Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat: Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428526390, 9783428126392

Am 4. Oktober 2008 hat Friedrich Eberhard Schnapp sein 70. Lebensjahr vollendet. Die zu diesem Geburtstag erschienene Fe

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German Pages 969 Year 2008

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Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat: Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428526390, 9783428126392

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1109

Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Hermann Butzer Markus Kaltenborn Wolfgang Meyer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1109

Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Hermann Butzer Markus Kaltenborn Wolfgang Meyer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12639-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Zum Geleit Freunde, Kollegen und Schüler widmen diese Festschrift Friedrich Schnapp zum 70. Geburtstag. Sie enthält Beiträge, in denen sich seine wissenschaftlichen Interessen und sein langjähriges Wirken als Forscher, Hochschullehrer und Richter im Nebenamt widerspiegeln. Friedrich Eberhard Schnapp wurde am 4. Oktober 1938 in Dortmund als Sohn eines Bergmanns geboren. Nach dem Besuch des Pestalozzi-Gymnasiums in Herne, unterbrochen durch ein Austauschjahr in East Syracuse/USA, für das er ein Stipendium des American Field Service erhielt, entschied er sich für das Studium der Rechtswissenschaften. Dieses begann und beendete Friedrich Schnapp in Bonn, zwischenzeitlich verbrachte er zwei Studiensemester in München. Nach der ersten juristischen Staatsprüfung im Jahre 1963 kehrte er dann zur Referendarzeit in das Ruhrgebiet zurück, legte 1967 das Assessorexamen ab und promovierte 1969 mit der Arbeit „Die Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht“. Anschließend habilitierte er sich unter der Betreuung von Wilhelm Wertenbruch mit der Schrift „Amtsrecht und Beamtenrecht. Eine Untersuchung über normative Strukturen des staatlichen Innenbereichs“. 1975 wurde Friedrich Schnapp Professor für Öffentliches Recht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 1984 nach Bochum zurückberufen, bekleidete er bis zu seiner Emeritierung am 31. März 2004 an der Ruhr-Universität den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht mit besonderer Berücksichtigung des Sozialrechts. Zugleich war Schnapp seit 1984 Mitglied des Instituts für Sozialrecht, lange Jahre als Geschäftsführender Direktor. Wer den Zugang zum Denken und zu den wissenschaftlichen Überzeugungen Friedrich Schnapps sucht, kann gut bei seiner Bochumer Antrittsvorlesung vom 12. Juni 1985 zur Toleranzidee ansetzen. Schnapp hat hier näher ausgeführt, dass Toleranz vom Andersmeinenden Erklärung erwarte, nicht aber ständige Rechtfertigung. Toleranz nehme den Nächsten also als Menschen ernst; sie verstehe ihn als verantwortliches Individuum in einer Gemeinschaft – und nicht als ein zu bearbeitendes Objekt. Toleranz sei ferner auch ein rationales Prinzip: Zunächst sei es die Erkenntnis und die geschichtlich erhärtete Erfahrung, dass Menschen nur erträglich miteinander leben können, wenn sie sich gegenseitig Raum geben. Wert legt Schnapp dabei auf die Feststellung, dass Toleranz nicht etwa eine Haltung gegenüber Ideen ist, sondern eine Haltung gegenüber Menschen, die gewisse Ideen vertreten. Rational sei Toleranz aber auch deshalb, weil sie Ausdruck der Einsicht in unsere Unzulänglichkeit bei der Wahrheitssu-

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Zum Geleit

che sei, das Eingeständnis menschlicher Irrtumsfähigkeit. Solche Grundüberzeugungen machen Friedrich Schnapp zum Anhänger eines kritischen Rationalismus im Sinne Karl R. Poppers oder Hans Alberts. Er begreift sich als „dogmatischen Juristen“ des positiven Rechts. Deswegen legt er größten Wert auf exakte Begriffsbildungen, auf juristische Logik sowie auf Methodenstrenge und -ehrlichkeit bei der Gesetzesauslegung. Schnapp will das Recht mit rationaler Überzeugungskraft aus dem Gesetz erklären und auf diese Weise die Antwort auf die jeweilige Rechtsfrage geben, wobei diese Antwort für ihn zwar stets den jeweils derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zeigt, aber deshalb doch nicht absolut wahr, sondern prinzipiell vorläufig und irrtumsanfällig ist. Dieses Grundverständnis prägt Friedrich Schnapps gesamtes Œuvre. In erster Linie zu nennen sind hier seine Arbeiten zum Organisationsrecht – eine staats- und verwaltungsrechtliche Querschnittsmaterie, zu deren wissenschaftlicher Durchdringung er nicht nur in Bezug auf ihre theoretischen Grundlagen maßgeblich beigetragen hat, sondern die auch im Rahmen seiner Beschäftigung mit Referenzgebieten wie dem Beamtenrecht, dem Kommunalrecht und dem Sozialversicherungsrecht immer wieder sein Interesse gefunden hat. Grundfragen der Verfassungsrechtsdogmatik – etwa Überlegungen zu den Grundrechtsträgern, den Grundrechtsschranken und zum Rechtsstaatsprinzip – stellen einen weiteren Schwerpunkt seines Œuvres dar. Von nach wie vor großem Einfluss auch auf die Rechtspraxis ist sodann die Vielzahl seiner Abhandlungen sowohl zu den Grundlagen als auch zu aktuellen Problemen des Sozialversicherungsrechts, insbesondere des Vertragsarztrechts. Schnapp hat immer den engen Austausch mit der Praxis gepflegt; die Erfahrungen, die er als nebenamtlicher Richter am Landessozialgericht, als Vorsitzender verschiedener Schiedsämter und als Gutachter sammeln konnte, haben oftmals Eingang in seine Schriften gefunden. Auch die theoretischen und geschichtlichen Fundamente unserer Rechtsordnung sind nicht nur am Rande vertreten. Besonders hervorzuheben ist schließlich Schnapps stetes Bemühen, die Belange des juristischen Nachwuchses nicht aus dem Blick zu verlieren. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Beiträge in Ausbildungszeitschriften, die Lektüre seiner „Stilfibel“ gilt nicht wenigen als unverzichtbare Voraussetzung eines gelungenen Jurastudiums. Diesem beeindruckend breiten Spektrum des wissenschaftlichen Interesses und Engagements von Friedrich Schnapp entsprechen die Beiträge dieser Festschrift. Die technische Realisierung haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hannoveraner Lehrstuhls besorgt; ihnen gebührt großer Dank. Besonders zu nennen sind Julia Lindhorst, Nadine Pieper, Hilmar Rölz und Ulf Keller. Autoren und Herausgeber freuen sich, dem Jubilar mit dieser Festschrift ihre Wertschätzung und ihren Dank bekunden zu können. Ad multos annos! Hermann Butzer

Markus Kaltenborn

Wolfgang Meyer

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Grundrechte und Staatsorganisationsrecht, Europarecht Herbert Bethge Zur Grundrechtsträgerschaft gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen ...............

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Martin Burgi Vom „Verbot der Mischverwaltung“ zur Dogmatik der vertikalen Kooperation im Bundesstaat ...................................................................................................

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Wolfram Cremer Grundrechte und Sozialstaatsprinzip: Vertragsfreiheit und die (partiell) sozialstaatliche Imprägnierung der grundrechtlichen Schutzpflicht ............................

29

Thomas von Danwitz Rechtsschutz im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit der Europäischen Union ...............................................................................................

49

Johannes Dietlein / Daniel Riedel Allgemeinwohlerfordernis und Zwecksicherung bei der Enteignung zugunsten Privater ...............................................................................................................

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Wilfried Erbguth Schließung von Fakultäten: Organisationsakt unter Grundrechtsvorbehalt .......

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Rolf Dietrich Herzberg Zum Verpflichtungsgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG ............................................... 103 Knut Ipsen Verfassung und Verteidigung. Zur sicherheitsbezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ................................................................................ 125

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Inhaltsverzeichnis

Walter Krebs Zur dogmatischen Konzeption von Staatsorganrechten ..................................... 141 Wolfgang Meyer Die Rückwirkung von Bundesgesetzen – ein Problem des Übermaßes? ............ 153 Stefan Muckel Die Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG als Recht zur Abwehr missbräuchlicher Enteignungen zugunsten Privater. Eine Fallstudie ............................................. 181 Ingo von Münch Christliches, sozialistisches und liberales Gedankengut im deutschen Verfassungsrecht nach 1945 ......................................................................................... 195 Bodo Pieroth Das Verbot bundesgesetzlicher Aufgabenübertragung an Gemeinden ............... 213 Rainer Pitschas Innere Sicherheit in „guter Verfassung“? Zur Terrorismusbekämpfung im präventiven Gewährleistungsstaat ........................................................................... 231 Adelheid Puttler Mehr europapolitischer Einfluss der deutschen Länder? Die Umsetzung des Vertrages von Lissabon in Deutschland ............................................................. 253 Edzard Schmidt-Jortzig Die Absenkung des parlamentseigenen Antragsquorums zur abstrakten Normenkontrolle im Grundgesetz ............................................................................ 271 Michael Schweitzer Föderalismusreform und Vollziehung von Gemeinschaftsrecht ........................ 287 Roman Seer Zukunft des Steuerföderalismus ......................................................................... 303 Helmut Siekmann Die Spielbankabgabe und die Beteiligung der Gemeinden an ihrem Aufkommen – zugleich ein Beitrag zu den finanzverfassungsrechtlichen Ansprüchen der Gemeinden ................................................................................................... 319

Inhaltsverzeichnis

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Zweiter Teil: Gesundheits- und Sozialrecht Peter Axer Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch Apotheken – Zum Vertragsrecht nach § 129 SGB V ................................................ 349 Hermann Butzer Der Generationenvertrag. Zu Herkunft und Inhalt eines sozialstaatlichen Schlüsselbegriffs ................................................................................................ 367 Ruth Düring Konkurrentenrechtsschutz im Vertragsarztrecht ................................................ 389 Ingwer Ebsen Verzugs- und Prozesszinsen im Sozialrecht ....................................................... 401 Eberhard Eichenhofer Die Künstlersozialversicherung und die Kunst .................................................. 417 Wolfgang Gitter Konsequenzen der hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V für das Verhältnis zwischen den vertragsärztlichen Leistungserbringern und dem Versicherten ............................................................................................................. 427 Friedhelm Hase Die Rabatte der pharmazeutischen Unternehmer nach § 130a SGB V. Preisregulierung durch Sozialversicherungsrecht als verfassungsrechtliches Problem . 447 Stefan Huster Posteriorisierung der Gesundheitspolitik? Opportunitätskosten in der Rechtsdogmatik des Sozialstaats .................................................................................. 463 Otto Ernst Krasney Wechselwirkungen zwischen Aufsicht und Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung .............................................................................. 477 Joh.-Christian Pielow „Soziale“ Daseinsvorsorge und „Dienste von allgemeinem Interesse“ .............. 491

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Inhaltsverzeichnis

Oliver Ricken Familiale Gemeinschaften im Sozialrecht .......................................................... 509 Stephan Rixen Die Rechtsfähigkeit im öffentlichen Recht als Problem der gesetzlichen Krankenversicherung ................................................................................................. 527 Otfried Seewald Berufsrechtliche Restriktionen fachärztlicher Tätigkeit durch Bürgerliches Recht? ................................................................................................................ 547 Volker Wahrendorf Zur Dogmatik der Aufhebung und Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII .................................................................................. 577

Dritter Teil: Verwaltungsrecht und Prozessrecht Christoph Brüning Kommunale Mandate als schadensgeneigte Tätigkeit? ...................................... 593 Hans-Uwe Erichsen Die Landschaftsverbände NRW und die Reform der Verwaltungsstruktur ........ 613 Franz-Ludwig Knemeyer Good Governance und Bürger-Verantwortung .................................................. 629 Philip Kunig Zur Einstellung von Personen mit Migrationshintergrund im Polizeivollzugsdienst .................................................................................................................. 643 Wolf-Rüdiger Schenke Neues und Altes zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage ............................ 655 Maximilian Wallerath Selbstverwaltungsgarantie und Kreisgebietsreform ........................................... 695 Andrzej Wasilewski Das Recht auf Zugang zum Gericht in Verwaltungsangelegenheiten und „zuständiges Gericht“ in der polnischen Rechtsordnung ......................................... 723

Inhaltsverzeichnis

XI

Vierter Teil: Rechtstheorie und Rechtssetzungslehre Hans-Joachim Cremer Rückwirkung der Bürgschaftsentscheidung? Die doppelt analoge Anwendung von § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG durch das Bundesverfassungsgericht und ihre Folgen ................................................................................................................ 741 Markus Kaltenborn Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Gesetzesinterpretation. Der Streit zwischen subjektiver und objektiver Auslegungslehre aus der Perspektive der Verfassungsrechtsdogmatik ..................................................................................... 779 Ralf Poscher Die rechtstheoretische Bedeutung des Juristendeutsch. Ein Beitrag zur HartDworkin-Debatte ................................................................................................ 797 Klaus F. Röhl Logische Bilder im Recht .................................................................................. 815 Rolf Wank „Gesetzgebungskunst“ im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ................... 839 Peter A. Windel Personenrechtliche Grenzen der Vertragsbindung ............................................. 859 Joachim Wolf Die unterschätzte Bedeutung des Sachverhalts in Juristenausbildung und Rechtswissenschaft ............................................................................................ 873 Dieter Wyduckel Verfassung und Konstitutionalisierung – Zur Reichweite des Verfassungsbegriffs im Konstitutionalisierungsprozess ............................................................ 893

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Friedrich E. Schnapp ............................... 925 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ................................................................. 953

Erster Teil: Grundrechte und Staatsorganisationsrecht, Europarecht

Zur Grundrechtsträgerschaft gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen Von Herbert Bethge, Passau I. Die Grundrechtssubjektivität des Staates und der ihm zuzuordnenden Funktionsträger, kurz: die Frage der Grundrechtsträgerschaft der öffentlichen Hand, rechnete jahrzehntelang zu den Top-Themen des Verfassungsrechts. Das Bundesverfassungsgericht machte frühzeitig in weitgehender Orientierung an den Vorgaben des legendären Günter Dürig1 die maßgeblichen Grundlagen fest2. Es nimmt nicht wunder, dass die Staatsrechtslehre und die Fachgerichtsbarkeit(en) im wesentlichen – bei interessanten Facetten in graduellen Bereichen – gleichgezogen haben. 1. Die Konzeption ist stimmig3. Das Verfassungsrecht geht von einer strikten Polarität von grundrechtlicher Freiheit und hoheitlichen Funktions- und Kompetenzbestimmungen, kurz: von Freiheit und Staatsgewalt4, aus. Das beruht auf der im Grunde banalen Erkenntnis, dass die Legitimationsbasis zur Ausübung von Staats- wie überhaupt von Hoheitsfunktionen grundsätzlich außerhalb des Grundrechtskatalogs liegt5 und dass umgekehrt zur Aufnahme staatlicher bzw. hoheitlicher Aufgaben nur Kompetenzen, nicht aber unabgeleitete, ursprüngliche6 grundrechtliche Freiheiten zur Verfügung stehen7. Art. 19 Abs. 3 GG steht dem prinzipiellen Ausschluss juristischer Personen des öffentlichen Rechts vom Grundrechtsschutz nicht entgegen. Es widerspricht vielmehr prinzipiell dem dort apostrophierten Wesen der Grundrechte8, den Staat (und die ihm gleichzusetzenden anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts) als konstitutionellen Widersacher der Grundrechte und als Schuldner ___________ 1

Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. III. BVerfGE 21, 362 ff.; 39, 302 ff.; 45, 63 ff.; 61, 82 ff.; 68, 193 ff.; 75, 192 ff. 3 Rüfner, HStR V, 2. Aufl., 2000, § 116 Rdn. 65. 4 Isensee, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 15 Rdn. 148. 5 Fuß, DVBl. 1958, 742; Paul Kirchhof, Verwalten durch „mittelbares“ Einwirken, 1977, S. 193. 6 BVerfGE 61, 82 (101); 68, 193 (206); 75, 192 (196); Krebs, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2000, Art. 19 Rdn. 41. 7 Rupp, AöR Bd. 92 (1967), S. 242; Selmer, HGR II, 2006, § 53 Rdn. 41 Fn. 97. 8 Rüfner, HStR V, 2. Aufl., 2000, § 116 Rdn. 64. 2

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Herbert Bethge

fremder Freiheit zu deren Nutznießer zu machen9. Der Staat ist grundrechtsgebunden, nicht grundrechtsberechtigt. Konvergenzen gibt es nicht10. Das ist die eigentliche ratio, die hinter dem nicht selten missverstandenen Konfusionsargument steht. Es handelt sich dabei ganz gewiss nicht um ein „unumstößliches vorpositives Grundrechtsdogma“11; es signalisiert aber die antinomische Spannungslage von Freiheit und Staatsgewalt. 2. Ausnahmen gelten nur für die publizistisch strukturierten Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten, die außerhalb des Delegationsmodells dezentralisierter staatlicher Konzentration12, sondern vielmehr im Gravitationsmodell grundrechtlicher Freiheit angesiedelt sind. Doch sind diese Ausnahmen eben nur scheinbarer Natur. Sie fügen sich in das grundrechts-dogmatische Modell nahtlos ein, weil die betreffende juristische Person des öffentlichen Rechts unmittelbar einem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen ist13. Oder wie ein anderer Topos lautet: Sie befindet sich in einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“14. Das lässt sich für diese „Ausnahmetrias“15 begründen. Die als öffentlich-rechtliche Körperschaften verfassten Religionsgesellschaften wurzeln im außerstaatlichen Bereich und nehmen auf Grund der (hinkenden) Trennung von Staat und Kirche in ihrem Eigenbereich keine auch nur mittelbar staatlichen Aufgaben wahr16. Im Zentrum auch der öffentlich-rechtlich verfassten Universität stehen wissenschaftliche Forschung und Lehre und nicht der Vollzug staatlich-hoheitlicher Funktionen17. Art. 5 Abs. 3 GG ist darum auch das Grundrecht der Universität18 wie auch der Fakultäten19 (Fachbereiche20). Den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten schließlich eignet der Grundsatz der Staatsfreiheit bzw. Staatsferne des Rundfunks21, ___________ 9 Isensee, HStR I, 2. Aufl., 1995, § 13 Rdn. 152; Rupp, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 31 Rdn. 31 f. 10 Isensee, HStR V, 2. Aufl., 2000, § 118 Rdn. 26. Vgl. auch Windthorst, VerwArch Bd. 95 (2004), S. 378: Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung als zwei Seiten einer Medaille; Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2005, Art. 19 Abs. 3 Rdn. 281; a.M. v. Arnauld, DÖV 1998, 450. 11 So zutreffend Selmer, HGR II, 2006, § 53 Rdn. 4. 12 Rupp, in: Demokratie und Verwaltung, 1972, S. 617. 13 BVerfGE 21, 362 (373); 31, 314 (322). 14 BVerfGE 45, 63 (79); 61, 82 (102); vgl. auch BVerfGE 106, 28 (43). 15 Zu diesem mittlerweile akzeptierten Begriff zuerst Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 61 ff. 16 BVerfGE 31, 314 (329); 18, 385 (386); 102, 370 (387 f.). 17 BVerfGE 15, 256 (262); 31, 314 (322). 18 BVerfGE 15, 256 (262); 93, 85 (93). Zur Grundrechtsfähigkeit staatlicher Forschungsinstitute BVerfGE 85, 360 (370). 19 BVerfGE 15, 256 (262); 31, 314 (322); 93, 85 (93). 20 BVerfGE 68, 193 (207); 75, 192 (196); 93, 85 (93); 111, 333 (352). 21 BVerfGE 31, 314 (329); 83, 238 (322); 88, 25 (36).

Grundrechtsträgerschaft gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen

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der der Einbeziehung namentlich ihrer Programmfunktion22 in den Bereich der institutionalisierten und organisierten Staatlichkeit dezidiert entgegensteht23. Ihnen steht daher das Grundrecht der Rundfunkfreiheit zu24. 3. a) In scharfem Gegensatz dazu sind die Gemeinden Teile des Staatsaufbaus25. Sie üben Staatsgewalt im weiteren Sinne aus26; ihre Tätigkeit ressortiert zur mittelbaren Staatsverwaltung27. Art. 28 Abs. 2 GG ist eine grundrechtsferne28 Kompetenzverteilungsgarantie. Arnold Köttgens berühmte Formulierung von der „institutionellen Synthese“ zwischen Gemeinde und Staat, die an die Stelle der grundrechtlichen Separierung der Gemeinde vom Staat getreten ist29, beschreibt den Befund immer noch am plastischsten. Das ausschließlich kompetenzrechtlich garantierte, um der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben willen gewährleistete Selbstverwaltungsrecht der kommunalen Gebietskörperschaften ist auch der Grund, weshalb die Gemeinden sich nicht über Art. 19 Abs. 3 GG auf den Schutz materieller Grundrechtspositionen berufen können; gleichgültig, ob sie hoheitlich oder generell fiskalisch oder speziell als Privateigentümer agieren30. Entsprechendes gilt für ihre organisatorischen Verselbständigungen; seien es verwaltungsprivatrechtlich agierende Eigengesellschaften (Fiskalate)31, seien es öffentlich-rechtliche Sparkassen32 als Träger mittelbarer Kommunalverwaltung. ___________ 22 Zur Programmautonomie des öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalters BVerfGE 87, 181 (201); vgl. auch BVerfGE 95, 220 (234); 97, 298 (312 f.); 114, 371 (389 f.). 23 Dörr, in: ders./Kreile/Cole (Hrsg.), Handbuch Medienrecht, 2008, S. 176. 24 BVerfGE 31, 314 (322); 59, 231 (254); 78, 101 (102 f.); 107, 299 (310). 25 Schmidt-Aßmann, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 2003, 1. Kapitel Rdn. 24; Böckenförde, Der Staat Bd. 42 (2003), S. 166 Fn. 2; Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 221; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG II, 2. Aufl., 2006, Art. 28 Rdn. 149. 26 BVerfGE 8, 122 (132); 47, 253 (272 f.). 27 BVerfGE 73, 118 (191); 83, 238 (330); Isensee, VVDStRL Heft 32 (1974), S. 96 Fn. 118. Zum Ausschluss der Träger mittelbarer Staatsverwaltung vom Grundrechtsschutz Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, 5. Aufl., 2005, Art. 19 Abs. 3 Rdn. 256 f. 28 H. M.; jüngst Bull, DVBl. 2008, 8; siehe allerdings auch Maurer, DVBl. 1995, 1037 ff. 29 Köttgen, Die Gemeinde und der Bundesgesetzgeber, 1957, S. 14; vgl. auch BVerfGE 83, 37 (51 f.). 30 BVerfGE 61, 82 (103); vgl. auch BVerfGE 45, 63 (79 f.). Generell zur prinzipiellen Grundrechtsunfähigkeit der Gemeinde Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG II, 2. Aufl., 2006, Art. 28 Rdn. 88; Bethge, in: Maunz u.a. (Hrsg.), BVerfGG, 27. Lfg., 2007, § 91 Rdn. 1 ff. 31 BVerfGE 45, 63 (79 f.). 32 BVerfGE 75, 192 (195 ff.).

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Herbert Bethge

b) Andere Prototypen grundrechtsunfähiger Trabanten des Staates sind die Allgemeinen Ortskrankenkassen als dem Staat eingegliederte Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Aufgaben der mittelbaren Staatsverwaltung wahrnehmen33. Die öffentlich-rechtlich organisierten Sozialversicherungsträger sind künstliche Rechtsgeschöpfe des Staates, nicht Produkt privatautonomen Engagements freier Bürger34. Weder „Durchgriff“ noch „Durchblick“35 lassen hinter der öffentlich-rechtlichen juristischen Organisationsstruktur den Menschen als den gekorenen, sich selbst entfaltenden Grundrechtsträger erkennen. 4. Die Zuerkennung der Justizgrundrechte (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG) ändert ebenfalls nichts substantiell am Grundsatz der generellen Grundrechtsunfähigkeit der öffentlichen Hand. Auch insoweit besteht eine plausible Legitimation: In dem Maße, in dem das Tätigwerden der öffentlichen Hand justiziabel geworden ist und sie mit dem Bürger sich gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit auf gleicher Augenhöhe im status subjectionis begegnet, muss die öffentliche Hand als Prozesspartei schon aus Gründen der Waffengleichheit am Schutzgehalt der Prozessgrundrechte partizipieren36. Und dies nicht nur dann, wenn sie als Fiskus Prozesspartei Privater ist37, sondern auch dann, wenn sie dem Bürger in Realisierung seines besonderen Justizgewährungsanspruchs aus Art. 19 Abs. 4 GG38 als verklagte Verwaltung gegenübertritt. 5. Auf den Gleichheitssatz können sich auch staatlich verfasste Kompetenzträger berufen; allerdings nicht in dessen grundrechtlicher Bedeutung (Art. 3 Abs. 1 GG), sondern als Emanation des im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerten Grundsatzes der objektiven Gerechtigkeit als eines Willkürverbots39. Die rechtspraktische Folge ist der Ausschluss der Verfassungsbeschwerde40. 6. Der materiellrechtlichen Grundrechtskonzeption korrespondieren verfassungsprozessuale Konsequenzen: Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist der genuine (spezifische) Rechtsbehelf des grundrechtsbewehr___________ 33 BVerfGE 39, 302 (312 ff.); 113, 167 (262); Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 259; vgl. auch BVerfGE 21, 362 (368); SchmidtAßmann, NJW 2004, 1693; kritisch Schnapp, HGR II, 2006, § 52 Rdn. 14 mit Fn. 46. 34 Vgl. auch BVerwGE 111, 354 (360 f.). 35 Dazu BVerfGE 21, 326 (369); 61, 82 (101); 68, 193 (205); kritisch Schnapp, aaO, § 52 Rdn. 25. 36 Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 19 III, Rdn. 39. 37 BVerfGE 6, 45 (49 f.). 38 Dazu BVerfGE 107, 395 (401 ff., 404). 39 BVerfGE 21, 362 (372); 89, 132 (141 f.); 113, 167 (262); Jestaedt, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 29 Rdn. 65 und Rdn. 76 mit Fn. 363. 40 Bethge, in: Maunz u.a. (Hrsg.), BVerfGG, 27. Lfg., 2007, § 90 Rdn. 160.

Grundrechtsträgerschaft gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen

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ten Bürgers gegenüber dem Staat41. Sie ist kein Mittel zur Austragung von Meinungsverschiedenheiten zwischen staatlichen Funktionsträgern42. Umgekehrt: In den klassischen Kompetenzstreitigkeiten des staatsorganisationsrechtlichen Verfassungsrechtskreises, das sind der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) und der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG), haben Grundrechte als Prüfungsmaßstab nichts zu suchen43. 7. Dieser eher holzschnittartig umrissenen, in den Detailfragen indes feiner modellierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind auch aus heutiger Sicht Kontingenz und Konsistenz nicht abzusprechen. Die Prämissen sind nach wie vor überzeugend, ihre Umsetzung erfolgt korrekt. a) Das schließt nicht aus, dass sich diese Judikatur in den ersten Jahrzehnten der Bonner Republik heftiger literarischer Kritik ausgesetzt sah; wie denn überhaupt die komplexe Problematik Gegenstand einer groß angelegten Diskussion war, die die Zunft mit beträchtlichem theoretischen Aufwand, mit großem Engagement und mit zum Teil erfrischender Polemik führte. Klassikerzitate zum Widersinn eines Grundrechtsschutzes des Staates sind Hans C. Nipperdey („völlige Verdrehung der Grundrechtsidee“) und Günter Dürig („etatistisches Schelmenstück“) zu verdanken. Andere Formulierungen sind eher negativ besetzte Schlagworte geworden; z. B.; „Gewerbefreiheit der öffentlichen Hand“ (Karl August Bettermann)44. Das Bundesverfassungsgericht selbst bereicherte den Zitatenschatz des juristischen Bildungsbürgers mit geschwungenen Formulierungen. Nachgerade geflügelt geworden ist mittlerweile die Formel, mit Hilfe derer den Gemeinden die Berufung auf Art. 14 Abs. 1 GG versagt wird. Kurz und dunkel heißt das Schlagwort45: Art. 14 Abs. 1 GG schützt als Grundrecht nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater46. Sprachliche Eleganz kennzeichnet ebenso die Ablehnung einer Treuhand („Sachwaltung“) des Staates für die Grundrechte seiner Bürger: Die grundrechtlich verbürgten Freiheiten des Menschen sollen prinzipiell nicht von der Vernunfthoheit öffentlicher Einrichtungen verwaltet werden47/48. ___________ 41

BVerfGE 4, 27 (30); 68, 193 (206). BVerfGE 15, 298 (302); 108, 251 (266 f.); Vitzthum, HGR II, 2006, § 48 Rdn. 83. 43 Zum Organstreit BVerfGE 94, 351 (365); 99, 19 (29); 118, 277 (327). Zum BundLänder-Streit BVerfGE 81, 310 (333 f.). 44 Kritisch statt vieler Rupp, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 31 Rdn. 31. 45 Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 4. Aufl., 2007, Art. 19 Rdn. 103. 46 BVerfGE 61, 82 (108 f.). 47 BVerfGE 61, 82 (104); vgl. auch BVerfGE 68, 193 (207); 75, 192 (196); 81, 310 (334); 104, 238 (246); Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2005, Art. 19 Abs. 3 Rdn. 279. 48 Die Version einer Treuhand steht letztlich auch hinter dem Argument, die öffentlich-rechtlichen Landesmedienanstalten seien darum Inhaber der Rundfunkfreiheit des 42

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Herbert Bethge

b) Zu den Hauptakteuren der Debatte gehörte frühzeitig Friedrich E. Schnapp, der diese Thematik zu einem seiner staatsrechtlichen Standbeine machte49 und sie mit seinem zentralen sozialrechtlichen Schwerpunktgebiet verband, auf dem er sich bald als einer der Großen erwies50. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass ihn die Herausgeber des Handbuchs der Grundrechte in Europa gebeten haben, den Grundrechtsschutz juristischer Personen des öffentlichen Rechts und damit auch die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts – natürlich kritisch – zu beleuchten51. 8. Heute scheinen die Grundsatzfragen geklärt; die Kontroversen sind abgeflaut. Ob auch dafür die jurisdiktionsstaatliche Neigung der Staatsrechtslehre zum Bundesverfassungsgerichtspositivismus (Bernhard Schlink) verantwortlich zeichnet, ist fraglich. Groß Neues ist nicht nachzutragen, was angesichts einer hochgezüchteten und bis in letzte Verästelungen ausziselierten Grundrechtskultur eher beruhigend klingen mag. Die Rechtsprechung zeigt sich dem Grundsatz „stare decisis“ verpflichtet. In zwei Punkten hat das Bundesverfassungsgericht eine vorsichtige, letztlich systemimmanente Korrektur vorgenommen. a) Das Gericht gesteht den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten neben dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) auch die Berufung auf den Schutz des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 1 GG52) zu. Das ist angesichts des Avancements dieses Freiheitsrechts zu den Kommunikationsgrundrechten53 als Folge des technologischen Wandels keine umstürzende Neuerung54. Der funktionelle Zusammenhang zwischen dem Schutz der Ver___________ Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, weil sie Funktionen der Grundrechtssicherung wahrnähmen;(in dieser Richtung Hoffmann-Riem, Personalrecht der Rundfunkaufsicht, 1991, S. 88 ff.). Auf diese Weise ließe sich auch der Staat als Grundrechtssicherungsanstalt par exellence (dazu Hans H. Klein, VVDStRL Heft 30 [1972], S. 170) zum Grundrechtsträger machen (Bethge, NJW 1995, 560). Die Landesmedienanstalten sind deshalb keine Grundrechtsträger nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG, weil sie keine Rundfunkveranstalter sind, die eigene Programmautonomie genießen; siehe Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl., 2007, Art. 5 Rdn. 113; Löwer, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 70 Rdn. 181; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 19 III Rdn. 61. 49 Schnapp, Gemeinden als Grundrechtsträger, in: Der Städtetag 1969, 534 ff.; ders, Die Stellung der Sozialversicherungsträger in der Verfassungsordnung, in: Soziale Sicherheit 1970, 199 ff.; ders., VSSR Bd. 2 (1974), S. 191 ff. 50 Das war auch der Grund, weshalb ihm die gerade 5 Jahre alte bzw. junge Juristische Fakultät der Universität Passau im Jahre 1983 den ersten Platz auf der Besetzungsliste eines neueingerichteten Lehrstuhls u.a. für Sozialrecht einräumte. 51 Friedrich E. Schnapp, Zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts, in: HGR II, 2006, § 52. 52 BVerfGE 107, 299 (310); ebenso Löwer, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 70 Rdn. 181 Fn. 1458. 53 BVerfGE 100, 313 (358 ff.); 106, 28 (43 ff.); 110, 33 (53); 115, 166 (184). 54 Zutreffend Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 2. Aufl., 2005, Art. 19 III Rdn. 61.

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traulichkeit der Informationsbeschaffung (Art. 10 GG) und der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) ist evident. Immerhin zeigt aber die bisherige Richtschnur des Bundesverfassungsgerichts, dass die Grundrechtsinhaberschaft einer juristischen Person des öffentlichen Rechts gefälligst auf die Vorschrift beschränkt bleiben muss55, die die Ausnahme von der Regel rechtfertigt – das ist Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG – , erste Risse. Überzeugend war sie ohnehin nicht. Bei den als Körperschaften öffentlichen Rechts strukturierten Religionsgesellschaften galt sie von Anfang an nicht56. Zudem ist der Satz „Singularia non sunt extendenda“ ein Axiom, das eher vom latinisierenden Wohlklang der Formulierung zehrt, aber kein konsentierter Argumentationstopos. b) Auf der Linie einer vorsichtigen Weiterentwicklung der Grundsatzkonzeption liegt ebenso der zutreffende Schluss, dass eine juristische Person des öffentlichen Rechts sich zur Durchsetzung ihrer – exzeptionellen – Grundrechtsposition auf den Schutz des Art. 19 Abs. 4 GG berufen darf57. Auch das ist nur konsequent58. Allein diese Sichtweise wird dem Komplementärverhältnis zwischen materiellem Freiheitsrecht und formellem Hauptgrundrecht gerecht. 9. Kann man daher in der Frage der Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen des öffentlichen Rechts von einer gewissen Beruhigung sprechen, gibt es einen Dauerbrenner, der sich stetiger Aufmerksamkeit erfreut: die Frage der Grundrechtsberechtigung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen59. II. Bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen oder bei „Mischunternehmen“60 sind neben staatlichen bzw. kommunalen Verwaltungsträgern auch Privatpersonen (natürliche oder juristische Personen) an einem seinerseits als juri___________ 55

BVerfGE 59, 231 (254 f.); 78, 101 (102). Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 4. Aufl., 2007, Art. 19 Rdn. 94; Krebs, in: Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2000, Art. 19 Rdn. 40; siehe auch BVerfGE 102, 370 (387). 57 BVerfGE 107, 299 (310 ff.); s.a. BVerfGE 39, 302 (312 ff.); 61, 82 (109). 58 So auch Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 19 III Rdn. 42 mit Fn. 128; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl., 2008, Art. 93 Rdn. 168. 59 Dazu u.a. Schmidt-Aßmann, BB 1990 / Beilage 34, 1 ff.; Heintzen, VVDStRL Heft 62 (2003), S. 249; Vosskuhle, ebda, S. 276 f. mit Fn. 30; Tettinger, HKWP I, 3. Aufl., 2007, § 11 Rdn. 69; ders., HGR II, 2006, § 51 Rdn. 37; Scholz, Festschrift für Werner Lorenz, 1991, S. 213 ff.; Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 238 ff.; Koppensteiner, NJW 1990, 3105 ff.; Pieroth, NWVBl. 1992, S. 85 ff.; Hopfauf, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG, 11. Aufl., 2008, Art. 93 Rdn. 166; Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2005, Art. 19 Abs. 3 Rdn. 284 ff.; Windthorst, VerwArch. Bd. 95 (2004), S. 377 ff. 60 Merten, Festschrift für Heinz Krejci, 2001, S. 2003 ff.; Selmer, HGR II, 2006, § 53; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 19 III Rdn. 72; Vitzthum, HGR II, 2006, § 48 Rdn. 55. 56

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stische Person des privaten Rechts agierenden Unternehmen beteiligt. Es herrscht eine Gemengelage von privaten und öffentlichen Anteilseignern61. Oder: Ein Zwitterwesen steht in Rede62. Höchstrichterlich wurde die Diskussion über die Grundrechtsträgerschaft gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen eineinhalb Jahrzehnte lang von der Entscheidung der 3. Kammer des Ersten Senats dominiert, die einer AG die Grundrechtsfähigkeit absprach, die sich zu 72 % in öffentlicher Hand befand und der Stromversorgung diente63. Die Kammer stützte ihre ablehnende Haltung hauptsächlich darauf, dass das Energieversorgungsunternehmen öffentliche Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrnehme. Die Restbeteiligung privater Anbieter blieb unberücksichtigt. Eine mittelbare Bestätigung erfuhr diese Linie durch die Senatsentscheidung vom 14.3.2006, die der „Deutsche Telekom AG“ in apodiktischer Kürze64 die Grundrechtsfähigkeit zuerkannte, weil der Bund als Anteilseigner keinen beherrschenden Einfluss auf die Unternehmensführung hat65. Das Schrifttum diskutiert kontrovers. 1. Die Ausrichtung an privatrechtsförmigen Aktivitäten und wirtschaftlichen Motivationen der öffentlichen Hand reicht für die Zuerkennung der Grundrechtsfähigkeit nicht aus. a) Allein die Verwendung privatrechtlicher Rechts- und Gestaltungsformen durch die öffentliche Hand bewirkt noch keinen Grundrechtsschutz für die öffentliche Hand; noch weniger rechtfertigt sie ihn. Der Staat ist – entgegen Otto Mayer – kein gewöhnlicher Privatmann66. Den Staat in Zivil (Walter Jellinek) gibt es nicht. Alles andere läuft auf eine Reaktivierung des mittlerweile überholten Fiskusbegriffs hinaus. Die Befugnis zur Inanspruchnahme privatrechtsförmiger Handlungs- und Organisationsformen ist nicht die Folge einer über Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtlich vermittelten Privatautonomie des Staates, sondern die Konsequenz seiner öffentlich-rechtlichen Rechtssubjektivität. Den Staat als Fiskus gibt es nicht mehr. Das steht zwar dem Grundsatz der Formenwahlfreiheit des Staates, d.h. seiner Teilnahme am Privatrechtsverkehr nicht entgegen. Die öffentliche Hand kann sich indessen weder durch eine Flucht ins Privatrecht (Fritz Fleiner) auf der Passivseite ihren kompetenzrechtlichen, ___________ 61

Im Unterschied dazu sind an gemischt-öffentlichen Unternehmen verschiedene Träger öffentlicher Verwaltung beteiligt. Vgl. dazu Tettinger, HGR II, 2006, § 51 Rdn. 37. 62 Horst Dreier, aaO, Art. 19 Abs. III Rdn. 72; s.a. Merten, aaO, S. 2004. 63 BVerfG (K), NJW 1990, 1783; BVerfGE 110, 370 (382 f.). 64 Sachs, JuS 2006, 838. 65 BVerfGE 115, 205 (227); noch weitergehend BVerwGE 114, 160 (189); 118, 352 (359); BVerwG NVwZ 2004, 742 f. 66 Vgl. die Beiträge von Mallmann und Karl Zeidler, in: VVDStRL Heft 19 (1961), S. 165 ff. bzw. S. 208 ff.

