeutendes als Großartiges‘ und mit einem ‚feierlichen Ernst‘ zu behandeln. Speziell Platon-Zitate waren auch gar nichts Ungewöhnliches in paradoxen Lobreden der Zweiten Sophistik. So soll Favorinus in seinem Lob auf das Viertagefieber Platon zitiert haben85 und besonders das Lob der Kahlheit des Neuplatonikers Synesios von Kyrene zeigt, dass man in einer paradoxen Lobrede platonische Philosopheme regelrecht auswälzen kann, ohne damit Platon ins Lächerliche ziehen zu wollen.86 Insofern eignete sich die absurde Applikation von Platon-Zitaten auf niedrige Gegenstände allein wohl noch nicht dazu, dem Rezipienten eine philosophiekritische Gesamtintention zu verstehen zu geben. Wie Frontos Aussage zeigt, dienten solche Zitate offenbar dem ästhetischen Vergnügen, einem scherzhaften Gegenstand den Anschein des Großen und Ernsthaften zu geben. Auf ähnliche Weise lassen sich schließlich auch einige andere Stellen erklären, an denen der moderne Leser Verständnisschwierigkeiten haben oder sogar besondere Hintergedanken vermuten könnte. Das betrifft zum einen den intertextuellen Verweisungshorizont oder Subtext, den Zitate eröffnen können.87 So weist der Orator auf jene Ilias-Stelle hin, an der Athene den überraschend auf Menelaos abgeschossenen Pfeil abwehrt und an der dies mit einem Gleichnis näher beschrieben wird. Der Orator sagt in  §5: Homer „beehrt […] auch die Fliege mit einer Stelle in diesem schönen Gleichnisse“ (S.  466). Doch das Gleichnis lautet: „Gleich so wehrete sie’s [Athene das Todesgeschoß, CW] vom Leibe dir, wie wenn die Mutter / Wehrt vom Sohne die Flieg, indem süßschlummernd er daliegt“.88 Das Gleichnis verwendet die Fliege als Sinnbild der Ruhestörung, von einer Beehrung der Fliege kann also nur insofern die Rede sein, dass das Insekt überhaupt im homerischen Epos vorkommt. Will uns der Redner damit vielleicht etwas sagen? Zum Verständ85  Vgl. Aulus Gellius, Attische Nächte, 17, 12, §3. 86  Vgl. die kommentierte Ausgabe Golder, Wener (Hg.): Synesios von Kyrene: Lob der Kahlheit. A.a.O. 87  Dass ein solcher bei Lukian unter Umständen zu beachten ist und zur Bedeutung beitragen kann, meint zum Beispiel Möllendorff, Peter von: Puzzling Beauty. Zur ästhetischen Konstruktion von Paideia in Lukians ‚Bilder‘-Dialogen. A.a.O. 88  Vgl. Homer, Ilias, IV, 130f. Zit. nach ders.: Ilias. Übers. v. Johann Heinrich Voß. 2. Aufl. München: 2005. S. 62.

Ästhetisches Vergnügen in Lukians Fliegenlob

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nis solcher Inkongruenzen ist die Beobachtung von Kindstrand hilfreich, dass Fälle von Überinterpretation und ‚Pressen‘ des Materials bei Homer-Zitaten in der Zweiten Sophistik „verhältnismäßig häufig und eigentlich nicht überraschend“89 sind. Man muss sich vor Augen führen, dass die Sophisten in ihren epideiktischen Reden Homer und andere Dichter, wenn es keinen bestimmten Grund gab, praktisch um ihrer selbst willen zitierten; eine Auslassung von Homer-Zitaten, zumal von naheliegenden, käme einem Mangel gleich.90 Nun kommt die Fliege in der Odyssee aber nicht vor.91 Man könnte beinahe sagen, Lukian musste geradezu an jener als Kriegsbeginn sehr exponierten Stelle der Ilias über den genauen Wortlaut hinweggehen, um in seiner Orator-Rolle den Nachweis über die homerische Fliegenverehrung – zwar immer noch augenzwinkernd, aber doch plausibel – führen zu können. Insofern ist die Ungereimtheit, die das Homer-Zitat bei genauerer Betrachtung birgt, keiner bestimmten Mitteilungsintention des Autors geschuldet, sondern von ihm gewissermaßen für die ästhetische Kontrastwirkung seiner Rede in Kauf genommen. 4.4.3 Mythos der Myia als ‚ausgeklügelte Lügengeschichte‘ Was hat es schließlich mit dem besagten Verwandlungsmythos der Myia (§10) auf sich? Das stets freundliche und singende Mädchen, so lautet Lukians wohl selbst erfundene Geschichte, sei in Endymion verliebt gewesen. Da sie ihn jedoch zu seinem Ärger mit ihrem Singen und Plaudern dauernd aufgeweckt habe, sei sie von ihrer Nebenbuhlerin Selene in die Fliege verwandelt worden. Das Summen der Fliege, so lautet die Anwendung, sei also nicht Ausdruck ihres bösen Willens, sondern ihrer Liebe zu jenen Menschen, die ihr so gut wie Endymion gefallen. Man könnte nun, das Bild von Lukian dem Spötter vor Augen, argwöhnen, er habe seinen Rezipienten diese Lüge zu aufklärerischen, antimythischen Zwecken aufbinden wollen, damit sie fortan bei dem ehernen Endymion-Mythos an seine komische Fliegenrede denken müssten. Doch lassen sich auch hier rein artistisch-rhetorische Gründe angeben: Erstens dient die Geschichte dem Topos der hohen Geburt, der sich kaum anders als durch eine frei erfundene Aitiologie bedienen lässt; ferner dient sie dazu, die 89  Kindstrand: Homer in der Zweiten Sophistik. A.a.O. S. 91f.; vgl. auch ebd. S. 44, 136 u.ö. 90  „You must also remember the famous poets, Homer, Hesiod, and the lyricists. They deserve to be recalled for their own sake[…] and quotations and reminiscences of their poetry are also excellent, because they have ‚sweetness‘ and are very suitable for lending your writing charme“. Menander Rhetor, Treatise II, Peri Epideiktikon. 393, 5-16, allerdings im Kontext der Prolalia (Übers. Russell/Wilson, S. 123). – Vgl. auch die sechs Ilias-Stellen, die Dion Chrysostomos für sein bei Synesios zitiertes Lob des Haares nutzte. Vgl. Synesios von Kyrene: Lob der Kahlköpfigkeit, §3. 91  Vgl. Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 96.

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Lukians Lob der Fliege

euphemistische Sicht auf das Summen der Fliege figürlich zu veranschaulichen; drittens macht sie als hübsche Fabel mit amoreusen Anklängen die Lobrede selbst charmant und unterhaltsam. Und viertens: Lukian stand nicht als einziger vor dem Problem, sich Ursprungsmythen ausdenken zu müssen. Im Gegenteil, das Erfinden von Mythen, aber auch von Träumen und Berichten, die dem Adressaten schmeicheln, gehörte spätestens in der Zweiten Sophistik zum Handwerkszeug des Lobredners.92 So heißt es bei Menander Rhetor im Kontext von Gründungsmythen verschiedener Städte: If there is anything like this in connection with the emperor, work it up; if it is possible to invent, and to do this convincingly, do not hesitate; the subject permits this, because the audience has no choice but to accept the encomium without examination.93

Darin stimmte Menander in der Sache mit Fronto überein. Der empfahl für den ‚feierlichen Ernst‘ (asseveratio) in paradoxen Lobreden nicht nur Sagen, Verse und Sprichworte, sondern endlich auch „ausgeklügelte Lügengeschichten, vorausgesetzt, man macht sie auf witzige Weise plausibel“.94 Insofern ist die Geschichte der Myia nicht als satirischer Mutwille Lukians zu sehen, der den Endymion-Mythos etwa ins Lächerliche ziehen sollte. Sie lässt sich vielmehr als virtuose Bewältigung topologischer, figurativer, ästhetischer und inventorischer Anforderungen verstehen, die sich an einen neusophistischen Lobredner stellten. Wie sich mit Blick auf die eingangs erwähnte Gattungsgeschichte der Lobrede und an dem Vergleich mit Gorgias’ Helena-Plädoyer schon abzeichnete, lässt das Lob der Fliege selbst keine persuasive oder kritisch-parodistische Tendenz erkennen. Dass es stattdessen in der epideiktischen Vorführung seiner selbst nahezu aufgeht, ließ sich positiv an seiner vielfältigen Konformität mit Regeln und Schemata zeigen, die teils für die Lobrede allgemein, teils speziell für die paradoxe Lobrede etabliert oder jedenfalls bekannt waren. Damit aber erhält die ästhetische Wahrnehmung der Rede selbst (bzw. ihres Autors und seiner Fähigkeit) für die Rezeption des Fliegenlobs eine Bedeutung, wie sie weder für die Paradoxa Stoicorum noch sogar für die Helena-Rede bestanden hat. 92  Vgl. Menander, Treatise II, Peri Epideiktikon, 390.4-6: „One may also invent dreams or claim to have heard some report and want to pass it on to the audience“ Zit. nach Russell/ Wilson: Menander Rhetor. S. 117. 93  Menander, Peri Epideiktikon, 371.11ff. Zit. Nach Russell/Wilson: Menander Rhetor. S. 83. 94  Billerbeck/Zubler: Lob der Fliege. S. 5. – Vgl. Fronto, Epistulae, Laudes Fumi et Pulveris, §3 Haines: non inficite conficta mendacia, dum id mendacium arumento aliquo lepido iuvetur.

Zum Globaltelos neusophistischer Unterhaltungskunst

4.5

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Zum Globaltelos neusophistischer Unterhaltungskunst

In Lobreden wie Lukians Fliege wird ein neusophistischer Typ antikonsensualer Rede fassbar, insofern es den Sophisten bei diesem Redetyp nicht darum ging, eine Fähigkeit zu nützlicher Gegenrede oder eine Einsicht in die Natur der Dinge zu vermitteln, sondern primär darum, dem Publikum ein ästhetisches Vergnügen zu bereiten, es in diesem Sinne zu unterhalten. So gleichen sich zwar alle bisher untersuchten Praktiken antikonsensualer Rede dadurch, dass sie rhetorisches Können zur Schau stellten, doch sie unterscheiden sich eben darin, was jeweils unter rhetorischem Können zu verstehen war. Sie verfolgten nicht die gleichen Absichten mit ihren Reden und griffen letztlich auch nicht auf dieselben rhetorischen Mittel zurück. Was Lukians Fliegenlob angeht, so appellierte er nicht, wie Cicero, um der Sache willen an die anerkannten Wertbegriffe und Autoritäten des Publikums. Lukian bediente sich lediglich der Form der Plausibilisierung, ohne sich die vorgetragene Position zu eigen zu machen. Er spielte – darin Gorgias ähnlich – ein zur Gattungskonvention gehörendes Rollenspiel, indem er den Gegenstand der Fliege so behandelte, als sei er ein bedeutsamer, lobenswürdiger Gegenstand. Im Unterschied zu Gorgias’ Helena-Rede präsentierte Lukian keine argumentative Struktur, die in der politisch-rechtlichen Praxis sinnvoll wäre. Auch ist sein Lob frei von theoretischen Exkursen sowie entlastet von pragmatischen Implikationen: Es reflektierte nicht ausdrücklich auf Probleme des Zusammenlebens und es war wohl nicht, wie die Redeanalyse zu zeigen versuchte, als eine parodistische Stellungnahme oder als Gestaltung eines Modellfalls für das Leben der Menschen gedacht. Auch Frontos gattungstheoretische Reflexionen zur paradoxen Lobrede weisen in diese Richtung und schon die eingangs erwähnten veränderten politischen Bedingungen der Rhetorik in der römischen Kaiserzeit machen plausibel, dass die Rhetorik als Disziplin ihre Aufgabe nicht primär darin sehen konnte, die Praxis der Rede als Mittel zur Gestaltung der Machtverhältnisse zu betrachten und zu verbessern. Ist es für paradoxe Lobreden der Zweiten Sophistik also typisch, dass die Texte diese Gattung auf spielerische Weise und gemäß der Redeabsicht des delectare durchführten, stellt sich die Frage danach, welche Gründe die Autoren dafür angaben oder tatsächlich dazu bewegt haben mochten, die paradoxe Lobrede als Mittel zur Unterhaltung einzusetzen.95 Stand hinter 95  Gemeint sind hier nicht die soziologischen Funktionen, die man häufig der kulturellen Praxis im Allgemeinen zuschreibt, wie die Funktion des kollektiven Gedächtnisses und die Funktion der symbolischen Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse. Vgl. dazu ausführlich Schmitz, Thomas A.: Bildung und Macht.

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Lukians Lob der Fliege

der Indienstnahme von Paradoxien im Fall Gorgias’ das erklärte Ziel, den demokratischen Gebrauch der Sprache technisch zu verbessern, und im Fall Ciceros der Entschluss, die Philosophie als Lehre vom naturgemäßen Leben zu vermitteln, gibt es dann auch eine globale Handlungsstrategie, zu deren Umsetzung Lukians primär unterhaltsame, auf „Esprit und Ohrenschmaus“ (facietas, voluptas) zielende Durchführung der paradoxen Lobrede ihrerseits beitragen sollte? 4.5.1 Zeitvertreib und Erholung für die Oberschicht In der Forschung wird häufig so getan, als verstehe sich der Zweck der Unterhaltung von selbst.96 Tatsächlich weisen einige Belege in die Richtung, dass die Sophisten mit ihren paradoxen Lobreden gerade nicht mehr wollten, als ihrem Publikum einen amüsanten Zeitvertreib zu verschaffen. So erklärte Synesios von Kyrene in einem Brief an einen befreundeten Advokaten, dem er sein Lob der Kahlheit zugeschickt hatte: Falls es „nicht gelungen scheint, dann muss es doch wenigstens erlaubt sein, Spaß zu machen“.97 Auf ähnliche Weise erklärte Lukian sein schriftstellerisches Selbstverständnis. In der Rede Der literarische Prometheus antwortete er zumindest jemandem, der ihn einen Prometheus in der Schriftstellerei genannt habe, mit demonstrativer Bescheidenheit (§2): Ich, dessen Ansprüche nicht weiter gehen, als das Publikum mit Vorlesungen zum Zeitvertreib zu unterhalten[…]; was ich mache, sind groteske Figuren ohne Bewegung und ohne die kleinste Spur einer Seele, die, wenn man sich einige Augenblicke daran belustigt, ihre ganze Bestimmung gefunden haben.98

Trifft dies tatsächlich Lukians Selbstverständnis, so war es das gleiche, in dem mitunter noch heute Unterhaltungsliteratur produziert wird. Die Frage nach dem, was ein gelungenes Leben sei, stellten Lukian und Synesios hier nicht, und dies passt auch zu der weitergehenden These, dass Rhetorik (und Roman) der Zweiten Sophistik zumindest explizit keine Absicht hegten, die Denkund Redeweise zu normieren, sondern im Gegenteil „ideologisch absolut

96  Korenjak ‚erklärt‘ den Unterhaltungswert der sophistischen Rhetorik durch den Vergleich mit der Funktion der Literatur früherer Epochen, vgl. Korenjak: Publikum und Redner. S. 40. Und Anderson meint, die sophistische Rhetorik bringe eine Form des Humors zum Ausdruck, die man noch heute unter den Gelehrten finde, die auch nicht immer ernst seien. Vgl. Anderson, Graham: The Second Sophistic. S. 183. 97  Synesios von Kyrene, Epistulae, 74. Zit. nach Golder, Werner: Synesios von Kyrene: Lob der Kahlheit. S. 107. 98  Lukian: Werke. Bd. 3. S. 340.

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dezentriert“ gewesen seien.99 Jedenfalls sollte Lukians und Synesios’ Unterhaltungsliteratur einen Beitrag zum gelungenen Leben offenbar nur insoweit leisten, als beide Autoren sich und der übrigen Oberschicht das Recht einräumten, sich auch mal einen Spaß zu machen. Vorausgesetzt ist dabei freilich, dass es sich um gebildete und insofern der Oberschicht angemessene Unterhaltung handelt. So erklärt Lukian an anderer Stelle, dass die Entspannung, die er biete, zu neuer Geisteskraft für das Studium befähigen solle: In den ersten Sätzen seiner phantastischen Reiseerzählung Der wahren Geschichte (§1) heißt es in Analogie zur Regenerationsphase von Athleten: [E]benso, glaube ich, ist es den Studierenden zuträglich, ihren Geist, nachdem sie ihn mit ernsthaften und anstrengenden Studien anhaltend beschäftigt haben, ausruhen zu lassen und durch eine schickliche Erholung zu künftigen Arbeiten desto kräftiger und munterer zu machen.100

Exakt die gleiche Regenerationsabsicht spricht der Buntschriftsteller Aulus Gellius in seiner Vorrede zu den Attischen Nächten aus, ein Buch, das als unterhaltsame Aufbereitung von klassisch-hellenistischer Bildung gewissermaßen eine enzyklopädische Freizeitlektüre für Gestresste sein will, die nicht nur unterhalten, sondern auch wissbegierig machen und geschmacksbildend wirken soll.101 Zuletzt sei aus einem weiteren Vorwort zitiert, nämlich eine schöne Stelle von dem Verfasser der Sophistenviten, Philostratus: „This essay of mine, best of proconsuls, will help to lighten the weight of cares on your mind, like Helen’s cup with its Egyptian drugs“.102 Gemeinsam ist allen drei Vorreden, dass sie Unterhaltungslektüren ankündigen, die als Aufbereitungen von klassizistischem Bildungsgut Erholung von einem wie auch immer gearteten Arbeitsalltag versprechen. Zumindest bei Lukian und vielleicht auch bei Gellius soll die Erholung allerdings nicht einem beliebigen Ziel dienen, sondern die Empfänglichkeit für Bildungswissen weiter steigern. Wie der Sophist sich zu allem Möglichen als Sophist ins Verhältnis 99  Bachtin: Das Wort im Roman. S. 257. In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrgs. v. Rainer Grübel. S. 154-300. 100  Lukian: Werke. Bd. 2. S. 301. 101  Vgl. Aulus Gellius: Attische Nächte, Vorrede. Siehe zum Beispiel nur den Beginn: „[D]er Zweck, den ich bei Abfassung dieses Werkes verfolgte, war kein anderer, als dass meine Kinder in den Freistunden, wenn sie von ihren Arbeiten geistig ausruhen und ihrem eigenen Vergnügen nachhängen können, auch sofort eine angemessene Erholungslectüre vorfinden sollten“. Zit. nach ders.: Die Attischen Nächte. Übers. v. Fritz Weiss. Bd. 1. Darmstadt: 1992. S. 1. 102  Philostr. v. soph. 480. Zit. nach ders.: Lives of the Sophists. Übers. v. Wilmer Cave Wright. S. 5. – Vgl. Odyssee, IV, 220ff.

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Lukians Lob der Fliege

setzen können musste, so sollte offenbar auch die übrige Oberschicht auch dann, wenn sie nicht ohnehin gerade in die Literatur der alten Griechen vertieft war, eine erholsame Beschäftigung finden können, die klassizistisch Gebildeten entsprach. Natürlich war dies ein Votum für eine bestimmte kulturelle Identität, doch fällt auf, dass die sophistische Unterhaltungsliteratur in den genannten Absichtserklärungen weder einer politischen noch einer ethischen Idee zur Verbesserung der Gesellschaft anhing, wie das vor allem die hellenistische Philosophie tat, die doch ein wesentlicher Bestandteil der von der neuen Sophistik instrumentalisierten klassizistischen Bildung war. Die ethische Frage wurde gerade dadurch ausgeklammert, dass sich die Poetik der paradoxen Lobrede sowie die genannten Vorreden sophistischer Erzählund Sachtexte explizit auf den Zweck der Unterhaltung beschränkten. Bei den paradoxen Lobreden geschah dies zudem dadurch, dass die ja auch ethischen Topoi des Lobs nicht inhaltlich bestätigt, sondern lediglich zum Stoff einer Darstellung neutralisiert wurden, die auch Gegenstände integrierte, die jenseits ethischer Kategorien lagen. Man könnte sagen, die paradoxen Lobreden wandten sich dem Erfahrunghorizont des normalen Lebens zu,103 anstatt dieses von einer ethischen Position her zu beurteilen. Anerkennung des normalen Lebens: Lukians Affinität zur pyrrhonischen Skepsis Dass im neusophistischen Umgang mit Bildung ganz im Unterschied zur klassisch-hellenistischen Philosophie offenbar keine hochstechenden moralphilosophischen Ziele, sondern ästhetische Ideale und Unterhaltungszwecke verfolgt werden, muss darum jedoch nicht weniger philosophisch sein als die dogmatische Philosophie selbst. Vielmehr eröffnet dieser Umstand gerade eine mögliche philosophiegeschichtliche Einordnung der neusophistischen Praxis antikonsensualer Rede, die abschließend nur thesenhaft skizziert sei. Die Ästhetisierung der rhetorischen Paradoxie in der Zweiten Sophistik, die konstitutive Abwendung der Lobrede von ethischen Gegenständen sowie die Abstimmung der Bildung auf den Erfahrungshorizont des normalen Lebens weisen gewisse Parallelen zur pyrrhonischen Skepsis auf, die im 2. Jh. n.Chr. entstand und die zumindest von Lukian auch wohlwollend rezipiert worden ist104. Auch sie zeichnete sich durch moralphilosophische Urteilsenthaltung 4.5.2

103  Vgl. zu der These, dass man bei Lukian die Idee einer „Vermittlung von klassizistischer Episteme und individueller Lebenserfahrung“ finde Möllendorff, Peter von: Verdichtungen des Alltags. Lukians Meergötter-Gespräche. S. 244. In: Wodianka, S./Rieger, D. (Hg.): Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Berlin/New York: 2006. S. 227-245. 104  Vgl. Nesselrath: Lukian und die antike Philosophie. S. 149f.

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sowie die undogmatische Präferenz für das Leben as usual aus.105 Wenn die pyrrhonische Skepsis, wie Hossenfelder meint, genau darin signifikant für die brüchig gewordene klassisch-hellenistische Philosophie ist, könnte es dann nicht auch die Zweite Sophistik sein? Die klassisch-hellenistische Philosophie erhob den dogmatischen Anspruch, dass der Mensch aus eigener Anstrengung die Wahrheit (oder doch etwas ihr ähnliches) erkennen und so maßgeblich zu seiner Glückseligkeit beitragen könne und solle; mit diesem metaphysischen Fundament der Ethik, das über den jeweiligen konventionellen Wertekanon einer Gesellschaft hinausgeht, brach die pyrrhonische Skepsis.106 Anstelle des permanenten Bezugs des eigenen Lebens zu den letzten Dingen waren es die nächsten Dinge, die den (pyrrhonischen) Skeptiker ebenso wie den Sophisten interessierten. Die Vielfalt des normalen Lebens und dessen Bedarf an Unterhaltung anzuerkennen, das zeichnet zum Teil auch den folgenden Modellfall „paradoxer Rede“ aus: Erasmus’ Lob der Torheit, das am Anfang des 16. Jahrhunderts maßgeblich zu einer Wiederentdeckung der antiken Gattung der paradoxen Lobrede beitrug. Erasmus nahm für dieses Werk tatsächlich viele Anleihen bei Lukian, dessen Werke er zusammen mit Thomas Morus ins Lateinische übersetzt hatte. Doch gerade die ethische Position, die Erasmus dabei vertrat, verband Elemente der pyrrhonischen Skepsis mit solchen der sokratischhellenistischen Tugendethik. Jedenfalls versuchte Erasmus, in seiner christlich-humanistischen Funktionalisierung der paradoxen Lobrede, einem von Grund auf ambivalenten Menschenbild Ausdruck zu verleihen. Zwar stand für ihn die Wahrheit über das gute Leben mit unerschütterlicher Gewissheit fest und sie musste auch, ganz ähnlich wie bei Sokrates, der Stoa oder Cicero, deutlich ausgesprochen werden. Doch warb der Humanist zugleich dafür, die Vielfalt des Lebens anzuerkennen und den moralischen Anspruch mit Humor zu verbinden.

105  Eine hilfreiche Einführung gibt Hossenfelder, Malte: Einleitung. S.  9-88, bes. 68-74. In: Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Hg. u. übers. v. dems. 7. Aufl. Frankfurt/Main: 2013. 106  Vgl. ebd., bes. S. 9-34.

Kapitel 5

Kritik und Anerkennung: Erasmus’ von Rotterdam Lob der Torheit 5.1

Einleitung

Will man rhetorisch-philosophische Modelle der Rede gegen allgemeine Mei­ nungen zwischen der Antike und der aufklärerisch-romantischen Moderne untersuchen, liegt es nahe, sich mit dem literarisch-theoretischen Diskurs der Renaissance zu befassen. „Das Paradox gehört zu den Manierismen der Zeit“,1 schrieb Hans Blumenberg, der damit das provokante Bekenntnis Giordano Brunos zur kopernikanischen Theorie in den Zusammenhang eines verbreiteten Stilideals des bloßen polemischen Effekts stellte. Rosalie Colie schrieb mit Blick auf europäische Dichter, Theologen und Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts sogar von einer Paradoxia Epidemica, die sie unter anderem mit der nicht nur stilistisch inszenierten, sondern auch tatsächlich bestehenden Auffassungsvielfalt dieser Zeit erklärte – „a period[…] of intense intellectual activity, with many different ideas and systems in competition with one another“.2 Nicht zufällig zitieren diese Beobachtungen einer lebendigen Streitkultur der Renaissance den Begriff der Paradoxie: Er war damals en vogue. Die Idealisierung der Rhetorik, Literatur und Philosophie der griechischrömischen Antike innerhalb des gelehrten Diskurses der Renaissance3 erlaubte es, wahlweise eine angeblich verkannte Wahrheit oder einen allzu abwegigen Widerspruch gegen allgemeine Meinungen mit dem historischen Begriff der

1  Es lohnt, die Stelle im Zusammenhang zu lesen: „Das Paradox gehört zu den Manierismen der Zeit. […] Zur Bevorzugung des Paradoxes gehört das Liebäugeln mit dem äußeren und noch mit dem äußerlichsten Effekt. Bruno ist von Anfang an ein Spekulant auf Wirkung. Kopernikus mag ihm da ziemlich zufällig in die Requisiten geraten sein, wie zu allen Zeiten nach derartigem gegriffen wurde, wenn es galt, die Beruhigten und Gesättigten zu erschrecken“. Blumenberg, Hans: Das Universum eines Ketzers. S. 32f. In: Bruno, Giordano: Das Aschermittwochsmahl. Frankfurt/Main: 1969. S. 7-51. 2  Colie, Rosalie  L.: Paradoxia Epidemica. The Renaissance Tradition of Paradox. Hamden: 1976. S. 33. 3  Vgl. dazu Hempfer, Klaus W.: Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘. S. 14, 17. In: Ders. (Hg.): Renaissance: Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur, Philosophie, bildende Kunst. Stuttgart: 1993. S. 9-45.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_006

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Erasmus ’ von Rotterdam Lob der Torheit

Paradoxie4 zu bezeichnen.5 Vor allem in humanistischen Kreisen ging der Rückgriff auf antike Quellen zudem mit einem schriftstellerischen Interesse an der antiken Gattung der paradoxen Lobrede einher.6 Interessant am Gebrauch des Paradoxie-Begriffs und an der paradoxen Stilisierung der Rede ist, dass beides eine gewisse Konventionalität und Legitimität antikonsensualer Rede indiziert: Offenbar prallten hier Stellungnahmen nicht einfach nur wie Billardkugeln gegeneinander, sondern war die Kollision von allgemeiner und abweichender Meinung zugleich ein Gegenstand der Diskussion und der Erwartung.7 Wenn in diesem Kapitel Erasmus’ von Rotterdam Lob der Torheit untersucht wird, dann vor allem deshalb, weil es nicht bloß das wahrscheinlich bedeutendste und am meisten nachgeahmte Exemplar der Gattung der paradoxen Lobrede im 16. Jahrhundert war,8 sondern weil es diese Gattung zugleich 4  Vgl. für einen ebenso knappen wie instruktiven Überblick zur frühneuzeitlichen Rezeption des antiken Begriffs der Paradoxie (bes. Ciceros Paradoxa Stoicorum, Aristoteles’ Sophistici Elenchi) Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. S. 216-223. 5  Auch für die Zeit der Renaissance gilt: „[D]as Merkmal der logischen Absurdität ist für den Begriff ‚paradox‘ nicht konstitutiv“. Schilder: Zur Begriffsgeschichte des ‚Paradoxon‘. S. 82, vgl. ebd. S. 19-82. – Darüber besteht Konsens in der Forschung zur Paradoxie in der Renaissance, vgl. Plett: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S. 92, 101; Platt, Peter G.: Shakespeare and the Culture of Paradox. Farnham: 2009. S. 17, 30-34; van der Poel, Marc: Paradoxon et adoxon chez Ménandre le Rhéteur et chez les humanistes du début du XVIe siècle. A propos du De incertitudine et vanitate scientiarum d’Agrippa de Nettesheim. S. 217. In: Landheer, Ronald/ Smith, Paul J.: Le Paradoxe en linguistique et en littérature. Genève: 1996. S. 199-220. 6  Hervorgehoben seien vor allem zwei romanistische Beiträge zur rhetorischen Paradoxie in der italienischen Renaissance. Vgl. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Vom Lob der Pest und vom Lob der Perfidie: Burleske und politische Paradoxographie in der italienischen RenaissanceLiteratur. In: Gumbrecht, Hans  U./Pfeiffer, K.  Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M.: 1991. S.  259-273; und Hartung, Stefan: Rehierarchisierungen in der paradoxen Epideixis der Renaissance. Bes. S. 98-101. In: Varietas und Ordo: Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock. Hg. von Marc Föcking u. Bernhard Huss. Stuttgart: 2003. S. 91-114. 7  Vgl. zu einer Epochendefinition, die den literarisch-theoretischen Diskurs der Renaissance im „Spannungsfeld von ‚erzwungener Versöhnung‘ und ‚inszenierter Pluralität‘“ konstituiert sieht, Hempfer, Klaus  W.: Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘. S. 39. In: Ders. (Hg.): Renaissance: Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur, Philosophie, bildende Kunst. Stuttgart: 1993. S. 9-45. Ohne dass hier eine epochenspezifische Einordnung des Lobs der Torheit geleistet werden soll, fällt doch auf, dass auch die im Lob der Torheit dargestellte Sprechsituation durch eine Kombination von sozialer Einheit und sozialer Differenz gekennzeichnet ist. 8  Besonders exponiert etwa bei Hauffen, Adolf: Zur Litteratur der ironischen Enkomien. In: Vierteljahresschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893). S. 161-185; Geraldine, M. (1964): Erasmus and the Tradition of Paradox. In: Studies in Philology 61, S. 41-63; Tomarken, Annette H.: The Smile of Truth: The French Satirical Eulogy and Its Antecedents. Princeton: 1990. S. 28-48.

Einleitung

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derart funktionalisierte, dass es in Form und Inhalt eine epistemologisch und moraltheologisch fundierte Auffassung von antikonsensualer Rede vertrat.9 Zunächst einmal wird schon bei oberflächlicher Lektüre bemerkbar, dass die Rede der Stultitia, die sich in der Form der Rollenrede selber lobt, gerade darin eigentümlich und deutungsbedürftig ist, dass sie nicht nur moraltheologische Kritik übt, sondern auch nachsichtig über die Unzulänglichkeit der Menschen urteilt:10 Einerseits ist da der außerordentliche Freimut ihrer Tadelund Kanzelrede und der skrupellose Hang zur übertreibenden Verdeutlichung ihrer ablehnenden Haltung; andererseits tritt sie für die humorvoll-nachsichtige Anerkennung der Fehler und der Mängel der Menschen ein. Doch erst eine pragmatische Interpretation, die auf den weiteren Zusammenhang der humanistischen Reform der sprachlichen Bildung, also des Triviums, sowie auf die im Sinne dieser Reform ausgeführte Frömmigkeitslehre des Erasmus zurückgreift, kann dieses Schwanken zwischen Kritik und Anerkennung der gegebenen Verhältnisse genauer als ein demonstrativ zwiespältiges Selbstverhältnis christlicher Parrhesia deuten und dieses in seinen Gründen und Zielen erklären (vgl. hier Kap. V, 3.2. u. 4.).11 9  In der Forschung wird die Korrespondenz zwischen der Form der paradoxen Lobrede und dem Stellenwert von antikonsensualer Rede im philosophischen Gehalt des Lobs der Torheit in der Regel nicht untersucht. Typisch ist allein die Feststellung der rhetorischen Überformung eines kritisch-philosophischen Gehalts. So bezeichnet Dandrey, die Paradoxie als halbernste Gattung verstehend, diese Schrift des Erasmus als „un traité de philosophie critique dans le seul registre qui ne trahisse pas un tel projet: celui paradoxe“. Dandrey: L’éloge paradoxale. S. 52. 10  Diese Ambivalenz wurde oft thematisiert, vor allem um die versöhnliche Haltung der Stultitia als revolutionär in der Geschichte der Narrenliteratur hervorzuheben, jedoch kaum überzeugend interpretiert. Vgl. Mezger, Werner: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur. Konstanz: 1991. S. 56f, S. 58, S. 68; Könneker, Barbara: Wesen und Wandel der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant, Murner, Erasmus. Wiesbaden: 1966. S. 251; dies.: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werke – Wirkung. München: 1991. S. 93-95; Tomarken: The Smile of Truth. S. 36; Williams, Kathleen (Hg.): Twentieth Century Interpretations of The Praise of Folly. New Jersey: 1969. S. 21f., 113f. u.ö. 11  Diese Interpretation stützt sich zum Teil auf Ansätze, die auf das für Erasmus’ Rhetorik sowohl sachlich als auch stilistisch wichtige christliche Erkenntnismodell der Diskrepanz zwischen Innen und Außen (meist am Beispiel der Sileni Alcibiadis) hinweisen. Vgl. zum allgemeinen Spannungsfeld von christlicher Weltdeutung (Diskrepanz von Innen und Außen) und christlicher Rhetorik (Stilideal der Niedrigkeit) bei Pico de la Mirandola, Erasmus von Rotterdam, Sebastian Franck und Rabelais – jedoch ohne Bezug zum Lob der Torheit – die Untersuchung von Müller, Jürgen: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels. d. Ä. München: 1999. S. 90-124. Dandrey gründet seine Interpretation des Lobs der Torheit auf Erasmus’ Modell der Diskrepanz zwischen Sein und Schein (Sileni Alcibiadis), vgl. ders.: L’éloge paradoxale. S.  47-61. – Auf dieses

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Erasmus ’ von Rotterdam Lob der Torheit

Kritik und Anerkennung, damit sind schlagwortartig auch zwei Merkmale bezeichnet, durch die das Lob der Torheit, verstanden als eine stilistisch amplifizierte Darstellung der von Erasmus favorisierten Praxis antikonsensualer Rede, eine Zwischenstellung zwischen antik-philosophischen und aufklärerischmodernen Praktiken antikonsensualer Rede einnimmt. Hinter der scharfen Kritik des Lobs der Torheit stand zwar noch die metaphysische Annahme eines Rückhalts in der Unbezweifelbarkeit der Sache selbst, die Erasmus’ Schrift etwa mit Ciceros Paradoxa Stoicorum verband.12 Doch zugleich sprach aus dieser großen kritischen Geste das bereits auf die Aufklärung vorausweisende Selbstbewusstsein des humanistischen Gelehrten, der aufgrund seiner Methode der forschenden, ja textanalytisch-hermeneutischen Lektüre und Auslegung der Quellen des Glaubens und der Weisheit keine unbedingte Rücksicht auf die gegenwärtig angesehene Meinung und das autoritative Wort der Kirche nehmen musste. Die sprachlich-argumentative Methode der Humanisten erlaubte eine nicht zuletzt auch durch das theologische Argument christlicher Weltverachtung unterstützte Ausweitung der epistemologischen Legitimität antikonsensualer Rede gegenüber der platonisch-sokratischen Tradition der Paradoxie. So konnte der humanistische Sprecher, den Erasmus im Lob der Torheit in der Rollenrede der Stultitia inszenierte, nicht nur die Berechtigung seiner Stellungnahmen, sondern auch deren paradoxe Anmutung – sei sie sachlich begründet oder sprachlich inszeniert – durch seine Bindung an die Wahrheit, das heißt hier: durch die Sache selbst begründen. Denn seinem Erkenntnismodell zufolge war die Wahrheit etwas, das naturgemäß versteckt und verhüllt und verkannt war, anstatt dem Menschen, wie etwa Platon und Cicero angenommen hatten, mehr oder weniger von selbst einleuchten zu können (vgl. Kap V, 5). Als eine Art Zwischenschritt zwischen antiken und modernen philosophischen Paradoxie-Konzepten lässt sich darüber hinaus auch die affirmative Geste der Stultitia verstehen. Mit ihr modifizierte Erasmus das sokratische Prinzip des freimütigen Wahrsprechens auf eine Weise, die zum Teil schon an aufklärerisch-romantische Praktiken antikonsensualer epistemologische Modell einer grundsätzlichen sachlichen Ambiguität (Innen/Außen) beschränkt, entgeht beiden Ansätzen jedoch die ethische Funktion der sozialen Ambiguität zwischen Abweichung und Solidarisierung, die sich im moraltheologischen Konflikt zwischen der Legitimität und der Illegitimität antikonsensualer Rede zuspitzt. 12  Zur häufigen auch expliziten Anknüpfung paradoxer Enkomien der Humanisten an die sokratisch-ciceronische Tradition Dandrey: L’éloge paradoxale. S.  22. – Am Ende des Lobs der Torheit (§66), wo die Ironie hinter eine ernsthafte, predigtartige Schreibweise zurücktritt, vergleicht die Figur Stultitia die Christen sogar relativ ausführlich mit den Platonikern, weil beide der Ansicht seien, dass der Körper und die mit ihm verbundenen Laster die Seele daran hinderten, das Unsichtbare zu schauen.

Parrhesiastische Eloquenz: humanistische Reform des Triviums

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Rede denken lässt. Dass die Parrhesia sich selbst zurücknehmen, ja sich zuweilen in ihr von Sokrates geschmähtes13 Gegenteil, die Schmeichelei, kleiden müsse, um verkraftbar und daher auf lange Sicht zumindest potentiell erfolgreich zu sein, begründete Erasmus zwar mit moraltheologischen (und noch nicht: mit rein anthropologischen) Argumenten. Gleichwohl sollte die von ihm geforderte kultivierte Anerkennung des Gegebenen, die Einlassung auf eine jeweilige zu verbessernde Situation zumindest der Idee nach als ein Instrument der philosophischen Praxis antikonsensualer Rede auch und gerade im 18. Jahrhundert wieder relevant werden. 5.2

Parrhesiastische Eloquenz: humanistische Reform des Triviums

Als Vertreter des Renaissancehumanismus nahm auch Erasmus von Rotterdam, wie schon die in den drei vergangenen Kapiteln untersuchten Autoren rhetorischer Paradoxien, Stellung zur Rhetorik als einer Fachwissenschaft, die mit der Begründung und der Vermittlung von Konventionen des wirkungsvollen sprachlichen Handelns befasst ist. Die pragmatische Interpretation und historisch-typologische Einordnung des Lobs der Torheit geht daher der These nach, es als Darstellung einer Praxis antikonsensualer Rede zu verstehen, die einer bestimmten Auffassung von sprachlicher Bildung oder rhetorischer Könnerschaft verpflichtet war. Worin bestand nun aber diese Bildung – zumindest in ihren groben Umrissen – und wichtiger noch: Welche Auffassung vermittelte sie davon, was es heißt und wozu es nötig ist, allgemeinen Meinungen zu widersprechen? Der humanistische Beitrag zur sprachlichen Bildung bestand, vereinfacht gesagt, in einer Reform des Triviums, also der drei sprachlich-argumentativen Disziplinen Grammatik, Dialektik und Rhetorik.14 Während diese drei Fächer in der Scholastik getrennt voneinander waren und die Dialektik als abstrakte Lehre logischer Schlussverfahren die größte Bedeutung hatte, deutete der Humanismus das Trivium so, dass alle drei Fächer stufenförmig aufeinander aufbauten: Die Grammatik lehrte die (vor allem lateinische) Sprache, die Dialektik übernahm die Funktion der rhetorischen inventio und bestand genauer in einer inhaltsbezogenen Methode zur Auffindung von Sachverhalten und Argumenten, während schließlich die Rhetorik, weitgehend auf die 13  Platon: Gorgias 463aff. 14  Vgl. für die humanistische Konzeption des Triviums Wels, Volkhard: Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert. Berlin: 2000. Bes. S. 245-250.

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elocutio reduziert, dazu diente, den Redegegenstand mit stilistischen Mitteln zu verdeutlichen (Eloquenzideal). 5.2.1 Humanistische Dialektik und christliche Parrhesia Von besonderem Interesse für die Kategorie der Paradoxie ist die Dialektik, die bei Aristoteles eine Lehre der wahrscheinlichen Schlüsse und in der Scholastik eine Lehre der logischen Schlüsse war. Was die nordeuropäische Renaissance angeht, wurde sie von Rudolph Agricola (ca. 1444-1485), Erasmus von Rotterdam und Philipp Melanchthon (1497-1560) zu einer inhaltsbezogenen Begriffslehre umgedeutet.15 Als Topik, das heißt als Lehre von den Örtern, an denen man Argumente finden kann, fungierte nun ein zumeist moraltheologisches Feld von Begriffen, das heißt: relevanten thematischen Rubriken (zum Beispiel Tugenden und Laster). Diesen Rubriken ordnete man in einem zweiten Schritt der forschenden Lektüre Aussagen, Beispiele und Argumente vor allem aus der Bibel und der Literatur, Philosophie, Rhetorik und Geschichtsschreibung der griechisch-römischen Antike zu.16 Der Begriff der Paradoxie (resp. admirabile oder ein anderes lateinisches Synonym) war kein terminus technicus der humanistischen Dialektik. Als ein rein pragmatischer Begriff zur Bezeichnung einer erwarteten Publikumswirkung konnte man ihn vermutlich gerade deshalb nicht in der Dialektik gebrauchen, weil das Meinungswissen des Publikums kein maßgebliches Überzeugungsmittel war. Gleichwohl kann man aus der Historisierung der Argumentation, also vor allem der Aufwertung antiker Quellen zur maßgeblichen Appellationsinstanz, folgern, dass die humanistische Umdeutung der Dialektik de facto mit einer neuen Möglichkeit der Legitimierung paradoxer Rede einherging, nämlich zumindest derjenigen paradoxen Rede, die sich mithilfe einer textanalytisch gewonnenen Meinung einer antiken Autorität stützen ließ. Bei Aristoteles und Cicero hatte die angesehene Meinung, und das hieß doch im Normalfall vor allem gegenwärtig angesehene Meinung, als eine von der Natur her verlässliche 15  Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanis­ tischer und barocker Wissenschaft. Hamburg: Meiner, 1983. S.  1-30. Vgl. ferner Knape, Joachim: Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in Humanismus, Renaissance und Reformation im europäischen Kontext. S. 81f. In: Rhetorik und Stilistik / Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / An International Handbook of Historical and Systematic Research. 1. Halbbd. Hg. v. Fix, Ulla/ Gardt, Andreas/Knape, Joachim. Berlin: De Gruyter, 2008. S. 73-97. 16  Durch Praxisanleitungen und eigenes Beispiel – die berühmten Adagiorum Chiliades – steht Erasmus am Beginn der sogenannten commonplace-books, die allgemeingültige Thesen, Sentenzen, Sprichwörter und Redewendungen aus historischen Quellen versammelten und kommentierten. Vgl. Moss, Ann: Printed Commonplace-Books and the Structuring of Renaissance Thought. Oxford: 1996. bes. S. 101-115.

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Appellationsinstanz gegolten (endoxa, sensus communis, loci communes). Im Vergleich dazu stieg die Legitimität oder doch die Legitimierbarkeit paradoxer Rede nun, so die These, insofern, als die Kategorie der angesehenen Meinung in der humanistischen Technik der Auffindung von Argumenten gerade zur Bezeichnung eines zu erwerbenden, nämlich historisch-gelehrten Wissens diente.17 Es ist, mit anderen Worten, gerade die humanistische Forderung, ad fontes18 zu gehen, durch welche „das Denken in traditionellen Bahnen … spätestens ab jetzt in Europa eine nicht mehr stillzustellende kritische Konkurrenz [bekommt], die stets auch auf Weiterentwicklung drängt“.19 Zwar schränkte vor allem die inhaltliche Fixierung der Dialektik den Spielraum legitimen Streits maßgeblich ein, das heißt: jene als fraglos vorausgesetzte allgemeine Verständigungsbasis, dass vor allem moraltheologische Themen (Frömmigkeit, Tugenden und Laster, Mensch, Gott etc.) relevant für die alltägliche Rede seien. Dass die Humanisten in diesem Rahmen jedoch durchaus nicht darauf zielten, ihre Argumente mit den jeweils konkreten moralischreligiösen Wertbegriffen des Publikums in Einklang zu bringen, zeigt sich besonders an der neuen, textbezogenen Verwendung des Begriffs locus communis. Cicero hatte damit Sätze bezeichnet, auf deren Zustimmung beim Publikum ein Redner unbedingt rechnen konnte und aufgrund der vorausgesetzten natürlichen Einsichtsfähigkeit der Menschen auch rechnen durfte, zum Beispiel, dass Vatermörder die höchste Strafe verdienen (vgl. Kap. III, 4.1f.). Genauso hatte Aristoteles eine Endoxie daran bemessen, worauf sich, kraft der von ihm angenommenen Erkennbarkeit und Evidenz der Wirklichkeit, eine Mehrheit der Gesellschaft oder der Fachleute faktisch berief; wenn ein einzelner anerkannter Philosoph eine ungewöhnliche These vertrat, nannte Aristoteles sie keine Endoxie, sondern eine Paradoxie (vgl. Kap. II, 5.3.). Bei den Humanisten hingegen konnten nun alle Urteile loci communes genannt werden, die sich durch die Rede einer Autorität stützen ließen, unabhängig davon, wie glaubhaft das Urteil selbst dem gegenwärtigen Publikum schien. Loci communes, die man auch gesammelt in sogenannten Commonplace-books publizierte,20 17  So bezeichnete etwa Agricola im Schlusskapitel von De inventione dialectica (3. Buch, Kap. XVI, Z. 58-63) den sensus communis als das Ergebnis eines ausgiebigen Studiums. Zit. nach Agricola, Rudolf: De inventione dialectica libri tres. Hg. v. Lothar Mundt. Berlin: 1992. S. 556. 18  Das humanistische Motto prägte Erasmus in seiner damals viel beachteten Schrift De ratione studii ac legendi interpretandique auctores, S. 120. In: Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia. Bd. 1, 2. Amsterdam 1971. S. 113-151. 19  Knape: Rhetorik und Stilistik. S. 74. 20   Vgl. Moss, Ann: Printed Commonplace-books and the Structuring of Renaissance Thought. Oxford: Clarendon Press, 1996.

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waren der durch forschende Lektüre gesammelte Zitatenschatz einzelner Gelehrter. Mit ihnen füllten die Humanisten die besagten moraltheologischen „Rubriken – wie ein Kleinteilemagazin – mit einbaufähigen Redestücken […], die der Redner nicht erst nach Anweisung herstellen muß, sondern aus denen er nur zu wählen braucht“21. Da sich die angesehene Meinung oder der Gemeinplatz in dieser Weise nicht durch Geläufigkeit, sondern durch die Herkunft aus einer vertrauenswürdigen Quelle auszeichnete, konnte man im 16. Jahrhundert auch von paradoxen Gemeinplätzen sprechen.22 Die Skrupellosigkeit, mit der im Humanismus auch paradoxe Urteile vertreten werden konnten, erinnert an die philosophische Parrhesia – und nicht zufällig zitierte Erasmus im Zusammenhang einiger von ihm sogenannter christlicher Paradoxien die Stoiker, um für ein ähnliches mutiges Eintreten für die Wahrheit zu werben (vgl. unten 3.). So soll im Folgenden auch von einer christlichen Parrhesia gesprochen werden, weil die humanistische Dialektik antikonsensuale Rede stets mit dem Argument legitimieren konnte, dass sie der Wahrheit verpflichtet sei, der sie über den Rekurs auf einen aus autoritativen Quellen zusammengesetzten gelehrten Konsens nahezukommen hoffte. Mit dem Wegfall der Kategorie der angesehenen Meinung, wie sie Aristoteles und Cicero gemeint hatten, hängt noch ein zweiter Punkt zusammen, der Implikationen für die Legitimität der Paradoxie hatte. Wie bereits angedeutet, ermöglichte es die inhaltliche Topik dem humanistischen Gelehrten, für seine Argumentation nicht nur deduktiv von unumstößlichen Prämissen auszugehen, sondern auch induktiv aus der Geschichte der Gelehrsamkeit zu schöpfen, also etwa autoritative Zitate und Beispiele vorzubringen. Durch diese Aufwertung der Quellen wurde die Argumentation „frei für eine vielseitige und umfassende Orientierung – und für die spätere Vermessung – eines wissenschaftlichen Feldes, das alle Sorten von Historia umfaßte: Historia naturalis und civilis, zugleich Kenntnis von Politik und Rhetorik“.23 Von 21  Coenen, Hans Goerg: Locus communis. Sp. 408. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen: 2001. Sp. 298-412. 22   Moraltheologische Gemeinplatzsammlungen trugen entsprechende Titel. Vgl. etwa Venning, Ralph: Orthodox Paradoxes theoretical and experimental, or, a Believer clearing Truth by seeming contradictions. With an appendix, called the Triumph of Assurance. 5th. Edition. London: 1652; sowie Franck, Sebastian: Paradoxa Ducenta octoginta. Ulm: 1534. Beide erklärten den Begriff der Paradoxie hier ausdrücklich mit Bezug auf den Stoizismus, Venning im Widmungsschreiben, Franck zu Beginn der Vorrede. Insofern erlaubte die Auffüllung der humanistischen Rubriken mit historischen Loci communes es den humanistisch Gebildeten auch, den historischen Begriff der Paradoxie, vor allem seine affirmative stoische Definition (verkannte Wahrheit) als ein „Redestück“ aus der Philosophie- und Rhetorikgeschichte argumentativ oder doch ornamental einzusetzen. 23   Schmidt-Biggemann: Topica universalis. S. 14.

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seinen Zeitgenossen hatte Erasmus, etwa in seiner berühmten Sammlung von mehreren tausend Sprichwörtern und Redewendungen Adagia (mehrfach überarbeitet, zuerst als Collectanea adagiorum, Paris 1500), „die Ausweitung dieses topischen Feldes in die Rhetorik und in den Schatz der Historie und Poesie am weitesten getrieben“.24 Die historischen loci communes, an die er dachte, umfassten für ihn aber nicht nur Sprichwörter. Bei loci communes dachte Erasmus an den antiken Mythos, die Fabel, das Sprichwort, das Urteil, die Parabel, das Gleichnis, das Bild und den Vergleich ( fabulam, et apologum, proverbium, judicia, parabolam, seu collationem, imaginem, et analogiam).25 Der Gewinn an sententiöser Weisheit kostete die logische Stringenz: Sprachinhalte und Kategorien waren völlig identisch, das Wissen war formal nicht unterscheidbar, ein einförmiges Feld sinnvoller Einzelweisheiten, gewonnen aus gelehrter Historie.26

Doch durch eben diese „Vereinzelungstendenz des Wissens“27, dessen Aneignung und Vermittlung die sprachliche Bildung lehrte, eignete es sich zugleich zur Adaption an eine vielseitige Praxis alltäglicher Rede.28 Auf die Darstellung möglicher sozialhistorischer Anlässe dafür, Bildung nicht nur von der (theologischen) Gewissheit, sondern auch von der Diversität der Praxis und vor allem von einem vielfältigen kommunikativen Verkehr her zu konzipieren, kann hier nur verwiesen werden.29 In der humanistischen Dialektik herrschte 24  Ebd. S. 15. 25  De copia rervm ac verborvm, S.  232. In: Opera Omnia Desiderii Erasmi. Bd. 1, 6. Hg. v. Betty I. Knott. Amsterdam: 1988. 26   Schmidt-Biggemann: Topica universalis. S. 19. 27  Ebd. 28  „Was es von den Humanisten zu lernen gibt, ist ihre Praxisnähe, ist die Ausrichtung ihrer theoretischen Werke auf ihre Anwendung im alltäglichen Sprechen hin“. Wels: Triviale Künste. S. 247. 29  Vgl. zu den Entstehungsbedingungen des Humanismus Maissen, Thomas: Schlußwort. Überlegungen zu Funktion und Inhalt des Humanismus. S. 398-400. In: Ders./Walther, Gerrit (Hg.): Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen: 2006. S.  396-402. Siehe dort vor allem den Hinweis auf „die neuen Strategien beim Umgang mit Differenz, die nicht auf die logische Auflösung von Widersprüchen im Sinn des scholastischen aut … aut hinauslaufen, sondern auf den moralphilosophischen Umgang mit Uneinheitlichkeit, auf ein et  … et, wie es paradigmatisch bereits das Nebeneinander von Antike und Christentum vorführt“ (S.  400), und auf „die fundamentale Bedeutung der Sprache für die Humanisten, der Sprache als Mittel, um Uneinheitliches zu verknüpfen“ (S. 400), zur Zeit der Entstehung einer komplexeren, urban-bürgerlichen Kultur „mit überregionalem Fernhandel, mit Banken, Notariat und Buchhaltung, mit wiederbelebtem römischen Recht und rasch zunehmender Schriftlichkeit“ (S. 399).

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jedenfalls die Tendenz zur Historisierung und Pluralisierung der Kategorie des locus communis. Daneben tat sich jedoch auch eine ganz neue Möglichkeit auch der ausdrücklichen Diskussion und Bewertung der Kategorien Paradoxie und Konsens auf. Die ganze Frage nach der Legitimität antikonsensualer Rede konnte gerade durch die Reduktion der Dialektik auf thematische Rubriken offenbleiben – und eben deshalb als eine inhaltliche, moraltheologische Frage behandelt und nach beiden Seiten hin diskutiert werden. Von dieser Möglichkeit machte Erasmus in drei seiner Schriften Gebrauch (De copia, Enchiridion, Laus Stultitiae). An dieser Stelle sei zunächst nur eine Passage aus De duplici copia verborum ac rerum (Paris, 1512) genannt, in der Erasmus die dialektische Praxis des themengeleiteten Exzerpierens (ratio colligendi exempla, 258) beschrieb.30 Darin führte er unter anderem vor, wie man aus einem Beispiel verschiedene loci communes ziehen und in die eigene Sammlung aufnehmen könne: Mit dem Beispiel des Sokrates, der seinen eigenen Tod riskierte, könne man einerseits dafür argumentieren, dass Philosophie nutzlos sei, wenn man nicht danach lebe, und andererseits dafür, dass das philosophische Leben großes Unglück über Angehörige und Freunde bringen und einen Menschen daran hindern könne, seiner Zeit zu nützen.31 Indem diese Stelle zwei konträre Prämissen durch ein und dasselbe Beispiel gestützt sieht, kann sie zum einen illustrieren, inwiefern‚ ‚der Gewinn an sententiöser Weisheit […] die logische Stringenz [kostete]‘32. Insbesondere aber zeigt sie, dass die paradoxe Rede, hier verstanden als das von Sokrates verkörperte freimütige Aussprechen der Wahrheit, von der Dialektik nicht eigens beurteilt wurde, sondern vielmehr gerade mit ihren Mitteln in beide Richtungen diskutiert werden konnte. Die humanistische Dialektik bot Erasmus in diesem Sinne die Mittel, mit denen sich eine christlich-humanistische Parrhesia sowohl legitimieren als auch  – gewissermaßen selbstkritisch – limitieren ließ. Die zitierte Stelle ist umso wichtiger, als Erasmus, wie zu zeigen ist, die gleiche Argumentation noch viel deutlicher und klarer in eigentlich moraltheologischen Schriften, nämlich in seiner Frömmigkeitslehre Enchiridion und – mit besonderer stilistischer Eindrücklichkeit – im Lob der Torheit vortrug (vgl. hier Kap. V., 3., 4.).

30  Nämlich am Ende des zweiten Teils, vgl. Opera Omnia, 1, 6. S. 230-269, bes. S. 258-269. 31  Vgl. ebd. S. 262f. 32   Schmidt-Biggemann: Topica univeralis. S. 19.

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5.2.2 Rhetorik Humanistische Rhetorik ging von der Annahme aus, dass die dialektisch gefundenen Inhalte zwar schon eine sprachliche Gestalt haben, nämlich die knappe Form des Syllogismus aus Prämissen (zumeist loci communes) und einer Folgerung, dass sie jedoch einer sprachlichen, genauer: ornamentalen Gestaltung bedürfen. Die Veränderung der sprachlichen Gestalt sollte jedoch nicht der Überredung dienen, sondern der effektvollen Präsentation der Sache durch Eloquenz. Mit dem Terminus der eloquentia, den man am besten mit Ausdrucksfähigkeit übersetzt, betonten die Humanisten die „verstehensfunktionale Seite rhetorischer Überformung“33, das heißt: den Anteil der Stilistik bei der Herstellung von Verständlichkeit und das heißt hier eben: bei der Einsicht in die Sache. Damit widersprechen sie „theologischen Puristen, die meinen, die fromme Sache spreche schon für sich“34, womit sie freilich zugleich dem platonischen Erkenntnismodell der unmittelbaren Evidenz der Wirklichkeit (vgl. Kap. III, 4. 3.) widersprechen. Den Humanisten zufolge existiert kein „reines Denken, das vor der Sprache läge“: „Denn“, so Melanchthon, „die Sachverhalte können nicht ohne das Licht der Wörter verstanden werden“.35 Ähnlich formulierend, gab auch Erasmus dem sprachlichen Wissen die Priorität vor dem sachlichen Wissen: Denn da die Sachen nur mittels der Wortbezeichnungen erkannt werden können, so muß notwendigerweise derjenige, welcher keine Sprachkenntnisse besitzt, auch in der Beurteilung der Sachen auf Schritt und Tritt im Finstern tappen, herumraten und fehlgreifen.36

Wurde die pragmatische Dimension der Rhetorik also auf die kommunikative Funktion der elocutio beschränkt, verwundert es nicht, dass die Kategorie der Paradoxie auch im rhetorischen Teil des humanistischen Triviums – wie übrigens generell in den Rhetoriklehrbüchern der Renaissance – nur eine 33  Knape: Rhetorik und Stilistik. S. 79. 34  Ebd. 35  Wels: Triviale Künste. S.  246. Das von Wels übersetzte Zitat Melanchthons lautet im Original: „Nam res sine lumine verborum intelligi nequeunt“ (Elementa rhetorices, Sp. 459. In: Ders.: Opera quae supersunt omnia. Bd. 13. Sp. 417-506. Hg. v. Karl Gottlieb Bretschneider u. Heinrich Ernst Bindseil. 28 Bd. Halle/Braunschweig: 1834-1860). 36  Nämlich zu Beginn von De ratio studii ac legendi interpretandique auctores (1511), in der Erasmus einen humanistischen Lehrplan entwirft: „Etenim cum res non nisi per vocum notas cognoscantur, qui sermonis vim non calleat, is passim in rerum quoque iudicio caecutiat, hallucinetur, deliret necesse est“. Opera omnia, S. 113. Deutsche Übersetzung von Dietrich Reichling, vgl. Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte pädagogische Schriften. Hg. v. Anton J. Gail. Paderborn: 1963. S. 30-46, hier S. 30.

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„relativ geringe Rolle“37 spielte. Da das humanistische Eloquenzideal die Überzeugungskraft der Rede abstrakt an die Ausdrucksfunktion der Sprache und insofern „den Persuasionsfaktor ganz wesentlich an die Elaboriertheit des lateinischen Textes bindet“38, tritt die Unterscheidung von Graden der Abweichung von herrschendem Meinungswissen in der humanistischen Rhetorik in den Hintergrund. Aus dieser Feststellung lässt sich jedoch nicht folgern, dass diese Rhetorik keinen Einfluss auf die paradoxe Rede ausgeübt hätte. Auch wenn die Implikationen der Eloquenzrhetorik für den Umgang mit Paradoxalität wahrscheinlich sehr vielfältig sind, seien hier thesenhaft wenigstens drei mögliche Arten der Stilisierung paradoxer Rede unterschieden. Erstens besagte die Eloquenzrhetorik nicht, dass man jene Strategie Ciceros in den Paradoxa Stoicorum hätte verschmähen müssen, auf Meinungen und Ausdrucksweisen des Publikums zu rekurrieren, wenn dies dem eigenen Redezweck diente; denn loci communes waren zwar hauptsächlich historisch, konnten aber auch aus der Gegenwart bezogen werden.39 Zweitens, und das ist besonders wichtig für die Analyse des Lobs der Torheit, flößte die humanistische Rhetorik ihren Studenten im Großen und Ganzen viel mehr Skrupel davor ein, schlechten Stil zu schreiben, als eine abweichende Meinung zu vertreten. Das heißt, die Rhetorik konnte – zumindest für den Fall, dass man das Risiko der Konfrontation überhaupt auf sich nahm – dazu gebraucht werden, der Paradoxie durch die Mittel der Amplifikation ein noch eindrucksvolleres Äußeres zu geben.40 Hinzu kam schließlich mindestens noch eine weitere Möglichkeit der Stilisierung, welche das Problem des Verstehens weder durch den Rekurs auf Meinungen des Publikums noch durch die emphatische Steigerung der Sachverhalte zu lösen suchte, sondern im Gegenteil durch die Implementierung von uneigentlicher 37  Da die Renaissance sich durch eine Blüte der Rhetorik auszeichnet, was die schiere Anzahl der Traktate angeht, „verwundert es außerordentlich“, so Plett, „daß das Paradoxon in ihnen nur eine relativ geringe Rolle spielt“. Ders.: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S. 91. – Um diesen Umstand und also die Paradoxie als rhetorische Kategorie durch ihre historischen Gestaltungen hindurch zu verstehen, muss man auch die RenaissanceRhetorik bei all ihrem „hohen Entwicklungsstand“ (S. 102) in ihrer historischen Dimension akzentuieren und darf sie nicht „zugleich als historisches Paradigma und als zeitenthobene[n] Modellentwurf“ (S. 102) ausgeben. 38  Knape: Rhetorik und Stilistik. S. S. 77f. 39  In De copia empfiehlt Erasmus etwa, nicht nur exempla aus der lateinisch-griechischen Literatur, sondern auch aus allen Zeiten aller Länder zu sammeln, weil der Mensch besonders durch das bewegt werde, was ihm näher stehe. Vgl. Opera Omnia, 1, 6. S. 232. 40  Amplifikation ist „die eigentliche Aufgabe der eloquentia“. Wels: Triviale Künste. S. 227. Sie meint zum einen die Veranschaulichung und zum anderen die Ausschmückung von Sachverhalten durch weitere, argumentativ aber nicht notwendige Sachverhalte. Vgl. ebd.

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Rede absichtlich noch verschärfte. Die Veränderung der sprachlichen Gestalt durfte nämlich Erasmus zufolge vor allem dann, wenn man sich an Gelehrte wandte, auch zu rätselhaften Allegorien führen.41 Denn das zu Schreibende solle – wohl im Fall der gelehrten oder lehrhaften Kommunikation – nicht so sein, dass alle alles verstehen, sondern so, dass sie dazu gezwungen werden zu untersuchen und zu lernen.42 Im Gegensatz zu Cicero, der selbst von seinem gelehrten Publikum keine hermeneutische Arbeit verlangt, sondern die Überzeugungskraft der Sache in der Rede zur vollen Entfaltung zu bringen versucht hatte, setzte Erasmus tendenziell das aktive Verstehen, das der humanistische Gelehrte in seiner dialektischen und rhetorischen Analyse der Quellen benötigte, auch auf Seiten einiger seiner Adressaten voraus. Statt dem Publikum durch Verdeutlichungen möglichst weit entgegenzukommen, durfte es sogar durch Verrätselung noch herausgefordert werden. Damit ist ergänzend zu der Feststellung, dass die Kategorie der Paradoxie als einer abweichenden Meinung in der humanistischen Rhetorik kein zentrales Thema war, zu sagen: Diese Rhetorik implizierte gleichwohl eine veränderte Auffassung von Paradoxalität, weil sie unter gewissen Umständen Stilisierungen dialektisch begründeter Paradoxien erlaubte, die entweder als Verdeutlichungen den Eindruck von Paradoxalität noch verstärkten oder als Verrätselungen zusätzliche hermeneutische Deutungsarbeit erforderlich machten.43 5.3

Christliche Paradoxalität und Ambiguität im Enchiridion

5.3.1 Erasmus’ Handlungsstrategie der Öffnung des christlichen Glaubens Das Enchiridion militis christiani (1503) kann bei der Aufgabe, das Lob der Torheit als Darstellung einer spezifisch humanistischen Praxis antikonsensualer Rede zu interpretieren, als Referenz dienen, weil es in gewisser Weise eine Parallelschrift zum Lob der Torheit ist. Denn den Inhalt des Enchiridion habe Erasmus, wie er in einem Brief an den Löwener Theologen Martin Dorp (1515) schrieb, im Lob der Torheit lediglich auf spielerische Weise („sub specie

41  In huiusmodi paroemiis allegoria nonnunquam exit in aenigma, neque id erit vitiosum, si doctis vel loquaris vel scribas. De Copia, S. 66. In: Opera Omnia, 1, 6. 42  [N]eque enim ita scribendum vt omnes omnia intelligant, sed vt quaedam etiam vestigare ac discere cogantur. Ebd. 43  Vgl. zur analytischen Anwendung der humanistischen Stillehre als einer humanistischen Lehrmethode Wels: Triviale Künste. S. 247-250.

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lusum“44), das heißt wohl vor allem: mit den stilistischen Mitteln der Figurenrede, der Ironie und der Übertreibung reformuliert. Da das Enchiridion eine zwar inhaltlich komplexe, stilistisch aber leicht verständliche Auffassung darüber enthält, was es heißt, einer allgemeinen Meinung zu widersprechen, sei es hier kurz eingeführt. Beim Verfassen dieser Schrift, die das Thema der Frömmigkeit behandelt, fühlte sich Erasmus der oben kurz erläuterten dialektischen Invention (ad fontes) und den Stilidealen der Einfachheit und der Kürze (simplicitas, brevitas) verpflichtet. So schrieb er jedenfalls in dem offenen Brief an Paul Volz, welcher der populäreren Enchiridion-Ausgabe des Jahres 1518 vorangestellt war, dass es seiner Ansicht nach das Zweckmäßigste sei, wenn man einigen gleichermaßen frommen wie gelehrten Männern die Aufgabe übertrüge, aus den reinsten Quellen der Evangelisten und Apostel und aus den bewährten Interpreten die ganze Philosophie Christi in ihren Grundzügen zusammenzufassen, einfach und doch kenntnisreich, kurz und doch deutlich.45

Mit dem Enchiridion versuchte Erasmus selbst, diese Aufgabe zu lösen und eine aus den Quellen gearbeitete Frömmigkeitslehre in einfacher Sprache zu schreiben. Wie zu zeigen ist, hilft ein Blick auf die Position des Enchiridion in der Frage nach der Legitimität antikonsensualer Rede dabei, dieselbe Position in der teils übertreibenden, teils aber auch deutungsbedürftigen Sprache des Lobs der Torheit wiederzuerkennen. Wie schon angedeutet, beantwortete Erasmus jene Frage auf eine ambivalente Weise. Man muss sogar sagen, dass seine ganze Frömmigkeitslehre durchsetzt ist von ambivalenten Urteilen, die Gegensätze miteinander verbinden. Zwar muss man bei dieser Vorliebe für Ambiguität bedenken, dass religiöses, vor allem aber mystisches Wissen generell das Schreiben und Denken in logischen Widersprüchen legitimiert, weil es von der Differenz und der Einheit von Immanenz und Transzendenz ausgeht. Das heißt, religiöses Wissen hat schon als Thematisierung des christlichen Verhältnisses zur Transzendenz, das bei aller Annäherung an das Himmlische doch der Immanenz verhaftet bleibt, eine Affinität zu ambivalenten Urteilen und, wenn man so will, zu 44  Allen, Percy S. (Hg.): Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami. Bd. 2. Oxford: 1910. S. 93, Z. 91f. 45  si muneris hoc viris aliquot iuxta piis ac doctis delegetur, ut ex purissimis fontibus euangelistarum et apostolorum, ex probatissimis interpretibus universam Christi philosophiam in compendium contrahant, ita simpliciter, ut tamen erudite, ita breviter, ut tamen dilucide. – Zitate aus dem Brief an Volz und dem Enchiridion folgen der Ausgabe von Werner Welzig, vgl. Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Werner Welzig. Bd. 1. Darmstadt: 1995.

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logischen Paradoxien.46 Gleichwohl steht zu vermuten, dass die Besonderheit der humanistischen Moraltheologie, wie sie Erasmus formulierte, mit einer rein logischen Analyse nur unzureichend erfasst wäre. Ergänzend wäre jedenfalls zu sagen, dass Erasmus mithilfe der dialektischen Methode und der von ihr aufgewerteten induktiven Argumentation eine gewisse Zwiespältigkeit oder doch Vielseitigkeit in die Diskussion ethischer Fragen hineinholte. Zwar soll die Handlungsstrategie, die Erasmus mit seiner Moraltheologie – das heißt letztlich: mit seiner dialektischen Methode – verfolgte, hier nicht ausführlich untersucht werden. Allerdings ist es wenigstens für das Gegnerbild seiner Praxis antikonsensualer Rede wichtig zu verstehen, dass Erasmus nach eigener Aussage tatsächlich eine gewisse Flexibilisierung der Ethik und eine Variabilität des Glaubens anstrebte. Die Einheit des Christentums sollte sich auch in unterschiedlichen Formen der Rede und des Handelns bewahren und bewähren können. Im Brief an Volz fragte Erasmus: „Warum schränken wir das Bekenntnis zu Christus so ein, von dem er wollte, dass es weit offen stehe?“47 Die Etablierung einer Offenheit des Glaubens steht gegen dessen Dogmatisierung. Es ist daher charakteristisch, dass Erasmus im selben Brief bei aller vorausgesetzten religiösen Gewissheit die skeptischen Topoi der Vielfältigkeit der Menschen (plures sunt rerum humanarum species) und der Verschiedenheit der Umstände (circumstantiarum varietas) gebrauchte, um dogmatische Ratschläge von der Art „Hoc facies, hoc fugies!“ zurückzuweisen, die eindeutig deklarierten, was zu tun und was zu lassen sei (‚Tu dies, meide jenes!‘).48 Im Enchiridion selbst tauchte dieses Gegnerbild der Simplifikation dann prominent im ersten inhaltlichen Abschnitt über den Wert der Wachsamkeit (vigilantia) für das christliche Leben auf. Da hieß es, dass es keine einfache Methode (ratio simplex) gebe, um diese (irdische) Welt zu bekämpfen.49 Im Folgenden gilt es zu zeigen, inwiefern Erasmus’ Frömmigkeitslehre die Zwiespältigkeit des Urteils gegen einen (angeblichen) Konsens der vereinfachenden Dogmatisierung setzte und dabei – reflexiv – auch die Praxis antikonsensualer Rede selbst einem zwiespältigen Urteil unterwarf. 46  Vgl. Luhmann, Niklas/Fuchs, Peter: Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität? In: Dies.: Reden und Schweigen. Frankfurt/Main: 1989. S. 70-100; Haas, Alois Maria: Das mystische Paradox. In: Geyer/Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox. S. 273-294; Alt, Peter-André: Paradoxie als Medium religiösen Wissens. Mystischhermetische Semantik und poetische Struktur im 17. Jahrhundert. In: KulturPoetik 11, 1 (2011). S. 21-46. 47  Cur sic arctamus Christi professionem, quam ille latissime voluit patere? Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Bd. 1. S. 48f. 48  Vgl. ebd. S. 20. 49  Neque vero simplex oppugnandi ratio. S. 58.

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Paradoxalität: zur Zwiespältigkeit ihres Inhalts und ihrer Legitimation In einem Abschnitt des Enchiridion (Regulae quaedam generales veri Christianismi, Canon sextus, S. 240-268) präsentierte Erasmus seine Frömmigkeitslehre in Gestalt einiger „veri Christianismi paradoxa“ (Ench. S. 268), Paradoxien des wahren Christentums. Sie waren in Form und Inhalt offensichtlich an die stoischen Paradoxien angelehnt. Durch diese gelehrte Nachahmung der Stoa stützte Erasmus seine Vorstellung, dass das christliche Leben auch eine oppositionelle Haltung zur allgemeinen Meinung und ein mutiges Aussprechen der Wahrheit erfordere. Ausdrücklich schrieb er, dass er die Christen, die es wagen wollten, sich für jene verkannten Wahrheiten einzusetzen, eben wegen dieses Freimuts in einer Reihe mit den „Brahmani, Cynici, Stoici“ (ebd.) stehen sehe. Es handelt sich um drei Paradoxien, die er jeweils noch kurz variierte und ausschmückte: Allein die Tugend ist das Beste, das Süßeste, das Schönste und das Nützlichste (solam virtutem optimam esse, dulcissimam, pulcherrimam, honestissimam, utilissimam, S. 244); wahrer Adel ist es, Knecht Christi zu sein (Vera nobilitas est servum esse Christi, S. 252); und das wahre und einzige Vergnügen ist die Freude des reinen Gewissens (Vera et unica voluptas gaudium est purae conscientiae, S. 256). Ganz ähnlich wie schon bei den stoischen Paradoxien (Nur die Tugend ist ein Gut; nur der Weise ist reich etc.), so führte auch hier die Verabsolutierung eines einzigen Gutes (hier: das Leben in der Nachfolge Christi) zur Relativierung aller übrigen vermeintlichen Güter, die dabei zwar nicht generell verurteilt, aber doch zu wertneutralen Dingen degradiert werden (hier etwa: Lust, Adel, Schönheit etc.). Wie in der stoischen Ethik, so schlug sich die paradoxe Aufwertung eines einzigen Guts – bzw. die paradoxe Entwertung sonstiger Güter – auch in Erasmus’ Frömmigkeitslehre sprachlich in der moralischen Umdefinition alltagssprachlicher Wertbegriffe nieder: utile, nobilitas und voluptas also in einem geistlichen Sinne. Interessant ist dabei, dass das Konzept der Paradoxie durch dessen christlich-moraltheoretisches Fundament eine inhaltliche Bedeutung und eine Legitimation erhielten, die bei den stoischen Paradoxien so nicht gegeben waren. Insbesondere unterschied sich Erasmus’ Verständnis des einzigen Guts – und damit auch der normative Gehalt und die Legitimationsbasis antikonsensualer Rede – bei aller Nähe zur stoischen Ethik durch die Ambiguität des moraltheologischen Urteils grundlegend von den stoischen Paradoxien. Drei solcher Ambiguitäten seien im Folgenden vorgestellt. 1) Zeitliche Ambiguität: Im Unterschied zum summum bonum der stoischen Ethik (Tugend) ließ sich das der erasmischen Frömmigkeitslehre (Christus) im Grunde nur anstreben, aber nicht im Hier und Jetzt besitzen. Denn Christus nachzustreben hieß für Erasmus, einen lebenslangen Prozess der Vergeistigung 5.3.2

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zu durchlaufen, stets wachsam zu sein (vigilandum esse in vitam, S. 56) und das irdische Dasein als einen pausenlosen Kampf (perpetua militia, S. 56) zu betrachten. Es handelt sich insofern um eine Dynamisierung des höchsten bzw. einzigen Guts, wobei eine Ambiguität in zeitlicher Hinsicht bestand. Wenn nämlich der Körper als die Eva in uns (Eva nostra, S. 58) noch immer zu tödlichen Begierden (ad mortiferas voluptates, S. 58) reizt, denen man – in den Augen der Welt: paradox – zu widerstehen hat, dann kann man sowohl eine Übermacht vor sich sehen als auch sich im eigenen Widerstand auf dem richtigen Weg wähnen. Sowohl das noch nicht als auch das schon bald der göttlichen Gnade (divina gratia, S. 72) sind Ausdruck von Frömmigkeit, weil gerade das Vermeiden der Sorglosigkeit Grund zur Zuversicht gibt. Erasmus empfahl hier einen mittleren Weg zwischen Sorglosigkeit und Entmutigung (medius cursus, S. 72-74). Erst diese ambigue Sinnprägung erlaubte es, dass die paradoxe Stellungnahme gegen die (vermeintlich erstrebenswerten) voluptates genauso fromm als Misstrauen gegen die eigene Religiösität wie als Vertrauen auf göttlichen Beistand und somit als ein spezifisch christliches, spannungsvolles Verhältnis zur Transzendenz verstanden werden konnte. 2) Sachliche Ambiguität: Erasmus’ Frömmigkeitslehre gab eine weitere Ambiguität zu bedenken, die mit der Verschränkung von Immanenz und Transzendenz zu tun hat, nämlich die Feststellung, dass im Menschen wie in den Dingen überhaupt Innen und Außen, Geist und Körper, Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit als Getrenntes zusammengehören. Was den Menschen angeht, so werde er durch die Seele konstituiert (Anima constituit homines, S.  142), die unentschieden und unbestimmt (medium et indifferens, ebd.) zwischen Geist und Körper, also zwischen Frömmigkeit und Gottlosigkeit (vgl. ebd.), zwischen innerem und äußerem Menschen (vgl. S. 124) stehe. Wie der Mensch zwei Seiten in sich vereine, so sei es laut Erasmus mit allen Dingen. Während etwa der Weg des Lasters traditionell als leicht und angenehm, der Weg der Tugend dagegen als schwer und schmerzvoll gegolten hatte,50 gestand Erasmus lediglich zu, dass der Weg der Tugend rauh und öde erscheint (virtutis via … quod aspera videatur ac tristis, S. 160). Und er ergänzte, „daß nichts trüber und trauriger ist als die Laster, nichts freier und heiterer als die Tugend“.51 Gemeint war hier eben nicht bloß eine subjektive Täuschung, sondern eine Diskrepanz in der Sache selbst; denn das Erstrebenswerte habe es an sich, 50  Vgl. die bekannte Gestaltung der Geschichte von Herakles am Scheideweg durch den Sophisten Prodikos in Schirren, Thomas/Zinsmaier, Thomas (Hg.): Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Stuttgart: 2003. S. 236-245. 51  Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 1. Enchiridion. S. 165. = nihil esse vitiis turbulentius tristiusque, nihil virtute expeditius atque hilarius.

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nach etwas zu Vermeidendem auszusehen, und umgekehrt. Wenn die Tugend sich durch eine Außen- und eine Innenseite auszeichnet, so die Überlegung, dann wird auch der frommste Mensch, wenn er in der Heiterkeit der Tugend lebt, nach außen traurig erscheinen: Du wirst der Lüste entbehren, aber innere genießen, die süßer, ehrlicher und gewisser sind (Carebis voluptatibus, sed frueris internis, quae sunt vel suaviores vel sinceriores vel certiores, S. 166). Erasmus lehrte einen solchen zweiten Blick auch auf die Frömmigkeit zu werfen, indem er die symbolische Welt des Glaubens als „Fleisch der Frömmigkeit“ bezeichnete (carnem pietatis, S. 198): Es sei gut, regelmäßig zu fasten und zur Messe zu gehen, aber wenn man dabei nur an die Vorschriften denke oder für sich selber lebe und nicht im Geist beim Geist Christi sei, dann sei es nichts anderes als Aberglaube (vgl. ebd.). In diesen Zusammenhang gehörte auch jener Satz im Enchiridion, der für große Empörung sorgte, dass das Mönchtum nicht die Frömmigkeit sei: „Monachatus non est pietas“.52 Erasmus wendete sich damit gegen die Auffassung einiger Mönche, die schon in ihrem Mönchtum einen Beweis ihrer Frömmigkeit sahen. Er sah darin zunächst einmal eine Lebensform (vitae genus, ebd.), die wie jede andere religiöse Lebensform noch kein Beweis tatsächlicher, innerer Frömmigkeit sei. Dieselbe Tendenz, das fromme Leben als eine innere Einstellung gegen seine Gleichsetzung mit einer bestimmten Lebensform oder Symbolik zu verteidigen, hatte auch Erasmus’ Beurteilung der Lektüre der Bibel. Diese könne durchaus schaden, wenn man nur den buchstäblichen Sinn verstehe, da zum Beispiel das Alte Testament manche scheinbare Ungereimtheiten enthalte (absurda in speciem, S.  192), während sich großer Gewinn aus der Lektüre heidnischer Sagen, also der griechischen Mythologie ziehen lasse, sobald man ihren allegorischen Sinn erkenne (S. 190-192). Wie später noch näher erläutert werden soll, legitimierte dieses religiöse Wissen von der Innen- und der Außenseite der Dinge es letztlich auch, die Frömmigkeitslehre nicht nur in die ungelehrte und schlichte Sprache des Enchiridion, sondern sogar ins scheinbar Lächerliche der Laus Stultitiae zu kleiden. Vorerst sei noch eine dritte Ambiguität der religiösen Sicht auf die Welt genannt, die, weil sie in sozialer Hinsicht besteht, direkt das Problem der Legitimität der Praxis antikonsensualer Rede berührt. 3) Soziale Ambiguität: Durch die Orientierung an der Transzendenz lehrte das religiöse Wissen des Erasmus nicht nur den Zweifel an dem ersten Eindruck und der Außenseite der Dinge. Es vermittelte, damit zusammenhängend, einerseits auch einen negativ konnotierten Mehrheitsbegriff. So behauptete Erasmus als eine Regel des christlichen Lebens, „daß, wer zu Christus strebt, soweit wie 52  Ebd. S. 370. Vgl. zur Wirkung ebd. S. XII.

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möglich von den Taten und Meinungen der Allgemeinheit abweicht“ (ut animus ad Christum anhelantis a vulgi tum factis tum opinionibus quammaxime dissentiat, S. 240). Eine solche pessimistische Sicht auf das Wert- und Wahrheitsempfinden der Meisten und eine entsprechende Legitimierung von größtmöglichem Dissens konnte Erasmus bei Sokrates, der Stoa oder Cicero nicht finden, weil die Sache selbst, der aus klassisch-hellenistischer Sicht unmittelbare Evidenz innegewohnt hatte, erst aus christlicher Sicht einen unglaubhaften Anschein erhielt: Sie überschreite nämlich alle irdischen Instanzen der Glaubhaftigkeit (Autoritäten, Tradition, Mehrheit) und erscheine ihnen auf den ersten Blick als unscheinbar oder sogar abstoßend (vgl. zum humileMotiv hier Kap. V., 5.). Weil die geringe Glaubhaftigkeit des religiösen Wissens mit der religiösen Sache selbst und ihrer Innen-Außen-Diskrepanz begründet wurde, hatte dieses Wissen, obwohl es in der vorchristlichen Antike nicht in dieser Weise zur Verfügung gestanden hatte, gleichwohl die allergrößte Affinität zu Form und Inhalt der paradoxen Lehren antiker Philosophie, wie die veri Christianismi paradoxa gezeigt haben. Andererseits führte Erasmus mit Bezug auf dasselbe religiöse Wissen eine gegenüber den antiken Vorbildern ebenfalls neuartige – und übrigens noch für die Aufklärung und die Romantik überaus wichtige (Kap. VI und VII) – Norm ein, welche die legitime Abweichung von der allgemeinen Meinung, also das freimütige Aussprechen der Wahrheit einzuschränken forderte: Wenn ich aber auch will, daß du dich von der Allgemeinheit deutlich abhebst, so will ich nicht, daß du, wenn du etwas berichtest, wie ein Zyniker überall die Ansichten oder Taten der anderen schiltst, voll Anmaßung verdammst, alle belästigst und gegen jedermanns Leben wütend eiferst[.] (S. 301) Verum heus tu, quemadmodum te volo fortiter a vulgo dissentire, ita nolo Cynicum referentem passim aliorum sententiis aut factis oblatrare, superciliose damnare, odiose obstrepere omnibus, rabiose declamatare in vitam cuiuslibet[.] (S. 300)

Erasmus’ Begründung dieser Norm lautete, dass, wer sich verhasst mache, nicht mehr wohltätig sein könne (ebd.). Daher empfahl er, anscheinend die Differenz zwischen Innen und Außen auf die soziale Welt anwendend, dass man den Nächsten zu sich locken möge durch Höflichkeit, Leutseligkeit, Umgänglichkeit und Nachsicht (comitas, affabilitas, facilitas, commoditas, S. 300). Nur solle man innerlich in jedem Fall bei der Wahrheit bleiben und sie bei passender Gelegenheit mit Menschlichkeit (humanitas, S.  302) verteidigen. Die solidarisch-kooperative Geste dürfte dabei aber wohl keine reine Verstellung gewesen sein. Denn ihr entsprach schon die natürliche, fleischliche

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Verbundenheit des Menschen mit seinesgleichen (naturae instinctus, S. 144), die laut Erasmus ‚selbst die Heiden‘ (ebd.) empfänden. Zudem dürfte Erasmus diese Solidarität sogar als Ausdruck der Frömmigkeit verstanden haben, die immerhin gebiete, allen Menschen von Herzen gut und einzig ihren Lastern feind zu sein (S. 270, 366). In dem bereits zitierten Brief an Paul Volz, der das Enchiridion zusammenfasste und ihm seit 1518 vorangestellt war, problematisierte Erasmus erneut die unbeschränkte Legitimität antikonsensualer Rede: Wenn die Regel der christlichen Liebe zur Hand ist, wird sich danach alles ausrichten. Doch was sollst du tun, wenn diese Regel mit dem im Widerstreit liegt, was sich durch allgemeinen Brauch seit Jahrhunderten eingebürgert hat und was durch die Gesetze der Herrscher festgelegt ist?53

Wenngleich Erasmus hier von einzelnen Redesituationen (Gericht, Parlament, Fest, Predigt) abstrahierte, erinnert seine Frage doch an das alle Funktionalgattungen betreffende Problem der Disziplin der antiken Rhetorik, Schreibstrategien für die Behandlung paradoxer Redegegenstände anzubieten. Welches Verhalten ist angemessen? Pauschal vermochte Erasmus diese Frage nur ambivalent zu beantworten: Verurteile nicht, was die Herrscher in Ausübung ihrer Pflicht tun. Andererseits aber vermenge nicht jene himmlische Philosophie Christi mit menschlichen Vorschriften. (S. 21) Ne damnaris, quod pro suo officio gerunt principes. At rursum noli contaminare caelestem illam Christi philosopiam humanis decretis. (S. 20)

Auch hier warb Erasmus für ein zwiespältiges Verhältnis des Gläubigen zur Gesellschaft. Denn während er die christliche Sache gegen ihre Festlegung auf eine bestimmte „christliche Lebensweise“ verteidigte und so für eine oppositionelle Haltung gegenüber dem Etablierten warb, problematisierte er zugleich das anklagende, offen oppositionelle Handeln.54 Er insistierte mit seinem religiösen 53  Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 1. Epistola ad Paulum Volzium,  S.  21: Si adsit Christianae caritatis regula, ad hanc omnia facile exaequabuntur. At quid facias, cum haec regula pugnabit cum his, quae sunt publico saeculorum usu recepta quaeque principum legibus sancita? S. 20. – Erasmus’ Antwort ist die Konzentration des Glaubens auf Christus, der jedem als Vorbild und Maßstab gelten soll, an dem jeder gemessen wird, ferner die Verbreitung des Glaubens vor allem durch die Priester, das Streben der Herrscher nach Frieden und schließlich Nachsicht mit dem Volk. Vgl. ebd. S. 20-29. 54  Vgl. für eine ethikgeschichtliche Perspektive auf das Phänomen des klugen bzw. unklugen Umgangs mit Moral, allerdings mit späteren Quellen (um 1600) Luhmann, Niklas: Ethik

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Wissen auf einer Ambiguität in sozialer Hinsicht, weil dieses Wissen es erlaubte, paradoxe Stellungnahmen auf fromme Weise sowohl zu unterstützen als auch zu kritisieren. Es scheint, als sei es in Erasmus’ ambivalenter ParadoxieKonzeption darum gegangen, einen praktikablen christlichen Wertekosmos zu vermitteln, mit welchem der Mensch auch unter wechselnden Umständen die eigene Handlungsfähigkeit erhalten und steigern können sollte.55 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Moraltheologie des Erasmus unter anderem eine Auffassung über das Reden gegen allgemeine Meinungen vertrat und so eine entsprechende Praxis antikonsensualer Rede anleitete. Deren zentrales Gegnerbild bestand darin, dass gerade eine einfache, dogmatisierende Denkart (ratio simplex) die Essenz des christlichen Glaubens verfehle. Die christlichen Paradoxien waren an einen Balanceakt gebunden, der die doppelte Natur des Menschen berücksichtigte und die Regulierung der paradoxen Stellungnahme mit umfasste: Dieser Balanceakt verlangte einerseits Misstrauen gegen die eigene Frömmigkeit und andererseits das Vertrauen in Gottes Gnade; einerseits die Loslösung von den Bedürfnissen des Fleisches und andererseits die Relativierung religiöser Vorschriften und Symbole; und schließlich auch, in der rhetorischen Praxis selbst, einerseits den Mut zum Widerspruch und andererseits die umgänglich-nachsichtige Akzeptanz des status quo. 5.4

Das Lob der Torheit: Moraltheologie und ihre stilistische Überformung

Um zu verstehen, inwiefern das Lob der Torheit Ausdruck einer spezifisch religiösen Praxis antikonsensualer Rede war, muss man (wie die Humanisten selbst) zwischen der rhetorisch-stilistischen und der als Reflexionstheorie der Moral. S. 293-295. In: Ders.: Die Moral der Gesellschaft. Hg. v. Detlef Horster. Frankfurt/Main: 2008. 270-347. Luhmann beschreibt vor allem die logisch widersprüchliche Struktur der moralischen Umsicht, der zufolge die Forderung nach Tugendhaftigkeit „Anpassungen an die Verhältnisse, Verzögerungen, ja selbst […] ‚Dissimilation‘ der eigentlichen Absichten“ (S. 294) erlaubt. Was Luhmann mit dem logischen Begriff der Paradoxie beschreibt, heißt hier (auch aus Gründen der eindeutigen Begriffsverwendung) Ambiguität; die Beobachtung ist in beiden Fällen dieselbe. 55  Vgl. dazu eine These von Platt, Peter G.: Shakespeare and the Culture of Paradox. Farnham: 2009. S.  14: „The use of paradox in Shakespeare, as in Erasmus, can be connected to a project of agency rather than of evasion. One can choose to be negatively capable, to engage in both the opportunities for toleration and the challenges to orthodoxy that paradoxon afforded early modern thinkers and writers“.

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dialektisch-inhaltsbezogenen Ebene der Darstellung unterscheiden. Die rhetorische Ebene betrifft die gattungsmäßige Stilisierung des Textes zu einem paradoxen Lob und damit zu einer einseitigen (und schon als solcher Misstrauen erweckenden) Betrachtung und Verherrlichung ausgerechnet der „Torheit“, die zumindest aus der Sicht des Textes gemeinhin als tadelnswert gilt.56 Explizit knüpfte Erasmus im Widmungsschreiben vor allem an neusophistische Vertreter der Gattung an,57 wohl vor allem deshalb, weil es ihnen – im Unterschied zu den klassischen Sophisten – zunächst und vor allem um eine ästhetisch-zweckbefreite Schreib- und Redeweise ging. Doch auch die Anwendung dieser Formvorgabe auf den Haupttext, seine entsprechende Stilisierung, in der das, was im Verlauf des Textes mit ‚Torheit‘ gemeint sein sollte, inhaltlich noch unbestimmt blieb, zieht sich durch den gesamten Text: Der griechisch-lateinische Titel Morías Enkómion sive Laus Stultitiae, die Gattungsbezeichnung declamatiuncula (S.  2) bzw. declamatio (S.  8), die Einführung der Figurenrede durch das anfängliche „Stultitia loquitur“ (S.  8) und der beständige Rückgriff der Argumentation auf Topoi des Personenlobs wie hohe Abstam­mung (§§8f.), Klugheit bzw. Weisheit (§29f.), nützliche Taten (§§27f. u.ö.) und Gottähnlichkeit (§10) – all das dient zunächst der Implementierung der abstrakten Gattungsregeln einer paradoxen Lobrede in den Text, besonders ausgeprägt übrigens im ersten und längsten Teil (§§1-46). Die paradoxe Lobrede ist nun zwar jene Form, die den Text als Ganzen stilisiert. Tatsächlich integrierte Erasmus in diese Form allerdings noch weitere Gattungen, von denen vor allem im Mittelteil die Satire58 (§§47-61) eine wichtige Rolle spielte. Dort übt Stultitia in einem ironisch gemeinten Selbstlob aufgrund ihrer vielen Anhänger moraltheologische Kritik an der Gesellschaft. Der Schlussteil hingegen erinnert an eine Predigt; dort wechselt die Redeweise der Stultitia zum ernsthaften Aussprechen der Wahrheit des christlichen Tugendlebens (§§62-68). Dass sein Lob der Torheit ernste und ironische Passagen enthalte, ließ Erasmus schon im Widmungsbrief erkennen. Dort verteidigte er zwei Dinge im Voraus gegen mögliche Kritik: leichtsinnigere Späße, als sie sich für einen Theologen gehören (leuiores esse nugas quam vt theologum deceant, S. 4) und bissigere Späße, als sie sich mit der christlichen Milde vertragen (mordaciores quam vt Christiane conueniant modestie, ebd.). In der folgenden Analyse 56  Vgl. nur den ersten Satz im §1. Nachweise erfolgen im Text und beziehen sich auf Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. S. 1-211. 57  Vgl. Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. S. 5. Siehe ebd. auch §3, S. 13. 58  Satire verstanden als eine normenbasierte, ästhetisch pointierende Entlarvung falscher Werte, vgl. Könneker, Barbara: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werke – Wirkung. München: 1991. S. 11-21.

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werden beide Elemente wiederkehren, also wortspielerische Übertreibungen, welche die Paradoxalität des moraltheologischen Standpunkts steigern, und eine in ihrer Legitimität einerseits ausgeweitete und andererseits aber auch der christlichen Milde verpflichtete und insofern limitierte Art und Weise der Kritik. Den Konflikt mit der christlichen Milde verteidigte Erasmus mit dem Hinweis auf zwei Autoritäten, die sich noch größere Freiheiten herausgenommen hätten als er: den heiligen Hieronymus, der in theologischen Kontroversen bissige Polemik geübt habe, und Juvenal, den prominenten Vertreter der römischen Verssatire. Hier kündigt Erasmus auch unter Verwendung des rhetorischen Fachbegriffs an, dass Stultitia tadeln wird (vituperare, S. 6). Dies lässt sich als Ironiesignal verstehen, bei dem allerdings, als würde die Ambiguität der zu vermittelnden Frömmigkeitslehre das Verständnis noch nicht genug erschweren, offen bleibt, wo genau das ironische Lob versteckt ist und wo Stultitia tatsächlich lobt. Was den anderen Einwand angeht, manche Scherze würden sich nicht mit dem theologischen Decorum vertragen, erinnerte Erasmus unter anderem an Polykrates’ und Isokrates’ Lob des Busiris und Lukians Lob der Fliege sowie an die antike Tradition der parodistischen Literatur, zum Beispiel (Pseudo-)Homers Froschmäusekrieg und (Pseudo-)Vergils Mücke, die Erasmus noch ihren jeweiligen Vorbildern zuschrieb (vgl. S. 4). Was Erasmus bei dieser vermeintlichen Kontinuität der Gattungen jedoch vermutlich bewusst unterschlug und was nur vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung verständlich wird, ist, dass bei aller Affinität zur Gattung des paradoxen Lobs gerade in der Funktionalisierung dieser Gattung große Unterschiede zwischen Isokrates und Lukian und noch größere Unterschiede zwischen den beiden Sophisten und Erasmus selbst liegen.59 Der wichtigste Unterschied zwischen letzteren ist sicherlich, dass Erasmus das technische Vermögen der Sophistik, einen Gegenstand steigern oder herabmindern zu können, zur eindrücklichen oder jedenfalls stilistisch elaborierten Darstellung moraltheologischer, also der Wahrheit verpflichteter Inhalte einsetzte. Durch eben diesen Wahrheitsbezug stand das Lob der Torheit den Paradoxa Stoicorum Ciceros viel näher als den Sophisten. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Erasmus’ Schrift anders als die aristotelisch-ciceronische Rhetorik auch und gerade die emphatische Steigerung paradoxer Sachverhalte, durch die sie auf den ersten Blick lächerlich erscheinen mögen, als der (christlichen) Sache angemessen verteidigen konnte. 59  Tomarken spricht in ihrer Studie The smile of truth über die neulateinische, französische und italienische paradoxe Lobrede der Renaissance von einem „Renaissance habit of citing approved predecessors to create a body of works clearly related but having only minimal shared characteristics“. S. 230 [Herv. v. Verf., CW].

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Die folgende Analyse geht in drei Schritten vor, der Einfachheit halber beginnend am Ende des Lobs der Torheit, weil dort das auch logisch vorrangige eloquente Aussprechen der christlichen Wahrheit im Vordergrund steht, dessen selbstkritische Limitierung oder Dosierung am Anfang des Lobs der Torheit häufiger begegnet. Nicht nur, aber vor allem in den kürzeren letzten beiden Teilen des Textes (§§47-61,  §§62-68) ist es primär die in sachlicher Hinsicht bestehende Zwiespältigkeit (Sein/Schein) seiner Frömmigkeitslehre, für die Erasmus Stultitia streiten lässt. Sie neigt dort überwiegend zur Parrhesia, also dazu, freimütig die Wahrheit auszusprechen: im theologischpredigthaften Schlussteil (4.1.) in der – zusätzlich noch emphatisierten – Form einer paradoxen Aufwertung (das fromme, sorgenvolle Leben als reinstes Vergnügen, ja als Rausch), im satirischen Mittelteil (4.2.) in der wiederum stilistisch gesteigerten Form einer paradoxen Abwertung (das behagliche Leben der Meisten als Verblendung). Im dritten Schritt (4.3.) werden dann Stellen herausgegriffen, die eher typisch für den relativ langen ersten Teil des Lobs der Torheit (§§1-46) sind. An diesem Teil fällt auf, dass Stultitias Rede dort zumindest schwerpunktmäßig gerade nicht auf die philosophische Parrhesia, nicht auf ein paradoxes Wahrsprechen, sondern auf dessen ergänzende Einschränkung oder kultivierte Vorbereitung durch die Anerkennung gewisser Unzulänglichkeiten des Menschen abzielt (bes.  §§19-21,  §29,  §44).60 Die soziale Zwiespältigkeit zwischen oppositioneller und solidarischer Haltung, die ein wesentliches Element in Erasmus’ Moraltheologie war, zeigt sich im Lob der Torheit also im Wechsel von der humorvoll-solidarischen zur freimütig-kritischen Rede der Stultitia. Vor allem dann, wenn man das religiöse Wissen, das Erasmus im Lob der Torheit darstellte, und zwar vor allem die von Erasmus im Enchiridion geforderte sachliche und soziale Zwiespältigkeit des christlichen Glaubens, nicht in die Analyse einbezieht, entsteht nicht zuletzt wegen der besonderen rhetorischen Überformung dieses Wissens ein veritables Deutungsproblem. Während das Enchiridion beschrieb, welche Irrwege dem Gläubigen drohen und mit welchen allgemeinen Regeln „du wie am Faden des Daedalus aus den 60  Wie eingangs schon erwähnt, gilt moralische Umsicht, also Nachsicht mit den Marotten der Anderen anstelle des rücksichtslosen Anprangerns von Lastern und das hier ausgesparte Schmunzeln über die eigenen Fehler anstelle von quälerischen Selbstvorwürfen als ein Teil der ethischen Grundhaltung des Lobs der Torheit. Vgl. nur Mezger, Werner: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur. Konstanz: 1991. S.  56f, 58, 68; Könneker, Barbara: Wesen und Wandel der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant, Murner, Erasmus. Wiesbaden: 1966. S. 251; Tomarken: The Smile of Truth. S. 36; Williams, Kathleen (Hg.): Twentieth Century Interpretations of The Praise of Folly. New Jersey: 1969. S. 21f., 113f.