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rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Bindungen entziehen; noch kann sie sich durch einen in ihr Belieben gestellten Wechsel in die privatrechtliche Handlungs- und Organisationsform auf der Aktivseite den Grundrechtsschutz verschaffen, der ihr als Hoheitsträger versagt ist67. Das gilt sowohl für verwaltungsprivatrechtliche Aktivitäten als auch für Beschaffungstätigkeiten (fiskalische Bedarfsdeckungsgeschäfte) und erwerbswirtschaftliches Engagement68 des Staates. Grundrechtliche Überhöhungen verdienen sie nicht. Weder Gewerbefreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) noch Privateigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) streiten als Unternehmerfreiheiten für die öffentliche Hand69. Sie sieht sich im Gegenteil der Fiskalbindung der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) ausgesetzt. Das betrifft namentlich die öffentliche Auftragsvergabe70. Auch der wirtschaftlich tätige Staat ist an die Grundrechte privater Marktteilnehmer gebunden71. b) Die Versagung des Grundrechtsschutzes für privatrechtsförmige Rechtsund Organisationsformen der öffentlichen Hand schließt nicht aus, dass die entsprechenden Aktivitäten anderweitig verfassungsrechtlich geschützt sind. Auch diese Differenzierung ist Günter Dürig zu verdanken: Die „fiskalischen“ Erscheinungsformen der institutionell abgesicherten Verbände können am Schutzumfang der für sie streitenden institutionellen Garantien (Art. 28 Abs. 2 GG!) teilhaben72. 2. Die Grundrechtsträgerschaft fehlt auch den von der öffentlichen Hand geschaffenen rechtsförmlich verselbständigten juristischen Personen des privaten Rechts, deren Anteile sämtlich vom Staat bzw. von den Kommunen gehalten werden. a) Der prinzipielle Ausschluss des Grundrechtsschutzes im privatrechtlichen Bereich gilt nicht nur dann, wenn die juristischen Personen des öffentlichen Rechts unmittelbar selbst in den Formen und mit den Mitteln des Privatrechts öffentliche (staatliche) Aufgaben erfüllen, sondern auch in den Fällen, in denen sie zur Erfüllung dieser Aufgaben selbständige privatrechtliche Rechtsträger schaffen73. Fiskalate74 und Derivate75 genießen nicht per se Grundrechtsschutz. ___________ 67

Isensee, Der Staat Bd. 20 (1981), S. 168 f.; Paul Kirchhof, Verwalten durch „mittelbares“ Einwirken, 1977, S. 192 Fn. 21; Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, S. 102; Vitzthum, HGR II, 2006, § 48 Rdn. 53 Fn. 184. 68 Isensee, HStR V, 2. Aufl., 2000, § 118 Rdn. 24. 69 BVerfGE 61, 82 (105); 98, 17 (47). 70 Merten, in: Sommermann/Ziekow (Hrsg.), Perspektiven der Verwaltungsforschung, 2002, S. 222; Ronellenfitsch, HStR IV, 3. Aufl., 2006, § 98 Rdn. 31. 71 BVerwGE 39, 329 (336 ff.); BGH DÖV 2004, 439 f. 72 Festschrift für Willibalt Apelt, 1958, S. 39 Fn. 62; vgl. auch Köttgen, Die Gemeinde und der Bundesgesetzgeber, 1957, S. 21; Rüfner, Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft, 1967, S. 371 Fn. 105. 73 Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 4. Aufl., 2007, Art. 19 Rdn. 110.

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Nicht nur gemischt-öffentlichen Unternehmen fehlt die Grundrechtsträgerschaft76. (Kommunalen) Eigengesellschaften geht es nicht anders. Sie sind verlängerter Arm des Staates bzw. mittelbarer Staatsverwaltung. Zu der von der Stadtwerke Hameln AG wegen vermeintlicher Grundrechtsverletzung (Art. 14 Abs. 1 GG) erhobenen Verfassungsbeschwerde führt das Bundesverfassungsgericht daher zutreffend aus, dass die Beschwerdeführerin als juristische Person des Privatrechts, deren alleiniger Aktionär eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, sich ebenso wenig wie diese auf Grundrechte berufen kann. „Anderenfalls wäre die Frage der Grundrechtsfähigkeit der öffentlichen Hand in nicht geringem Umfang abhängig von den jeweiligen Organisationsformen“77. Der Formalstatus der juristischen Person (des privaten Rechts) ist demgegenüber irrelevant78. Sie ist ein bloßes Zweckgebilde der Rechtsordnung79. Auch die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit taugt nicht zum Ausgangs- bzw. Ansatzpunkt der Bestimmung der Grundrechtsberechtigung80 einer allein vom Staat getragenen juristischen Person des privaten Rechts. Diese Status haben allenfalls Indizwirkung81. Die Vermutung, dass die juristische Person des Privatrechts in der Regel grundrechtsfähig ist, ist genau so widerlegbar wie die Annahme, jede juristische Person des öffentlichen Rechts sei wegen einer vermuteten Staatsabhängigkeit keine Grundrechtsträgerin82. b) Nur im Gefolge einer substantiellen Aufgabenprivatisierung kann ein staatsrechtlich fundamentaler Wechsel eintreten: Aus der grundrechtsverpflichteten Staatsverwaltung wird ein grundrechtsberechtigtes Wirtschaftsunternehmen83. Darum war es nur konsequent, dass sich für die (teil-)privatisierte Deutsche Telekom AG als nunmehr gemischt-wirtschaftliches Unternehmen die Frage der Grundrechtsfähigkeit stellte84, die zuvor für die Deutsche Bundespost ___________ 74

Zum „jammervollen Schluß“ auf die Grundrechtsträgerschaft von Fiskalaten siehe Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. I Rdn. 477 Fn 2. 75 Ausdruck von Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 225. 76 Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 19 III Rdn. 71. Zur fehlenden Grundrechtsfähigkeit von Landesinnungsverbänden, bei denen sich juristische Personen des öffentlichen Rechts zu einer juristischen Person des privaten Rechts zusammenschließen, vgl. BVerfGE 68, 193 ff. 77 BVerfGE 45, 63 (79 f.). 78 BVerfGE 68, 193 (207, 212); Vitzthum, HGR II, 2006, § 48 Rdn. 55. 79 BVerfGE 95, 220 (242); 95, 267 (317); 106, 28 (42). 80 Isensee, HStR II, 2. Aufl., 2002, § 118 Rdn. 22; Schnapp, HGR II, 2006, § 52 Rdn. 2; Badura, DÖV 1990, 359. 81 Krebs, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2000, Art. 19 Rdn. 40 ff.; Selmer, HGR II, 2006, § 53 Rdn. 37. 82 Horst Dreier, aaO, Art. 19 Abs. III Rdn. 56. 83 Paul Kirchhof, Festschrift für Walter Schmitt Glaeser, 2003, S. 10. 84 Windthorst, VerwArch. Bd. 95 (2004), S. 377 ff.; v. Arnauld, DÖV 1998, 437 ff.; Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GGK III, 5. Aufl., 2005, Art. 87 e Rdn.

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als Sondervermögen des Staates noch nicht akut sein konnte. Das ist aber keine Ausnahme, sondern die Bestätigung der Regel. c) Ohne staatliche oder kommunale Beteiligung bleibt eine juristische Person des Privatrechts allerdings prinzipiell auch materiell im Bereich der grundrechtsgeschützten Privatautonomie, selbst wenn sie – z. B. als Versorgungsunternehmen – öffentliche Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllt; eine Grundrechtsbindung trifft sie nur drittwirkend. Beide Parameter – öffentliche Aufgabe und/oder Daseinsvorsorge – sind zu diffus, um über diffizile Fragen der Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsbindung zu entscheiden85. Nur im Falle der Beleihung einer juristischen Person des privaten Rechts durch den Staat stellt sich die Grundrechtsfrage anders86, weil es für Beliehene ein grundrechtsgeschütztes „Privateigentum an Staatsfunktionen“ (Hans Heinrich Rupp) nicht gibt. Was allerdings materiell nicht privatisierbare originäre Staatsfunktionen sind, ist ein weites Feld87. Die Daseinsvorsorge rechnet mit Sicherheit nicht dazu88. 3. Die Gretchenfrage ist, welche Auswirkungen die Rechtsstellung der privaten Anteilseigner auf eine Grundrechtsposition des gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens selbst hat. a) Als feststehend kann zwar konstatiert werden, dass die privaten Anteile als solche selbstverständlich89 von den Unternehmerfreiheiten (Art. 14, 12, 2 GG) geschützt sind. Weniger zwingend ist indessen ein Schluss vom Grundrechtsschutz der privaten Anteilseigner auf die Grundrechtsträgerschaft des Unternehmens selbst. Die Idee eines nach der öffentlichen Beteiligung abgestuften „gleitenden Grundrechtsschutzes“90 hat wegen der Bedingungen vertikaler, horizontaler und zyklischer Verflechtungen keinen Beifall gefunden91. b) Radikal- oder Fundamentallösungen können nicht getroffen werden. Horst Dreier bringt es auf den Punkt: Entweder man stellt die privaten Anteils___________ 52; vgl. auch Grupp, DVBl. 1996, 594; Markus Lang, NJW 2004, 3601 ff.; Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl., 2007, Art. 19 Rdn. 18; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 4. Aufl., 2007, Art. 19 Rdn. 112a. 85 Horst Dreier, aaO, Art. 19 Abs. III Rdn. 53, auch zum folgenden; Schoch, Jura 2001, 206. 86 Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl., 2007, Art. 19 Rdn. 18. 87 Vgl. Isensee, HStR IV, 3. Aufl., 2006, § 73 Rdn. 27 ff.; Grzeszick, ebda, § 78 Rdn. 3, 35. 88 Rüfner, HStR IV, 3. Aufl., 2006, § 96 Rdn. 10. 89 Selmer, HGR II, 2006, § 53 Rdn. 39, 60. 90 Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 66 Fn. 142. 91 Kritisch Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2005, Art. 19 Abs. 3 Rdn. 286, 294; Selmer, aaO, § 53 Rdn. 19 f.: Gefahr quotenabhängiger Zuordnungsbeliebigkeit.

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eigner schlechter oder die öffentliche Hand besser als im Normalfall92. Pragmatische Lösungsansätze erfassen nur Randbereiche: Bagatellbeteiligungen der öffentlichen Hand sind unschädlich für eine Grundrechtsträgerschaft des Gesamtunternehmens. Eine Alibi-Beteiligung Privater reicht auf der anderen Seite nicht aus. Zum Kern der Sache dringen sie aber nicht vor; ebenso wenig der allenfalls deskriptiv verwertbare, im übrigen aber konturlose Begriff der Public Private Partnership93. c) Es ist die intrikate Eigenart der Mischunternehmen, dass sie im Grenzbereich von privatrechtlicher (gesellschaftlicher) und staatlicher Sphäre angesiedelt sind und im Spannungsfeld von Grundrechtsberechtigung (Art. 19 Abs. 3 GG) und Grundrechtsverpflichtung (Art. 1 Abs. 3 GG) agieren94. Eine wertende Betrachtungsweise muss die widerstreitenden Interessen der einzelnen Akteure ausgleichen, zu denen auch Dritte (Kunden, Konkurrenten) rechnen95. Noch am vertretbarsten erscheint eine Orientierung am Grad der Beherrschung des gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens durch die Staatsquote96. Ein staatlich beherrschtes Unternehmen ist grundrechtsverpflichtet, nicht grundrechtsberechtigt. Es befindet sich nicht in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage. Die in der Minderheit befindlichen privaten Anteilseigner sind „näher am Staat“97. Sie wissen, worauf sie sich eingelassen haben, und können immerhin ihre gesellschaftsrechtlichen Befugnisse wahrnehmen.

___________ 92

Horst Dreier, aaO, Art. 19 III Rdn. 76; Selmer, aaO, § 53 Rdn. 35. Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 12 Rdn. 114; generell kritisch Heintzen, VVDStRL Heft 62 (2003), S. 247. 94 Krebs, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2005, Art. 19 Rdn. 45. 95 Peter M. Huber, aaO, Art. 19 Abs. 3 Rdn. 290. 96 Zu den Beteiligungsgraden Ronellenfitsch, HStR IV, 3. Aufl., 2006, § 98 Rdn. 29. 97 Peter M. Huber, aaO, Art. 19 Abs. 3 Rdn. 292 f.; Vitzthum, HGR II, 2006, § 48 Rdn. 56; vgl. auch Thomas Groß, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 13 Rdn. 91. 93

Vom „Verbot der Mischverwaltung“ zur Dogmatik der vertikalen Kooperation im Bundesstaat Von Martin Burgi, Bochum

I. Der Jubilar und das Recht der Verwaltungsorganisation Ausweislich seines Schriftenverzeichnisses hat Friedrich E. Schnapp immer wieder grundlegende Beiträge in einem Rechtsgebiet geleistet1, an dem die juristischen Karawanen allzuoft vorbeiziehen, nämlich dem Allgemeinen Teil des Rechts der Verwaltungsorganisation. Noch mehr als der tiefe Einblick in das Sozialrecht, das hier wie auch sonst reich an kreativ-extraordinären Gestaltungsformen ist, dürfte ihn hierbei das Streben nach methodischer Sorgfalt und dogmatischer Durchdringung inspiriert haben, denn um beides steht es im staatlichen Innenbereich nicht durchgehend zum Besten. Das liegt an bis heute wirkmächtigen Impermeabilitätsvorstellungen2, an der für den Außenstehenden oftmals schwer zugänglichen Phänomenologie und nicht zuletzt daran, das von der Rechtswissenschaft ganz allgemein die Steuerungsmedien Personal, Finanzmittel und eben auch Organisation im Vergleich mit dem Steuerungsmedium Recht unterschätzt werden3. ___________ 1 Zu nennen sind insbesondere die Aufsätze „Zu Dogmatik und Theorie des staatlichen Organisationsrechts“ (Rechtstheorie 1978, 275), „Grundbegriffe des öffentlichen Organisationsrechts“ (Jura 1980, 68; fortgeführt in Jura 1980, 293), „Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts“ (AöR 105 [1980], 243) und natürlich der Staatsrechtslehrervortrag aus dem Jahre 1984 zum Thema „Der Verwaltungsvorbehalt“ (VVDStRL 43 [1985], 172). Der Beitrag „Mischverwaltung im Bundesstaat nach der Föderalismusreform“ (Jura 2008, 24 ff.) konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. 2 Als Beitrag zu ihrer Überwindung: Schnapp, AöR 105 (1980), 245; zu weiteren Spezifika des Verwaltungsorganisationsrechts vgl. Burgi, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2006, § 6 Rdnr. 2. 3 Vgl. aber aus neuerer Zeit nun Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997; John-Koch, Organisationsrechtliche Aspekte der Aufgabenwahrnehmung im modernen Staat, 2005, sowie die Beiträge von Groß, Jestaedt, Wißmann und Schuppert in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2006, §§ 13 bis 16.

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Martin Burgi

Der jüngste Streifzug durch das Verwaltungsorganisationsrecht hat den Jubilar in ein Themenfeld geführt, dessen Überschrift jedem Juristen geläufig ist, und zwar in Konnotation mit einer normativen Aussage. Gemeint ist die „Mischverwaltung“, welche angesichts der zahlreichen Kompetenzverteilungsvorschriften der föderalen Verfassungsordnung (per se, ausnahmslos oder grundsätzlich?) verfassungswidrig sei. Schnapp widmet sich diesem Thema aus Anlass grundstürzender Reformüberlegungen im Bereich der Gesetzlichen Unfallversicherung, die er im Ergebnis kritisch beurteilt4. Der nachfolgende Beitrag befasst sich nicht mit der Kompetenzgemäßheit der dort untersuchten Gestaltungsform eines Zusammenwirkens von Bund und Ländern, sondern mit dem von Schnapp formulierten verfassungsrechtlichen „Obersatz“: Danach sei ein „Zusammenwirken von Bund und Ländern ... nicht schon dann zulässig, wenn keine Vorschriften des Verfassungsrechts entgegenstehen, sondern erst dann, wenn sie es gestatten“. Im Konfliktfall müsse „der Bund dartun, dass ihm eine Verwaltungskompetenz vom Grundgesetz eindeutig zugewiesen ist oder dass das Grundgesetz eine solche Inanspruchnahme einer Verwaltungskompetenz eindeutig zugelassen hat“. Ein Zusammenwirken bzw. eine Aufgabenwahrnehmung gleichsam zur gesamten Hand müsse „ausdrücklich“ vorgesehen sein. Diese Thesen verdienen als seltener Ausdruck eines dogmatischen Zugriffs auf die höchst aktuelle Thematik der vertikalen Kooperation im Bundesstaat allgemeine Beachtung. Denn mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20.12.2007, durch das das Zusammenwirken von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen in den sog. Arbeitsgemeinschaften zum Vollzug des SGB II (besser bekannt als „Hartz IV“) für verfassungswidrig erklärt wurde5, ist die Bedeutung des Sozialrechts als Referenzgebiet für das Allgemeine Verwaltungsorganisationsrecht, noch viel mehr aber die prekäre verfassungsrechtliche Situation der insgesamt eher zu- statt abnehmenden Kooperationen innerhalb des bundesdeutschen Mehr-Ebenen-Systems endgültig in das politische und rechtliche Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Spätestens jetzt liegt es auf der Hand, dass Klarheit über die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, Determinanten und Kriterien im Hinblick auf die Beurteilung gegenwärtiger und künftiger Kooperationen Not tut. Wie groß der Problemdruck ist, kann man nicht zuletzt daran sehen, dass die „Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen“ (sog. Föderalismusreform II) neben der „verstärkten Zusammenarbeit der Länder untereinander“ einen erheblichen Teil ihrer Aufmerksamkeit der „Zusammenarbeit von Bund ___________ 4

Mischverwaltung in der Sozialversicherung, VSSR 2007, 243. DVBl. 2008, 173; ausführlich kommentiert durch (den Repräsentanten der erfolgreich klagenden Landkreise) Henneke, Der Landkreis 2008, 3 ff. 5

Dogmatik der vertikalen Kooperation im Bundesstaat

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und Ländern“ widmet6, nicht zuletzt, aber auch nicht nur mit Blick auf die ITStrukturen7 bzw. auf die Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie mit ihrem Erfordernis eines „einheitlichen Ansprechpartners“8.

II. Trennung von deskriptiver und normativer Betrachtung Lange Zeit ist die Diskussion um die Kompetenzgemäßheit vertikaler Kooperationen unter dem Schlagwort „Verbot der Mischverwaltung“ geführt worden. Danach sollten „Mitplanungs-, Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse gleich welcher Art im Aufgabenbereich der Länder, ohne dass die Verfassung dem Bund entsprechende Kompetenzen übertragen hätte“, unstatthaft sein. Die Titulierung einer bestimmten Erscheinungsform der vertikalen Kooperation als „Mischverwaltung“ löste vielfach gleichsam automatisch das verfassungsrechtliche Verdikt aus; Phänomenologie und rechtliche Beurteilung drohen so in eins gesetzt zu werden9. Auf Grund der bis heute bestehenden begrifflichen Unschärfen hat dies zu einer in den politischen Bereich hinein fortwirkenden Stigmatisierung bestimmter organisatorischer Gestaltungen geführt. Es ist treffend, wenn Loeser konstatiert: „In der Beurteilung der Mischverwaltung als unter dem Grundgesetz verfassungswidrig, ist man sich ... offenbar so sicher gewesen, dass man eine exakte Beschreibung dessen, was mit dem Begriff Mischverwaltung gemeint ist, zu vernachlässigen können glaubte“10. Das BVerfG allerdings hat sich bereits mit seinem Beschluss vom 12.01.198311 deutlich von der Vermischung von deskriptiver und normativer Betrachtung distanziert. Dies gipfelte in den Worten, wonach eine bestimmte verwaltungsorganisatorische Erscheinungsform „nicht deshalb verfassungswidrig (sei), weil sie als Mischverwaltung einzuordnen ist, sondern nur, wenn zwingende Kom___________ 6 Ausweislich des für die Sachverständigenanhörung über die sog. Verwaltungsthemen am 8. 11. 2007 erstellten Fragenkatalogs (Kommissionsdrucksache 063; www.bundestag.de), Abschnitt V. 7 Zu den dort teilweise (nicht durchgehend) zurecht erhobenen Forderungen nach einer verstärkten Kooperation im Interesse etwa der Koppelung der verschiedenen Netze, der Standardisierung oder gar des gemeinsamen Anbietens von Diensten vgl. hier nur Eifert, Electronic Government, 2006, S. 390 ff.; Nolte, DÖV 2007, 941 (944 ff.). 8 Zu den insoweit diskutierten Optionen vgl. zuletzt Schliesky (Hrsg.), Die Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in der deutschen Verwaltung, Teil 1, 2008. 9 Vgl. als besonders einflussreiche Beiträge aus dieser Zeit Köttgen, DÖV 1955, 485; Füßlein, DVBl. 1956, 1; Darmstadt, Zur Frage einer Mischverwaltung von Bund und Ländern, 1961; kritisch reflektierend: Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, 1. Teil, Der Einwand der Mischverwaltung, 1975; Loeser, Theorie und Praxis der Mischverwaltung, 1976. 10 AaO, 653. 11 BVerfGE 63, 1 (38), fortgeführt in verschiedenen Folgeentscheidungen, vgl. etwa zuletzt BVerfG, NVwZ 2007, 944.

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petenz- oder Organisationsnormen oder sonstige Vorschriften des Verfassungsrechts entgegenstehen“. In der Hartz IV-Entscheidung spricht das Gericht nur noch von „sogenannte(r)“ Mischverwaltung12. Der Begriff „Mischverwaltung“ bzw. „Verbot der Mischverwaltung“ kann heute somit bestenfalls zur Kennzeichnung einer Problematik, aber weder zur Beschreibung von Phänomenen noch, und erst recht nicht als rechtliche Aussage verwendet werden. Dies hat zuletzt Friedrich Schnapp in wünschenswerter Deutlichkeit bestätigt, indem er feststellt, dass sich „Mischverwaltung bei näherem Hinsehen einmal als ein dogmatischer, ein andermal als ein heuristischer Begriff, der auf Problemfelder verweist, aber selbst keine Lösungen für die Probleme speichert“, erweise13. Konsequenter und im Interesse einer vollkommen vorurteilsfreien rechtlichen Auseinandersetzung mit den durch das Zusammenwirken von Bund und Ländern aufgeworfenen Problemen geboten ist es daher, gänzlich auf den Begriff zu verzichten14 und stattdessen zur Charakterisierung des Zusammenwirkens von Bund und Ländern von „vertikaler Kooperation“ zu sprechen. Vertikale Kooperationen können wiederum in verschiedenen Varianten erfolgen (informelle Kooperationen, Organleihe, in einer gemeinschaftlichen Verwaltungseinrichtung etc.15). Neben der im vorliegenden Beitrag unternommenen Erarbeitung dogmatischer Bausteine liegt in der Fortschreibung der Phänomenologie eine weitere hoffentlich in absehbarer Zeit in Angriff genommene Aufgabe16.

III. Notwendigkeit ausdrücklicher Zulassung oder mögliche Kompetenzgemäßheit trotz Fehlens expliziter Kooperations-Bestimmungen? Die hier eingeforderten dogmatischen Anstrengungen würden bereits im Keim erstickt, wenn es über die wenigen im Grundgesetz enthaltenen Fälle der expliziten Zulassung des Zusammenwirkens von Bund und Ländern hinaus (u.a. im Rahmen des Art. 108 Abs. 4 sowie in Sonderlagen notrechtlicher Art in Art. 35 GG; vgl. ferner Art. 91a u. 91b GG) keine Kompetenzgemäßheit beste___________ 12

BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 153. VSSR 2007, 253; vgl. ferner Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Stand April 1983, Art. 83 Rdnr. 90. 14 Dafür explizit auch Hebeler, in: Bauschke u.a. (Hrsg.), Pluralität des Rechts – Regulierung im Spannungsfeld der Rechtsebenen, 42. Tagung der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht“, 2002, S. 37 ff. m.w.N. 15 Weitere Beispiele bei Loeser (Fn. 9), 122; Lerche (Fn. 13), Art. 83 Rdnr. 108 ff. 16 Vgl. bislang Pietzcker, in: Starck (Hrsg.), Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, 1988, S. 17 (29 ff.); Hebeler (Fn. 14), S. 39 ff. 13

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hender Kooperationen geben könnte. Die Auseinandersetzung mit den in der Einleitung zitierten verfassungsrechtlichen Obersätzen von Friedrich Schnapp ist somit von grundlegender Bedeutung.

1. Ausgangspositionen Der Reigen der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen wird mit dem Beschluss vom 21.10.1971 eröffnet17, und er endet mit der bislang mit der bereits erwähnten Hartz IV-Entscheidung18. Dazwischen hatte sich das BVerfG mit verschiedenen Erscheinungsformen vertikaler Kooperationen in verschiedenen Aufgabenfeldern (vom Schornsteinfegerwesen bis zum Emissionshandel, über die städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen bis zum Telekommunikationsrecht) zu befassen19. Zu der hier formulierten Frage hat das BVerfG bereits in seiner AuftaktEntscheidung wörtlich festgestellt, dass „in einzelnen Fällen“ zulässige Formen der Mischverwaltung denkbar seien20. In der bereits erwähnten besonders ausführlichen Entscheidung aus dem Jahre 1983 hat das Gericht diese Aussage dahingehend konkretisiert, dass „die Verwaltungsräume von Bund und Ländern nicht starr voneinander geschieden sind“, und es „keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach Verwaltungsaufgaben ausschließlich vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, soweit nicht ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelungen etwas anderes zulassen“, gebe. Des Weiteren hat es in Gestalt des Vorliegens einer lediglich „eng umgrenzten Verwaltungsmaterie“ und eines „besonderen sachlichen Grundes“ zwei Kriterien für ein statthaftes „Abgehen von dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“ benannt21. Von dieser Linie ist das BVerfG auch in der Hartz IV-Entscheidung nicht abgewichen. Dies kommt am deutlichsten in der Formulierung zum Ausdruck, wonach „die Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern ... in den Art. 83 ff. GG erschöpfend geregelt und grundsätzlich (Hervorhebung durch den Verf.) nicht abdingbares Recht“ seien bzw. dass das Grundgesetz „auch eine sog. Mischverwaltung ausschlösse“, jedoch „von begrenzten Ausnahmen abgesehen“22. Die Summe all dessen bildet die in Rdnr. ___________ 17

BVerfGE 32, 145. Vgl. Fn. 5. 19 BVerfGE 41, 291; BVerfGE 63, 1; BVerfGE 108, 169; BVerfG, NVwZ 2007, 942. Vgl. ferner zur Übertragung von Landes-Regulierungsaufgaben gemäß § 54 Abs. 2 EnWG auf die Bundesnetzagentur OLG Düsseldorf, RdE 2007, 163, und zur diesbezüglichen Thematik Holznagel/Göge/Schumacher, DVBl. 2006, 471. 20 BVerfGE 32, 145 (154). 21 BVerfGE 63, 1 (39 f.). 22 BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 152 bzw. 153. 18

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169 verwendete Formulierung, wonach „das Zusammenwirken von Bund und Ländern im Bereich der Verwaltung nicht in jedem Falle einer besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigung“ bedürfe. Nichtsdestoweniger wird in der Literatur teilweise angenommen, dass Erscheinungsformen der „Mischverwaltung von Bund und Ländern“ außerhalb der expliziten Kooperations-Bestimmungen (wie etwa über die Amtshilfe etc.) nicht statthaft seien23. Am deutlichsten ist diese Position jüngst in den eingangs erwähnten Worten von Schnapp formuliert worden. Danach komme es nicht darauf an, ob das Grundgesetz Formen der Mischverwaltung verbiete, sondern darauf, ob es sie erlaube. Am deutlichsten: „Jede Bundeskompetenz ... muss ihre Grundlage im geschriebenem (Hervorhebung durch den Verf.) Recht finden“24. Andere Stimmen in der Literatur interpretieren die Rechtsprechung des BVerfG dahingehend, dass auch außerhalb der expliziten KooperationsBestimmungen, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation statthaft sein können. Die Verwaltungsräume von Bund und Ländern seien geschlossen, aber nicht abgeschlossen bzw. sie seien verschieden, aber nicht abgeschieden25.

2. Verfassungsinterpretation im Hin- und Herwandern des Blicks M.E. geht es in der Sache nicht darum, dass die Art. 30, 83 ff. GG keine ausdrückliche Regelung zugunsten der Zulassung von Kooperationsformen enthielten. Vielmehr geht es darum festzustellen, was überhaupt ihre Aussage ist und wann der ihnen zu entnehmende föderale Gehalt verletzt wird. Dies kommt trefflich zum Ausdruck in der Formulierung des BVerfG, dass „nicht durch jedes Zusammenwirken von Bund und Ländern die Kompetenz- und Organisationsnormen der Art. 83 ff. GG angetastet“ würde26. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation möglich sein können, sofern sie nicht die durch die Art. 30, 83 ff. GG aufgerichtete Ordnung missachten. Diese Ordnung ist wiederum durch den Grundsatz der Trennung der Verwaltungsräume von Bund und Ländern geprägt, welcher zugleich den Ausgangspunkt der im nächsten Abschnitt unternommenen ___________ 23 So interpretierte Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HdbStR IV, 1990, § 98 Rdnr. 181 f., jedenfalls die Rechtsprechungslinie bis 1983 (d.h. bis zu BVerfGE 63, 1; mit dieser Entscheidung habe das BVerfG einen „föderativen Damm“ niedergerissen, ohne „einen neuen aufzubauen“). Es habe hierdurch „mehr Probleme aufgeworfen als gelöst“. 24 VSSR 2007, 254. 25 Formulierung nach Ronellenfitsch (Fn. 9), S. 250. Vgl. ferner Lerche, in: Maunz/Dürig (Fn. 13), Art. 83 Rdnr. 90 ff.; Eifert (Fn. 7), S. 391; zuletzt Hummel, DVBl. 2008, 84 (87). 26 BVerfGE 63, 1 (40).

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Suche nach den verfassungsrechtlichen Maßstäben für die Beurteilung von Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation bildet (IV. 1.). Ist mithin danach zu fragen, ob die dem Grundgesetz zu entnehmende Ordnung durch eine bestimmte Erscheinungsform der vertikalen Kooperation (nicht) angetastet wird, so ist zuallererst jeweils eine möglichst detaillierte Beschreibung der zu beurteilenden Erscheinungsform vonnöten. Dabei ist zweierlei wichtig. Zum Ersten muss berücksichtigt werden, dass jede Erscheinungsform der vertikalen Kooperation wesensmäßig durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen gekennzeichnet ist. Sicherlich gibt es Fälle, die stärker durch ein Eindringen des Bundes in den Verwaltungsraum der Länder gekennzeichnet sind (so etwa in der der Hartz IV-Entscheidung zugrunde liegenden Konstellation mit den Arbeitsgemeinschaften), es gibt aber auch Fälle, in denen die Länder in den Verwaltungsraum des Bundes hineinwirken können, indem dieser sie etwa im Wege der Organleihe einbezieht. Noch einmal anders gelagert sind Fälle, die durch eine durchgehende Wechselseitigkeit geprägt sind, so etwa wenn die Pläne zur Schaffung einer Behördennetz-Betreibereinheit (sog. Deutschland-Online-Organisation) verwirklicht werden sollten, deren zentrale Aufgabe in der Realisierung eines Koppelnetzes (einer Verbindung zwischen den bislang separaten Netzen des Bundes und denen der Länder) besteht; in einem solchen Fall würden gleichzeitig die Länder in den Verwaltungsraum des Bundes und der Bund in die Verwaltungsräume der Länder eindringen, jeweils buchstäblich technisch vermittelt (gekoppelt) über das besagte Koppelnetz. Ungeachtet dieser Abstufungen greift jedenfalls der schlichte Vergleich mit den (in der Sache von vornherein verfassungswidrigen) Fällen einer Anmaßung von Kompetenzen durch den Bund zu Lasten der Länder zu kurz. Die Art. 30, 83 ff. GG regeln unmittelbar nur diesen Fall; für die Fälle der vertikalen Kooperation, die durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen gekennzeichnet sind, sind sie nach Wortlaut und Intention (Schutz der Länder vor Kompetenzanmaßung seitens des Bundes) nicht unmittelbar anwendbar. Daher ist die maßgebliche Frage zutreffend dahingehend formuliert, dass sie (lediglich) eine Ordnung aufrichten, die durch Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation nicht angetastet werden dürfe. Zum Zweiten ist dem allgemein anerkannten Umstand Rechnung zu tragen, dass bei der organisatorischen Ausgestaltung der Verwaltung regelmäßig ein weiterer Spielraum besteht als er durch die das Staat-Bürger-Verhältnis reglementierenden Verfassungsaussagen eröffnet wird. Die Verwaltung bedarf seiner, um „den verschiedenartigen und sich ständig wandelnden organisatorischen Erfordernissen Rechnung tragen und damit eine wirkungsvolle und leistungsfähige Verwaltung gewährleisten zu können“, wie das BVerfG in der

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Hartz IV-Entscheidung ausdrücklich bestätigt hat27. Weiter heißt es, dass die öffentliche Gewalt „in ihrem Streben nach angemessenen Antworten auf neue staatliche Herausforderungen nicht durch eine zu strikte Trennung der Verwaltungsräume gebunden“ werden dürfe28. Von zentraler Bedeutung ist umso mehr eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Erscheinungsformen. Sämtliche Entscheidungen des BVerfG sind daher durch ein großes Maß an Detailgenauigkeit und Einzelfallbezogenheit geprägt. Bei der Beurteilung neuer Erscheinungsformen kann demnach nicht einfach auf die jeweils bis dato ergangene Rechtsprechung verwiesen werden. Der hier aufzunehmende dogmatische Auftrag lautet vielmehr dahingehend, im Anschluss an die Beschreibung der konkret zur Beurteilung anstehenden Erscheinungsformen diese anhand der im Abschnitt IV beschriebenen Kriterien unter Berücksichtigung der dort genannten verfassungsrechtlichen Determinanten und den ebenfalls dort zu entfaltenden verfassungsrechtlichen Maßstäben messen zu können.

IV. Bausteine einer Dogmatik der vertikalen Kooperation 1. Maßstäbe Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Beurteilung der Kompetenzgemäßheit von Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation sind unzweifelhaft in den Art. 30 und 83 ff. GG zu finden. Die dort vorgenommene Kompetenzaufteilung zwischen dem Bund und den Ländern ist die wichtigste Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips nach Art. 20 Abs. 1 GG und zugleich ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung. Mit ihr wird politische Macht verteilt und deren Auswirkungen ein verfassungsrechtlicher Rahmen gesetzt, innerhalb dessen ein Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte und ein Ausgleich der widerstreitenden Belange ermöglicht werden soll29. Diese den Art. 30, 83 ff. GG zu entnehmenden Kompetenzregeln sind nicht-dispositives Recht, d.h. der Umstand, dass Bund und Länder im Einzelfall einvernehmlich eine vertikale Kooperation eingehen wollen, könnte ein sich aus jenen Bestimmungen ergebendes Verbot nicht überwinden30.