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Irrtümern dieser Welt wie aus einem unübersichtlichen Labyrinth entrinnen und zum reinen Licht des geistigen Lebens gelangen kannst“61, scheint das Lob der Torheit in seiner von Ironie und Übertreibung geprägten Stilisierung dem Leser die Erfahrung zu ermöglichen, „lost in the labyrinth“62 zu sein. Besonders der in der Forschung des 20. Jahrhunderts bevorzugte Vergleich des Lobs der Torheit mit der logischen Paradoxie des Lügners, der sich selbst als Lügner bezeichnet und also zugleich die Wahrheit und die Unwahrheit sagt, suggeriert allerdings eine irreleitende Erklärung für jenes Deutungsproblem. Zumindest ist es eine Übertreibung von Seiten dieser Forschung zu behaupten, dass im Lob der Torheit wie in der Lügnerparadoxie „jede Behauptung auf mehrfache Weise zugleich bestätigt und aufgehoben“63 werde. Eine solche der formalen Logik analoge Konstruktion, deren Effekt es wäre, „to remove all standards by which the discourse may be measured, to keep the reference wholly internal, so that readers are constantly off balance“64, liegt im Lob der Torheit nicht vor.65 Sie liegt schon deshalb nicht vor, weil die Rede der Stultitia anders als die Rede einer Figur, die in jedem Fall bewusst die Unwahrheit sagt, zwar häufig ironisch und zuweilen auch vielstimmig ist, sich aber nicht durchgängig selbst negiert.66 61  Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 1. S. 149. Quarum ductu tanquam fili Daedalei facile queas e mundi huius erroribus velut e labyrintho quodam inextricabili emergere atque ad puram lucem vitae spiritalis pertingere. S. 148. 62  Kaiser, Walter: The Ironic Mock Encomium. S.  82, vgl. S.  79-83. In: Williams (Hg.): Twentieth Century Interpretations of The Praise of Folly. New Jersey: 1969. S. 78-91. – Vgl. auch im Vorwort von Williams ebd. S. 8-10. 63  Vgl. Könneker, Barbara: Satire im 16. Jahrhundert. München: 1991. S. 90; Huizinga, Johan: Europäischer Humanismus: Erasmus. Hamburg: 1958. S. 65; vgl. Tomarken: Smile of Truth. S. 42. 64  Colie: Paradoxia Epidemica. S. 18. Vgl. ähnlich ebd. S. 15-22, 363f. – Vgl. für die im ideologiekritischen Sinne für Erasmus eingenommene Forschung des 20. Jahrhunderts Williams, Kathleen (Hg.): Twentieth Century Interpretations. Bes. S. 8f., 51-53f., 80-82f, 93f. 65  Vgl. dazu die treffende Kritik Traningers an der Überblendung von logischer und rhetorischer Paradoxie in Rosalie Colies Standardwerk Paradoxia Epidemica (dort programmatisch S. 5f.) als anachronistische Rückprojektion, Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. S. 215f. – Am Beispiel von Shakespeare wendet sich auch Platt gegen die, wie auch er meint, verbreitete Annahme, dass die Renaissance-Paradoxie ein unverbindliches ‚In-der-Schwebe-halten‘ der Rede bedeute. Vgl. Platt: Shakespeare and the Culture of Paradox. S. 45-55. 66  Dazu noch einmal Traninger: „Wäre allerdings die Laus stultitiae eine Übung im Durchhalten einer komplexen Position – analog zur disputatorischen obligatio[…], dann wäre die Argumentation folgendermaßen zu konstruieren: Weil es die Torheit ist, die spricht, müsste alles, was sie lobt, närrisch sein, und alles, was sie tadelt, befürwortenswert. Gerade das ist aber nicht der Fall. Die Ironie der Moria ist nicht stabil in dem Sinn, dass der Leser aufgefordert wäre, einfach das Gegenteil des Gesagten für richtig zu halten“.

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5.4.1 Emphatisierung paradoxer Aufwertung der Frömmigkeit Eine der von Erasmus im Enchiridion genannten christlichen Paradoxien lautete: Die einzige und wahre Lust ist die Freude eines reinen Gewissens. Wie schon gesagt, wandte Erasmus hier offenbar das von der Stoa genutzte Verfahren der moralischen Umdeutung alltagssprachlicher Wertbegriffe (voluptas) an, um den Wert des reinen Gewissens in seiner alles überragenden Bedeutung auszudrücken. Betrachtet man jedoch die entsprechende Stelle im Enchiridion noch einmal genauer, dann zeigt sich, dass Erasmus dieses Verfahren schon in diesem Text und nicht erst in dessen spielerischer Bearbeitung auf Grundlage von religiösem Wissen veränderte: Du irrst, wenn du nicht glaubst, daß den frommen Menschen ihre Tränen weit angenehmer sind als den Unfrommen ihr Lachen, ihre Späße und Scherze; daß diesen das Fasten nicht süßer ist als jenen ihre Haselhühner, Fasane, Rebhühner, Störe und Butten; daß deren einfache Mahlzeiten mit Kraut und pythagoreischen Gemüsen nicht weit köstlicher sind als jene verschwenderischen Leckerbissen. (S. 259)67

Es ist keine Neuheit, die Eigenschaften indifferenter Güter – in diesem Fall der Lust – im übertragenen Sinne dem wahren und einzigen Gut zuzuschreiben. Und doch fällt mit Blick auf den Inhalt dieser Paradoxie eine erste Differenz zur stoischen Ethik auf: Die gleichen Menschen, deren reines Gewissen Erasmus als vergnüglichen und heiteren Zustand beschrieb, schienen zugleich unter Traurigkeit (‚Tränen‘) oder strenger Diät (‚Fasten‘) zu leiden. Erasmus vermittelte den Eindruck, dass die Verherrlichung der Sache der Frömmigkeit nicht für den ganzen Menschen gilt, sondern, um es mit den Worten des Enchiridion zu sagen, auf Kosten des ‚äußeren Menschen‘ geht, der kein bloßer Schein ist, sondern die Natur des Menschen mit konstituiert. Die Stelle sollte also wahrscheinlich nicht besagen, dass der fromme Mensch selbst unter Extrembedingungen vergnügt sei, wie man sich vom stoischen Weisen erzählte, dass er auch unter der Folter glücklich sei. Anders als in der stoischen Anthropologie, die den Menschen als rein geistig moralisches Wesen bestimmte, gehörten bei Erasmus Einschränkung und Enttäuschung gewisser körperlicher Bedürfnisse aufgrund der zwiespältigen Position des Menschen zwischen Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. S.  147; zur obligatio, in der die logische Konsistenz über der faktischen Wahrheit steht, vgl. S. 178-192. 67   Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 1: Erras, si non credis piis hominibus longe iucundiores esse suas lacrimas quam impiis risus, cachinnos iocosque suos. Non his dulcius esse ieiunium quam illis attagenes, Phasides aves, perdices, acipenseres aut rhombos suos. Horum frugales mensulas olusculis et leguminibus Pythagoricis instructas non longe lautiores esse quam istorum sumptuosa fastidia. S. 258.

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Geist und Fleisch notwendig zum gelungenen Leben dazu. So bekräftigte Erasmus mit seiner Verherrlichung der Freuden des inneren Menschen, dass es ein Verlangen des ‚äußeren Menschen‘ nach der Lust im herkömmlichen, körperlichen Sinne und daher auch eine Leidensfähigkeit des Menschen gibt. Eine zweite Differenz betrifft die stilistische Überformung. Sie sticht besonders hervor, wenn man die zitierte Stelle mit Ciceros Strategie der Veranschaulichung in den Paradoxa Stoicorum vergleicht. Cicero hatte darauf abgezielt, die ungewöhnliche Wortwahl der Stoiker in eine allgemein verständliche Redeweise zu übertragen, genauer: den alles überragenden Wert der Tugend durch die Vergegenwärtigung der Denk- und Lebensweise der alten Römer zu veranschaulichen. Im Unterschied dazu sollte Erasmus’ Strategie der Veranschaulichung gerade dazu dienen, den abweichenden, moralischen Gebrauch des Wortes voluptas etwa durch den Vergleich der geistigen Freude an bescheidenen Mahlzeiten mit der sinnlichen Freude an ‚verschwenderischen Leckerbissen‘ sogar noch zu verdeutlichen. Beide Autoren nahmen zwar Standpunkte ein, die sie, obwohl sie sie nicht als Einzige vertraten, mit gewissem Recht als Paradoxien bezeichneten. Doch nur Erasmus schien mit der paradoxen Form seines Standpunkts, dass es also eine regelrechte fromme Lust gebe, die dem Genuss sinnlicher Ausschweifungen vergleichbar, ja überlegen sei, kein oder doch kein generelles Problem zu haben. Die Paradoxie der frommen Lust dient im Zentrum des finalen Abschnitts (§67) des Lobs der Torheit als wichtiges Argument, bevor Stultitia ihre Hörer verabschiedet. Daher knapp zum Kontext dieser Stelle: Bereits seit dem vorigen Abschnitt §66 lobt sich Stultitia nicht ironisch, indem sie gegen ihre ‚Anhänger‘ polemisiert, sondern ernsthaft. Dort erklärt sie, dass die von christlicher Liebe Ergriffenen, weil sie alle ihre Habseligkeiten weggeben und die wie üblich negativ konnotierten Freuden der Welt verabscheuen (voluptatem horrent, S. 200), wie in einer Art Wahnsinn und Torheit (insaniae stultitiaeque genus, S. 200) entrückt zu sein scheinen (vgl. §66). Bemerkenswert ist schon an dieser These, dass Erasmus nicht davor zurückschreckte, die von Paulus überlieferte Deutung der christlichen Liebe als Torheit in den Augen der Welt68 mit der noch derberen Semantik des Wahnsinns in ihrer Paradoxalität zu bekräftigen. Statt das Äußere und das Innere des Bibelwortes, den literalen und den spiritualen Sinn ausdrücklich zu trennen, wie dies die zeitgenössische Theologie tat, spielt Erasmus „gegen die autoritätsverpflichtet schulgemäße Argumentation und gegen die Regeln der Allegorese die Vieldeutigkeit des 68  Vgl. 1 Kor. 1, 18-25.

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Wortes“69 aus. Schon die Oratorin Stulititia – die sogleich (§68) wieder in eine unchristliche, unglaubwürdige Rolle zurückfallen und ihre Hörer mit den Worten Lebt und trinkt! (vivite, bibite, S. 210) verabschieden wird – rückt das hier Gesagte in ein zweifelhaftes Licht. Wenn sie zudem in §67 behauptet, dass das höchste Gut nichts anderes sei als eine Art Wahnsinn (S. 207; summum illud praemium nihil aliud esse, quam insaniam quamdam, S.  206), dann stimmt auch ihre Wortwahl misstrauisch: Erasmus nutzte für diese Figurenrede den pathologischen und den poetologischen oder mystischen Sinn (Begeisterung, Verzückung) des Wortes insania aus,70 um Stultitias Rede auch dort, wo sie vom Heiligsten handelt, suspekt erscheinen zu lassen und sie dadurch gegen die Schultheologie provokant zuzuspitzen. Vermutlich gab Erasmus mit diesem Verfahren seinem religiösen Wissen von der Diskrepanz zwischen Wortinnerem und Wortäußerem literarische Gestalt. Diese Formgebung sollte wahrscheinlich die Funktion erfüllen, einen der Irrwege des Glaubens ästhetisch erfahrbar zu machen, nämlich sich an den Worten zu stoßen, ohne die Sache zu prüfen.71 Erasmus’ Verfahren der paradoxen Stilisierung christlicher Theologie erstreckte sich nicht nur auf die These von der christlichen insania, sondern auch auf das von Erasmus an dieser Stelle herangezogene Argument: die Vorstellung von der inneren Heiterkeit des geistlichen Lebens. Stultitia beschreibt den Lohn der Frömmigkeit als einen rauschhaften Glückszustand, der alle Ausschweifungen dieser Welt überrage. Wenn der Augenblick des frommen Lebens auf Erden auch nur wie ein winziger Tropfen sei im Vergleich mit dem Quell der ewigen Seligkeit, so übertreffe er doch alle körperlichen Lüste, sogar wenn alle Genüsse aller Menschen vereinigt wären.72 Das ist die bereits bekannte und schon im Enchiridion auf ähnliche Weise gesteigerte Paradoxie von der frommen Lust, auch wenn an dieser Stelle der vergeistlichende 69  Vgl. zur antischolastischen Stoßrichtung der vieldeutigen Schreibweise des Erasmus im letzten Teil des Lobs der Torheit Matuschek, Stefan: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg: 1998. S. 61-66. Hier: S. 65. 70  Vgl. zu dieser Mehrdeutigkeit ebd. S. 64. 71  Erasmus formuliert die Regel, dass man sich nicht an den Worten stoßen, sondern die Sache prüfen soll, unmittelbar nach der erstmaligen Formulierung der These, dass die Seligkeit eine Art Wahnsinn und Torheit sei (insaniae stultitiaeque genus, 200): absit invidia verbis, rem ipsam potius expendite, ebd. Vgl. die Parallelstelle im Enchiridion Ausgewählte Schriften. Bd. 1. S.  188ff., wo als Beispiele für die Verachtungswürdigkeit des Buchstabens die schmutzige und fast lächerliche Oberfläche (sub tectorio sordido ac paene ridiculo, S. 188) der platonischen Dialoge und der heiligen Schriften angeführt werden. 72  Id tametsi minutissima quaedam stillula est, ad fontem illum aeterna felicitatis, tamen longe superat universas corporis voluptates, etiam si omnes omnium mortalium deliciae in unum conferantur. S. 208.

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Perspektivwechsel auf die Lust nur in der Logik des Vergleichs vollzogen wird und nicht wörtlich von einer christlichen voluptas die Rede ist. Dennoch kann man also auch für das Lob der Torheit festhalten: Während Cicero versucht hatte, die stoischen Paradoxien allgemein verständlich zu machen, steigerte Erasmus – zumindest an den zitierten Stellen – gerade die spaltende Tendenz der christlichen Paradoxien. Statt wie Cicero, der auf dem Wertbegriff des mos maiorum insistiert hatte, an eine allgemein anerkannte Instanz des Glaubens zu appellieren, setzte Erasmus auch seine Begründung der These von der christlichen insania noch polemisch gegen die – angeblich – vergnügungssüchtige Mehrheit der Leute in Szene. Wenn auch beide, die These der christlichen insania und die Begründung der christlichen voluptas, in der damit gemeinten Sache orthodox waren, so beleuchtete Erasmus diese Orthodoxie doch durch sein Gegnerbild der verblendeten Mehrheit und seine anstößige Wortwahl so, dass sie dem Publikum als eine Gegeninstanz zu allgemeinen, also auch innerhalb der Theologie verbreiteten Meinungen und Taten erscheinen konnte. Die hier untersuchte Tendenz zur polemischen Inszenierung paradoxer Thesen lässt sich ein weiteres Mal am Epicureus-Dialog beobachten. Darin stritt Erasmus gewissermaßen systematisch mithilfe des Vokabulars der Lust und der Ausschweifung für den Wert des reinen Gewissens.73 Hier ist es genauer die These, dass die Trauer der Frommen in Wirklichkeit Freude sei, welche als Paradoxie qualifiziert, ja sogar, ganz nach dem Muster emphatischer sozialer Abgrenzung, als paradoxer als alle stoischen Paradoxien bezeichnet wird.74 Hier erst, in diesem späten Dialog, schöpfte Erasmus das bildsprachliche Potenzial, das im Konzept der vergeistlichten voluptas lag, voll aus, wenn er die Figur des Hedonius – der man schon ihres Namens wegen wie Stultitia kein christliches Credo zutraut – über die Frommen reden ließ: In den Augen der Welt scheinen sie zu trauern, in Wirklichkeit aber sind sie voll Freude. Sie leben, wie man zu sagen pflegt, ganz mit Honig bestrichen, so sehr, daß mit ihnen verglichen ein Sardanapal, Philoxenus, Apicius oder wer sonst durch Hingabe an die Freuden des Lebens berühmt ist, ein trauriges und armseliges Leben führt. (S. 559) Mundu videntu lugere, sed re vera deliciantur, ac, quod dici solet, toti melle peruncti suaviter vivunt, adeo ut cum his collati Sardanapalus, Philoxenus, Apitius, aut si quis alius est voluptatum studio nobilitatus, tristem ac miseram peregerint vitam. (S. 558)

73  Vgl. Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 6. Colloquium familiara. Übers. v. Werner Welzig. Darmstadt: 1995. S. 554-597. – Zitate aus dem Epicureus-Dialog werden unter Angabe der Seitenzahl im Text nachgewiesen. 74  Nae tu nobis adfers paradoxum omnibus Stoicorum paradoxis παραδοξότερον. Ebd. S. 558.

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An diesem Zitat sei zunächst nochmals hervorgehoben, dass Erasmus (darin der Stoa ähnlich) von der Möglichkeit des frommen Menschen sprach, nicht erst im Jenseits, sondern schon im Hier und Jetzt das Glück der Vergeistlichung zu empfinden, ohne dabei (darin der Stoa unähnlich) zu leugnen, dass diese Vergeistlichung untrennbar mit Trauer und Leid verbunden war. Was nun gewissermaßen die Versinnlichung der Frömmigkeit auf der stilistischen Ebene angeht, so gebrauchte Erasmus Sprichwörter und mythologische Exempla, die man mit dem Sinnenleben assoziierte, in einem übertragenen, rein geistigen Sinne. Er steigerte damit die Paradoxalität, die in der Verabsolutierung des christlichen Lebens und der damit unter anderem einhergehenden Relativierung des Werts der sinnlichen Lust gesehen werden konnte. Am Ende seines Dialogs trieb Erasmus diese Darstellungsweise prägnant auf die Spitze. Dort erklärt Hedonius Christus zum Epikureer schlechthin,75 der allein uns „das allersüßeste und das am meisten von wahrem Genuß erfüllte Leben“ gezeigt habe (S. 591, vitam omnium suavissimam, veraeque voluptatis plenissimam, S.  590). Das ist eine bewusste Provokation, denn Epikur und Epikureismus standen in der Renaissance „im allgemeinen für grob sinnliche Ausschweifungen, Gottlosigkeit und Libertinismus“76. Wichtig ist jedoch die Frage danach, welchen Zweck Erasmus mit dieser Art der Provokation verfolgt haben mag. Erasmus diente diese historisch-gelehrte Bezeichnung von Christus als echtem Epikureer wohl zum einen dazu, die christliche Wahrheit auf eine besonders eindrückliche Art und Weise auszusprechen, die hier freilich zwischen Übertreibung und Unangemessenheit77 changierte. Hätte Cicero eine solche christliche Rhetorik pflegen können und wollen wie Erasmus, dann hätte sein Ehrgeiz darin liegen müssen, die stoische Ethik nicht so zu formulieren, dass sie jedermann einsehen konnte, sondern so, dass sie selbst der stoischen Schule anstößig vorgekommen wäre.

75  Et si nos tangit cura nominum, nemo magis promeretur cognomen Epicuri, quam adorandus ille Christianae philosophiae princeps. Ebd. S. 590. 76   Kimmich, Dorothee: Epikureistische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt: 1993. S. 70. Vgl. zur Bedeutung und Wirkung der christlichen Verdammung epikureischer Philosophie, ebd. S. 60-67. 77  Mit Blick auf eine andere Stelle bei Erasmus (nämlich in dem noch näher zu behandelndem Adagium Sileni Alcibiadis), wo Christus als größter Silen bezeichnet wird, meint Müller, sie erweise „die Unangemessenheit des Decorum als Organisationsform christlicher Beredsamkeit“. Ders.: Das Paradox als Bildform. S. 109. Vgl. in dieser Richtung zur Rhetorik von Erasmus, Rabelais u.a. ebd. S. 100-124.

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Zugleich legte es Erasmus mit eben dieser Stilisierung dem Leser nahe, sie als Stilisierung zu verstehen, das heißt, zum Zweck sprachlicher Bildung die dialektischen Sachverhalte von ihrer rhetorischen Überformung zu unterscheiden.78 Insofern ging es, wie gesagt, Erasmus mit seiner Darstellungsstrategie der Emphatisierung christlicher Paradoxien wohl auch darum, Gelegenheit dazu zu geben, den Buchstaben – auch an der theologischen Rede – relativieren zu lernen. Damit ermöglichte Erasmus seiner Leserschaft gewissermaßen auch auf der Ebene der Darstellung die gleiche Differenzerfahrung, die sie – gemäß der auf der Inhaltsebene vermittelten Botschaft – auch im Streben nach Christus, im Prozess der Geistwerdung zu machen hatte. Direkt im Anschluss an die emphatische Überhöhung der frommen Lust im Lob der Torheit folgte die entsprechende christliche Prämisse: „[S]o unendlich viel reicher ist das Geistige als das Leibliche, das Unsichtbare als das Sichtbare“ (S. 209) (Usque adeo praestant spiritualia corporalibus, invisibilia visibilibus, S.  208). Wie Erasmus als rhetorisch versierter Schriftsteller den Worten gewissermaßen eine eigene Dinglichkeit verlieh, an welcher der Leser Deutungsarbeit verrichten musste, wie er seine Lehre also in einen bloß oberflächlichen Sinn der Rede verhüllte, so betrachtete er als Moraltheologe den Menschen nicht als ein reines Geistwesen, dessen äußerliche Hülle ‚in Wahrheit‘ nicht existent sei. Im Gegenteil erkannte Erasmus auch hier ausdrücklich den Menschen als ein geistig-körperliches Doppelwesen an, während er lediglich dessen Bestimmung darin sah, sich von allem Leiblichen und Sichtbaren abzuwenden. 5.4.2 Emphatisierung paradoxer Entwertung des unchristlichen Lebens Betrachtet man das Lob der Torheit als eine auf religiösem Wissen beruhende normative Stellungnahme, dann verwundert es nicht, dass darin sowohl der christliche Maßstab verherrlicht, als auch das davon angeblich abweichende Handeln und Denken in der Gesellschaft herabgewürdigt wird. Wo Werte gelobt werden, werden auch die entsprechenden Unwerte getadelt. In der satirischen Form des ironischen Lobs ihrer ‚Anhänger‘ beklagt Stultitia im Mittelteil des Lobs der Torheit (§§47-61), dass ausnahmslos alle Stände vom Weg der christlichen Tugend abwichen. Zieht man auch hier wieder Ciceros Paradoxa Stoicorum zum Vergleich heran, dann fällt zweierlei auf: ein negativer Mehrheitsbegriff,

78  Die philologische Rechtfertigung lautet im Text, dass Epikur im Griechischen Helfer heiße: Graecis enim epíkouros auxiliatorem declarat. Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 6. S. 590.

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der das falsche, bloß äußerliche Leben als natürlichen Standardfall annimmt, und die Akzentuierung der Unruhe des vorbildlichen Lebens. Zwar hatte auch Ciceros Schrift, eben weil sie einen normativen Maßstab des Handelns und Denkens aufstellte, eine stark ausgeprägte Tendenz zur Gesellschaftskritik. Doch während Cicero von einem Verfall der Sitten in der Herrschaftselite ausgegangen war, der erst seit kurzer Zeit jene vorbildliche Geschichte Roms unterbrochen habe, in die er auch sich selbst eingereiht hatte, vermittelte Erasmus durch den satirischen und zeitlich nicht genauer bestimmten Rundumschlag der Stultitia gegen alle Stände der Gesellschaft ein deutlich schlechteres Bild von der Moralität des Menschen. Mit Blick auf den deutschen Kulturraum meint Könneker von der heterogenen Gruppe, deren Teile Stultitia alle einzeln anspricht und anklagt – vom einfachen Volk (§48) über das Bildungswesen (§§49-53) bis zur Kirche (§54, §§57-60) und den Hof (§§55f.) –, sogar behaupten zu können, dass sie „so als Objekt zuvor noch niemals Gegenstand eines satirischen Angriffs geworden war!“79 Wie bereits gesehen, hängt diese polemische Inszenierung des eigenen Standpunkts mit dem religiösen Wissen des Erasmus zusammen, der fast nur Christus selbst als Vorbild gelten ließ. Neu ist also wahrscheinlich die im satirischen Mittelteil des Lobs der Torheit zum Ausdruck gebrachte religiöse Vorstellung, dass falsche Vorstellungen von Natur aus dominieren. Deutlich wird diese Differenz an einer Stelle vor dem satirischen Mittelteil (§29), wo Erasmus die stoische Geste der Kritik als ein historisch-gelehrtes Argumentationsmuster verwendet hat, um damit, die platonisch-stoische Erkenntnistheorie verlassend, die religiöse These der natürlichen Diskrepanz zwischen Sein und Schein bzw. einer naturgemäßen allgemeinen Verblendung zu begründen. Torheit, behauptet Stultitia zunächst, herrsche in Wahrheit überall da, wo sich die Gesellschaft selbst Klugheit (prudentia) zuschreibe (§29). Denn allgemeine gelte: Was von außen Tod ist, wird Leben, von innen gesehen, und umgekehrt; was schön ist, wird unschön, was reich, wird arm, schändlich wird ruhmvoll, gelehrt wird ungelehrt […]. (S. 61) Adeo ut quod prima, ut aiunt, fronte mors est, si interius inspicias, vita sit: contra quod vita, mors: quod formosum, deforme: quod opulentum, id pauperrimum, quod infame, gloriosum, quod doctum, indoctum […]. (S. 60)

Anders als in der platonisch-stoischen Tradition geschieht die ontologische Qualifikation gewisser Werte und Unwerte als seiend oder nicht seiend, als naturgemäß oder naturwidrig hier nicht, ohne dass zugleich eine Diskrepanz 79  Könneker: Satire. S. 96.

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zwischen Sein und Schein innerhalb der normativen Ordnung der Dinge konstatiert wird. Um dieses religiöse Wissen – Stultitia redet von res omneis humanae (S. 60) und beschreibt ihre eigene Sprechweise an dieser Stelle als Philosophieren (philosophari, S. 62) – verständlich und plausibel zu machen, deutet sie hier nun knapp den historischen locus communis der sokratischstoischen Kritik an: Nach jedermanns Urteil ist ein König ein reicher Mann und mächtiger Herr. Aber fehlt ihm der innere Reichtum und findet er nirgends Genügen, dann ist er ein armer Schlucker, und hat er sich allen Lastern verschrieben, dann ist er ein Sklave in Schimpf und Schande. (S. 61-63) Quis Regem non et opulentum, et dominum fatetur? Atqui nullis animi bonis instructus est, atqui nihil illi satis est, iam videlicet pauperrimus est. Tum animum habet plurimis addictum vitiis, iam turpiter servus est. (S. 62)

Das ist die philosophische Geste der Korrektur einer falschen Lebensweise, die sich an einzelne Personen richtet. Doch was in der Apologie des Sokrates und in Ciceros Paradoxa Stoicorum die Aufdeckung einer Täuschung in einer eingrenzbaren Krisensituation und die Ermahnung zur Besonnenheit war, wird hier zu einem exemplarischen Argument für die These einer ontologischen Verkehrung von Sein und Schein. Im Mittelteil ihrer Rede ist es diese Weltdeutung, mit der Stultitia das Lob ihrer selbst als kaum mehr verdeckte, sondern offen polemische Gesellschaftskritik durchführt. Mit ausdrücklichem Universalitätsanspruch (§47) will sie durch alle Stände hindurch zeigen: Ihr verleugnet mich alle, aber im Herzen hängt ihr mir an! Erasmus’ These einer natürlichen Verkehrtheit von Sein und Schein ging also, wie schon im Enchiridion, so auch im Lob der Torheit mit einem negativen Mehrheitsbegriff einher. Freilich, schon Cicero hatte keine hohe Meinung vom einfachen Volk. Während er jedoch immerhin ein positives Bild von der traditionellen römischen Herrschaftselite gezeichnet hatte, fand Erasmus auch an den meisten Fürsten nichts Gutes.80 Wichtig ist zu sehen, dass es sich hierbei nicht um eine Übertreibung handelt, sondern um ein neues, letztlich weltanschaulich fundiertes Argument für antikonsensuale Rede. Dass die meisten Fürsten nichts taugten, diesen Eindruck vermittelte Erasmus nicht nur hinter der Maske der Stultitia, die sämtliche Könige und Fürsten zu ihren Anhängern 80  Das gleiche ließe sich auch für Erasmus’ negatives Bild der Philosophen zeigen. Wo Cicero sich zum Beispiel auf einen der Sieben Weisen als eine Autorität berief (PS, §8f.), um die stoische Ethik als längst bekannte und geprüfte Meinung auszugeben, bemerkt Stultitia, wo sie die Überzahl der Toren beweisen will, spöttisch, dass das gesamte antike Griechenland nur sieben Weise hervorgebracht habe (LdT, §46).

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zählt (§55), sondern auch in dem bereits erwähnten, das Enchiridion begleitenden offenen Brief an Paul Volz.81 Neu war vermutlich daran weniger die Form der Satire selbst, in der doch schon seit der Antike das sittenlose Leben angeprangert worden war,82 als die religiöse Legitimation der satirischen Kritik an der Verblendung der Menschheit. Insofern herrschte im Lob der Torheit anders als in den Paradoxa Stoicorum ein negativer Mehrheitsbegriff vor. Doch auch das, was Erasmus der Gesellschaft positiv entgegensetzte, das christliche Leben, unterschied sich von der sokratisch-stoischen Tradition durch die (hier bewusst einseitig dargestellte) Idealisierung der Unruhe des Menschen. Wie die paradoxe Aufwertung der Frömmigkeit, so zielte wohl auch die entsprechende paradoxe Entwertung von Gütern wie Macht, Vergnügen und Ansehen darauf, religiöse Ambiguität polemisch gegen ein allzu einfaches Denken abzugrenzen. Stilistische Überformung kommt hier dadurch ins Spiel, dass das christliche Leben gerade auf dessen äußerlichen und daher im allgemeinen Urteil hervorstechenden Aspekt der Unruhe und der Sorge reduziert wird. Um bei dem Stand der Könige und Fürsten (§55) zu bleiben: Stultitia argumentiert, dass die Mächtigen, wenn sie vernünftig wären und die Last ihrer Aufgaben bedächten, ein trauriges und abschreckendes Leben führen würden (vita tristius aut aeque fugiendum, S. 156). So aber beföhlen sie, dank Stultitia (meo munere, S. 158), alle diese Sorgen den Göttern (has omneis curas Diis permittunt, S. 158) und ließen es sich selbst gut gehen (ipsi sese molliter curant, ebd.). Der gute Fürst lebe dagegen in beständiger Sorge um den allgemeinen Nutzen und hüte sich vor den typischen Irrwegen der Macht wie Selbstherrlichkeit (libertas) und Wohlleben (luxus). Auch diese Ansicht liegt nah bei dem, was Erasmus auch außerhalb des Lobs der Torheit öffentlich vertrat: mit ganz ähnlichem, moralisierendem Gestus zum Beispiel in seiner Erziehung des Christlichen Fürsten (Institituio Principis Christiani, 1516); und es passt zu dem im Enchiridion ausgebreiteten religiösen Wissen vom frommen Leben als einem permanenten Kampf. Nur betont Stultitia hier, wo sie sich ironisch auf den angeblichen Standpunkt der Fürsten stellt, eben nicht die positive Seite dieses Kampfes, also die Freuden des reinen Gewissens und die Zuversicht auf die göttliche Gnade, sondern dessen negative Seite: die Abwendung vom Leiblichen. Mit anderen Worten, Erasmus pointiert sein Ideal der Frömmigkeit im ironischen Lob der vergnügungssüchtigen Fürsten so, dass 81  In dem Brief, welcher der zweiten, populär gewordenen Ausgabe des Enchiridion (1518) vorangestellt war, schrieb Erasmus, unter den Fürsten seien die gröbsten Christen (crassius Christianos, S. 28), und er spreche von der Mehrheit, nicht von allen (de plerisque loquor, non de omnibus, ebd.). 82  Vgl. Koppenfels, Werner von: Der Andere Blick.

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es nichts als Mühe und Arbeit zu sein scheint, während er es im ernsthaften Lob der traurigen und fastenden, wahrhaften Christen gerade in entgegengesetzter Weise so formuliert, als sei es das reinste Vergnügen (4.1.). Diese Ambiguität oder Variabilität der Perspektive liegt in Erasmus’ religiösem Wissen von der Zwiespältigkeit des Menschen begründet. Im frommen Christen herrscht anders als im stoischen Weisen keine Seelenruhe, sondern, zumindest seit dem Sündenfall, ein regelrechter Widerstreit zwischen Geist und Fleisch, innerem und äußerem Menschen. Insofern liegt es in der bewussten, forcierten Widersprüchlichkeit des religiösen Wissens begründet, dass Erasmus, wo er Anklage gegen angeblich weit verbreitete Meinungen und Sitten erhob, gerade nicht in sokratischer Tradition die Selbstgenügsamkeit der Tugend mit der fatalen Unruhe der unersättlichen Begierde konfrontierte, sondern das Ideal des innerlichen christlichen Unfriedens mit dem Leben in sorgloser Behaglichkeit. Zusammenfassend kann man sagen: Wo Erasmus die christliche Lehre in Paradoxien vertrat, da ging es ihm in Form und Inhalt darum, seine Lehre von der religiösen Zwiespältigkeit (nicht einfach: Unterschiedenheit) von Immanenz und Transzendenz gegen allzu einfache oder geradezu falsche Doxa – sei es die schultheologische Vereindeutigung des Bibelworts, sei es die Vorstellung vom freudlosen und jammervollen Christenleben, sei es die Gottlosigkeit der Mächtigen – als oppositionelle Haltung stilistisch zu bekräftigen und dadurch polemisch zu inszenieren. Doch, wie nun zu zeigen ist, fand wohl auch erst diese Lehre zu einer ambivalenten und insofern souveränen Einstellung gegenüber solcher offen ausgesprochenen Kritik. Denn laut Erasmus gehörte es zur allzu einfachen Denk- und Lebensweise der Leute dazu, dass die vermeintlichen Weisen unter allen Umständen für die Wahrheit eintreten wollen und daher ohne Unterbrechung alles um sie herum mit großer, entlarvender Geste anklagen. 5.4.3 Umgänglichkeit: Kultivierung der christlichen Parrhesia In §29, der schon oben herangezogen wurde, zitiert Stultitia das fiktive paradoxe Wahrsprechen eines christlichen Weisen: Er entlarvt den Mächtigen als einen Sklaven der Leidenschaften, er hält dem Trauernden die religiöse Verkehrung von Tod in Leben vor und schließlich beschimpft er – übrigens gemäß einer der „Paradoxien des wahren Christentums“ im Enchiridion – einen stolzen Adligen als einen gemeinen Kerl, weil nur das fromme Leben adeln könne. Stultitia bezeichnet die Klugheit dieses Weisen als eine verdrehte, verkehrte Klugheit (perversa prudentia, S.  64).83 Nur knapp begründet sie dies 83  Vgl. nochmals für eine ethikgeschichtliche Perspektive auf moralische Umsicht bzw. Rücksichtslosigkeit Luhmann, Niklas: Ethik als Reflexionstheorie der Moral. S. 293-295.

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mit der Unabänderlichkeit der Situation: Jener Weise erreiche nichts, als dass er als verrückt und toll (demens ac furiosus, ebd.) verachtet werde; er passe sich nicht den offensichtlichen Tatsachen an (qui sese non accommodet rebus praesentibus, ebd.) und verlange, dass ein Schauspiel kein Schauspiel sei (postuletque ut fabula iam non sit fabula, ebd.). In anderen Passagen des Lobs der Torheit taucht dieser Fatalismus zwar nicht in dieser Generalisierung, mit der doch alle folgende Gesellschaftskritik der Stultitia in Frage gestellt wäre, aber doch in einem gewissen Grad wieder auf. Die historisch-gelehrte Metapher vom Schauspiel oder der Komödie des Lebens gebraucht Stultitia nochmals ausführlich und nicht zufällig zu Beginn ihrer Ständesatire. Denn dort ist vom einfachen Volk (vulgus) die Rede (§48), das man, so schreibt es Erasmus im Widmungsbrief des Enchiridions an Paul Volz, als das schwächste Glied am Leib Christi betrachten und mit väterlicher Nachsicht (paterna indulgentia) behandeln solle.84 Auch im Lob der Torheit ist die Nachsicht kein gegenläufiges Prinzip zur christlichen Parrhesia, sondern eine unter gewissen Bedingungen geltende ergänzende Einschränkung. Der Unterschied in der Darstellung besteht freilich darin, dass Erasmus im Lob der Torheit die Adressatenabhängigkeit der Nachsicht nicht explizit aussprach, sondern in Szene setzte. Gab er im Brief an Volz einen klaren und einfachen Rat zum Umgang mit dem einfachen Volk, stilisierte er ihn hier zur satirischen Höhenschau (Katáskopos), in der die Götter nicht kritisch, sondern amüsiert auf den Tumult der Toren (tumultus stultorum, S.  112) herabblicken, womit hier nur der Pöbel (plebecula, ebd.) gemeint war.85 Eine weitere Ausnahme von der christlichen Parrhesia, die in Erasmus’ Frömmigkeitslehre begründet liegt, macht Stultitia in Bezug auf Freundschaft und Ehe. Beide seien ihr Werk, weil es dabei nicht immer, aber meistens darum gehe, Schwächen miteinander zu teilen, den anderen gerade für seine Fehler zu lieben und bestimmte Dinge nicht so genau wissen zu wollen (§§19f.). Was Stultitia hier zum Zweck der Lobrede auf sich selbst bzw. auf eine ihrer Ausdrucksweisen im menschlichen Leben einseitig überhöht, nämlich die Umgänglichkeit in den Gewohnheiten (morum facilitas, S. 44), das sah Erasmus zumindest in Verbindung mit der doch potentiell antikonsensualen christlichen Denkweise tatsächlich als einen unentbehrlichen Wert an. Im Widmungsschreiben an Thomas Morus lobte er diesen seinen Freund gerade für seine soziale Ambivalenz, sowohl über Umgänglichkeit (morum suavitas 84  Vgl. Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 1. S. 26. 85  Vgl. zur Höhenschau als Merkmal der menippeischen Satire erneut Koppenfels, Werner von: Der Andere Blick. Bes. S. 31ff. – Interessant wäre ein Vergleich mit den satirischen Schriften Lukians, vor allem mit der Höhenschau im Icaromenippus, auf die Erasmus hier vielleicht anspielt.

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facilitasque, S.  2) als auch über einen solchen Verstand (ingenium, ebd.) zu verfügen, der ihn weit von den landläufigen Ansichten wegführe. Und im Enchiridion behandelte Erasmus die Achtung des Freundes (S.  144) und die Liebe zur Gattin (S.  146) als Folgen eines natürlichen Instinkts (naturae instinctus, S. 144), der noch keinem christlich-moralischen Maßstab gehorcht. Der Instinkt, der das soziale Band stärkt, solle erst dann zurückgedrängt werden, wenn es religiöse Gründe dafür gibt. Dass der Wert der Umgänglichkeit nur unter gewissen Bedingungen den Wert des Aussprechens der Wahrheit limitieren darf, wird im Lob der Torheit freilich nicht klar und deutlich ausgesprochen. Vielmehr pointierte und vereinseitigte Erasmus auch in puncto Umgänglichkeit sein komplexes religiöses Wissen. Zur inhaltlichen Pointierung kommt schließlich hinzu, dass Erasmus auch hier, in Sachen Umgänglichkeit, die Vieldeutigkeit der Worte ausnutzte, um die über den Text verstreuten pointierten Aspekte seines religiösen Wissens jeweils auch noch in provozierende Worte zu hüllen. In §44 trägt Stultitia ein Lob der Schmeichelei (adulatio) vor: Sie richtet den Niedergeschlagenen auf, tröstet den Traurigen, stupft den Saumseligen, weckt den Stumpfsinnigen; Krankheit erleichtert sie, Trotz bricht sie, Liebesbande knüpft sie und schon geknüpfte festigt sie; sie weiß die Jungen zum Lernen anzuspornen, die Alten zu erheitern, die Fürsten ohne Kränkung, im Gewande des Lobes, zu ermahnen und zu belehren […]. (S. 105) Haec deiectiores animos erigit, demulcet tristes, exstimulat languentes, expergefacit stupidos, aegrotos levat, feroces mollit, amores conciliat, consiliatos retinet. Pueritiam ad capessenda studia litterarum allicit, senes exhilarat, principes citra offensam sub imagine laudis, et admonet et docet […]. (S. 104)

Die Aufzählung der Leistungen der Schmeichelei macht diese Passage zu einem kleinen paradoxen Binnenlob auf die Schmeichelei. Wiederum diente diese Stilisierung zum einen wohl dazu, den Wert der Umgänglichkeit zum Zweck der leichten Verständlichkeit in übertrieben-deutliche und anschauliche Worte zu hüllen. An der Art der aufgezählten Taten wird dabei klar ersichtlich, dass Erasmus die Schmeichelei auf nachvollziehbare Weise auslegte: Im Dienst der christlichen Sache stehend, ist sie ein ambivalenter Modus der Anerkennung des Anderen sowohl in seiner Fehlerhaftigkeit als auch in seiner Verbesserlichkeit. Der Wert der Umgänglichkeit stellte also auch im Lob der Torheit nicht das Erkennen, sondern das Aussprechen der moraltheologischen Wahrheit in Frage. Er sollte nicht gleichberechtigt neben der Bindung an die christliche Sache stehen, sondern das Risiko der sozialen Spaltung minimieren und die Chance für eine erfolgreiche Einwirkung auf die Gesellschaft im Sinne der Frömmigkeit erhöhen. Weil die Aufwertung der Umgänglichkeit und deren

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Zuspitzung im Lob der Schmeichelei solchermaßen funktional auf das paradoxe Wahrsprechen bezogen waren, kann man vielleicht von einer Paradoxie zweiter Ordnung sprechen: Diese sollte jene Praxis antikonsensualer Rede kultivieren, die auf der Ebene erster Ordnung ethisch-moralische Mängel zu korrigieren versuchte. Vielleicht kann man auch sagen, dass es sich um eine Kultivierung des christlichen Widerspruchsgeistes handelte, weil die positiv verstandene Schmeichelei diesem Widerspruchsgeist dazu dienen sollte, sich selbst zu begrenzen: Zumindest in der Form der Ansprache und des Umgangs sollte man die Fehler und Schwächen der Anderen nicht ethisch-religiös skandalisieren, sondern sie kultiviert als Gegebenheiten anerkennen, die sich verändern können.86 Übertrieben an jenem Lob war lediglich die Wahl des Wortes adulatio. Und diese Wortwahl hatte, neben ihrer Funktion, die Einsicht in die Sache durch die paradoxe Stilisierung zu erleichtern, wohl wiederum auch eine sprachpädagogische Funktion, das heißt, sie sollte den dialektischen Inhalt und die rhetorische Form unterscheiden lehren. So heißt es, dass nur diejenigen ein solches Lob nicht verstünden, die mehr von den Namen der Dinge als von den Dingen selbst bewegt werden (qui rerum vocabulis magis, quam rebus ipsis commoventur, S.  102). Außerdem grenzt Stultitia explizit die von ihr gelobte von einer bösartigen, weil intrigierenden, schädlichen Schmeichelei (perniciosa adulatio, S. 104) ab, womit sie das Verfahren der Umdeutung alltagssprachlicher Wortbedeutungen am vermeintlichen Unwert der adulatio transparent macht und so den Anschein der Unangemessenheit etwas abmildert. 5.4.4 Das Lob der Torheit als vielstimmige Mitteilung von religiösem Wissen Zeichnete sich Erasmus’ Moraltheologie eher nicht durch die Eindeutigkeit und die Rigorosität des Urteils aus, so nutzte er gerade in seiner Laus Stultitiae die Fähigkeit der Sprache, „Uneinheitliches zu verknüpfen“87. Die verschiedenen Aspekte von Erasmus’ religiösem Wissen wie die solidarische und die oppositionelle Haltung oder die Perspektiven des äußeren und des inneren Menschen sind auf verschiedene Teile des Lobs der Torheit verteilt und zudem jeweils zur hyperbolischen Geste eines ‚Lobs der Torheit‘ gesteigert. Abstrakte Äußerungen wie zum Beispiel der Beginn der Figurenrede lassen sich vor

86  Hier könnte eine Anknüpfung an die soziologische Kulturtheorie lohnen, die Baecker ausgearbeitet hat, vgl. Baecker, Dirk: Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie. 87  Bereits zitiert: Maissen, Thomas: Schlußwort. Überlegungen zu Funktion und Inhalt des Humanismus. S. 400.

Das Lob der Torheit

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diesem Hintergrund vielleicht als ein sprachlich mehrdeutiges, vielstimmiges Statement verstehen, in das all jene Aspekte hineingelesen werden konnten: Mögen die Menschen in aller Welt von mir sagen, was sie wollen – weiß ich doch, wie übel von der Torheit auch die ärgsten Toren reden –, es bleibt dabei: mir, ja mir allein und meiner Kraft haben es Götter und Menschen zu danken, wenn sie heiter und frohgemut sind. (S. 9) Utcumque de me vulgo mortales loquuntur, neque enim sum nescia, quam male audiat stultitia etiam apud stultissimos, tamen hanc esse, hanc inquam, esse unam, quae meo numine Deos atque homines exhilaro […]. (S. 8)

Tatsächlich zeigen schon die wenigen exemplarischen Passagen, die oben analysiert wurden, dass Stultitia die Menschen und Götter auf vielfache Weise „erfreut“ (exhilare): Als Umgänglichkeit in den Gewohnheiten (morum facilitas, §19) erhält und pflegt sie soziale Bindungen; als verzeihliche Lasterhaftigkeit des einfachen Volks bietet sie den Göttern ein vergnügliches Schauspiel (§48); als christlich eingesetzte Schmeichelei (adulatio) führt sie die Irregeleiteten freundlich wieder auf den richtigen Weg (§44); als Pflichtvergessenheit ermöglicht sie den gehobenen und höchsten Ständen der Gesellschaft ein sorgloses und behagliches Leben (§§47-61); und als Begeisterung für Gott versetzt sie die Frommen in eine Art von insania (§§66f.). So erlaubt es die Mehrdeutigkeit des Wortes exhilare, den damit eingeführten Topos des Lobs im weiteren Verlauf des Textes derart zu bespielen, dass er als kompakter Ausdruck für verschiedene Aspekte von Erasmus’ Frömmigkeitslehre verstehbar wird. Dabei ist das Bedeutungsspektrum jener Erfreulichkeit der Torheit besonders durchzogen von der bereits im Enchiridion geforderten sozialen Ambiguität zwischen Kritik und Affirmation der Doxa, zwischen einem negativen Mehrheitsbegriff (Kritik der Torheit dieser Welt) und dem Gebot der christlichen Liebe (Anerkennung der Torheit dieser Welt), während zugleich gerade die gattungslogische Formgebung beide Aspekte in der Darstellung trennt und vereinseitigt. Sind die verschiedenen Aspekte auch oft miteinander verbunden, wie der Beginn von Stultitias Rede zeigt, so fängt sie doch gerade hier schwerpunktmäßig mit ihrer Forderung an, die ethische Kritik zu dosieren. Im Dienst der Verbreitung des Glaubens weigert sie sich, den Leuten durch ungehemmtes Moralisieren ihre einzige Freude zu nehmen (Paradoxie zweiter Ordnung; besonders das Lob der Schmeichelei in  §44). Dabei wird die selbstkritische Dosierung des Wahrsprechens zur verführerischen Preisgabe moralischer Standards und zur humorvollen Anerkennung jener Komödie, die das Leben sei. Im satirischen Mittelteil, gleichsam wie nach einer

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freundlich-solidarischen Vertrauensbildung und Aufmunterung, herrscht dann die offene Kommunikation, die polemisch-oppositionelle Einstellung vor. Die theologisch-falsche Rede der Stultitia, die es sich zum Lob anrechnet, dass die Mehrheit der Gesellschaft den dumpfen Freuden dieser Welt huldige, überbietet dabei ironisch die allgemeine Verkehrung von Sein und Schein, die sie tadelt (paradoxe Entwertung).88 Eine ähnliche antikonsensuale Emphase, keiner sozialen Gruppe, keiner Autorität oder Ausdrucksweise besonderen Respekt zu zollen, erhält schließlich auch die finale, theologisch-richtige Rede durch ihre Stilisierung zum ‚Lob der Torheit‘. Sie preist die wachsame Freude des Glaubens (paradoxe Aufwertung), und in dieser ihrer sachlich begründeten Paradoxalität wird sie durch ihre Form der vermeintlichen Scherzrede noch technisch-stilistisch gesteigert, da man in einer solchen Form, anders als von ihrem Autor, kein Glaubensbekenntnis erwartet. Erscheint das Lob der Torheit als abstrakte, gattungsgemäße Paradoxie, erweist es sich bei genauerer Betrachtung als indifferente sprachliche Form, welche die christliche Parrhesia als eine Praxis antikonsensualer Rede und die selbstkritische Kultivierung dieser Parrhesia derart zusammenführte, dass ihre jeweiligen kommunikativen Intentionen der Abgrenzung oder der Solidarisierung, der Kritik oder der Affirmation gerade durch ihre ironische oder wortspielerische Stilisierung als paradoxe Lobrede auf die ‚Torheit‘ zumindest der Form nach vereinseitigt und dadurch verstärkt wurden. Ob der Rezipient letztlich, ermuntert vom Lob der Torheit mehr Nachsicht mit sich und anderen übte oder, angespornt, eigene und fremde Laster noch wachsamer bekämpfte, blieb ihm überlassen. In jedem Fall konnte er im Lob der Torheit Gelegenheit finden, im ununterbrochen wachsamen, kritischen Nachvollzug der sprachlichen Ordnung des Textes jene Diskrepanz zwischen Sein und Schein89 und jene soziale Zwiespältigkeit ästhetisch zu erfahren, derer er sich als ein wahrer Christ bewusst sein sollte.