___________ 27

DVBl. 2008, 173, Rdnr. 154. Noch weiter gehen die dissentierenden Richter Broß, Osterloh und Gerhardt (BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 212 ff. [227]), die von einer „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ sprechen. 29 BVerfGE 63, 1 (41); BVerfGE 108, 169 (181). 30 BVerfGE 39, 96 (109); BVerfGE 41, 291 (311); BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 151. 28

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Bereits die erste Lektüre der Art. 83 ff. GG erweist die seit Jahrzehnten unangefochtene Erkenntnis, dass die Verwaltungskompetenz von Bund und Ländern grundsätzlich voneinander getrennt sind, d.h. dass das Grundgesetz in der Regel nur die Verwaltung entweder durch den Bund oder durch die Länder vorsieht. Im Ausgangspunkt ist von einer „Trennung der Verwaltungsräume“ von Bund und Ländern auszugehen31. Dabei bedeutet „Trennung“ das Vorhandensein von jeweils in sich geschlossenen Einheiten und zwar sowohl in organisatorischer als auch in funktioneller Hinsicht. Die jeweils zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse sollen grundsätzlich mit eigenen personellen und sächlichen Mitteln wahrgenommen werden. Speziell aus den Art. 83 ff. GG folgt, dass die dort normierten Verwaltungstypen grundsätzlich abschließend gefasst sind. Die Erfindung weiterer Verwaltungstypen oder von Kombinationsformen ist grundsätzlich ausgeschlossen. Unterhalb der Schwelle der Schaffung neuer Verwaltungstypen ziehen die Art. 83 ff. GG in Gestalt der dort vorgesehenen Ingerenzrechte des Bundes (vgl. etwa das in Art. 85 Abs. 3 GG vorgesehene Weisungsrecht und die Befugnis zum Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften nach Art. 84 Abs. 2 GG) Grenzen; der Kreis dieser Ingerenzrechte darf grundsätzlich nicht durch die Schaffung neu- bzw. andersartiger Einwirkungsmöglichkeiten erweitert werden. Diese seit langem anerkannten Grundsätze sind mit Inkrafttreten der Föderalismusreform I weiter gefestigt worden, deren zentrale Ordnungsidee in der „Entflechtung“ der Zuständigkeiten und Verfahren zwischen Bund und Ländern lag, mit dem Ziel der Schaffung klarerer Verantwortlichkeiten und Erhöhung der Transparenz32. Gemeinsames BasisTatbestandsmerkmal der durch die Art. 83 bis 85 GG eingeführten Verwaltungstypen nebst Ingerenzbefugnissen des Bundes bildet freilich das Erfordernis der „Ausführung von Bundesgesetzen“. Darunter ist die „vollzugstypische Konkretisierungsaufgabe“, das Handeln im Rahmen von „Handlungspflicht und -befugnis“ zu verstehen33. Erfasst ist mithin nur die gesetzesausführende Verwaltung, nicht auch diejenige Verwaltungstätigkeit, die frei von gesetzlicher Determinierung lediglich zur Beachtung der allgemeinen Gesetze verpflichtet ist. Die Bedarfsdeckungsverwaltung und die wirtschaftliche Betätigung von Verwaltungen fällt nach allgemeiner Auffassung demnach nicht in den Anwendungsbereich der Art. 83 bis ___________ 31 Formulierung nach Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2, 1980, S. 832; vgl. zuvor bereits Grawert, Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland, 1967, S. 264. 32 Ausführlich entfaltet in dem von Huber für den 65. Deutschen Juristentag 2004 erstatteten Gutachten (hrsg. von der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages, Band 1, 2004, D 33 ff.). 33 Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band III, 2000, Art. 83 Rdnr. 31; vgl. ferner Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 83 Rdnr. 52.

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85 GG34. Dies bedeutet, dass die detaillierten Aussagen zu den verschiedenen Verwaltungstypen beim Vollzug von Bundesgesetzen und den hierbei bestehenden Ingerenzbefugnissen bei der Bildung des Maßstabes zur Beurteilung von Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation in diesen Aufgabenfeldern nicht relevant sind. Das hat zur Folge, dass der Grundsatz der Trennung der Verwaltungsräume von Bund und Ländern eher abgeschwächt als verstärkt wird, weil als verfassungsrechtlicher Maßstab „nur“ der deutlich allgemeiner gefasste Art. 30 GG, wonach „die Ausübung der staatlichen Befugnisse und Erfüllung der staatlichen Aufgaben ... Sache der Länder (ist), soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt“, übrig bleibt. Er gilt im Unterschied zu den Art. 83 bis 85 GG generell auch für die nichtgesetzesausführende Verwaltungstätigkeit35. Was das für die Beurteilung von Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation bedeutet, ist (dies als weiterer Beleg für die Notwendigkeit einer Dogmatik) ungeklärt. Immerhin wird die Feststellung Lerches36, dass sich am „prinzipiellen Verbot der Mischverwaltung auch in diesem Bereich ... nichts“ ändere, dass sich aber „ein breiterer Raum für unterverfassungsrechtliche organisatorische Gebilde“ entfalten könne, als zutreffend anzusehen sein. Denn die grundgesetzliche Fassung der gesetzesfreien Verwaltung ist jedenfalls in föderaler Hinsicht weniger dicht ausgefallen als die der gesetzesakzessorischen Verwaltung. Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass die beiden sogleich vorzustellenden zusätzlichen verfassungsrechtlichen Determinanten bei der Prüfung der Kompetenzgemäßheit von Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation, das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip (vgl. IV. 2.), gar nicht oder wiederum nur abgeschwächt eingreifen, wenn es an gesetzlichen Regelungen, die Verwaltungszuständigkeiten festlegen, gerade fehlt (und mithin auch die Perspektive des Bürgers und des Rechtsschutzes nicht betroffen ist) bzw. wenn es eben um Entscheidungen im reinen Binnenbereich der Verwaltung geht, die von vornherein der Exekutive zugewiesen sind, weswegen Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkte einen größeren Raum einnehmen können als bei der Ausgestaltung der unmittelbaren Auswirkung der Staatsgewalt nach außen37.

___________ 34

Vgl. statt vieler Lerche, in: Maunz/Dürig (Fn. 13), Art. 83 Rdnr. 8. Vgl. Lerche, in: Maunz/Dürig (Fn. 13), Art. 83 Rdnr. 42; Erbguth, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2007, Art. 30 Rdnr. 33. 36 Lerche, in: Maunz/Dürig (Fn. 13), Art. 83 Rdnr. 86; ihm folgend Eifert (Fn. 7), S. 402. 37 Dies kann hier nicht vertieft werden; vgl. (im Hinblick auf bedarfsdeckende Aufgaben) nur Eifert (Fn. 7), S. 403. 35

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2. Determinanten Dieser soeben skizzierte föderale Maßstab wird, bei Vorliegen der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen38, durch das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip ergänzt. Das Rechtsstaatsprinzip zielt aus der Perspektive und dem Schutzinteresse der Bürger auf eine Verteilung von Verwaltungszuständigkeiten ab, die den Grundsätzen der „Normenklarheit und Widerspruchsfreiheit“ entspricht. Der Bürger soll zuverlässig ermitteln können, welche Stelle innerhalb der weitverzweigten Verwaltung gleichsam für ihn zuständig ist. Widersprüchliche Zuständigkeitsregeln sind daher verfassungswidrig. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG setzt dieses im Formalen wurzelnde Verdikt voraus, „dass es tatbestandlich um die Bestimmung von Verwaltungszuständigkeiten geht“39. Die zweite Determinante, das Gebot der demokratischen Legitimation des Verwaltungshandelns nach Art. 20 Abs. 2 GG, erfordert ebenfalls eine hinreichend klare Kompetenzverteilung, und zwar im Interesse der Ermöglichung demokratischer Verantwortlichkeit. Der Bürger muss (nicht nur im Hinblick auf seine Wahlentscheidungen) einschätzen können, wen er wofür verantwortlich machen kann. Im föderalen Verfassungsstaat wird demokratische Legitimation entweder grundsätzlich nur durch das Bundes- oder durch das Landesvolk für seinen jeweiligen Bereich vermittelt. Als tatbestandliche Voraussetzung für das Gebot der demokratischen Legitimation fungiert das in Art. 20 Abs. 2 GG konstituierte Merkmal der „Ausübung von Staatsgewalt“. Dabei genügt es nicht, dass überhaupt eine Verwaltungstätigkeit vorliegt, vielmehr muss eine Intensitätsschwelle überschritten werden, was mit dem Begriff der „Entscheidung“ erfasst wird (Staatsgewalt im formellen Sinne)40. An dieser Stelle bloß erwähnt werden kann, dass nicht in jedem Falle der vertikalen Kooperation, jedoch bei Einbeziehung der Kommunen, als weitere verfassungsrechtliche Determinante der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit kommunaler Aufgabenwahrnehmung nach Art. 28 Abs. 2 GG hinzutritt. Er versubjektiviert die Einhaltung der Kompetenzgemäßheit einer vertikalen Kooperation zwischen dem Bund und den Ländern zugunsten der Kommunen41. ___________ 38

Soeben (IV 1) wurde bereits festgestellt, dass das Rechtsstaats- bzw. das Demokratieprinzip nicht in jeden Fall der staatlichen Aufgabenwahrnehmung eingreifen bzw. nicht in jedem Fall in der gleichen Intensität Wirkungen entfalten. 39 BVerfGE 63, 1 (40 f.); BVerfGE 108, 169 (181 f.); BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 156. 40 BVerfGE 83, 60 (73); Trute, in: Grundlagen (Fn. 3), § 6 Rdnr. 27 f. 41 So ausführlich das BVerfG in der Hartz IV-Entscheidung (DVBl. 2008, 173, Rdnr. 147, 176 ff.).

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3. Kriterien Können somit auch jenseits expliziter Kooperations-Bestimmungen Erscheinungsformen der vertikalen Kooperation ausnahmsweise statthaft sein, so bedarf es der Entwicklung von Kriterien, deren Erfüllung im Einzelfall über die Annahme einer statthaften Ausnahme entscheidet. Das BVerfG hat in zwei der oben (vgl. III. 1.) zusammengestellten Entscheidungen den Kreis der Kriterien zur Beurteilung der Kompetenzgemäßheit aus seiner Sicht umschrieben. Das erste Kriterium ist dadurch gekennzeichnet, dass es auf das „Vorliegen einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie“ ankommt. Es widerspräche nach Auffassung des BVerfG dem Grundgedanken einer Kompetenznorm, „wenn in weitem Umfang Einrichtungen der Landesverwaltung für Zwecke der Bundesverwaltung herangezogen würden“42. In der Hartz IV-Entscheidung wurde dieses Kriterium zutreffend verneint, und zwar mit der Begründung, dass es sich hierbei um einen der größten Sozialverwaltungsbereiche, der einen beträchtlichen Teil der Sozialleistungen des Staates umfasse, gehandelt habe. Diese Einschätzung ist sowohl angesichts der Anzahl der von den Regelungen betroffenen Personen als auch in Anbetracht des Finanzvolumens ohne Weiteres nachvollziehbar. Materien von bescheidenerer finanzieller und politischer Dimension, insbesondere eher technisch geprägte Aktivitäten, dürften demgegenüber die Hürde des ersten Kriteriums überspringen können. Das zweite Kriterium kann der Formulierung des BVerfG entnommen werden, wonach von dem Gebot, die Aufgaben eigenverantwortlich wahrzunehmen, „nur wegen eines besonderen sachlichen Grundes abgewichen werden“ dürfe43. Nach Durchsicht der bisherigen Judikatur genügt es insoweit nicht, wenn lediglich eine oder mehrere politische Zielsetzungen zu Gunsten der jeweils intendierten Form der vertikalen Kooperation ins Felde geführt werden. Vielmehr hat das BVerfG in den bisherigen Entscheidungen jeweils eine umfangreiche Prüfung verschiedener aufgabenbezogener und organisatorischer Aspekte vorgenommen. In der Literatur ist daraufhin zu Recht der Schluss gezogen worden, dass die endgültige Entscheidung über die Kompetenzgemäßheit einer einzelnen Erscheinungsform erst im Anschluss an eine detaillierte Auseinandersetzung mit verschiedenen aufgaben- und organisationsbezogenen topoi getroffen werden könne44. Diese Auseinandersetzung kann unter dem Sammelpunkt „sachlicher Grund“ angesiedelt werden. Sie setzt wiederum die sorgfältige Beschreibung der konkret zu beurteilenden Erscheinungsform (auf der Ebene der Phänomenologie; vgl. II.) voraus. Aufgabenbezogene Aspekte ___________ 42

BVerfGE 63, 1 (41); BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 159. BVerfGE 63, 1 (41); BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 159. 44 Übereinstimmend Lerche, in: Maunz/Dürig (Fn. 13), Art. 83 Rdnr. 93 ff.; Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 33), Art. 83 Rdnr. 37 ff.; Eifert (Fn. 7), S. 399. 43

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liegen in den Sachgesetzlichkeiten der jeweils betroffenen Materien (wobei seit der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1983 verwaltungspraktische und -ökonomische Erwägungen grundsätzlich anerkannt sind45), im Charakter der im Kooperationswege übernommenen Tätigkeiten als bloß unterstützenden, koordinierenden oder informierenden Charakters sowie in der kompetenziellen Ausstattung der kooperierenden Träger. Aufgaben, für die zu Gunsten des Bundes allenfalls eine Kompetenz kraft Natur der Sache in Frage käme, können u.U. eher im Wege vertikaler Kooperation erledigt werden als Aufgaben, bei denen das nicht der Fall ist. Eher organisationsbezogener Natur sind sodann Aspekte wie die konkret gewählte Rechtsform, der Umfang der Einwirkungsund Kontrollrechte und insbesondere die Verankerung nicht nur von Einstimmigkeits-, sondern auch von Mehrheitsentscheidungen. Noch mehr Unklarheiten (und daher Aufträge für künftige dogmatische Arbeiten) bestehen freilich hinsichtlich der Voraussetzungen für das Eingreifen jener beiden Kriterien. Können sie zur Rechtfertigung jedweder Form der vertikalen Kooperation herangezogen werden oder von vornherein nur gegenüber bestimmten Erscheinungsformen? Die beiden Entscheidungen des BVerfG, die die Kriterien eingeführt und geprüft haben, betrafen Erscheinungsformen des Einbeziehens von Verwaltungseinheiten der Länder durch den Bund im Wege der Organleihe46 bzw. im Wege der Einbindung in eine gemeinschaftliche Verwaltungseinrichtung (so in der Hartz IV-Entscheidung)47. Da in beiden Entscheidungen kein ausdrücklicher Zusammenhang zwischen der jeweils betroffenen Erscheinungsform und dem Eingreifen der beiden Kriterien hergestellt wird, besteht gegenwärtig wohl kein Anlass, sie nun im Hinblick auf die Beurteilung anderer Entscheidungsformen für nicht einschlägig zu halten. Insbesondere gegenüber Erscheinungsformen, die die Verwaltungskompetenzausstattung der Länder in größerem Maße schonen als die Erscheinungsformen der Einbeziehung in den Bereich der Bundesverwaltung (vgl. zu den Erscheinungsformen bereits II.), können die beiden Kriterien gleichsam im Wege eines a maiore ad minus-Schlusses Verwendung finden. Denn das BVerfG hat wiederholt betont, dass der Schutzzweck der föderalen Anforderungen an Formen der vertikalen Kooperation gerade im Schutze der Länder „vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich“ bestünde48.

___________ 45

BVerfGE 63, 1 (43). BVerfGE 63, 1. 47 BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 173. 48 BVerfGE 108, 169 (181 f.); BVerfG, DVBl. 2008, 173, Rdnr. 156. 46

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V. Schluss Die vorstehenden Überlegungen verstehen sich als Gesprächsbeitrag, obwohl es angesichts der beeindruckenden Präsenz und neugierigen Aufgeschlossenheit des Jubilars für den Fakultätskollegen ein Leichtes gewesen wäre, den persönlichen Dialog zu suchen. Dass statt seiner der Festschriftenaufsatz gewählt worden ist, entspringt allein der Hoffnung, weitere Verfassungs- und Verwaltungsrechtler für das Thema der vertikalen Kooperation interessieren zu können!

Grundrechte und Sozialstaatsprinzip: Vertragsfreiheit und die (partiell) sozialstaatliche Imprägnierung der grundrechtlichen Schutzpflicht Von Wolfram Cremer, Bochum

I. Einführung Es gehört heute zum weitgehend gesicherten Stand des Grundrechtswissens, dass die Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes nicht lediglich (Eingriffs-) Abwehrrechte verbürgen, sondern gegenüber dem Staat als Grundrechtsverpflichtetem auch Ansprüche des Einzelnen auf positives Tun zu begründen vermögen. Freilich ist insofern allein die grundrechtliche Schutzpflicht als Grundlage freiheitsgrundrechtlich fundierter Leistungsrechte anerkannt.1 Jenseits der Schutzfunktion stoßen grundrechtsgestützte Ansprüche auf positives Tun des Staates allenfalls bereichsspezifisch auf Akzeptanz. Das gilt namentlich für soziale resp. sozialstaatlich motivierte Rechte. Insofern hat nicht zuletzt der Jubilar besonders nachdrücklich die Eigenart der Freiheitsgrundrechte als auf Integritätsschutz und Abwesenheit des Staates gerichtete justiziable Rechte hervorgehoben und diesen soziale Grundrechte bzw. verfassungsfundierte (im weitesten Sinne) auf Teilhabe gerichtete, sozial motivierte Verbürgungen gegenüber gestellt.2 Insbesondere soll es auch das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG nicht vermögen, den Freiheitsgrundrechten eine soziale Dimension im Sinne originärer Leistungsrechte – im Unterschied zu derivativen Teilhaberechten –3 hinzuzufügen. Dabei soll die Dichotomie zwischen Rechten auf Integritätsschutz einerseits und Rechten auf chancengewährende Teilhabe andererseits nicht allein im Verhältnis zwischen den Grundrechten als Abwehrrechten und den Grundrechten als (sozialen) Teilhaberechten bestehen, sondern gleichermaßen im Verhältnis zwischen den Grundrechten als Schutzrechten und den Grundrechten als (sozialen) Teilhaberechten – eben weil die grundrechtliche Schutzpflicht wie das Abwehrrecht auf (Grund)rechtsgutbewahrung resp. ___________ 1

Den Bedarf für eine Schutzfunktion der Grundrechte freilich negierend Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003. 2 Schnapp, in: Maydell (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der EG, 1990, S. 5 ff. 3 Näher zu dieser Unterscheidung Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 360 ff.

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Integritätsschutz gerichtet ist. Nun ist es nicht Anliegen dieses Beitrags die grundrechtsfunktionale und mithin kategoriale Verschiedenheit der Grundrechte als Schutzrechte und als sozialstaatlich motivierte Leistungsrechte in Abrede zu stellen. Wohl aber soll gezeigt werden, dass das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG (in einem beschränkten und spezifischen Kontext) innerhalb der Schutzfunktion Wirkungen zu entfalten vermag oder besser in diese integriert werden kann und muss – und zwar im Bereich interprivater vertraglicher Beziehungen. Grundrechtliche Begrenzungen „frei“ ausgehandelter Verträge und Vertragsinhalte, wie sie das Bundesverfassungsgericht in den Handelsvertreter-, Bürgschafts-, Ehevertrags- und Kapitallebensversicherungsentscheidungen4 markiert hat, finden ihren Ausgangspunkt zwar in der grundrechtlichen Schutzpflicht, bedürfen aber der Anreicherung durch das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip. Bevor diese Konzeption hier näher entfaltet werden kann (V.), wird zunächst in aller Kürze die grundsätzliche Absage des Grundgesetzes an eine soziale Grundrechtsfunktion begründet (II.). Des Weiteren bedarf es sowohl einer Vergewisserung über die Fundierung der grundrechtlichen Schutzpflicht und – daran anknüpfend und für den vorliegenden Zusammenhang zentral – ihres auf die staatliche Abwehr privater Übergriffe begrenzten Anwendungsbereichs (III.), als auch der Vergewisserung über die fundamentalen Strukturen des grundrechtlichen Schutzes der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie und der Vertragsfreiheit als ihrer wichtigsten Ausprägung (IV.).

II. Zur Nichtexistenz einer allgemeinen sozialen Grundrechtsfunktion Anknüpfend an ein vor allem in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickeltes bzw. propagiertes sozialstaatliches Grundrechtsverständnis (resp. sozialstaatliche Grundrechtstheorien) wurden den Freiheitsgrundrechten des Grundgesetzes Leistungsansprüche entnommen, welche – in vereinfachender Pointierung – darauf gerichtet waren, die zur faktischen Grundrechtsrealisierung notwendigen materiellen Ressourcen (in Gestalt von Sachmitteln oder Geld) staatlicherseits zu gewährleisten.5 Freilich hat sich eine solche Position – unbeschadet einzelgrundrechtlicher Sonderdogmatiken –6 niemals nachhaltig durchzusetzen vermocht und findet heute zu Recht zuneh-

___________ 4

BVerfGE 114, 1 ff.; 114, 73 ff. Vgl. die Nachweise bei Martens, VVDStRL 30 (1971), 7 (26, Fn. 92); ferner Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1535 f.). 6 Zu nennen ist vor allem Art. 6 Abs. 4 GG, vgl. dazu Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. I, 2005, Art. 6 IV, Rn. 280 ff. 5

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mend weniger Anhänger:7 Die Annahme, Grundrechte seien bereits deshalb eine taugliche Anspruchsgrundlage für materielle Unterstützung durch den Staat, weil dem Einzelnen ohne diese Unterstützung eine Grundrechtsausübung häufig nicht oder nur unzureichend gelingen könne,8 impliziert einen dem Grundgesetz nicht zu entnehmenden „Erfüllungsauftrag“. Die Wirklichkeit des Sozialstaats taugt nicht zu einer grundgesetzlichen – und mithin rangwandelnden – Fundierung sozialer Ansprüche nach Maßgabe des einfachgesetzlichen status quo oder gar im Sinne einer Anpassung an den gesamtgesellschaftlichen wirtschaftlichen Fortschritt. Damit sollen methodisch keineswegs Wirklichkeitsbezüge aus dem Kontext der Norminterpretation eliminiert werden,9 wohl aber der Gleichsetzung von Wirklichkeitswandel und Verfassungswandel eine Absage erteilt werden. Der soziale Befund vermöchte andernfalls das autoritativ gesetzte „Normenmaterial“ vollständig zu überspielen, ja zu verdrängen.10

III. Die grundrechtliche Schutzpflicht als hoheitliche Pflicht zur Abwehr privater Übergriffe Hier kann und muss es nicht darum gehen, die Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflicht umfassend nachzuzeichnen und ihre Grundstrukturen im Einzelnen zu entwickeln. Im Hinblick auf das zentrale Anliegen dieses Beitrags, nämlich den grundrechtlichen Schutz gegen „frei“ ausgehandelte Vertragsinhalte,11 genügt es vielmehr festzustellen – was ich an anderer Stelle12 ___________ 7 Ablehnend etwa Gusy, JA 1980, 78 (83); Böckenförde (Fn. 5), 1529 (1535 f.); ders., in: Staat, Verfassung, Demokratie, 1992, 146 (151 f.); Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 137 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 200; Bieback, EuGRZ 1985, 657 (663 f. mit weiteren Nachweisen in Fn. 71), der allerdings die sozialstaatliche Grundrechtsinterpretation als allgemein anerkannt einstuft. 8 Viel genanntes Beispiel ist der Mittellose, der ohne die Zurverfügungstellung oder Finanzierung von Malutensilien die Kunstfreiheit nicht auszuüben vermag. 9 Instruktiv insofern BVerfGE 96, 375 (394 f.). 10 Verbreitet wird eine soziale Grundrechtsfunktion zudem unter der Hinweis auf den „Vorbehalt des Möglichen“ und/oder das Budgetrecht des Parlaments bzw. den Gestaltungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers abgelehnt, vgl. Murswiek, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl., 2000, § 112, Rn. 57 ff.; Isensee, Der Staat 19 (1980), 367 (381); Zacher, Sozialpolitik und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, 1968, S. 29; Kirchhof, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl., 2007, § 99 Rn. 108 ff.; Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 15; Breuer, in: Festgabe für das Bundesverwaltungsgericht, 1978, 89 (93); Bieback (Fn. 7), 657 (663 f.); Grabitz (Fn. 7), S. 41 ff.; Starck, JuS 1981, 237 (240 f.); Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S. 466, mit einer grundrechtlich begründeten relativ restriktiven Interpretation des Möglichkeitsvorbehalts. 11 Zur diesbezüglichen Relevanz dieser Ableitung unten V. 3. 12 Cremer (Fn. 3), S. 234 ff.

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ausführlich dargelegt und begründet habe –, dass die grundrechtliche Schutzfunktion – angereichert durch die verfassungsrechtliche Verbürgung des objektiv-rechtlichen Staatszwecks Sicherheit – auf zwei Begründungselementen fußt: Den verfassungstextlichen Anknüpfungs- und verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt zur Begründung einer subjektiv-rechtlichen Verbürgung bietet Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG. Erst das ausweislich der Entstehungsgeschichte gewünschte Grundrecht auf Sicherheit ermöglicht indes ein über den Menschenwürdeschutz hinausgehendes Schutzrecht, welches seinerseits im Hinblick auf die zu sichernden Schutzgüter durch die Einzelgrundrechte konkretisiert wird. Das Grundrecht auf Sicherheit war nicht nur in der Grundrechtsgeschichte ein Recht auf Abwehr ungewollter Übergriffe durch andere; in diesem Sinne ist es auch im Parlamentarischen Rat verstanden und diskutiert worden. Aus dieser (auch) sicherheitsrechtlichen Ableitung folgt eine Beschränkung der Schutzpflicht auf von privaten Dritten ausgehende Gefahren. Zwar ist die Schutzpflicht nicht auf die Abwehr physischer Gewalt beschränkt – auch unkörperliche, gewaltfreie Beeinträchtigungen sind erfasst, soweit nur Dritte, wie etwa bei Drohungen oder Täuschungen, gegen den Willen des Opfers in seinen Rechtskreis eindringen –, von „nichtmenschlichen“ Quellen (etwa Naturereignisse und Drittstaaten) ausgehende Gefahren vermögen die Schutzmechanismen der Schutzpflicht dagegen ebenso wenig zu aktivieren wie durch unverschuldete Arbeitslosigkeit oder sonstige (gesamt)wirtschaftliche Ursachen begründete Notlagen. In solchen Notlagen vermag Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG i.V.m. dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG im Einzelfall zu helfen; diese verfassungs- und grundrechtlich bewehrte Pflicht des Staates zur Hilfe wurzelt aber eben nicht in einer grundrechtlichen Schutzpflicht.13

IV. Grundrechtlicher Schutz der Vertragsfreiheit Bevor wir uns dem zentralen Gegenstand dieses Beitrags zuwenden, nämlich der Einbindung des Sozialstaatsprinzips in die grundrechtliche Schutzpflicht im Kontext interprivater Vertragsbeziehungen, bedarf es zunächst einer Vergewisserung über die Grundstrukturen des grundrechtlichen Schutzes der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie und der Vertragsfreiheit als seiner wichtigsten Ausprägung. Dies ist deshalb angezeigt, weil es sich bei der Vertragsfreiheit nicht um eine sog. natürliche Freiheit handelt, sondern die Anerkennung einer zweiseitigen Vereinbarung als verbindlich und mithin als Recht staatlicher Konstituierung oder jedenfalls staatlicher Anerkennung bedarf. Um es an einem ___________ 13 Im Übrigen schenkt das Grundgesetz Naturkatastrophen und sonstigen Unglücksfällen in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG besondere Aufmerksamkeit.

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einfachen Beispiel zu illustrieren: Wenn Verkäufer und Käufer einander versprechen, dass der eine dem anderen ein Brot und der andere dem einen als Gegenleistung zwei Euro übereignet, bleiben diese Versprechen ohne rechtliche Einhegung folgenlos. Erst die staatliche Rechtsordnung lässt die Versprechen verbindlich und ggf. durchsetzbar werden. Dessen ungeachtet genießen die rechtsgeschäftliche Privatautonomie und mit ihr die Vertragsfreiheit, nämlich das Recht mit anderen – durch die Rechtsordnung als verbindlich sanktionierte – Verträge beliebigen Inhalts abzuschließen, in Übereinstimmung mit der wohl h.M. abwehrrechtlichen Schutz, ohne dass dies hier nochmals zu entfalten wäre.14 Folglich greifen gesetzliche Regelungen, welche einen Vertrag bestimmten Inhalts für unwirksam erklären, ebenso wie die Umsetzung solcher Regelungen im Einzelfall durch gerichtlichen Ausspruch (Klagabweisung bezüglich des begehrten, vertraglich vereinbarten Anspruchs) in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG als Abwehrrecht oder vorrangige spezialgrundrechtliche Verbürgungen der Vertragsfreiheit ein. Des Weiteren entfaltet die Vertragsfreiheit auch gegenüber Rechtsnormen und deren zivilgerichtlicher Aktualisierung, welche den Einzelnen zum Vertragsabschluss mit anderen verpflichten (Kontrahierungszwang), abwehrrechtlichen Schutz – insoweit ist von der „negativen Vertragsfreiheit“ die Rede.15 Abwehrrechtlich bewehrt sind schließlich zwingende und halbzwingende16 Normen, welche Vertragsinhalte begründen, die vom vertraglich Vereinbarten abweichen. Als Beispiele seien hier nur die (subjektiv) halbzwingenden §§ 536 Abs. 4, 554 Abs. 5 und 555 BGB genannt, welche im Interesse des Mieterschutzes nicht zu Lasten der Mieter – wohl aber zu Lasten der Vermieter – abbedungen werden können. Gegen die Einstufung solcher Normen als Grundrechtseingriff kann nicht eingewandt werden, es stehe jedermann frei, Verträge abzuschließen, und folglich könne man diese ungewollten Vertragsfolgen vermeiden. Für einen Eingriff in die grundrechtlich umfassend geschützte Vertragsfreiheit genügt es, dass der Vertragsinhalt nicht völlig frei von staatlichen Restriktionen ausgehandelt werden kann. Mit Blick auf den Vertragsschluss als solchen ist ferner hinzuzufügen, dass die abwehrrechtlich geschützte Freiheit auch dann beeinträchtigt ist, wenn ihre Wahrnehmung zwar nicht unmöglich gemacht, aber doch erschwert wird.17 ___________ 14 Vgl. dazu Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. I, 2005, Art. 2 I, Rn. 145 ff.; so auch noch BVerfGE 81, 242 (255). 15 Näher zum Kontrahierungszwang Bydlinski, AcP 180 (1980), 1 ff.; Kilian, AcP 180 (1980), 47 ff.; vgl. ferner zur Diskussion um die Maßstäblichkeit und Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes für einen Kontrahierungszwang Ruffert (Fn. 7), S. 183 f. 16 Vgl. zum Begriff und einer weiteren Untergliederung in subjektiv (einseitig), objektiv und zeitlich halbzwingende Normen, Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2004, § 3 Rn. 104 ff. 17 Vgl. auch Looschelders/Roth, JZ 1995, 1034 (1037); Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1990, S. 38.

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V. Grundrechtliche Grenzen „frei“ vereinbarter Verträge und Vertragsinhalte Wurde soeben die Reichweite des abwehrrechtlichen Schutzes der grundrechtlichen Vertragsfreiheit skizziert, wende ich mich nun dem zentralen Gegenstand dieses Beitrags zu. Einen Schwerpunkt der Auseinandersetzung um die Bedeutung der Grundrechte im Privatrecht bildet in jüngerer Zeit die Frage nach dem Einfluss der Grundrechte auf die Geltung und den Inhalt privatrechtlicher Verträge bzw. Vertragsinhalte. Insbesondere im Anschluss an den Handelsvertreter-Beschluss des BVerfG aus dem Jahre 199018 und das Bürgschaftsurteil des BVerfG von 199319 wurde diskutiert, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Grundrechte dadurch verletzt werden können, dass der Staat Vertragsabschlüsse, die ohne Täuschung, Drohung und unmittelbaren Zwang entstanden sind, als rechtlich wirksam anerkennt und bei der Durchsetzung der darin begründeten Verpflichtungen durch seine Gerichte und Zwangsvollstreckungsorgane hilft.20 In jüngerer Zeit hat die Diskussion durch das Ehevertrags-Urteil vom Februar 200121 und die beiden Kapitallebensversicherungsurteile vom Juli 200522 neuen Auftrieb erhalten. Der 1. Senat des BVerfG hat in all diesen Entscheidungen23 jeweils ein zivilgerichtliches Urteil als grundrechtswidrig aufgehoben, welches durch Richterspruch „lediglich“ dem vereinbarten Vertragsinhalt Geltung verschafft hatte. ___________ 18

BVerfGE 81, 242 (260 ff.). BVerfGE 89, 214 (229 ff.); vgl. ferner BVerfG (Kammer), NJW 1994, 2749 (2750). 20 Vgl. nur Hermes, NJW 1990, 1764 ff.; Schwabe, DVBl. 1990, 477 ff.; Hillgruber, AcP 191 (1991), 69 ff.; Wiedemann, JZ 1990, 695 ff.; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl., 2000, § 111 Rn. 130 f.; Looschelders/Roth (Fn. 17), 1034 ff.; Dieterich, WM 2000, 11 ff.; Roth, in: Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, 229 ff.; Krämer, in: Festschrift für Schimansky, 1999, 367 ff.; Schapp, ZBB 1999, 30 ff.; Zöllner, WM 2000, 1 ff.; sowie im Rahmen ausgreifenderer Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Privatrecht und Grundrechten Hager, JZ 1994, 373 (376 ff.); Medicus, AcP 192 (1992), 35 ff.; Oldiges, in: Festschrift für Friauf, 1996, 281 (295 ff.); Singer, JZ 1995, 1133 (insbesondere 1136 ff.); Zöllner, AcP 196 (1996), 1 ff.; Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 ff.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht – eine Zwischenbilanz –, 1999, insbesondere S. 33 ff.; Oeter, AöR 119 (1994), 529 ff.; Isensee, in: Festschrift für Großfeld, 1999, 485 ff.; Classen, AöR 122 (1997), 65 (101 f.); Teubner, KritV 83 (2000), 388 ff.; AlbersFrenzel, Die Mithaftung naher Angehöriger für Kredite des Hauptschuldners, 1996; Schiek, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, 45 ff.; Hesse/Kaufmann, JZ 1995, 219 ff.; Preis/Rolfs, DB 1994, 261 ff.; Honsell, NJW 1994, 565 f.; Groeschke, BB 1994, 725 ff.; Kothe, ZBB 1994, 172 ff.; Fastrich, RdA 1997, 65 ff. 21 BVerfGE 103, 89 (99 ff.). 22 BVerfGE 114, 1 ff.; 114, 73 ff. 23 In BVerfGE 89, 214 ff. hatte der 1. Senat zwei Verfassungsbeschwerden gegen zivilgerichtliche Urteile verbunden, wobei nur eine (im Wesentlichen) Erfolg hatte. 19

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1. Zur Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Die Resonanz auf diese BVerfG-Judikate war – wie kaum anders zu erwarten – gemischt. Neben nachhaltigem Beifall finden sich in der Literatur Stimmen, welche die Judikatur im Ergebnis und/oder in der Begründung vehement kritisieren,24 wobei es der Rechtsprechung des 1. Senats des BVerfG ihrerseits bereits an Konsistenz in den Begründungen mangelt. Es wird nicht einmal (immer) deutlich – bzw. es fehlt insoweit an einer einheitlichen Linie –, in welcher Funktion die Grundrechte der Wirksamkeit des Vertragsschluss Grenzen setzen. Hier ist nicht der Ort für eine akribische Analyse der einschlägigen BVerfG-Rechtsprechung, wohl aber sollen die Begründungsschwerpunkte der zentralen Judikate in knapper Form vorgestellt werden – zeigt sich doch insoweit nicht zuletzt, dass in den frühen Entscheidungen des BVerfG auch das Sozialstaatsprinzip eine durchaus tragenden Rolle bei der verfassungsrechtlichen Begrenzung der Vertragsfreiheit gespielt hat.

a) Handelsvertreter-Beschluss Im Handelsvertreter-Beschluss rekurriert das BVerfG in vermeintlicher Fortschreibung von Altbekanntem zunächst auf die ständige, im Lüth-Urteil begonnene Rechtsprechung zum Wert-, Grundsatz- und Prinzipiencharakter von Grundgesetz, Grundrechtsabschnitt und einzelnen Grundrechten.25 Indes belässt es der 1. Senat nicht bei der daran anschließenden Aussage, dass jede, eben auch eine privatautonome Vertragsgestaltung anerkennende privatrechtliche Norm am wertsetzenden bzw. „objektiv-rechtlichen“ Gehalt der Grundrechte zu messen sei;26 vielmehr wird hinzugefügt, solche Schranken seien unentbehrlich, weil Privatautonomie auf dem Prinzip freier Selbstbestimmung beruhe und mithin voraussetze, dass Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben seien. Wenn ein Vertragsteil die vertraglichen Regelungen faktisch einseitig setzen könne, sei dies für den anderen Teil Fremdbestimmung. Um das zu verhindern und somit „den Grundrechtsschutz zu sichern“, müssten bei einer solchen Sachlage staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen. Und dann ___________ 24 Freilich hat die Bürgschaftsentscheidung zumindest im Ergebnis mehr Beifall bekommen als die Handelsvertreterentscheidung. Bei der Ehevertragsentscheidung wird teils zwischen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 GG einerseits und von Art. 6 Abs. 2 GG andererseits unterschieden werden, vgl. etwa Röthel, NJW 2001, 1334 f., die dem Urteil im Ergebnis nur wegen Art. 6 Abs. 2 GG zustimmt. Insgesamt kritisch zur Ehevertragsentscheidung Rauscher, FuR 2001, 155 ff.; zustimmend dagegen Büttner, FF 2001, 65 f.; Schwab, FamRZ 2001, 349 f. Vgl. zu den Kapitallebensversicherungs-Urteilen nur Bäuerle, VuR 2005, 401 ff. 25 BVerfGE 81, 242 (254). 26 BVerfGE 81, 242 (254 f.).

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heißt es: „Gesetzliche Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirkten, verwirklichten hier die objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts und damit zugleich das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG).“27 Diese Ausführungen legen nahe, dass der 1. Senat eine weitere eigenständige,28 durch das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip begleitete oder verstärkte Unterkategorie des „objektiven Gehalts“ der Grundrechte installieren will. Allerdings ist nicht deutlich, ob die Ableitungen aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte und dem Sozialstaatsprinzip tatsächlich zusammenspielen sollen oder nebeneinander stehend für dasselbe Ergebnis streiten. Die Verwendung der Konjunktion „und“ und nicht von „in Verbindung mit“ in der soeben zitierten Passage29 spricht für letztere Deutung.30 Jedenfalls lässt der 1. Senat im Handelsvertreter-Beschluss eine nähere Begründung für eine Verbindung der grundrechtlichen Ableitung mit dem Sozialstaatsprinzip vermissen.31

b) Bürgschaftsurteil Anders als in der Handelsvertreterentscheidung, wo zumindest noch ansatzweise zwischen Abwehr- und Schutzfunktion und mithin zwischen dem Recht auf Vertragsschluss32 und dem Recht auf Schutz vor den Ergebnissen eines Vertragsschlusses unterschieden wird, geht der grundrechtliche Schutz vor „frei“ vereinbarten Vertragsinhalten im Bürgschaftsurteil des BVerfG in einem Modell der „Grundrechtsausgestaltung nach Maßgabe beidseitiger objektiv___________ 27

BVerfGE 81, 242 (254 f.). Die These von der Eigenständigkeit gegenüber anderen Ausprägungen des „objektiven Gehalts“ der Grundrechte, insbesondere gegenüber der Schutzfunktion, wird neben dem Rekurs auf Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG dadurch genährt, dass weder von einer grundrechtlichen „Schutzpflicht“ die Rede ist noch auf die einschlägige eigene Rechtsprechung Bezug genommen wird. Für die Einordnung der staatlichen Regelungspflicht als Ausdruck und Facette einer grundrechtlichen Schutzpflicht (Art. 12 Abs. 1 GG) spricht allenfalls die Bezugnahme auf einen Beitrag von Badura, welcher an der vom 1. Senat zitierten Stelle ausdrücklich an die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur grundrechtlichen Schutzpflicht für Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) anknüpft, vgl. insoweit BVerGE 81, 242 (255) mit dem Verweis auf Badura, in: Festschrift für Herschel, 1982, 21 (34), wo neben der ersten Abtreibungsentscheidung, die Schleyer-, Kalkar-, Mülheim-Kärlich- und Fluglärmentscheidung genannt sind. 29 Ebenso BVerfGE 89, 214 (232); 85, 191 (213). 30 So für die Handelsvertreter- und Nachtarbeitverbotsentscheidung auch Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl., 2000, § 111 Rn. 131. 31 Vgl. zur Handelsvertreterentscheidung auch Poscher (Fn. 1), S. 242 f. 32 Vgl. zu eindeutig abwehrrechtlichen Bewehrung der Vertragsfreiheit BVerfGE 81, 242 (255). 28

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rechtlicher Grundrechtsgehalte“ auf.33 Ich habe diesen Ansatz, welcher eine strukturierte und durch Funktionendiversität gekennzeichnete Grundrechtsdogmatik durch einen nach allen Seiten und in alle Richtungen offenen „Ausgestaltungsbrei“ substituiert, an anderer Stelle nachhaltig kritisiert.34 Vorliegend ist vor allem von Interesse, dass die grundrechtliche Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz des Schwächeren im rechtsgeschäftlichen Privatrechtsverkehr in der Bürgschaftsentscheidung nicht als (besonderer) Anwendungsfall der grundrechtlichen Schutzfunktion begriffen wird – was nach der Handelsvertreterentscheidung zumindest nicht ausgeschlossen werden konnte. Demgegenüber wird an der Verbindung (oder jedenfalls einem Nebeneinander) des objektiven Grundrechtsgehalts (aus Art. 2 Abs. 1 GG) mit dem grundrechtlichen Sozialstaatsprinzip festgehalten,35 was für ein Verständnis des Anspruchs als Ausdruck einer spezifischen und zwar sozialen Ausprägung objektiver Grundrechtsgehalte spricht.36

c) Nachfolgejudikatur Ohne dass dies hier näher nachgezeichnet werden könnte,37 steht die Kündigungsschutzentscheidung des BVerfG aus dem Jahre 199838 in der Tradition der Ausgestaltungsdogmatik des Bürgschaftsurteils, verknüpft diese aber nunmehr in diffuser Weise und (noch) äußerst vorsichtig mit der Schutzfunktion der Grundrechte. Für den vorliegenden Zusammenhang ist freilich von besonderem Interesse, dass dem Ansatz einer Verknüpfung der grundrechtlichen Ableitung mit dem Sozialstaatsprinzip nunmehr eine ausdrückliche Absage erteilt wird. In der Kündigungsschutzentscheidung erfährt das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip eine separate Prüfung, wobei es unter Hinweis darauf, dass Art. 12 Abs. 1 GG für den in Rede stehenden Sachverhalt den konkreteren Maßstab setze, letztlich als verfassungsrechtlich irrelevant ausgeschieden wird.39 In der Ehevertragsentscheidung40 und den beiden Kapitallebensver___________ 33

BVerfGE 89, 214 (231 f.). Cremer (Fn. 3), S. 475 ff. 35 BVerfGE 89, 214 (232). 36 Vgl. auch zu dieser Entscheidung Poscher (Fn. 1), S. 244. 37 Näher dazu Cremer (Fn. 3), S. 478 ff. 38 BVerfGE 97, 169 ff. 39 BVerfGE 97, 169 (185). 40 BVerfGE 103, 89 ff.; an das Urteil anknüpfend BVerfG (Kammer), NJW 2001, 2248. Vgl. zu dem Urteil Röthel (Fn. 24), 1334 f.; Schwab (Fn. 24), 349 f.; Büttner (Fn. 24), 65 f.; Rauscher (Fn. 24), 155 ff.; Schubert, FamRZ 2001, 733 ff.; Büttner/Niepmann, NJW 2001, 2215 (2221). 34

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sicherungsentscheidungen41 aus dem Jahre 2005 wird die Kündigungsschutzentscheidung konzeptionell bestätigt, wobei die Schutzpflicht als Anknüpfungspunkt für die Begrenzung der Vertragsschlussfreiheit – aber eben wiederum im Rahmen eines umfassend angelegten Grundrechtsausgestaltungsmodells – nunmehr stärker akzentuiert wird; das gilt insbesondere für die beiden Kapitallebensversicherungsentscheidungen.42 Das Sozialstaatsprinzip findet in diesen Entscheidungen nunmehr keinerlei Erwähnung mehr.

d) Fazit Insbesondere im Anschluss an die beiden Kapitallebensversicherungsentscheidungen kann man wohl davon sprechen, dass in der Rechtsprechung des 1. Senats im Umgang mit den verfassungsrechtlichen Grenzen „frei“ ausgehandelter Vertragsinhalte zumindest eine gefestigte Tendenz diagnostiziert werden kann. Entgegen der hier und vom 1. Senat in der Handelsvertreterentscheidung43 noch selbst vertretenen Position soll es keine abwehrrechtlich bewehrte formale Vertragsfreiheit geben, welche das Recht verbürgt, Verträge beliebigen Inhalts zu schließen. Der 1. Senat begreift die Gestaltung der privaten Vertragsordnung vielmehr insgesamt als „Grundrechtsausgestaltung“. Dabei berücksichtigt dieses in der Bürgschaftsentscheidung entfaltete und in der Kündigungsschutzentscheidung und den Kapitallebensversicherungsentscheidungen bestätigte Ausgestaltungsmodell die Interessen beider (gegebenenfalls auch mehrerer)44 am Vertragsschluss Beteiligten als „objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte“. Schwerer zu beantworten war lange Zeit, welche Ausprägung eines „objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalts“ nach Auffassung des 1. Senats einschlägig sein sollte – insbesondere ob es sich um die ursprünglich im Kontext des Schutzes von Leib und Leben (aus der grundrechtlichen Wertordnung und/oder Art. 1 Abs. 1 GG) entwickelte Schutzpflicht oder jedenfalls eine besondere (sozialstaatliche) Facette derselben oder gar um einen von der Schutzpflicht gänzlich verschiedenen eigenständigen „objektiven Grundrechtsgehalt“ handeln solle. Nach der Absage der in der Handelsvertreter- und der Bürgschaftsentscheidung hergestellten Verbindung von „objektivem Grundrechtsge___________ 41

BVerfGE 114, 1 ff.; 114, 73 ff. Vgl. BVerfGE 114, 1 (34 f.); 114, 73 (89 ff.). Näher zur Ehevertragsentscheidung Cremer (Fn. 3), S. 480 f. 43 Vgl. BVerfGE 81, 242 (255), wo es unmissverständlich heißt: „Eingriff in die Freiheit“. 44 Man wird annehmen dürfen, dass der 1. Senat die Grundsätze auch in Konstellationen angewendet wissen will, in denen an einem Vertragsschluss mehr als zwei Privatpersonen beteiligt sind. Der „objektiv-rechtliche Grundrechtsschutz“ kommt allen Beteiligten zugute. 42

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halt“ und grundgesetzlichem Sozialstaatsprinzip in der Kündigungsschutzentscheidung und den jüngeren Entscheidungen zu Eheverträgen und Kapitallebensversicherungen spricht vieles dafür, dass der 1. Senat schlicht die ursprüngliche/herkömmliche Schutzpflicht aktivieren will, um die Grenzen „frei“ ausgehandelter Vertragsinhalte zu markieren.

2. Weitere Angebote In der Literatur lassen sich im Hinblick auf die Bedeutung der Grundrechte für „frei“ ausgehandelte Vertragsinhalte im Wesentlichen wohl drei Grundpositionen identifizieren: Die Grundrechte sind als Abwehrrechte einschlägig, die Grundrechte sind als Schutzrechte einschlägig, die Grundrechte sind gar nicht einschlägig. Soweit die These vertreten wird, in diesem Zusammenhang könnten die Grundrechte für den Staat und seine Organe keine Geltung beanspruchen,45 soll hier zur Zurückweisung der Hinweis auf Art. 1 Abs. 3 GG genügen, wonach alle staatliche Gewalt stets unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Nur geht die Bindung ins Leere, wenn staatliches Tun oder Unterlassen nicht auch inhaltlich (zumindest prima facie) mit einer Grundrechtsgewährleistung konfligiert. Folglich ist die Frage darauf zu richten, ob und in welcher Funktion die Grundrechte „den Staat“ im Hinblick auf die Kontrolle und Begrenzung „frei“ ausgehandelter Vertragsinhalte verpflichten und binden.

a) Die vertraglich begründete Rechtspflicht als staatlicher Imperativ und Anwendungsfall abwehrrechtlichen Grundrechtsschutzes Soweit für eine Aktivierung abwehrrechtlichen Grundrechtsschutzes gegenüber den Ergebnissen „frei“ ausgehandelter Vereinbarungen geworben wird, wird wie folgt konstruiert:46 Mit der Anerkennung des Vertragsschlusses durch seine Rechtsordnung und der darin liegenden Begründung von Rechtspflichten greife der Staat in Grundrechte, zumindest in die in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit, der am Vertragsschluss beteiligten Grundrechtsträger ein.47 Ebenso lägen in der Aktualisierung der Rechtspflicht durch inhaltlich korrespondierende Feststellungs- oder Leistungsurteile sowie anschließende Zwangsvollstreckungsmaßnahmen (vertiefende) Grundrechtsein___________ 45

Diederichsen, (Fn. 20), 171 (257 ff.). Vgl. Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 67 ff.; Roth (Fn. 20), (233 ff.) und bereits Looschelders/Roth (Fn. 17), 1034 (1038 ff.); Poscher (Fn. 1), S. 346 ff. 47 Bei nur einseitig verpflichtenden Verträgen käme selbstverständlich nur ein Eingriff in Grundrechte eines Grundrechtsträgers in Betracht. 46

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griffe.48 Die prima vista eingängige Gedankenführung wird mit dem Hinweis eröffnet, dass in der Auferlegung einer Rechtspflicht zu einem Tun oder Unterlassen nach allgemeiner Auffassung stets ein (sogar imperativer) Eingriff zumindest in die allgemeine Handlungsfreiheit liege. Vertragspflichten beruhten aber auf eben einem solchen staatlichen Imperativ und nicht etwa auf grundrechtsfreien Privatrechtsakten.49 Verträge entfalteten Rechtsbindungswirkung und rechtliche Verpflichtungen nicht aus sich heraus, sondern aufgrund von Rechtsnormen, welche an die Willenserklärung eines Rechtssubjekts, eine bestimmte Verpflichtung übernehmen zu wollen, die rechtliche Konsequenz knüpft, diese deshalb erfüllen zu sollen.50 Das Gesetz ist in dieser Sichtweise Geltungsgrund der Rechtspflicht und der Vertragsschluss lediglich gesetzliches Tatbestandsmerkmal, die Rede vom Anspruch aus Vertrag „nur eine Abbreviatur für ‚Ansprüche aus dem Gesetz unter der Voraussetzung eines Vertrages‘“51 oder der Anspruch vertraglich bedingter Gesetzesbefehl.52 Diese Vorstellung habe auch den Verfassern des BGB vorgeschwebt.53 Dieser Argumentation wird entgegengehalten, sie stelle das Verhältnis von Rechtsgeschäft und Gesetz auf den Kopf. Das Essentielle des Rechtsgeschäfts liege in der schöpferischen Gestaltung von Rechtsfolgen durch die Privatrechtssubjekte selbst. Die Rechtsordnung anerkenne lediglich eine alle posi___________ 48

Roth (Fn. 20), 229 (238). Diese Sichtweise kommt auch bei Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 152, zum Ausdruck, wo er zu einer vertraglichen Abrede geschiedener Eheleute, nach der der Mann seinen Wohnort verändern muss (vgl. dazu auch BGH NJW 1972, 1414 f.), schreibt: „So ist auch im vorliegenden Fall gegenüber der rechtsprechenden Gewalt der Zivilgerichte Art. 11 GG unmittelbar in seiner Funktion als Abwehrrecht einschlägig. Mit einer Verurteilung des Mannes zur Erfüllung der Vereinbarung über die Wohnsitzverlegung gegen seinen Willen wird in seine ‚negative’ Freiheit, nicht (zwangsweise) ziehen zu müssen, eingegriffen“. 50 Roth (Fn. 20), 229 (233) und bereits Looschelders/Roth (Fn. 20), 1034 (1038). Vgl. auch LG Lübeck, NJW 1987, 959 (960). 51 So Schwabe (Fn. 46), S. 67. 52 Vgl. zu letzterem Schwabe (Fn. 46), S. 71. Schwabe, ebenda, S. 71 hat weiter ausgeführt, die vertragliche Regelung rühre „letztlich vom Gesetz her“, weil der Staat die Privatrechtssubjekte zur rechtlichen Gestaltung ihrer Beziehungen ermächtigt habe. Soweit dieser Begründungsstrang auf der Annahme beruht, der Staat habe mit der Eröffnung rechtsgeschäftlicher Privatautonomie eine ihm selbst obliegende Aufgabe auf die Privatrechtssubjekte übertragen (Figur der Ermächtigung) – so versteht beispielsweise Canaris, AcP 184 (1984), 201 (218 f.) Schwabe –, kann das schon im Ansatz nicht überzeugen. Soweit die Ermächtigungsthese lediglich besagt, dass erst die staatliche Rechtsordnung die Einzelnen ermächtigt, rechtlich garantierte Vertragsinhalte hinzuzufügen, weist sie keinen über die sogleich erörterte „Tatbestands- bzw. Bedingungstheorie“ hinausgehenden sachlichen Gehalt auf. Vgl. zu letzterem Verständnis der „Ermächtigungstheorie“ Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., 1972, S. 398 ff. 53 Roth (Fn. 20), 229 (235). 49

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tivem Recht vorausliegende Gestaltungsmöglichkeit und statte sie mit Rechtszwang aus. In dieser bloßen Anerkennung liege kein Grundrechtseingriff.54 Der in diesen gegenläufigen Positionen zum Ausdruck kommende Theorienstreit – „Bedingungs- bzw. Tatbestandstheorie“ einerseits und „Anerkennungstheorie“ andererseits – ist als solcher keineswegs eine Schöpfung der Diskussion um das Verhältnis von Privatautonomie und Grundrechtsschutz.55 Die Schwierigkeit, eine der beiden Theorien als vorzugswürdig auszuzeichnen, besteht darin, dass die Rechtspflicht weder ohne Vertragsschluss noch ohne korrespondierende gesetzliche Bestimmung entsteht. In der Tat mag man rechtstheoretisch trefflich streiten, ob die Rechtspflicht ihre rechtliche Grundlage primär in der vertraglichen Vereinbarung56 oder primär in der staatlichen Norm findet. Indes darf und muss die hier interessierende grundrechtliche Einordnung dieser Konstellation nicht auf diese rechtstheoretische Perspektive fokussieren.57 Vorliegend kann und muss an den Schutz der Vertragsfreiheit, so wie er in den Grundrechten des Grundgesetzes seine Ausgestaltung gefunden hat, angeknüpft werden – der Appell, sich der Vorstellung der Verfasser des BGB zu erinnern, ist dagegen in verfassungsrechtlicher Perspektive bedeutungslos. Insoweit ist maßgebend, dass es sich bei der Vertragsfreiheit um eine Grundrechtsposition handelt, welche als Abwehrrecht prima facie gewährleistet, dass jeder interprivate Vertragsschluss durch die Rechtsordnung anerkannt wird. Ist mithin jede Vorenthaltung oder Suspendierung der rechtlichen Anerkennung eines Vertragsschlusses ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in ein grundrechtliches Abwehrrecht, kann in der Beseitigung einer solchen rechtlichen An___________ 54

Canaris (Fn. 52), 201 (217 ff.); ders. (Fn. 20), S. 48; Pietzcker, in: Festschrift für Dürig, 1990, 345 (349); Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 51; vgl. auch BVerfGE 81, 242 (253 f.); Hermes (Fn. 20), 1764 (1766); Oeter (Fn. 20), 529 (543); Pietzcker, Der Staat 17 (1978), 527 (534); Stern, in: ders./Sachs, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 1551; Rüfner, Gedächtnisschrift für Martens, 1987, 214 (222 f.); Ruffert (Fn. 7), S. 55. Ferner zur Ablehnung einer unmittelbaren Grundrechtsgeltung und der Einschlägigkeit der abwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion BVerfGE 73, 261 (268 f.). 55 Vgl. zur „Bedingungs- bzw. Imperativentheorie“ Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 350 ff. sowie zur eng verwandten „Tatbestandstheorie“ Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, 1879, S. 276 ff., insbesondere S. 280; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Band I, 9. Aufl., 1906, S. 296 mit Fn. 1, S. 308 f. mit Fn. 1 und zur „Anerkennungstheorie“ Pernice, Rechtsgeschäft und Rechtsordnung, GrünhutsZ 7 (1880), 465 (488 f.); ferner Stoll, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Band III, 1930, 175 (175 f.). 56 Vgl. auch BVerfGE 81, 242 (253 f.). 57 Damit soll nicht gesagt sein, dass die Frage danach, worin der primäre Beitrag zur Begründung der Rechtspflicht liegt, in verfassungsrechtlicher Perspektive von keinerlei Interesse und nicht sogar ausschlaggebend sein kann. Nur darf die Problemlösung nicht von vornherein auf diese Fragestellung verengt werden, ohne (etwaige) Spezifika des Grundgesetzes zu berücksichtigen.

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erkennung schwerlich ebenfalls ein Eingriff liegen.58 Andernfalls käme man zu dem Ergebnis, dass jede Ermächtigung zum rechtlich bindenden Vertragsschluss wie auch ihr Gegenteil, nämlich jede Nichtermächtigung zu einem solchen Vertragsschluss, abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz aktivierte und zwar bei demselben Grundrechtsträger.59 Prägnant formuliert lautet die mithin abzulehnende These folglich: „Eingriff durch Beseitigung des Eingriffs“.

b) Die („herkömmliche“) grundrechtliche Schutzpflicht als Grundlage einer Materialisierung der Vertragsfreiheit In der Literatur wird verbreitet angenommen, dass die an einem Vertragsschluss Beteiligten sich auf die grundrechtliche Schutzfunktion berufen können, wenn der Staat Vertragsschlüsse anerkennt und daran Rechtspflichten knüpft.60 Dabei wird aus der Schutzpflicht oft abgeleitet, dass Art. 2 Abs. 1 GG bzw. die einschlägigen speziellen Freiheitsrechte eine (auch) material zu verstehende Vertragsfreiheit gewährleisteten. Teils wird die Aktivierung der Schutzpflicht aber auch auf der Grundlage eines formalen Verständnisses der Vertragsfreiheit ___________ 58 Vgl. zur Kritik auch Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, 1994, S. 142 ff.; Höfling (Fn. 54), S. 50 ff. 59 Um Missverständnissen vorzubeugen: Ein und derselbe Rechtszustand kann aus unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlichen Verfahrensgegenständen sehr wohl unter dem Blickwinkel einer Abwehrrechts- wie auch einer Schutzpflichtverletzung geprüft werden; eine Verletzung beider Grundrechtsfunktionen durch denselben Rechtszustand scheidet freilich von vornherein aus. Während z.B. eine Regelung, wonach das Kündigungsschutzgesetz nur für Unternehmen mit mehr als fünf Arbeitnehmern gilt, aus der Perspektive der Unternehmen mit mehr als fünf Arbeitnehmern daraufhin befragt werden kann, ob dadurch ihr Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG als Abwehrrecht verletzt wird, kann für die Arbeitnehmer, die kleineren Unternehmen angehören, gefragt werden, ob (neben Art. 3 Abs. 1 GG) eine grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG dadurch verletzt wird, dass keine weiter gehenden, für sie geltenden Kündigungsschutzregeln existieren. 60 Singer (Fn. 20), 1133 (1136 ff.); Höfling (Fn. 54), S. 48 ff.; Hager (Fn. 20), 373 (378 ff.); Oldiges (Fn. 20), 281 (304 ff.); Canaris (Fn. 52), 201 (232 ff.); ders., JuS 1989, 161 (164 ff.); ders. (Fn. 20), S. 47 ff.; Rüfner, in: Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl., 2000, § 117 Rn. 64; Hermes (Fn. 20), 1764 (1768), der eine grundrechtliche Schutzpflicht gegenüber selbst verursachten Beeinträchtigungen dagegen kategorisch ablehnt, ders., Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 199, 228 f. Vgl. bereits Dürig, in: Festschrift für Nawiasky, 1956, 157 (159), wonach ein Urteil, das lediglich eine vertragliche Absprache feststellt und die darin übernommenen Pflichten ausspricht, sowie eine etwaige daran anknüpfende Zwangsvollstreckung niemals Grundrechte verletzen können. Ferner BVerwGE 30, 65 (75 f.), wo – freilich im Kontext der Prüfung einer Verletzung von Art. 33 Abs. 5 GG – ausgeführt wird, „daß die Berufung auf das Grundgesetz nicht dazu herhalten kann, einen Kernsatz der geltenden Rechtsordnung auszuhebeln, nämlich den Grundsatz, daß Verträge zu erfüllen sind“.

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entfaltet,61 ohne dass die beiden Ansätze immer streng voneinander geschieden würden. Mit Blick auf die Entwicklung des angekündigten eigenen Lösungsansatzes ist es ausreichend, auf das Konzept der grundrechtlichen Schutzpflicht als Grundlage einer Materialisierung der Vertragsfreiheit einzugehen.62 Für ein materiales Verständnis einer in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten rechtsgeschäftlichen Privatautonomie wird vor allem in der Privatrechtswissenschaft, teils aber auch in der Staatsrechtslehre geworben.63 Dabei kann die privatrechtliche „Lehre zur Verwirklichung materialer Vertragsgerechtigkeit“64 für die verfassungsrechtliche Betrachtung freilich außer Betracht bleiben,65 da sie ausschließlich das privatrechtsinterne Verständnis von Vertragsfreiheit zu beeinflussen beansprucht. Hier ist allein der verfassungsrechtlichen Dimension der Vertragsfreiheit nachzugehen. Zur Begründung einer Inhaltskontrolle von Verträgen nach Maßgabe der grundrechtlichen Schutzpflicht wird angeführt, mit einer liberalen Grundhaltung sei es durchaus vereinbar, die Vertragsfreiheit als nicht bloß formale, sondern aufgrund partiell (strukturell oder faktisch) gestörter Funktionsbedingungen formaler Vertragsfreiheit in begrenztem Umfang auch als materiale zu verstehen.66 Im Einzelfall stellten sich dem Staat von der Sachproblematik genuine Schutzaufgaben, die mit einem liberalen Grundrechtsverständnis nicht nur im Einklang stünden,67 sondern in diesem gar angelegt seien, wie beispielsweise die Pflicht, vertraglichen Selbstbeschränkungen der Glaubensfreiheit die rechtliche Anerkennung zu versagen.68 Weiter heißt es, die Zulässigkeit einer Grundrechtskontrolle von Verträgen lasse sich – insbe___________ 61

Vgl. insbesondere Höfling (Fn. 54), S. 45 ff. Vgl. zu Höflings Konzeption Cremer (Fn. 3), S. 489 ff. 63 Vgl. zur Entwicklung der Diskussion in der Privatrechtswissenschaft und zur Gegenüberstellung von formaler und materialer Vertragsfreiheit Raiser, JZ 1958, 1 (1 ff.); Kramer, Die „Krise“ des liberalen Vertragsdenkens, 1974, S. 20 ff.; Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982, insbesondere S. 12 ff., 36 ff., 134 ff. und 253 ff.; Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, insbesondere S. 29 ff.; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 216 ff.; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, insbesondere S. 9 ff. Vgl. zu einer dezidiert formalen Freiheitsethik im Privatrecht Reuter, AcP 189 (1989), 199 ff. Zu einem materialen Verständnis der grundrechtlichen Vertragsfreiheit in der Staatsrechtslehre nur Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 33 ff.; Grimm, in: Die Zukunft der Verfassung, 1994, 197 (212 f.). 64 Begriff nach Singer (Fn. 20), 1133 (1137, dort Fn. 57). 65 Sie kann im Übrigen nur insoweit ihre Wirkungen entfalten, als privatrechtliche Normen, einschließlich der privatautonom vereinbarten Vertragsinhalte, hinsichtlich ihrer Gültigkeit, Auslegung und Anwendung nicht verfassungsrechtlich überformt sind. 66 Singer (Fn. 20), 1133 (1137 ff.); Canaris (Fn. 20), S. 49. 67 Eine Beweisführung, die sich damit begnügt, eine bloße Kollision mit einem liberalen Grundrechtsverständnis zu negieren, kann schon im Ansatz nicht überzeugen, weil sie die „Argumentationslast“ verkennt. 68 Vgl. Canaris (Fn. 20), S. 48. 62

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sondere in Gegenüberstellung zur Lehre von der mittelbaren Drittwirkung –69 mit der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten „dogmatisch wesentlich schlüssiger“ begründen, weil diese vor allem dann in Betracht käme, wenn privater Selbstschutz nicht möglich oder nicht zumutbar sei und ein rein formales Vertragsmodell eben keine Rücksicht darauf nehme, ob die Vertragsparteien ihre Interessen in ausreichendem Maße selbst wahrnehmen und die Risiken ihres Handelns voraussehen können.70 Gegen die Anwendung der Schutzpflicht auf vertraglich (mit)begründete Pflichten wird eingewandt, sie könne keinen grundrechtlichen Schutz vor sich selbst verbürgen.71 In der vertraglichen Bindung liege ein (grundsätzlich) wirksamer antizipierter Grundrechtsverzicht. Mit einer gewissen Akzentverschiebung wird hinzugefügt, eine grundrechtliche Schutzpflicht könne nicht ausgelöst werden, weil die Vertragspartner über ihre Rechtssphäre nach freier eigener Entscheidung und im Konsens selbst bestimmt hätten, mithin der eine nicht in die grundrechtlichen Schutzgüter des anderen übergreife.72 Anders als die im vorliegenden Zusammenhang aus verschiedenen Gründen problematische Annahme eines wirksamen Grundrechtsverzichts,73 verdient die These von der Nichtbetroffenheit der Schutzpflichtfunktion Zustimmung. Bei vertraglich begründeten Rechtspflichten fehlt es an einem Wesens- und eben auch Tatbestandsmerkmal der grundrechtlichen Schutzpflicht, nämlich einem vom Staat abzuschirmenden bzw. zu verhindernden „privaten Übergriff“ in Rechtsgüter Dritter, der definitionsgemäß ein Handeln gegen deren Willen voraussetzt.74 Die Erstreckung der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte auf vertraglich (mit)begründete Rechtspflichten konfligiert (jenseits von durch Drohung und Täuschung erlangten Willenserklärungen) mithin mit der verfassungsrechtlichen Ableitung der grundrechtlichen Schutzpflicht, wonach der Staat nur zur Abwehr „privater Übergriffe“ gegen den Willen des Betroffenen verpflichtet ist.75 Die „herkömmliche“ Schutzpflicht kann also gegenüber „frei“ ausgehandelten Verträgen nicht aktiviert werden. Ihre Anwendung setzt jedenfalls eine ___________ 69

Dazu auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 172. Singer (Fn. 20), 1133 (1138 f.). 71 Isensee (Fn. 30), § 111 Rn. 129 ff.; Hillgruber (Fn. 49), insbesondere S. 149 ff.; ähnlich Zöllner, AcP 196 (1996), 1 (7 f., 12 f., 36). 72 Isensee (Fn. 30), § 111 Rn. 130 f.; Hillgruber (Fn. 49), S. 153. 73 Dazu Ruffert (Fn. 7), S. 244 ff.; ferner Singer, in: Gedächtnisschrift für Jeand`Heur, 1999, 171 (188); Robbers, JuS 1985, 925 (930). Monographisch behandelt wird die Figur von Spieß, Der Grundrechtsverzicht, 1997. 74 Vgl. auch Isensee (Fn. 30) , § 111 Rn. 114 und vor allem Rn. 130 f. Damit soll nicht geleugnet werden, dass beide Argumente denselben sachlichen Kern haben; letztgenannte Akzentuierung des Arguments wird aber in ihrer Grundsätzlichkeit zumeist nicht ausreichend verarbeitet. 75 Zu dieser Ableitung oben III. 70

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dieses „Defizit“ kompensierende Begründung voraus. Auf dieses Defizit wird sogleich im Rahmen des eigenen Lösungsmodells zurück zu kommen sein.

3. Grundrechtliche Schutzpflicht in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip Soeben wurde gezeigt, dass die Fruchtbarmachung der grundrechtlichen Schutzfunktion für die Inhaltskontrolle „frei“ ausgehandelter Verträge deshalb Probleme generiert, weil es in diesen Konstellationen an einem „privaten Übergriff“ auf die Rechtsgüter Dritter fehlt. Hier soll nun gezeigt werden, dass dieses Defizit überwindbar ist, und zwar unter Einbeziehung des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips.76 Dabei geht es nicht darum, das Sozialstaatsprinzip isoliert zur Begründung einer Rechtspflicht zur Gestaltung der privaten Vertragsrechtsordnung heranzuziehen; plädiert wird vielmehr für eine Verbindung mit der grundrechtlichen Schutzpflicht. Eine solche Verknüpfung wird auch in der Handels- und Bürgschaftsentscheidung des 1. Senats mindestens nahe gelegt.77 Freilich könnte eine solche Verbindung nicht überzeugen, wenn das diagnostizierte Defizit der Schutzfunktion hinsichtlich ihrer Aktivierung gegenüber „frei“ ausgehandelten Verträgen lediglich im Wege eines additiven Verfahrens durch Hinzufügung des Sozialstaatsprinzips quasi quantitativ kompensiert würde. Erforderlich ist vielmehr, dass das Sozialstaatsprinzip nach seiner inhaltlichen Ausrichtung geeignet ist, gerade die diagnostizierte „Lücke“ zu schließen. Erforderlich ist mithin eine Kompensation im Sinne einer „qualitativen Anreicherung“ der Schutzfunktion durch das Sozialstaatsprinzip, nicht eine bloß „quantitativ kompensierende Verbindung“. In der Literatur wird meist nicht geleugnet, dass der Schutz des Schwächeren vor ihn übermäßig belastenden Vertragsschlüssen ein Thema des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips ist, wohl aber eine Verknüpfung mit der Schutzfunktion der Grundrechte und mithin ein grundrechtlicher Anspruch negiert.78 Dabei wird zur Begründung das vorgetragen, was stets vorgetragen wird, um die Verschiedenartigkeit von sozialstaatlichem und grundrechtlichem Schutz und die verfassungsrechtliche Unverknüpfbarkeit von Grundrechten und Sozi___________ 76

Vgl. auch Dreier, in: ders., GG, Band I, 2004, Art. 2 I, Rn. 63 und Grimm (Fn. 63), 197 (212 f.), die beide die Ableitung aus dem Sozialstaatsprinzip „konstruktiv“ (Dreier) bzw. „grundrechtsdogmatisch“ (Grimm) durch die grundrechtliche Schutzpflicht umsetzen wollen. Dreier sieht auch die Möglichkeit einer Umsetzung im Wege der „Ausstrahlungswirkung“. 77 Dazu oben V. 1. a) und b). 78 Vgl. nur Isensee (Fn. 30), § 111 Rn. 131 ff; ders., in: Festschrift für Großfeld, 1999, 485 (512); Manssen, Staatsrecht I: Grundrechtsdogmatik, 1995, Rn. 235 f.; Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298 (340).

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alstaatsprinzip zu begründen. Exemplarisch sei hier Josef Isensee zitiert:79 „Ziel des Sozialstaates ist es, dem Bürger Schutz vor den Risiken des Marktes zu gewährleisten und ihm die effektive Ausübbarkeit der Freiheit unter den Bedingungen ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu ermöglichen. Der soziale Schutz liegt auf anderer Ebene als der Schutz der grundrechtlichen Güter. Dieser ist überhaupt kein Thema des Sozialstaats, sondern ein Thema des Rechtsstaates. Denn hier geht es um Wahrung bestehender Rechte, dort um die Gewähr der Chancen zur sozialen Selbstbehauptung, damit nicht unmittelbar um die Sache der grundrechtlichen Freiheit, sondern um die realen Voraussetzungen, unter denen alle Bürger ihre grundrechtliche Freiheit einschließlich der in ihr verkörperten Privatautonomie effektiv ausüben können. (...) Der Staat genügt seiner grundrechtlichen Schutzpflicht durch Einsatz seiner vorhandenen Funktionen in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung; die Staatsaufgabe ist daher in der Regel praktisch erfüllbar. Das soziale Staatsziel aber enthält einen Impuls zum progressus in infinitum; es ist praktisch nicht saturierbar. Soziale Rechte („auf Arbeit“, „auf Wohnung“ usw.) sind angewiesen auf eine dem Staate verfügbare Verteilungsmasse und dadurch praktisch relativiert. Die Schutzpflichten müssen streng von den sozialen Rechten unterschieden werden, obwohl sie wie jene einen status positivus vermitteln. So rechtfertigt das soziale Staatsziel auch nicht, die grundrechtliche Schutzpflicht auf das Feld der privatrechtlichen Verträge auszudehnen. Es fehlt die hinreichende Vergleichsbasis zwischen der Wahrung des Neminem-laedere-Prinzips und der Korrektur privatautonomer Regelungen, zwischen dem Schutz der bestehenden Rechtspositionen und ihrer Neukonzeption unter Berufung auf soziale Leitbilder, wie die des wirtschaftlichen Gleichgewichts, der Garantie adäquater Voraussetzungen der Privatautonomie und des Schutzes der Vertragspartner vor Übervorteilung.“ Diese Ausführungen verdienen insoweit Zustimmung, als die grundrechtliche Schutzpflicht aufgrund ihres geschilderten Ableitungszusammenhangs strukturell durch ein Dreiecksverhältnis geprägt ist, welches den Staat verpflichtet, den Einzelnen vor „privaten Übergriffen“ anderer, nicht aber vor „gegnerloser Not“ zu schützen. Auch mag man anerkennen, dass die Anerkennung sozialer Leistungsrechte wegen der Endlichkeit staatlicher Resourcen größere Schwierigkeiten bereitet als die Schutzfunktion.80 Beide Einwände können gegenüber einer Inhaltskontrolle von Verträgen am Maßstab der grundrechtlichen Schutzpflichten aber nicht durchgreifen. Die staatliche Aufgabe besteht beim „privaten Übergriff“ gegen den Willen des Betroffenen wie auch ___________ 79

Isensee (Fn. 30), § 111 Rn. 132 f. An anderer Stelle moniert Isensee, dass die Schutzpflicht durch solche Weiterentwicklungen ihr „dogmatisches Profil verliert“, in: Festschrift für Sendler, 1991, 39 (60 f.). 80 Es ist freilich ein weit verbreitetes Missverständnis, die Schutzfunktion als (weitgehend) haushaltsneutral zu qualifizieren, näher dazu Cremer (Fn. 3), S. 321 ff.