88  In Anlehnung an Matuschek: Literarische Spieltheorie. S. 70. 89  Müller: „Der Rezipient ist aufgefordert, im Spiegelkabinett der ironischen Rede den Ernst im Unernst aufzuspüren. Entsprechend bewegt sich der Rezipient immer zwischen der Skylla des vermeintlichen Tiefsinns und der Charybdis des zu flachen oder wörtlichen Verständnisses“. Das Paradox als Bildform. S. 119.

die Sileni Alcibiadis als Rechtfertigung paradoxer Rede

5.5

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Alles hat zwei Seiten: die Sileni Alcibiadis als Rechtfertigung paradoxer Rede

Bis hierher wurde untersucht, wie die Praxis antikonsensualer Rede, die Erasmus im Enchiridion und im Lob der Torheit profilierte, sowohl durch eine Ausweitung als auch durch eine Einschränkung der Legitimität antikonsensualer Rede geprägt war. Abschließend soll nun der Fokus der Untersuchung noch einmal stärker auf den ersten Aspekt der erweiterten Legitimität und zwar genauer darauf gerichtet werden, wie die epistemologische Überzeugung von der Diskrepanz zwischen Sein und Schein als historisch-gelehrter Gemeinplatz formuliert und argumentativ eingesetzt werden konnte, um eine positive Einstellung des Publikums gegenüber ungewöhnlichen Behauptungen zu bewirken. Denn nach der veränderten dialektischen Methode der Humanisten, die historische loci communes zur Argumentation freigibt, gilt es vor allem diesen Gemeinplatz in seiner legitimatorischen Funktion zu verstehen, um die hier beschriebene christlich-humanistische Praxis antikonsensualer Rede von ihren sokratisch-ciceronischen Varianten in der Antike möglichst genau unterscheiden zu können. Dazu sei zunächst abermals an den  §29 des Lobs der Torheit erinnert. Es wurde gezeigt, wie Stultitia hier das an die Stoa angelehnte Modell der Klugheit kritisiert, der zufolge ein reicher und mächtiger Herr ohne Tugend ein armer Schlucker sei. Ehe Stultitia diesem sozusagen hypermoralischen Modell – polemisch übertreibend – die realistische Anerkennung gegebener Mängel entgegensetzt, leitet sie ihre Kritik mit jener epistemologischen Überzeugung von der Diskrepanz zwischen Sein und Schein ein und rechtfertigt so mit einer übergeordneten Argumentationsfigur, dass man die stoische Klugheit kritisieren könne, auch wenn sie klug zu sein scheint. Sie lautet, „daß alles auf Erden zwei Seiten hat, zwei ganz verschiedene Seiten, wie die Silene, von denen Alkibiades spricht“ (S. 61).90 Die historisch-gelehrte Redewendung von den Silenen des Alkibiades, die eben jene epistemologische Überzeugung von der Diskrepanz zwischen Sein und Schein eloquent zum Ausdruck bringt, gilt es im Folgenden genauer zu untersuchen, weil diese Überzeugung, wie oben schon gezeigt wurde, eine Schlüsselfunktion für die hier untersuchte Praxis antikonsensualer Rede einnimmt. Im  §29 des Lobs der Torheit verklammert diese Argumentationsfigur sogar die für diese Praxis spezifische Doppelung von Kritik und Anerkennung. Einerseits – und das ist 90  Principio constat res omneis humanas, velut Alcibiadis Silenos, binas habere facies nimium inter sese dissimiles. S. 60.

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hier das Entscheidende – appelliert Stultitia mit jenem Gemeinplatz an die Zugänglichkeit des Publikums für ungewöhnliche Sichtweisen. So bereitet sie es insbesondere darauf vor, dass sich jene stoische Klugheit bei genauerer Betrachtung als eine verkehrte Klugheit (perversa prudentia, S.  64) herausstellt. Zugleich verwendet Stultitia die gleiche Argumentation als Begründung dafür, weshalb jene Klugheit nicht zuende gedacht sei: Da die Welt selbst von Natur aus gerade so eingerichtet sei, dass alle sich an das Äußerliche, also an Macht und Reichtum etc., halten, missachte der stoische Weise, zumindest in seiner verkürzten Idee einer vollkommen moralischen Natur und seinem entsprechenden unbedingten Willen, den Anspruch auf Tugendhaftigkeit zu verwirklichen, die natürlich-menschliche Ordnung der Dinge. In De copia empfahl Erasmus ausdrücklich, jenen Gemeinplatz und entsprechende Bemerkungen über die Verstecktheit der Wahrheit (veritas latet in abdito) im Rahmen von kurzen Vorreden (praefatiuncula) innerhalb eines Textes zu gebrauchen, um den Leser darauf vorzubereiten, wenn eine Behauptung etwas härter erschienen sei („[q]uod si qua propositio durior videbitur […]“).91 Interessant an dieser Empfehlung ist Folgendes: Erasmus versuchte mit ihr, den Gemeinplatz, dass auch und gerade das Unwahrscheinliche als ein Kandidat auf ein geprüftes Urteil in Frage komme, als ein mögliches (wenn auch nicht: stets anzuwendendes) rhetorisches Mittel zu etablieren. Während Aristoteles und Cicero das Wahrscheinliche (endoxon, probabile) für den Geltungssbereich der Rhetorik und der Dialektik als hinreichend geeignete Argumentationsquelle betrachtet hatten, um den Sachen selbst zumindest annähernd gerecht zu werden, öffnete jenes Argumentationsmuster diesen Horizont des Wahrscheinlichen, gerade indem es bei Bedarf die Unzulänglichkeit des ersten Eindrucks und der geläufigen Ansichten als wahrscheinlich hinzustellen erlaubte. Ein weiteres Beispiel für die Anwendung jener Empfehlung des Erasmus findet sich im Lob deß Eigen Nutzen (1564) von Leonhardt Fronsberger (1520-1575),92 das explizit auf das Lob der Torheit, auf Huttens Fieberdialoge und andere Vorgänger Bezug nimmt (vgl. f. 9r). Es stellte wie das Lob der Torheit ein paradoxes Selbstlob einer fiktiven Figur dar. Ähnlich ist auch die halb ironische, halb ernste Mitteilung einer differenzierten moraltheologischen Position. Einerseits ist da eine ernsthafte Aufwertung eines vermeintlichen Lasters, der Eigennützigkeit, und andererseits eine ironisch-satirische Anklage derer, die sich für gemeinnützig halten, aber nichts weniger seien als das. Was die Aufwertung angeht, blieb Fronsberger nicht bei der Tatsache stehen, 91  Vgl. Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia. Ordinis 1, tomus 6. S. 274. 92  Vgl. Fronsberger, Leonhardt: Von dem Lob deß Eigen Nutzen. Frankfurt/M.: 1564.

die Sileni Alcibiadis als Rechtfertigung paradoxer Rede

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dass niemand nur für seine Mitmenschen lebt (vgl. f. 18rv) und dass es sich bei dem Eigennutzen um eine zunächst moralisch indifferente natürliche Motivation handelt. Er entwickelte darüber hinaus die für das neuzeitliche ökonomische Wissen zentral werdende Vorstellung von der Gesellschaft als einem Organismus, der durch die eigenständige Aktivität, den harmonischen Ausgleich der Interessen und die wechselseitige Abhängigkeit aller seiner Teile erhalten wird.93 Wie Erasmus unterschied Fronsberger zwischen guter und böser Schmeichelei (vgl. f. 6v),94 wobei er die gute Schmeichelei in ihrer pazifizierenden Funktion lobte, falls die Wahrheit Hass und Gewalt bewirken würde. Um dieses Lob zu rechtfertigen, zitierte Fronsberger den Gemeinplatz von den Silenen des Alkibiades, zwar nicht in einer kleinen Vorrede, aber als Schlusswort des Kapitels über die Schmeichelei: „Ich weiß ir werdet mir hierin nicht widersprechen moegen/ denn alle Ding in der Welt haben ein zwifach ansehen/ und gestalt/ wie die Sileni Alcibiadis/ und moegen gut und schad seyn“ (f. 8r). Auch Fronsberger verwendete jenen Gemeinplatz also als ein abstraktes Argument für die wahrscheinliche Richtigkeit einer abweichenden Sichtweise (vgl. auch f. 41r). Auffällig im historischen Vergleich ist daran, um dies deutlich zu sagen, nicht die Legitimität von Widerspruch allein, sondern erst die zusätzliche Möglichkeit, zumindest im Rahmen einer als fraglos vorausgesetzten moraltheologischen Perspektive gerade das Abweichen von allgemeinen Meinungen als ein Überzeugungsmittel einsetzen zu können.95 In diesem Sinne lautet die hier vertretene These, dass die christlich-humanistische Praxis antikonsensualer Rede, wie sie bei Erasmus oder Fronsberger beschrieben wurde, in der Erkenntnistheorie einen stärkeren Rückhalt besaß96 als die in den 93  Vgl. besonders Kap. 12-13. Eine Vorstellung, die auch Rabelais in seinem Lob des Schuldenmachens ausführt, vgl. Rabelais, François: Le Tiers livre. Paris: 1546, Kap.  12f. – Zum ökonomiehistorischen Hintergrund vgl. Schulze, Winfried: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 243 (1986). S. 591-626. 94  Diese Unterscheidung konnte Fronsberger in Erasmus’ Laus Stultitiae finden. Vgl. Erasmus: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. S. 103f. 95   Vgl. dafür auch die Anwendung des Gemeinplatzes von den Sileni Alcibiadis bei Sebastian Franck: Paradoxa. §13f., §91. Bes. in der Vorrede: „Die Wahrheit besteht aus eitel Wunderreden, die die Welt nicht also hält, tut, redet und glaubt. Hörst du den Pöbel etwas reden, glauben und halten, so halte du, rede und glaube das Gegenteil, so hast du das Evangelium und Gottes Wort gewiß. Das Recht liegt tief. Es ist alle Dinge ein verkehrter Silenus und viel anders, als es scheint. […] Die scheinlose Wahrheit aber soll allein Gott für sich haben“. Zit. nach Franck, Sebastian: Paradoxa. Hg. v. Wollgast. 2. Aufl. Berlin: 1995. S. 15. – Vgl. dazu auch Müller, Jürgen: Das Paradox als Bildform. S. 110f. 96  Die Frage nach einem Konnex zwischen Renaissanceparadoxie und Erkenntnistheorie ist nicht neu. Besonders Jones-Davies hat sie in den Vordergrund gestellt; seine Hinweise auf

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vergangenen drei Kapiteln besprochenen Praktiken antikonsensualer Rede. Der Vorschlag ist, die größere Legitimität antikonsensualer Rede bei Erasmus, die sich besonders in der Emphatisierung der Paradoxalität im Enchiridion und vor allem dem Lob der Torheit niederschlägt, auf Erasmus’ Idee einer zwar erkennbaren, die Vernunft aber nicht von sich aus überzeugenden Wirklichkeit zurückzuführen, wie er sie am ausführlichsten in seinem Adagium Sileni Alcibiadis beschrieb.97 In den drei besprochenen antiken Fällen war erkennbare Wirklichkeit entweder als an sich evident betrachtet (das betrifft die Linie Platon-Aristoteles-Stoa-Cicero) oder bestritten worden (das betrifft die alte und die neue Sophistik). Die Sileni Alcibiadis formulierten dagegen einen Wirklichkeitsbegriff, der davon ausging, dass man die Wirklichkeit nicht erkennen könne, ohne eine Deutung, ja eine Umdeutung vorzunehmen, weil ihr, statt von dem bloß Scheinbaren kategorisch unterschieden zu sein, vielmehr eine Diskrepanz zwischen Sein und Schein, Innen und Außen inhärent sei. Bei den Sileni Alcibiadis (1515) des Erasmus handelt es sich um einen langen und zentralen Essay seiner Adagia, von dem im gleichen Jahr der Plan bestand, ihn im Anhang des Lobs der Torheit zu veröffentlichen.98 Johannes Froben hat die skeptische Neubewertung von allgemeiner Meinung und Sitte besonders in England um 1600 haben die hier vertretene These mit angeregt. Vgl. Jones-Davies: Paradoxes élisabéthains: ‚Les guerres de la vérité‘. Malloch hebt die Nähe der Renaissanceparadoxie zur philosophischen Skepsis hervor, welche die Zugänglichkeit einer situationsunabhängigen Wahrheit bezweifelt, vgl. Malloch, A.E.: Techniques and Function of the Renaissance Paradox. S. 200-202. In: Studies in Philology. 53, 2 (1956). S. 191-203. – Am Beispiel von Cardanos Nerolob hat Hartung auf skeptische Implikationen hingewiesen, vgl. Hartung, Stefan: Kontingenz des Spiels und des Geschichtsurteils bei Girolamo Cardano: Liber de ludo aleae (1526) und Encomium Neronis (1562). In: Hempfer, Klaus W./Pfeiffer, Helmut (Hg.): Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance. Stuttgart: 2002. 97  Das Adagium und die Gattung der paradoxen Lobrede sind in der Forschung bereits zusammengedacht worden. Vgl. etwa Dandrey: L’éloge paradoxale. S. 59. Ein gutes Verständnis für die Auswirkungen der silenischen Epistemologie auf die Darstellungsebene von Texten verschafft die bereits zitierte (aber nicht auf die rhetorische Paradoxie bzw. das Lob der Torheit eingehende) Untersuchung Müller, Jürgen: Das Paradox als Bildform. S. 90-124. – Müller untersucht hier das Silen-Bild im Spannungsfeld von christlicher Weltdeutung (Diskrepanz von Innen und Außen) und christlicher Rhetorik (Stilideal der Niedrigkeit) bei Pico de la Mirandola, Erasmus von Rotterdam, Sebastian Franck und F. Rabelais. 98  Vgl. für die Nachweise der Zitate aus dem lateinischen Text im folgenden Opera Omnia Desiderii Erasmi. Bd. 2, 5. Hg. v. Felix Heinimann und Emanuel Kienzle. Oxford: 1981. S. 159-190. Eine englische Übersetzung findet sich in Phillips, Margaret Mann: The ‚Adages‘ of Erasmus. A study with translations. Cambridge: 1964. S. 269-296. – Dass Erasmus dieses Adagium (III, III, 1) in der Basler Ausgabe von 1515 zu einem Essay ausgestaltet hat und

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1517 eine Einzelausgabe dieses Essays herausgebracht, der noch im 16. Jahrhundert eine ganze Reihe von Sonderdrucken und Übersetzungen folgten.99 Erasmus erläuterte darin eine Redewendung, wie er es in den Adagia mit tausenden anderen Sprichwörtern und Redewendungen tat. Daher war sie für seine Zeitgenossen bei aller erkenntnistheoretischen Relevanz nicht als Grundsatz einer logisch-systematischen Theorie, sondern vielmehr als ein mögliches, aber nicht stets notwendig zur Geltung zu bringendes Argument zu verstehen.100 Die historisch-gelehrte Redewendung, so erklärte Erasmus zu Beginn, referiert auf eine Aussage des Alkibiades in Platons Symposion.101 Dort vergleicht Alkibiades den Sokrates mit kleinen Kultstatuetten, auf deren Außenseite sich das Bild eines unansehnlichen und Flöte spielenden Silens befindet. Klappt man sie nach beiden Seiten auf, so zeigen sie Götterbilder. Mit diesen ‚Silenen‘, wie diese Schnitzereien auch abgekürzt genannt werden, kann Alkibiades in Platons Symposion den Sokrates vergleichen, weil dieser äußerlich hässlich sei, zugleich aber die schönste Seele habe. Dieser Vergleich nun war, wie Erasmus schrieb, schon vor 1515 sprichwörtlich auf andere Gegenstände angewandt worden, wurde aber von ihm erstmals ausdrücklich zu einem „Modell der Weltdeutung“102 ausgeweitet, das an traditionelle Beschreibungen des christlichen Glaubensinhalts anknüpfte.103 dass im selben Jahr der Plan bestand, es zusammen mit dem kirchenkritischen Adagium ‚Scarabeus aquilam quaerit‘ im Anhang einer Neuauflage des Lobs der Torheit zu drucken, vgl. Opera Omnia. S. 15, Anm. 33. 99  Vgl. Opera Omnia. S. 161, Anm. 1. 100  Vgl. zur humanistischen Argumentation hier 2.1. 101  Vgl. Platon: Symposion. 215a-217a. 102  Müller, Wolfgang G.: Das Problem von Schein und Sein in Erasmus’ ‚Sileni Alcibiadis‘ und Shakespeares ‚Macbeth‘. In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 15 (1991). S.  1-18. Hier: S. 3. 103  Insofern die Diskrepanz zwischen Sein und Schein mit einschließt, dass sich das Höchste nicht als solches zu erkennen gibt, sondern sich nur in vermittelter, ja verfremdeter Gestalt, nämlich im Niedrigsten präsentiert, partizipiert Erasmus’ epistemologische Heuristik an dem, was Auerbach das humile-Motiv des Christentums genannt hat. Vgl. Auerbach, Erich: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern: 1958. S. 25-53; sowie Taubes, Jacob: Die Rechtfertigung des Hässlichen in urchristlicher Tradition. In: Hans Robert Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste – Grenzphänomene der Ästhetik. München: 1968. S.  169-186. Weitere Vorläufer für die Betonung einer hermeneutischen Widerständigkeit des christlichen Glaubensinhalts könnten zum einen die biblische Figur des Propheten sein, dessen Berufenheit sich gerade darin bezeugt, dass er verkannt wird, sowie zum andern die vom Hermetismus geprägte mystische Kommunikation, die von der Forschung zumeist mit dem logischen Begriff der Paradoxie beschrieben wird. Vgl. zur Prophetenfigur Kraft, Heinrich: Die Paradoxie in der Bibel und bei den Griechen. S.  255-258. In: Geyer, Paul/Hagenbüchle,

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Im ersten Teil des Adagiums zählte Erasmus Beispiele für derartige Silene auf: Zunächst Philosophen, die in bedürfnisloser Armut lebten, wie die Kyniker Antisthenes und Diogenes oder der freigelassene stoische Sklave Epiktet; danach den „wunderbaren Silen Jesus“104 als den ans Kreuz geschlagenen, erniedrigten Sohn Gottes; sowie schließlich die äußerlich armen, ungebildeten Propheten und Apostel und die alten Bischöfe. Dieses Deutungsprinzip, dem zufolge Wertvolles sich äußerlich als wertlos darstelle, wurde zum allegorischen Auslegungsverfahren, wo Erasmus es auf Geschichten aus dem Alten Testament anwandte. Bleibe man dort an der Oberfläche, erschienen sie lächerlich; stattdessen habe man sie wie Nüsse, die ja außen wertlos scheinen, innen aber wertvoll sind, zu knacken, um ihren göttlichen Reichtum zu erkennen.105 Eines seiner Beispiele, das er aber nicht auslegt, ist die Geschichte der Erschaffung Adams aus Lehm und Evas aus einer Rippe von Adam. Und allgemein schrieb er dazu: In der Natur und in Glaubensfragen sei das Vorzüglichste das, was verborgen und von weltlichen Augen am weitesten entfernt ist; genauso sei in Fragen der Erkenntnis die Wahrheit immer am tiefsten verborgen und weder leicht noch von Vielen zu verstehen.106 Im zweiten Teil kehrte Erasmus dieses Prinzip um, obwohl das ursprünglich nicht zum Bild gehörte: Ein Großteil der Menschen sei ein umgedrehter Silen,107 der nur nach dem Äußeren urteile und also selbst wiederum umgedrehte

Roland (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. 2. Aufl. Würzburg: 2002. S. 247-272; und zur Mystik Luhmann, Niklas/Fuchs, Peter: Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität? In: Dies.: Reden und Schweigen. Frankfurt/Main: 1989. S. 70-100; Haas, Alois Maria: Das mystische Paradox. In: Geyer/Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox. S.  273-294; Alt, Peter-André: Paradoxie als Medium religiösen Wissens. Mystisch-hermetische Semantik und poetische Struktur im 17. Jahrhundert. In: KulturPoetik 11, 1 (2011). S. 21-46. 104  An non mirificus Silenus fuit Christus? S. 164, Z. 67. – Die Angaben zu Zitaten aus dem Silen-Adagium beziehen sich auf die bereits zitierte Ausgabe in den Opera Omnia. Bd. 2, 5. 105  Si consistas in superficie, ridicula nonnunquam res sit; […] Si nucem frangas, nimirum reperies arcanam illam ac vere diuinam sapientiam planeque quiddam ipsi Christo simillimum. S. 168, Z. 166-180. – Im Enchiridion bezieht Erasmus die Sileni alcibiadis ebenfalls bzw. insbesondere auf das Alte Testament (dort S. 188), in dem sogar einiges dem Anschein nach Ungereimtes stehe (nonnulla etiam absurda in speciem, S. 192). 106  in naturae simul ac mysticis rebus, vt quicque praestantissimum est, ita quam maxime videbis abstrusum et a prophanis oculis longissime semotum. Itidem in cognitione germana rerum veritas semper altissime latet, quae nec facile nec a multis deprehenditur. S. 168, Z. 180-184. 107  Bona pars hominum praeposterum Silenum exprimunt. S. 166, Z. 120f.

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Silene (Sileni inversi) verehre.108 Nach dem Urteil des Erasmus sei niemand so verächtlich wie die, die sich Gott am nächsten glauben; niemand so gefährdet wie die, die am glücklichsten scheinen; niemand so arm wie die, die das gemeine Volk als die Reichen verehrt; und niemand sei weniger Bischof als die, die unter den Bischöfen den vordersten Platz einnehmen.109 Das war die Logik der paradoxen Entwertung im mittleren Teil des Lobs der Torheit. Statt solche Verkehrungen des Richtigen und des Falschen auf ein bloßes Fehlverhalten der Leute zurückzuführen, wie dies Sokrates und Cicero taten, ist es hier ein Prinzip der Wirklichkeit selbst, das Erasmus wirksam sieht: Das Vorzüglichste versteckt sich im Schein des Unscheinbaren, Ungereimten oder sogar Unansehnlichen und umgekehrt erkennt man das Verächtlichste daran, dass es sich (als das Angesehene) auf den ersten Blick (prima specie) darbietet.110 Nirgends zeigt sich deutlicher als in diesem Adagium, dass Erasmus die Diskrepanz von Sein und Schein, die sowohl das Bild vom inneren und äußeren Menschen im Enchiridion als auch die sprachliche Präsentation der Frömmigkeitslehre im Lob der Torheit prägt,111 zu einem heuristischen Mittel der Erkenntnis erhob.112 Sie war damit auf das engste mit dem humanistischen 108  Crassum vulgus, quoniam praepostere iudicat, nimirum ex his quae maxime sensibus corporis obuia sunt aestimans omnia, passim et labitur et errat ac falsis bonorum et malorum simulachris deluditur inuersosque Silenos miratur ac suspicit. S. 168, Z. 184-187. 109  Nullos abiectius ae seruilius seruos quam has, qui se diis vt aiunt proximos et omnium dominos putant. Nullos aeque calamitosos atque eos, qui videntur felicissimi. Nullos pauperius esse pauperes his, quos hominum vulgus vt diuites adorat. Nullos esse minus episcopos, quam qui inter episcopos primas tenent. S. 166, Z. 135-139. 110  Haec nimirum est natura rerum vere honestarum: quod habent eximium, id in intimis recondunt abduntque, quod contemptissimum, id prima specie prae se gerunt S.  162, Z. 60-62. 111  Ein gutes Verständnis für die Auswirkungen der silenischen Epistemologie auf die Darstellungsebene von Texten verschafft die bereits zitierte (aber nicht auf die rhetorische Paradoxie bzw. das Lob der Torheit eingehende) Untersuchung Müller, Jürgen: Das Paradox als Bildform. S. 90-124. – Müller untersucht hier das Silen-Bild im Spannungsfeld von christlicher Weltdeutung (Diskrepanz von Innen und Außen) und christlicher Rhetorik (Stilideal der Niedrigkeit) bei Pico de la Mirandola, Erasmus von Rotterdam, Sebastian Franck und Rabelais. 112  Dandrey hebt den Zusammenhang sehr richtig hervor: „Développant le lieu commun du divorce entre une apparence méprisable et une valeur d’autant plus grande qu’elle est cachée, l’adage se trouvait définir le mécanisme même de la pensée paradoxale“. Ders.: L’éloge paradoxale. S. 59. – Abgesehen allerdings davon, dass das Adagium auch den umgekehrten, satirischen Fall der Entlarvung des Wertlosen im scheinbar Wertvollen thematisiert, steht es nicht nur in einem Abbildungsverhältnis zur Paradoxie, indem es sie ‚definiert‘, sondern auch in einem Begründungsverhältnis zu ihr, indem es sie legitimiert bzw. religiös-philosophisch erforderlich macht.

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Profil der Paradoxie verbunden. So lässt sich die Diskrepanz zwischen Schein und Sein mit gutem Grunde als ein epistemologisches Legitimationsmuster vermuten, welche die christlich-humanistische Praxis antikonsensualer Rede nicht nur als Wahrheitsgeltungsanspruch („Ich darf euch widersprechen, weil ihr falschen Vorstellungen anhängt“), sondern auch als Abgrenzung von der Mehrheit der Gesellschaft legitimiert („Ich darf euch widersprechen, weil das christliche Leben eine oppositionelle Haltung erfordert“).

Kapitel 6

Pluralistisches Selbstdenken: ‚Paradoxie‘ in der Aufklärung 6.1

Einleitung

Die vergangenen Kapitel untersuchten verschiedene Fälle von „paradoxer Rede“ als exemplarische Demonstrationen von rhetorisch-philosophischer Könnerschaft. Während die beiden sophistischen Modellfälle an politischer oder künstlerischer Selbstbehauptung orientiert waren und dabei auf Wahrheitsansprüche verzichteten (Gorgias, Lukian), war eben dieser Anspruch für die philosophischen Modellfälle des Redens gegen allgemeine Meinungen konstitutiv (Cicero, Erasmus). Diese philosophische Tradition der Wahrheitsverpflichtung der Rede ist im Großen und Ganzen auch für die kulturelle Reformbewegung sowie für das Paradoxie-Konzept der Aufklärung (und der Frühromantik) richtungsweisend. Und doch weicht sie auch signifikant von dieser Tradition ab. Die wenigen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zur Paradoxie im 18. Jahrhundert1 zeigen immerhin, dass der aufklärerische Diskurs den Begriff nicht in seiner heute geläufigen, von der Mathematik/Logik/ Textanalyse des 20. Jahrhunderts geprägten Bedeutung, sondern in seiner alteuropäischen, traditionellen Bedeutung verwendet. Diesem Befund gilt es nun nachzugehen, um die Wendung innerhalb der Philosophiegeschichte der Paradoxie zu verstehen, die sich zur Zeit der Aufklärung ereignete. Es sei kurz rekapituliert: Cicero und Erasmus hatten in der philosophischen Tradition der abendländischen Metaphysik gestanden, die den Menschen durch einen vorgegebenen ideellen Kosmos bestimmt hatte.2 „Paradoxe Rede“ war hier nur insoweit legitim gewesen, als diese Rede eben jene metaphysische Bestimmung des Menschen gegen etwaige davon abweichende Ansichten zur Geltung brachte. Hatte die philosophische Legitimation paradoxer Rede in diesem Sinne inhaltlich fixierten Grundsätzen der Moralphilosophie oder -theologie gegolten, geht die Philosophie der Aufklärung mit einem durchaus neuen sozial- und kulturgeschichtlichen Paradigma einher, in dem anstelle der Einpassung in die kosmischen Bestimmungen des Menschen die 1  Vgl. etwa Schilder: Zur Begriffsgeschichte des ‚Paradoxon‘. S.  61-78; Sckommodau: Die Thematik des Paradoxes in der Aufklärung. 2  Vgl. Blumenberg. Anthropologische Annäherung an die Rhetorik. S. 107.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_007

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Selbstverantwortung des bürgerlichen Individuums zur kulturellen Leitvorstellung avancierte.3 In den Wissenschaften zeitigte dabei ein neues Methodenideal, das Vernünftigkeit unabhängig von vorgefassten Gewissheiten definierte, auch Folgen für das disziplinäre Verhältnis von Rhetorik und Philosophie:4 Je wirkungsmächtiger die neue Philosophie im System der Wissenschaften wurde, desto mehr drängte sie im 18. Jahrhundert die Disziplin der Rhetorik als Produktionstheorie erfolgsorientierter Rede aus dem traditionellen Fächerkanon und trug so zu ihrer Transformation in andere Fächer bei.5 Insoweit das rhetorische Wissen die für die Philosophie generell relevante Frage betraf, wie sich der Mensch als Vernunftwesen angesichts der allgemein geteilten Meinungen zu verhalten habe, ging es nun in die Anthropologie über, wo es freilich von einer dezidierten Textproduktionstheorie zu einer Theorie vom richtigen und vom falschen Gebrauch des menschlichen Verstandes bzw. der menschlichen Vernunft transformiert wurde. Hierbei war auch eine grundsätzliche Neubewertung der Kategorie des Konsenses und damit auch der Kategorie der Paradoxie zu beobachten: Lebensweltlich bedeutsame Wertbegriffe, die vorher eine philosophische Dignität als natürliche Einsichten der Menschen, der Fachleute oder der mit Autorität versehenen antiken Schriftsteller besitzen konnten, sollten nun unter Vorbehalt gestellt werden. Die angesehenen Meinungen bei Aristoteles (endoxa), die ruhmvolle Tradition des eigenen Volks bei Cicero (mos maiorum) oder die historisch-gelehrten Sammlungen antiker Weisheiten bei Erasmus (historische loci communes), all dies wurde nun als potentieller Aberglaube oder mögliches Vorurteil betrachtet, solange es nicht durch Logik und Vernunft überprüft wurde.6 In diesem Vorbehalt gegenüber der Kategorie der allgemeinen Meinung als einer legitimen Quelle der Argumentation zeigt sich ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Vernunftbegriffs: Denn anders als in der metaphysischen Tradition eines Cicero und eines Erasmus bezeichnete „Vernunft“ in der Aufklärung keinen Besitz an Wahrheiten mehr, sondern ein Vermögen zum Urteilen.7 War für die Zeit der 3  Vgl. Luhmann, Niklas: Individuum, Individualität, Individualismus. 4  Vgl. Dyck, Joachim: Philosophisches Ideal und rhetorische Praxis der Aufklärung: Eine Problemskizze. In: Schanze, Helmut/Kopperschmidt, Josef (Hg.): Rhetorik und Philosophie. München: 1989. S. 191-200. 5  Vgl. Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik: Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin: 2004. S. 14; Schanze, Helmut: Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 12 (1993). S. 60-72. 6  Vgl. Klein, J./Zinsmaier, Thomas: Vorurteil. Sp. 1219. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. Tübingen: 2009. Sp. 1219-1233. 7  Laut Ernst Cassirer ist dies ein generelles Merkmal der Aufklärung: Vernunft „nimmt sie nicht sowohl als einen Gehalt von Erkenntnissen, von Prinzipien, von Wahrheiten als vielmehr als

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Aufklärung generell der Versuch der Institutionalisierung einer Beobachtungsebene typisch, auf der eine jede Ansicht (der Religion, der Philosophie etc.) nicht als notwendig betrachtet, sondern mit möglichen anderen Ansichten verglichen werden sollte,8 dann galt dies auch für die aufklärerische Konzeption der Paradoxie: Was eine legitime Paradoxie war, konnte nicht mehr inhaltlich in einem sozusagen hinter den falschen Vorstellungen verborgenen Konsens aller oder einer mit Autorität ausgestatteten Gruppe fixiert und so auch nicht in Thesen und Reden exemplarisch demonstriert werden. Es musste stattdessen formal in Hinblick auf die Gesetze der Vernunft und der Logik bestimmt und also theoretisch reflektiert werden. Wie im Folgenden zu zeigen ist, war die Zeit der Aufklärung die Zeit der Theorie der Paradoxie und des Konsenses, der zufolge einer paradoxen Behauptung, mag sie auch den Gelehrten selbst unglaubhaft vorkommen, die gleiche Chance auf Wahrheit (oder Irrtum) zugeschrieben wurde wie einer Behauptung, die mit historisch-traditionellem Wissen und gegenwärtigen Mehrheitsmeinungen übereinstimmte. Um das zu zeigen, untersucht dieses Kapitel fünf verschiedene begriffsgeschichtliche Quellen zur Paradoxie, die als solche bisher noch wenig konsultiert worden sind. Immanuel Kant (1724-1804), Christoph Meiners (1747-1810), Abbé André Morellet (1727-1819), Johann Georg Wiggers (17481820) und Ferdinand Heinrich Lachmann (1770-1848) trugen allesamt eine aufklärerische Apologie der Paradoxie als eine Lizenz zum gewagten Urteilen vor, die sie lediglich an die Bedingung knüpften, dass sich ein solches Urteil als konsentierbar erweist und also durch seine allgemeine Akzeptanz seine anfängliche Paradoxalität verliert. Alle untersuchten Positionen teilten dabei die historisch-subjektive Situationsdefinition Aufklärung, die im Gegnerbild des religiösen und philosophischen Dogmatismus übereinstimmte. Sie wollten den dogmatischen, seine eigene Unbezweifelbarkeit voraussetzenden Wissensmodus verbieten und verteidigten stattdessen die Rolle des kritischen Gelehrten, in der jeder Mensch öffentlich gewagte Urteile sowohl vertreten als auch prüfen dürfen sollte. Dabei ermahnten sie in der Form von Kollegenschelten oder Publikumsappellen alle an der Aufklärung Beteiligten zu einem ausgewogenen Urteil. Man sollte bei der Meinungsfindung idealerweise eine Energie; als eine Kraft, die nur in ihrer Ausübung und Auswirkung völlig begriffen werden kann. Was sie ist und was sie vermag, das läßt sich niemals vollständig an ihren Resultaten, sondern nur an ihrer Funktion ermessen“. Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg: 2007. S. 13. 8  Systemtheoretisch ist diese These mit dem Begriff der Kultur verbunden. Vgl. Luhmann, Niklas: Kultur als historischer Begriff. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 4. Frankfurt/ Main: 1995. S. 31-54; Esposito, Elena: Kulturbezug und Problembezug. In: Luhmann und die Kulturtheorie. Hg. v. Günter Burkart und Gunter Runkel. Frankfurt/Main: 2004. S. 91-101.

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zwischen Originalitätssucht und gedankenlosem Beifall, zwischen Individualität und Sozialität die Waage halten. Diese Ermahnung zur Balance zwischen individueller Kühnheit und weltbürgerlicher Rücksicht sollte zu einer Gepflogenheit auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung werden: Es ging allen Genannten ausdrücklich nicht um die Festlegung bestimmter Meinungen, sondern darum, Meinungsbildungsprozesse zu institutionalisieren und zu regulieren. Dabei wird auch deutlich werden, was Rainer Godel zum aufklärerischen Vorurteilsdiskurs allgemein sagt,9 dass nach der Frühaufklärung, die eine rücksichtslose Kritik an Vorurteilen übte, anthropologisch begründete Forderungen nach einer rücksichtsvollen und behutsamen Art und Weise der Kritik laut wurden. Wie sich zeigen wird, knüpften diese Forderungen zum Teil auch an die christlich-humanistische Norm einer sozialverträglichen Modifikation des freimütigen Aussprechens der Wahrheit an. Schwerer wiegt für das Paradoxie-Konzept ebenso wie für den Vorurteilsdiskurs der Aufklärung freilich, dass der bloße Doppelappell sowohl zum Selberdenken als auch zum Anerkennen anderer Meinungen zunehmend als unzureichend empfunden wurde. Erst in der Spätaufklärung (Herder, Wieland, Georg Forster, u.a.) sowie in der Frühromantik (Friedrich Schlegel, Novalis u.a.) transformierten sich der Vernunftbegriff ebenso wie das Paradoxie-Konzept derart, dass sich darin auch eine neue anthropologische Reflexion auf die Notwendigkeit der „Erweckung“, der „Anregung“ und folglich der zeitlichen Entwicklung des Urteilsvermögens niederschlug. 6.2

Selbstdenken: Apologien der Paradoxie bei Zedler und Kant

Es gehörte zu den Grundannahmen der aufklärerischen Paradoxie-Konzeption, dass der Vorwurf, eine Rede sei paradox, als Vorwurf nicht allzu ernst genommen zu werden brauche, weil allgemeine Meinungen keine Rückschlüsse über die Sache selbst erlaubten. Der Grundstein zu dieser Ansicht, den man in der deutschen Frühaufklärung etwa bei Christian Thomasius (1655-1728) finden konnte, war sicherlich die Kritik an der humanistischen Argumentation aus historisch-gelehrten Gemeinplätzen (loci communes) und generell an der ungeprüften Übernahme der Ansichten der Eltern und der Schule – im Namen des selbständigen Denkens.10 Es gehörte zur neuen sozialen Rolle des 9  Vgl. Godel, Rainer: Vorurteil, Anthropologie, Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert. Tübingen: 2007. 10   Vgl. Coenen: Locus communis. Sp.  408f. Vgl. zur aufklärerischen Disqualifizierung historisch-gelehrten Wissens auch Schmidt-Biggemann: Topica universalis. S. 299-303.

Selbstdenken: Apologien der Paradoxie bei Zedler und Kant

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Gelehrten, im Interesse der Erkenntnis der Sache souverän gegenüber dem Herkömmlichen zu sein, das hieß hier meistens, gegenüber der traditionellen Philosophie, sogar gegenüber der Theologie und eben auch gegenüber der rhetorisch-dialektischen Argumentation mit Gemeinplätzen.11 Die Selbständigkeit des Denkens als Qualitätsmerkmal hervorhebend, nannten Frühaufklärer wie Pierre Bayle (1647-1706) Thesen wie die, dass Atheismus nicht schlimmer als Aberglaube sei, sogar mit einem gewissen Stolz „mon paradoxe“.12 Doch das philosophische, selbständige Urteil durfte durchaus mit der allgemeinen Meinung und also dem lebensweltlich Glaubwürdigen zusammenfallen: Beide Kategorien sollten nur formal voneinander getrennt werden. Die große Bedeutung dieser formalen Differenz zwischen Wahrheit und Glaubwürdigkeit lässt sich schon von der Art und Weise ablesen, in der etwa der Thomasius-Schüler Franz Josef Buddeus (1667–1729) paradoxe Thesen kritisierte. Wie oben bereits erwähnt (vgl. Kap. III, 4.3.1.), lehnte er in seiner Philosophiegeschichte die stoische Ethik in der Sache ab und betonte dabei, dass deren Thesen gerade nicht deshalb zu verwerfen seien, weil sie parádoxa seien und einem seltsam erschienen, sondern nur deshalb, weil sie paráloga oder unvernünftige Dinge enthielten.13 Die formale Trennung von Wahrheit und Glaubwürdigkeit respektierend, stellte Buddeus damit klar, dass Paradoxien prinzipiell einen gewissen Vertrauensvorschuss verdient hätten, weil sie – ambivalenter Weise – sowohl eine neue Erkenntnis als auch einen Irrtum enthalten könnten. Diese ambivalente und darin auch wieder recht lakonische Qualifikation der Paradoxie wird noch deutlicher in Zedlers Universal-Lexicon: PARADOXA, sind wider die scheinbare Vernunfft lauffende, und doch manchmal wahre Lehr-Sätze, als z.E. Eine Manufactur läst sich besser mit wenigem, als mit grossem Capital anfangen; Kaufleute sind nicht tüchtig in Commercien-Sachen zu rathen; Je höher die Künste in einem Lande belohnet werden, je weniger floriren sie. Paradoxa, mit diesem Namen belegten die Stoici gewisse Sätze, welche ihrer Einbildung nach seltsam, und aller andern Leuten Meynung entgegen wären[…] Wie überhaupt in der Stoischen Philosophie viele hochmüthige Thorheiten fürkommen, also mag man auch darunter ihre seltsame Sprüche zehlen, die nur dahin abzielen solten, daß sie ihre Weisheit zu einem Wunder, 11  Vgl. Dyck, Joachim: Philosophisches Ideal und rhetorische Praxis der Aufklärung: Eine Problemskizze. In: Schanze, Helmut/Kopperschmidt, Josef (Hg.): Rhetorik und Philosophie. München: 1989. S. 191-200. 12  „mon paradoxe, l’Athéisme n’est pas un plus grand mal que l’Idolatrie“, Bayle, Pierre: Oeuvres diverses. Bd. 3. Den Haag: 1737. S. 171. 13  Vgl. Buddeus, Johann Franz: Analecta historiae philosophicae. Halle: 1706, S. 132f. – Den Verweis auf Buddeus hebt Zedler zustimmend hervor, vgl. [Artikel] Paradoxon, Sp. 781. In: [Zedler] Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 17311754. Bd. 26., Sp. 780f.

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‚Paradoxie ‘ in der Aufklärung und ihre Welt-Weisen zu philosophischen Abgöttern machen wolten. (Herv. v. Verf., CW)14

In dieser Definition der großen Enzyklopädie der deutschen Hochaufklärung deutet sich ein Gesichtspunkt an, der gerade für die Diskussion der Paradoxie im 18. Jahrhundert konstitutiv bleiben sollte. Dieser Gesichtspunkt war der ideale und der tatsächliche Zustand des Menschen, der eine Paradoxie äußert oder zu verstehen sucht. Zedlers Kritik an den stoischen Paradoxien war, wie man heute sagen würde, psychologisierend: Die Paradoxalität der stoischen Ethik wurzele im Stolz und der Eigenliebe der Stoiker – und nur deshalb sei deren angebliche Paradoxie ein ungünstiges Zeichen. Paradoxien wurden für potentiell wahr gehalten, wenn sie nicht aus einem allzu sehr selbstbezogenen Denken stammten. Tatsächlich war die anthropologische Referenz auf das menschliche Gemüt, das nicht in kosmische Bezüge, sondern allein zwischen sich selbst und die anderen Menschen gestellt ist, der Grundpfeiler in der aufklärerischen Diskussion der Paradoxie. Eine Schlüsselstelle zu dieser Diskussion findet sich in der Anthropologie-Vorlesung Immanuel Kants. 6.2.1 Anthropologische Legitimierung der Paradoxie (Kant) Entgegen der verbreiteten, sich auf §53 der Kritik der Urteilskraft stützenden Annahme, dass Kant nichts als Verachtung für die Rhetorik übrig gehabt habe, lässt sich bei ihm an der gleichen Stelle „auch eine leicht zu übersehende gegenläufige, rhetorikaffine Tendenz entdecken.“15 Während Kant die ars oratoria als die Kunst verurteilte, „sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen“, stand ihm ein positives Gegenbild vor Augen: „der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck“, dem es um die „Darstellung seiner Ideen“ zutun ist.16 Die eigenen Ideen eines Menschen sind es letztlich auch, von denen Kants aufklärerische Deutung und Bewertung der Paradoxie ihren Ausgang nahm. Ebenso knapp wie präzise umriss Immanuel Kant die aufklärerische Diskussion der Paradoxie an einer Stelle, die, wie zu zeigen ist, für viele andere aufklärerische Reflexionen auf das Phänomen der Paradoxie stehen kann (s.u.). 14  Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Hg.v. Johann Heinrich Zedler. Halle; Leipzig: 1732ff. Bd. 26. Sp. 780f. 15  Vgl. Oesterreich, Peter L.: Rhetorik und Philosophie bei Kant, im Deutschen Idealismus und in der Romantik. S. 173. In: Hetzel, Andreas/Posselt, Gerald (Hg.): Handbuch Rhetorik und Philosophie. Berlin: 2017. S. 169-188. 16  Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/Main: 1974. S. 267.

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Ihm zufolge ist die Paradoxie unter bestimmten Bedingungen eine adäquate Äußerungsweise des Menschen. Bezeichnenderweise findet sich die, wie man sie nennen könnte, nachmetaphysische Rehabilitation der Paradoxie in der Vorlesung über die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798 veröffentlicht, wahrscheinlich seit 1772 gehalten).17 Der Begriff der Paradoxie ging hier, wie man deutlich sieht, aus der produktionsorientierten Rhetoriktheorie in die erkenntnisorientierte anthropologische Theorie über, doch diente er hier wie da einer normativen Regulierung des zum Zweck der Selbstbehauptung betriebenen sprachlichen Handelns.18 In dieser Vorlesung untersuchte Kant, wie sich die menschliche Bewusstseinstätigkeit, deren notwendige und allgemeine Regeln die drei Kritiken aufstellen sollten, unter empirischen Bedingungen verhalten konnte und sollte. Genauer gesagt, untersuchte er in dem ersten, größeren Teil, in dem er auch einige Worte über die Paradoxie verlor, inwiefern der Mensch einen zweckmäßigen und einen unzweckmäßigen Gebrauch von seinem Selbst macht.19 Gleich zu Beginn bestimmt Kant das Ich- oder Selbstbewusstsein als Erkenntnisvermögen (§1) und dessen falschen oder einseitigen Gebrauch als Egoismus im Sinne von unbegrenzter Eigenliebe (§2). Nach dem impliziten Schema der drei Kritiken skizziert er dann (§2) die jeweilige egoistische Anmaßung, die von dem Verstand, dem Geschmack oder dem praktischen Interesse ausgehen kann. Die Schilderung dieser Egoismen läuft darauf hinaus, dass dem Egoismus allgemein der Pluralismus entgegengestellt werden muss, „d.i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten“ (ApH, S. 411). Diese Unterscheidung zwischen der pathologischen und der zweckmäßigen, der egoistischen und der pluralistischen ‚Denkungsart‘ entfaltete den Fragehorizont, in dem sich die Diskussion der Paradoxie in der Aufklärung bewegte. Das Gemüt des Menschen, dessen Gebrauchsweisen Kant hier diskutierte (und auf das er die Paradoxie 17  Vgl. Kant, Immanuel: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Bd. 2. Hg. v. Wilhelm Weischedel. 15. Aufl. Berlin: 2013. 395-690. – Nachweise erfolgen im Folgenden im Text unter Angabe des Kürzels ApH und des Paragraphen bzw. der Seitenzahl. 18  „Der Mensch der Anthropologie ist […] Weltbürger, […] weil er spricht“. Foucault, Michel: Einführung in Kants Anthropologie. Übers. v. Ute Frietsch. Berlin: 2010. S. 95. 19  Vgl. zusammenfassend ebd. S.  65. Foucault weist darauf hin, dass Kant mit seiner Anthropologie, die einen empirischen Gegenstandsbereich hat, keine metaphysische Wesensbestimmung des Menschen vornimmt. Vgl. S.  110-113, 123. – Die Kategorie der Zweckmäßigkeit lässt sich, mit Blick auf die Angemessenheit (aptum, decorum) zudem als eine der kantischen „Anleihen bei grundlegenden Kategorien der Rhetoriktradition“ lesen, vgl. Oesterreich: Rhetorik und Philosophie bei Kant, im Deutschen Idealismus und in der Romantik. S. 174.

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bezieht), war strikt das Gemüt des Menschen, wie er unter anderen Menschen lebt. Und diese Tatsache der Sozialität des Individuums soll auf subjektivem Niveau, also schon innerhalb des individuellen Denkens respektiert werden, ohne dieses individuelle Denken als solches zu kompromittieren.20 Während Kant den ästhetischen und den moralischen Egoisten jeweils nur knapp erklärt, nämlich als einen Künstler, der selbstgenügsam in seinem eigenen Geschmacksurteil ruht, und als eigennützigen Menschen, der sich an keinem allgemeinen Pflichtbegriff orientiert, entfaltet er bei dem logischen Egoisten eine differenzierte Argumentation, die das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit im individuellen Denken nachzeichnet. In dem Absatz über den logischen Egoisten (logisch im Sinne von ‚begrifflich‘ oder ‚dem Verstand zugehörig‘) hebt Kant zwei Dinge hervor. Zunächst schildert er eindrücklich, wie wichtig es für den Menschen generell und besonders für den Philosophen sei, sein eigenes Urteil mit dem Urteil der anderen zu vergleichen. Der logische Egoist verzichte, indem er „es für unnötig [hält], sein Urteil auch am Verstande anderer zu prüfen“ (ApH, S. 409), auf ein unentbehrliches Mittel der Wahrheitsfindung. Hierauf folgt dann als Ausgleich das Zugeständnis an die Individualität. Denn die Sozialität des Einzelnen (und Kant spricht hier direkt seine Kollegen in der Philosophie an) soll nun nicht soweit gelten, dass wir „uns auf andrer Urteile zu Bestätigung unserer eigenen berufen dürfen“ (ebd.). Im Zusammenhang dieses individualistischen Zugeständnisses steht eine Apologie der Paradoxie: Eben darum [weil man einen Schriftsteller ohne Anhang des Irrtums verdächtigen würde, CW] ist es ein Wa g e s t ü c k : eine der allgemeinen Meinung, selbst der Verständigen, widerstreitende Behauptung ins Publikum zu spielen. Dieser Anschein des Egoisms heißt die P a r a d o x i e . Es ist nicht eine Kühnheit, etwas auf die Gefahr, daß es unwahr sei, sondern nur daß es bei wenigen Eingang finden möchte, zu wagen. – Vorliebe fürs Paradoxe ist zwar l o g i s c h e r E i g e n s i n n , nicht Nachahmer von anderen sein zu wollen, sondern als ein seltener Mensch zu erscheinen, stattdessen ein solcher oft nur den S e l t s a m e n macht. Weil aber doch ein jeder seinen e i g e n e n Sinn haben und behaupten muß (Si omnes patres sic, at ego non sic. A b a e l a r d ): so ist der Vorwurf der Paradoxie, wenn sie nicht auf Eitelkeit, sich bloß unterscheiden zu wollen, gegründet ist, von keiner schlimmen Bedeutung. – Dem Paradoxen ist das A l l t ä g i g e entgegengesetzt, was die gemeine Meinung auf seiner Seite hat. Aber bei diesem ist eben so wenig Sicherheit, wo nicht noch weniger, weil es einschläfert; statt dessen das Paradoxon das Gemüt zur Aufmerksamkeit und Nachforschung erweckt, die oft zu Entdeckungen führt. (ApH, S. 410) 20  Die schon bei Erasmus begegnende Tendenz zur Pluralisierung von Normen, die in der Verbindung von Christentum und griechisch-römischer Antike sinnfällig wird, kulminiert hier im pluralistischen Denken als einem erkenntnisleitenden, den humanistischen Wertehorizont also übersteigenden oder ihm vorgelagerten Prinzip.