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beim die eine Seite gravierend benachteiligenden Vertragsschluss in der Regelung gegenläufiger Interessen von Grundrechtsträgern (Dreiecksverhältnis). Auch geht es bei der Inhaltskontrolle von Verträgen nicht um die Gewährung staatlicher Transferleistungen; ganz im Gegenteil kann der Schutz des Schwächeren vor ihn übermäßig belastenden Verträgen zur Vermeidung andernfalls notwendiger staatlicher Transferleistungen beitragen.81 Schließlich – und das ist entscheidend – liegt in der Ausnutzung übermäßiger Verhandlungsstärke, einem Thema des Sozialstaats(prinzips), ein sachliches Äquivalent für den „privaten Übergriff“. Wer sich gegenüber einem anderen verpflichtet, die Empfängnis zu verhüten, den Wohnsitz zu verlegen oder sein Bekenntnis aufzugeben, ist regelmäßig in einer materiellen oder emotionalen Zwangslage,82 die für den anderen schon aufgrund der Bereitschaft zu einem solchen Vertragsschluss auch erkennbar ist. Wer mit einer in einer Zwangslage befindlichen Person derartige Verträge abschließt, handelt wertungsmäßig nicht anders als wenn er gegen den Willen des Betroffenen auf seine Rechtsgüter übergreift. Um es anhand einer Variation der Handelsvertreterentscheidung zuzuspitzen: Verpflichtet sich eine alkoholabhängige Person gegenüber einem anderen für die Zurverfügungstellung einer bestimmten Menge Alkohol, zwei Jahre nicht in seinem Beruf zu arbeiten, impliziert dies, dass sich diese Konstellation für den Betroffenen nicht nur in den Rechtsfolgen kaum von einer Situation unterscheidet, in der er vom anderen Tag für Tag durch Gewalt oder Drohungen mit Gewalt an der Ausübung seines Berufes gehindert wird; in beiden Fällen ist der Betroffene in einer für ihn unentrinnbaren Zwangslage, die für den anderen erkennbar ist. Nach allem – und damit komme ich zugleich zum Fazit meines Beitrags – vermag das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip, welches den Schutz des Schwächeren vor ihn übermäßig belastenden Vertragsschlüssen (weitgehend) unstreitig zum Thema hat, den bei „freiwilligen“ Vertragsabschlüssen fehlenden „privaten Übergriff“ als sachangemessenes Äquivalent zu kompensieren. Demgemäß gewährt Art. 2 Abs. 1 GG (resp. das im Einzelfall einschlägige spezielle Freiheitsgrundrecht)83 als Schutzrecht i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG in diesen Konstellationen ein subjektiv-öffentliches Recht von Verfassungsrang.

___________ 81 So wird etwa durch einen lebenslangen oder langjährigen Schuldturm, ungeachtet von Pfändungsgrenzen, jegliche Vermögensbildung verhindert, welche z.B. in Zeiten der Arbeitslosigkeit Sozialtransfers verhindern könnte. Ebenso mag die Inanspruchnahme staatlicher Leistung notwendig werden, wenn ein Handelsvertreter über zwei Jahre nicht in dem von ihm erlernten Beruf arbeiten darf. 82 Vgl. auch Singer (Fn. 20), 1133 (1139). 83 Dazu Cremer (Fn. 3), S. 494 ff.

Rechtsschutz im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit der Europäischen Union Von Thomas von Danwitz, Luxemburg/Köln Der Rechtsschutz im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit in der Europäischen Union sieht sich schwierigen Fragen gegenüber. Insbesondere geht es um aktuelle Herausforderungen, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu Art. 35 EU in den Rechtssachen Gestoras und Segi zu Tage getreten sind1. Vor diesem Hintergrund soll die Konzeption der Rechtsschutzgewährung vorgestellt werden, die der Gerichtshof in diesem Bereich entwickelt hat. Abschließend sollen die Eckwerte des Rechtsschutzes in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in eine Perspektive gestellt werden.

I. Einleitung Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und den grundlegenden Wesenszügen des Gemeinschaftsrechts. In diesem Ausgangspunkt stimmt das Gemeinschaftsrecht mit dem Grundverständnis überein, welches namentlich das deutsche Verfassungs- und Verwaltungsrechtsdenken nachhaltig geprägt hat und in Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich verbürgt ist. Es ist nicht zuletzt diese Verpflichtung auf eine Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes, die der Gemeinschaft das Gütesiegel einer „Rechtsgemeinschaft“ eingetragen hat2. Gerade der Gerichtshof hat sich dieser Vorstellung verpflichtet gefühlt und die wirksame Ausgestaltung des Rechtsschutzes in seiner Rechtsprechung nachhaltig betont. Insofern sei nur an die grundlegenden Weichenstellungen erinnert, die er in den Rechtssachen Johnston3 und Heylens4 vorgenommen hat. Als Meilensteine der weiteren Ent___________ 1 Urteile vom 27.2.2007, Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía und C-355/04 P – Segi. 2 Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG bezieht sich im Übrigen selbstverständlich auch auf durch das Recht der EU gewährte Rechte. Siehe dazu etwa Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Art. 19 IV Rn. 61. 3 EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 ff. – Johnston.

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wicklung sind die Urteile in den Rechtssachen Les Verts5 und Foto-Frost6 zu nennen, durch die der Gerichtshof die im Vertrag vorgesehenen Klagearten als Ausdruck eines umfassenden Rechtsschutzsystems angesehen hat, um ihre Handhabung sodann spezifischen Kohärenzanforderungen zu unterwerfen. Diese Grundlegungen und ihre vielfältigen Folgerungen, wie sie jüngst in der Rechtssache Unibet7 erneut gezogen wurden, sind indes für das Gemeinschaftsrecht entwickelt worden. Im Unterschied zu dem normativen Befund eines umfassenden Rechtsschutzsystems, wie es in den Artikeln 220 ff. EG kodifiziert ist, sieht Art. 46 EU im Bereich des Unionsrechts jedoch nur begrenzte Zuständigkeiten für den Gerichtshof vor. So ist ihm für die Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach Titel V des EU-Vertrages von den Vertragsherren keine Zuständigkeit und für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit nur eine eingeschränkte Jurisdiktion nach Maßgabe von Art. 35 EU eingeräumt worden. Für den Schutz der Grundrechte nach Artikel 6 Abs. 2 EU sind die Befugnisse des Gerichtshofes auf die bestehenden Zuständigkeiten nach dem EG- und dem EU-Vertrag beschränkt worden. Diese wenigen Bemerkungen zu den insgesamt vergleichsweise rudimentären Zuständigkeiten des Gerichtshofes in der Unionsrechtsordnung werfen die wahrlich fundamentale Frage auf, ob und auf welchen Wegen im Rahmen des Unionsvertrages ein gerichtlicher Rechtsschutz im Zusammenwirken von Gerichtshof und mitgliedstaatlichen Gerichten gewährt werden kann, welcher der grundrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes entspricht.

II. Normative Grundlagen der Rechtsschutzgewährung im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit Die grundlegenden Unterschiede, die den Unionsvertrag im Hinblick auf die Zuständigkeiten des Gerichtshofes im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einerseits und für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit andererseits kennzeichnen, werden durch ebenso beachtliche Divergenzen in der normativen Ausgestaltung der Rechtsschutzgewährung bestätigt und vertieft, die sogar in den Regelungen des Reformvertrages von Lissabon fortwirken.

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EuGH, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097 ff. – Heylens. EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1365; Rn 23) – Les Verts. 6 EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 (4231; Rn. 16) – Foto-Frost. 7 EuGH, Urteil vom 13.3.2007, Rs. C-432/05 – Unibet. 5

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1. Besonderheiten der justiziellen Architektur Die Zuständigkeit des Gerichtshofes im Bereich von polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit besteht gemäß Art. 46 EU nach Maßgabe von Art. 35 EU, der diese in mehrfacher Hinsicht bedingt und beschränkt. So setzt die Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Art. 35 Abs. 2 EU die entsprechende Erklärung eines jeden Mitgliedstaates voraus, dass er die Zuständigkeit des Gerichtshofes für Vorabentscheidungen [nach Abs. 1] anerkennt. Unabhängig von dieser Anerkennung, die in verschiedenen Formen erfolgen kann, ist die Zuständigkeit des Gerichtshofes weiteren materiellen Beschränkungen unterworfen. So ist er nach Abs. 5 nicht zuständig für die Überprüfung der Gültigkeit oder der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder der Wahrnehmung der mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. Gegenüber diesen Beschränkungen besteht eine weitere, inhaltlich nicht begrenzte Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Abs. 6 für Nichtigkeitsklagen, die von der Kommission oder einem Mitgliedstaat erhoben werden können. Schließlich werden die Zuständigkeiten des Gerichtshofes durch die in Abs. 7 vorgesehene Streitbeilegung zwischen Mitgliedstaaten ergänzt, für die ersichtlich kein Vorbild in der Gemeinschaftsrechtsordnung besteht.

a) Die gegenständliche Beschränkung der Rechtsschutzgewährung nach Art. 35 EU Gegenständlich beziehen sich die gerichtlichen Prüfungs- und Entscheidungszuständigkeiten nach Art. 35 Abs. 1 EU auf die in Art. 34 Abs. 2 EU vorgesehenen Rechtshandlungsformen und erstrecken sich ausdrücklich auf die Gültigkeit und die Auslegung von Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen, auf die Auslegung von Übereinkommen und auf die Gültigkeit und Auslegung der dazugehörigen Durchführungsmaßnahmen. Das Fehlen der in Art. 34 Abs. 2 lit. a) EU genannten Rechtshandlungsform des gemeinsamen Standpunktes in der gegenständlichen Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Art. 35 Abs. 1 EU und die damit verbundene Frage nach möglichen Rechtswirkungen solcher gemeinsamer Standpunkte bildeten den Kern der Entscheidung des Gerichtshofes in den Rechtssachen Gestoras und Segi vom 27. Februar 20078, die den Anlass zu diesem Vortrag gab. Die gleiche Frage stellt sich für Nichtigkeitsklagen nach Art. 35 Abs. 6 EU. Mit diesen Urteilen hat sich der Gerichtshof zu einer grund___________ 8 EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía.

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legenden Problematik erstmals geäußert, während weitere Fragen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes noch der Beantwortung harren.

b) Die rechtspraktische Bedeutung der Vorlageverfahren nach Art. 35 Abs. 1 bis 4 EU Eine erste Betrachtung der in Art. 35 EU wenig geordnet vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen lässt dennoch eine klare Akzentsetzung erkennen. Während die Zuständigkeit des Gerichtshofes für die nach Art. 35 Abs. 6 EU erhobenen Nichtigkeitsklagen in klarer Kontinuität zur Nichtigkeitsklage privilegierter Kläger nach Art. 230 EG steht, sind für das Vorabentscheidungsverfahren in Art. 35 Abs. 1 bis 4 EU gegenüber seinem Vorbild in Art. 234 EG eine ganze Reihe von Besonderheiten vorgesehen. Dieses besondere Vorabentscheidungsverfahren bildet aus sachlichen Gründen fraglos das primäre Instrument der Rechtsschutzgewährleistung, zumal wenn man seine Überlegungen am Leitmotiv der Effektivität ausrichtet. Während die Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EU eine abstrakte Normenkontrolle eröffnet, ohne jedoch die Anschauung der Umstände des Einzelfalles zu vermitteln, und sich deswegen auf eine generelle Rechtmäßigkeitsprüfung der Rechtsakte zu beschränken hat, ermöglicht das Vorabentscheidungsverfahren die rechtliche Beantwortung der vollen Bandbreite von Gültigkeits- und vor allem von solchen Auslegungsfragen, die erst im Einzelfall in ihrer vollen Tragweite erkennbar werden. Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung, in welcher Weise sich die Mitgliedstaaten zur Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Art. 35 Abs. 1 bis 4 EU bereit erklärt haben. Zwar hatte sich bis 2008 eine Mehrheit von Mitgliedstaten dieser Zuständigkeit des Gerichtshofes unterworfen, jedoch beschränkt sich die Anerkennung generell auf eine bloße Vorlagebefugnis, mitunter sogar nur auf die letztinstanzlicher Gerichte. Demgegenüber ist von den Mitgliedstaaten nur ausnahmsweise eine Vorlageverpflichtung der letztinstanzlichen Gerichte angeordnet worden. Bereits diese beträchtlichen Unterschiede, die von der gänzlichen Nichtanerkennung bis zur Anordnung einer Vorlageverpflichtung reichen, zeigen, dass das Verfahren nach Art. 35 Abs. 1 bis 4 EU nur in begrenztem Maße in der Lage ist, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten und für eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu sorgen. Die materielle Kontrollbeschränkung der Befugnis des Gerichtshofes, die sich aus Art. 35 Abs. 5 EU ergibt, dürfte ein Übriges dazu beitragen, um eine effektive und einheitliche Rechtsschutzgewährung zu erschweren. Schließlich darf nicht verkannt werden, dass die Einleitung eines solchen Vorabentscheidungsverfahrens nur in einem Rechtsstreit in Frage

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kommt, der vor den mitgliedstaatlichen Gerichten schwebt und daher grundsätzlich eine Rechtshandlung voraussetzt, die als Ausübung mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt anzusehen ist.

2. Weitergehende Fragen Indes sind die strukturellen Schwächen des Vorabentscheidungsverfahrens in Art. 35 Abs. 1 bis 4 EU nicht als maßgeblicher oder gar als einziger Gesichtspunkt anzusehen, dem Aussagen über Art und Umfang der Rechtsschutzgewährung im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen entnommen werden können. Von Bedeutung für die Rechtsschutzgewährung ist zudem die weitergehende Frage, wie die verschiedenen Handlungsformen dieser Zusammenarbeit der Union rechtlich zu qualifizieren sind, und namentlich, welche Rechtswirkungen von ihnen ausgehen können. Diese Problematik besteht naturgemäß vorrangig für die Rechtshandlungsform des gemeinsamen Standpunktes, der ausdrücklich von der Zuständigkeit des Gerichtshofes in Art. 35 Abs. 1 und Abs. 6 EU nicht erfasst wird. Überdies ist maßgeblich, inwieweit die Foto-Frost-Rechtsprechung zum Verwerfungsmonopol der Gemeinschaftsgerichte für abgeleitetes Gemeinschaftsrecht auch von Bedeutung für die Auslegung der vorgenannten Zuständigkeiten des Gerichtshofes in der Unionsrechtsordnung ist, welche die Überprüfung der Gültigkeit von Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen ausdrücklich einschließen.

III. Lösungsansätze der bisherigen Rechtsprechung Vor dem Hintergrund der mit diesen Fragen verbundenen Unwägbarkeiten mag es verständlich erscheinen, dass Generalanwalt Mengozzi in den Schlussanträgen zu den Rechtssachen Gestoras und Segi9 dafür plädiert hatte, in einem sehr weit gehenden Umfang den mitgliedstaatlichen Gerichten die Verantwortung für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu überlassen. Die demgegenüber vom Gerichtshof gewählte Lösung unterscheidet sich nicht nur durch seinen konkreten Beitrag zur Rechtsschutzgewährung. Sie ist vielmehr bemüht, die gemeinschafts- und unionsrechtliche Verpflichtung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes konkret zu erfassen und ihre Einlösung unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte einerseits und des Gerichtshofes andererseits zu betrachten. Dass das geltende Vertragsrecht der Union unter diesem Aspekt weit davon entfernt ist, eine ideale oder auch nur ___________ 9 EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía.

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einfach zu handhabende Rechtsgrundlage vorzusehen, dürfte die vorstehende Skizze von Art. 35 EU bereits deutlich gemacht haben. Unter diesen Vorzeichen hat der Gerichtshof eine Konzeption entwickelt, welche die Gewährung effektiven Rechtsschutzes auf zwei Säulen stützt, die mitgliedstaatliche und die europäische. Besonderes Augenmerk verdient insoweit die Aufgabenverteilung, die er damit vornimmt.

1. Die Urteile in den Rechtssachen Gestoras und Segi Die Überlegungen des Gerichtshofes in den Urteilen Gestoras und Segi beruhen zunächst auf der offensichtlichen Feststellung, dass Art. 35 EU dem Gerichtshof keinerlei Zuständigkeit für eine von den Klägern erhobene Schadensersatzklage verleiht10. Eine am Wortlaut der Bestimmung von Art. 35 EU orientierte Auslegung verfolgt der Gerichtshof auch, um den Ausgangspunkt für die Prüfung des Rechtsmittelgrundes einer Verletzung des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz zu behandeln. Er begnügt sich jedoch nicht mit der Feststellung, das in Art. 35 EU geschaffene Rechtsschutzsystem reiche weniger weit als die im Rahmen des EG-Vertrages vorgesehenen Zuständigkeiten. Seine Betrachtung der vertragsrechtlichen Grundlagen beschließt der Gerichtshof mit der Schlussfolgerung, dass es nach Art. 48 EU gegebenenfalls Sache der Mitgliedstaaten ist, das gegenwärtig geltende System zu ändern11. Auch wenn diese Aussage nicht durch einen Verweis auf seine Rechtsprechung in der Sache Union de Pequeños Agricultores12 bekräftigt wird, so entspricht die Absage an eine so weitgehende Rechtsfortbildungsbefugnis im Bereich von Art. 35 EU fraglos der Grundhaltung, die bereits diese Rechtsprechung zu Art. 230 Abs. 4 EG prägte.

a) Rechtsschutz gegen gemeinsame Standpunkte nach Art. 35 Abs. 1, 6 EU Die von den Rechtsmittelführern zur Bindung der Union auf Grund von Art. 6 Abs. 1 und 2 EU an die Grundrechte vorgebrachte Rüge wird vom Gerichtshof indes nicht unter dem Aspekt der gerichtlichen Zuständigkeitsverteilung gewürdigt. Vielmehr erfolgt ihre Behandlung unter dem Gesichtspunkt möglicher Rechtswirkungen der in Art. 34 Abs. 2 EU vorgesehenen Rechtshandlungsformen und namentlich der von gemeinsamen Standpunkten, wie sie in ___________ 10 EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi (Rn. 46) und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía (Rn. 46). 11 EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi (Rn. 50) und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía (Rn. 50). 12 EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 – UPA.

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Art. 34 Abs. 2 lit. a) EU als Positionsbestimmungen definiert werden, „durch die das Vorgehen der Union in einer gegebenen Frage bestimmt wird“. Die Verbindlichkeit der gemeinsamen Standpunkte im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander und ihre besondere, von Art. 37 EU bekräftige Bedeutung auf internationaler Ebene erklärten jedoch, dass ein gemeinsamer Standpunkt als solcher keine Rechtshandlungsform darstellt, die Rechtswirkungen gegenüber privaten Dritten entfalten soll. Daher erklärt sich gleichsam zwanglos, warum ein gemeinsamer Standpunkt nicht als möglicher Gegenstand von Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 35 Abs. 1 EU und von Nichtigkeitsklagen nach Art. 35 Abs. 6 EU vorgesehen ist13. Vor diesem Hintergrund wendet sich der Gerichtshof der gleichsam atypischen Konstellation eines gemeinsamen Standpunktes zu, der Rechtswirkungen gegenüber Dritten zeitigt, wie dies für Art. 4 des streitgegenständlichen gemeinsamen Standpunktes 2001/931 der Fall ist. […] Auf Grund ihrer Rechtswirkungen setzt der Gerichtshof solche Regelungen mit den Auswirkungen gleich, die typischerweise von Bestimmungen entfaltet werden, die in Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen enthalten sind. Auf dieser Prämisse erfolgt die eigentliche Auslegung der Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Art. 35 Abs. 1 EU dahingehend, dass alle Maßnahmen des Rates, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten sollen, wie sie für Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse typisch sind, ungeachtet ihrer Rechtsnatur oder Form Gegenstand der Rechtsschutzgewährung sind, die einerseits im Wege der Vorabentscheidung nach Art. 35 Abs. 1 EU und andererseits im Wege der Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EU erfolgt14. Im Kern bestimmt der Gerichtshof seine Zuständigkeit also nicht nach der Rechtsform oder der Rechtsnatur der in Bezug genommenen Rechtsakte, sondern definiert sie materiell auf Grund der Rechtswirkungen, die diese typischerweise entfalten. Für diesen Ansatz kann er sich auf ebenso klassische wie weithin akzeptierte Präjudizien aus seiner Rechtsprechung stützen15. Daraus folgert er, dass seine Zuständigkeit für Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 Abs. 1 EU eröffnet ist, welche die Gültigkeit oder die Auslegung eines gemeinsamen Standpunktes zum Gegenstand haben, soweit das vorlegende Gericht ernsthafte Zweifel hat, ob ein gemeinsamer Standpunkt in Wirklichkeit Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugen kann16. ___________ 13

EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi (Rn. 52) und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía (Rn. 52). 14 EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi (Rn. 53; 55) und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía (Rn. 53; 55). 15 EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, 263 (276, 277; Rn. 38 bis 42) – AETR; Rs. C-57/95, Slg. 1997, I-1627 (1647; Rn. 7 ff.) – Frankreich ./. Kommission. 16 EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi (Rn. 54) und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía (Rn. 54).

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b) Rechtsschutz gegen gemeinsame Standpunkte durch mitgliedstaatliche Gerichte Mit dieser Auslegung der Bestimmungen in Art. 35 Abs. 1 und 6 EU, die man als behutsame Arrondierung seiner Zuständigkeit verstehen kann, beschränkt sich der Gerichtshof darauf, die Rüge der Rechtsmittelführer zurückzuweisen, dass ihnen jeder Rechtsschutz vorenthalten werde. Verständlicherweise vermeidet der Gerichtshof indes weitere Ausführungen zu Art und Maß der Mindestanforderungen an Rechtsschutzmöglichkeiten, welche die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes auf Grund von Art. 6 Abs. 2 EU für das Unionsrecht zwingend vorschreibt. Bevor er mit der Zurückweisung dieser Rüge die Schlussfolgerung zieht, dass durch die vorhandenen Rechtsschutzmöglichkeiten das grundrechtlich gewährleistete Maß wirksamen Rechtsschutzes gewahrt wird, geht der Gerichtshof indes auf die Aufgabe ein, die den mitgliedstaatlichen Gerichten in diesem Zusammenhang zukommt. Diese Aufgabenstellung umschreibt der Gerichtshof allgemein mit der Verpflichtung, die nationalen Verfahrensvorschriften über die Einlegung von Rechtsbehelfen seien so auszulegen und anzuwenden, dass natürliche und juristische Personen jede nationale Entscheidung oder andere Maßnahme betreffend die Ausarbeitung oder Anwendung einer Handlung der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedstaaten gerichtlich anfechten und gegebenenfalls Schadensersatz verlangen können17. Obwohl eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Rechtsgrund dieser Inpflichtnahme der mitgliedstaatlichen Gerichte in den fraglichen Urteilen fehlt, ergibt sich aus dem thematischen Zusammenhang der geprüften Rüge einer Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz, dass diese Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf ebendieser unionsrechtlich gewährleisteten Garantie beruht. Um die Bedeutung dieser Verpflichtung und die Rolle, die der mitgliedstaatlichen Rechtsschutzgewährleistung bei ihrer Einhaltung zukommt, richtig würdigen zu können, ist erneut auf die Funktion der Rechtshandlungsform des gemeinsamen Standpunktes nach Art. 34 Abs. 2 lit. a) EU hinzuweisen, die zudem in Art. 4 des streitgegenständlichen Standpunktes deutlich illustriert wird. Als Instrument der Festlegung eines gemeinsamen Standpunktes sowie zur Koordinierung des weiteren Vorgehens setzt diese Rechtshandlungsform primär auf die Selbstbindung der Mitgliedstaaten im Rahmen ihres weiteren Vorgehens. Daher dürfte ein gemeinsamer Standpunkt, der Rechtswirkungen gegenüber Dritten zu entfalten vermag, in aller Regel mitgliedstaatliche Mitwirkungs- und Ausarbeitungsakte voraussetzen. Vor allem aber dürfte er Umsetzungs- und Ausführungsmaßnahmen erforderlich machen, die ungeachtet der unionsrecht___________ 17 EuGH, Urteil vom 27.2.2007 in der Rs. C-355/04 P – Segi (Rn. 56) und in der Rs. C-354/04 P – Gestoras Pro Amnistía (Rn. 56).

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lichen Bindung den mitgliedstaatlichen Hoheitsträgern zuzurechnen sind. Gerade die von den Rechtswirkungen eines gemeinsamen Standpunktes ausgehende Perspektive des Gerichtshofes bedingt, dass Rechtsbeeinträchtigungen Dritter und ggf. schadensverursachende Handlungen auch und gerade bei der Ausübung mitgliedstaatlicher Hoheitsbefugnisse zu besorgen sind. Realistischerweise ist deshalb anzunehmen, dass die Rechtsschutzgewährung durch mitgliedstaatliche Gerichte in besonderem Maße praktische Bedeutung erlangen dürfte. Ihre konkrete Relevanz entfaltet die vom Gerichtshof ausgesprochene Verpflichtung namentlich für mitgliedstaatliche Rechtsordnungen, in denen Ausarbeitungs- und vor allem Ausführungsrechtsakte im Bereich der Terrorismusbekämpfung als acte de gouvernement angesehen und daher möglicherweise von der Gewährung wirksamen Rechtsschutzes nicht erfasst werden18. Die unionsrechtliche Garantie effektiven Rechtsschutzes verpflichtet die mitgliedstaatlichen Gerichte, im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Hinblick auf solche Akte für wirksamen Rechtsschutz zu sorgen und gerichtliche Klagemöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um ggf. Schadensersatz verlangen zu können.

c) Die Bedeutung dieser Rechtsprechung im Lichte der Foto-Frost-Doktrin Die eigentliche Erklärung und Tragweite der auf zwei Säulen beruhenden Rechtsschutzkonzeption dieser Rechtsprechung erschließt sich indes erst mit Blick auf die im Gemeinschaftsrecht etablierte Foto-Frost-Doktrin, durch die das Verwerfungsmonopol der Gemeinschaftsgerichte in Ansehung des Sekundärrechts gesichert wird19. Ungeachtet der erheblichen Unterschiede, die nach geltendem Vertragsrecht zwischen der Gemeinschafts- und der Unionsrechtsordnung bestehen, stellt sich in Ansehung der ausschließlichen Entscheidungszuständigkeit des Gerichtshofes über die Gültigkeit von Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen im Vorabentscheidungsverfahren nach Abs. 1 ebenso wie im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EU die Frage nach einem Verwerfungsmonopol für das Unionsrecht in gleicher Weise wie für das Gemeinschaftsrecht. Hält man diese Annahme im Hinblick auf die ausdrücklich in Art. 35 EU genannten Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse für nahe liegend, so erscheint es jedenfalls fragwürdig, für gemeinsame Standpunkte wirkungsglei___________ 18

Diese Bedeutung der Verpflichtung aus dem Urteil des Gerichtshofes unterschätzt Abdelkhaleq Berramdane, Les limites de la protection juridictionelle dans le cadre du titre VI du traité sur l’union Européenne, Revue du droit de l’Union européenne, 2007, p. 433 (445). 19 EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 (4231; Rn. 17) – Foto-Frost.

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cher Art eine dezentrale Verwerfungsbefugnis zu Gunsten mitgliedstaatlicher Gerichte annehmen zu wollen. Zugleich wird damit dem Rechtsschutzsystem von Art. 35 EU eine spezifische Aufgabenverteilung unterlegt. Während dem Gerichtshof die Gültigkeitskontrolle für Rechtshandlungen, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugen sollen, in Art. 35 Abs. 1 und 6 EU ausschließlich übertragen wird und er überdies im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens für die letztverbindliche Auslegung solcher Rechtshandlungen zuständig ist, haben die mitgliedstaatlichen Gerichte für effektiven Rechtsschutz gegenüber nationalen Maßnahmen zu sorgen, die der Ausarbeitung oder der Ausführung von solchen Unionsrechtsakten dienen. Diese Aufgabe, die freilich über den Bereich der Rechtskontrolle hinausgeht, der dem Gerichtshof in Art. 35 Abs. 5 EU versagt wurde, wird damit zur Domäne der mitgliedstaatlichen Rechtsschutzgewährung. Da diese Maßnahmen jedoch im Anwendungsbereich des Unionsrechts ergehen, sind die Mitgliedstaaten an die aus Art. 6 Abs. 2 EU folgende Verpflichtung gebunden, die unionsrechtlichen Anforderungen zu wahren, die an eine wirksame Ausgestaltung des Rechtsschutzes der mitgliedstaatlichen Gerichte gestellt werden. Welche der beiden Ebenen in der Praxis den Hauptanteil zur Rechtsschutzgewährung beitragen wird, hängt nach der Zwei-SäulenKonzeption des Gerichtshofes maßgeblich von dem Konkretisierungsgrad und der damit verbundenen Eingriffseignung des Unionsrechtes ab, das in gemeinsamen Standpunkten, Rahmenbeschlüssen und Beschlüssen enthalten und geeignet ist, Rechtswirkungen gegenüber Dritten zu erzeugen.

2. Zur Beachtlichkeit des Rechts der EMRK und der UN Gleichsam in zweiter Reihe wird diese Konzeption flankiert durch die Anforderungen, die sich aus dem Recht der EMRK ergeben. Es ist namentlich die Bosphorus-Rechtsprechung des EGMR20, welche den Gerichtshof bei einer Fortentwicklung seiner Rechtsprechung unterstützt, um der grundrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes in vollem Umfang gerecht zu werden. Zu den Besonderheiten dieser Flankierung gehört, dass diese grundrechtliche Verpflichtung neben der genuin unionsrechtlichen Betrachtung auch die Einbeziehung der Wirkungs- und Verpflichtungsdimension des Unionsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen hat, wenn diese das Unionsrecht ausführen21. Vor diesem konventionsrechtlichen Hintergrund ist eine Rechtsschutzkonzeption des Unionsrechts daher angezeigt, welche die zentrale ___________ 20

EGMR, Urteil vom 30.6.2005, Bsw. Nr. 45.03/98 – Bosphorus. Vgl. Art. 51 GrCh sowie EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 ff. – Wachauf; Rs. C260/89, Slg. 1991, I-2925 ff. – ERT; Rs. C-309/96, Slg. 1997, I-7493 ff. – Annibaldi. 21

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Ebene der Rechtsetzung ebenso einschließt wie die dezentrale Ebene der Ausarbeitung und der Ausführung solcher Rechtsakte von Seiten der Mitgliedstaaten. Demgegenüber bildet das Recht der Vereinten Nationen und seine Berücksichtigung im Rahmen der Unionsrechtsordnung eine anders gelagerte Facette dieser Problematik, die gegenteilige Wirkungen auf die Gewährung wirksamen Rechtsschutzes auslösen könnte. In den gegenwärtig vor dem Gerichtshof anhängigen und rechtlich wie politisch höchst bedeutsamen Verfahren Kadi22 und Yusuf23 stellen sich zwar keine Fragen zweifelhafter Rechtswegeröffnung, welche die Rechtsschutzgewährung integral betreffen. Die vom Gericht Erster Instanz angenommene Bindung der Gemeinschaft an das UN-Recht und namentlich an die Resolutionen des Sicherheitsrates, die im Wege eines gemeinsamen Standpunktes der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nach Art. 15 EU rezipiert und zur Grundlage einer Durchführungsrechtsetzung der Gemeinschaft auf Grund von Art. 60, 301 und 308 gemacht wurden, bedeutet indes eine wesentliche Einschränkung des materiellen Grundrechtsschutzes, die unter Umständen einer Versagung gleichkommen kann. Auf die in diesen Verfahren aufgeworfenen Fundamentalfragen kann vorliegend nicht näher eingegangen werden, zumal ihre Beratung im Gerichtshof ansteht und ich der Entscheidungsformation angehöre. Dennoch sei der allgemeine Hinweis gestattet, dass der in den Rechtssachen Gestoras und Segi streitgegenständliche gemeinsame Standpunkt 2001/931 zur Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 1373 (2001) diente, welche im engen thematischen Zusammenhang zu den unions- und gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsmaßnahmen steht, die in den Verfahren Kadi und Yusuf streitgegenständlich sind. Fraglos boten die Verfahren Gestoras und Segi keinerlei Anhaltspunkte zur Behandlung der Grundsatzfragen, welche eine Bindung der Union an das UN-Recht für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes aufwirft. Gleichwohl lässt dieser Zusammenhang erkennen, um welche Weiterungen und Konsequenzen es in diesen Verfahren für den materiellen Grundrechtsschutz und die Gewährung effektiven Rechtsschutzes insgesamt geht. Nur angedeutet sei, dass diese Verfahren den Stellenwert der Rechtsschutzgewährleistung und des materiellen Grundrechtsschutzes integral betreffen. Neben den rechtlichen und politischen Grundsatzfragen des Völkerrechts lassen sie die gesamte Problematik der Solange-Vorbehalte mitgliedstaatlicher Verfassungs- und Höchstgerichte24 ebenso wie der Kontrollreserve des EGMR25 in einem besonderen ___________ 22

Rs. C-402/05 P. Rs. C-415/05 P. 24 Einerseits BVerfGE 73, 339 (387); 102, 147 (162 f.; 164); Corte Costituzionale, Entscheidung Nr. 232/89 – Fragd, foro italiano I, 1990, 1855; Entscheidung Nr. 117/94 23

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Licht erscheinen. Vor diesem Hintergrund wird die Kontinuität und Kohärenz der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Grundrechtsschutz insgesamt zu bedenken sein. Im Kern ist der Gerichtshof in diesen Rechtssachen mit vier Fragenkomplexen konfrontiert. Vor allem geht es erstens um die vom Gericht Erster Instanz in Analogie zur International-Fruit-Rechtsprechung angenommene Bindung der Gemeinschaft an die Charta der Vereinten Nationen, soweit sie Resolutionen des UN-Sicherheitsrates umsetzt. Zweitens handelt es sich um die Frage, ob die Gemeinschaft bei der Umsetzung von Sicherheitsratsresolutionen über ein Umsetzungsermessen verfügt oder eine solche Umsetzungsfreiheit nicht besteht und die in diesem Rahmen erlassenen Rechtsakte daher der gerichtlichen Kontrolle des Gerichtshofes entzogen sind. Drittens geht es um die Beurteilung, ob der Gerichtshof durch eine etwaige Kontrolle der Umsetzungsrechtsakte incident die Rechtmäßigkeit der Sicherheitsratsresolutionen überprüfen und mit einer solchen Entscheidung über seine Befugnis als Gemeinschaftsrichter hinausgehen würde. Schließlich stellt sich viertens das Problem, ob eine mögliche Nichtigkeitsfeststellung der Rechtsakte, die in Umsetzung einer Sicherheitsratsresolution erlassen werden, zugleich die Verbindlichkeit dieser Resolution in Zweifel ziehen würde. Die rechtliche Schwierigkeit und die politische Tragweite dieser Fragestellungen erklärt, warum diese Verfahren unter den Kollegen am Gerichtshof zu den bedeutsamsten gezählt werden, über die der Gerichtshof bisher zu entscheiden hatte.

IV. Aspekte der weiteren Entwicklung Die in den Urteilen Gestoras und Segi erkennbar gewordene Rechtsschutzkonzeption des Gerichtshofes im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bildet naturgemäß nur eine Grundlage für die weitere Entwicklung, die erst Auskunft über die näheren Konturen und namentlich über die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes wird geben können. Die Analyse dieser Entscheidungen des Gerichtshofes zeigt indes das grundlegende Anliegen dieser Konzeption auf. Ihre Verwirklichung versteht sich aber nicht von selbst. Vielmehr ist sie vom Zusammenwirken mit weiteren Faktoren abhängig, welche die Kooperation der Gerichtsbarkeiten in Europa maßgeblich prägen.

___________ – Zerini, Racc. Uff. 1994, 785 und andererseits Conseil d’État, Entscheidung Nr. 287110 vom 8.2.2007. 25 Nachweis in Fn. 21.

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1. Anerkennung der Entscheidungszuständigkeit des Gerichtshofes Ein erster, fraglos grundlegender Aspekt der Bewährung und Fortentwicklung der vom Gerichtshof entfalteten Rechtsschutzkonzeption im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit betrifft die Anerkennung der Entscheidungszuständigkeit des Gerichtshofes von Seiten der Mitgliedstaaten. In dieser Hinsicht liegt auf der Hand, dass eine mehr oder weniger große Anzahl von Reservatsstaaten, die eine Zuständigkeit des Gerichtshofes in diesem Bereich nicht anerkennen, für die auch in der Europäischen Union grundlegende Zielsetzung der Gewährleistung von Rechtseinheit mehr als nur abträglich wäre. Dies gilt namentlich im Hinblick auf die Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Gültigkeitsprüfung von Rechtsakten nach Art. 34 Abs. 2 EU im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, da sie im Wege der Nichtigkeitsklage nach Art. 35 Abs. 6 EU dem Gerichtshof zur ausschließlichen Wahrnehmung übertragen wurde, ohne dass es insoweit einer weiteren Anerkennungserklärung von Seiten der Mitgliedstaaten bedürfte. Jedoch bleibt zu bedenken, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Art. 35 Abs. 3 EU aus Sicht der mitgliedstaatlichen Gerichte optional ausgestaltet ist und Mitgliedstaaten nur ausnahmsweise ihre letztinstanzlichen Gerichte einer Vorlageverpflichtung unterworfen haben. Unter diesen Vorzeichen wird die Verantwortung für die Wahrung der Rechtseinheit im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in erheblichem Maße bei den mitgliedstaatlichen Höchstgerichten verbleiben. Soweit diese über eine Vorlagebefugnis verfügen, unterliegen sie indes der auch im Unionsrecht geltenden Kooperationsverpflichtung26 im Verhältnis zum Gerichtshof. Einem solchen Gericht dürfte es unionsrechtlich daher versagt sein, die Gültigkeit eines Rechtsaktes der Union nach Art. 34 Abs. 2 EU in Zweifel zu ziehen, ohne seine Zweifelsfragen dem Gerichtshof zur Entscheidung vorzulegen.

2. Kooperationen mit den mitgliedstaatlichen Gerichten Die wechselseitige Verpflichtung der Gerichtsbarkeiten zur Kooperation weist naturgemäß weitere Facetten auf. Die auf zwei Säulen beruhende Rechtsschutzkonzeption des Gerichtshofes setzt neben der Anerkennung seiner Zuständigkeit daher vor allem voraus, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte ihrer Verantwortung für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gegen mitgliedstaatliche Maßnahmen zur Ausarbeitung und zur Ausführung des Unionsrechtes gerecht werden. Entsprechend der vorherrschenden Rechts- und Gerichtskultur in einigen Mitgliedstaaten stellt diese Verpflichtung noch keine Selbst___________ 26

Siehe EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285 (5327; Rn. 42) – Pupino.