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An dieser Passage ist zweierlei hervorzuheben: Zum einen fällt auf, dass Kant sprachlich zwischen dem Charakterzug „der Paradoxie“ und dem Redetypus „des Paradoxen“ unterschied. Daran wird besonders sinnfällig, dass das rhetorische Wissen der Kantischen Philosophie über „paradoxe Rede“ nicht in der Sprache der Metaphysik, sondern ausschließlich in der Sprache einer nicht-metaphysischen Anthropologie formuliert ist: Nicht der Bezug der Rede zur Wirklichkeit, sondern ihr Bezug zum Menschen war maßgeblich. Die Legitimität paradoxer Rede hing, mit anderen Worten, einzig und allein daran, dass der Mensch seiner inneren Bestimmung (zum pluralistisch orientierten Individuum) folgt, und gerade nicht daran, dass er eine von ihm unabhängige Natur erkennt. Zum anderen merkt man dieser Passage die Absicht an, die Paradoxie gegen unberechtigte Vorwürfe zu verteidigen. Es wird deutlich, welche immense, den Menschen als Menschen angehende Bedeutung Kant dem Charakterzug „der Paradoxie“ beimaß, mit dem man „ein Paradoxon“ vorbringt und sich der damit verbundenen Gefahr aussetzt, der „Gefahr der Verspottung“ (ApH, S.  588) vermutlich, die Kant später im Zusammenhang des moralischen Muts erwähnte. Mit Peter Abaelard (1079-1142) erklärte er sogar einen Häretiker zu einem Gewährsmann der Ansicht, dass man sich nicht scheuen solle, ‚Paradoxie‘ zu zeigen, das heißt, den ‚Anschein des Egoismus‘ zu erwecken. Letztlich sollten es die anderen Menschen nicht als Affront, sondern sogar als willkommenen Anlass zum Denken sehen, wenn jemand ein gewagtes Urteil vertrat.21 Kant ermutigte also den Redner zum Widerspruch und das Publikum dazu, in „paradoxer Rede“ eine potentielle Bereicherung zu sehen. Fühlt man sich hierbei an die antike philosophische Praxis der Parrhesia erinnert,22 so basierte sie doch im Falle Kants auf einem Erkenntnismodell, das nicht von der Selbstevidenz der Natur der Dinge ausging, die man rhetorisch wirksam machen müsse, sondern von der Möglichkeit neuen Wissens, das Erfahrungswissen und Grundannahmen über die Natur der Dinge in Frage stellen kann und in diesem Sinne inhaltlich unbestimmt ist. So überstieg die hier geforderte pragmatische Offenheit gegenüber dem Paradoxen den metaphysisch geschlossenen Bezugsrahmen klassischer und frühneuzeitlicher Philosophie. 21  Der Aspekt der Veranlassung zum Denken liegt zeitlich vor der Äußerung von Paradoxien und eröffnet dadurch streng genommen einen eigenen Themenkomplex: Muss nicht das selbständige Denken, das Kant in der Norm des pluralistischen Denkens als vorhanden voraussetzt, erst gebildet werden? Und ist es nicht auch denkbar, ja notwendig, dass paradoxe Urteile nach ihrer Etablierung zugunsten neuer Erkenntnisse überwunden werden? Tatsächlich wird spätestens die Frühromantik die Anregungsfunktion paradoxer Rede auf eine Stufe mit ihrer Erkenntnisfunktion stellen, die durch jene zugleich unterstützt und problematisiert wird. Vgl. dazu hier Kap. VII. 22  Vgl. zur Wiederaufnahme der antiken Philosophie als einer parrhesiastischen Praxis in der Neuzeit und besonders der Aufklärung Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. S. 433-439.

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Welche paradoxe Rede sollte noch überraschen können, wenn man schon das Prinzip der Paradoxie als solches verteidigte, ohne sich dabei – wie etwa Cicero auf die sokratische Tradition der Ethik – auf eine favorisierte Meinung festzulegen? Dennoch handelte es sich hier nicht um einen Freischein für jede beliebige Sondermeinung. Zunächst lag freilich schon eine äußere Limitation dieser demonstrativen Offenheit gegenüber paradoxen Urteilen in der idealistischanthropologischen Prämisse, dass die Gesellschaft allein durch das Denken des Menschen geprägt werden könne und solle. Darüber hinaus erwartete Kant jedoch eine Art Selbstbegrenzung der aufklärerischen Praxis antikonsensualer Meinung. Die Legitimität der Kritik an allgemeinen Meinungen, die inhaltlich nicht mehr auf einen Schatz überlieferter Weisheiten eingeschränkt sein sollte, war nur ein – in der allgemeinen Wahrnehmung der Aufklärung heute vielleicht überbetonter – Aspekt der aufklärerischen Praxis antikonsensualer Rede. Denn, von der anthropologischen Theorie grundsätzlich ambivalent orientiert, sollte diese Praxis die allgemeine Meinung in Schutz nehmen, wo man es mit der Paradoxie übertrieb, also dort, wo man auch vernünftigen Meinungen einer mit Autorität versehenen Gruppe keinerlei Anerkennung entgegenbrachte. Zur Apologie der Paradoxie gehörte also ein ihr gegenläufiges Prinzip dazu, das nach Kant eben darin bestand, dass man beim gewagten Behaupten die möglichen Meinungen anderer nicht völlig aus dem Blick verlieren durfte. Die Kritik war immer zulässig, ja gefordert, doch sollte es ein gewisser kosmopolitischer Horizont des Denkens verhindern, dass diese Kritik nur dem logischen Eigensinn entsprang. Diesen logischen Eigensinn nannte Kant an späterer Stelle der Anthropologie auch ‚Privatvorstellung‘ und erläuterte ihn näher durch ‚Verrücktheit‘ (Wahnvorstellungen) bzw. ‚Grillen‘ (vgl. ApH, S. 535f.). Das zeigt, dass die Rücksicht auf die Urteile anderer ihre limitierende Funktion am ehesten in akuten Fällen von logischem Egoismus erfüllen sollte. Der ‚eigene Sinn‘, den jeder ‚haben und behaupten‘ sollte und der sich offenbar vom ‚logischen Eigensinn‘ unterschied, war demnach von Projektionen eines allzu selbstsicheren Ichs zu unterscheiden. 6.2.2 Kants Maximen des gemeinen Menschenverstands Kant legte also eine anthropologische Sichtweise auf die Paradoxie dar, die man als individualistische Lizenz mit Kompatibilitätsauflage bezeichnen könnte. Der hohe Status der allgemeinen Meinung bei Cicero und Erasmus, in Form von gegenwärtigen oder historisch-gelehrten loci communes, wurde hier also nicht negiert, aber doch zugunsten des ihm gleichrangigen selbständigen Denkens und der eigenen Erfahrung drastisch relativiert. Im Begriff des

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gemeinen Menschenverstands, der bei Kant keineswegs polemisch konnotiert, sondern normativ überaus positiv aufgeladen war,23 wurde diese ambivalente Norm explizit festgeschrieben und um das Kriterium ergänzt, dass das Resultat des pluralistischen Denkens logisch konsistent sein solle. Das als notwendig erachtete Wechselspiel aus individuellem Denken und der Anerkennung der Urteile anderer findet sich am Ende des ersten Buchs der Anthropologie, das mit dem Erkenntnisvermögen beschäftigt ist, in drei Maximen wieder. Sie sollen nichts geringeres als Maximen sein, welche „die Klasse der Denker […] zur Weisheit führen“ (ApH, S.  549). Etwas bekannter dürften sie als „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ sein, als die Kant sie in der dritten Kritik für jeden Menschen aufstellt (und übrigens nur erwähnt, um sie von der ästhetischen Urteilskraft abzugrenzen).24 Sie lauten dort „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“.25 Die erste Maxime befreit von der „Heteronomie der Vernunft“ (ebd.), das heißt hier, vom Vorurteil allgemein und insbesondere vom Aberglauben. Es ist anzunehmen, dass es sich bei dem ‚eigenen Sinn‘ um eben dieses Selbstdenken handelt, den jeder ‚haben und behaupten muß‘. Wer diese Maxime nicht befolgt, ahmt die anderen nach oder lässt an deren „Gängelbande sich leiten“26. Er kommt also auch niemals in die Verlegenheit, als paradox verspottet zu werden. Wie oben schon gesehen, argumentiert Kant allerdings auch umgekehrt, dass die Maxime des Selbstdenkens, wenn sie nicht an ein pluralistisches Selbstverständnis gekoppelt ist, zum ‚logischen Egoismus‘ führt. In diesem Sinne fordert die zweite Maxime, „[s]ich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes a n d e r e n zu denken“, das heißt, eine „sich den Begriffen anderer bequemende[…] Denkungsart“27 anzunehmen. Diese Maxime revidiert nicht die erste Maxime, sondern soll die Illusionen korrigieren helfen, die aus „subjektiven Privatbedingungen“28 entstanden sind. Die dritte Maxime, an der sich besonders die Frühromantik in ihrer Paradoxie-Konzeption (ebenso wie an der zweiten Maxime) stoßen wird 23  Vgl. zu dem Begriffsfeld ausführlicher Nehring, Robert: Kritik des Common Sense, Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn: der Sensus communis bei Kant. Berlin: 2010. 24  Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/Main: 1974. S.  226f. Vgl. auch allgemeiner zum kommunikativen Aspekt der kantischen Vernunftkonzeption Recki, Birgit: ‚An der Stelle [je]des andern denken‘. In: Dies.: Die Vernunft, ihre Natur, das Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant. Paderborn: 2006. S. 111-125. 25  Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 226. 26  Kant: Schriften zur Anthropologie. Bd. 2. S. 549. 27  Ebd. 28  Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 227.

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(vgl. hier Kap. VII, 5), fordert dazu auf, an die Summe der eigenen Urteile stets den Maßstab der formalen Logik anzulegen, um sich nicht in Widersprüchen zu verfangen. Diese drei Maximen artikulieren die normative Grundlage dessen, was hier unter der aufklärerischen Praxis antikonsensualer Rede verstanden wird. Von einzelnen Weisheiten abstrahierend und in diesem Sinne inhaltlich entleert, unterschieden sie sich einerseits deutlich von den philosophischen Modellfällen „paradoxer Rede“ eines Sokrates, Cicero oder Erasmus, die nicht ausschließlich auf Reflexionsregeln, sondern immer auch auf moralphilosophischen Grundsätzen beruhten. Andererseits sollten sie, wie später zu zeigen ist, bereits durch die Frühromantiker kritisiert und im Dienst einer besseren Praxis antikonsensualer Rede abgewandelt werden. Um dieses Alleinstellungsmerkmal noch prägnanter zu fassen und stärker zu belegen, sei hier zunächst weiter ausgeführt, mit welchem globalen Handlungstelos und in welcher sozialen Form aufklärerische Paradoxien laut Kant in der Praxis verankert sein sollten (2.3.), um schließlich noch weitere aufklärerische Gelehrte zu Wort kommen zu lassen, die mit Kant über die Merkmale einer guten und einer schlechten Praxis antikonsensualer Rede übereinstimmten (3.). 6.2.3 Aufklärung als globales Handlungsziel paradoxer Rede Die zentrale Schwierigkeit, auf welche die aufklärerische Praxis antikonsensualer Rede reagierte, lag wohl darin, dass die dogmatische Bevormundung und die Verfestigung irgendwelcher Meinungen ausgeschlossen werden sollte. Anzustreben war daher gerade nicht diese oder jene Meinung, sondern die Bereitschaft des Schriftstellers zum Selbstdenken und die Bereitschaft des Publikums zur Überprüfung seiner Kritik. Wenn man sagen kann, dass die von Kant favorisierte Praxis antikonsensualer Rede gerade nicht bestimmte Weisheiten mitteilen, sondern im Dienst ergebnisoffener Meinungsbildungsprozesse stehen sollte, dann lieferte seine Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) eine prägnante Beschreibung für den Typus von rhetorischen Situationen, in denen diese Praxis zum Einsatz kommen sollte.29 Dass die Apologie der Paradoxie inhaltlich eng an diese Schrift geknüpft war, ließ sich schon an jenem Imperativ ablesen, den Kant zum „Wahlspruch der Aufklärung“ (WiA, S.  52) erhob: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (ebd.). Denn wozu bräuchte es diesen Mut, wenn das mit eigenem Verstand geäußerte Urteil nicht, genau wie eine paradoxe Rede, auf die Gefahr hin gewagt wäre, „daß es bei wenigen Eingang 29  Vgl. Kant, Immanuel: Werkausgabe. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 11. Frankfurt/Main: 1977. S. 53-61. – Belege erfolgen im Text unter Angabe des Kürzels WiA und der Seitenzahl.

Selbstdenken: Apologien der Paradoxie bei Zedler und Kant

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finden möchte“30? Darüber hinaus zitierte Kant in seiner AnthropologieVorlesung im Zusammenhang der gerade besprochenen Maximen des gemeinen Menschenverstandes seine berühmte Definition der Aufklärung, um die immense Bedeutung der ersten Maxime zu unterstreichen, die er die Maxime des Selbstdenkens oder das ‚Prinzip der zwangsfreien Denkungsart‘ (vgl. ApH, S. 549) nannte: Die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen ist: ‚der Ausgang desselben aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.‘ Statt dessen, daß bis dahin andere f ü r ihn dachten und er bloß nachahmte, oder am Gängelbande sich leiten ließ, wagt er es jetzt, mit eigenen Füßen auf dem Boden der Erfahrung, wenn gleich noch wackelnd, fortzuschreiten.31

Wie sich die Forderung des Selbstdenkens nicht nur an Philosophen, sondern an den Menschen im Allgemeinen richtet, so sieht Kant die Aufklärung als eine Aufgabe der gesamten bürgerlichen Gesellschaft an. Niemand soll zum Beispiel seinen Verstand durch ein Buch ersetzen oder seinen Seelsorger als sein Gewissen ansehen (vgl. WiA, S. 53). Für die bürgerliche Ordnung der Gesellschaft insgesamt muss man sich ‚den Gebrauch des eigenen Verstandes‘ mit Kant in der Form des gelehrten Publizierens vorstellen, als die Rolle des kritischen Schriftstellers, die je nach Bedarf von verschiedenen Leuten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft eingenommen werden soll (vgl. WiA, S. 55). Ein Offizier dürfe zum Beispiel zwar den praktischen Ablauf nicht einfach durch Befehlsverweigerung unterbrechen, aber er könne etwa „als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen […] machen“ (WiA, S. 56). Analog dazu dürfe ein Bürger zum Beispiel nicht einfach die Abgabe von Steuern verweigern, aber „als Gelehrter“ könne er „wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußer[n]“ (ebd.). Nicht zuletzt müsse zwar ein Priester seine Aufträge ausführen, aber als Gelehrter sei auch und gerade er dazu berufen, „Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens […] dem Publikum mitzuteilen“ (ebd.). Diese Beispiele zeigen, dass sich Kant das gewagte Urteil als einen Kommunikationsmodus vorstellte, durch den die Gesellschaft – wenn sie sich nur dazu entschließen würde – in die Lage versetzt werde, nahezu permanent und in allen Bereichen über sich selbst umzulernen. Nur wenn man diesen Modus etabliere, könne sie sich selbst durch sich selbst verändern (bzw. aufklären, verbessern).

30  Kant: Schriften zur Anthropologie. S. 410. 31  Ebd. S. 549.

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‚Paradoxie ‘ in der Aufklärung

Zwar sah Kant darin ein zentrales Hindernis der Aufklärung, dass die Laster „Faulheit und Feigheit“ (WiA, S.  53) sowie selbsternannte Vormünder die Menschen am Denken hinderten. Doch die frühromantische Frage, wie man die Fähigkeit zum Selbstdenken entwickele oder gar systematisch ausbilde, stand hier nicht zur Debatte. Vielmehr ging es zunächst einmal um die Deklaration der Legitimität des Redens gegen allgemeine Meinungen – im Dienst der Veränderlichkeit herrschender Meinungen und der Offenheit des gesellschaftlichen Diskurses. Am Beispiel der dogmatischen Religion, einem prototypischen Gegner der aufklärerischen Praxis antikonsensualer Rede, führte Kant seinem Publikum ein Szenario vor Augen, in dem die Gesellschaft auf eine bestimmte symbolische Ordnung festgelegt werden soll. Er fragte, ob es nicht einem Rat von Geistlichen erlaubt sei, sich eidlich unter einander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen, und diese gar zu verewigen? (WiA, S. 57)

Kant bezeichnete dieses dystopische Szenario als „ein Verbrechen wider die menschliche Natur“ (WiA, S. 58). Stattdessen könne allenfalls bewirkt werden, dass sich manche Gemeinden durch Anregung geistlicher Schriftsteller und „nach ihren Begriffen der besseren Einsicht“ (ebd.) eine eigene Religion geben, solange sie die übrigen Gemeinden nicht „hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen“ (ebd.). Wohlgemerkt: Nicht die Skepsis gegenüber der allgemeinen Meinung ist das Neuartige in Kants Ansicht der Paradoxie. Diese lässt sich als ein Topos der Argumentation (allgemeine Meinung als Tyrann) spätestens seit der Frühen Neuzeit belegen.32 Während aber dort die allgemeine Meinung deshalb kritisiert worden war, weil sie der Realisierung einer metaphysisch geschlossenen und allgemein verbindlichen Wissensordnung im Weg gestanden hatte, war hier das Argument, dass jede Überzeugung, der man lernunwillig anhinge und der man sich ohne Möglichkeit zu Prüfung und Kritik sogar zu beugen hätte, ein Verbrechen an der Menschlichkeit wäre. Paradoxien, fast gleich welchen Inhalts, gehörten zur Vernunftnatur des Menschen dazu und durften deshalb nicht unterdrückt werden. Ein Zitat aus Goethes Aus meinem Leben, in der er sich an die Lektüre von Gottfried Arnolds Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie erinnerte, demonstriert die gleiche Offenheit einer individualistischen Anthropologie gegenüber der „paradoxen Rede“: 32  Vgl. Jones-Davies: Paradoxes élisabéthains: ‚Les guerres de la vérité‘.

„Paradoxomanie “ : Warnung vor Entnormierungsgefahr

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[W]as mich an seinem Werk besonders ergetzte, war, daß ich von manchen Ketzern, die man mir bisher als toll oder gottlos vorgestellt hatte, einen vorteilhaftern Begriff erhielt. Der Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen steckt in uns allen. Ich studierte fleißig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses tat ich mit vieler Behaglichkeit.33

Goethe drückte die Legitimität der Kritik an allgemeinen Meinungen wie Kant in der Semantik des selbstbestimmten Individuums aus und griff dabei ebenso auf die gelehrte Vokabel des Paradoxen zurück. Dass der Quell der Paradoxie wie bei Kant in keinem transzendenten Bezug, sondern ‚in uns allen‘ gesehen wurde, war eine historische Neuheit. Knapper konnte man das Konzept der Paradoxie wohl nicht aufklärerisch gegen den metaphysischen Universalismus auslegen, in dessen Namen sie vormals – freilich mit den besten Absichten – vorgebracht worden war, um ein vermeintlich verblendetes Publikum sehend zu machen. Ebenso wie bei Kant schien sich die Apologie des Paradoxen insbesondere gegen das dogmatische Moment der Religion zu wenden. Während sich Kant in der Schrift Was ist Aufklärung? allenfalls eine Gemeinde vorstellte, die sich ihre eigene Religion gab, erinnerte sich Goethe daran, wie er sich eine ganz eigene gebaut hatte. So wird hier greifbar, inwiefern Kants Apologie der Paradoxie in der Tat eine individualistische Tendenz implizierte, eine Tendenz, die viele Aufklärer begrüßten, während sie zugleich vor den gefährlichen Folgen ihrer Überhandnahme warnten. 6.3

„Paradoxomanie“: Warnung vor Entnormierungsgefahr

Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts klagten einige Beiträge unter dem Stichwort der Paradoxie, dass eben dieser Kommunikationsmodus zwar im Prinzip toleriert werden müsse, aber in einem untragbaren oder doch gefährlichen Ausmaß missbraucht werde. Indem diese Beiträge sich kritisch über eben jene Gelehrten äußerten, die – in dem Kantischen Bild der Aufklärung – die laufende Praxis in verschiedenen Teilen der Gesellschaft kritisieren sollten, lagen diese Beiträge (genauso wie Kants Apologie der Paradoxie) auf einer Ebene zweiter Ordnung. Genauer gesagt, kritisierten sie die laufende Praxis der gelehrten Kritik, zum einen für ihre egozentrische Streitsucht (Morellet, 33  Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Hg. v. Dieter Borchmeyer et. al. Bd. 14. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Frankfurt/Main: 1986. S. 382. (Hervorhebung v. V., CW).

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‚Paradoxie ‘ in der Aufklärung

Wiggers), aber auch für mangelnde Behutsamkeit und Nachsicht mit den Fehlern des Menschen (Meiners). Diese gefürchtete Gefahr des Missbrauchs und der Übertreibung der aufklärerischen Praxis antikonsensualer Rede sei hier mit einem Begriff, den Godel für die übergeordnete „Problematik des Vorurteilsdiskurses seit der Jahrhundertmitte“34 eingeführt hat, als Entnormierung bezeichnet. Aufklärerische vs. humanistische Verträglichkeit: Meiners’ Revision der Philosophie Auf dem Feld der Philosophie trat 1772 Christoph Meiners (1747-1810) mit seiner Schrift Revision der Philosophie an die Öffentlichkeit.35 In dem ersten Abschnitt Über die Philosophie (vgl. S. 31-158), der hier von Interesse ist, legte sich Meiners die klar erfolgsorientierte und damit rhetorische Frage vor, wie die Philosophie sich von dem Einfluss der Religion befreien könne. Zwar sei dieser Einfluss seit den Zeiten der Hexenverbrennungen und der kirchlichen Rechtsgewalt über die Wissenschaften schon geringer geworden (vgl. S.  63), doch bestünde er in der Gestalt der religiösen Lehren auch innerhalb der Philosophie noch beinah ungehindert fort (vgl. S. 113-117). Diesem Einfluss hielt Meiners ein ‚freies Denken‘ entgegen, das ähnlich wie Kants Dynamisierung des Symbolischen gegen das Szenario einer kommunikativen Festlegung gerichtet war: Es bestehe nämlich

6.3.1

nicht blos in der uneingeschränkten Preßfreiheit, sondern vorzüglich in der Unabhängigkeit von dem Interesse oder Zwange, gewisse Meinungen als heilig und unwidersprechlich zu glauben. (S. 117)

Wie bei Kant ging es hier weniger um einen einfachen Mitteilungsgehalt als um die Normalisierung eines bestimmten Kommunikationsverhaltens, das sich nicht dogmatisch auf bestimmte Mitteilungsgehalte festlegen, sondern sich der Pluralität möglicher Auffassungen prinzipiell öffnen sollte. Denn nur so könnten Philosophen laut Meiners „die beiden philosophischen FeuerProben“ (S. 69) bestehen, daß sie nehmlich denjenigen, die anderer Meinung sind, weder mit dogmati­ schem Stolze, noch demüthigender Verachtung begegnen, und dabey von aller Proselytenmacherey befreyt sind, und 2) auch die paradoxesten Sätze mit ruhiger Gleichgültigkeit betrachten können […]. (S. 69f.)

34  Godel, Rainer: Vorurteil, Anthropologie, Literatur. S. 284. 35  Vgl. Meiners, Christoph: Revision der Philosophie. Göttingen: 1772. Die Quellenangabe erfolgt im laufenden Text unter Angabe der Seitenzahl.

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Anders als Kant, dessen Philosophie Meiners übrigens teilweise kritisierte, wollte der Göttinger Popularphilosoph allerdings diejenigen Philosopheme, die mit der herrschenden Religion in Konflikt geraten würden, vorerst nur im Geheimen zulassen. Dafür unterschied er zwischen exoterischer Philosophie, die sich an den allgemein anerkannten Maßstäben orientiere, und esoterischer Philosophie. Diese könne nichts anders als solche Lehren enthalten, die von dem jedesmaligen theologischen Systeme, und den allgemein aufgenommenen Meinungen, nach welchen jedes Zeitalter sein praktisches Leben einrichtet, zu weit entfernt sind, als daß sie ohne gefährliche Erschütterungen allgemein bekannt gemacht werden dürften. (S. 91f.)

Meiners’ philosophische Schriftsteller sollten ihre Ansichten nicht geradewegs hinausposaunen, sondern zuerst den jeweiligen Nutzen ihrer und der herrschenden Ansichten in einer gegebenen Situation miteinander vergleichen. Im expliziten Bezug auf den Renaissance-Humanismus empfohl Meiners seinen aufklärerischen Mitstreitern: [S]iehe wohl zu, ob alle Umstände so zusammenlaufen, daß du ohne Tumult einen glücklichen Ausgang deiner Reformation erwarten kannst, und dann rede anfangs ganz leise, nur weisen Männern hörbar, suche ihre Aufmerksamkeit rege zu machen, und durch sie das übrige Publicum zu deinen Absichten vorzubereiten: und dann erst rede laut – die Geschichte wird dir eine Stelle unter den Vives und Erasmen anweisen. (S. 127)

Man sieht hieran sehr gut, was für die Philosophie der Aufklärung auf dem Spiel stehen konnte, wenn es um die Notwendigkeit ging, sich gegen einen Konsens zu richten: friedliche Reformation oder gefährlicher Tumult. Ausdrücklich humanistisch inspiriert, bediente sich Meiners’ Aufklärungsmodell bemerkenswerterweise eines christlichen Arguments, um eine friedliche und geordnete Zurückdrängung der christlichen Lehre aus der Philosophie zu gewährleisten: Man solle den sozialen Frieden nicht gefährden. Daher schlug Meiners die konspirative Überzeugung von anerkannten Autoritäten als Strategie antikonsensualer Rede vor. Den dadurch zu vermeidenden Fall, in dem Philosophen gefährliche Lehren ohne Umwege öffentlich bekannt machten, nannte Meiners Paradoxomanie. Prägnant bezeichnete dieser Ausdruck jenen pathologischen Fall eines egozentrischen Gemüts (manía), das ein gewagtes Urteil (parádoxon) äußerte, wie ihn schon Zedler und Kant so ähnlich kritisierten. Gemeint waren damit zum Beispiel religionskritische Passagen in den Werken Rousseaus und Humes (vgl. S. 127), die Meiners besonders deshalb zu stören scheinen, weil die gleichen Autoren später in Schutzschriften für die Religion einen Sinn für die nötige Behutsamkeit aufklärerischer Religionskritik bewiesen hätten.

230

‚Paradoxie ‘ in der Aufklärung Ehe grosse Genies die zerstörende Paradoxomanie und den gewaltsamen Hypothesen-Eifer ablegen, haben sie der Welt gemeiniglich schon so viel Schaden zugefüget, daß sie in der Folge genug abzuverdienen haben, und ihn bisweilen gar nicht zu verbessern im Stande sind. (S. 127)

Meiners forderte also, in solch wichtigen Angelegenheiten eine größere Vorsicht und vor allem „schonende Nachsicht gegen Fehler des Menschengeschlechts“ (S.  130). Er sorgte sich mithin nicht so sehr um die ‚Gefahr der Verspottung‘ (Kant), der sich mutige Selbstdenker aussetzen, sondern um die Gefahr des sozialen Unfriedens, den eifernde Selbstdenker verursachen konnten. Hervorzuheben ist gleichwohl, dass Meiners Ideal der Philosophie zwar eine konservative Verzögerungstaktik einsetzte, strategisch jedoch dem aufklärerischen Ziel verpflichtet blieb, Abscheu vor paradoxen Sätzen, einseitige Denkart, dogmatische Sucht, Abhängigkeit von Nationalvorurtheilen, und die aus allen diesen Stücken entstehende Unverträglichkeit [zu] mindern (S. 134).

Damit kombinierte Meiners interessanterweise zwei Werte miteinander, die man die humanistische und die aufklärerische Verträglichkeit nennen könnte. Denn die aufklärerische Verträglichkeit, die durch die Minderung des Abscheus vor paradoxer Rede, ja „die ruhige Gleichgültigkeit“ (S.  70) beim Betrachten auch der paradoxesten Sätze erzielt werden sollte, unterschied sich grundlegend von derjenigen, die den Philosophen bei Erasmus und Thomas Morus dazu verpflichtet hatte, manche seiner gewagten Urteile zurückzuhalten. Die humanistische Verträglichkeit hatte zwar auch Rücksicht auf die Urteile der anderen genommen, aber diese Rücksicht unterstellte zugleich, dass es sich bei diesen Urteilen um ‚die Komödie des Lebens‘ (Lob der Torheit, §29) handelte, das heißt, um Abweichungen vom moraltheologischen Dogma. Zur gegebenen Zeit sparte man sich das Beharren auf dem Dogma, aber man stellte es nicht in Frage. Die aufklärerische Verträglichkeit hingegen bestand darin, dass das Beharren seiner dogmatischen Grundlage entzogen werden sollte. Sie sollte das Streitpotential und damit die Gefahr der sozialen Spaltung vermindern – indem sie die Grenzen legitimen Streits erweiterte. 6.3.2 Abbé André Morellets Theorie des Paradoxen 1775 erschien eine 200 Seiten lange anonyme Schrift mit dem Titel „Théorie du paradoxe“36, die durch Johann Jakob Wilhelm Heinses Zusammenfassung „Theorie des Paradoxen“ 1778 auch der deutschsprachigen Öffentlichkeit 36  Morellet, Abbé André (anonym publiziert): Théorie du paradoxe. Amsterdam: 1775.

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bekannt gemacht wurde.37 Der Autor selbst, der Enzyklopädist Abbé André Morellet (1727-1819), fand die Paradoxie von Autoren wie Aristoteles und Cicero nicht hinreichend behandelt (vgl. Morellet  S.  2). Und tatsächlich war seine Théorie wahrscheinlich die ausführlichste zusammenhängende Betrachtung, die man von der Paradoxie als einer rhetorischen Kategorie lesen konnte. In Morellets Wahrnehmung gelangte die Praxis der antikonsensualen Rede, während sie in der Antike nicht annähernd so stark verbreitet gewesen sei (vgl. Heinse S. 6f), zu seiner Zeit auf einem Höhepunkt an: „Unser Jahrhundert sieht Werke erscheinen, worinn sich das Paradoxe in seinem ganzen Glanz zeigt“38. Umso schwerer wiegt, dass auch seine Schrift das Überhandnehmen eines bestimmten Typs der Paradoxie in der jüngeren schriftstellerischen Kritik beklagte und korrigieren wollte. Nach der Etablierung der Praxis sei nun eine Theorie des Paradoxen nötig und möglich geworden (vgl. Morellet S. 2). Im impliziten Einklang mit Zedler, Kant und anderen Aufklärern stellte Morellet die formale Indifferenz von Paradoxie und Konsens fest, indem er zwischen einem richtigen Einsatz der Paradoxie für die Wahrheit und einem falschen Einsatz gegen die Wahrheit unterschied (vgl. Morellet S. 10). Als gutes Beispiel nannte er die These des italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria (1738-1794), „man müsse, um die Zahl der Verbrechen zu mindern, die Härte der Strafen mäßigen“ (Heinse  S.  10; vgl. Morellet  S.  11). Sodann wandte sich Morellet seinem eigentlichen Thema zu, der Kritik des falschen Gebrauchs der Paradoxie. Morellets Théorie ist eine ironische Anleitung zum Verfassen von Aufsehen erregenden, weil grundfalschen Thesen. Sowohl für die Entdeckung des dazu geeigneten Stoffs als auch für die effektvollste Gestaltung und Gliederung desselben stellte Morellet ein Werk seines Landsmanns Simon Nicolas Henri Linguet (1736-1794) als mustergültig hin, aus dem er fortwährend zitierte (vgl. Morellet S. 19ff.). Der als reaktionär bekannte Linguet argumentierte dort für seine These, dass Freiheit mit bürgerlichen Gesetzen unvereinbar sei, indem er Monarchien, ja Tyrannei und Sklaverei in das bestmögliche Licht zu rücken versuchte, die europäische Gesetzgebung hingegen schlichtweg diffamierte. Den in der Tat erstaunlichen Zitaten aus Linguets Werk stellte Morellet jeweils anerkannte Positionen (François Bernier und Jean Chardin, aber auch Locke, Hume, Leibniz, Montesquieu) voran (vgl. Morellet S. 17ff.), die man nun 37  Heinse, Johann Jakob Wilhelm (anonym publiziert): Theorie des Paradoxen. Leipzig: 1778. Quellenangaben erfolgen im Text unter Angabe der Ausgabe (Morellet: Original, Heinse: Übersetzung) und der Seitenzahl. 38  Heinse: Theorie des Paradoxen, S.  8. Vgl. Morellet, Abbé André (anonym publiziert): Théorie du paradoxe. Amsterdam: 1775. S. 9: „Notre siecle voit se multiplier les ouvrages où le Paradoxe se montre dans tout son éclat“.

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lediglich „mit dem Muth der Frechheit“ (Heinse, S. 13) umzukehren brauche, um zu einer Position wie der Linguets zu kommen. Ironisch ermutigte Morellet den Leser dazu, von der gängigen Schreibart, die unter anderem Sorgfalt und Kenntnis erfordere, abzuweichen (vgl. Heinse S. 60f.) und auch nicht auf jene „[e]igensinnige[n] Leute“ zu hören, die „wollen, daß die Liebe zur Wahrheit die erste Pflicht eines Schriftstellers sey“ (ebd. S. 78). Morellets Kritik am Egozentrismus jener Schriftsteller, die vielmehr nur an Bekanntheit und Käufern (vgl. ebd. S. 76f.) interessiert oder vom „Genie des Paradoxen“ (ebd. S. 67), vom „Aufbrausen der Säfte“ (ebd. S. 68) ergriffen seien, gipfelte in einer ironischen Vision. Ein Dutzend Schriftsteller von der Art  Linguets könnte nämlich die Wissenschaften insgesamt beim Publikum verächtlich machen und so die Menschheit wieder in den seligen Naturzustand der Unwissenheit versetzen (vgl. ebd. S. 74f.). Morellets ebenso geistreiche wie bissige Warnung vor dem Untergang der Gesellschaft durch eine allzu egozentrische Praxis antikonsensualer Rede basierte offenbar exakt auf dem anthropologischen Argument, das auch Kants Apologie der Paradoxie zugrunde lag: Ein egozentrisches Gemüt, das beim Gebrauch des eigenen Verstandes zu sehr auf sich selbst sehe und die Urteile anderer völlig ignoriere, weiche von seiner eigentlichen, kosmopolitischen Bestimmung ab. Davon schien Morellet eine derart große Gefahr auszugehen, dass er versuchte, das traditionelle rhetorische Wissen zu erweitern – und damit auch neue Mittel zu schaffen, mit denen man eine bestimmte gesellschaftliche Kommunikation, die rechtsphilosophische Praxis antikonsensualer Rede, beschreiben und regulieren könnte. Noch eine Warnung: Johann Georg Wiggers’ Kritik an der „Paradoxomanie“ 1778 erschien eine ebenfalls zusammenhängende, aber viel kürzere Betrachtung mit dem Titel Paradoxomanie in den Vermischten Aufsätzen des Kieler Philosophie-Professors Johann Georg Wiggers (1748-1820).39 Wiggers bekümmerte wie Morellet weniger die Gefährdung des sozialen Friedens durch aufklärerische Philosopheme, die Meiners unter dem Kampfbegriff der Paradoxomanie kritisierte und durch esoterische Philosophie zu bremsen versucht hatte. Wie Morellet sorgte er sich vielmehr um die Neigung der Schriftsteller, aus Eitelkeit von den bereits verbreiteten aufgeklärten Meinungen abzuweichen. Wie für Morellet Montesquieu und andere das rechtsphilosophische Wissen fürs Erste erschöpft hatten, so bestand Wiggers darauf, dass man vor 6.3.3

39  Vgl. Wiggers, Johann Georg: Vermischte Aufsätze. Leipzig: 1784. S. 174-192. Quellenangaben erfolgen unter Angabe der Seitenzahl im Text.

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allem durch Lessing mit den bildenden Künsten und (wohl durch Lavater) jetzt auch mit der Physiognomik durchaus „fertig geworden“ (S. 174) sei; und genauso werde man demnächst auch „mit Pädagogik und Staatskunst fertig werden“ (S. 174). Wiggers erklärte in seinem Aufsatz, dass dieser Umstand eine besondere Herausforderung für die neueren, sozusagen zu spät geborenen Gelehrten darstellte. Wer nämlich alte Wahrheiten neu einkleidete, der sei von der „Hecke unserer ephemerirenden Genies“ (S.  177) verhöhnt worden, weil es „nicht seines Geistes Kinder“ (ebd.) gewesen seien. Wiggers implizierte dabei, dass der Weg der Übernahme fremder Meinungen nicht gangbar sei – verurteilte er es doch gleichermaßen, wenn du aus sclavischer Anhänglichkeit nicht nur an der Modelitteratur, sondern auch an der angenommen Art sie zu bearbeiten, deine Kräfte weder an neuen Gegenständen, noch an einer neuen Methode versuchen willst. (S. 179)

Sei man nun aber „in unserer originalsüchtigen Zeit“ (S.  182) dazu verleitet, die „aufgeklärte Seite eines Gegenstandes“ (S.  183) zu fliehen, dann führe dies bei mangelnden Kräften meist dazu, „daß die vorlängst beleuchtete Seite entweder völlig ins Finstere geräth, oder im falschen Lichte erscheint“ (ebd.). Wiggers’ Gelehrte befanden sich also in einer aporetischen Situation. Um der Ichsucht zu entgehen, die „das selbst gefällige Ausstreuen neuernder Irrthümer“ (S. 184) bewirke, sollten die besseren unter ihnen die Suspension des Denkens als das kleinere Übel in Kauf nehmen, indem sie bloß bekannte Wahrheiten weiterverbreiten sollten. Aber der gemeine Schriftsteller versuche, wie Wiggers anthropologisch argumentierte, „allenthalben sein liebes Ich voran zu schieben“ (ebd.). Hier zeigt sich noch einmal sehr deutlich, wie konsequent die aufklärerische Diskussion der Paradoxie den Fokus der Betrachtung von dem Inhalt auf den Modus der Kommunikation und dessen Quelle im menschlichen Gemüt richtete. Das gewagte Urteil war auch für Wiggers anthropologisch unverzichtbar, und es wurde falsch nur dort, wo der Mensch sich selbst verkannte, nämlich, wo er aus krankhaftem Selbstbezug die Urteile der anderen ignorierte. Folgende Stelle kann besonders anschaulich machen, wie eng auch für Wiggers das falsche Paradoxe mit dem falschen Gebrauch bzw. Bild menschlicher Gemütsvermögen zusammenhängt: Spitzfindigkeit gilt dann für Scharfsinn, Anstrengung der Einbildungskraft für fruchtbare Phantasie, Nervenschwäche für Gefühl, Impertinence für Genie, und dumdreiste Behauptung für kühne Wahrheitsliebe. Der Denker ex professo bestürmt uns mit seinem geflickten System, der Historiker mit unerwarteten Rettungen und funkelnagelneuen Characteren, der Redner mit TaschenspielerRhetorik, der Dichter mit Werken, welche die horazische Carricatur realisieren. (S. 185)

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Da die aufklärerische Praxis antikonsensualer Rede nicht über ihre Inhalte, sondern über ein Vermögen des Individuums legitimiert wurde, bestand die Gefahr der Verwechslung des richtigen mit dem falschen Gebrauch dieses Vermögens. Wiggers fand drastische Bilder für das gefährliche Potential dieser Praxis, zu einer völligen Entnormierung (Rainer Godel) der Gesellschaft zu führen, ohne jedoch die Errungenschaften der Aufklärung rückgängig machen zu wollen: Hier führt man ein Gebäude auf, weil man Materialien hat, welche zum Bauen nichts taugen. Dort reißt man Eins nieder, weil es für die Ewigkeit gebauet schien. Man verwirft alle Regeln der Kunst, nicht etwa weil sie das Kunstwerk nicht fördern, sondern weil sie es seit Jahrtausenden gefördert haben. Die Paradoxensucht hat die gelehrte Republik zu einer Anarchie gemacht, in der jeder seine Stimme geben will, ohne die Stimme seines Mitbürgers zu ehren. (S. 186f.)

Wie Morellets Théorie, die nur verdeutlichte, was man lassen soll, zeugte Wiggers’ Klage über das Fehlverhalten der gelehrten Schriftsteller von großer Ratlosigkeit. Die Kritik beider Autoren an der laufenden Praxis der Gelehrten reflektierte das Modell dieser Praxis, wie es auch Kants Bestimmung der Aufklärung zugrunde lag, aber sie veränderte es nicht. Dem Gros der Schriftsteller empfahl Wiggers, sich in das Schicksal der bloß reproduktiven Kritik zu fügen. Ansonsten müsse man sich auf den Verstand des Publikums verlassen: Wenn es keinen habe, so applaudiere es einem Schriftsteller wie Linguet – auch bei Wiggers anscheinend von Übel; wenn es aber Verstand habe, so reagiere es mit Schweigen.40 Aussitzen, Totschweigen als Antwort auf die negativen Folgen des Kritik-Modells der Aufklärung? 6.4

Zur Anregungsfunktion der Paradoxie: F.H. Lachmanns Über das Paradoxe

1801 erschien ein 80 Seiten langer als philosophischer Versuch bezeichneter Aufsatz von Ferdinand Heinrich Lachmann (1770-1848) mit dem Titel Über das Paradoxe.41 Dieser Aufsatz, der in der Forschung bisher kaum beachtet 40  Der Schriftsteller, der ein ‚schwacher Kopf‘ ist, wählt „die Sprache, mit der Linguet einen Nero zum Hirten der Völker, und seine eigene Wenigkeit zum Philosophen schwatzt. Er braucht diese Sprache, wozu sie gut ist, und erhält Beyfall von seines Gleichen. Aber ehrlicher Mann w h a t d i d t h e l e a r n d w o r l d s a y t o y o u r p a r a d o x e s ? t h e l e a r n d w o r l d s a i d n o t h i n g t o m y p a r a d o x e s , n o t h i n g a t a l l “ (S. 190). 41  Lachmann, Ferdinand Heinrich: Ueber das Paradoxe. In: Ders.: Paradoxie und Originalität. Zwey philosophische Versuche. Zittau; Leipzig: 1801. S. 1-82. Nachweise erfolgen im Text unter Angabe der Seitenzahl.

F.H. Lachmann Über das Paradoxe

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wurde,42 liest sich wie eine Synthese der vorher genannten Positionen der Aufklärung. Lachmann nahm jedoch eine Akzentverschiebung vor: Er legte ein stärkeres Gewicht auf die bereits von Kant beiläufig erwähnte Anregungsfunktion der Paradoxie, die eine große Bedeutung in der sich gleichzeitig formierenden Frühromantik erlangen sollte. Lachmanns Definition der Paradoxie war nahe bei Kant, indem sie die Paradoxie als eine spezifische Neigung zur unkonventionellen Stellungnahme bezeichnete: Paradoxie endlich ist entweder ein Inbegrif von mehrern Paradoxen oder überhaupt, die Gewohnheit, sich so zu äußern, daß eine ungewöhnliche Ideenverbindung sichtbar werde. (S. 19)

Auf die Tätigkeit des Denkens bezogen (‚Ideenverbindung‘), sei dieses sprachliche Handeln in der antiken Philosophie begründet worden. Zenon von Kition, der Begründer der Stoa, galt Lachmann als „Vater der Paradoxie“ (S. 7). Durch die Vermittlung Ciceros, aus dessen oben besprochener Schrift Lachmann zitiert (vgl. S. 9, 12f., vgl. Cicero, PS §4), seien Begriff und Sache der Paradoxie allgemein bekannt geworden (vgl. S.  7). Das philosophische Profil der Paradoxie war damit klar konturiert, auch wenn Lachmann mit dem Rückgriff auf Adelungs Stilistik43 (vgl. S. 24f., 62f.) das Feld allgemeiner Sentenzen berührte. Auch die dichterische Paradoxie (vgl. S. 25, 55f.), die etwa auch in unerwarteten Bildern und mysteriösen Rätseln bestehen könne, erwähnte Lachmann nur am Rande. Die wichtigsten Exempel gegenwärtiger paradoxer Rede fand Lachmann in der zeitgenössischen Philosophie. Rousseau, der „Meister aller Paradoxie“ (S. 53),44 vor allem aber Kant und Fichte waren hier beinahe so etwas wie Säulenheilige (wie Montesquieu bei Morellet und Lessing bei Wiggers). Ihre Lehren waren Lachmann vorbildliche Paradoxien 42  Vgl. in anderem Kontext Stanitzek, Georg: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen: 1989. S. 141f. 43  Vgl. Adelung: Ueber den Deutschen Styl. 2 Bd. Berlin: 1785, hier: Bd. 1, 9. Kapitel, Vierter Abschnitt, Figuren für den Witz und Scharfsinn, 6. Das Paradoxe: „Eine Art des Unerwarteten, wenn eine Idee einer allgemein angenommenen Meinung widerspricht; […] Der paradoxe Satz muß, wenn er einigen Werth haben soll, nicht allein Wahrheit, sondern auch Interesse haben, […]“ S. 498. Seine Beispiele sind: „Die Stunden sind länger als die Jahre“ (nämlich im Gram), „die Sonne macht das schöne Wetter nur für den Pöbel“ (weil Vornehme ihr Vergnügen aus Gesprächen ziehen), „Lessing nennt den Fontenelle einen witzigen Kopf, der hernach das Unglück hatte, hundert Jahre witzig zu bleiben“ und als Sonderfall des Paradoxen, der „scheinbare Widerspruch mit sich selbst“: „Unsere Kunstlehrer haben lange den höchsten Grundsatz der schönen Kunst gesucht, und vor vielem Suchen dasjenige nicht finden können, was vor ihnen lag“. S. 499. 44  „[D]em höchst paradoxen Emil verdankt die Pädagogik die heilsamsten Reformen“ (S. 53).

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‚Paradoxie ‘ in der Aufklärung

mutiger Wahrheitskämpfer,45 die den Spott und den Widerstand beschränkter Köpfe auf sich zogen.46 Auch Lachmann unterschied auf der Grundlage anthropologischer Argumente zwischen einem ‚ächten Paradoxen‘, das „Spuren eines wirklichen Scharfsinns und feinen Beobachtungsgeistes, eines ächten Witzes und guten Geschmacks an sich“ trage (S. 12, vgl. S. 31-49), und einem falschen Paradoxon, dessen Behandlung durch Morellet Lachmann eingangs kurz darstellte (vgl. S. v-xii). Was jener vor Augen gehabt habe, behandelte Lachmann „unter dem Namen des logischen Eigensinnes, der Eitelkeit, Originalitäts-Sucht und Ungereimtheit […] als eine schädliche Wucherpflanze“ (S. xii, vgl. S. 45-49, 58-60, 69-73). Mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit abstrahierte so auch Lachmanns Definition von der inhaltlichen Ebene konkreter Thesen, um stattdessen ein pragmatisches Verständnis von der idealen, aber missbrauchbaren Weise des gewagten Urteilens in der Öffentlichkeit zu entwickeln. Auf der bekannten argumentativen Grundlage setzte Lachmann den Akzent allerdings stärker als die bisher genannten Beurteilungen auf die positive Rezeptionswirkung, welche die Paradoxie auf die Gemüter des Publikums haben könne (vgl. S. 49-82). Mit der bescheidenen Wendung „das Wichtigste sagt schon Kant“ (S.  50) begann Lachmann ausführlich und mit dem größten Nachdruck die anregende, aus dem Schlummer der Alltagswelt reißende Funktion der Paradoxie zu beschreiben, die schon Kant neben der potentiellen Erkenntnisfunktion der Paradoxie lobend hervorgehoben hatte. Er lud damit nicht nur die Gelehrten ein, auf bestimmte Weise zu kommuni­ zieren, sondern er appellierte auch an das – zum großen Teil auch gelehrte – Publikum, das vor der Aufgabe stand, gelehrte Schriften zu rezipieren und zu beurteilen. Mit den gleichen Argumenten, mit denen Meiners, Morellet und Wiggers ihre Kollegen rügten, die es mit der Paradoxie übertrieben hätten, warb nun Lachmanns gelehrte Intervention beim Publikum für ein gegenüber Paradoxien angemesseneres Rezeptionsverhalten. Man kann hierin auch eine Debatte über die Geschwindigkeit des Fortschritts sehen: Waren die aufklärerischen Paradoxien eines Rousseau oder eines Hume nach Meiners Ansicht zu schnell für den unvorbereiteten, schwachen Geist des Publikums, warb Lachmann bei dem traditionsbefangenen Publikum dafür, die Verbreitung der Paradoxien der idealistischen Philosophie nicht allzu stark zu bremsen. 45  Der Hauptbezugspunkt ist deutlich: Paradox seien „fast alle Hauptsätze der Kantischen Philosophie“ (S. 20ff.). 46  Lachmann spielt besonders auf die Kritiken Nicolais und Herders an Kants Philosophie (vgl. S. 10, 22), gewisse Zweifler Fichtes (vgl. S. 22f.) sowie auf den erzwungenen Rücktritt desselben von seiner Jenaer Professur im Zuge des Atheismusstreits an (vgl. S. 33).

F.H. Lachmann Über das Paradoxe

237

Einerseits sollte das Publikum sich nicht an jene Aufklärungsgegner (vgl. S.  66) halten, die „der Autorität ewige Treue zugeschworen“ (S.  65) hatten und nun beklagten, dass niemandem mehr „der Glaube der Väter heilig genug [ist], um sich demselben ohne Mißtrauen zu ergeben“ (S.  66). Mit eben jener dogmatischen Unbedingtheit, mit der die Aufklärungsgegner an der hergebrachten symbolischen Ordnung festhielten, sollte man sich nun auf die persönliche Souveränität gegenüber der eigenen Meinung festlegen. Damit forderte Lachmann von dem Publikum jene „Unabhängigkeit von dem Interesse oder Zwange, gewisse Meinungen als heilig und unwidersprechlich zu glauben“47, die Meiners von jedem Philosophen gefordert hatte. Willst du dich in den Stand setzen, mit mehr Gerechtigkeit über dein Zeitalter zu urtheilen, als jene Unglückspropheten und Verketzerer: so bewahre als ein Heiligthum in deinem Herzen jene edle Unbefangenheit, bei der man allein auf das Wahre, Gute und Schöne bedacht, frei von vorgefaßtem Mißtrauen, wie von voreiligem Zutrauen, ohne selbstsüchtige Nebenabsichten, Alles was vorkommt einer sorgfältigen Betrachtung würdigt […]. (S. 67)

Lachmann rechnete also einerseits mit dem Einfluss eines noch in dogmatischen Wissensformen befangenen Publikums der Gelehrten. Genau wie Wiggers und Morellet versuchte aber Lachmann andererseits, zugleich der individualistischen Entnormierung, der „Paradoxomanie“ (S.  68) einer in vielem schon aufgeklärten Wissenschaft entgegenzusteuern. Er empfahl dem Publikum dafür, genau jenen Balanceakt zwischen Individualität und Allgemeinheit in der Rezeption zu wiederholen, der in dem Kantischen Modell eigentlich schon die gelehrte Kommunikation selbst regulieren sollte. Lachmann machte die drei Kantischen ‚Maximen des gemeinen Menschenverstandes‘ ausdrücklich zur Rezeptionsregel. Wenn die ‚Maxime des Selbstdenkens‘ die Beurteilung von Paradoxien anleiten sollte, dann widerstritt sie nicht, wie bei Kant, dem Aberglauben, dem man faul und feige anhafte; sie wehrte hier vielmehr die Neuerungssucht ab, mit der man jeder Grille Glauben schenke (vgl. S. 18). Und die ‚Maxime des Setzens an die Stelle jedes Andern‘, die bei Kant das Selbstdenken mit der Allgemeinheit kompatibel halten und also den Rückfall ins bloß Private hatte verhindern sollen, diese Maxime schützte bei Lachmann gegen „die unbedingte Verwerfung alles Neuen und Ungewöhnlichen aus Rechthaberei und Vorliebe für das Alltägliche“ (S. 18). Lachmanns „Physiognomik des Sonderbaren“ (S.  69) riet dem Publikum, mit dem Verurteilen des paradox Scheinenden zu zögern (vgl. S. 29, 43, 51f., 74). Es sollte sich an den Fragen orientieren, ob ein bestimmter Widerspruch gegen 47  Meiners: Revision der Philosophie. S. 117.