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verständlichkeit dar, zumal nicht in Vergessenheit geraten sollte, dass es in den bisherigen Verfahren um Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung ging, in denen sich die Staatsraison oftmals in besonderer Weise herausgefordert sieht. Daher dürfte nicht auszuschließen sein, dass die Einhaltung dieser unionsrechtlichen Verpflichtung von Seiten der mitgliedstaatlichen Gerichte sowie die näheren Konturen der unionsrechtlichen Anforderungen auf die eine oder andere Weise zum Gegenstand weiterer Befassung des Gerichtshofes gemacht werden wird.

3. Qualitative Anforderungen an den Rechtsschutz Angesichts der keineswegs stabil erscheinenden Struktur des Rechtsschutzsystems von Art. 35 EU sowie der damit verbundenen Aufgabenverteilung zwischen dem Gerichtshof und den mitgliedstaatlichen Gerichten dürfte schließlich auf der Hand liegen, dass die Leistungs- und Funktionsfähigkeit dieser Rechtsschutzkonzeption in besonderem Maße von der Qualität und Überzeugungskraft der Rechtsprechung abhängt, die der Gerichtshof namentlich zu Fragen der Gültigkeit von Rechtshandlungen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu vermitteln vermag. Vor diesem Hintergrund ist die sachliche Auseinandersetzung und konstruktive Kritik an der Rechtsprechung von besonderer Bedeutung, die zum Grundrechtsschutz in diesem Bereich ergangen ist und ergehen wird27. Wie rückschauend die bewegte Diskussion um den europäischen Haftbefehl gezeigt hat, eignet sich die Materie wenig für die Durchsetzung pauschaler Grundsatzpositionen. Im Nachgang zur Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Advocaten voor de Wereld dürfte indes deutlich geworden sein, wie wichtig die konkrete Auseinandersetzung um Einzelfragen der rechtlichen Würdigung verschiedener Regelungen des Rahmenbeschlusses28 einerseits und der Auslegung seiner Bestimmungen in Übereinstimmung mit den Anforderungen der unionsrechtlich gewährten Grundrechte29 andererseits ist. Es ist namentlich der durch das Vorabentscheidungsverfahren von Art. 35 Abs. 1 EU begründete Dialog der Gerichtsbarkeiten, der den institutionellen Rahmen für das Ringen um die richtige Lösung vorgibt. Nach den bisherigen Erfahrungen mit der Rechtsprechungskooperation im Vorabentscheidungsverfahren lässt sich indes mit Gelas___________ 27 Siehe Stefanie Schmahl, Der Europäische Haftbefehl vor dem EuGH: Des Rechtsstreits letzter Teil?, DVBl 2007, S. 1463 ff. 28 So in Bezug auf die Handhabung des nullum crimen-Satzes für die Verweisung des Rahmenbeschlusses auf das Recht des Ausstellungsmitgliedstaates, EuGH, Urteil vom 3.5.2007, Rs. C-303/05, Rn. 52 f. – Advocaten voor de Wereld, DVBl 2007, S. 897 (900). 29 Siehe zur Frage der objektiven Rechtfertigung, ebenda, Rn. 56 f.

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senheit prognostizieren, dass dieser Dialog einer grundrechtlichen race to the bottom im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wirkungsvoll begegnen wird.

V. Die Perspektive des Reformvertrages Die vorgestellten Überlegungen blieben fraglos unvollkommen, ohne einen Blick auf die Rechtsschutzproblematik und die Entwicklung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in der Integrationsperspektive des Reformvertrages zu werfen. Auf der Grundlage der ausdrücklichen Zuerkennung einer Rechtspersönlichkeit der Union30 ist eine weitgehende Annäherung des bisherigen Unionsrechts an die Strukturen des Gemeinschaftsrechts vorgesehen, die im Schrifttum mit den Schlagworten einer Auflösung der Säulenstruktur und einer weitgehenden Vergemeinschaftung dieses Bereichs bezeichnet wird31. So werden namentlich die besonderen Rechtshandlungsformen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zu Gunsten der einheitlichen Rechtshandlungsformen des bisherigen Gemeinschaftsrechts aufgegeben, die im Wege des ordentlichen Rechtsetzungsverfahrens erlassen werden32. Von zentraler Bedeutung ist vor allem, dass die in diesem Bereich zu treffenden Maßnahmen der Zuständigkeit des Gerichtshofes nach den allgemeinen Regeln unterstellt werden, so dass namentlich das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG Anwendung findet33. Beide Maßnahmen stellen fraglos enorme Fortschritte der Integrationsentwicklung dar34. Bedauerlicherweise ist vorgesehen, dass die Ablösung der Regelung in Art. 35 EU durch das allgemeine Regime des Vorabentscheidungsverfahrens erst fünf Jahre nach dem Infkrafttreten des Reformvertrages erfolgt, um dem Vereinigten Königreich und Irland einen gleitenden Übergang in das erweiterte opt-out-Regime zu ermöglichen, das beide Länder sich im Reformvertrag für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit ausbedungen haben35.

___________ 30

Art. 32 des Unionsvertrages. Siehe Schmahl (Fn. 27), DVBl 2007, S. 1463 (1469 f.). 32 Art. 69 F Abs. 1 EU i.d.F. des Reformvertrages sowie Art. 69 K Abs. 2 EU i.d.F. des Reformvertrages. 33 Siehe Schmahl (Fn. 27), DVBl 2007, S. 1463 (1469 f.). 34 Siehe Clemens Ladenburger, The resources of European security – Developing the EU Treaty bases for police cooperation and judicial cooperation in criminal matters, demnächst in: Revue européenne de droit public 2008. 35 Siehe Art. 9 und 10 des Protokolls zum Reformvertrag über Übergangsbedingungen. 31

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Thomas von Danwitz

Zudem ist vorgesehen, die materielle Beschränkung der Kontrolle des Gerichtshofes im Reformvertrag aufrecht zu erhalten, die in Art. 35 Abs. 5 EU in Bezug auf die Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit angeordnet ist36. Überdies soll es dabei bleiben, dem Gerichtshof die Zuständigkeit für die Anwendung der Bestimmungen des zweiten Kapitels im Titel V des Unionsvertrages über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorzuenthalten37. Dennoch soll der Gerichtshof für Klagen zuständig werden, welche von natürlichen oder juristischen Personen im Wege einer Nichtigkeitsklage gegen Zwangsmaßnahmen erhoben werden, die im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ergangen sind38. Diese Perspektive erweist zwar fraglos, dass die behandelte Rechtsschutzproblematik mit einem Inkrafttreten des Reformvertrages erheblich entschärft, ja auf mittlere Sicht sogar weitgehend zu Gunsten der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gelöst würde. Dennoch zeigt die Zurückhaltung gegenüber einer gerichtlichen Kontrolle von Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit von mitgliedstaatlichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit, dass die Gewährung effektiven Rechtsschutzes in diesem Bereich auch zukünftig nicht ohne Beachtung der Besonderheiten auskommen wird, die diesen souveränitätsnahen Bereich so nachhaltig prägen. Zwar werden die beschlossenen Vertragsänderungen den Gerichtshof von den wesentlichen Fesseln befreien, die ihm für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit bisher angelegt sind. Dennoch wird die Wahrnehmung dieser Aufgabe nicht ohne ein ebenso vertrauensvolles wie enges Zusammenwirken der Gemeinschaftsgerichte mit den mitgliedstaatlichen Gerichten sinnvoll stattfinden können. Aber insgesamt ist diese Perspektive ein Grund mehr, ein baldiges Inkrafttreten des Reformvertrages zu wünschen.

___________ 36

So vorgesehen in Art. 240ter. So vorgesehen in Art. 240bis des Reformvertrages. 38 So vorgesehen in Art. 240bis Abs. 2 des Reformvertrages. 37

Allgemeinwohlerfordernis und Zwecksicherung bei der Enteignung zugunsten Privater Von Johannes Dietlein und Daniel Riedel, Düsseldorf

I. Problemaufriss In neuerer Zeit hat die Problematik der „Enteignung zugunsten Privater“ wieder Wellen geschlagen. Zu erwähnen sind die Verlängerung der Start- und Landebahn auf dem Werkflugplatz der Airbus Deutschland GmbH in Hamburg-Finkenwerder1 sowie die Errichtung einer Kohlenmonoxid-Pipeline von Dormagen nach Krefeld-Uerdingen durch die Bayer MaterialScience AG2. Die aktuellen Fälle erinnern daran, dass auch rund 20 Jahre nach der BoxbergEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts3 die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer Enteignung zugunsten Privater nach wie vor nicht vollends geklärt sind.4 Der vorliegende Beitrag nimmt die Anforderungen, die das BVerfG aufgestellt hat, näher in den Blick und geht der Frage nach, welche konkreten Handlungsvoraussetzungen und Handlungsoptionen verbleiben, wenn der Gesetzgeber eine Enteignung zugunsten Privater für unabdingbar erachtet. ___________ 1 Siehe das Enteignungsgesetz für die Erweiterung des Werkflugplatzes in HamburgFinkenwerder v. 18.02.2004, HmbGVBl. 2004, 95; aus der Rspr. v. a. Hmb. OVG, NVwZ 2005, 105; aus dem Schrifttum Battis/Otto, Die Enteignung von Grundstücken zur Erweiterung industrieller Produktionsstätten am Beispiel des WerkflugplatzEnteignungsgesetzes, DVBl. 2004, 1501 (1504 f.). 2 Siehe das Gesetz über die Errichtung und den Betrieb einer Rohrleitungsanlage zwischen Dormagen und Krefeld-Uerdingen v. 21.03.2006, GV.NRW 2006, S. 130; aus der Rspr. VG Düsseldorf, Beschl. v. 18.09.2007 – 3 L 884/07 u. 3 L 915/07, Beschl. v. 13.11.2007 – 3 L 1710/07, Beschl. v. 06.12.2007 – 3 L 1957/07; OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07 u. 20 B 1667/07 (alle Entscheidungen erhältlich in juris). 3 BVerfGE 74, 264 = NJW 1987, 1251 = JZ 1987, 615 = NVwZ 1987, 487 = DVBl. 1987, 466 = DÖV 1987, 488. 4 Siehe nur die Monografien von Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, 1996, und Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, jeweils m. w. N.

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Johannes Dietlein und Daniel Riedel

II. Das Boxberg-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1. Ausgangslage Gegenstand des sog. „Boxberg-Urteils“ war bekanntlich das Vorhaben der Daimler-Benz AG, ein Testgelände zu Prüf-, Mess- und Erprobungszwecken für Kraftfahrzeuge zu errichten.5 Die betroffenen Gemeinden hatten entsprechende Bebauungspläne aufgestellt, um durch die Ansiedlung des Testgeländes der Strukturschwäche und Arbeitslosigkeit in ihrem Wirtschaftsraum zu entgegnen. Die Daimler-Benz AG erwarb im Bereich der geplanten Teststrecke und im Umland in erheblichem Umfang Grundstücke, scheiterte aber mit einem vollständigen freihändigen Erwerb der erforderlichen Grundstücke. Deshalb beantragten die betroffenen Gemeinden, ein Unternehmensflurbereinigungsverfahren zur Verwirklichung der Bebauungspläne einzuleiten. Die von der Daimler-Benz AG außerhalb des Vorhabens erworbene Fläche reichte aus, um den Landverlust im Bereich der Teststrecke auszugleichen. Sodann ordnete das Landesamt für Flurbereinigung und Siedlung eine städtebauliche Unternehmensflurbereinigung gem. § 144f BBauG und § 87 Abs. 1 FlurbG, eine Regelflurbereinigung gem. §§ 1 und 37 FlurbG sowie eine straßenrechtliche Unternehmensflurbereinigung an. Danach schlossen die betroffenen Gemeinden, die Daimler-Benz AG und das Land mit notarieller Urkunde eine „zwecksichernde Planvereinbarung“. Darin verpflichtete sich die Daimler-Benz AG unter anderem, die übernommenen Flächen für den Bau und Betrieb der Anlage entsprechend den Festsetzungen der Bebauungspläne auf Dauer zu nutzen und innerhalb von zehn Jahren nach Baubeginn auf dem Prüfgelände selbst sowie in neuangesiedelten oder erweiterten Zulieferbetrieben insgesamt 900 bis 1000 Arbeitsplätze zu schaffen. Weitere Regelungen betrafen Einzelheiten zu diesen Arbeitsplätzen, die Bereitschaft, bei Auftragsvergaben örtliche Unternehmen bevorzugt zu berücksichtigen, und das Angebot von Ausbildungsplätzen nebst der Errichtung einer Stiftung zur Förderung der beruflichen Bildung. Die Beteiligten gingen davon aus, dass bei dem Gesamtprojekt Aufträge im Wert von etwa 100 Mio. DM zur Vergabe anstünden und diese in der betroffenen Region untergebracht werden könnten. Widerspruch und Anfechtungsklage der Beschwerdeführer hatten keinen Erfolg. Ihre Revision hat das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen.

___________ 5

BVerfGE 74, 264 (265-272).

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2. Kein Verfassungsverbot der Begünstigung Privater durch Enteignung Bis zur Boxberg-Entscheidung hatte sich das BVerfG nicht abschließend zu der Frage der generellen Zulässigkeit der Begünstigung Privater durch Enteignung geäußert.6 In einer Entscheidung zum Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) hatte sich das Gericht lediglich mit der Enteignung zugunsten privatrechtlich organisierter Unternehmen beschäftigt, denen durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes die Erfüllung einer dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe zugewiesen war.7 Gemeint waren damit private Unternehmen, deren Geschäftsgegenstand dem allgemein anerkannten Bereich der Daseinsvorsorge zuzuordnen ist, wie es bei Verkehrs- oder Versorgungsbetrieben der Fall sein kann.8 Diese Konstellation wird in der Literatur teilweise als „Enteignung zugunsten Privater im engeren Sinne“ bezeichnet.9 Wenn hingegen der Gemeinwohlzweck vom Enteignungsbegünstigten nur mittelbar erreicht wird, ist von einer „Enteignung zugunsten Privater im weiteren Sinne“ oder von einer „Enteignung unter Begünstigung Privater“ die Rede. Diese Fälle werden im Folgenden kurz als „Enteignung zugunsten Privater“ bezeichnet. In dem der Entscheidung zum EnWG zugrunde liegenden Sachverhalt ergab sich der Nutzen für das Gemeinwohl unmittelbar aus dem Unternehmensgegenstand des Privaten. Eine Enteignung zugunsten eines derartigen Unternehmens hielt das Gericht jedenfalls dann für zulässig, wenn dem privatrechtlich organisierten Unternehmen durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes die Erfüllung einer dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe zugewiesen ist und zudem sichergestellt ist, dass es zum Nutzen der Allgemeinheit geführt wird.10 Dabei betonte das Gericht die Bedeutung des Enteignungszwecks, der in einem besonderen öffentlichen Nutzen bestehen müsse.11 Auch Verfassungsrichter Böhmer hielt eine solche Enteignung in seinem vielbeachteten Sondervotum zur Bad Dürkheimer Gondelbahn-Entscheidung des BVerfG für unproblematisch.12 Böhmer ging allerdings davon aus, dass in den übrigen Fällen, in denen dem Privatunternehmen keine Staatsaufgabe auf gesetzlicher Grundlage zugewiesen sei, die Enteignung zugunsten Privater unzulässig sei.13 ___________ 6

So ausdrücklich BVerfGE 74, 264 (284); vgl. auch BVerfGE 66, 248 (257). BVerfGE 66, 248 (257). 8 BVerfGE 74, 264 (286). 9 Kimminich, in: Bonner Kommentar zum GG, Losebl. (Stand: 09/1992), Art. 14 Rn. 378 m. w. N. 10 BVerfGE 66, 248 (257). 11 Ebda. 12 Böhmer, Sondervotum, in: BVerfGE 56, 249 (287). 13 Böhmer a. a. O., S. 289 ff. 7

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Diese Ansicht lehnte das BVerfG in seiner Boxberg-Entscheidung ab.14 In Übereinstimmung mit seiner früheren Rechtsprechung15 stellte das Gericht klar, dass der Person des Begünstigten keine ausschlaggebende Bedeutung bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Enteignung zukommt. Das Gemeinwohlerfordernis bezieht sich nach der eindeutigen Formulierung des Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG allein auf den Zweck der Enteignung, wohingegen das Grundgesetz zur Person des Enteignungsbegünstigten keine näheren Vorgaben macht.16 Das Verfassungspostulat des Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG, demzufolge nur Gemeinwohlzwecke die Enteignung rechtfertigen, schließt private Begünstigungseffekte einer Enteignung nicht per se aus, sondern will allein sicherstellen, dass das öffentliche Interesse an der Enteignung losgelöst von dem privaten Interesse geprüft wird.17 Soweit daher die Enteignung zugunsten eines privaten Unternehmens einen von dessen Interessen zu trennenden Gemeinwohlzweck verfolgt, stehen selbst parallele Privatinteressen einer Enteignung nicht entgegen.

3. Anforderungen an eine Enteignung zugunsten Privater Sodann beschäftigte sich das BVerfG in seiner Boxberg-Entscheidung mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer Enteignung zugunsten Privater, deren Nutzen für das Gemeinwohl sich nicht aus dem Unternehmensgegenstand selbst, sondern nur als mittelbare Folge der Unternehmenstätigkeit ergibt. In diesen Fällen wirft die Enteignung zugunsten Privater besondere verfassungsrechtliche Probleme auf, weil in erhöhtem Maße die Gefahr des Missbrauchs zulasten des Eigentümers bestehe.18 Denn würde jedes Vorhaben, das als politisch oder wirtschaftlich zweckmäßig oder nützlich angesehen wird, mit dem Gemeinwohlerfordernis im Sinne des Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG identifiziert, so würde damit die Schutzfunktion der Vorschrift praktisch beseitigt.19 Deshalb hat das BVerfG in seiner Boxberg-Entscheidung besondere Anforderungen an eine Enteignung zugunsten Privater formuliert: „[Der Gesetzgeber] hat […] gesetzlich festzulegen, für welche Vorhaben unter welchen Voraussetzungen und für welche Zwecke eine Enteignung zulässig sein soll. […] Auch muss […] gewährleistet sein, dass der im Allgemeininteresse liegende

___________ 14

BVerfGE 74, 264 (284 f.). BVerfGE 66, 248 (257). 16 J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, 2006, § 113 VII 4 a Ȗ (S. 2278 f.). 17 v. Brünneck, Das Wohl der Allgemeinheit als Voraussetzung der Enteignung, NVwZ 1986, 425 (430). 18 BVerfGE 74, 264 (285). 19 Böhmer, Sondervotum, in: BVerfGE 56, 249 (279). 15

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Zweck der Maßnahme erreicht und dauerhaft gesichert wird; nur dann erfordert das allgemeine Wohl die Enteignung.“20

a) Gesetzliche Konkretisierung des Enteignungszwecks Das BVerfG verlangt eine so genaue gesetzliche Beschreibung des Enteignungszwecks, dass die Entscheidung über die Zulässigkeit der Enteignung insoweit nicht in die Hand der Verwaltung gegeben wird.21 Es bedarf einer ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers, die den konkreten Enteignungszweck in den Blick nimmt.22 Ein Gesetz deckt die Enteignung zu einem bestimmten Zweck nur dann, wenn dieser Enteignungszweck in den Normen des Gesetzes deutlich Ausdruck gefunden hat.23 Aus der gesetzlichen Normierung muss sich der Schluss ziehen lassen, dass der Gesetzgeber eine Enteignung zu dem konkreten Zweck zulassen wollte.24 In seiner Boxberg-Entscheidung untersuchte das Gericht im Detail, ob die angewendeten Vorschriften des BBauG den Enteignungszweck „Wirtschaftsund Strukturförderung“ enthalten.25 Es kam zu dem Ergebnis, dass dieser Enteignungszweck in den Normen des BBauG jedenfalls nicht hinreichend deutlich Ausdruck gefunden habe.26 Das BBauG enthalte keinen ausdrücklichen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber mit dem BBauG über rein städtebauliche Belange hinaus wirtschafts- und allgemeinstrukturpolitische Probleme in den Blick genommen habe.27 Demnach deckten die Vorschriften des BBauG eine Enteignung zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und zur Schaffung von Arbeitsplätzen nicht. b) Bestimmung des Vorhabens und der Voraussetzungen Weiterhin hat der Gesetzgeber klarzustellen, ob und für welche Vorhaben eine Enteignung statthaft sein soll.28 Es bedürfe darüber hinaus differenzierter materiell- und verfahrensrechtlicher Regelungen, die sicherstellten, dass von den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz ___________ 20

BVerfGE 74, 264 (285 f.). BVerfG a. a. O., S. 286. 22 Vgl. BVerfG a. a. O., S. 291. 23 Vgl. BVerfG a. a. O., S. 293. 24 Vgl. BVerfG a. a. O., S. 292. 25 BVerfG a. a. O., S. 287-293. 26 BVerfG a. a. O., S. 293. 27 BVerfG a. a. O., S. 291. 28 BVerfG a. a. O., S. 285. 21

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im Interessendreieck Gemeinwohl-Enteigneter-Begünstigter im Einzelfall Rechnung getragen und insbesondere die Erforderlichkeit der Enteignung sorgfältig geprüft werde.29 Der Gesetzgeber müsse diese enteignungsrechtliche Gesamtabwägung aller Gemeinwohlgesichtspunkte und widerstreitenden Interessen unter Prüfung auch der Erforderlichkeit des Vorhabens entweder selbst vornehmen oder einer fachlich qualifizierten Behörde in einem geeigneten Verfahren übertragen.30 In letzterem Fall müsse der Gesetzgeber der Behörde zur Umsetzung eines allgemein formulierten Gemeinwohlzwecks in ein konkretes Vorhaben, also für die Gemeinwohlaktualisierung, Regelungen an die Hand geben, die Anhaltspunkte für die Bewertung der einzelnen widerstreitenden Interessen böten. Auch diese Voraussetzungen sah das BVerfG im Fall Boxberg nicht als erfüllt an.31 Zwar sei die Enteignungsbehörde an den Bebauungsplan gebunden gewesen. Da sich die Bauleitplanung aber nicht an den Anforderungen ihrer zwangsweisen Verwirklichung orientiere, müssten die Enteignungsbehörden das Vorliegen der Enteignungsvoraussetzungen eigenständig und unabhängig davon prüfen. Die dem Enteignungszweck dienenden Festsetzungen des Bebauungsplans müssten also mit anderen, außerstädtebaulichen Belangen abgewogen werden; der Bebauungsplan selbst stehe gleichsam zur Disposition der Abwägung. Für diese Abwägung ließen sich dem BBauG weder inhaltliche Vorgaben entnehmen, noch biete es ein Instrumentarium für die Bewältigung einer solchen, seinen Rahmen sprengenden Aufgabe.

c) Sicherung des Enteignungszwecks Schließlich sei es unabdingbar, dass der Gemeinwohlbezug der werbenden Tätigkeit des Unternehmens kein bloßer tatsächlicher Reflex bleibt, sondern auf Dauer garantiert ist.32 Dazu sei eine gesetzlich vorgesehene effektive rechtliche Bindung des begünstigten Privaten an das Gemeinwohlziel notwendig. Das BVerfG stellte fest, dass das BBauG weder selbst Vorkehrungen zur dauerhaften Sicherung des angestrebten Enteignungszwecks treffe, noch entsprechende Grundlagen für solche Sicherungsmaßnahmen schaffe.33 Das Gesetz enthalte lediglich Vorschriften, die gewährleisten sollten, dass das Bauvorhaben auf dem enteigneten Grundstück in absehbarer Zeit verwirklicht würde.34 ___________ 29

BVerfG a. a. O., S. 286. BVerfG a. a. O., S. 293 f. 31 BVerfG a. a. O., S. 293-295. 32 BVerfG a. a. O., S. 286; vgl. BVerfGE 24, 367 (407); 38, 175 (180). 33 BVerfGE 74, 264 (295). 34 Ebda. 30

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Regelungen zur Sicherung von Enteignungszwecken, die über solche städtebaulichen Belange im engeren Sinne, also die bloße Realisierung des Vorhabens, hinausgingen, enthalte das BBauG nicht. Auch die flurbereinigungsrechtliche Planvereinbarung, die die betroffenen Gemeinden und das Land mit der Daimler-Benz AG trafen, vermöge die fehlenden gesetzlichen Regelungen zur Sicherung des Enteignungszwecks nicht zu ersetzen.35 Denn diese Vereinbarung hätte bereits im Zeitpunkt der enteignenden Maßnahme vorliegen müssen, weil es um eine Frage ihrer Zulässigkeit, nämlich um ihre notwendigen Voraussetzungen gehe. Abgesehen davon sei es unentbehrlich, dass die an eine solche Vereinbarung zu stellenden Mindestanforderungen vom Gesetzgeber vorgezeichnet seien. Das BBauG biete keine hinreichende Grundlage für die geschlossene Vereinbarung und gebe somit für die Sicherung des Enteignungszwecks nichts her. Auch einen Vertrauensvorschuss, den das BVerfG für denkbar erachtete, sah es in concreto nicht für gegeben an.36

4. Leitlinien zur verfassungskonformen Enteignung zugunsten Privater Analysiert man die Vorgaben des BVerfG im Hinblick auf mögliche Gestaltungsoptionen für den Gesetzgeber, ergibt sich ein differenziertes Bild: Hinsichtlich des gesetzlichen Regelungsgegenstands kommt danach auf der einen Seite ein allgemeines Enteignungsgesetz und auf der anderen Seite ein Gesetz in Betracht, welches auf ein Projekt beschränkt ist. Desweiteren hat sich das BVerfG in Bezug auf die dauerhafte Sicherung der Enteignungszwecke zu den Möglichkeiten einer zwecksichernden Vereinbarung und eines Vertrauensvorschusses für die Wirtschaftskraft des enteignungsbegünstigten Unternehmens geäußert.

a) Allgemeines Strukturverbesserungs- und Industrieansiedlungsgesetz Das BVerfG bezweifelt ausdrücklich, ob eine gesetzliche Regelung, die sich damit begnügte, eine Enteignung zugunsten eines so allgemein umschriebenen Zwecks wie der Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und der Schaffung von Arbeitsplätzen zuzulassen, dem verfassungsrechtlichen Gebot hinreichender Bestimmtheit entsprechen würde.37 Das Gericht lässt diese Frage offen und konzediert, dass es nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereiten möge, in einem Strukturverbesserungs- und Industrieansiedlungsgesetz abstrakt___________ 35

BVerfG a. a. O., S. 296. BVerfG a. a. O., S. 295 f. 37 BVerfG a. a. O., S. 287. 36

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generelle Regelungen zu schaffen, unter die sich ein konkretes Vorhaben subsumieren ließe und die zugleich den Anforderungen der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie genügten.38 Es scheint, als ob die Richter, ohne sich festlegen zu wollen, zur Durchsetzung eines Großprojekts den Weg über ein allgemeines Enteignungsgesetz nicht empfehlen wollten.

b) Projektbezogenes Gesetz Zur Lösung dieses Problems verweist das BVerfG auf die Möglichkeit eines auf ein Projekt beschränkten Gesetzes.39 Ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren vermöge durch seinen Gang mit Beratungen in den zuständigen Ausschüssen mit – regelmäßig öffentlichen – Anhörungen und der zu erwartenden Augenscheineinnahme eine unvoreingenommene Klärung der Frage zu gewährleisten, ob der Enteignungszweck dem Gemeinwohl nach Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG entspricht und eine Enteignung zu diesem Zweck erforderlich ist. Hier geht das Gericht offenbar davon aus, dass der Gesetzgeber in Bezug auf ein isoliertes Großprojekt nicht nur die erforderliche Konkretisierung des Enteignungszwecks, sondern auch das Verfahren der enteignungsrechtlichen Gesamtabwägung aller Gemeinwohlgesichtspunkte und widerstreitenden Interessen sowie die Prüfung der Erforderlichkeit des Vorhabens unmittelbar selbst durchführt. Dieses Vorgehen ist allerdings nicht zwingend. Es muss daran erinnert werden, dass das Gericht ausdrücklich auch die Möglichkeit vorgesehen hat, dass der Gesetzgeber dieses Verfahren einer fachlich qualifizierten Behörde überträgt.40 Mit der hier angesprochenen Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Gesetzgeber und Verwaltung hat sich das BVerfG erst später ausführlich beschäftigt, nämlich in seiner Entscheidung zur Südumfahrung Stendal.41 Darin unterscheidet das Gericht drei mögliche Vorgehensweisen der Enteignung: Die Legalenteignung, die Administrativenteignung (einschließlich Administrativplanung) und die Legalplanung.

aa) Verschiedene Enteignungsformen Die Legalenteignung ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gesetz selbst und unmittelbar – ohne weiteren Vollzugsakt – konkrete und individuelle Rechtspo___________ 38

BVerfG a. a. O., S. 297. Ebda. 40 Siehe oben II. 3. b) und BVerfG a. a. O., S. 293. 41 BVerfGE 95, 1 (21-26). 39

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sitionen entzieht, die einem bestimmbaren Kreis von Personen oder Personengruppen nach dem bis dahin geltenden Recht zustanden.42 Im Fall der Administrativenteignung (mit Administrativplanung) sieht das Gesetz selbst keine unmittelbare Enteignung der betroffenen Grundstückseigentümer vor, sondern weist die Enteignung einem besonderen Verwaltungsverfahren zu. Auch die konkrete Planung des Projekts bleibt der Verwaltung überlassen. Insofern nimmt das Gesetz allenfalls eine Bedarfsplanung vor.43 Zwischen das Enteignungsgesetz und die konkreten Enteignungsentscheidungen ist mithin noch eine behördliche Planungsentscheidung, im Regelfall ein Planfeststellungsbeschluss, zwischengeschaltet. Mit Inkrafttreten des Gesetzes steht also noch nicht fest, welche konkreten Grundstücke und in welchem Umfange diese für das Vorhaben in Anspruch genommen werden sollen. Im Enteignungsgesetz wird regelmäßig angeordnet sein, dass die behördliche Planungsentscheidung abschließend und für das weitere Verfahren verbindlich die Zulässigkeit der Enteignungen einzelner Grundstücke regelt. Dann hat die behördliche Planungsentscheidung enteignungsrechtliche Vorwirkungen.44 Auch wenn sie als solche (noch) nicht zum Eigentumsentzug bei den betroffenen Grundstückseigentümern führt, stellt sie doch die enteignungsrechtliche Planungsentscheidung dar und wirkt fort bis zu den konkreten Enteignungsentscheidungen. Mit ihrer Bestandskraft steht die Zulässigkeit einer für das Vorhaben erforderlichen Enteignung dem Grunde nach fest („Grundverwaltungsakt“). Den konkreten Enteignungsentscheidungen kann nicht mehr die Unzulässigkeit des Vorhabens entgegengehalten werden. Derartige Planungsentscheidungen, die dem Enteignungsverfahren im engeren Sinne vorangehen und mit Bindungswirkung für das Enteignungsverfahren über verfassungsrechtliche Anforderungen gemäß Art. 14 Abs. 3 GG befinden, sind an dieser Vorschrift zu messen.45 Bei einer Legalplanung sieht das Gesetz selbst – wie auch bei der Administrativenteignung – keine unmittelbare Enteignung der betroffenen Grundstückseigentümer vor, sondern weist die Enteignung einem besonderen Verwaltungsverfahren zu.46 Anders als bei der Administrativplanung wird die konkrete Planung des Projekts aber unmittelbar durch das Gesetz vorgenommen; eine Planungsentscheidung durch die Verwaltung findet nicht mehr statt. Der gesetzlich zugelassene Plan beschreibt das konkrete Projekt – anders als eine bloße Bedarfsplanung – in allen Einzelheiten. Mit Inkrafttreten des Gesetzes steht also fest, welche konkreten Grundstücke und in welchem Umfange diese für ___________ 42

BVerfG a. a. O., S. 21; vgl. BVerfGE 31, 275 (281); 45, 297 (325 f.). Vgl. BVerfGE 95, 1 (21). 44 BVerfGE 74, 264 (281 f.). 45 BVerfG a. a. O., S. 282; vgl. BVerfGE 45, 297 (319 f.); 56, 249 (264 f.). 46 BVerfGE 95, 1 (21 f.). J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, 2006, § 113 VII 2 b (S. 2265 f.). 43

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das Vorhaben in Anspruch genommen werden sollen.47 Dann erzeugt die gesetzliche Projektzulassung Bindungen für ein nachfolgendes Enteignungsverfahren. Das Gesetz lässt die Enteignung regelmäßig bereits dann zu, wenn sie zur Ausführung des gesetzlich festgestellten Plans notwendig ist, und bestimmt, dass mit der planerischen Zulassung des Vorhabens alle öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen dem Projektträger und den Betroffenen rechtsgestaltend geregelt werden. Der durch Gesetz zugelassene Plan ist folglich dem Enteignungsverfahren zugrundezulegen; er entfaltet insoweit enteignungsrechtliche Vorwirkungen, als er abschließend und für das weitere Verfahren verbindlich über die Zulässigkeit der Enteignungen einzelner Grundstücke entscheidet. Hinsichtlich dieser Wirkungen entspricht die Legalplanung der Legalenteignung. Als „Legalenteignung im Gewande einer Legalplanung“ ist das Gesetz folglich an Art. 14 Abs. 3 GG zu messen.48 Bei der Legalplanung wird dem Gesetzgeber die Gestaltungsbefugnis und mit ihr die Kompetenz eingeräumt, die erforderliche Abwägung der verschiedenen Belange selbst vorzunehmen.49 Das BVerfG kann nicht seine eigene Abwägung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen; es hat nur zu prüfen, ob sich diese in den verfassungsrechtlich vorgezeichneten Grenzen hält. Hierfür ist maßgebend, dass der Gesetzgeber sich davon hat leiten lassen, den für die Regelung erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln, anhand dieses Sachverhalts alle sachlich beteiligten Belange und Interessen der Entscheidung zugrunde zu legen sowie umfassend und in nachvollziehbarer Weise gegeneinander abzuwägen. Das Gebot, den für die beabsichtigte Planung erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln, umfasst insbesondere die Pflicht des Gesetzgebers, die individuell betroffenen Grundstückseigentümer und Gemeinden anzuhören.50 Auf der Grundlage eines in dieser Weise ermittelten Sachverhalts und der Gegenüberstellung der daraus folgenden verschiedenen – oft gegenläufigen – Belange ist der Gesetzgeber befugt, sich letztlich für den Vorrang eines Belangs (oder mehrerer Belange) und damit zugleich für die Zurückstellung aller anderen betroffenen Gesichtspunkte zu entscheiden. Soweit Ziele, Wertungen und Prognosen in Rede stehen, hat das Gericht seine Nachprüfungen darauf zu beschränken, ob diese Einschätzungen und Entscheidungen offensichtlich

___________ 47

BVerfGE a. a. O., S. 21; vgl. BVerfGE 45, 297 (327); 56, 249 (264). BVerfGE 95, 1 (22); vgl. BVerfGE 45, 297 (319 f.); 56, 249 (264 f.), 74, 264 (282); vgl. auch BVerwGE 98, 339 (346). 49 BVerfGE 95, 1 (22 f.). 50 BVerfG a. a. O., S. 23; vgl. BVerfGE 50, 195 (202 f.); 56, 298 (319 ff.); 76, 107 (122); 86, 90 (107 f.). 48

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fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder ob sie den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen.51

bb) Unterschiedliche Verfahrensanforderungen an den Gesetzgeber Die hier skizzierten verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen dem Gesetzgebungsverfahren, das das BVerfG in seiner Boxberg-Entscheidung im Zusammenhang mit einem projektbezogenen Gesetz erwähnt. Wie bereits ausgeführt, besteht neben der Legalenteignung und der Legalplanung auch die Möglichkeit, eine Enteignung zugunsten Privater im Wege einer Administrativplanung und -enteignung vorzunehmen. Die Ausführungen des BVerfG in der Boxberg-Entscheidung zum Verfahrensgang sind daher beispielhaft zu verstehen. Die konkreten Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren hängen maßgeblich davon ab, ob der Gesetzgeber den Weg einer Legalenteignung bzw. einer Legalplanung auf der einen oder einer Administrativplanung und -enteignung auf der anderen Seite wählt. Zu bedenken ist außerdem, dass der Gesetzgeber unabhängig von den ausgelösten Verfahrensanforderungen keine unbeschränkte Wahlfreiheit zwischen diesen drei Enteignungsformen besitzt. Eine Legalenteignung ist nur in eng begrenzten Fällen zulässig, weil sie den durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten effektiven Rechtsschutz schmälert.52 Dies gilt auch für die Legalplanung mit ihren enteignungsrechtlichen Vorwirkungen. Sie entzieht den von dem Vorhaben betroffenen Grundstückseigentümern den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen eine (behördliche) Planfeststellungsentscheidung. In welchen Fällen eine derartige Verkürzung des Rechtsschutzes verfassungsrechtlich zulässig ist, hat das BVerfG nicht abschließend entschieden. Eine Legalplanung hat vor der Verfassung jedenfalls dann Bestand, wenn eine mit ihr verbundene Enteignung nicht nur – wie jede Enteignung – im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG zum Gemeinwohl erforderlich ist, sondern auch triftige Gründe für die Annahme bestehen, dass die Durchführung einer behördlichen Planfeststellung mit erheblichen Nachteilen für das Gemeinwohl verbunden wäre, denen nur durch eine gesetzliche Regelung begegnet werden kann.

___________ 51

BVerfGE 95, 1 (23); vgl. BVerfGE 76, 107 (121 f.); 86, 90 (108 f.); vgl. ebenso BVerwGE 67, 74 (76 f.); 72, 15 (25 f.). 52 BVerfGE 95, 1 (22); vgl. BVerfGE 24, 367 (398 ff.); 45, 297 (331, 333); eingehend J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, 2006, § 113 VII 2 c (S. 2267 f.).

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cc) Schlussfolgerungen für die Administrativplanung und -enteignung Damit stellt sich die Administrativplanung und -enteignung jedenfalls als das mildeste Mittel dar. Da im Gegensatz zur Legalplanung das Gesetz selbst keine enteignungsrechtlichen Vorwirkungen entfaltet, sind die verfahrensmäßigen Anforderungen der Legalplanung nicht einschlägig. Vielmehr darf sich der Gesetzgeber bei der Administrativplanung und -enteignung darauf beschränken, die Enteignungszwecke zu konkretisieren und die planakzessorische Enteignung zugunsten der Enteignungszwecke zuzulassen, wenn der Entscheidung über eine konkrete Enteignung eine planerische und enteignungsrechtliche Abwägung durch die Verwaltung vorgeschaltet ist.53 Besondere Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren bestehen bei der Administrativplanung und -enteignung nicht. Der Gesetzgeber kann bei einem derartigen Vorgehen die konkret betroffenen Belange gar nicht selbst ermitteln und abwägen, da erst mit der Planungsentscheidung der Verwaltung feststeht, welche konkreten Grundstücke in Anspruch genommen werden. Eine Anhörung der individuell betroffenen Grundstückseigentümer und Gemeinden im Gesetzgebungsverfahren ist weder erforderlich noch möglich. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die in der StendalEntscheidung des BVerfG aufgestellten Verfahrensanforderungen an diejenige Stelle zu richten sind, die eine verbindliche Aussage über die Zulässigkeit der Enteignung konkreter Grundstücke trifft, von deren Hoheitsakt also enteignungsrechtliche (Vor-)Wirkungen ausgehen. Entscheidend ist also, auf welcher Ebene die abschließende enteignungsrechtliche Gesamtabwägung und die Prüfung der Erforderlichkeit des Vorhabens vorgenommen werden.

c) Zwecksichernde Vereinbarung Das BVerfG hat in seiner Boxberg-Entscheidung verlangt, dass der Gemeinwohlbezug der werbenden Tätigkeit des Unternehmens kein bloßer tatsächlicher Reflex bleibe, sondern auf Dauer garantiert sei.54 Dazu sei eine gesetzlich vorgesehene effektive rechtliche Bindung des begünstigten Privaten an das Gemeinwohlziel notwendig.55 Das BVerfG hat offen gelassen, wie die dauer___________ 53

Battis/Otto, Die Enteignung von Grundstücken zur Erweiterung industrieller Produktionsstätten am Beispiel des Werkflugplatz-Enteignungsgesetzes, DVBl. 2004, 1501 (1504 f.). 54 BVerfGE 74, 264 (286); vgl. BVerfGE 24, 367 (407); 38, 175 (180). 55 Kritisch hierzu Gerhardt, Gibt es verfassungsrechtliche Besonderheiten bei der „Enteignungen zugunsten Privater“?, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1663 (1667); Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, 1996, S. 173-177; Papier, Anmerkung, JZ 1987, 619 (620); ders., in: Maunz/Dürig, GG, Losebl.

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hafte Sicherung des Enteignungszwecks gesetzlich ausgestaltet werden könne.56 Lediglich mit einem möglichen Sicherungsmittel, namentlich der zwecksichernden Vereinbarung, hat es sich in seiner Boxberg-Entscheidung beschäftigt, weil eine derartige Vereinbarung im konkreten Fall vorlag. Damit eine zwecksichernde Vereinbarung den Enteignungszweck auf Dauer sichert, muss sie bereits im Zeitpunkt der enteignenden Maßnahme vorliegen.57 Denn die hinreichende Zwecksicherung ist notwendige Zulässigkeitsvoraussetzung für die Enteignung. Weiterhin ist es unentbehrlich, dass die an eine solche Vereinbarung zu stellenden Mindestanforderungen vom Gesetzgeber vorgezeichnet sind. Entscheidet sich der Gesetzgeber also für das Mittel einer zwecksichernden Vereinbarung, so muss er regeln, welche Verpflichtungen im Hinblick auf den Enteignungszweck eingegangen werden müssen, damit eine Enteignung gerechtfertigt ist.

d) Vertrauensvorschuss aa) Rechtsprechung von Bundesverwaltungs- und Bundesverfassungsgericht Das BVerwG war in seiner vom BVerfG aufgehobenen Entscheidung noch davon ausgegangen, dass hinsichtlich der dauerhaften Sicherung der Enteignungszwecke keine weiteren Anforderungen an das Enteignungsgesetz zu stellen seien, wenn der private Enteignungsbegünstigte als bedeutendes Unternehmen mit weitreichender Wirtschaftskraft die Gewähr dafür biete, dass die Gemeinwohlziele durch plankonforme Errichtung des Vorhabens und durch seinen dauerhaften Betrieb tatsächlich erreicht würden.58 Dann sei nur die Verwaltung von Verfassungs wegen verpflichtet, die auf Dauer angelegte Zweckrealisierung des Vorhabens durch entsprechende Vorkehrungen sicherzustellen. Dieser Auffassung hat sich das BVerfG in seiner Boxberg-Entscheidung nicht angeschlossen. Wie bereits dargestellt, verlangt das BVerfG, dass der Gesetzgeber selbst über die dauerhafte Sicherung des Enteignungszwecks entscheide. Hinsichtlich der Frage, ob Regelungen zur Sicherung von Enteignungszwecken entbehrlich sind, wenn die Wirtschaftskraft des enteignungsbe___________ (Stand: 06/2002), Art. 14 Rn. 586; Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, S. 68-70; Schmidt-Aßmann, Bemerkungen zum Boxberg-Urteil des BVerfG, NJW 1987, 1587 (1588); Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999, S. 119; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 269 f.; vgl. auch Bullinger, Die Enteignung zugunsten Privater, Staat 1 (1962), 449 (476 f.). 56 Ausführlich dazu Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, S. 188-278 m. w. N. 57 BVerfGE 74, 264 (296). 58 BVerwGE 71, 108 (129 f.).

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günstigten Unternehmens die Gewähr dafür bietet, dass die Gemeinwohlziele durch eine plankonforme Errichtung des Vorhabens und seinen dauerhaften Betrieb tatsächlich erreicht werden, hat das BVerfG folgende Antwort gegeben: „Ein solcher ‚Vertrauensvorschuss‘ für private Enteignungsbegünstigte – mag er im Einzelfall auch berechtigt sein – müsste einschließlich der dazu notwendigen Voraussetzungen zumindest gesetzlich vorgesehen sein.“59

bb) Zulässigkeit des Vertrauensvorschusses und seine Voraussetzungen Diese Formulierung lässt sich nur so verstehen, dass das BVerfG dem Gesetzgeber erlaubt, unter Gewährung eines derartigen Vertrauensvorschusses auf weitere Regelungen zur Sicherung von Enteignungszwecken zu verzichten. Dann stellt sich nur noch die Frage, welche Anforderungen bei der Regelung dieses Vertrauensvorschusses bzw. der dazu notwendigen Voraussetzungen an den Gesetzgeber zu stellen sind. Die Formulierung des BVerfG muss im Kontext des Sachverhalts der Boxberg-Entscheidung interpretiert werden. Das Gericht hatte über Enteignungen zu entscheiden, die auf der Grundlage des BBauG und des FlurbG angeordnet worden waren. Dabei handelt es sich um allgemeine Gesetze, die Ermächtigungsgrundlagen für eine Vielzahl von Einzelfällen enthalten und die im Einzelfall von der Verwaltung angewendet werden. Damit nun in einem Einzelfall auf weitere Maßnahmen zur Sicherung der Enteignungszwecke verzichtet werden kann, muss der Gesetzgeber in dem allgemeinen Gesetz die Voraussetzungen für diesen Einzelfall regeln. Dies würde etwa für die vom BVerfG in den Blick genommene Möglichkeit eines allgemeinen Strukturverbesserungs- und Industrieansiedlungsgesetzes gelten, welches abstrakt-generelle Regelungen enthält, unter die sich das Vorhaben im Einzelfall subsumieren lassen muss. Dahinter steht der Gedanke, dass der Gesetzgeber die Entscheidung über die Zulässigkeit der Enteignung nicht in die Hand der Verwaltung geben darf.60 Er muss also selbst Kriterien aufstellen, wann von einem Vertrauensvorschuss für den privaten Enteignungsbegünstigten auszugehen ist. Nach Sinn und Zweck müssten diese allgemeinen Kriterien Auskunft darüber geben, ob im Einzelfall die Wirtschaftskraft des betroffenen Unternehmens die Gewähr dafür bietet, dass die Gemeinwohlziele durch eine plankonforme Errichtung des Vorhabens und seinen dauerhaften Betrieb tatsächlich erreicht werden. Ganz anders ist hingegen der Fall zu beurteilen, dass der Gesetzgeber sich für die Möglichkeit eines auf ein Projekt beschränkten Gesetzes entscheidet, auf die das BVerfG ebenfalls ausdrücklich hingewiesen hat. Wenn in einem ___________ 59 60

BVerfGE 74, 264 (295 f.). Vgl. BVerfG a. a. O., S. 286.

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derartigen Einzelfall der Projektträger vor der gesetzlichen Regelung bereits feststeht, der Gesetzgeber also die Enteignung zugunsten eines bestimmten Unternehmens regelt, kann es nicht erforderlich sein, dass der Gesetzgeber allgemeine Kriterien für den Vertrauensvorschuss regelt, anhand derer die Verwaltung dann darüber entscheiden könnte. Wenn das enteignungsbegünstigte Unternehmen dem Gesetzgeber bekannt ist, muss er selbst die Entscheidung treffen, ob er im Einzelfall dem konkreten Unternehmen einen Vertrauensvorschuss gewähren will oder nicht. Diese Entscheidung kann der Gesetzgeber ausdrücklich oder konkludent treffen. Durch Auslegung des projektbezogenen Gesetzes kann ermittelt werden, ob der Gesetzgeber dem privaten Unternehmen einen Vertrauensvorschuss gewährt hat oder nicht. Dies wird regelmäßig dann der Fall sein, wenn der Gesetzgeber ein konkretes enteignungsbegünstigtes Unternehmen vor Augen hatte und in Ansehung seiner Wirtschaftskraft auf besondere Maßnahmen zur Sicherung der Enteignungszwecke verzichtet hat. Dabei wird man nicht verlangen können, dass das enteignungsbegünstigte Unternehmen im Gesetz oder in der Gesetzesbegründung namentlich genannt ist. Vielmehr dürfte es ausreichend sein, wenn sich über die allgemeinen Auslegungsregeln Klarheit dahin verschaffen lässt, dass der Gesetzgeber ein konkretes Unternehmen als Enteignungsbegünstigten im Blick hatte.

cc) Der Vertrauensvorschuss in der Diskussion Soweit ersichtlich, wurde die Möglichkeit eines Vertrauensvorschusses in der Literatur bisher nicht unter diesem Begriff diskutiert. Als Reaktion auf die Boxberg-Entscheidung des BVerfG hat sich Michael Gerhardt zu der Problematik der Sicherung des Enteignungszwecks im Rahmen von Enteignungen zur Industrieansiedlung im Interesse der Verbesserung der Wirtschaftsstruktur geäußert.61 Er betont, dass Industrieunternehmen regelmäßig deshalb angesiedelt würden, damit ihre Wirtschaftskraft der Region zugute komme. Die Wirtschaftskraft eines Privatunternehmens resultiere aus der Art und Weise, wie es sich im freien Wettbewerb behaupte. Das Privatunternehmen werde also durch die Enteignung begünstigt, damit es sich so privatnützig wie möglich und damit erfolgreich verhalte, wovon die Allgemeinheit mittelbar profitiere. Dann wäre es geradezu sinnwidrig, zur Sicherung des Enteignungszwecks inhaltliche Bindungen des Privatunternehmens zu fordern – die vorgängige Kontrolle seiner „Bonität“ müsse genügen. Den Begriff des „Vertrauens___________ 61 Gerhardt, Gibt es verfassungsrechtliche Besonderheiten bei der „Enteignungen zugunsten Privater“?, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1663 (1667).

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vorschusses“, wie ihn das BVerfG geprägt hat,62 verwendet Gerhardt allerdings nicht. In der Rechtsprechung wurde die Möglichkeit eines Vertrauensvorschusses bisher, soweit ersichtlich, nur vom OVG NRW aufgegriffen. In mehreren Beschlüssen zur geplanten Kohlenmonoxid-Pipeline der Bayer MaterialScience AG hält das OVG den Gesichtspunkt des Vertrauensvorschusses als Instrument der Gewährleistung der mittelbaren Verfolgung öffentlicher Interessen nicht ohne Weiteres für tragfähig.63 Dieser sei in der Rechtsprechung so bislang nicht anerkannt. Diese Aussage belegt das OVG überraschenderweise mit drei Fundstellen aus der Literatur, die allesamt nur allgemein die Problematik der dauerhaften Gemeinwohlsicherung erörtern, ohne den Gesichtspunkt des Vertrauensvorschusses überhaupt zu erwähnen.64 Das OVG untersucht sodann, ob in dem zugrunde liegenden Rohrleitungsgesetz65, welches auf das Projekt der Pipeline beschränkt ist, ein Vertrauensvorschuss zugunsten des enteignungsbegünstigten Unternehmens vorgesehen ist.66 Die in den Erwägungen zur Begründung des Rohrleitungsgesetzes verdeutlichte Ausrichtung auf „eine bzw. die Rohrleitungsanlage“ könne allenfalls zu der Annahme führen, dass der Gesetzgeber eben deshalb, weil er die vom BVerfG entwickelten Maßstäbe vor Augen hatte und ihnen genügen wollte, mangels anderer zur Sicherung des Enteignungszwecks ergriffener Vorkehrungen das Mittel des Vertrauensvorschusses anwenden wollte. Diese gesetzgeberische Entscheidung für einen Vertrauensvorschuss zugunsten des enteignungsbegünstigten Unternehmens will das OVG aber nicht anerkennen, da sich die Gewährung des Vertrauensvorschusses nicht auf den Wortlaut des Gesetzes stützen könne und auch in der Gesetzesbegründung keinen ausdrücklichen Anknüpfungspunkt finde. Das OVG befürchtet, dass vermeintliche Selbstverständlichkeiten als gesetzlich geregelt angesehen und diese Selbstverständlichkeiten sodann losgelöst vom auszulegenden Gesetz definiert werden könnten. Diese restriktive Sichtweise vermag nicht zu überzeugen. Denn in dem Fall eines projektbezogenen Gesetzes, von dem auch das OVG ausgeht, steht die ___________ 62

BVerfGE 74, 264 (295). OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07 u. 20 B 1667/07 (erhältlich in juris), Rn. 38. 64 OVG NRW a. a. O., Rn. 39 mit Verweis auf Berkemann in: Umbach/Clemens, GG, Bd. I, 2002, Art. 14 Rn. 643; J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, § 113 VII 4 a Ȗ (S. 2278 f.); Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Losebl. (Stand: 06/2002), Art. 14 Rn. 586. 65 Gesetz über die Errichtung und den Betrieb einer Rohrleitungsanlage zwischen Dormagen und Krefeld-Uerdingen v. 21.03.2006, GV.NRW 2006, S. 130. 66 OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07 u. 20 B 1667/07 (erhältlich in juris), Rn. 42. 63

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Entscheidung über die Zulässigkeit der Enteignung und über eventuelle Maßnahmen zur Sicherung der Enteignungszwecke allein in der Verantwortung des Gesetzgebers. Dies entspricht dem wichtigsten Grundsatz, den das BVerfG aus Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG für eine Enteignung zugunsten Privater ableitet, nämlich dass der Gesetzgeber selbst über die Enteignung entscheiden muss.67 Das BVerfG verlangt, dass der Gesetzgeber die Verantwortung für die Enteignung übernimmt: „Gerade hier [scil. bei einer Enteignung zugunsten Privater, d. V.] muss sich die Verantwortung bewähren, welche die Verfassung dem parlamentarisch-demokratischen Gesetzgeber für die Regelung der Eigentumsordnung auferlegt.“68

Im Fall eines projektbezogenen Gesetzes wird sich regelmäßig unmittelbar aus diesem Gesetz ergeben, dass der Gesetzgeber die Verantwortung für das darin geregelte Projekt übernimmt. Dann kann er dem enteignungsbegünstigten Projektträger im Hinblick auf dessen Wirtschaftskraft einen Vertrauensvorschuss gewähren, indem er auf andere Vorkehrungen zur Sicherung des Enteignungszwecks verzichtet. Wenn ein Enteignungsgesetz erkennbar auf ein konkretes Projekt beschränkt ist, sind für den Vertrauensvorschuss weitergehende Anforderungen an den Gesetzeswortlaut oder die Gesetzesbegründung nicht zu stellen. In einem solchen Fall ergibt sich der Vertrauensvorschuss somit schon aus dem Gesetzgebungsverfahren.

III. Fazit Die Möglichkeiten einer verfassungskonformen Enteignung zugunsten Privater unterscheiden sich wesentlich je nachdem, ob es um ein allgemeines Enteignungsgesetz oder um ein Gesetz geht, das auf ein Projekt beschränkt ist. Die Anforderungen an ein allgemeines Gesetz sind insbesondere hinsichtlich des Gebots hinreichender Bestimmtheit außerordentlich hoch. Zur Durchsetzung eines einzelnen Projekts erscheint der Weg über ein auf dieses Projekt beschränktes Gesetz einfacher. Hinsichtlich der vom BVerfG verlangten dauerhaften Sicherung der Enteignungszwecke betont das Gericht die Verantwortung des Gesetzgebers. Dieser Verantwortung kann der Gesetzgeber etwa dadurch nachkommen, dass er gesetzliche Mindestanforderungen an eine zwecksichernde Vereinbarung mit dem privaten Enteignungsbegünstigten vorzeichnet. Im Rahmen seines Verantwortungsbereichs steht es dem Gesetzgeber allerdings auch frei, weitere Sicherungsmaßnahmen entbehrlich zu stellen für den Fall, dass die Wirtschaftskraft ___________ 67 68

Vgl. BVerfGE 74, 264 (296 f.). BVerfG a. a. O., S. 285.

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des enteignungsbegünstigten Unternehmens die Gewähr dafür bietet, dass die Gemeinwohlziele dauerhaft erreicht werden. In einem allgemeinen Enteignungsgesetz muss er die dazu erforderlichen Voraussetzungen regeln, damit die Entscheidung über einen derartigen Vertrauensvorschuss nicht in die Hand der Verwaltung gegeben wird. Wenn der Gesetzgeber allerdings ein Enteignungsgesetz auf ein Projekt beschränkt und dabei ein konkretes enteignungsbegünstigtes Unternehmen vor Augen hat, kann er die Entscheidung über den Vertrauensvorschuss selbst treffen, indem er im Einzelfall auf weitere Sicherungsmittel verzichtet.

Schließung von Fakultäten: Organisationsakt unter Grundrechtsvorbehalt Von Wilfried Erbguth, Rostock

I. Einführung Die Organisation staatlicher Verwaltung unterfällt zunächst der eigenen Binnenkompetenz der Exekutive ohne apriorische rechtliche Grenzziehungen, wie dies der Jubiliar anlässlich seines Berichts für die Staatsrechtslehrertagung 1984 in allgemeiner Form beleuchtet hat.1 Doch stellen sich die Dinge anders dar, wenn verselbständigte Rechtspositionen berührt werden. Das Landesverfassungsgericht Mecklenburg Vorpommern hat dies am Beispiel des kommunalen Selbstverwaltungsrechts knapp und klar wie folgt charakterisiert: „Im Rahmen der staatlichen Verwaltung kann der Gesetzgeber Aufgaben grundsätzlich frei nach Zweckmäßigkeit zuordnen. Sind dagegen die Kommunen berührt, ist Rücksichtnahme auf die in Art. 72 LV gewährleistete kommunale Selbstverwaltung geboten.“2 Umso mehr muss Letzteres im Fall betroffener Grundrechtspositionen gelten – sollte man meinen. Doch tun sich Rechtsprechung und Literatur damit immer noch schwer; fast will es so scheinen, als hätte sich mit dem Stichwort Organisationsgewalt ein Stück der überholten besonderen Gewaltverhältnisse3 in das Diesseits herüber gerettet. Der Beitrag geht den hiermit verbundenen Fragestellungen am Beispiel der Aufhebung bzw. Schließung von Studiengängen resp. Fakultäten (Fachbereichen) an Universitäten nach,4 wie dies in Zeiten knapper Staatsfinanzen zu___________ 1

Neben Maurer, vgl. VVDStRL 43 (1985), S. 172, 192 ff. LVerfG M-V, DVBl. 2007, 1102; zur Entscheidung etwa März, NJ 2007, 433; Hubert Meyer, NVwZ 2007, 1025; Hans Meyer, NVwZ 2008, 24; Erbguth, DÖV 2008, 152. 3 BVerfGE 33,1; dazu etwa Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Grundzügen des Verwaltungsprozessrechts, 2. Aufl. 2007, § 10 Rn. 5. 4 Dazu Hufeld, DÖV 1997, 1025; Karpen, WissR 1986, 47; allgemein zur jüngeren Entwicklung der Rechtsprechung im Hochschulrecht Karpen/Hillermann, JZ 2007, 978; zu rechtlichen Grenzziehungen fachlicher Veränderung der dienstlichen Aufgaben von Professoren allgemein Waldeyer, NVwZ 2008, 266 m. w. N. 2

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Wilfried Erbguth

nehmend um sich greift; an gesetzlichen Grundlagen wird dabei auf das Hochschulrecht des Landes Mecklenburg-Vorpommern Bezug genommen. Thematisch einschlägige Rechtsprechung und Literatur finden sich nicht eben spärlich gesät, doch sind die zugrunde liegenden Konstellationen durchaus unterschiedlich geartet; vielfach geht und ging es um Vorgänge an Fachhochschulen5 oder um nicht wissenschaftliches Personal6, so dass Art. 5 Abs. 3 GG anders als im hiesigen Kontext kein Gegenstand der rechtlichen Beurteilung sein konnte.7 Ohnehin nimmt die nachfolgende Erörterung ihren Ausgangspunkt nicht auf der Abstraktionshöhe theoretisch-verfassungsrechtlicher Betrachtungen,8 sondern bei den denkbaren Fallgestaltungen besagten Vorgehens und spürt aus diesem Blickwinkel den rechtlichen Problemlagen mitsamt ihren (etwaigen) judikativen bzw. literarischen Einschätzungen nach. Schließungen und Aufhebungen solcher Art können universitätsintern erfolgen, nämlich durch die Leitung der jeweiligen Hochschule,9 aber auch – und das wird der Regelfall sein – gleichsam extern durch die Landesregierung oder den zuständigen Minister im Zusammenwirken mit der Universität.10 Sie lassen sich durch einseitigen Akt vornehmen, aber auch im Vereinbarungswege; Ersteres ist regelmäßig beim Vorgehen der Hochschulleitung der Fall,11 Zielvereinbarungen o. ä. stellen hingegen das Instrument entsprechenden Handelns im Rahmen der Hochschulplanung zwischen Land und Universität dar.12 Letzteres kann freilich (bei Nichtgelingen) umschlagen in einseitig-hoheitliches Prozedere (Zielvorgabe),13 was möglicherweise wiederum in einvernehmlichen Absprachen mündet (etwa Vergleich im Gefolge von Mediationsverhandlungen). Ferner muss die Aufhebung, also Schließung von Studiengängen nicht gleich___________ 5 Etwa BVerfG, NVwZ 1987, 675; auch BVerfG, NVwZ 1984, 711; OVG Greifswald, ZBR 2007, 313. 6 Vgl. etwa BVerfG, NJW 1991, 1667, 1668 ff. anhand Art. 12 GG; BVerfG, NJW 1992, 1373, 1376 geht zwar in aller Kürze auch auf Art. 5 Abs. 3 GG ein, begründet aber seine die Organisationshoheit des Staates als gegenüber dem Grundrecht vorrangig einschätzende Sicht unter bloßem Hinweis auf (Vor-)Entscheidungen, die, wie das Gericht selbst eingesteht, sämtlichst zu Art. 12 und Art. 33 GG ergangen waren. 7 Vgl. ferner BVerfG, NJW 1981, 1995, wo es um Leitungsbefugnisse im Rahmen wissenschaftlicher Einrichtungen ging; BVerfG, NJW 1981, 163 zur (hochschulinternen) Wählbarkeit in Selbstverwaltungsorgane; BVerfG, NVwZ-RR 2004, 751 zum beamtenrechtlichen Status des einem Professor zugewiesenen Amtes; zum beamtenrechtlichen Anspruch auf amtsangemessene Beschäftigung BVerwG, NVwZ 2006, 1291. 8 Anschaulich insoweit BVerfG, NVwZ 2005, 315, 316 f. 9 Vgl. § 28 Abs. 4 LHG M-V. 10 § 15 LHG M-V. 11 § 28 Abs. 4 LHG M-V. 12 § 15 Abs. 3 LHG M-V; eingehend zu Vereinbarungen zwischen Universität und Staat Uerpmann, JZ 1999, 644; auch Trute, WissR 33 (2000), 134. 13 § 15 Abs. 4 LHG M-V.

Schließung von Fakultäten

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bedeutend mit einer Schließung der betroffenen Fakultät sein, kann es aber. Das hängt von der Bedeutung des erfassten Studiengangs für das Ausbildungsangebot der Fakultät ab: Werden mehrere Studiengänge angeboten, tangiert die Aufhebung eines von ihnen regelmäßig nicht die Existenz der Fakultät. Anders sieht es aus, wenn es sich um den im Wesentlichen einzigen Ausbildungsgang der betroffenen Fakultät handelt. Dann zieht die Schließung des Studiengangs zugleich diejenige der Fakultät nach sich. Das ist etwa bei den Juristischen Fakultäten in ihrer herkömmlichen Ausrichtung (und zugleich Begrenzung) auf das Studium der Rechtswissenschaft mit Abschluss erstes Staatsexamen der Fall; daran ändern als Marginalien auch flankierende Studienangebote für Hörer anderer Disziplinen oder ein aus rudimentären Inhalten des bisherigen „Haupt“-Studienangebots zusammengeklaubter Bachelor14 nichts. Mit dieser Konstellation beschäftigt sich der Beitrag, um unnötige Verkomplizierungen zu vermeiden und, weil sie besonderes Interesse aus juristischer Sicht, genauer: aus der Sicht von Juristen, weckt, also mit der Schließung von Juristischen Fakultäten. Allgemein-verwaltungsrechtliche, verfassungsrechtliche und verwaltungsprozessuale Fragestellungen mischen sich, wenn man sich den einschlägigen Hauptproblemkreisen nähert, nämlich der Rechtsnatur derartiger Maßnahmen, den Anforderungen an ihre Rechtmäßigkeit und den mit beidem zusammenhängenden Rechtsschutzfragen.

II. Hauptteil Dergestalt geht es zunächst um die Einordnung solcher Schließungen im Verhältnis Innen- und Außenrecht, wobei es sich im Ausgangspunkt um eine einseitig hoheitliche oder eine Regelung im Wege der Vereinbarung handeln kann (dazu unter 1.). Der nachfolgende, die Rechtmäßigkeit betreffende Fragenkreis richtet sich auf die formell, vornehmlich aber materiell maßgeblichen Kriterien und deren Handhabung bei solchen Entscheidungen (dazu unter 2.). Schließlich sollen Fragen des einstweiligen Rechtsschutzes gestreift werden (dazu unter 3.).

1. Rechtsnatur von Schließungsentscheidungen Wie eingangs bedeutet, kann die Schließung durch die Universitätsleitung oder (im Falle besagter Zielvorgabe) durch die Landesregierung einseitig verfügt werden (dazu a)); die Regelung lässt sich aber auch einvernehmlich treffen ___________ 14

Vgl. noch II. 1. a) cc).

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(dazu b)). Je nachdem ordnet sich die Maßnahme ihrer Rechtsnatur nach anders ein, was wiederum unterschiedliche Rechtsschutzmöglichkeiten nach sich zieht.

a) Schließung als einseitig hoheitliche Maßnahme Ein einseitiges Vorgehen der bezeichneten Art richtet sich auf die Organisation der betreffenden Hochschule, ist Ausdruck der Organisationsgewalt15 des die Entscheidung treffenden Verwaltungsträgers (Hochschulleitung, Minister/Regierung des Landes) – und wirkt damit dem Grunde nach lediglich verwaltungsintern.16 Verbleibt es dabei, scheidet zugleich gerichtlicher Rechtsschutz aus.17 Anders sieht es schon nach allgemeinem Verständnis zu derartigen Organisationsmaßnahmen aus, wenn hierdurch verselbständigte Rechtspositionen betroffen werden, insbesondere in (Grund-)Rechte eingegriffen wird.18 Dann hat die Maßnahme Außenwirkung, kann potentiell verwaltungsgerichtlich angegriffen werden, und zwar unter weiteren Voraussetzungen im Wege der Anfechtungsklage, flankiert durch Möglichkeiten einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80 VwGO. Von entscheidender Bedeutung wird daher einmal mehr die Frage einer Rechtsbetroffenheit im Gefolge solcher Entscheidungen. Dabei geht es nahe liegender Weise um Art. 5 Abs. 3 GG in seiner Verbürgung der traditionellen Verknüpfung von Lehre und Forschung an der deutschen Universität,19 ggf. auch in landesverfassungsrechtlicher20 und/oder einfachgesetzlichen Ausprägung.21 Insoweit ist an möglichen Betroffenen wiederum zu unterscheiden zwischen der Universität als Adressatin einer Schließung durch das Land, der Fakultät als Adressatin der entsprechenden Entscheidung durch die Universitätsleitung und den einzelnen Hochschullehrern bzw. (im Falle einer Schließung seitens des Landes) der Fakultät als Nichtadressat(en). ___________ 15

Dazu allgemein Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 21 Rdn.

57 ff. 16

Etwa Maurer (Fn. 15), § 21 Rdn. 68 Vgl. wie vor. 18 Deutlich BVerfG, NVwZ 2005, 315, 315: durch wissenschaftsinadäquate Organisation bewirkte Grundrechtsgefährdung. 19 Vgl. zu dieser Verbürgung v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 5 Rdn. 375 m. w. N.; natürlich schützt Art. 5 Abs. 3 GG auch Wissenschaftlichkeit außerhalb der Universität und zudem außerhalb anderer Institutionen, vgl. wie vor. 20 Etwa (partiell) Art. 7 Abs. 3 S. 3 LVerf M-V. 21 Etwa § 5 Abs. 1-3, 5 LHG M-V; zur notwendigen gesetzgeberischen (Aus-) Prägung der Wissenschaftsfreiheit Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 5 Rdn. 202. 17

Schließung von Fakultäten

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aa) Universität und Fakultät als Grundrechtsträger Unstreitig Außenwirkung hat eine im vorstehenden Sinne unmittelbar gegen die Universität oder die Fakultät gerichtete Schließungsverfügung. Das beruht auf dem auch institutionell durch Art. 5 Abs. 3 GG verbürgten Grundrechtsschutz, der nicht nur die Hochschule als solche, sondern nach jüngerer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Fakultät(en) bzw. Fachbereiche als inneruniversitäre Untergliederungen erfasst.22 Deren Adressatenstellung zieht zudem die Möglichkeit einer Rechtsverletzung als (weitere) Voraussetzung der Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO, nach sich.23 Soweit sich Fakultäten gegen eine der Universität gegenüber ausgesprochene Schließung wehren, kann nichts Abweichendes angenommen werden, handelt es sich doch um keine bipolare Konstellation des Drittschutzes,24 sondern eine neben diejenige der Universität tretende, sich gleichermaßen in Art. 5 Abs. 3 GG gründende Betroffenheit. Die Möglichkeit der Rechtsverletzung scheitert überdies nicht an einer in zeitlicher Perspektive nur mittelbaren Betroffenheit. Hat das Land nämlich die Schließung gegenüber der Universität selbst verfügt, entfaltet sie zugleich Rechtswirkungen gegenüber der Fakultät, zumal sie nunmehr Umsetzungsmaßnahmen zu gewärtigen hat. Ist es so, dass die Universität vom Land lediglich angewiesen worden ist, die Fakultät zu schließen, fehlt es mangels Entscheidungsspielraums der Hochschulleitung ebenso wenig an der Möglichkeit der Rechtsverletzung. Da aus selbigem Grund ein weiteres Hinwarten (auf den formalen Ausspruch der Schließung) unzumutbar erscheint, ist vorbeugender Rechtsschutz eröffnet.25

bb) Hochschullehrer als Grundrechtsträger (1) Allgemeine Einordnung Demgegenüber fällt auf, dass der einzelne Hochschullehrer eher nicht als Betroffener einer Schließungsverfügung gehandelt wird. Doch ist seine fehlende Adressateneigenschaft ein gänzlich ungeeignetes Kriterium, ihm gegenüber ___________ 22 BVerfGE 15, 256, 262; BVerwGE 45, 39, 42; zu Fachbereichen ausdrücklich BVerfG, NVwZ 2005, 315, 315; ferner BVerfG, NVwZ-RR 2003, 705, 706; dazu Bethge (Fn. 21), Art. 5 Rdn. 210 f. 23 Vgl. allgemein nur Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 6. Aufl. 2005, § 14 Rdn. 144. 24 Zu der prüfungsbedürftigen Erheblichkeitsschwelle Hufen (Fn. 23) § 14 Rdn. 145. 25 Vgl. allgemein Erbguth (Fn. 3) § 20 Rdn. 13; ansonsten muss (bereits) die Anfechtungsklage gegen die Anweisung als eröffnet angesehen werden, die gegenüber der Universität wegen deren (Grundrechts-)Position aus Art. 5 Abs. 3 GG (vgl. vorstehend im Text) Verwaltungsaktsqualität hat.

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einen Eingriff in die Grundrechtsposition aus Art. 5 Abs. 3 GG auszuschließen. Zum einen gibt es keine relativen Verwaltungsakte, also solche nur gegenüber ihren Adressaten unter Ausschluss von Dritten.26 Zum anderen gilt sich darauf zurück zu besinnen, dass Art. 5 Abs. 3 GG wie nahezu sämtliche Freiheitsrechte ein Individualgrundrecht ist, also den Einzelnen schützt,27 mithin ein institutioneller oder sonst wie auf Organisationen bezogener Schutzgehalt begründungsbedürftig wird, dies aber nicht umgekehrt in Stellung gebracht werden darf. Indem eine vom Land der Universitätsleitung gegenüber ausgesprochene Schließungsverfügung oder eine solche der Universitätsleitung gegenüber der Fakultät28 Außenwirkung hat, weil (deren) Grundrechtspositionen betroffen sind,29 und die sonstigen Merkmale des § 35 S. 1 VwVfG vorliegen, haben wir es mit einem Verwaltungsakt zu tun, anders gewendet: einem Organisationsakt mit Außenwirkung. Demzufolge handelt es sich bei der Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO um die statthafte Klageart – auch zugunsten des einzelnen Hochschullehrers. Dass er nicht Adressat der Schließung ist, schließt ihn also nicht von der zulässigen Klageart aus, sondern vermag allein die Frage nach sich zu ziehen, ob ihm die gem. § 42 Abs. 2 VwGO weiterhin erforderliche Klagebefugnis zusteht. Das ist abhängig von der jeweiligen Fallgestaltung.