238

‚Paradoxie ‘ in der Aufklärung

die ‚gangbaren Ideen‘ zumindest „die Möglichkeit einer völligen Aussöhnung ahnen“ (S. 13) lasse; „ob es dem Geniedrange und der Eitelkeit, oder der Wahrheitsliebe und dem Forschungsgeiste“ (S. 69) entsprungen und ob der „Mann, von dem es [das gewagte Urteil, CW] kommt“ (S. 73) „der literarischen Welt als ein aufrichtiger Forscher nach Wahrheit bekannt“ (S. 73f.) sei.48 Diese Regeln dienten natürlich auch den Interessen eines Parteigängers der Aufklärung, der seinem Kant und seinem Fichte eine tolerantere Aufnahme wünschte. Doch zugleich war dies, wie alle genannten Positionen, eine Kommunikationspädagogik, die eine bestimmte Form der Aufnahme gelehrter Kritik in der Situation der Aufklärung allgemein vermitteln wollte. Diese Umgangsform war die einer aktiven, aber verhältnismäßigen Lernbereitschaft mit offenem Horizont. Ihre hauptsächliche Negativfolie war nicht die Religion, sondern „der eingebildete Weise“ (S. 74). Widerspruch mache „seine Galle rege“ und er „greift sogleich nach dem Schwerte der Polemik“ (S. 74). Der bescheidene Weisheits-Freund hingegen bei ofnem [sic!] Sinn für Wahrheit, bei unbefangenem, weltbürgerlichen Gemüth, verweilt gern und am längsten bei dem, was nicht mit seiner Ueberzeugung zusammenstimmt und einen ungewöhnlichen Ideengang verräth; er fühlt sich zur Prüfung ermuntert, wo er Abweichungen von der alltäglichen Ordnung bemerkt, und freut sich dessen, was einen hohen Grad von Anstrengung, eine seltene Geringschätzung des Gemeinen voraussetzt. (S. 75)

Lachmann formulierte hiermit ein Publikumsideal, welches das genaue Gegenteil zu Ciceros Bild eines passiv verstehenden Publikums darstellte, das mit hinreichendem Wert- und Wahrheitsempfinden ausgestattet war und also vom Redner nicht ohne Weiteres verunsichert werden durfte. Das hier idealisierte prüfende Verweilen ging über die pro- oder contra-Entscheidung systematisch hinaus. Es verzögerte die Beurteilung einer These und diente dabei der kosmopolitischen Selbstverortung sowie der aufklärerischen Verträglichkeit des Individuums: Im prüfenden Verweilen trug das Individuum seinem Bewusstsein davon Rechnung, dass es auf dem Weg zu seiner Bestimmung permanent darauf angewiesen war, die eigenen Annahmen im Vergleich mit den Urteilen anderer zu testen.

48  Das Autoritätsargument, dass nur angesehene Philosophen paradoxe Thesen äußern, die der Diskussion wert seien, konnte Lachmann bei Aristoteles finden. Vgl. Aristot. top. 1, 11.

Vom Appell zur Bildung

6.5

239

Vom Appell zur Bildung: die offene Frage nach der Genese des Selbstdenkens

Die aufklärerische Sicht auf die Paradoxie orientierte sich an einem Menschenbild, dem zufolge es jedem Individuum prinzipiell erlaubt sein sollte, die Maßstäbe der laufenden Praxis durch den Gebrauch der Vernunft öffentlich zu kritisieren. Die Notwendigkeit dazu, Dissens zu stiften, folgte also nicht aus der Einsicht in eine transzendente Ordnung (wie bei Platon, Aristoteles, Cicero). Der „Geist des Widerspruchs“ entzündete sich auch nicht an der Einsicht, dass es die Natur der Dinge durch ihre Selbstverhüllung an sich hätte, auf den ersten Blick verkannt zu werden (christliche Religion, Erasmus von Rotterdam). Stattdessen rührte die Notwendigkeit der aufklärerischen Praxis antikonsensualer Rede von idealistisch-anthropologischen Kenntnissen her: Der aufgeklärte Mensch glaubte einzig und allein den Gesetzen seiner Vernunft unterworfen zu sein, über deren falschen oder richtigen Gebrauch in der Gesellschaft er im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung selbst urteilen sollte. Speziell die „Maximen des gemeinen Menschenverstands“ (Kant) können dabei als ein metakommunikatives Institut des pluralistischen Denkens (unter anderen) verstanden werden. Im Prinzip versuchten Gelehrte der Aufklärung, damit ein dissensfreundliches, ja paradoxieaffines Kommunikations- und Rezeptionsverhalten zu konventionalisieren. Man bemerkt, dass sich die in diesem Kapitel untersuchten Positionen nur geringfügig voneinander unterschieden. Sie alle versuchten, ein gelehrtes Kommunikationsverhalten zu modellieren, das zwischen der Dystopie eines ewigen Dogmas und dem Buchmarkt der Eitelkeiten Balance halten sollte. Allerdings sahen sie sich anscheinend regelmäßig dazu veranlasst, ihre Kollegen für den Missbrauch ihrer Lizenz zum Widerspruch zu rügen (Morellet, Meiners) oder das Publikum zu einer wahlweise freundlicheren (Lachmann) oder kritischeren (Wiggers) Aufnahme der gelehrten Kritik zu ermahnen. Insofern verwundert es nicht, dass man parallel dazu oder spätestens in den 1790er Jahren damit begann, die Effektivität des wiederholten gelehrten Appells an Mut, Verstand und Verträglichkeit zu hinterfragen. Die aufklärerische Praxis antikonsensualer Rede gestand dem bürgerlichen Individuum neue Freiheitsgrade zu, warf aber auch neue Fragen auf. Konnte man überhaupt davon ausgehen, dass jener Appell seinen Zweck – die Konventionalisierung des gewagten Urteils – erfüllen würde? Die beiden Hauptvertreter der klassisch-romantischen Zeit Deutschlands um 1800, Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel, verneinten diese Frage. Schiller trug sein Argument als direkte Ergänzung des „Wahlspruchs der Aufklärung“

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‚Paradoxie ‘ in der Aufklärung

vor49: Jene, die nicht wegen eines Vormunds, sondern selbstverschuldet unmündig seien, jene also, an die sich Kants Sapere aude gewandt hatte, „müßten schon weise seyn, um die Weisheit zu lieben“ (S.  33). Bekanntlich hoffte Schiller auf die Wirkung einer ästhetischen Erziehung, „weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden“ (Ebd.). Und auch Friedrich Schlegel stellte, im Hinblick auf die Schriften Lessings, fest,50 dass man den „Geist des Selbstdenkens“ (S. 146) nicht erregen könne, ohne dabei besondere Darstellungsmittel zu wählen: [D]as Wissen ist, wie bekannt, nicht ein bloßer Mechanismus, sondern geht nur aus dem eignen freien Denken hervor. Dazu entschließen sich die Menschen nicht leicht, sie müssen dazu gebildet werden; es muß die in Trägheit schlummernde Kraft ihres Geistes auf mancherlei Weise erweckt, gereizt und erregt werden. Freiere Formen sind dazu meistens wirksamer als die ganz strenge Methode, weil diese als schon vorhanden voraussetzt, wozu fast alle erst gebildet werden müssen. (S. 145)

Die aufklärerische Diskussion der Paradoxie hatte von bestimmten Lehrsätzen auf den – zweckmäßigen oder unzweckmäßigen – Gebrauch eines dahinter stehenden Vermögens geschlossen. Es galt, die mutigen Wahrheitskämpfer von den frechen Egoisten unterscheiden zu können. Die empirischen Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Erkenntnisvermögens waren demgegenüber zweitrangig. Bei Schiller und Schlegel kam es nun allerdings auf nichts weniger als auf den Übergang von dem Zustand der Passivität zu dem des Selbstdenkens,51 auf die Erweckung und Erregung der geistigen Kraft an. Die Appelle und Ermahnungen, meinten sie, konnten gar kein Gehör finden. Denn das anthropologische Potential sowohl zu gewagten Urteilen als auch zu Lernbereitschaft schien ihnen in der gegenwärtigen Gesellschaft noch gar nicht (also in einem zufriedenstellenden Maß) vorhanden zu sein. Es musste erst noch „gebildet werden“.

49  Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Hg. v. Klaus  L. Berghahn. Stuttgart: 2005. S. 32f. Belege erfolgen im Text unter Angabe der Seitenzahl. 50  Vgl. Schlegel, Friedrich: Lessings Gedanken und Meinungen aus dessen Schriften zusammengestellt und erläutert. In: Ders.: Schriften zur Kritischen Philosophie. Hg. v. Andreas Arndt und Jure Zovko. Hamburg: 2007. S. 144-200. Nachweise erfolgen im Text unter Angabe der Seitenzahl. 51  „Der Uebergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem thätigen des Denkens und Wollens geschieht also nicht anders, als durch einen mittleren Zustand ästhetischer Freyheit […]. Mit einem Wort: es giebt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht“. Schiller: Über die ästhetische Erziehung. S. 90.

Vom Appell zur Bildung

241

Die klassisch-romantische Sichtweise verschob mit dem Hinweis auf die Genese des Selbstdenkens deutlich den Akzent innerhalb des anthropologischen Paradigmas der Aufklärung. Wie zu zeigen ist, wollte insbesondere die Frühromantik eine Epoche herbeiführen, in welcher der bisherige Fortschritt der Gesellschaft durch die positive Beeinflussung seiner anthropologischen Bedingungen beschleunigt und in eine „ewige[…] Revoluzion“52 (Schlegel) verwandelt werden sollte. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht zuletzt an einem gewandelten Paradoxie-Konzept ablesen.

52  Aus dem Ende der „Rede über die Mythologie“. Zitiert nach Schlegel, Friedrich: Schriften zur Kritischen Philosophie. Hg. v. Andreas Arndt u. Jure Zovko. Hamburg: 2007. S. 102.

Kapitel 7

Reizmittel des Denkens: ‚Paradoxie‘ in der Frühromantik 7.1

Einleitung

Die frühromantischen Akzentverschiebungen in der Beurteilung der Paradoxie standen innerhalb jener allgemeineren „Hochsemantik des ‚Subjekts‘“1, in der sich seit der Aufklärung auch ein spezifisch modernes Paradoxie-Konzept entwickelte. Stärker als die Aufklärung betonte die Frühromantik die Bedeutung, die Zeit und Zeitlichkeit für die Kategorien Paradoxie und Konsens, aber auch für das Individuum und die Gesellschaft im Allgemeinen haben. Freilich sah schon das Menschenbild der Kantischen Subjektphilosophie die Entwicklung in Richtung eines offenen Zeithorizonts als notwendig an, da sie den Menschen nicht als Teil eines metaphysischen Kosmos oder durch seine soziale Position in einer Ständegesellschaft, sondern als ein sich selbstbestimmt entwickelndes, auf das eigene Bewusstsein zurückgeworfenes bürgerliches Individuum definierte. Es war ja gerade der gesellschaftliche Fortschritt, der nicht durch die Trägheit der Leute gehemmt, sondern durch ihr aufklärerisches Interesse am Selbstdenken beschleunigt werden sollte. Stand also schon die aufklärerische Praxis antikonsensualer Rede im historischen Kontext der „Verzeitlichung kultureller Formen“2, welche die Absicht delegitimierte, eine unabänderliche, der Selbstbestimmung des Menschen entzogene symbolische Ordnung einzurichten, und die mit einer offenen Zukunft rechnete, so galt dies für die deutsche Frühromantik und ihre Sicht auf „paradoxe Rede“ jedoch in einem sehr viel engeren Sinne.

1  Mit Bezug auf die etwa gleichzeitigen Ereignisse der Kantischen Philosophie und der Französischen Revolution formuliert dies Luhmann in der bereits zitierten Studie: Individuum, Individualität, Individualismus. S. 211. 2  Nicht für die Paradoxie, aber für die freilich von ihr nicht weit entfernte moderne Kulturkritik seit Rousseau behauptet das Konersmann, Ralf: Das kulturkritische Paradox. S. 20. In: Ders.: Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt. Stuttgart: 2001. Vgl. dazu Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders. München: 2007. S. 14, 24-26; sowie Jung, Theo: Zeichen des Verfalls: Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen: 2012. S. 55-72.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_008

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

Beeinflusst durch Friedrich Schiller und Johann Gottlieb Fichte,3 galt die Aufmerksamkeit der Frühromantiker den zeitlichen und historischen Dimensionen, in denen das Individuum sein eigenes Denken und seine sozialen Beziehungen nach Möglichkeit permanent ergebnisoffen weiterentwickeln sollte.4 Dabei ging es um mehr als um die relative Unabhängigkeit des Einzelnen gegenüber der Tradition und der Gesellschaft. Es ging darüber hinaus – ein bewusst widersprüchliches Postulat – um die unendliche Bildungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Menschen, der doch nur ein endliches Dasein hat. Sollte die Reflexion des Subjekts auf seine eigenen Vorstellungen, Wertungen und Empfindungen und deren potentiell unendliche Verbesserung immer wieder aufs Neue erfolgen, so lag das globale Handlungsziel der Frühromantiker auch nicht bloß darin, die Gesellschaft oder ihre Teile zu reformieren, sondern darin, sie nach Maßgabe des Möglichen zu dynamisieren. Den fachlichen und den philosophischen Diskurs immer wieder aufs Neue anzustoßen und zu intensivieren, nicht zuletzt durch paradoxe und paradoxere Rede, das war für die Frühromantik allerdings kein Selbstzweck. Der auf diese Weise dynamisierte Diskurs sollte vielmehr eben jene Aneignung von Neuem und Fremdem auf Dauer stellen, welche den Frühromantikern als anthropologisch grundlegendes Bedürfnis des Menschen galt. Nicht zuletzt war die Wertschätzung auch und gerade paradoxer Beiträge und polemischer Auseinandersetzungen eine strategische Antwort der Frühromantik auf die von ihr diagnostizierte Gefahr der Spezialisierung und Nischenbildung, die durch den Differenzierungsschub der Gesellschaft im 18. Jahrhundert entstanden war.5 Dieser Strategie folgend, bewertete die Frühromantik, wie zu zeigen ist, unter gewissen Bedingungen den Dissens, nun aber auch die logisch widersprüchliche Verbindung von Gegensätzen sogar höher als den Konsens und das in sich konsistente Lehrgebäude. Damit relativierte die Frühromantik, so die These dieses Kapitels, exakt jene beiden Regulative des paradoxen (Selbst-) 3  Vgl. für den Zusammenhang zwischen der Philosophie des Deutschen Idealismus, Schiller und der Frühromantik Goetze, Martin: Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poetik in der Frühromantik. Paderborn: 2001. 4  Vgl. für den Nachweis der allgemeineren These, „daß sich unter die leitende Idee der Verzeitlichung des Selbstbewußtseins das gesamte Spektrum romantischen Philosophierens subsumieren läßt“ Frank, Manfred: Das Problem ‚Zeit‘ in der deutschen Romantik: Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung. Paderborn: 1990. S. 15. 5  Für die zeitgenössische Diagnose des Verlustes an Einheit sowie die hier übernommene Kompensationsthese, vgl. Fohrmann, Jürgen: Gesellige Kommunikation um 1800. Skizze einer Form. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie. Jahrgang 3, 2 (1997). S. 351-360.

Einleitung

245

Denkens, welche die Aufklärung aufgestellt hatte: Die frühromantische Paradoxie kannte gewissermaßen höhere Stufen ihrer selbst (d.h. nicht konsentierbare und logisch widersprüchliche Paradoxien), auf der die beiden Regeln der pluralistischen Anerkennung anderer Meinungen sowie der formalen Logik außer Kraft gesetzt werden durften, wenn dies nicht aus Unvermögen, sondern aus bewusster Entscheidung geschah. In diesem Sinne war die frühromantische Paradoxie weder an das aufklärerische Regulativ der allgemeinen Meinung (Kants zweite Maxime des gemeinen Menschenverstands) noch auch an die Gesetze der formalen Logik6 (Kants dritte Maxime des gemeinen Menschenverstands) gebunden.7 Unter der Generaldirektive des in jedem Moment neu zu erarbeitenden offenen Horizonts des Denkens und des Redens wurde – neben Konzepten wie „Ideal“, „Maxime“ oder „Gesetz“ etc. – auch das Konzept einer rhetorischphilosophischen Könnerschaft als zeitgebunden und ergänzungsbedürftig problematisiert: In diesem Zusammenhang verschob sich die der Paradoxie zugeschriebene Aufgabe von der Vermittlung einer logisch konsistenten und auf lange Sicht mehrheitsfähigen Erkenntnis hin zu einer zwar graduell dem Horizont des Adressaten anzupassenden, aber prinzipiell unendlich steigerbaren Anregung und Irritation, die auf jeder Stufe der Bildung erneut fällig werde. Damit gerät hier auch der analytische Begriff der „Praxis“ antikonsensualer Rede an seine Grenzen: Während seine Implikationen des Auslernens und Bescheidwissens für alle bisher besprochenen Paradoxie-Konzepte maßgeblich und gültig waren,8 wurden sie innerhalb des frühromantischen 6  Zur Bewertung des Satzes vom Widerspruch in der Logik um 1800 (Kant, Fichte, Hegel) vgl. Schick, Stefan: Die Grundsätze des Denkens in der formalen, transzendentalen und spekulativen Logik. Hamburg: 2010. 7  Diese These befindet sich in Übereinstimmung mit umfänglichen Untersuchungen zur Philosophie der Frühromantik (vgl. nochmals Goetze, Martin: Ironie und absolute Darstellung. Philosophie und Poetik in der Frühromantik) und auch zu ihrem rhetorischen Programm, vgl. Garaj, Patrik: Frühromantik als Kommunikationsparadigma: zur Diskursivität und Performanz des kommunikativen Wissens um 1800. Konstanz: 2006; Schmidt, Benjamin Marius: Denker ohne Gott und Vater. Schiller, Schlegel und der Entwurf von Modernität. Stuttgart: 2001; Schnyder, Peter: Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk. Paderborn: 1999; Zabka, Thomas: Rede und Rhetorik in der deutschen Frühromantik. In: Jahrbuch Rhetorik 12 (1993). S. 84-93. Im Folgenden wird freilich versucht, die These konsequent auf den Begriff der Paradoxie zu beziehen. Vgl. dazu die noch unzureichenden Ansätze von Schilder, Klaas: Zur Begriffsgeschichte des ‚Paradoxon‘. S. 211-218; Mathy, Dietrich: „Nichts ist dem Geiste erreichbarer, als das Unendliche“ Novalis: Paradoxie als Erkenntnis. In: Romahn, Carolina/Schipper-Hönicke, Gerald (Hg.): Das Paradoxe. Literatur zwischen Logik und Rhetorik. Frankfurt/Main: 1999. S. 26-34. 8  Der aufklärerische Diskurs über die Paradoxie zum Beispiel unterschied in Sachen des Vernunftgebrauchs, der sich idealerweise in alsbald konsensfähigen Paradoxien welchen

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

Konzepts der Paradoxie gerade zum Gegenstand der Kritik. Dieses Konzept deckte ein Repertoire an Redeweisen ab, das, unendlich erweiterbar, gerade auf das unerreichbare Ziel des Weitersuchens und Weiterlernens hin angelegt war. Es reichte von der traditionellen, aber vergessenen Weisheit über die Grundsätze der neuesten Philosophie bis hin zur Utopie eines ‚höchsten Paradoxons‘ (Novalis), eines Satzes mit einem Anregungspotential, das dem von den Frühromantikern postulierten unstillbaren Bedürfnis des Menschen nach Aneignung tatsächlich gemäß wäre. Neben dieser heute weithin bekannten Transgressivität romantischer Philosophie und Literatur sollte jedoch der entgegengesetzte Pol des endlichen Bewusstseins und der aktuell herrschenden Verhältnisse nicht vergessen werden: Die gegenwärtigen empirischen Bedingungen der Handlungsfähigkeit des Einzelnen oder einer Gruppe res­ pektierend, verpflichtete sich die frühromantische „Praxis“ antikonsensualer Rede in jedem Fall auf den Balanceakt zwischen lebenspraktischer Dosierung und erkenntnisfördernder Progression. Dadurch erweiterte sie nicht nur im Vergleich zur Aufklärung die Legitimität der Kritik an allgemeinen Meinungen im Dienst eines potentiell unendlichen geistesgeschichtlichen Fortschritts, das heißt: eines Fortschritts auch nach den systematischen Lehren der Aufklärung; sondern sie forderte auch, wie bereits einige Stimmen der Hoch- und der Spätaufklärung, eine an den christlichen Humanismus erinnernde Rücksicht auf das Maß der jeweils empirisch vorhandenen Kräfte. 7.2

Der Übergang von der Aufklärung zur Frühromantik: Paradoxie als Anregung zum Selbstdenken

Ohne die Maxime des Selbstdenkens lassen sich die rhetorischen Programme von Aufklärung und Frühromantik nicht formulieren, wenn sie damit auch noch nicht vollständig beschrieben sind. Wie oben erläutert, hatte die Aufklärung vor allem zwei Einschränkungen formuliert. Das in einem ersten Schritt zu fällende selbst gedachte Urteil sollte zweitens mit der allgemeinen Meinung verglichen und drittens in ein logisch konsistentes System des Denkens eingeordnet werden. Wie in diesem Kapitel zu zeigen ist, waren es gerade diese beiden Regulative des Selbstdenkens, deren rechtmäßige Geltung die Frühromantik bestritt. Die erste Maxime blieb aber weiterhin in Geltung Inhalts auch immer äußern sollte, zwischen Könnern und Nichtkönnern: hier echte Wahrheitsfreunde wie Rousseau, der „Meister aller Paradoxie“ (Lachmann), die ganze Fächer wie die Pädagogik neu begründeten, dort originalitätssüchtige ‚Genies‘ wie Linguet, welche die gesamte Wissenschaft gefährdeten.

Paradoxie als Anregung zum Selbstdenken

247

und das bedeutet umgekehrt, dass man in ihr das rhetorische Programm der Frühromantik bereits angelegt findet. Besonders greifbar wird diese Kontinuität an einem Metaphernfeld, das sowohl die aufklärerische als auch die frühromantische Beurteilung der Paradoxie prägte, obwohl es erst in der Frühromantik zu einem hervorstechenden Merkmal wurde. Gemeint sind die Metaphern Gedankenreiz, Anstoß und Erregung zum Selbstdenken, Aufweckung des Gemüts und ähnliche mehr. Sie hätten eigentlich eine eigene Untersuchung verdient. Hier sei zumindest kurz demonstriert, dass diese typisch frühromantisch klingenden Metaphern schon die aufklärerische Apologie der Paradoxie begleiteten. So sei an die Formulierung aus Kants AnthropologieVorlesung erinnert: Dem Paradoxen ist das A l l t ä g i g e entgegengesetzt, was die gemeine Meinung auf seiner Seite hat. Aber bei diesem ist eben so wenig Sicherheit, wo nicht noch weniger, weil es einschläfert; statt dessen das Paradoxon das Gemüt zur Aufmerksamkeit und Nachforschung erweckt, die oft zu Entdeckungen führt.9

Die Metapher der Erweckung zum Nachforschen ließ offen, zu welchen Resultaten dieses Nachforschen führen sollte. Damit entsprach sie ziemlich genau dem Umstand, dass das neue Wissen, dem gegenüber man offen sein sollte, nicht inhaltlich bestimmt war. Die möglichen Entdeckungen, die Kant ins Feld führte, mussten sich gar nicht unbedingt auf einen paradoxen Geltungsanspruch zurückführen lassen, sondern konnten sich auch lose der Anregungswirkung bestimmter Paradoxien verdanken. Dass eine Behauptung vielmehr Veranlassung zu eigenem Denken als erfolgreiche Persuasion sein durfte, ist ein rhetoriktheoretisch bemerkenswerter Umstand. Die Frühromantik sollte sich, wie zu zeigen sein wird, besonders für ihn interessieren. In Kants Modell der Urteilsfindung drückte die Erweckungs-Metapher allerdings einen Maßstab aus, der mit dem der beiden regulativen Maximen (der Konsens- und der Konsistenzorientierung) in einem gewissen Spannungsverhältnis stand. Während die ‚Maximen des gemeinen Menschenverstandes‘ einen Prozess beschrieben, der funktional auf das Problem der Wahrheitsfindung bezogen war, bezog sich die Erregung auf das diesem Prozess logisch und zeitlich vorausliegende Vorfeld des Selbstdenkens. Im ersten Fall wurde die Paradoxie als Selbstdenken verteidigt, im zweiten Fall aber als Mittel zum Selbstdenken gelobt. Dass auch die durch aufklärerisches Selbstdenken reformierte Gegenwart ihrerseits einschläfernd wirken konnte, war in der Formulierung Kants 9  Kant, Immanuel: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Päda­ gogik. Bd. 2. S. 410.

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

der Sache nach angelegt, aber es scheint für ihn zumindest kein dringliches Problem gewesen zu sein. Typologisch relevant ist, dass schon die von Kant beeinflusste Popularphilosophie mit der Erregungs-Metaphorik auch dieses Spannungsverhältnis übernahm, ja sogar deutlicher machte. In seiner oben bereits untersuchten Schrift Über das Paradoxe (1801) meinte Lachmann, dass Kant in dieser gerade zitierten Stelle über das erweckte Gemüt die „wichtigste Wirkung“ der Paradoxie benannt habe. Dem entspricht, dass die Paradoxie laut Lachmann auch „den auf den Lorbern [sic!] seiner errungenen Gewißheit Schlummernden zur Musterung seiner Meinungen, und zur Prüfung der neuen Lehre auffordern“ müsse, weil „rastlose Thätigkeit und stete Regsamkeit unter den Denkern und Forschern eben so nöthig seien, als unter den Handelnden und Wandelnden“.10 Gleichwohl verteidigte Lachmann wie Kant die Paradoxie nur, insofern sie sich als konsensfähig erweist, also „die Möglichkeit einer völligen Aussöhnung [mit der herrschenden Meinung] ahnen“ (S.  13) lässt. Dieses Kriterium widerspricht der zuvor implizierten Hierarchie, in der die Paradoxie aufgrund ihrer Anregungswirkung höher steht als ein weithin überzeugendes und gewürdigtes Resultat des Denkens. Ferner sollte zur Prüfung einer Paradoxie, so referierte Lachmann zustimmend Kant, das Kriterium der logischen Konsequenz dienen (vgl. S. 18f.). Inkonsequentes Denken, das nicht nach einem konsistenten System strebt, sei demgegenüber „Seelenschlaf“ (vgl. S. 19). Wie oben vermutet, war für Lachmann also das Streben nach logischer Konsistenz ein Anzeichen eines erweckten Gemüts. Doch er machte nicht eigens zum Thema, was passiert, wenn ein Denker zu einem System durchgedrungen ist. Bemerkenswerterweise opponierte die Frühromantik, wie zu zeigen sein wird, gerade mithilfe der Erregungs-Metapher dem Maßstab der formalen Logik, sodass dort sowohl die Unfähigkeit zu logischen Schlüssen als auch das Verharren bei einem logisch-konsistenten System ein Anzeichen von Seelenschlaf heißen könnten. In Johann Adam Bergks Die Kunst zu denken (1802)11, die Kant gewidmet ist, lässt sich praktisch dasselbe beobachten. Auch er sei hier jedoch ausführlich zitiert, um zumindest anzudeuten, dass die positive Konnotation der Paradoxie mithilfe der Erregungs-Metapher schon in der aufklärerischen Kommunikationspädagogik Standard zu sein schien, zumindest soweit es die von Kant abhängigen popularphilosophischen Schriften betraf. An folgendem

10  Lachmann: Ueber Paradoxie und Originalität. S. 52. 11  Vgl. Bergk, Johann Adam: Die Kunst zu denken. München: 1973. Nachweise erfolgen im Text unter Angabe der Seitenzahl.

Paradoxie als Anregung zum Selbstdenken

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Zitat sieht man auch, dass Bergk paradoxe Behauptungen auch kurz „Paradoxien“ nannte, nicht wie Kant in humanistischer Tradition „Paradoxa“: Paradoxien sind Reizmittel für den Geist und ohne Reize giebt es kein Leben. Je mehr daher jemand in Paradoxien schwelgt, desto mehr erhöht er seine geistige Lebenskraft. (S. 146)12

Bergks Faszination für die Paradoxie hing wohl unmittelbar damit zusammen, dass er das – versteht sich: selbständige – Denken an sich schon für eine sehr voraussetzungsreiche und eigens zu übende Fähigkeit hielt. Immerhin zählte er die Paradoxie zu einer ganzen Reihe von „Aufmunterungsmittel[n] zum Denken“ (S.  280, vgl. S.  280-286)13, durch die „man sich Interesse am Nachdenken ein[flößt] und […] dasselbe in sich [unterhält]“ (S.  278). Wie so oft, wenn die Paradoxie mit Metaphern der Erregung verteidigt wurde, sprach auch aus diesen Sätzen eine Faszination, die gar nicht zu dem zwischen Paradoxie und Konsens moderierenden Gestus der regulativen Maximen zu passen scheint, die auch Bergk zustimmend referierte. Ausdrücklich maß Bergk der Rationalität des Kollektivs einen genauso großen Wert bei wie dem Selbstdenken jedes Einzelnen, wo er „das Vergleichen der Gedanken“ den „Schmelztiegel der Wahrheit“ nannte (S. 274). Ein epistemologischer Eigenwert kam dem Konsens bei Bergk erst recht dann zu, wenn es sich um einen besseren Konsens handelte, auf den sich ein Kollektiv von Selbstdenkern geeinigt hatte; denn dass man einem solchen Konsens begründet widersprechen könne, hielt Bergk für unwahrscheinlich (S. 275). Und schließlich rechnete Bergk zwar damit, dass ein logisch konsistentes System sich als falsch erweisen könnte, doch „alles, was wir jetzt sprechen, reden und schreiben, muß doch einstimmig in sich selbst seyn, wenn es für uns Anspruch auf Wahrheit machen will“ (S. 277). Der Kontext zeigt also, dass Bergk die Anregungswirkung nur insoweit gut hieß, als das so erregte Denken sich am Ideal einer allgemein einsichtigen und ‚in sich einstimmigen‘, das heißt logisch konsistenten, Wahrheit orientierte. Aus 12  Vgl. auch die textproduktionstheoretische Anwendung: „Paradoxe Behauptungen ergreifen Saiten in unserer Seele, die oft gar noch nicht berührt worden sind. Wir fassen begierig die Ansicht auf, die durch diesen Klang in uns erweckt wird und von Neugier gespornt streben wir nach Aufschluss über Dinge, die bis jetzt noch unserm Nachdenken entgangen sind. Paradoxien wirken, wenn sie nicht allzu sehr gehäuft werden, gleich elektrischen Schlägen; sie erschüttern, beleben und stärken. Die Schriftsteller thun daher wohl, wenn sie ihren Lesern zur Unterhaltung der Aufmerksamkeit manchmal paradoxe Gedanken hinwerfen“. Bergk: Die Kunst zu denken. S. 285. 13  Sie lauten: „die Abwechselung der Gegenstände“, „das Contrastirende“, „das Neue und Ungewöhnliche“ (gemeint sind neue Gegenstände), „die Steigerung in den Vorstellungen“, „das Paradoxe“, „das Witzige und das Naive“ (S. 280f.).

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

der moderierenden Apologie der Paradoxie, die das Selbstdenken als vorhanden voraussetzte, schien also genau dann ein geradezu schwärmerisches Lob der Paradoxie zu werden, wenn die Herausbildung oder die Beständigkeit des Selbstdenkens problematisiert wurden. Das beschriebene Spannungsverhältnis in der aufklärerischen Beurteilung der Paradoxie lässt sich demnach als ein zweistufiger Prozess von Erregung und Lehre beschreiben: Zunächst sollte eine antikonsensuale Erregungsrhetorik das Publikum aus dem – beharrlichen – Zustand der geistigen Fremdbestimmtheit befreien. Sodann war es in die Lage versetzt, selbstbestimmt zu einer antikonsensualen Lehrrhetorik zu gelangen, welche kraft ihrer Konsensfähigkeit und Konsistenz einen Teil der Gesellschaft bestenfalls aufklärte und reformierte. Wie am Ende des letzten Kapitels schon angedeutet, entwickelte die Frühromantik ein verändertes Wissen vom Menschen, dem zufolge sich das Denken in Bildungsprozessen fortwährend verändern sollte. Dieses Wissen sei nun näher beschrieben, weil in diesem Zusammenhang auch eine neue Verwendung des Paradoxie-Begriffs bzw. eine neue Auffassung darüber entsteht, was es heißt und wozu es nützlich ist, allgemeinen Meinungen zu widersprechen. 7.3

Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen des gemeinen Menschenverstands

Die Einleitung von Friedrich Schlegels Vorlesung zur Transzendentalphilosophie14 (1800/01) eignet sich nicht nur als allgemeine Hinführung zu frühromantischer Philosophie. Sie hat überdies den Vorteil, dass sich darin aufschlussreiche Analogien und Differenzen zu eben jenem theoretischen Rahmen finden lassen, in welchem Kant, zu Beginn seiner Vorlesung über die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (§§1f.), die Paradoxie beurteilte. Beide Texte lassen sich als anthropologisch bezeichnen, insofern ihr zentraler Referenzpunkt das menschliche Bewusstsein im Unterschied zum Tier war.15 Auch gaben beide jeweils eine natürliche Anlage des Menschen, nämlich dessen Bewusstsein von seiner Souveränität, sowie ein in dieser Anlage enthaltenes ideales Ziel für die kulturelle Entwicklung dieser Anlage an, nämlich eine Allgemeinheit. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Kant 14  Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 12: Philosophische Vorlesungen I (1800 – 1807). Hg. v. Ernst Behler. Paderborn: 1964. S.  1-105. Zitate erfolgen unter Angabe des Kürzels KFSA XII und der Seitenzahl im Text. 15  Vgl. Kant: Schriften zur Anthropologie II, §1, S. 407 und KFSA XII, S. 7.

Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen

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und Schlegel die Bestimmung des Individuums zur Allgemeinheit verschieden akzentuierten. 7.3.1 Das Unendliche: Widerstreit des Bewusstseins mit sich selbst Der Widerstreit, den der Mensch bei Kant auszutragen hat, bestand, wie gesagt, in der Entwicklung vom natürlichen ‚Egoism‘ zu dem Ideal des ‚Pluralism‘, also zu der „Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten“16. Wie schwer es einem Individuum auch fallen mochte, sowohl von dem eigenen Verstand Gebrauch zu machen als auch die kollektive Allgemeinheit anzuerkennen, so sah Kant diese Aufgabe doch zumindest als prinzipiell lösbar an. Im Unterschied dazu war der Widerstreit, mit dem Schlegel den Menschen bestimmte, nicht lösbar. Denn im Anschluss an Fichte behauptete der Romantiker, dass sich das Bewusstsein grundsätzlich auf das unendlich Allgemeine beziehe.17 Da das Bewusstsein nur im Endlichen existieren kann, verweist Schlegels Rede vom ‚unendlichen Bewusstsein‘ auf einen Widerstreit des Bewusstseins mit sich selbst. In diesem Widerstreit ist das Unendliche das, was das Bewusstsein in Unruhe versetzt, was es über sich hinaustreibt, „was die Veränderungen im menschlichen Leben hervorbring[t]“ (KFSA XII, S. 7). Insofern könnte man auch von dem Widerstreit des endlichen Bewusstseins mit seiner eigenen unendlichen Freiheit sprechen (oder zwischen bestimmten Vorstellungen und ihrer Veränderung). Jedoch kann es keiner Veränderung jemals gelingen, dass das Bewusstsein die Freiheit gegenüber allen endlichen Bestimmungen in sich selbst (vollständig) realisiert oder verkraftet. Die ideale Entwicklung verlief nach Schlegel daher – das ist für die Anwendung des Regulativs sehr wichtig – nicht vom Bewusstsein zum Unendlichen (oder vom Geist zur Freiheit, vom Bestimmten zum Unbestimmten etc.). Stattdessen dachte Schlegel an Stufen der empirisch-historischen Entwicklung, in der die Verbindung zumindest graduell gesteigert werden konnte: Das unendliche Bewusstsein fasste idealerweise mehr Mut zur Veränderung, befreite sich von immer mehr (endlichen) Bestimmungen und wurde sich des Unendlichen in ihm selbst, und also auch des Widerstreits mit sich selbst, bewusster.

16  Kant: Schriften zur Anthropologie II, S.  411. Schlegel kritisierte in KFSA XII, S.  51 ausdrücklich diese Position Kants, das Handeln des Menschen aus egoistischem Ursprung zu erklären. 17  Das Endliche und das Unendliche: „Es sind dies gleichsam die beyden Pole, um die sich alle Philosophie dreht“. KFSA, S. 5.

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

Von der Geschichte des Bewusstseins zur Historisierung der allgemeinen Meinung Nach dem Hinweis auf die frühromantische Umstellung vom kollektiven zum unendlichen Allgemeinen, die das Selbstdenken vor eine unlösbare Aufgabe stellte, fehlt nun noch die Analogie für das Resultat des Denkens, also für die dritte Maxime des gesunden Menschenverstandes, in der Kant dem Denken die logische Form vorschrieb. Welche Form sollte das ‚unendliche Bewusstsein‘ finden? Auch hierzu findet sich in der Einleitung von Schlegels Transzendentalphilosophie eine aufschlussreiche Differenz. Kant setzte die Logik in der Domäne des Verstandes als unbedingt gültig voraus.18 Da er auch die Paradoxie im Zusammenhang des Verstandes beurteilte, nämlich als eigensinnigen Gebrauch des Verstandes (‚logischer Egoismus‘ im Unterschied zu ästhetischem und praktischem Egoismus), folgt, dass er auch paradoxe Urteile nur dann für legitim gehalten hat, wenn sie widerspruchsfrei waren (vgl. seine dritte Maxime des gemeinen Menschenverstands). Schon Fichte relativierte die Gesetze der Logik, indem er sie auf das freie Denken des Subjekts zurückführte.19 Logik galt auch in Schlegels Philosophie zwar als „Organon zur Wahrheit“, nicht aber als „Quelle der Wahrheit […], indem die Skepsis auch diese Sätze [hier: den Satz des Widerspruchs und den Satz des zureichenden Grundes, CW] in Anspruch nimmt“ (KFSA XII, S. 3). Diese Kritik an der Erwartung von Konsistenz hatte eine außerordentliche Tragweite für Schlegels Philosophie. Wenn das Denken laut Schlegel nicht unkritisch an die Logik gebunden sein sollte, hieß das nicht, den Widerspruch schlechthin zu legitimieren. Aber es ging ihm darum, auf den produktiven und dynamisierenden Grund des Bewusstseins zu verweisen, aus dem nicht nur besondere Urteile und Lehren, sondern auch die Gesetze der Logik selbst hervorgegangen seien. Schlegel diente das Theorem von der Entwicklung des unendlichen Bewusstseins auch dazu, Kultur- und Philosophiegeschichte als Realisation dieser Entwicklung zu deuten.20 Die Geschichte des Bewusstseins verstand Schlegel, grob gesagt, als Übergang vom unreflektierten und daher auf zufällige Gegenstände bezogenen Streben hin zum philosophischen Erkennen dieses Strebens als der unbestimmten Freiheit des Geistes (vgl. die auf ihre zukünftige Vollendung hinauslaufende Geistesgeschichte, KFSA XII, S. 11-14). Das unendliche Allgemeine sei zunächst nur in Gestalt jener Freiheit bewusst, 7.3.2

18  Vgl. Schick: Contradictio. S. 33ff. 19  Stefan Schick spricht ebd. S. 192ff. von der „Genetisierung der Logik“ (S. 192) bei Fichte. 20  Vgl. zu Schlegels „Gedanke[n] der geschichtlichen Konstitution der Philosophie“ Arndt, Andreas/Zovko, Jure: Einleitung. S. XIV-XVI, hier S. XIV. In: Schlegel, Friedrich: Schriften zur Kritischen Philosophie. 1795-1805. Hg. v. dens. Hamburg: 2007.

Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen 253

mit der das Individuum „Gefühle und Bestreben“ (KFSA XII, S. 7) wie Begierde, Zorn, Furcht, Neid oder Erstaunen habe (vgl. KFSA XII, S. 11). Kultivierter als das bloße individuelle Fühlen und Streben wäre schon das „Streben nach dem Ideal“ (KFSA XII, S. 7), wozu wohl übrigens auch die Ideale des pluralistischen Denkens und des logischen Systems zu zählen wären. Entscheidend für Schlegels philosophische Deutung und Bewertung paradoxer Rede ist der spekulative Schritt über derartige Ideale oder Wertbegriffe hinaus: Über dem ‚Streben nach dem Ideal‘ steht bei ihm die „Sehnsucht nach dem Unendlichen“ (Herv. im Orig.), zu der er anmerkt: „Etwas Höheres giebt es im Menschen nicht“ (ebd.). Das ‚Unendliche‘ ist als anzustrebendes Ziel des Subjekts ein normatives Konzept zur reflexiven Überbietung einzelner gegebener Ideale bzw. Wertbegriffe und damit auch ein Gebot zur Distanznahme gegenüber den jeweils eigenen Idealen einer Person oder einer Gesellschaft (vgl. KFSA XII, S. 8). Schlegels zentrales Theoriestück, die Entwicklung der Freiheit des Geistes (oder des unendlichen Bewusstseins), bedeutete für seine Sicht auf die Geschichte der Philosophie, dass man sich zwar stets im Vorfeld der Wahrheit bzw. des gültigen Denkens befinde, dass man im Laufe der Entwicklung jedoch auch immer mehr Irrtümer entdecke. Lakonisch stellte Schlegel fest: Mit dem „Grad des Bewußtseins“ wachse auch „die Skepsis; je mehr sie wächst, desto größer wird die […] Philosophie“ (KFSA XII, S. 11). In heterogenen, historisch sich ändernden, ja einander direkt widersprechenden Bestimmungen komme der unendliche Bildungstrieb des Menschen – als deren aller gemeinsame Herkunft – viel besser zum Ausdruck als in einem einzigen System von wohldefinierten Begriffen und konsistenten Aussagen.21 Anstelle der aufklärerischen Lösung des inneren Widerstreits – zwischen eigenem und fremdem Denken – im Resultat einer logischen Form, das heißt eines logisch-systematischen Lehrwerks, stand bei Schlegel daher die Austragung des Widerstreits – hier: zwischen eigenem Denken und unendlichem Streben – in der Geschichte des Bewusstseins: „Das Bewußtseyn ist eine Geschichte“ (KFSA XII, S. 11).22 Schlegel abstrahierte also noch viel weiter von besonderen Gegenständen des gelehrten Diskurses als Kant: Erstens erweiterte er das Ziel kultureller Entwicklung vom kollektiv geteilten zum unendlich allgemeinen Wissen; und zweitens gab er nicht das logisch-systematische Lehrwerk, sondern den wechselhaften Fortgang der individuellen und historischen Bildungsgeschichte insgesamt als das Formideal des Wissens an. 21  Vgl. KFSA, S. 5: „Die Form der Philosophie ist absolute Einheit. […] Sobald etwas System ist, so ist es nicht absolut. Die absolute Einheit wäre etwa ein Chaos von Systemen“. 22  Vgl. auch KFSA, S. 16: „Bildung ist der Inhalt aller Geschichte“ und KFSA, S. 93: „Unsere Philosophie ist selbst Geschichte“.

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

Galt Schlegel die letztlich historisch unabschließbare Entwicklung der Freiheit und des Bildungstriebes als die Bestimmung des Menschen, dann hatte dies auch eine gegenüber der Aufklärung neuartige Deutung und Bewertung der Kategorie der allgemeinen Meinung zur Folge. So war es wohl auch gegen die Orientierung an einem besseren Konsens gerichtet, den aufklärerische Lehrwerke stiften sollten, wenn Schlegel schrieb: Der gewöhnliche gesunde Verstand, so genannt, geht bloß auf das Endliche, also auf Täuschung, auf Irrthum, auf das Vorurtheil aller Vorurtheile. Ein solcher Verstand ist also nicht gesund, sondern durchaus krank und verdorben. […] Was man Aussprüche des gesunden Verstandes nennt, ist höchstens nur der mittlere Durchschnitt des Geistes des Zeitalters. Und vergleicht man nun diesen Geist verschiedener Länder, oder verschiedener Zeiten, so steht er oft in gradem Wiederspruche. Wie ist das möglich, wenn es Ausspruch der gesunden Vernunft ist? (KFSA XII, S. 29)

An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass das historische Denken Schlegels auch etwas Neues in der Geschichte der Kategorie der allgemeinen Meinung resp. der abweichenden Meinung hervorbringt. Die allgemeine Meinung (‚der gewöhnliche gesunde Verstand‘, ‚Aussprüche des gesunden Verstandes‘) konnte einerseits freilich dabei helfen, die ‚Grillen‘ (Kant), die zu kurz gedachten, voreiligen Urteile Einzelner zu korrigieren und sie damit auf ‚den mittleren Durchschnitt des Zeitalters‘ zu heben; andererseits würde sie, bliebe man bei ihr als einem ‚Endlichen‘ stehen, die Entwicklung des doch zu unendlicher Entwicklung bestimmten Geistes hemmen (vgl. auch KFSA XII, S. 8). Die Kritik am ‚Zeitgeist‘ – ein wiederkehrendes Element moderner Kulturkritik23 – war insofern eine Konsequenz der neuen, frühromantischen Anthropologie: Im Unterschied zur Reifung des jungen Erwachsenen, die bei Kant im Vordergrund stand, bleibt der Mensch in frühromantischer Perspektive die ganze Geistesgeschichte lang bei der Suche nach dem richtigen Denken. Insofern kann man vielleicht sogar sagen: Zuerst in der Frühromantik wurde die Historisierung der ehrwürdigen rhetorischen Kategorie des Gemeinplatzes oder der allgemeinen Meinung (locus communis, Endoxie) greifbar. Ambivalente Aufladung der Paradoxie: die philosophische Äußerung zwischen Widerlegung und Bildung Wenn Schlegel schrieb: „Alles Wissen ist symbolisch“ (KFSA XII, S.  9), dann hob er auf die Unmöglichkeit einer vollständigen sprachlichen Mitteilung 7.3.3

23  Zum Begriff ‚Zeitgeist‘ im Kontext der europäischen Kulturkritik im 18. Jahrhundert, vgl. Jung, Theo: Zeichen des Verfalls. S. 95-113.

Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen 255

der Wahrheit ab. Jegliche Geltungsansprüche, ob nun allgemein akzeptiert oder nicht, waren ihm nur oder immerhin der Vollzug der Entwicklung des Bewusstseins und erinnerten in ihrer mehr oder weniger irritierenden Anmutung, bestenfalls, an den unendlichen Weg, den es noch zurückzulegen galt. Diese Problemstellung warf in Bezug auf Rhetorik die Frage auf, wie die sprachlichen Handlungen der Philosophie aussehen sollten, die funktional auf die Entwicklung der Freiheit des Geistes bezogen waren, das heißt, die gleichermaßen der unendlichen Bildung und der Produktion von bestimmtem Wissen dienen sollten. Die beiden „Artikel für die Philosophie“ in Schlegels Einleitung forderten eine Philosophie, welche „die Sehnsucht nach dem Unendlichen in allen Menschen entwickelt“, und die zweitens „alles Wissen in einen revolutionären Zustand“ setzt (KFSA XII, S. 11), um den „Schein des Endlichen“ zu vernichten. Die Kopplung dieser beiden Aufgaben der Philosophie, einerseits die Genese des ‚unendlichen Bewusstseins‘ (also den Grad der Skepsis) zu befördern und andererseits konkrete Geltungsansprüche (also Endliches, Ruhendes etc.) zu widerlegen, kurz: die Verknüpfung von Geltungsprüfungen mit Bildungsfragen war der zentrale Balanceakt, den das sprachliche Handeln gemäß der frühromantischen Philosophie leisten musste. Schlegel nahm in einer Passage des 3. Teils seiner Vorlesung diese beiden Aufgaben der Philosophie erneut gleichberechtigt auf und gab für die dazu geeignete Form das entscheidende Stichwort: Im engern Sinn ist die Philosophie dialektisch. Sie soll es nur mit der Ausbildung des Verstandes zu thun haben, sie soll die Irrthümer wiederlegen. […] Dialektisch ist, was sich bezieht auf die Kunst des gemeinschaftlichen Ausbildens des Verstandes und Vernichtung des Irrthums. Wegen dieses gemeinschaftlichen Ausbildens ist die Philosophie dialektisch, und nicht logisch. (KFSA XII, S. 97) Auf das Bedürfniß der Entwickelung gründet es sich, daß die reine Philosophie dialektisch sey. (KFSA XII, S. 103)

In der Analogie zu Kants Maximen des gemeinen Menschenverstands gedacht, befindet man sich hier auf der Ebene der Form, die ein Resultat des Denkens haben sollte. Es geht also nicht nur darum, dass auch Schlegel, wie viele Philosophen vor ihm, der Dialektik als ein auf gewisse Weise geregeltes Gesprächsverfahren eine wichtige Funktion für die Erkenntnis einräumt. Es geht auch um die Behauptung, dass der Mensch ein Bedürfnis habe, sich selbst immer weiter zu entwickeln und Erkenntnisse ihrerseits wieder in einem Gespräch neu zu verhandeln. Demnach könne es kein Gespräch geben, das nach der Wahrheit sucht und diese in einem logisch konsistenten und

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

konsensfähigen Urteil findet. In diesem Sinne etablierte sich um 1800 und besonders in der Philosophie des Deutschen Idealismus (Kant, Schlegel, Hegel) ein entsprechendes neues Verständnis von Dialektik, wobei Schlegel mit dem Begriff zunächst vor allem den sich dialogisch vollziehenden historischsystematischen Gang der Philosophie meinte.24 Die gemeinschaftliche Weiterentwicklung philosophischer Positionen – das heißt auch der eigenen – wurde damit zum idealen Resultat des Selbstdenkens. Wie schon gesehen, verabschiedete die dialektische Entwicklung als Desiderat des intellektuellen Lebens den Konsens – auch den ‚besseren Konsens‘ – als absoluten Orientierungswert für das sprachliche Handeln der Philosophie. Indem Schlegel die Idee einer endgültigen Reform des Wissens nur als Utopie anerkannte, vermochte seine dialektische Konzeption der Philosophie die ohnehin schon enorme Wertschätzung des gewagten Urteilens durch die Aufklärer noch zu steigern. Pointiert gesagt, fand die Paradoxie hier aber auch ihr Ende, insofern die Relativierung der formalen Logik noch mehr auf die Verbindung gegensätzlicher Positionen abzielte als auf den einseitigen Vorzug irgendeiner gewagten Behauptung gegenüber einer allgemeinen Meinung. Paradoxie ist der Geist der Polemik und Dialektik.25

Das nicht ganz einfache Fragment lässt sich vielleicht so deuten: Die „Paradoxie“ dient als eine Neigung oder Disposition des Gemüts (‚Geist‘) einerseits zur Widerlegung von Irrtümern (‚Polemik‘) und anderseits zum gemeinschaftlichen Gespräch (‚Dialektik‘). Die Verknüpfung von Widerlegung und Gespräch zeigt in der hier bevorzugten Interpretation an, dass eine paradoxe Rede idealerweise nicht nur polemisch einem verbreiteten Irrtum widersprechen soll, sondern dass man ‚mit Paradoxie‘ sogar den idealen Fall der dialektischen Fortsetzung erwartet, dass die eigene paradoxe Rede vielleicht eine dritte Person zu einem Widerspruch in ganz anderer Richtung und also direkt zur Weiterentwicklung der gerade erst geäußerten paradoxen Rede anregen wird. Mit dem Schlegelschen Grundbegriff der Dialektik wird die Paradoxie neben der Polemik also zugleich an einen größeren, letztlich sogar historischen Zusammenhang gebunden, in dem eine Polemik oder eine paradoxe Rede nie 24  Vgl. Arndt, Andreas: Zum Begriff der Dialektik bei Friedrich Schlegel 1796-1801. In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992) S. 257-273. 25  Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 18: Philosophische Lehrjahre: 1796-1806; nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796-1828 I. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn: 1963. S. 388, Nr. 814. Dieses Fragment aus den Philosophischen Lehrjahren ist nicht später als 1799 notiert worden.

Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen 257

genügen kann. In der Tat zeigen die frühromantischen Quellen, wie Dialektik im pragmatischen Sinne die Aufgabe der polemischen Geltungsprüfung nur erfüllt, wenn sie dabei zugleich auch die Aufgabe der Anregung erfüllt. Polemik, Kritik, Paradoxon sollen zwar als Geltungsansprüche möglichst überzeugen, aber nicht ohne darüber hinaus auch zum Weiterdenken anzuregen. Geht Schlegels neue Akzentuierung des Paradoxie-Begriffs dahin, ihn als Mittel- oder Scharnierbegriff zwischen das empirisch-konkrete Denken und den unendlichen Trieb zur Veränderung zu stellen, dann zeigt sich diese neue Akzentuierung des Begriffs nicht zuletzt in seiner häufigen Verbindung mit dem Begriff der Ironie – dem frühromantischen Konzept für die Schwebehaltung des Bewusstseins zwischen dem gegenwärtigen Denken und dem unendlichen Bildungstrieb.26 Die Paradoxie ist für die Ironie die conditio sine qua non, die Seele, Quelle und Princip, was die Liberalität für den Witz.27

Romantische Ironie ist eine ambivalente, ja in sich widersprüchliche Haltung, die einerseits die Ideale der Wissenschaft, der Kunst und der Gesellschaft historisch denkt, die sich andererseits aber nicht im Relativismus verliert, sondern sich an die momentan gegebenen Probleme macht und sich auf dem aktuellen Stand der Diskussion beteiligt. Der aufklärerische Appell zum mutigen Wahrheitskampf reichte offenbar nicht mehr aus; stattdessen wurde das frühromantische Konzept von paradoxer Rede in das neue Menschenbild und damit in ein dynamisches Paradigma sprachlichen Handelns eingebettet. Als Disposition zum polemischen Geltungsanspruch gelangte die Paradoxie in der Philosophie der Freiheit, deren Formideal die historisch fortlaufende Entgegensetzung von Standpunkten ist, zu allerhöchstem Ansehen. Wie nun näher zu zeigen ist, wurde dabei jedoch immer auch und in mehreren Hinsichten ihre Veränderlichkeit gefordert. Von der Forschung kaum thematisiert scheint dabei die Forderung zu sein, die paradoxe Rede speziell an die im Augenblick gegebenen sozialen und diskursiven Verhältnisse anzupassen (Dosierung). Diese Forderung ist gleichrangig damit, dass jeder Behauptung eine dialogische Ergänzungsbedürftigkeit innewohnt (Verstetigung der Polemik) und dass die herkömmliche Form der These frühromantisch gesteigert 26  Vgl. Oesterreich, Peter L.: Ironie. In: Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch. 2. Aufl. Stuttgart: 2003. S.  352-366; Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. 2. Aufl. Tübingen: 1977. 27  Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Bd. 5. S.  226, Nr. 1078. Vgl. auch das 48. Lyceums-Fragment: „Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist“. Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Bd. 1. S. 243, Nr. 48.

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

oder literarisch überboten werden kann durch sogenannte ‚freie‘, das heißt dialogische Formen, die heterogene Standpunkte miteinander verbinden (Intensivierung). Das rhetorische Programm, in welchem paradoxe Rede funktionalisiert wird, lehrt demnach einen doppelten Vorbehalt gegen die eigenen Äußerungen, nämlich sowohl gegenüber deren Wahrheitsanspruch (sie kann weiterentwickelt werden) als auch gegenüber ihrer Anschlussfähigkeit und Verträglichkeit in einer konkreten Situation (sie kann ihre Adressaten überfordern). 7.4

Streit als Kur der Vereinzelung des Lebens: Dosierte und verstetigte Konsens-Kritik

7.4.1 Dosierung der Paradoxie Die Frühromantiker kritisierten die allgemeine Meinung, die sich im Zeitgeist manifestiert, als historisch-kulturell beschränktes Kriterium des Denkens. Ihr Gegnerbild war der Stillstand des Diskurses, wie aufgeklärt er auch sei. So identifizierte Friedrich Karl Forberg (1770-1848) ebenso wie Schlegel den Zeitgeist als den permanenten Gegner des philosophischen Handelns: Die Aufklärung hat nur mit dem Geist der Vorzeit zu kämpfen, und besiegt ihn öfters. Die Weisheit aber hat mit dem Geist der Zeit zu kämpfen, und wird fast immer besiegt.28

Während die Aufklärung die Paradoxie als ein notwendiges Mittel für eine reformierte Gegenwart verteidigt hatte, in der der traditionelle Wissensbestand, wie ihn die Aufklärung vorfand, durch einen besseren Konsens (oder mehrere bessere Konsense) ersetzt wird, sollte die Paradoxie im frühromantischen Programm zum modus operandi einer dynamisierten Gegenwart gehören. Anders als die aufklärerische Gleichgewichtung von Paradoxie und Konsens, der zufolge eine vernünftige These paradox sein darf, aber nicht muss, gerät in der Frühromantik die Paradoxalität als Ausweis eigenständigen Denkens zum notwendigen Merkmal der Philosophie: Jede nicht paradoxe Philosophie ist sophistisch. Sophistisch ist was dem gemeingeltenden Unsinn nicht widerspricht.29 28  Forberg, Friedrich Karl: Fragmente aus meinen Papieren. Jena: 1796. S. 44f. 29  K FSA XVII, S.  123, Nr. 3. – Die Sophistik kritisierte Schlegel wohl deshalb, weil es ihr primär darum ging, soziale Anerkennung zu gewährleisten, und gerade nicht darum, wie Sokrates für die Wahrheit das eigene Ansehen oder sogar das eigene Leben zu riskieren.

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Diese Dynamisierung der Gegenwart durch die Kritik auch am ‚besseren Konsens‘ oder am ‚Zeitgeist‘ war allerdings in der frühromantischen Theoriebildung keine uneingeschränkte Forderung, sondern ein Gegenstand der Regulierung, ein Produkt der Ausbalancierung. So stellte der Maßstab des Widerstreits zwischen dem Bewusstsein und seiner Freiheit an die Kritik den doppelten Anspruch, einerseits thematisch an den herrschenden Diskurs anzuknüpfen (Dosierung) und andererseits die Ergänzung dieser Kritik vorzubereiten (Verstetigung, Intensivierung). Beides zeigte sich im folgenden, nicht ganz einfachen Fragment Friedrich Schlegels: Was Epoche macht in dem Uebergange von der natürlichen Denkart zur künstlichen der reinen Vernunft ist Paradoxie. Ist nun die Bestimmung der populären Philosophie den Transzendentalen Standpunkt und den gemeinen zu nähern, so ist jene Paradoxie eine wesentliche Eigenschaft und ein sichres Kennzeichen der populären Philosophie – Moderantismus dagegen verdächtig – da wird der Transzendentale Standpunkt gemein gemacht.30

Der ‚Transzendentale Standpunkt‘, eine Analogie zum ‚unendlichen Bewusstsein‘, steht im Widerspruch zu jedem endlichen Standpunkt, dem Zeitgeist oder der allgemeinen Meinung. Nun gehört die Paradoxie aber, als ein bestimmtes Urteil, nicht mehr in die Kategorie unbeschränkter Souveränität, der sie entstammt, sondern sie nimmt eine Mittlerposition ein. In Gestalt der Paradoxie lässt sich der Generalzweifel bzw. die Allwissenheit (‚transzendentaler Standpunkt‘) auf die besonderen Umstände, auf die thematischen und philosophischen Grenzen des gegenwärtigen Diskurses ein, verglichen mit dem allein er einen paradoxen Effekt erkennen lässt.31 Wie die Bestimmung des Bewusstseins nicht in der Verwandlung in etwas Unbestimmtes liegt, weil dies das Ende des (endlichen, empirisch-konkreten) Bewusstseins wäre, so liegt auch der Übergang zu einem besseren Denken nicht im Verwerfen der herrschenden oder sogar aller möglichen Standpunkte. Ohne die in gewissem Dafür, dass Schlegel bei den Sophisten den Mut zum Aussprechen der Wahrheit vermisst (ein Zeichen der Freiheit des Bewusstseins), spricht auch das Ende des Fragments: „Das eigentliche Wesen der Sophisten besteht in der Feigheit“. Ebd. 30  K FSA XVIII, S. 304, Nr. 1325. 31  Die Mittelstellung der Paradoxie zwischen der Philosophie und der allgemeinen Meinung berührt auch die Aufgabe der Philosophie, populär zu sein, das heißt, sich mit den gerade geltenden Gemeinplätzen zu beschäftigen: „Paradoxon ist ein exoterisch gemachtes Esoterikon, Symphilosophie setzt esoterische Philosophie voraus“. KFSA 18, S.  Nr. 896, S. 104. Vgl. dazu Schnyder, Peter: Je populärer, desto paradoxer. Friedrich Schlegel über Popularität und Unverständlichkeit. In: In: Arburg, Hans-Georg von/Gamper, Michael/ Müller, Dominik (Hg.): Popularität. Zum Problem von Esoterik und Exoterik in Literatur und Philosophie. Würzburg: 1999. S. 51-71.

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

Sinne demütige Auseinandersetzung mit den Gegenständen des gegenwärtigen Interesses wäre der transzendentale Standpunkt nur eine leere Referenz des Subjekts auf sich selbst. Die Paradoxie ist insofern Produkt der Dosierung eines eigentlich grenzenlosen Zweifels, und nur solche sich konkret einlassende Kritik ist nach Schlegel mehr wert als jede einfache Affirmation. Von Heinrich Steffens (1773-1845), der zum Kreis der Frühromantiker in Jena gehörte, ist ein autobiografisches Zeugnis überliefert, welches das frühromantische Ideal paradoxer Rede nach ihrer Art und Funktion anschaulich macht. Was diese glückliche Zeit in Jena vorzugsweise auszeichnete, war der Fleiß und Ernst, der in allen herrschte; die Überzeugung, daß man, um den Gegnern entgegen zu treten, sie auf ihrem eigenen Boden bekämpfen müsse, daß man nicht bloß mit leeren Allgemeinheiten, mit geistreichen Wendungen sich begnügen dürfe, daß ein Kampf bedeutungslos werden müßte, wenn er nicht durch Einsicht und Kenntnisse nachhaltig wäre, durchdrang einen jeden. […] Wohl herrschte in diesem Kampfe nicht selten Uebermut, aber es war nicht bloß das armselige Jucken der Oberhaut, das sich durch Reiben an anderen Linderung verschaffen will und sich in Aeußerungen ergießt, die nur einen augenblicklichen, schnell verschwindenden Einfluß hervorrufen. Es war nicht eine blasierte Zeit, die sich stimulieren mußte, um aus der leeren Kraftlosigkeit irgendeinen vorübergehenden scheinbar lebendigen Effekt hervorzulocken: es war eine kraftvolle, jugendliche, die in allen Richtungen des Daseins die Spuren des Alles vereinigenden Geistes erkannte; es war ein sprudelndes, ja übermüthiges Leben, nicht die krampfhaften Zuckungen eines Sterbenden. Man beschuldigte die Verbündeten, besonders die Gebrüder Schlegel, daß sie nach Paradoxen jagten: aber mußte nicht Alles, was aus einem Großen und Ganzen ausging, denjenigen fremd, unverständlich, paradox erscheinen, die in der zersplitterten Vereinzelung des Lebens sich mit einem geistlosen Detail begnügten? Ich fühlte es, wie der alte Spinoza sich zu regen und zu bewegen anfing […]32

Auch Steffens war der Ansicht, dass die Philosophie, die dem ‚unendlichen Bewusstsein‘ (Schlegel), also dem „Großen und Ganzen“ der Geistesgeschichte (‚Alles vereinigender Geist‘), verpflichtet war, ihrer eigenen Zeit „fremd, unverständlich, paradox erscheinen“ musste. Diese Zeit charakterisierte Steffens auf dieselbe Weise wie andere Zeitgenossen der klassisch-romantischen Bewegung,33 nämlich als zunehmend vereinzelt und daher selbstzufrieden, 32  Steffens, Heinrich: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. Breslau: 1840. S. 136-138. 33  Man könnte neben Schlegel und Schiller auch an Hölderlin denken. In einem Brief an seinen Bruder interpretierte er die Betonung des unendlichen Allgemeinen durch

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undialogisch, in schlechter Arbeitsteilung, im ‚Besonderen‘, im ‚Endlichen‘ befangen. In der Diagnose der „zersplitterten Vereinzelung des Lebens“, die unter anderem auch Schillers sechster Brief über die ästhetische Erziehung und Schlegels Studiums-Aufsatz stellten, kann man die damalige Bewusstwerdung dessen erkennen, was Niklas Luhmann als funktionale Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene Systeme (Politik, Wirtschaft, Kunst, Religion etc.) beschrieb.34 Die frühromantische Praxis antikonsensualer Rede, wenn man sie in ihrer nicht lehr- und beherrschbaren, einseitige Positionen irritierenden ‚Lebendigkeit‘ noch als Praxis bezeichnen kann, ließe sich dann als eine Reaktion auf die diagnostizierten Nachteile der im 18. Jahrhundert entstandenen Grundordnung der bürgerlichen Gesellschaft verstehen. Angesichts einer zunehmenden Spezialisierung und Fragmentierung der gedanklichen Horizonte der Menschen sollte sie die (gelehrte) Kommunikation intensivieren. Um aber überhaupt einen dynamisierenden Effekt auf den Diskurs der eigenen Zeit zu haben, galt es für die Frühromantiker, die Gegner „auf ihrem eigenen Boden“ zu bekämpfen und an den gegenwärtigen, populären Debatten Anteil zu nehmen. Eben diese ambivalente rhetorische Norm, paradoxe Rede auf die Anpassung an gegebene Meinungen zu gründen, machte ein Frühromantiker sogar zur Grundlage einer Theorie der Geselligkeit, nämlich Friedrich Schleiermacher. Zwischen der Norm der Abweichung und dem „Gebot der Schicklichkeit“: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit Das normative Modell der freien Geselligkeit, das Friedrich Schleiermacher (1768-1834) in seinem Fragment Versuch einer Theorie des geselligen Betra­ gens35 (1799) skizziert, berührt zwar als Gesprächsmodell nicht direkt das 7.4.2

den Deutschen Idealismus als legitimes und notwendiges Korrektiv eines spezifisch deutschen Hanges zur „bornierten Häuslichkeit“, vgl. Friedrich Hölderlin, Brief an den Bruder, 1.1.1799. Zitiert nach Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Günter Mieth. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin: 1995. S. 336. „Da nun größtenteils die Deutschen in diesem ängstlich bornierten Zustande sich befanden, so konnten sie keinen heilsameren Einfluß erfahren als den der neuen Philosophie, die bis zum Extrem auf Allgemeinheit des Interesses dringt und das unendliche Streben in der Brust des Menschen aufdeckt, und wenn sie schon sich zu einseitig an die große Selbsttätigkeit der Menschennatur hält, so ist sie doch, als Philosophie der Zeit, die einzig mögliche“. Ebd. S. 337. 34  Vgl. für diese These Schmidt, Benjamin Marius: Denker ohne Gott und Vater. Schiller, Schlegel und der Entwurf der Modernität in den 1790ern. Stuttgart: 2001. S. 1-10. 35  Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Versuch einer Theorie geselligen Betragens. In: Kritische Gesamtausgabe. 1. Abt. Bd. 2. Hg. v. Günter Merkenstock. Berlin: 1984. S. 165184. – Nachweise erfolgen unter Angabe des Kürzels TgB und der Seitenzahl im Text.

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monologische Phänomen der Paradoxie. Aber es hilft vielleicht gerade als solches dabei, Aspekte zu unterstreichen, die auch für die frühromantische Sicht auf die Paradoxie maßgeblich waren. Zentral war auch hier die Grundannahme, dass Einigkeit in der Sache kein unbedingtes Desiderat mehr sein sollte (wie in der Aufklärung der bessere Konsens, zu dem eine Paradoxie idealerweise führte). Es galt stattdessen die ambivalente Norm, dass Widerspruch bzw. Dissens etwas per se Erstrebenswertes seien, was jedoch nicht für jedermann und in allen Situationen erträglich sei. Schleiermachers ‚Geselligkeit‘ dient zudem der gleichen globalen Handlungsstrategie der unendlichen Horizonterweiterung, der auch die Paradoxie als ein Mittel diente. Denn ebenso wie in Steffens Erinnerung an die gewissermaßen angepasste Streitlust der Frühromantiker sollte die Geselligkeit in Schleiermachers Modell „den freien Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen“ (TgB, S. 165) gewährleisten und so die ‚zersplitterte Vereinzelung des Lebens‘ (Steffens) zu kompensieren helfen: Geselligkeit sollte den beschränkten Horizont des bürgerlichen Individuums, das zwischen Berufsleben und Haushalt gefangen sei, auf „alle Erscheinungen des Menschen“ (ebd.) erweitern.36 Auch die anthropologische Begründung solcher Geselligkeit ähnelt Schlegels Menschenbild der ‚Sehnsucht nach dem Unendlichen‘, aus der dessen Forderung nach einer polemisch-dialogisch konstituierten Philosophie resultierte. Mehr noch als in der Aufklärung galt nun die Infragestellung und Erweiterung des eigenen und des fremden Horizonts durch das gemeinsame Gespräch als ein anthropologisches Bedürfnis.37 Geselligkeit schien dieses Bedürfnis aber nur dann zu erfüllen, wenn weder alle Beteiligten miteinander übereinstimmten noch der Streit so groß wurde, dass die Kommunikation abgebrochen werden musste. Schleiermacher stellte eben dafür zwei Arten von Gesetzen auf, deren eine von der Gegebenheit der unendlichen Freiheit ausging, während die andere den beschränkten Bedingungen der (sozialen und psychischen) Wirklichkeit Rechnung tragen sollte. 36  Vgl. zu dieser Kompensationsthese ausführlich Fohrmann, Jürgen: Gesellige Kommuni­ kation um 1800. Skizze einer Form. In: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie. Jahrgang 3, 2 (1997). S. 351-360. 37  Schleiermachers Theorie beginnt mit der Feststellung eines Bedürfnisses nach Geselligkeit: „Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert. [Im freien Umgang des Menschen mit anderen, CW] hängt es nur von ihm ab, alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang, soweit er will, zu verbannen“. Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. S. 165.

Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen 263

Ziel freier Individuen konnte in den Augen Schleiermachers nicht die Belehrung und Überzeugung, sondern nur die wechselseitige ‚Anregung‘ mithilfe von ‚Gedankenspielen‘ sein (‚materielles Gesetz‘). Anders als die Überzeugung provoziert die ‚Anregung‘ eine Fortsetzung der Kommunikation, die auf den Sprecher zurückwirkt.38 Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eignen Thätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann […] nichts seyn, als die Thätigkeit des Auffordernden; es kann also auf nichts anders abgesehen seyn, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben. […]: Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen. (TgB, S. 169f.)

Prinzipiell setzte Schleiermacher dem thematisch-sachlichen Horizont dieser Gedankenspiele keine Grenzen.39 Da aber die grenzenlose Freiheit des Geistes für ihn nur als Ideal existierte, musste sich jede gesellige Kommunikation um eine Balance zwischen diesem Ideal und den endlichen Gegebenheiten in einer bestimmten Gruppe bemühen. Erst das ‚quantitative Gesetz‘ orientierte die freien Gedankenspiele, die allen Personen einer Gruppe möglich sein sollten, an einem gemeinsamen Taktgeber. Das quantitative Gesetz oder das „Gebot der Schicklichkeit“ (TgB, S. 170) lautete: „deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann“ (ebd.). Das heißt, jedes Individuum sollte sich mit seinen Beiträgen möglichst innerhalb eines stets neu zu bestimmenden sachlich-thematischen Horizonts bewegen, der es jeder Person einer bestimmten Gruppe erlaubte, auf ihre Weise am Gespräch teilzunehmen. Erst ein gemeinsames Thema schuf die „Bedingung der Anwendbarkeit“ (ebd.) zu der Forderung, dass alle Beteiligten zur wechselseitigen Bildung beizutragen hatten, indem sie die gegebene Auffassungsvielfalt noch vergrößerten. Hervorgehoben sei an dieser Stelle, dass die Anerkennung des jeweiligen Horizonts der Mitmenschen ein Ideal sprachlichen Handelns ist, das an den 38  „Es soll keine bestimmte Handlung gemeinschaftlich verrichtet, kein Werk vereinigt zu Stande gebracht, keine Einsicht methodisch erworben werden. Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Einwirkung auf die andern“ (TgB, S. 169f.). Vgl. zu einer kommunikationstheoretischen Rekonstruktion von Schleiermachers Konzept der Geselligkeit, s. Garaj: Frühromantik als Kommunikationsparadigma. S. 23-51 und bes. S. 46-48. 39  „Unendlich mannigfaltig ist, im Allgemeinen betrachtet, die Art, wie Menschen einander anregen können, und unendlich die Sphäre ihrer freien Aeußerungen“ (TgB, S. 170).

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humanistischen Wert der Umgänglichkeit oder Verträglichkeit erinnert.40 Freilich war es hier nicht der Mangel an Frömmigkeit, den man tolerieren sollte, sondern eher die Frömmigkeit selbst.41 Galt es doch die individuell verschiedenen und beschränkten Kräfte des einzelnen Menschen zu achten und so auch das unbedingte Drängen auf Fortschritt und Verbesserung zu limitieren.42 Das freimütige Aussprechen der Wahrheit konnte als unachtsam, verletzend oder übergriffig aufgeschoben werden. In diesem Sinne sollte die Umgänglichkeit neben der Wahrheit ein Mitspracherecht im geselligen Leben genießen. Die von Schleiermacher geforderte Ausbalancierung der Rede zwischen unendlicher Freiheit und konkreter Lebenspraxis legitimierte zwar unter ungünstigen Bedingungen, also bei Gefährdung sozialer Kontakte, die Zurückhaltung in kontroversen Beiträgen. Doch umgekehrt durfte es auch nicht als unangemessen kritisiert werden, wenn alle Beteiligten auf eine Vergrößerung des Dissenses hinarbeiteten, solange eben dabei niemand ausgeschlossen wurde. Es gehört gradehin zur Vollkommenheit einer Gesellschaft, daß ihre Mitglieder in ihrer Ansicht des Gegenstandes und ihrer Manier ihn zu behandeln, so mannigfaltig als möglich von einander abweichen. (TgB, S. 175.)

Unter der Bedingung des sozialen Zusammenhalts einer Gruppe galt Dissens als ein Desiderat jedes gebildeten Menschen. Dass die Gesetze der freien Geselligkeit ebenso wie die Maximen des gemeinen Menschenverstands die Kommunikation unabhängig von bestimmten Inhalten (Natur, Gott) regulierten, das hebt beide Rhetoriken von allen hier besprochenen antiken und frühneuzeitlichen Modellen paradoxer Rede als modern ab. Dass Schleiermachers Gesetze aber nicht wie Kants Maximen auf die Moderation zwischen Individualität und Kollektivität, sondern auf die zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, zwischen Freiheit und Lebenspraxis abzielten, machte sie 40  Zum „Umgang“ bemerkte Friedrich Schlegel in einem auch sonst für die nicht bloß an Wahrheit, sondern auch an sozialen Beziehungen orientierte Rhetorik der Frühromantik sehr aufschlussreichen Brief an seinen Bruder (21.11.1792): „Ich finde ihn der Anstrengung aller willkürlichen Kräfte würdig, nicht blos als Erwerbung von Connexionen und gesellschaftlicher Klugheit, sondern an sich selbst“. Schlegel: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. 23. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn: 1987. S. 76. 41  Vgl. im selben Brief: „Es ist gut, daß ich gegen meinen Vater Religion und gegen meine Familie Achtung heuchle, die ich nicht habe“. Ebd. S. 72. 42  „Wie groß muß der Mann seyn, in dessen Brust die reine Wahrheit ruhen kann, ohne das irdische Gefäß zu zermalmen? Wofern es nicht alle menschliche Kraft übersteigt. Dieses kann mir wohl so scheinen […]“ Ebd. S. 71.

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frühromantisch. Mit anderen Worten: Die frühromantische Wertschätzung von Dissens weichte deutlich von der aufklärerischen Sichtweise ab, dass Meinungsaustausch zwar kontrovers sein durfte, letztlich aber im Konsens münden sollte. Nun war die Gelegenheit zu fruchtbarem Austausch zugleich schon ein Moment der Perfektionierung, Weiterbildung selbst das höchste Ziel der Bildung. Doch was bedeutete dies nun für die Beurteilung der „paradoxen Rede“, die Schleiermacher in seinem Modell gar nicht eigens thematisierte? Einerseits verlangten die Gesetze der freien Geselligkeit mit dem produktiven Gespräch über ‚einen‘ Gegenstand immerhin eine gewisse Einigkeit in der Sache. Paradoxe Rede war doch noch als Beitrag zu einem gemeinsamen Thema zu denken – und nicht als eine inkommensurable Störung im Gespräch. War nun aber der gesellige Redebeitrag immer eine Einschränkung des idealen Subjekts, das noch etwas anderes und besseres hätte sagen können, dann galt andererseits, dass im Idealzustand geselliger Interaktion jede paradoxe Rede ihre Meisterin in einer noch paradoxeren Rede fand. Der Idealzustand war folglich keine Konsens-Paradoxie-Konstellation, sondern er war vielmehr durch eine Pluralität individueller Meinungen gekennzeichnet, gewissermaßen durch Amphidoxie43 oder, wie man wohl sagen müsste, Polydoxie. Wo es möglich war, war die Überbietung einer Abweichung durch eine neue Abweichung noch besser als eine Abweichung allein. Damit wäre wohl bei aller Vorliebe von Schleiermachers Theorie für den Dissens auch ein paradoxer Redebeitrag ergänzungsbedürftig. 7.4.3 Verstetigung der Paradoxie Paradoxien können zum Gemeinplatz werden, sobald sie Zustimmung finden. Genau das sollte frühromantisch nicht passieren, auch und gerade nicht dort, wo die Diskussion bereits ein hohes Niveau erreicht hatte. So war es gegen die Verklärung von aufklärerischen Autoren zu unbedingten Autoritäten gerichtet, wenn Schlegel über seine eigene Vorgehensweise als Kritiker schrieb: Polemik […] ist […] mir das Siegel von der lebendigsten Wirksamkeit des Göttlichen im Menschen, der Prüfstein des reifen Verstandes. […] Es ging mein Bestreben […] dahin, […] die Scheidung des guten und des bösen Princips bis auf die höchsten Stufen der Kraft und der Bildung fortzusetzen[…] Daher sind oft vielleicht grade dieselben die mit reifem Bedacht gewählten Gegenstände 43  Vgl. zum im 18. Jahrhundert schon nicht mehr gebräuchlichen Begriff der Amphidoxie (ein Urteil, das teils akzeptiert, teils kritisiert wird) als mittleren Begriff zwischen Paradoxie und Endoxie Plett: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S.  93; und ausführlicher Gast, Wolfgang: Vertretbarkeitsgrade. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen: 2009. Sp. 1115-1131.

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik meiner Polemik, welche für andre, die es weniger genau nehmen, Ideale der Nachbildung sein können. Eben daher lernte ich mit Ironie bewundern.44

Hier fällt die Kritik am Denken anerkannter Autoritäten (‚Ideale der Nachbildung‘) auf, das ‚die höchsten Stufen der […] Bildung‘ einer Zeit repräsentiere und das insofern auch ein aus aufklärerischem Geist gewagtes Urteil sein könnte, das Zustimmung gefunden hat. Darüber hinaus ist auch an dieser Stelle zu sehen, dass Schlegel bei der kritischen Verurteilung Rücksicht auf jene Zeitgenossen nimmt, deren sozusagen noch grillenhaftes Denken durch allgemeine Meinungen verbessert werden kann (‚welche für andre Ideale […] der Nachbildung sein können‘). Diese Rücksicht zeugt von dem Stellenwert unterschiedlicher Entwicklungsgrade der Menschen für die frühromantische Beurteilung von Polemik resp. paradoxer Rede. Jedenfalls meint Schlegel: Auch und besonders diejenigen, von denen Viele Vieles lernen können, dürfen nicht ‚bewundert‘ werden, als gäbe es nicht noch etwas Besseres. Während es zum Beispiel für den Aufklärer Wiggers selbstverständlich gewesen war, dass Lessing ohne jede Einschränkung als Paradefall der Paradoxie und als Säulenheiliger der Ästhetik zu gelten hatte, setzte Schlegels Würdigung desselben charakteristischerweise gerade mit einer Kritik derartiger Verklärung ein. In seinem Essay Über Lessing (1797) hieß es zur Tendenz der Verfestigung allgemeiner Meinungen: Der allgemeine Eindruck wird auch bald der herrschende; es bildet sich ein blinder Glauben, eine gedankenlose Gewohnheit, welche bald heilige Überlieferung und endlich beinah unverbrüchliches Gesetz wird. […] Der Glaube wächst mit dem Fortgang, der Irrtum wird fest durch die Zeit und irrt immer weiter, die Spuren des Besseren verschwinden, vieles und vielleicht das Wichtigste sinkt ganz in Vergessenheit.45

Anschließend an einen Gegenstand von allgemeinem Interesse, eben den weithin geehrten Lessing, warnte Schlegel vor der impliziten Gewalt, welche von dem allgemein Anerkannten in aller Regel ausgehe. Eben diese nicht vorbehaltlose, sondern ‚ironische Bewunderung‘ Lessings durch Schlegel, der die philosophische Qualität Lessings über dessen weithin geehrte literarische Kunst stellte, veranschaulicht sehr gut den frühromantischen Vorbehalt gegenüber eigenen und fremden Überzeugungen, wie progressiv sie auch sein mochten. 44  Im Abschluß des Lessing-Aufsatzes (1801), vgl. Schlegel: Schriften zur Kritischen Philosophie. S. 138. 45  Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften und Fragmente. (Studienausgabe I). Hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner. Schöningh: Paderborn et al., 1988, S. 208.

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Entsprechend der Befürchtung, dass das Wissen den Anschein verlieren könnte, nicht das Resultat, sondern nur ein Moment des unendlichen Strebens zu sein, unterschied sich auch die frühromantische von der aufklärerischen Sicht auf die Vertreter der neuesten Philosophie. Während der Aufklärer Lachmann unter anderem für die Anerkennung von Fichtes Philosophie geworben hatte,46 sah Schlegel die einzig wahre Anerkennung von dessen Philosophie gerade in ihrer Weiterentwicklung. In seinem Aufsatz Literatur (1803) über die jüngste historische Entwicklung des literarisch-gelehrten Diskurses lobte Schlegel die Fortsetzung der idealistischen Philosophie durch Schleiermacher und Schelling mit den Worten: Für die innere Vollendung und Ausbildung der Philosophie ist […] das Wesentliche […] die Freiheit des Geistes, deren Erhaltung, da ohnehin die höchste Wahrheit nie ganz adäquat ausgesprochen werden kann, es durchaus erfordert, daß es nie an eigentümlichen Ansichten und Darstellungsarten der Prinzipien fehlen möge, weil sonst unvermeidlich Schulwesen und Gedankenversteinerung entsteht.47

Da der Grund des Bewusstseins, die Quelle des menschlichen Antriebs, in jeder Hinsicht unbeschränkt sei, lasse er sich nicht fixieren und mitteilen. Da Schlegel die ganze Geistesgeschichte als Ausdruck der Verwirklichung dieser Prinzipien interpretierte, gab es für ihn unendlich viele Ansichten der Prinzipien.48 Mit Blick auf Schelling prägte Schlegel die Formel: „je philosophischer, je paradoxer“49. Da eine Paradoxie sich abnutze, könne die Diskursdynamik laut Schlegel nur durch dauerhafte paradoxe und paradoxere Interventionen sichergestellt werden: Alle höchsten Wahrheiten sind durchaus trivial und eben darum ist nichts notwendiger als sie immer neu, und womöglich immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und daß sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können.50 46  Vgl. Lachmann: Ueber Paradoxie und Originalität. S. 53 u.ö. 47  Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften und Fragmente. (Studienausgabe III). Hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner. Schöningh: Paderborn et al. 1988. S. 22. (Herv. d. Verf., CW). 48  Gleichwohl ist zu vermuten, dass die Legitimität von Dissens für Schlegel eben dort endete, wo die Prinzipien selbst in Frage gestellt wurden, das heißt dort, wo das menschliche Bewusstsein und seine unendliche Aufgabe nicht mehr, wie etwa bei Marx, der maßgebliche Referenzrahmen der Erkenntnis ist. Das wäre dann eine Kritik nicht innerhalb, sondern an der frühromantischen „Praxis“ antikonsensualer Rede. 49  In der Besprechung F. J. Niethammers Philosophisches Journal (1797). Zitiert nach Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften und Fragmente. (Studienausgabe I). S.  233. Vgl. nochmals Schnyder: Je populärer, desto paradoxer. 50  Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften und Fragmente. (Studienausgabe II). Hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner. Schöningh: Paderborn et al. 1988. S. 237. – Die Formulierung

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

Auch der Kontext dieser Stelle ist aufschlussreich. Aufhänger war das berühmte Tendenzen-Fragment, in dem Schlegel die „Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister“ als „die größten Tendenzen des Zeitalters“51 bezeichnete. Der Bezug auf ein historisches Ereignis bürgerlich-demokratischer Selbstermächtigung, auf eine Philosophie, die das ‚Ich‘ absolut nannte, sowie auf den ersten Bildungsroman, in dem Identität nicht gegeben, sondern durch Sozialisation gestaltet wurde,52 – dieser Bezug lässt darauf schließen, dass es immer wieder der Gehalt der moralischen Souveränität und der schöpferischen Bestimmung des Menschen war, den Schlegel  – gegenüber der Behauptung einer vom Menschen unabhängigen Wirklichkeit – als ‚höchste Wahrheit‘ bezeichnete, die es immer wieder aufs Neue gegen Festlegungen des Wissens paradox in Stellung zu bringen galt. Der symbolische Gehalt, den Schlegel der Paradoxie zuschrieb, war damit auf das engste an die im 18. Jahrhundert entstehende „Hochsemantik des ‚Subjekts‘“53 gebunden: Ihre Aufgipfelung in der Philosophie der Freiheit stellte mit der Erkennbarkeit unbedingter Wahrheit auch die unbedingte Gültigkeit auch des neuesten Konsens in Frage. 7.4.4 Paradoxie und Konsens bei Friedrich Karl Forberg Mit Friedrich Karl Forberg, der in seinen Fragmenten aus meinen Papieren54 (1796) umfänglichen Gebrauch vom Paradoxie-Begriff machte (FP, S.  3-9), lassen sich noch einmal die bisher gefundenen Thesen zum frühromantischen Paradoxie-Konzept bekräftigen und zusammenfassen. Das „Paradoxon“, das Forberg in Übereinstimmung mit Kant als „[e]in mit Verstand gegen die gemeine Meynung gewagtes Urtheil“ definierte (FP, S. 3), sollte ein verstetigtes Prinzip im gelehrten Diskurs werden. Diese Erhebung zum Prinzip beruhte auf der anthropologischen55 Einsicht, dass auch ein selbst denkender Mensch nur einen eingeschränkten Horizont besitzt, sodass die Herrschaft dogmatischer Setzungen in der Gestalt jenes Wissens wiederkehren kann, mit dem sie anscheinend besiegt wurde. Auf lange Sicht sollte eine entsprechende Praxis antikonsensualer Rede die Anerkennung der prinzipiellen Ergänzungsbe‚höchste Wahrheit‘ ist ironisch, weil sie für Schlegel darin besteht, dass es keine absolute Wahrheit für den Menschen gibt. 51  Ebd. 52  Vgl. diese Deutung des Tendenzen-Fragments bei Schmidt: Denker ohne Gott und Vater. S. 258f. 53  Bereits zitiert: Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. S. 211. 54  Forberg, Friedrich Karl: Fragmente aus meinen Papieren. Jena: 1796. – Nachweise erfolgen unter Angabe des Kürzels FP und der Seitenzahl im Text. 55  Forberg nannte den ersten Teil seiner Fragmente „Anthropologische Fragmente“ FP, S. 1.

Friedrich Schlegels Modifikation der aufklärerischen Maximen 269

dürftigkeit von Stellungnahmen einklagen und fördern56 und damit dem spezialisierten Denken in den Nischen einer zunehmend ausdifferenzierten bürgerlichen Gesellschaft entgegenwirken: Es kann einem denkenden Kopfe kein größeres Uebel widerfahren, als wenn seine Denkart den Character der Einseitigkeit annimmt. Eine Meynung übt dann in seinem Geiste den härtesten Despotismus aus, und verdammt durch die bestochne Urtheilskraft jede andre, die ihr nur im mindesten zu nahe tritt, meist ohne sie zu hören. Seine Gedanken, abgeschnitten von dem wohlthätigen Einfluß fremder Geister, ziehen sich in einen immer engern Kreiß zusammen – Geistesarmuth und Herzensleerheit sind das Ziel, dem dieser Sclave seiner eignen Meynung mit schnellen Schritten entgegen eilt. Wer es über sich erhalten kann, auch nur den Wunsch in sich aufkommen zu lassen daß er dieser Sclaverey entledigt seyn möchte — was auch nur zu wünschen, eben nicht leicht ist — der freue sich jedes Paradoxons, das ihm aufstößt: es ist eine Arzney, die ihn heilen kann. (FP, 7f.)

Doch die Läuterung des Diskurses durch seine stetige Ergänzung und Erweiterung konnte in den Augen Forbergs nur gelingen, wenn das schon Erreichte nicht einfach gering geschätzt und wie ‚Unkraut‘ vernichtet, sondern behutsam kritisiert wurde. Prägnant formulierte Forberg auch dieses humanistisch anmutende Kriterium der Behutsamkeit als Aufgabe des wissenschaftlichen Rezensenten. Einerseits sollte er den herrschenden Diskurs (also das Endliche) respektieren und andererseits Sorge für die Verbesserung auch der neuesten Kritik tragen (also für das Unendliche): Das Geschäft eines gewissenhaften Recensenten [einer bestimmten Wissenschaft CW] besteht [nicht im Verhüten eigener Irrtümer, CW] vielmehr darin, daß er der Wahrheit die Thür offen halte: daß er das üppig aufschießende Unkraut menschlicher Meynungen – nicht etwa ausjähte, sondern – beschneide, damit es die langsam aufkeimende Wahrheit nicht erstickt: daß er den Despotismus der Meynung verhüte, und darüber wache, daß die Freyheit des öffentlichen Urtheils erhalten werde: daß er dem Hange der Schriftsteller, ihre Meynung zur ausgemachten zu erheben, kräftig entgegenarbeite, und die Freyheit, künftig noch etwas Anderes, wo möglich Besseres, auszumachen, unaufhörlich reclamiere, damit sie nicht durch Präscription verlohren gehe. (FP, 21f.)57

56  Und nicht unbedingt jedes Mal die Wahrheit aussprechen: „Menschen, die viele Paradoxen sagen, sind immer gute, zuweilen auch große Köpfe. Wenn sie auch nicht viele Wahrheiten sagen, so öffnen sie doch die Aussicht auf viele Wahrheiten. Sie säen Gedanken: was sie säen, geht unter, aber was daraus entstehet, geht auf, und gedeihet, und trägt Früchte ins Unendliche“ (FP, S. 6). 57  „Präskription“ ist ein Rechtsterminus (dt. Ersitzung) für die Entstehung von Eigentum durch langjährige Benutzung.

270 7.5

‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

Kritik am logisch-konsistenten System

Das frühromantische Bild vom Menschen problematisierte nicht nur den Wert des Konsenses, sondern auch den der Konsistenz. Die auf Fichte zurückgehende Annahme, dass alles Wissen auf einem an sich grenzenlosen Streben des Geistes gründe und daher nicht begrifflich fixiert werden könne, bestritt nicht die Gesetze der Logik, aber sie erklärte sie zu einem Produkt des Denkens, das durch dieses Denken auch wieder aufgehoben werden konnte.58 Das machte sich auch im frühromantischen Begriff der Paradoxie bemerkbar: Einerseits wurde er mit dem Gegnerbild des philosophischen Systems verknüpft, andererseits bezeichnete er nun eine dialogisch erweiterte oder literarisch intensivierte Form der Aussage, die als solche – ein Novum in der Geschichte des Paradoxie-Konzepts – über die parteiische Stellungnahme hinausführt. Paradoxe Urteile konnten für sich allein stehen (das heißt sogar ohne Begründung), sollten aber idealerweise in Texte eingebettet werden, die Heterogenes miteinander verbanden, da nur so die Selbstaktivität des Lesers angeregt werden könnte. Es ging hier um das Postulat, dass sich die Bildungsfunktion der Rhetorik, genauer: die Anregungswirkung publizierter Schriften durch Inkonsistenz, Heterogenität und Rätselhaftigkeit endlos steigern lasse, während paradoxe Äußerungen im sozialen Umgang auf eine Antwort des Gegenübers angewiesen seien.59 An einer Stelle in seinen erwähnten Fragmenten unterschied Forberg drei Bildungsstufen, wobei mit jeder Stufe, die man hinaufsteigt, auch der Wert wachse, den man Paradoxa zuschreibt: erstens die dogmatische Überzeugung, die schon Teil des aufklärerischen Gegnerbilds war, zweitens das logischkonsistente System, das Forberg, wohlgemerkt, als Denkleistung anerkennt, 58  Vgl. dazu Schick: Contradictio est regula veri. – Die Grundsätze der Logik, also der Satz der Identität, der Satz des Widerspruchs und der Satz des Grundes, genauso wie die Begriffe Identität, Negation, Gegensatz, Verschiedenheit etc. gab Fichte nicht einfach preis. Er leitete sie aber aus dem absoluten Ich her. Seine „Genetisierung der Logik und ihrer Grundsätze“ (ebd. S.  170) relativierte diese zu einem bloßen ‚Bild‘ der ursprünglichen Handlung des Ich (ebd. S. 202-206), nämlich zu dem formalen Moment des Denkens, das zwar für die besonderen Wissenschaften die Form aufstelle, das aber durch die Wissenschaftslehre in dem Tätigsein des Ichs begründet und aufgelöst werde. Vgl. ebd. S. 161, 170191, 251ff. 59  Nach Schmidt ist das die Funktionsstelle der romantischen Ironie: „Romantische Ironie entsteht dann, wenn ein romantisches Individuum versucht, auch in seinen monologischen Äußerungen ein Bewusstsein davon mitzuführen, dass jedes individuelle Weltverhältnis unabschließbar ist, weil es sich auf wechselseitige Reflexion in einem Intimitätsverhältnis hin geöffnet hat und darauf angewiesen ist“. Schmidt, Benjamin Marius: Denker ohne Gott und Vater. S. 237.

Kritik am logisch-konsistenten System

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und drittens ein an seiner unbegrenzten Bildungsfähigkeit interessiertes Denken. An der Art, wie jemand Paradoxen aufnimmt, kann man den Charakter seines Geistes erkennen. Er verlacht sie, wenn er ein eingeschränkter Kopf ist: sie beunruhigen ihn, wenn er ein denkender Kopf ist, aber sein System mehr, als die Wahrheit liebt: sie reizen ihn, aber befriedigen ihn nicht, wenn er ein System nur noch als eine Aufgabe betrachtete, die er lösen soll, aber noch nicht gelöset hat: sie entzücken ihn, und befriedigen ihn zugleich, wenn er Gedanken als eine Münze ansieht, die sich mit Wucher wieder ausgeben läßt. (FP, S. 7)

Wichtig ist hier das Denken in Progressionen und Entwicklungsgraden: Forberg bestritt nicht den Wert eines Systems, er richtete sich nicht in der Weise gegen logisch-konsistentes Wissen (als das Ende einer Wahrheitssuche), wie die Aufklärer den religiösen Dogmatismus (als Verweigerung der Wahrheitssuche) kritisierten. Forberg erkannte vielmehr mit den drei Bildungsstufen das Credo der Aufklärung an, dass das eigenständige und konsistente Denken dem gedankenlosen Beifall für Autorität und Tradition vorzuziehen sei. Er kritisierte nur, dass die normative Erwartung eines konsistenten Systems mit einem Resultat des Erkenntnisprozesses rechnet, das jedes weitere Streben als überflüssig erscheinen lässt. Für ihn lag vielmehr die Vollendung der Bildung im Verlangen nach Weiterbildung, das heißt darin, trotz bedeutender Fortschritte im Denken das dadurch gewonnene Wissen in gemeinschaftlicher Bildung überprüfen und erweitern zu wollen. Tatsächlich gab der frühromantische Gebrauch des Paradoxie-Begriffs auch eine Antwort auf die Frage, welche Form die Frühromantiker – neben dem geselligen Gespräch oder der verstetigten Polemik – bevorzugten, wenn sie das System als Formideal der Philosophie problematisierten. Dieser Gebrauch hing mit dem allgemeineren Konzept der ästhetischen Bildung zusammen, verstanden nicht als Belehrung durch Illustration, sondern als Auflösung von Belehrung in multiperspektivische, mehrdeutige Formgebung. Dieses Konzept ging freilich nicht erst auf die Frühromantik, sondern mindestens auf die spätaufklärerische (Forster, Lichtenberg, Herder, Wieland) ebenso wie die klassische Ästhetik (Schiller) zurück.60 Die Eigenart der frühromantischen Ästhetik bestand dabei darin, dass sie eine derartige Heterogenität der Formgebung legitimierte und favorisierte, die sich geradezu objektiv zwingend, also auch bei einer erheblichen Selbstaktivität der Rezipienten, nicht in ein

60  Vgl. Godel: Vorurteil, Anthropologie, Literatur. S. 213ff. und Goetze: Ironie und absolute Darstellung. S. 34-45.

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik

kohärentes Bild zusammenfügen ließ.61 Vor allem Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg konzipieren eine solche ästhetische Bildung durch Unauflöslichkeit sowohl im engeren Sinne, nämlich in Bezug auf Kunst, als auch im weiteren Sinne, nämlich in Bezug auf die rhetorischen Mittel des philosophischen Diskurses.62 Ästhetische Bildung im engen Sinne fand ihnen zufolge statt, wenn sich die Philosophie, die sich über das systematische Denken hinaus in Richtung auf das Bewusstsein der Freiheit weiterbilden will, stärker der Kunst als einem unerschöpflichen Gegenstand des Nachdenkens zuwendet, um eben dadurch zu unaufhörlicher Tätigkeit veranlasst zu werden.63 Nun stand der Begriff der Paradoxie in der Frühromantik mit der ästhetischen Bildung in diesem engen Sinne in keinem direkten Zusammenhang. Er tauchte jedoch, entsprechend seiner Kernbedeutung als eines theoretischen Geltungsanspruchs, in Reflexionen auf die Darstellungsmittel des philosophischen Diskurses auf. Integration der Paradoxie in die freie Form (Schlegel) der Philosophie Besonders aufschlussreich für den frühromantischen Einsatz der Paradoxie als ein Mittel zur Anregung, das keine systematische Form besitzt, ist das Konzept der freien Form, das Schlegel in seiner Auswahlausgabe Lessings Gedanken und Meinungen aus dessen Schriften zusammengestellt und erläutert von Friedrich Schlegel (1804)64 begründete und erklärte. 7.5.1

Denn das Wissen ist, wie bekannt, nicht ein bloßer Mechanismus, sondern geht nur aus dem eignen freien Denken hervor. Dazu entschließen sich die Menschen nicht leicht, sie müssen dazu gebildet werden; es muß die in Trägheit schlummernde Kraft ihres Geistes auf mancherlei Weise erweckt, gereizt und erregt werden. […] Freiere Formen sind dazu meistens wirksamer als die ganz 61  Vgl. zu einer vergleichenden Darstellung Oesterhelt, Anja: Perspektive und Totaleindruck. Höhepunkt und Ende der Multiperspektivität in Christoph Martin Wielands ‚Aristipp‘ und Clemens Brentanos ‚Godwi‘. München: 2010. 62  Vgl. Frank, Manfred: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/ Main: 1989. S. 219-230. 63  Hier zeichnet sich die für die Frühromantik typische Überführung von Philosophie in Literatur ab. Vgl. zu Novalis’ Konzept des Romantisierens Goetze: Ironie und absolute Darstellung. S. 266-274. Und zu Schlegels Konzept der Allegorie vgl. ebd. S. 312-336. Die philosophische Funktion der Schönheit für den menschlichen Geist liegt in der Unausdeutbarkeit. Eine Quelle dafür fanden die Frühromantiker in Kants dritter Kritik. Dort heißt eine ästhetische Idee eine Anschauung, „der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann“. Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 283f. 64  Vgl. Schlegel: Schriften zur Kritischen Philosophie. S. 144-200. Nachweise erfolgen unter Angabe des Kürzels LGM und der Seitenzahl im Text.

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strenge Methode, weil diese als schon vorhanden voraussetzt, wozu fast alle erst gebildet werden müssen. (LGM, S. 145)

Schlegels Konzept der ‚freien Form‘ trug der Behauptung Rechnung, dass „das Wissen […] nur aus dem eignen freien Denken hervor[geht]“ (ebd., S.  145). Während einzelne Wissenschaften das so entstandene Wissen mitteilen könnten, sollte die Philosophie nicht „dieses oder jenes Gedachte, sondern das Denken selbst lehren“ (ebd. S. 147). Eine Bildungsmacht in diesem Sinne seien philosophische Schriften laut Schlegel, wenn sie die Tätigkeit des Denkens nachahmten: „[D]enn man kann das Denken nicht lehren, außer durch die That und das Beispiel, indem man vor jemanden denkt, […] das Denken in seinem Werden und Entstehen ihm darstellt“ (ebd. S. 147). Als Musterbeispiel solcher Schriften nannte Schlegel mehrfach die platonischen Dialoge, wobei die dialektische Form „nicht bloß an die Nachbildung eines Gesprächs gebunden“ sei, sondern überall stattfinde, „wo ein schwebender Wechsel der Gedanken in fortgehender Verknüpfung […] Statt findet“ (ebd. S. 197). Damit ist nun nicht nur in Bezug auf Geselligkeit und öffentliche Polemik, sondern auch in Bezug auf die philosophische Formgebung Schlegels Diktum erklärt, dass die „Form der Philosophie“ im engen Sinne dialektisch sei (vgl. S. 197). Philosophie müsse sogar in Form und Ausdruck […] geheimnißvoll seyn, um angemessen zu scheinen. Bei der höchsten Klarheit dialektischer Werke im Einzelnen muß wenigstens die Verknüpfung des Ganzen auf etwas Unauflösliches führen, wenn wir sie noch für Nachbildung des Philosophirens oder des endlosen Sinnens erkennen sollen (LGM, S. 198).

Meinte Schlegel also, dass in philosophischen Schriften ein ambivalenter oder sogar obskurer (also nicht nur: paradoxer) Standpunkt einzunehmen ist – weil der zu ewigem Streben bestimmte Mensch (hier: Leser) durch einen solchen Standpunkt zum fortwährenden Studium gezwungen wäre – während er einem bloß der allgemeinen Meinung entgegengesetzten klar verständlichen Standpunkt durchaus träge anhängen könnte? Zumindest ließe sich die von Schlegel favorisierte Verbindung unterschiedlicher Standpunkte in einem Dialog auch mithilfe von logisch unproblematischen, aber wenigstens zum Teil ungewöhnlichen Stellungnahmen realisieren, bezog sich die Unauflöslichkeit doch nur auf ‚die Verknüpfung des Ganzen‘, während ‚im Einzelnen‘ höchste Klarheit herrschen sollte. Tatsächlich zeigen Schlegels nähere Ausführungen zur dispositio der freien Form, dass der polemische oder paradoxe Standpunkt unbedingt zu deren Elementen dazugehörte. Das Muster der freien Form sah er in den platonischen

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Dialogen, deren Form (ihr Inhalt wird gar nicht erwähnt) „von jeher von den Einsichtsvollen für die wahre Form der Philosophie gehalten worden, so selten dieselbe sich auch seit Plato gezeigt hat“ (LGM, S. 197).65 Die Gliederung der Dialoge beschrieb Schlegel so: Ein Widerspruch gegen ein geltendes Vorurtheil, oder was irgend sonst die angebohrne Trägheit recht kräftig wecken kann, macht den Anfang; denn geht der Faden des Denkens in stetiger Verknüpfung unmerklich fort, bis der überraschte Zuschauer, nachdem jener Faden mit einemmale abreißt, oder sich in sich selbst auflöste, plötzlich vor einem Ziele sich findet, das er gar nicht erwartet hatte; vor sich eine grenzenlose weite Aussicht, und sieht er zurück auf die zurückgelegte Bahn, auf die deutlich vor ihm liegende Windung des Gesprächs, so wird er inne, daß es nur ein Bruchstück war aus einer unendlichen Laufbahn. (LGM, S. 149, Herv. v. mir, CW)

Paradoxer Einstieg, dialektische Entwicklung und überraschender Abbruch, das war der idealtypische Dreischritt, der nach Schlegel die freie Form auszeichnete. Das Hauptmerkmal der freien Form war, dass sie inkonsistente oder doch heterogene Vorstellungen nicht erst in der Wechselrede eines geselligen Gesprächs, sondern schon innerhalb eines monologischen Denkens realisierte.66 Bei ihrer Verknüpfung war es essentiell, Ähnliches im Unähnlichen zu sehen,67 eine Fähigkeit, die im 18. Jahrhundert „Witz“ genannt wurde. Da dieses Kompositionsverfahren auf kein eindeutiges Resultat zielte, musste es irgendwo abbrechen, sodass freie Formen typischerweise fragmentarisch waren.68 Hinter dem polemischen Einstieg nun verbarg sich, wie Forberg es formulierte, der ‚Kampf mit dem Geist der Zeit‘, und nicht zufällig würdigte Schlegel eben das auch als erstes an Lessings (freier) Form, dass er nicht „Systematiker und Sektenstifter, sondern Kritiker“ (LGM, S. 151) war, der stets „von einem gegebnen lebhaften Interesse“ ausging: „[S]eyen es nun geschnittne Steine, oder Schauspiel, oder Freimaurerei, was grade der Zufall an die Tagesordnung gebracht hatte; er wußte schon überall höhere Ideen anzuknüpfen“ (ebd. S. 149). Der paradoxe Auftakt philosophischer Schriften schien 65  Für den Kontext die Stelle davor: „[I]n jedem guten philosophischen Gespräch muß wenigstens einer seyn, der wißbegierig die Geheimnisse der höchsten Forschung zu enthüllen strebt, und einer, der im Besitz derselben, sie gern mittheilend immer mehr verräth, aber wenn man glaubt, er werde es, was er weder kann noch darf, nun ganz thun und ganz aussprechen, dann plötzlich abbricht, und durch eine unbestimmte Aussicht ins Unendliche unsre Sehnsucht von neuem erregt. –“ Ebd. S. 197. 66  Schlegel wiederholt hier, dass die eigentliche Form der Philosophie dialektisch sei. Vgl. ebd. S. 196f. 67  Vgl. ebd. S. 175-180. 68  Vgl. ebd. S. 175, 178f.

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unentbehrlich, gerade weil er als kritische Anknüpfung an eine gegebene Meinung die Leserschaft in ihrer bekannten Sphäre ansprach und so für jene ‚höheren Ideen‘ empfänglich machte, die Aussicht auf eine ‚unendliche Laufbahn‘ bieten könne. Auch wenn eine einzelne philosophische Schrift die Anregungswirkung eines ganzen geselligen Gesprächs entfalten und also auf etwas Unauflösliches hinführen sollte, so galt für sie doch, da sie im Bezug auf ihr Publikum auch äußerlich gesellig war, das gleiche ‚Gebot der Schicklichkeit‘ (Schleiermacher) wie für jeden normalen, mündlichen Beitrag zu freier Geselligkeit auch. Sie musste das Thema, bei dessen Gelegenheit sie originelle und weiterführende Beiträge lieferte, mit Rücksicht auf die Zusammensetzung der Gruppe (hier: des angesprochenen zeitgenössischen Publikums) wählen, nicht anders als sich der ‚transzendentale Standpunkt‘ – laut dem oben zitierten Fragment Schlegels – in Gestalt der ‚populären Philosophie‘ kritisch auf den ‚gemeinen Standpunkt‘ einlassen musste. So lag für Schlegel die Vorbildlichkeit von Lessings Wirken auch nicht in einer bestimmten Botschaft, sondern in einer immer wieder neu und zunehmend wirkungsvoller sich in den gegebenen Diskurs einfügenden Polemik: „Immer tiefer dringt sein Denken ein, immer weiter greift es um sich; fand man schon in seinen ersten Schritten Paradoxie, so tritt er weiterhin mit einer ganz andern kühnern, wirklich so zu nennenden auf“ (S. 149).69 Die freie Form ahmte das gesellige Gespräch in monologischer Mitteilung nach. Die beiden Eigenschaften der freien Form wiederum, also die klare, aber paradoxe Stellungnahme im Einzelnen und eine belebende Verunsicherung des Denkens durch die Unauflöslichkeit und Unvollständigkeit des Ganzen, wurden in dem, was Novalis höchstes Paradoxon nennen sollte (vgl. hier 5.2.), in einem Satz verdichtet. Diese Tendenz, nicht nur auf der Ebene von Texten, sondern auch auf der Ebene von Sätzen und Begriffen einen philosophischen Stil zu entwickeln, der eine regelrechte Kontrafaktur des logischen Systems war, ließ sich auch bei Schlegel beobachten, auch wenn er dafür nicht den Terminus der Paradoxie verwendete. Erstens ist hervorzuheben, dass Schlegel vor dem Hintergrund seiner Philosophie die unbegründete Behauptung und mithin die unbegründete Paradoxie legitimierte, was bei Kant und erst recht bei Aristoteles oder Cicero unmöglich gewesen wäre. Dies zeigte sich nicht nur in der charakteristischen Form 69  Mit der ‚wirklich so zu nennenden Paradoxie‘ war wahrscheinlich Nathan der Weise gemeint. Vgl. auch: „Prüfung, freimüthige und sorgfältige Prüfung der Meinungen andrer, Widerlegung manches gemeingeltenden Vorurtheils, Vertheidigung und Wiederanregung dieser oder jener alten, oft schon vergeßnen Paradoxie, das war die Form, in welcher er seine eigne Meinungen in diesem Fach [der Philosophie, CW], meistens nur indirekt vorzutragen pflegte“ (LGM, S. 151).

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seiner Philosophie, in den Fragmenten, die in der Regel jeweils nur aus einem Satz bestanden. Schlegel legitimierte das thesenhafte Schreiben auch mehrfach ausdrücklich. „Die Hauptsache […] bleibt doch immer, daß man etwas weiß, und daß man es sagt. Es beweisen oder gar erklären wollen ist in den meisten Fällen herzlich überflüssig“.70 Welches Wissen auch immer ein Autor unbegründeter Behauptungen mitteilte, ausschlaggebend war, dass diese Behauptungen das Publikum überraschten und belebten. Die Thesen mussten dafür nicht auf einen offenkundigen Selbstwiderspruch hinauslaufen. Der Verzicht auf demonstrative Mittel überließ die Erklärung dem Publikum und damit verzichtete auch der Autor auf einen Teil seiner Kontrolle der Rezeptionswirkung.71 Insofern lässt sich die unbegründete Behauptung als eine ironische Verknappung jenes Verfahrens ansehen, das laut Schlegel die Form der platonischen Dialoge auszeichne: Ein Satz erstaunt und endet, ohne die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten oder doch unabsehbaren Implikationen, die er enthält oder zu enthalten scheint, selbst auszusprechen, zu systematisieren und in einer conclusio zusammenzuführen. „[D]ie thetische Methode, wo die reinen Fakta der Reflexion […] wie Texte für das Studium oder die Symphilosophie da stehen, bleibt der gebildeten Naturphilosophie die angemessenste“.72 Der Verzicht auf Begründungen und Erläuterungen war hier nicht, wie bei Aristoteles, bei solchen Sätzen angemessen, die sich von selbst verstehen,73 sondern gerade bei solchen, über die man lange nachdenken und streiten konnte. Doch die Legitimierung unsystematischen Denkens ging noch weiter. Zweitens postulierte Schlegel die Legitimität des logischen Widerspruchs in philosophischen Texten, Sätzen und Begriffen. Konträr zur formalen Logik, deren Geltung von Aristoteles bis Kant unbezweifelbar zu sein schien,74 schrieb Schlegel: „Jeder Satz jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht,

70  Schlegel, Studienausgabe II, S. 112, Nr. 82. 71  Das beobachtet Hagemann an der Rhetorik Kierkegaards, die er damit in eine ganz ähnliche Querstellung zur antiken Rhetorik bringt, in der auch das rhetorische Programm Schlegels steht. Vgl. Hagemann, Tim: Antipersuasive und Aristotelische Rhetorik. In: Ueding, Gert/Kalivoda, Gregor (Hg.): Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung. Berlin: 2014. S. 715-723. 72  Schlegel, Studienausgabe II, S. 112, Nr. 82. 73  „Eines Beweises bedürfen jedoch alle solche [Sentenzen, CW], die etwas Paradoxes oder Strittiges aussagen. Die jedoch, die nichts Paradoxes enthalten, bleiben ohne Nachsatz“. Aristot. rhet. 1394b. Zit. nach Aristoteles: Rhetorik. S. 137. 74  Vgl. für eine Übersicht zur Transformation der formalen Logik um 1800 nochmals Schick: Contradictio est regula veri.

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ist unvollständig“.75 Die transzendentale Logik verlangte, einander widersprechende Vorstellungen oder Standpunkte gemeinsam in der Freiheit des Denkens zu fundieren. Das entsprechende Kompositionsverfahren reichte bis hinab auf die Ebene der Terminologie und der Definition. Man hat sich aber hier unter Terminologie nicht das zu denken, was man gewöhnlich darunter versteht. Es bezeichnet hier den Ausdruck solcher Begriffe, die gleichsam einen Wiederspruch [sic!] enthalten. Z.B. Intellektuale Anschauung, transcendentaler Standpunkt, objective Willkühr pp.76

Wie schon gesagt sollte diese Intensivierung der philosophischen Sprache im Vorfeld des Selbstdenkens ansetzen, indem es dieses Denken, das aufklärerische Appelle als vorhanden voraussetzten und zu nutzen forderten, zunächst einmal anregte, verstetigte und kräftigte. Tatsächlich schrieb Schlegel ausdrücklich, dass es seiner rhetorischen Philosophie auf die Provokation einer eigenständigen Reaktion ankommt: Für die philosophische Methode ist das Agile das Thätige und was zum Selbstdenken, zur Reaction reizt und nöthigt, so wichtig wie das absolut Individuelle in der Form der Poesie.77

Die ideale rhetorische Wirkung der Philosophie ist nach Schlegel die Anregung zum Selbstdenken. Dass Philosophie sogar zum Selbstdenken ‚nötigen‘ solle, lässt sich vielleicht vor dem Hintergrund des Gesagten so interpretieren: Im Fall der schriftlichen Mitteilung galt es, verschiedene Vorstellungen kollidieren zu lassen, damit die Rezipienten sich nicht in der Rolle von potentiellen Anhängern, sondern in der Rolle von einem polemischen Dialog beiwohnenden Individuen angesprochen fühlen, die ihre Position selbst finden müssen. Da allerdings auch für die monologische Mitteilung galt, dass sie sich an die vorhandenen Kräfte der Rezipienten anpassen müsse, um diese beleben zu können, sollte auch hier die Möglichkeit der Dosierung oder der Intensivierung bedacht werden. Interessant ist, dass die von Schlegel geforderte Anregungswirkung einer idealen Mitteilung sogar religiöse Dogmen rechtfertigte, die schon die aufklärerische Philosophie zurückgewiesen hatte – solange nur ihre Form auf etwas Unauflösliches hinwies: 75  Schlegel, Studienausgabe V, S.  27, Nr. 647. Oder: „Alles was sich nicht selbst annihilirt, ist nicht frei und nichts werth. –“ Ebd. S. 26, Nr. 628; „Alles was etwas werth ist, muß zugleich dieß sein und das Entgegengesetzte. –“ ebd. S. 26, Nr. 633. 76  Schlegel: KFSA XII, S. 19. 77  Schlegel, Studienausgabe V, S. 89, Nr. 410. (Herv. v. mir)

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‚Paradoxie ‘ in der Frühromantik Wollt Ihr Personalität Gottes, so bleibt doch wenigstens ja bei der alten Dreieinigkeit. Ihr habt da wenigstens eine Persönlichkeit, die auch keine und durchaus unbegreiflich ist, und in der Form dieser Unbegreiflichkeit liegt der Keim und Anstoß für den Geist, wenn er sich besinnt, die Idealität seines Gedankens gewahr zu werden. –78

7.5.2 Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit Friedrich Schlegels berühmter Essay Über die Unverständlichkeit (1800) lässt sich zur frühromantischen Theorie der Paradoxie in Beziehung setzen und zugleich als ein Beispiel für eine frühromantische Paradoxie lesen.79 Mit diesem Essay antwortete Schlegel auf den zeitgenössischen Vorwurf, das Athenäum und die darin enthaltenen Fragmente seien unverständlich. Die Antwort ist eine Apologie der Unverständlichkeit im Allgemeinen, also der Streit für die Akzeptanz eines kommunikativen Hindernisses, das noch größer ist als das der Paradoxie. Gemäß der frühromantischen Philosophie des zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit gestellten Menschen bringt Schlegel zwei miteinander zusammenhängende Argumente vor (Steigerung und Dosierung), die allerdings zwei verschiedene Bedeutungen von Unverständlichkeit betreffen: Da ist erstens „Unverständlichkeit“ als Ausdruck höchster Progression eines Denkens, das sozusagen über die schlechte Unverständlichkeit des ungeschulten Denkens längst hinaus ist. Unverständlich heißt hier eine Äußerung, die nicht nur den Zeitgenossen neu und ungewöhnlich erscheint, sondern die – zum Beispiel durch Ironie, logische Widersprüchlichkeit, unbegründete Behauptungen oder durch den fragmentarischen Abbruch – die unabgeschlossene und unabschließbare Tätigkeit der denkenden Person mit zum Ausdruck bringt.80 Der Begriff der Unverständlichkeit ist hier insofern die deutsche Entsprechung nicht für den Begriff der Paradoxie generell, wohl aber für dessen gesteigerte, intensivierte Variante, welche die Frühromantik im Bereich der öffentlichen Kommunikation legitimierte. Dahinter stand auch die strategische Zielsetzung, die Erwartung völliger Verständlichkeit, der die Passivität der Rezipienten entspricht, mithilfe unverständlicher Publikationen derart zu enttäuschen, dass sich eine Akzeptanz des fragmentarisch-unsystematischen und essayistischen 78  Schlegel, Studienausgabe V, S. 70, Nr. 670. 79  Vgl. für eine rhetoriktheoretische Würdigung dieses Essays Schnyder: Die Magie der Rhetorik. S. 113-119. 80  Siehe dazu im Essay den schon zitierten und (in 4.3.) interpretierten Satz, „daß [alle höchsten Wahrheiten] nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können“, Schlegel, Friedrich: Kritische Schriften und Fragmente. (Studienausgabe II). Hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner. Schöningh: Paderborn et al. 1988. S. 237. – Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Philosophierens einstellt, weil dies das Selbstdenken anrege. Auf die Beschwerden über die Unverständlichkeit des Athenäums antwortete Schlegel: Das Beste dürfte wohl auch hier sein, es immer ärger zu machen; wenn das Ärgernis die größte Höhe erreicht hat, so reißt es und verschwindet, und kann das Verstehen dann sogleich seinen Anfang nehmen. Noch sind wir nicht weit genug mit dem Anstoßgeben gekommen: aber was nicht ist kann noch werden. (S. 238)

Die „Unverständlichkeit“ rechtfertigte Schlegel hier aber auch noch in einem zweiten Sinne. Da die Kräfte des Menschen, Wahrheit auszuhalten, bei allem Streben beschränkt sind, gebe es immer etwas, was „im Dunkeln gelassen werden muss“ (S.  240). Ohne freilich die gleitende Bedeutung des Begriffs offenzulegen, handelt der Essay zuletzt offenbar nicht mehr von einer unklaren Art und Weise der Äußerung, sondern von der Unverständlichkeit als einem beschränkten Wissen bzw. Denken. Gewisse Dinge sollen Latenzschutz genießen, damit die Nationen, Familien und Personen nicht stets auf ihre untilgbaren Irrtümer und Vorurteile hingewiesen werden und ihnen so ihre Handlungsfähigkeit und „innere Zufriedenheit“ (S. 240) geraubt wird: „Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde.“ (ebd.) Wie die Fragmente, die Schlegel als freie Form charakterisierte, ist auch dieser Essay ein Beispiel für die frühromantische Überbietung der Paradoxie durch deren Einbettung in eine fragmentarische Mitteilung. Diese soll idealerweise auf etwas ‚Geheimnisvolles‘ hinweisen und so ‚Anstoß geben‘, also die Selbstaktivität der Rezipienten erzwingen. Der Essay knüpft eingangs, darin durchaus verständlich, kritisch an die im Bildungsbürgertum populäre Philosophie Kants an, indem er danach fragt, „ob [die Mitteilung der Ideen] überhaupt möglich sei“ (S.  235). Zugleich markiert er die antikonsensuale Stoßrichtung seiner Antwort: „Der gesunde Menschenverstand“, heißt es da, „dürfte leicht auf die Vermutung geraten können, der Grund des Unverständlichen liege im Unverstand.“ (ebd.) Damit bestreitet Schlegel nicht den Wert einer logischen und sprachlich klaren Gedankenverknüpfung, den er vielmehr voraussetzt, sondern die Möglichkeit, mit diesem beschränkten Mittel die Wahrheit aussprechen zu können, die er für unendlich hielt. In diesem Sinne ironisiert Schlegel die Methode der Klassifikation (S. 239) und spricht den Leser insgesamt als jemanden an, dem man nicht ganz verständliche, weil logisch widersprüchliche Gedanken zumuten kann und soll wie diesen: „Noch viel verborgne Unverständlichkeit wird ausbrechen müssen. Aber auch der Verstand wird seine Allmacht zeigen“ (S. 241). Das Changieren zwischen verständlich und unverständlich macht den Erkenntnisfortschritt, den an der Wahrheit

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orientierten und deshalb unabschließbaren Verstehensprozess aus. Am Ende des Essays wird die frühromantische Abwendung vom aufklärerischen Formideal der widerspruchsfreien und konsentierbaren Paradoxie noch einmal besonders deutlich. Anstelle einer Konklusion endet er lyrisch, mit einem an Goethes „Beherzigung“ angelehnten Gedicht über den Wert der Individualität (S.  241f.). Im Begriff der Unverständlichkeit kommt das frühromantische Bedürfnis zum Ausdruck, die Paradoxie als neueste und alsbald weithin akzeptierte Lehrmeinung zu problematisieren. – Novalis schrieb in diesem Sinne vom ‚höchsten Paradoxon.‘ 7.5.3 Utopische Intensivierung: Novalis’ höchstes Paradoxon Wie die freie Form laut Schlegel ihre anspornende Aufgabe auch auf einem für seine Begriffe niedrigen Diskussionsniveau (‚Personalität Gottes‘) erfüllte, so schien sie in intensivierter Form sogar noch die idealistischen Nachfolger und Kritiker Kants selbst aus der Ruhe und damit noch näher zu sich selbst bringen zu können. Es lag ganz auf der Linie der Verdichtung der ‚freien Form‘ durch ihre Implementierung in einzelnen Sätzen und Begriffen, wenn Novalis im Vokabular der gesteigerten Paradoxie formulierte: Beschwörung des höchsten Guts – Die indirekte, von selbst eintretende Folge der vollendeten Philosophie oder des herrschenden Philosophism, also ihr indirekter Zweck, ist das höchste Gut, wozu auch höchste Schönheit usw. gehört. Im vollendeten Körper oder Organ wird die hohe Gestalt und Bewegung, die schöne Seele der Menschheit von selbst erscheinen. Indirekte Konstruktion und Beschwörung des höchsten Guts. Sollte das höchste Prinzip das höchste Paradoxon in seiner Aufgabe enthalten? Ein Satz sein, der schlechterdings keinen Frieden ließe, der immer anzöge und abstieße, immer von neuem unverständlich würde, sooft man ihn auch schon verstanden hätte? Der unsre Tätigkeit unaufhörlich rege machte, ohne sie je zu ermüden, ohne je gewohnt zu werden? Nach alten mystischen Sagen ist Gott für die Geister etwas Ähnliches. (Magische Philosophie)81

Wie man sieht, folgte auch Novalis Kant darin, dass man potentielles neues Wissen (ein ‚Paradoxon‘) nicht unterdrücken dürfe, sondern sogar im Gegenteil zur Offenheit gegenüber dem Neuen aufrufen solle. Doch die Notiz von Novalis zeigt auch, dass das Selbstdenken sein Ziel nicht in der Erkenntnis einer vom Menschen unabhängigen Wirklichkeit hatte, sondern gerade darauf ging, die Kraft und die Wirksamkeit des Menschen selbst zu steigern. Dabei zeigt die theologische Semantik (‚Gott … etwas Ähnliches‘) an, dass Novalis, 81  Novalis: Das philosophisch-theoretische Werk. (Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs II). Hg. v. Hans-Joachim Mähl. München: 1978. S. 314, Nr. 9.

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der wie Schlegel die spezifische Anregungswirkung von Gott als Gegenstand des Glaubens schätzte, die ideale Praxis antikonsensualer Rede (als die Realisierung des ‚höchsten Paradoxons‘) als eine gottähnliche Leistung begriff. So ist Schlegels Erweckung der ‚Sehnsucht nach dem Unendlichen‘ mithilfe von dauerhaften paradoxen Interventionen hier poetischer in das Bild eines rhetorischen Schöpfungswunders gebannt: Der Mensch selbst brächte etwas Gottähnliches hervor, wenn er die Offenheit gegenüber neuem Wissen durch eine einmalige schriftstellerische Leistung für immer zu erhalten und zu befördern wüsste.82 Es müsste ihm dafür das Unmögliche gelingen, gewissermaßen ein ewiges Gespräch, das sich bei keinem Satz ‚beruhigt‘, gleichwohl in einem Satz verdichtet auszusprechen.83 Als ob es ein Gott wäre, funktionierte das ‚höchste Paradoxon‘ wie ein Symbol der Menschheit, weil stets alle darin neue Anregung und somit ‚das höchste Gut‘ als unerschöpflichen Ausgleich zur bürgerlichen Enge von Beruf und Haushalt fänden. In jedem Fall wurde der Begriff der Paradoxie (resp. Paradoxon) damit vielleicht erstmals im unmittelbaren Zusammenhang der Problematisierung dessen definiert, was bisher zu den Voraussetzungen dieses Begriffs gehörte: nämlich einer logisch-konsistenten, begrifflich klaren und eindeutig verständlichen Form des Urteils. Eine solche Form schien nicht dazu geeignet zu sein, ein passives Publikum zur Selbstaktivität anzuregen. Auch ein ‚gewagtes‘ Urteil konnte ‚gewohnt‘ werden, wie ein mutiger Wahrheitskämpfer zu einer bei Allen anerkannten Autorität werden konnte. Die frühromantische Anthropologie der unruhigen, weil das Endliche und das Unendliche umfassenden Natur des Menschen implizierte ein dieser Natur entsprechendes rhetorisches Programm, in dem die Wertschätzung der Paradoxie als abweichender Stellungnahme zu ihrem bisherigen Höhepunkt gelangte, da jede Paradoxie durch etwas noch Besseres (hier: ‚höchstes Paradoxon‘) überboten werden konnte, was das Publikum noch zuverlässiger und stärker zur Selbstaktivität reizte. 82  Vgl. für eine ähnliche Stelle bei Schlegel, die ebenso auf die Herstellung obskurer Reizmittel für den Geist setzte: „Es ist eine hohe und vielleicht lezte Stufe der Geistesbildung, sich die Sphäre der Unverständlichkeit und Confusion selbst zu setzen. Das Verstehen des Chaos besteht im Anerkennen –“ Schlegel, Studienausgabe V, S. 67, Nr. 396. 83  Diese Deutung kombiniert das zitierte Fragment mit diesem: „Der vollendete Mensch muß gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben – ihm müssen beständig ein weiter Kreis und mannichfache Begebenheiten gegenwärtig seyn. Hier bildet sich dann die wahre, großartige Gegenwart des Geistes – die den Menschen zum eigentlichen Weltbürger macht und ihn in jedem Augenblicke seines Lebens durch die wohlthätigsten Associationen reizt, stärkt und in die helle Stimmung einer besonnenen Thätigkeit versezt“. Novalis: Das philosophisch-theoretische Werk. (Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs II). S. 756f., Nr. 34.

Kapitel 8

Zusammenfassung: Vorschlag einer Heuristik Will man verstehen, was „paradoxe Rede“ ist, muss man über die tradierte, die etymologische Wortbedeutung wiedergebende Definition hinausgehen, dass sie gegen allgemeine Meinungen gerichtet sei – so als wüsste man schon, was es heißt und wozu es nötig ist, allgemeinen Meinungen zu widersprechen. Diese Definition verstellt den Blick darauf, dass in soziokultureller Perspektive immer schon zur Diskussion steht, wie die Kategorien allgemeine und abweichende Meinung auszulegen und zu bewerten sind. Deshalb sollte die Forschung das rhetorische Phänomen der Paradoxie auch nicht mit einer bestimmten weltanschaulichen Überzeugung verknüpfen, als ob diese Überzeugung dem Konzept der Paradoxie immer und überall zugrunde läge, obwohl sie es nur in bestimmten Zeiten oder bestimmten Gruppen prägt.1 Der kulturwissenschaftliche Blick, der unterschiedliche Deutungen und Bewertungen desselben Phänomens registriert, vergleicht und zueinander in Beziehung setzt, ordnet einzelne Paradoxien anhand der ihnen jeweils zugrunde liegenden Deutungen und Bewertungen verschiedenen Typen des Redens gegen allgemeine Meinungen zu, die nebeneinander bestehen, miteinander konkurrieren und historisch aufeinander folgen können. In dieser Perspektive erscheinen die sieben Typen „paradoxer“ Rede, die Gegenstand dieses Buches waren, als verschiedene soziale Praktiken, das heißt hier als Handlungen, die unterschiedlich situiert sind und auf unterschiedlichem Wissen basieren. Praktiken antikonsensualer Rede reagieren, genauer gesagt, vor dem Hintergrund anthropologischen und rhetorisch-sprachbezogenen Wissens auf eine von ihnen gedeutete sozialgeschichtliche Situation. Diese drei Gesichtspunkte sollen keine Theorie der „paradoxen“ Rede bilden. Vielmehr seien sie als analytisches Instrumentarium zur Erforschung von Praktiken antikonsensualer Rede vorgeschlagen.

1  „Die Offenheit und die Dynamik, das Verblüffende und das Subversive – eben die Grundelemente des rhetorischen Paradoxons – laufen allzu leicht Gefahr, sich in der Enge neuer Kategorisierungen zu verlieren“ Plett: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. S. 102. Ein solcher Vorbehalt erschwert die Analyse, weil er ein bestimmtes Paradoxie-Konzept als allgemein gültig voraussetzt. Die Paradoxie als Statthalter der Offenheit, diese Definition passt mit dem Gegnerbild der Enge eher zur Renaissance-Rhetorik, an der sie entwickelt wurde, oder zur historisch gleichzeitigen Postmoderne-Diskussion als etwa zur Rhetorik eines Aristoteles oder Cicero.

© Wilhelm Fink Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783846764923_009

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Zusammenfassung: Vorschlag einer Heuristik

Nach dieser Heuristik gehört zu jeder Praxis „paradoxer“ Rede eine eigene sozialgeschichtliche Situation im weiten Sinne, die ihren Sitz im Leben ausmacht und in der sie sich für die Gesellschaft engagiert. An einige Gegebenheiten wie zum Beispiel politische Strukturen oder kulturspezifische Normen mag eine solche Praxis derart angepasst sein, dass sie sie nicht infrage stellt. Andere gesellschaftliche Umstände identifiziert sie jedoch gerade als zentrales Problem, das es zu beseitigen oder zu bewältigen gelte. Die Beobachtungen dieses Buches, die zu dieser These führen, seien hier knapp zusammengefasst: − Die sophistische Debattierkunst (Antilogie), die unter anderem in paradoxen Schaureden demonstriert wurde, lässt sich als Antwort auf einen diagnostizierten Bedarf an rhetorischer Durchsetzungsfähigkeit der Bürger in der noch jungen Demokratie Athens interpretieren. − Platon beharrte wohl gerade in Reaktion auf die sophistische Bewegung auf einem qualitativen Unterschied zwischen dem Wahrsprechen (Parrhesia), wie es die Figur des Sokrates verkörperte, und der beliebigen Rede, die sich in opportunistischer Weise auf die Redefreiheit berief. − Cicero schloss an diese philosophische Tradition an. Seine Aktualisierung der stoischen Ethik in den Paradoxa Stoicorum muss jedoch als Versuch der Wiederherstellung der res publica und insofern als Reaktion auf ein Ereignis seiner eigenen Zeit begriffen werden: die Krise der Römischen Republik. − Lukian lebte unter den politischen Bedingungen der Monarchie, sodass sich ihm als Angehöriger der Oberschicht die Aufgabe stellte, eine entsprechende rhetorische Bildung zur Schau zu stellen, die sogar die gegenwärtige alltägliche Erfahrungswelt ästhetisch reizvoll darzustellen vermochte. − Vor dem Hintergrund des vielfältigen sozialen Wandels der frühen Neuzeit (Frühkapitalismus, Urbanisierung, Buchdruck und Konfessionsstreitigkeit) nahm Erasmus für ihn zu enge, besonders scholastische Sichtweisen auf die komplexe, ‚labyrinthartige‘ Welt zum Anlass, um ein moderneres Bildungsangebot zur Erneuerung des Christentums zu machen. − Die aufklärerische Praxis antikonsensualer Rede reagierte in einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft auf den Bedeutungs- und Legitimationsverlust eines als überzeitlich angesehenen Wissens, das die produktive Natur des Menschen einenge und verletze, nicht mit inhaltlichen, sondern mit formalen Regeln des öffentlichen Vernunftgebrauchs. − Und auch die Frühromantiker reagierten auf eine situative Schwierigkeit, da sie insbesondere der von ihr beklagten bürgerlichen Enge und Zersplitterung der Lebensverhältnisse entgegenarbeiten wollten (Haushalt und Beruf), ohne jedoch zur traditionalistischen und religiösen Sinnstiftung der voraufklärerischen Gesellschaft zurückzukehren.

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„Paradoxe“ Rede als soziale Praxis zu begreifen, heißt insofern, sie als bewussten Versuch zur Lösung eines wahrgenommenen Problems der Gesellschaft zu verstehen. Wie wohl jede Reaktion auf gesellschaftliche Umstände nicht von diesen selbst vollständig determiniert ist, sondern je nach dem Vorwissen der Akteure variieren kann, so unterscheidet sich auch eine Praxis antikonsensualer Rede darüber hinaus aufgrund geteilter Überzeugungen jener Menschen, die sie ausüben. Welche konkrete Schwierigkeit sie sehen und angehen und welche Art der Lösung sie bevorzugen, das hängt genauer davon ab, wie sie sich selbst mindestens zwei grundlegende und eng miteinander zusammenhängende Arten von Fragen beantworten. Die erste Reihe von Fragen lautet: Was ist der Mensch? Was sind seine wichtigsten Aufgaben, Bedürfnisse und Ziele, um ein gelungenes Leben zu führen? Kann er in den Besitz der Wahrheit gelangen oder nicht? Wenn ja, was heißt, die ‚Wirklichkeit‘ zu erkennen? Wenn nein, wie wird er mit seinem Mangel an Wahrheit fertig? Die entsprechenden Beobachtungen dieses Buches lauten in starker Vereinfachung: − Die paradoxen Schaureden der klassischen Sophistik waren davon geprägt, dass die Sophisten den Menschen nicht im Besitz der Wahrheit sahen, sondern ihn als ein auf Bedrohungen reagierendes Wesen verstanden, das sich bei der Durchsetzung seiner Interessen zur Not mit der Fähigkeit überzeugender Rede behelfen müsse. − Dem sokratischen Wahrsprechen lag demgegenüber das Votum für eine realistische Metaphysik zugrunde, der zufolge sich die Wahrheit von der Natur selbst her zeige und es naturgemäß nicht auf gesellschaftlichen Erfolg, sondern auf ein wahres Leben in Sorge um sich selbst und die anderen ankomme. − Dass Ciceros Parteinahme für die stoischen Paradoxien nicht den Charakter des direkten Aussprechens der Wahrheit, sondern einen für ihn charakteristischen Gestus der traditionalistischen Plausibilisierung hatte, hängt unter anderem damit zusammen, dass er keine realistische, sondern eine konjekturale Metaphysik annahm, der zufolge die Übereinstimmung der Weisen, der alten Römer oder aller Völker anzeige, was die Natur des Menschen ausmacht. − Vielleicht kann man ferner Lukians paradoxe Schaureden als einen möglichen Ausdruck pyrrhonischer Skepsis betrachten, gemäß der sich der Mensch auf keine Ideologie festlegen, sondern sich des Urteils enthalten solle, um stattdessen überkommene Werte und Praktiken fortzusetzen, sich nicht den vielfältigen Erscheinungen des alltäglichen Lebens zu verschließen und gegebene Bedürfnisse wie die nach klassizistischer Bildung und unterhaltsamer Rhetorik zu befriedigen.

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− Der kluge Umgang mit „paradoxer“ Rede bei Erasmus, der sowohl die moralische Kritik als auch die Anerkennung von Fehlern umfasste, basierte auf dem doppelten Maßstab des humanistischen Menschenbilds: So gehöre es einerseits zum Menschen dazu, auf den falschen Schein der Dinge hereinzufallen, weil er zwischen Tier und Gott, zwischen Körper und Geist gestellt ist, doch andererseits solle er stets wachsam sein, einen zweiten Blick auf die Dinge werfen und so durch die Vermeidung möglichst vieler Fehler ‚Geist werden‘. − Die aufklärerische Praxis antikonsensualer Rede, der zufolge das potentiell paradoxe Selbstdenken und die allgemeine Meinung einander respektieren und informieren müssen, fasste „paradoxe Rede“ erstmals nicht mehr anhand von Exempeln, sondern rein theoretisch auf. Dabei ließ sie die kosmologische Bestimmung des Menschen hinter sich und appellierte stattdessen an die Eigenständigkeit des Individuums. Nichtsdestotrotz wird diese Praxis durch die Überzeugung einer das ideale Dasein des Menschen bestimmenden Unruhe geregelt, nämlich dass der Mensch sich als selbständiges Individuum behaupten und sich zugleich nur als einen Teil der Gesellschaft begreifen soll. − Diesen bewussten Widerspruch spitzten die Frühromantiker derart zu, dass sie den Menschen zwischen das Endliche und das Unendliche gestellt sahen. Daher begannen sie, „paradoxe“ Rede sowohl als unendlich steigerbar zu verstehen, weil jedes Resultat des Denkens unendlich perfektibel sei, als auch pragmatisch zu limitierten, da für den Menschen als endliches Wesen nur ein gewisses Maß an Kritik bzw. Wahrheit verkraftbar und daher Anerkennung – wie in gewisser Weise schon bei Erasmus – die Bedingung von Kritik sei. Die zweite Reihe derjenigen Fragen, die alle untersuchten Modellfälle paradoxer Rede implizit oder explizit beantworten, lautet: Worin besteht die Rolle eines rhetorischen Könners? Welcher Appellationsinstanz sollte sich derjenige verpflichtet fühlen, der sich selbst mithilfe der Sprache behaupten will? Welche rhetorische Wirkung will man mit dem erzielen, was man „paradoxe“ Rede nennt, das heißt, welche ideale Reaktion erwartet man dabei von den Rezipienten? Welche sprachliche Form sollte man also einer solchen Rede geben, damit sie legitim ist? Im Hinblick auf das sprachliche Hintergrundwissen der untersuchten Praktiken antikonsensualer Rede lässt sich Folgendes rekapitulieren: − Das rhetorische Können, das Gorgias in seinen paradoxen Schaureden demonstrierte, bestand darin, ein starkes Argument, das einen selbst angreift, mit einer Gegenrede niederschmettern zu können. Der Erfolg einer solchen Gegenrede bemaß sich nicht an ihrer Wahrheit, an die sie nur der

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logisch-rationalen Form halber zu appellieren hatte, sondern an der erfolgreichen Überzeugung der Adressaten – weshalb diese Art der Rede eben auch in der spielerischen Übernahme verschiedener Sprecherrollen demonstriert werden konnte. − Der platonische Sokrates hingegen war tatsächlich der Wahrheit gewissermaßen als seiner einzigen, wahren Rolle verpflichtet. Der Erfolg seines freimütigen Wahrsprechens hing daher nicht davon ab, ob das Publikum ihn als denjenigen betrachtete, der die Wahrheit sagt. Dennoch ging sein pragmatisches Ziel dahin, der angenommenen Selbstevidenz der Wahrheit durch die Kunst der Dialogführung und, wenn man trotzdem nicht verstehen wollte, sogar in drastischen Mythen den Weg zu ebnen. So machte er die Bürger Athens, Unruhe stiftend wie eine Stechfliege, auf ihre Irrtümer aufmerksam. − Cicero ging davon aus, dass sich die Selbstevidenz der Wahrheit sprachlich in geteilten, bewährten Meinungen und keineswegs in „paradoxer“ Rede manifestiere. In dieser Annahme eines mit Recht an das Bewährte glaubenden Publikums hatte sich sein idealer Redner (wie auch der des Aristoteles) besonders dadurch zu beweisen, dass er sich je nach Anlass und Publikum etwa als Gelehrter, Politiker oder Bürger auf entsprechende miteinander übereinstimmende Autoritäten zu berufen wusste. Dabei hatte er freilich normativ zwischen naturgemäßen Meinungen (locus communis, vox populi u.ä.) und widernatürlichen Meinungen (error saeculi, opinio vulgi etc.) zu unterscheiden. − Bei Lukian hingegen bestand rhetorische Könnerschaft in der Demonstration einer ästhetischen, das heißt vor allem Annehmlichkeit bewirkenden Redemacht. Dabei mag die besondere Herausforderung darin bestanden haben, dies nach den Maßstäben des eigenen ästhetischen Anspruchs zu erreichen, das heißt den Geschmack nicht des ungebildeten oder bloß sensationssüchtigen Teils des Publikums, sondern den der Kenner zu treffen. − Von wiederum anderer Art war die rhetorische Könnerschaft (humanistische Eloquenz), von der Erasmus im Lob der Torheit eine Probe gab. Moraltheologische Voraussetzungen boten dem christlich-humanistischen Redner nicht nur neue Argumente für das Reden gegen allgemeine Meinungen, sondern sie gaben ihm auch eine ambivalente Rolle, da er im Hinblick auf ausgewählte Adressaten (Ehepartner, Freunde, das einfache Volk, gefährliche Machthaber) Umgänglichkeit und Nachsicht über die eigene Meinung zu stellen hatte. Paradoxe Rede, die sich glaubhaft auf antike Quellen berufen konnte, brauchte jedoch wegen der humanistisch gesetzten Autorität vielfältiger antiker Quellen keinen Skrupel zu zeigen, von der gegenwärtig angeblich herrschenden Meinung abzuweichen. Als paradoxe

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Umdeutung sollte sie vielmehr noch deutlicher gemacht werden (amplificatio), ja durfte sie sogar mithilfe provokanter Wortspiele den Anschein des christlich Unangemessenen erwecken – damit auch das Publikum in seiner idealen Rolle angesprochen wurde, dem Anschein der Dinge allgemein zu misstrauen und insbesondere Texte immer auch sprachanalytisch zu lesen. − Im Unterschied zu allen vorher erwähnten philosophischen Praktiken antikonsensualer Rede appellierte die aufklärerische nicht mehr an die Evidenz der „Dinge“ oder autoritativer Meinungen. Sie appellierte vielmehr an ein abstraktes Urteilsvermögen. Dessen zweckmäßigen Gebrauch kann man – neben der Anwendung der Gesetze der Logik – als einen bewusst ausgehaltenen Rollenkonflikt beschreiben, in dem jeder Mensch selbstverantwortlich denkt und zugleich am Urteil der anderen interessiert ist. Resultat dieses Widerstreits war idealerweise eine logisch konsistente kritisch-gelehrte Schrift, die ihrerseits jedoch nicht vom Publikum erwartete, dass es sich von der Wahrheit überzeugen lassen solle, sondern dass es sich um den gleichen Rollenkonflikt bemühen möge: sowohl selbständig zu denken als auch an Horizonterweiterung durch die Meinungen anderer interessiert zu sein. − Dem bewusst unerreichbaren Zweck der Frühromantiker, dass man das bestehende Denken einerseits anerkennen möge, es andererseits aber im Zusammenhang von unbestimmter, unendlicher Horizonterweiterung zu sehen lerne, dienten mindestens zwei Formen der Kommunikation: die freie Geselligkeit, in der sich jeder im gemeinsamen Horizont der jeweils Anwesenden bewegen und diesen, soweit sozial verträglich, in Richtung des Dissenses aller überschreiten sollte, sowie schriftstellerische Reizmittel (dialogische Schriften und fragmentarische Sentenzen), die zwar kritisch an bestimmte Themen von gegenwärtig allgemeinem Interesse anschlossen, dafür aber keine andere, alternative logisch konsistente Ansicht anboten. Dieses analytische Instrumentarium könnte als Ausgangspunkt weiterer Forschung hilfreich sein. Es lenkt den Blick tendenziell von der Frage ab, welchen inhaltlichen Punkt eine paradoxe Rede machen will. Es schärft stattdessen den Blick für den Handlungscharakter einer solchen Rede und die impliziten Annahmen dieser Handlung darüber, anhand welcher Regeln und im Hinblick auf welche allgemeinen Ziele man an ihr teilnehmen kann. Indem es das Hintergrundwissen erfragt, das diesen Arten sprachlicher Abweichung zugrunde liegt, kann es außerdem dabei helfen zu verstehen, dass der Gegensatz von Konformität und Abweichung oder zumindest der von Paradoxie und Konsens zu eindimensional für eine Analyse kultureller Phänomene ist – da diese Phänomene oder doch die in ihnen agierenden Menschen selbst jenem Gegensatz verschiedene Bedeutungen geben. Dadurch trägt die vorgestellte

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Heuristik auch dem Umstand Rechnung, dass die Reflexionen über zeit- und situationsgemäße Praktiken antikonsensualer Rede seit 1800 natürlich nicht aufgehört haben und gerade in der jüngeren Vergangenheit keine Seltenheit sind. So wäre für weitergehende Studien zum Thema nicht nur an das eingangs erwähnte Werk Søren Kierkegaards zu denken,2 der mit dem Begriff der Paradoxie eine gesellschaftlich absolut unvermittelbare Wahrheit bezeichnet, sondern auch an den durch Karl Marx und Friedrich Nietzsche geprägten Diskurs der Ideologiekritik. Wenn man sagen kann, dass dieser Diskurs, das aufklärerische Ideal der souveränen Selbstbestimmung des Subjekts teilweise problematisierend, allgemeine Meinungen auf Machtverhältnisse zurückführt, dann geraten damit jene Widerstände gegen antikonsensuale Rede in den Fokus, die den rhetorischen Verantwortungsbereich im engeren Sinne übersteigen, ähnlich wie das System den Akteur. Es wäre zu untersuchen, ob und inwiefern solche vor allem sozialphilosophische Reflexion auf abstrakte Herrschaftsverhältnisse und soziokulturelle Beharrungskräfte zu veränderten Techniken und Strategien antikonsensualer Rede führt, die von gesteigerter Komplexität und Negativität vielleicht ebenso wie von neuen Stereotypen und polemischen Verallgemeinerungen zeugen können.3 Ein anderer Ansatz schließlich könnte dabei helfen, die Sicht auf die historische Bedeutung des Wortes Paradoxie zu differenzieren. So wäre einzuräumen, dass etwa korpuslinguistische Suchanfragen zum Adjektiv ‚paradox‘ (im Unterschied zu einer Suchanfrage zum Substantiv) auch in der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart noch relativ häufig auf Sprachmuster der Äußerung abweichender Meinungen hinweisen. In einem ersten Schritt fällt zum Beispiel auf, dass Varianten des Sprachmusters „Es klingt/scheint paradox, aber  …“ und „Es ist paradox: …“ zu den häufigsten Kookkurrenzen des Adjektivs ‚paradox‘ im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) zählen, dass also Aussagen oder Sachverhalte als paradox beschrieben werden.4 Sodann lassen sich in diesem Gebrauch verschiedene Bedeutungen des Adjektivs unterscheiden. Schon bei einer Durchsicht von etwa hundert solcher Kookkurrenzen fällt auf, dass ‚paradox‘ – wie es auch der aktuelle Duden unterscheidet – in einigen Fällen ‚unsinnig‘, ‚verkehrt‘, in anderen Fällen ‚alogisch,‘, ‚widersprüchlich‘ und in wieder anderen Fällen 2  Vgl. dazu schon Schilder: Zur Begriffsgeschichte des ,Paradoxon‘. 3   Vgl. für mögliche Referenzen nachaufklärerischer Philosophie und Rhetorik Foucault, Michel: Was ist Aufklärung? In: Erdmann, Eva/Forst, Rainer/Honneth, Axel (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt/Main: 1990. S. 35-54; sowie Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich: 2007. 4  Vgl. https://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora.html (abgerufen am 15.04.2020).

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tatsächlich immer noch ‚unglaubhaft‘, ‚abwegig‘ bedeutet. Der ursprüngliche, rhetorische Sinn des Wortes ‚paradox‘ ist also, zumindest in der zuletzt genannten Bedeutungsvariante des Adjektivs, keineswegs völlig ausgestorben. Hier könnte es aufschlussreich sein, in den Fällen mit dieser pragmatischen Bedeutung wiederum nach thematischen Mustern paradoxer Umdeutungen zu fragen. So begegnen zum Beispiel häufig Aussagen vom Typ: Es klingt paradox, aber X ist besser / schlechter als sein Ruf. Ähnlich fällt das Sprachmuster beim Thema Not und Mangel aus: Es klingt paradox, aber gerade die Not oder der Mangel X gerieten der Person oder der Gruppe Y zum Vorteil. Solche Fälle sind nicht allein wegen der unterschiedlichen in ihnen geäußerten Inhalte interessant, sondern auch, weil sie die Präsenz und die Produktivität von antikonsensualer Rede in weiten Teilen der gehobenen Schriftsprache des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart am Beispiel eines bestimmten Sprachmusters vor Augen führen.

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