(2) Fallgestaltungen Zunächst können die Dinge so liegen, dass die juristische Ausbildung an dem einen universitären Standort im Lande zwar aufgehoben wird, die damit frei werdenden Hochschullehrer aber an eine andere Juristische Fakultät im Lande versetzt werden, um dort in Forschung und Lehre tätig zu werden. In diesen Fällen scheidet wohl bereits ein Eingriff in das Recht der Wissenschaftsfreiheit, jedenfalls aber seine Verletzung ersichtlich aus,30 so dass es auch an ___________ 26

Dazu etwa Erbguth (Fn. 3), § 12 Rdn. 29. Vgl. nur Bethge (Fn. 21), Art. 5 Rdn. 207. 28 Zur Janusköpfigkeit von Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsbindung in diesen und ähnlichen Fällen v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 5 Rdn. 409. 29 Vorstehend a.; insoweit ist zugleich der (allzu) scharfen, nämlich auf kooperationsrechtlich wirksame Maßnahmen beschränkten Sicht des VGH Mannheim Rechnung getragen, VBlBW 1999, 378, 379; zu Recht großzügiger OVG Lüneburg, DVBl. 2000, 713. 30 BVerfGE 51, 369, 379; auch BVerfGE 43, 242: kein Recht auf organisatorische Rahmenbedingungen der Wissenschaftsfreiheit; dem folgend VGH Kassel, DVBl. 2008, 67, 68 (Ls.). 27

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der für die Annahme einer Klagebefugnis ausreichenden Möglichkeit der Rechtsverletzung fehlt. Anders sieht es indes aus, wenn eine quasi ersatzlose Schließung vorgenommen wird, also ohne Transfer der Hochschullehrer an die Juristische Fakultät einer anderen Universität im Land. In diesen Fällen lässt sich zunächst fragen, ob die hiermit einhergehende Reduktion der Tätigkeit von „Jura-Professoren“ auf Servicefunktionen in anderen Fachdisziplinen resp. Fakultäten (Wirtschaftswissenschaften, Agrar- und Umweltwissenschaften, Lehrerausbildung) diese in besagtem Grundrecht verletzen kann. Die nahe liegende Heranziehung der Negativformel des Bundesverwaltungsgerichts, derzufolge die Klagebefugnis nur dann nicht gegeben ist, wenn „offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger behaupteten Rechte bestehen oder ihm zustehen können“,31 um damit die Sachentscheidungsvoraussetzung auch vorliegend als gegeben anzusehen, trifft allerdings ebenso wenig den Kern des Problems wie die geläufige Unterscheidung zwischen dem Adressaten der Maßnahme und dem hiervon Drittbetroffenen.32 Denn dass eine dergestalt „ersatzloses“ Vorgehen die Tätigkeit an einer Stätte herkömmlicher rechtswissenschaftlicher Ausbildung und Forschung beendet, steht außer Frage, sodass sich die Möglichkeit, ja die Gewissheit der Einwirkung in der Sache als unzweifelhaft darstellt und allenfalls nach Maßgabe des zeitlichen Horizonts der Schließung im „Jetzt und Hier“ diskutiert werden kann.33

(3) Recht auf Ausbildung von Juristen? Die eigentliche Frage richtet sich mithin nicht auf die Einwirkung resp. die „Verletzung“, sondern auf das „Recht“, fokussiert sich nämlich darauf, ob die Absicherung der Freiheit von Lehre und Forschung durch Art. 5 Abs. 3 GG, also durch dessen Schutzbereich, für Jura-Professoren das entsprechende Tätigsein an einer Rechtswissenschaftlichen Fakultät im Sinne einer Ausbildungsund Forschungseinrichtung für Juristen erfasst. Dem kann nicht von vornherein entgegen gehalten werden, dass es durchaus solche Hochschullehrer an andersdisziplinär ausgerichteten universitären Einrichtungen gibt. Zum einen handelt es sich dabei nicht immer um die hier allein interessierenden rechtswissenschaftlich Habilitierten. Ohnehin kommt – zum anderen – dem Umstand, dass juristische Privatdozenten, aus welchen Gründen auch immer, einer durch Habilitation prinzipiell eröffneten Anstellung an einer ___________ 31

BVerwG, DVBl. 1964, 191. Dazu nur Hufen (Fn. 23), § 14 Rdn. 144 f. 33 Dazu nach Fn. 49. 32

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Fakultät ihrer Disziplin nicht nachgegangen sind, für die Reichweite des Abwehrrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG keine Aussagekraft zu. Denn die anderweitige Orientierung ist freiwillig erfolgt. Grundrechtspositionen kann man, muss man aber nicht verfolgen. Grenzziehend wirken allein die Grundsätze unzulässigen Grundrechtsverzichts, die hier nicht einschlägig sind.34 In Anbetracht dessen lässt sich aus der fremddisziplinären Tätigkeit habilitierter Juristen nichts dafür ableiten, ob rechtswissenschaftliche Ausbildung und in diesem Kontext betriebene Forschung an einer Juristischen Fakultät vom Grundrecht der an einer solchen Einrichtung tätigen Professoren aus Art. 5 Abs. 3 GG erfasst werden oder nicht. Ebenso wenig kann aufgrund der ansonsten zu Recht konstatierten Gemengelage hochschul- und beamtenrechtlicher Elemente im Amt von Hochschullehrern35 ein Zurückstehen des hochschulrechtlichen, sich auf Art. 5 Abs. 3 GG gründenden Status gegenüber dienstrechtlichen Pflichtenstellungen erwogen werden. Denn bei der hier diskutierten Schließung von Fakultäten handelt es sich um eine auf die Hochschule bezogene Strukturentscheidung,36 der keinerlei beamtenrechtlicher Gehalt eignet. Schon deshalb kann es nur um die hochschulrechtliche Seite und hier diejenige der Wissenschaftsfreiheit gehen. Ohnehin wird selbst in der Konkurrenz beider Elemente des Amtes eines Universitätsprofessors im Zweifel demjenigen hochschulrechtlicher Art und damit der lediglich korporationsrechtlich rückbezogenen Freiheit von Forschung und Lehre der Vorrang eingeräumt.37 Entscheidende Bedeutung gewinnt damit diese Seite des Amtes eines Hochschullehrers und insoweit die Habilitation als regelhafte Einstellungsvoraussetzung, deren Relevanz auch die zwischenzeitlich irrlichternde Juniorprofessur rechtlich38 wie faktisch39 nicht in Frage gestellt hat. Hiermit wird zugleich die Lehrbefugnis, die Venia verliehen;40 diese bezieht und fokussiert sich auf ein bestimmtes Teilgebiet des jeweiligen Wissenschaftszweigs, hier des Rechts, ___________ 34

Dazu allgemein nur Sachs, in: Sachs (Fn. 21), vor Art. 1 Rdn. 52 ff. Vgl. nur VGH Kassel, NVwZ 1986, 857, 857 f. m. w. N. 36 Bereits vor Fn. 16. 37 Vgl. VGH Kassel, NVwZ 1986, 857, 857 f.; Vorrang jedenfalls des Kernbereichs der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG, vgl. VGH Mannheim, ZBR 2000, 358; für Fachhochschullehrer insoweit unentschieden OVG Greifswald, ZBR 2007, 313, 314; allgemein dazu Waldeyer, NVwZ 2008, 266, 268 f. m. w. N. 38 Zur insoweit fehlenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes BVerfGE 111, 226. 39 An den Fakultäten Deutschlands sind Juniorprofessuren nur in geringer Zahl eingeführt worden, an den Juristischen Fakultäten tendiert dies gegen Null; anachronistisch daher der vorauseilende Gehorsam, wie ihn § 58 Abs. 2 (insbesondere S. 1, 3) LHG MV dokumentiert. 40 Zum Vorstehenden v. Mangoldt//Klein/Starck (Fn. 19), Art. 5 Rdn. 359. 35

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hinsichtlich dessen der/die Privatdozent/in besondere (rechts)wissenschaftliche Kenntnisse durch die Habilitationsschrift und (ggf.) aufgrund früherer wesentlicher Veröffentlichungen nachgewiesen hat. Nur die hiermit einhergehende, dadurch ermöglichte, aber auch nachgewiesene Vertiefung rechtfertigt eine entsprechende Lehrbefugnis: Die gegenständliche Begrenzung der Venia ist das Spiegelbild der wissenschaftlichen Vertiefung zu ihrer Erlangung. Es geht also nicht um eine – wissenschaftlich nicht vorstellbare und schon gar nicht akzeptable – „Allerwelts“-Lehrbefugnis; vielmehr richtet sie sich in jener Konzentration auf einen spezifischen Wissenschaftsbereich und dort wiederum auf Lehre und Forschung in einem Sektor desselben. In diesem Sinne wird dem/r Professor/in bei der Berufung an die Fakultät einer Universität „sein“/„ ihr“ Fach verliehen, also ein Aufgabenkreis in Lehre und Forschung, welcher der durch die Venia verdeutlichten besonderen disziplinären Befähigung entspricht.41 Für rechtswissenschaftliche Habilitationen bedeutet dies zunächst, dass die Venia die Befähigung zur selbständigen Lehre und damit zur vertieften juristischen Ausbildung und Forschung in einem Teilgebiet der Rechtswissenschaft verleiht, wie sie nur an Juristischen Fakultäten eröffnet sind. Solcherart werden an diesen Einrichtungen eben keine in anderen Disziplinen habilitierte Privatdozenten auf die für die Ausbildung zum Juristen zentralen Lehrstühle berufen, intradisziplinär aber bspw. auch keine im Strafrecht habilitierten Kandidaten auf Lehrstühle des öffentlichen Rechts und selbst teildisziplinär etwa keine Privatdozenten mit der Venia für Völker- und Europarecht auf Lehrstühle mit der Ausrichtung Verwaltungsrecht. Jene unmittelbare sachliche Verknüpfung und Wechselbezüglichkeit von Habilitation, Venia und „eigenem“ Fach erweist nun aber nicht nur, dass Forschung und Lehre42 hierdurch nähere Bestimmung und konkreten Anspruch erfahren, sondern dass dies auch den individuellen Freiraum, eben die von der Wissenschaftsfreiheit gerade eröffnete und damit geschützte Entscheidung für ein bestimmtes fachliches Teilgebiet bedeutet:43 Weil die Habilitation auf einen spezifischen Bereich der Wissenschaftsdisziplin gerichtet ist und die Venia hieran anknüpft, wird dem Professor nicht irgendein ___________ 41 Verdeutlichend und betonend VGH Kassel, NVwZ 1986, 857, 858; in an die Gegebenheiten von Fachhochschullehrern angepasster, aber im Ansatz ähnlicher Richtung OVG Greifswald, ZBR 2007, 313, 314: maßgeblich ist grundsätzlich die in der Ruferteilung enthaltene Funktionsbeschreibung; einfachgesetzlich etwa § 57 Abs. 6 S. 1 LHG M-V: „Funktionsbeschreibung der jeweiligen Stelle“; im Berufungsverfahren § 59 Abs. 2 S. 1: „Aufgabenbeschreibung der Stelle“. 42 Zu deren durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützten Verbindung v. Mangoldt/ Klein/Starck (Fn. 19), Art. 5 Rdn. 358. 43 Deutlich in diesem Sinn vom Ausgangspunkt her OVG Lüneburg, NordÖR 2004, 405, 407 m. w. N.: wegen Art. 5 Abs. 3 GG Änderungen der Dienstaufgaben eines Professors nur innerhalb des Fachs und prinzipiell keine Veränderungen des übertragenen Forschungs- und Lehrgebiets; zur sensiblen Funktion dieses Status auch OVG Münster, NWVBl. 2004, 53, 54.

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oder gar wechselndes Gebiet in Lehre und Forschung zugewiesen, sondern „sein“ Fach, das dem entspricht oder zumindest zu dem passt, was er an besagter Voraussetzung für den Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG zuvor erworben hat.44 Damit steht in Einklang, wenn die Rechtsprechung hierin das Recht des Professors an seinem „konkret-funktionellen Amt“ sieht.45 Vor diesem Hintergrund schützt Art. 5 Abs. 3 GG im fraglichen Kontext nicht irgendeine Forschung und/oder beliebige Lehre, sondern die durch vorherige Entscheidung und Qualifikation spezifisch erworbene sowie in dem entsprechend zugewiesenen Amt auch betätigte.46 Für die hier betrachteten Professoren an rechtswissenschaftlichen Fakultäten folgt aus alldem, dass Art. 5 Abs. 3 GG das Recht verleiht, in „ihrem Fach“ an der Ausbildung von Juristen mitwirken zu können und hierauf gerichtet und daraus gespeist entsprechend spezifisch rechtswissenschaftliche Forschung betreiben zu können. Das aber schließt eine ersatzlose (Fakultäts-)Schließung aus. Eine in deren Folge an die Stelle rechtswissenschaftlicher Betätigung tretende bloße juristische Unterstützung für andere Disziplinen (Stichwort: Einführung in das Recht für Wirtschaftswissenschaftler/Umweltrecht als Nebenfach für Agrar- und Ingenieurwissenschaftler) kann deshalb (auch) keine Kompensation darstellen. Wie bedeutet, gilt das nicht nur für die Lehre: Indem diese und die Forschung im Lichte der Wissenschaftlichkeit und damit der Wissenschaftsfreiheit als Einheit zu betrachten47 und durch Interdependenz, auch grenzziehender Art, gekennzeichnet sind, führt eine Entwissenschaftlichung der Lehre zugleich zu einer solchen der Forschung, so dass das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit insgesamt betroffen ist. Einen derartigen Verlust an Wissenschaftlichkeit ziehen Veranstaltungen wie die vorstehend exemplarisch genannten in der Lehre nach sich; denn hierin wird sich auch bei angestrengter Suche kein „ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit“ finden lassen, wie das Bundesverfas-

___________ 44 Einfachgesetzlicher Ausdruck ist etwa § 57 Abs. 6 S. 1 LHG M-V: Funktionsbeschreibung der jeweiligen Stelle; dazu OVG Greifswald, ZBR 2007, 313, 314. 45 VGH Kassel, NVwZ 1988, 857, 858; für Fachhochschullehrer OVG Greifswald, ZBR 2007, 313, 314: Kernbereich „ihres“ Faches; dazu auch Waldeyer, NvwZ 2008, 266, 269. 46 Wie u. a. Letzteres nahe legt, können sich wissenschaftliche Betätigungsfelder auch verändern, ohne den Grundrechtsschutz einzubüßen; dem Vorstehenden liegt also kein statisches Verständnis zugrunde; vgl auch Waldeyer, NvwZ 2008, 266, 269: wissenschaftliche Lehre. 47 Vgl. dazu v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 5 Rdn. 352, 358; zur Wissenschaftsfreiheit etwa auch Schlink, DÖV 1973, 541; Schmidt-Aßmann, in: FS Thieme, 1993, S. 697; Zwirner, AöR 98 (1973), 313.

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sungsgericht es für die Anerkennung von Wissenschaft fordert.48 M. a. W.: Das Wissenschaftsdefizit der Lehre infiziert die Forschung. Nach alldem stellt die schließungsbedingte Aufgabenersetzung zugunsten bloßer Servicefunktionen einen Eingriff in das Grundrecht der Hochschullehrer (des Rechts) aus Art. 5 Abs. 3 GG dar.

(4) Aktuelle Betroffenheit? Freilich mag auf den ersten Blick, eher als im Fall der durch die an die Universität adressierte Schließung betroffenen Fakultät,49 der Einwand nahe liegen, es fehle beim einzelnen Hochschullehrer zeitlich gesehen noch an der (möglichen) Betroffenheit,50 ganz nach dem Motto, man sehe ja, dass er seine Vorlesung(en) weiter halte(n könne). Dem steht methodisch indes bereits entgegen, dass es nicht um rechtliche (Un-)Betroffenheit gehen kann, weil die Schließungsverfügung mit ihrem Eingriffsgehalt ja in der Welt ist; vorstellbar sind allenfalls Zweifel am Vorliegen des allgemeinen Rechtsschutzinteresses.51 Jenseits dessen kann in der Sache letztlich nichts anderes gelten als zuvor im Zusammenhang mit der Fakultät behandelt.52 Hat nämlich das Land gegenüber der Universität die Schließung der Fakultät ausgesprochen, drohen Umsetzungsmaßnahmen, wie Immatrikulationsstopp, Nicht(wieder)besetzung von Stellen u. a. m. Daran ändert sich nichts, wenn (bspw.) eine letzte Immatrikulation (noch) gestattet wird53 und/oder Stellen zwar wiederbesetzt werden, aber nur befristet auf kurze Zeiträume. Auch dann steht die endgültige Umsetzung der Schließung ihrem Zeitpunkt nach fest, und zwar absehbar. Ein geringfügiges Hinausschieben stellt das weder in Frage noch mildert es dies ab, weil eine bloße zeitliche Distanz sachlich keine Änderung bedeutet. Um im Bild zu bleiben: Ob der Hochschullehrer noch ein weiteres Mal eine Anfängervorlesung durchführen kann oder nicht, bleibt es doch dabei, dass sich die wissenschaftliche ___________ 48 BVerfGE 35, 79, 113; BVerfGE 47, 327, 367; BVerfGE 90, 1, 11 ff.; selbst im Bereich der Lehre von Fachhochschullehrern wird allenfalls ein Einsatz über den Kernbereich ihres Faches hinaus in Materien für zulässig erachtet, die „zugleich“ zu anderen Fächern gehören, vgl. OVG Greifswald, ZBR 2007, 313, 314; auch Waldeyer, NvwZ 2008, 266, 269 m. w. N. 49 Vgl. dazu vorstehend aa). 50 Vgl. bereits ansatzweise vorstehend im Text. 51 Zu dieser Sachentscheidungsvoraussetzung allgemein Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 11. Aufl. 2007, Rdn. 557 ff. 52 Vgl. vorstehend unter aa). 53 Anders mit rein formaler Begründung OVG Bautzen, SächsVBl. 2005, 69, im Verfahren der Fakultät nach § 123 VwGO.

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Einrichtung, an der er bislang gelehrt und geforscht hat, schließungsbedingt in Abwicklung befindet.54

cc) Kompensation durch Bachelor/Master? Soweit die hier fragliche „ersatzlose“ Aufhebung des Studiengangs weniger radikal ausfällt, weil eine Bachelor- und ggf. Master-Ausbildung an die Stelle des bisherigen rechtswissenschaftlichen Studiums mit Abschluss erstes Staatsexamen treten soll,55 könnte die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts relevant werden, wonach diese neuen Studienformen wissenschaftliches Lehren und Forschen ohne weiteres ermöglichen.56 Dann fehlte es an einer (potentiellen) Betroffenheit der Hochschullehrer, der Fakultät und wohl auch der Universität in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG. Freilich lässt sich die Sichtweise des Gerichts mit guten Gründen anzweifeln. Denn ein wohl verstandener Bachelor impliziert als berufsqualifizierender Abschluss Praxisanteile, die von dem regelmäßig auf drei Jahre begrenzten zeitlichen Budget des Studiums abgehen; auch widerstreitet es Grundstrukturen jeglicher wissenschaftlichen Ausbildung, dem praxisbezogenen Bachelor ein wissenschaftliches Kurzstudium in Form der regelmäßig auf maximal zwei Jahre konzipierten Master-Ausbildung folgen zu lassen57 – so dass sich fragt, wie eine solche (Neu-)Ausrichtung wissenschaftliche Lehre und Forschung ermöglichen, geschweige denn erfordern soll. Das kann freilich in unserem Zusammenhang auf sich beruhen. In Fällen der Schließung geht es um Einsparung oder Transfer von Stellen der betroffenen Fakultät; das aber ist ausgeschlossen, wenn anstelle des bisherigen Studiums ein fachdisziplinäres Bachelor/Master-Modell tritt, weil sich der Bedarf an Hochschullehrern damit gerade nicht vermindert. Deshalb werden ersatzweise auch allenfalls interdisziplinäre Bachelor-Studiengänge angeboten, etwa im Kontext von Betriebswirtschaft und Jura, die eine Freisetzung von Stellen ermöglichen. Die damit einhergehende Reduzierung der juristischen Lehre und Forschung in Breite und Tiefe zieht aber einen Wissenschaftsverlust ähnlichen Ausmaßes nach sich, wie es für die ersatzweise Verpflichtung auf Servicefunk___________ 54 Im Falle „bloßer“ Anweisung muss prozessual das gelten, wie im Zusammenhang mit der entsprechenden Betroffenheit der Fakultät ausgeführt, vgl. bei, vor und in Fn. 25. 55 Allgemein instruktiv dazu Katzenstein, DÖV 2006, 709. 56 BVerfG, Beschluss vom 07.08.2007– 1 BvR 2667/05. 57 Vgl. auch Katzenstein, DÖV 2006, 709, 712 f.

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tionen dargestellt worden ist.58 Unter dem Aspekt der Grundrechtsbetroffenheit ergibt sich daher im Ergebnis nichts Abweichendes.

b) Schließung im Wege der Vereinbarung Vorstehende Grundsätze gelten, weil es um schließungsbedingte Folgen für Grundrechtspositionen geht, naturgemäß auch dann, wenn die Auflösung einer Fakultät in lediglich anderer Handlungsform vorgenommen wird, insbesondere in derjenigen des öffentlich-rechtlichen Vertrags. So werden in Übertragung neuer Steuerungsmodelle der Kommunalverwaltung auf den Hochschulbereich sog. Zielvereinbarungen oder ähnlich bezeichnete Abmachungen zwischen dem Land und einer Universität oder sämtlichen (Landes-)Hochschulen getroffen, in denen die Aufhebung von Studiengängen festlegbar ist.59 Auch einseitige Schließungsverfügungen im vorab behandelten Sinne, etwa in Form staatlicher Zielvorgaben, wenn eine Einigung über eine Zielvereinbarung nicht gelingt,60 können zu einem Verwaltungsvertrag mutieren, z.B. im Gefolge eines Mediationsverfahrens, das in einen außergerichtlichen Vergleich oder Prozessvergleich mündet. Immer vorausgesetzt bleibt natürlich, dass sich die Regelung (wirklich) in einem kooperativen Verfahren61 und einvernehmlich, d. h. auf einer Ebene der Gleichordnung getroffen findet, also die Beendigung von Studiengängen den Universitäten seitens des Landes nicht im Wege der Zurückhaltung bereits zugesagter und dringend benötigter Finanzmittel abgetrotzt wird. Jenseits dessen gilt es, die Vorschrift des § 58 Abs. 1 VwVfG zu beachten, welche die zivilrechtliche Unzulässigkeit von Verträgen zu Lasten Dritter in das Recht der Verwaltungsverträge einbringt und derzufolge ein in die Rechte Dritter eingreifender Vertrag erst wirksam wird, wenn der Dritte schriftlich zustimmt. Während ordnungsgemäß zustande gekommene Zielvereinbarungen wegen der gesetzlich durchweg vorgeschriebenen allseitigen Interesseneinbringung vor einem solchen Verdikt weitgehend gefeit sind, geraten die angesprochenen Fälle gerichtlicher Auseinandersetzung mit anschließender Mediation

___________ 58

Vgl. vorstehend bb) (3). Etwa § 15 Abs. 3 S. 2 LHG M-V; bereits nach Fn. 11; dazu Detmer, in: FS Schiedermair, 2001, S. 605; Gäditz, NVwZ 2005, 407; Hill, NVwZ 2002, 1059; Hoffacker, DÖV 2001, 681; Trute, WissR 2000, 134; Uerpmann, JZ 1999, 644; näher Müller/Ziegele, Zielvereinbarungen zwischen Hochschule und Staat in NordrheinWestfalen, 2003; auch Pünder, DÖV 1998, 63. 60 Dazu § 15 Abs. 4 LHG M-V. 61 Vgl. etwa den näheren Regelungsgehalt des § 15 LHG M-V. 59

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latent in den Anwendungsbereich der Vorschrift.62 Dies beruht darauf, dass besagte Schließung gleich mehrfach Grundrechtsträger in Art. 5 Abs. 3 GG beeinträchtigt,63 während das in die Mediation übergeleitete Gerichtsverfahren nur von einem der Betroffenen gegen den Staat betrieben wird, die übrigen (Grundrechts-)Betroffenen hingegen in aller Regel weder in diesem Verfahren noch in demjenigen der Mediation als gleichrangig Beteiligte einbezogen sind. Lässt sich bspw. die Universität als (ursprüngliche) Klägerin oder Antragstellerin gegenüber dem Land auf eine weitgehende Beibehaltung der Aufhebung des Studiengangs resp. der Fakultät im Vergleichswege ein, etwa um die dringend benötigten Mittel für den Hochschulbau frei zu bekommen, so wird hierdurch in das Recht sowohl der betroffenen Fakultät als auch der dort tätigen Hochschullehrer aus Art. 5 Abs. 3 GG eingegriffen – mit der Folge, dass der Vergleich bis zu deren Zustimmung und, weil hiermit nicht zu rechnen sein wird, zugleich dauerhaft unwirksam ist. Verwaltungsprozessual lässt sich dem mit der allgemeinen Feststellungsklage gem. § 43 VwGO nachgehen, zumal die Feststellung der Unwirksamkeit des Vergleichsvertrags auch von außerhalb des strittigen resp. streitbefangenen Rechtsverhältnisses Stehenden begehrt werden kann;64 der (Dauer-)Streit um eine analoge Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO als Sachentscheidungsvoraussetzung der (allgemeinen) Feststellungsklage65 kann wegen der betroffenen Grundrechtspositionen aus Art. 5 Abs. 3 GG unentschieden bleiben. Die Feststellungsklage scheitert ferner nicht an der Subsidiaritätsklausel des § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO; dies folgt schon daraus, dass eine vertragliche Schließung keine taugliche Handlungsform für die Statthaftigkeit von Anfechtungs-/Verpflichtungs- oder (allgemeiner) Leistungsklage abgibt.66

___________ 62

Zur Geltung des Rechts der Verwaltungsverträge (§§ 54 ff. VwVfG) auch gegenüber dem Prozessvergleich (§ 106 VwGO) vgl. nur Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 106 Rdn. 10. 63 Vgl. vorstehend unter a). 64 Vgl. nur Erbguth (Fn. 3), § 10 Rdn. 11. 65 Dazu etwa Hufen (Fn. 23), § 18 Rdn. 26 ff. 66 Zum (Sonder-)Fall der bloßen Anweisung zur Schließung in der Zielvereinbarung/im Mediationsergebnis vgl. vor Fn. 25; wegen der Möglichkeit vorbeugenden Rechtsschutzes (vgl. ebenfalls vor Fn. 25) käme allenfalls eine Subsidiarität zur (allgemeinen) Leistungsklage (allgemein Erbguth (Fn. 3), § 20 Rdn. 13) in Betracht, was aber schon der grundsätzlichen Konstellation nach strittig ist, vgl. nur Kopp/Schenke (Fn. 62), § 43 Rdn. 28 mit Fn. 109.

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2. Rechtmäßigkeit von Schließungsentscheidungen Was nun die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit derartiger Schließungsentscheidungen anbelangt, so ergibt sich schon aus ihrem das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit betreffenden Eingriffsgehalt, dass sie nicht bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen wie reine Organisationsmaßnahmen anheim gegeben sind, sondern sich allgemeinen Maßgaben des Rechts für dessen Rechtfertigung stellen müssen.

a) Grundrechtsschranken Bei einem schrankenlos gewährleisteten Grundrecht wie Art. 5 Abs. 3 GG gilt daher, dass lediglich der Schutz verfassungsrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Persönlichkeitssphäre, friedliches Zusammenleben, Eigentum,67 nicht aber die staatliche Finanzlage als solche,68 den Eingriff rechtfertigen kann, dies zudem vorbehaltlich einer Abwägung mit der betroffenen Lehr- und Forschungsfreiheit.69 Darauf ist unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit noch näher einzugehen.70

b) Ordnungsgemäßes Verfahren und Willkürverbot Ferner hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Schließung der Dresdner Juristischen Fakultät betont, dass ein ordnungsgemäßes Verfahren71 einzuhalten ist und dass die Entscheidung nicht willkürlich sein darf.72 Während Ersteres den korporationsrechtlichen Status (universitäre Gremien, insbesondere Akademischer Senat), aber auch denjenigen der betroffenen Einrichtung im Wege hinreichender Beteiligung wahren soll, setzt eine willkürfreie Entscheidung nach Art. 3 Abs. 1 GG die Orientierung an sachlichen Gründen

___________ 67

Dazu v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 19), Art. 5 Rdn. 415. Anders im Rahmen der finanziellen Förderung von Universitäten durch den Staat, vgl. BVerfG, NVwZ-RR 2000, 22, 22 m. w. N., um die es hier nicht geht. 69 Vgl. BVerfGE 30, 173, 193. 70 Vgl. nachfolgend nach Fn. 75. 71 Insbesondere im Sinne angemessener Beteiligung, vgl. BVerfG, NVwZ-RR 2005, 442, 443; so auch bereits StGH BaWü, NVwZ 1982, 32, 33; BerlVerfGH, NVwZ 1997, 790, 791; allgemein zu korporativen Mitwirkungsrechten des Hochschullehrers als Ausfluss seiner Wissenschaftsfreiheit auch BVerfG, NVwZ-RR 2003, 705, 705; BVerfG, NVwZ 2005, 315, 316; BVerfG, NVwZ-RR 2001, 587, 588. 72 BVerfG, NVwZ-RR 2005, 442, 443. 68

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voraus.73 Gefordert ist eine Entscheidung anhand der Sache angemessener, zugleich objektiver Kriterien. Geht es wie vorliegend um die Schließung einzelner Einrichtungen einer Hochschule, müssen derartige Entscheidungsmaßstäbe vornehmlich solche der Leistung in Lehre und Forschung sein, wie dies das Hochschulrecht, gerade im Zusammenhang mit der Mittelvergabe bzw. -verteilung prägt.74 Strukturpolitische Gesichtspunkte, etwa solche der Entwicklung von Regionen, haben hier nichts zu suchen; sie sind Gegenstand der Regionalförderung bzw. des Rechts der Landes- und Regionalplanung und mit dem dort vorgesehenen Instrumentarium zu verfolgen. Ebenso wenig reicht ein argumentatives (?) Abheben auf „Doubletten“, also darauf, dass im Land bestimmte Studiengänge mehrfach angeboten werden; denn damit lässt sich schon die Entscheidung gegen gerade die eine und für die andere Einrichtung sachlich nicht begründen, so dass sie bereits deshalb willkürlich sein muss.

c) Verhältnismäßigkeit: Abwägungsgebot Des Weiteren sind allgemeine rechtsstaatliche Sicherungen zu beachten. Dazu gehört hervorgehoben der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der neben anderem eine Berücksichtung der widerstreitenden Interessen und deren ordnungsgemäßen, eben gerechten Ausgleich verlangt. Diese Anforderungen können weiter konkretisiert werden, weil es sich bei der Aufhebung eines Studiengangs, der zugleich die Schließung der Fakultät nach sich zieht (hier Rechtswissenschaft), um einen Akt planerischer Gestaltung handelt:75 Eine derartige Strukturmaßnahme76 betrifft nämlich die Entwicklung der Universität, weil eine ganze Disziplin der wissenschaftlichen Ausbildung beseitigt wird, ist zukunftsgerichtet und berührt in diesem Sinne über die Belange der betroffenen, hier Juristischen Fakultät und der dort Tätigen hinaus vielfältige wissenschaftliche In-

___________ 73

Vgl. insoweit anhand der bloßen Willkürprüfung etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 3 Rdn. 26 m. w. N.; wegen der ungleichen Behandlung unterschiedlicher Personengruppen (und nicht nur verschiedener Sachverhalte) liegt überdies eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung schon aufgrund Art. 3 Abs. 1 GG nahe, vgl. wie vor, Art. 3 Rdn. 17, 19; zur „allgemeinen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung nachfolgend vor und nach Fn. 75. 74 Vgl. etwa § 16 Abs. 1, 3 LHG M-V. 75 Auch BVerfG, NVwZ-RR 2005, 442, 443, spricht von einer Abwägungsentscheidung; deutlich in diesem Sinne BerlVerfGH, NVwZ 1997, 790, 791; vgl. auch Hufeld, DÖV 1997, 1025, 1031: übergreifende Lehr- und Forschungsstruktur; allgemein und eingehend zur Planung und zum Abwägungsgebot etwa Hoppe, in: Hoppe/ Bönker/Grotefels, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl. 2004, § 5. 76 Vgl. bereits bei Fn. 36.

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teressen der übrigen Fakultäten, der Universität, der jeweiligen Stadt, Region und nicht zuletzt des (Bundes-)Landes.77 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dem sich die Literatur ganz überwiegend angeschlossen hat, bedingt planerisches Handeln per se und damit unabhängig von einer normativen Zuweisung kontrollfreie Gestaltungsspielräume.78 Damit ist bekanntlich kein gänzlicher Ausfall rechtlicher Grenzziehungen verbunden, weil Derartiges weder mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes noch mit dem Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG zu vereinbaren wäre. Die(se) Maßstäbe der Überprüfung von Planungen ergeben sich aus dem Abwägungsgebot mit seiner Abwägungsfehlerlehre, die das Bundesverwaltungsgericht zunächst zum Recht der Bauleitplanung entwickelt und dann allgemein auf jegliches planerisches Handeln ungeachtet einer expliziten gesetzlichen Anordnung übertragen hat. Die wesentliche Ausprägungen der Abwägungsfehlerlehre folgen dem Entscheidungsprozess der Abwägung und verlangen, dass eine Abwägung überhaupt stattfindet (ansonsten: Rechtswidrigkeit wegen Abwägungsausfalls), die relevanten Belange ermittelt und eingestellt werden (ansonsten: Rechtswidrigkeit wegen Ermittlungsausfalls/-defizits oder Einstellungsausfalls/-defizits), die Bedeutung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange erkannt (ansonsten: Rechtswidrigkeit wegen Fehleinschätzung/-gewichtung der jeweiligen Belange) und der Ausgleich zwischen den Interessen in einer Weise vorgenommen wird, der dem objektiven Gewicht einzelner Belange angemessen ist (ansonsten: Rechtswidrigkeit wegen Abwägungsdisproportionalität). Hieran sind Schließungsentscheidungen der fraglichen Art zu messen. So gilt es, neben der angesprochenen Abwägungsoffenheit auf Seiten der betroffenen Juristischen Fakultät und ihrer Hochschullehrer deren Belange nach Lage der Dinge zu ermitteln und einzustellen, also insbesondere ihre Leistung resp. Leistungsfähigkeit in Lehre und Forschung (Studentenzahlen, Absolventen, Publikationen, Lehrbücher, ggf. Drittmitteleinwerbungen u. a. m.), ihre disziplinäre Bedeutung für andere Fakultäten und für die Universität insgesamt, ihr fachwissenschaftliches Ansehen etc. Ansonsten liegt ein Ermittlungsdefizit vor. Werden gegenläufige Belange eingestellt, die nach dem Landeshochschulgesetz als Grundlage der Planung keine Rolle spielen durften (etwa regionaler Bedarfe, Strukturpolitik, s. o.) oder schlichtweg nicht den Fakten entsprechen (bspw. verzerrt dargestellte Arbeitslosenquote bei Juristen), liegt ebenfalls ein ___________ 77 Besonders deutlich tritt der planerische Charakter derartiger Vorgänge bei deren Einbindung in eine Zielvereinbarung hervor, vgl. § 15 Abs. 3 LHG M-V. 78 Hierzu und zum Nachfolgenden etwa Erbguth, in: Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2007, Rdn. 996 ff., am Beispiel der Bauleitplanung.

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Abwägungsfehler vor, nämlich die (spiegelbildliche) Fehleinstellung von Belangen.79 Die Bedeutung und damit das Gewicht der jeweiligen Belange für die Abwägungsentscheidung bemisst sich jenseits gesetzlicher Gewichtungsvorgaben, die es vorliegend nicht gibt, nach dem Maß ihrer tatsächlichen Betroffenheit. Diese Bedrohung ist bei einer wissenschaftlichen Einrichtung der Lehre und Forschung, die geschlossen werden soll, und bei den hiervon betroffenen Wissenschaftlern selbstredend elementar. Das Gewicht der Belange auf Betroffenenseite ist daher äußerst hoch einzuschätzen. Wird das missachtet, liegt eine (Abwägungs-)Fehleinschätzung vor. Ist dem so, kann auch die eigentliche Abwägungsentscheidung kaum in sachgerechter Berücksichtigung der objektiven Gewichtigkeit dieser Belange der Juristischen Fakultät resp. ihrer Professoren erfolgt sein, selbst wenn man insoweit nur eine Evidenzkontrolle80 befürwortet. Das impliziert den Fehler der Abwägungsdisproportionalität. Da in den Landeshochschulgesetzen insoweit keine Heilungs- oder Unbeachtlichkeitsregelungen vorfindlich sind und es zudem kein ergänzendes Verfahren81 gibt, schlagen etwaige Rechtsfehler im vorstehend umrissenen Sinn auf die gerichtliche Entscheidung durch und ziehen die Aufhebung der Schließungsentscheidung nach sich. Subjektiv-rechtlich bleibt i.S.d. sog. Rechtswidrigkeitszusammenhangs als zugleich materielle Erleichterung der Abwehrposition an Folgendes zu erinnern: Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erstarken auch bloße Belange, die nicht den Grundrechtsstatus aus Art. 5 Abs. 3 GG erreichen, aber abwägungsrelevant, d.h. nicht nur marginal und von der Rechtsordnung akzeptiert sind, subjektiv-rechtlich; denn sie ziehen einen Anspruch auf ordnungsgemäße Abwägung mit anderen Belangen nach sich.82

3. Einstweiliger Rechtsschutz Einstweiliger Rechtsschutz gegenüber derartigen Schließungsmaßnahmen richtet sich nach allgemeinen Grundsätzen, also in der Konstellation der Anfechtungsklage nach § 80 VwGO,83 ansonsten, insbesondere im Fall der Fest___________ 79

Vgl. allgemein Hoppe (Fn. 75), § 5 Rdn. 116. BVerwGE 34, 301, 309; dazu Hoppe (Fn. 75), § 5 Rdn. 125. 81 Dazu anhand des Städtebaurechts etwa Erbguth/Wagner, Grundzüge des öffentlichen Baurechts, 4. Aufl. 2005, § 5 Rdn. 49 ff., § 15 Rdn. 103. 82 Vgl. zur Bauleitplanung BVerwG, NJW 1999, 592. 83 Vgl. allgemein etwa Erbguth (Fn. 3) § 19b. 80

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stellungsklage, nach § 123 VwGO.84 Dass es sich ersterenfalls bei der Verfügung um einen rechtsgestaltenden Verwaltungsakt handelt, der nicht vollstreckt, sondern nur umgesetzt werden kann, ändert an der Einschlägigkeit des § 80 VwGO nichts, wie Abs. 1 S. 2 der Vorschrift verdeutlicht. Unsicherheiten können sich aber dann ergeben, wenn aus der Schließungsanordnung des Landes nicht eindeutig abzulesen ist, ob es selbst die Schließung aussprechen will oder nur die Universitätsleitung anweist, dies zu tun. Solche Unklarheiten gehen zu Lasten des verfügenden Landes bzw. der eingreifenden Stelle.85 Setzt also die Universitätsleitung eine Verfügung mit derart unklarem Erklärungsgehalt um, streicht etwa Stellen oder verfügt deren Nichtbesetzung, muss sie mit gerichtlichen Anordnungen wegen faktischer Umsetzung in analoger Anwendung des § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO86 rechnen. Anträge nach § 123 VwGO, etwa der betroffenen Fakultät gegen eine Zielvereinbarung, insbesondere aber gegen ein Mediationsergebnis, durch das Universität und Land die Schließung aufrecht erhalten,87 weisen nicht nur deshalb gegenüber dem Verfahren nach § 80 VwGO geringere Rechtsschutzintensität auf, weil sie sich nicht gegen die Schließung richten lassen, sondern nur deren Umsetzung vorläufig hemmen können. Zur einstweiligen Rechtswahrung reicht überdies das gerichtliche Vorgehen gegen eine der Vertragsparteien nicht aus. Auch der andere am Vertrag Beteiligte ist in das gerichtliche Verfahren einzubeziehen, zumindest im Wege der Beiladung; anderenfalls könnte dieser die Umsetzung der Schließung betreiben. Im Übrigen steht dem Antrag bzw. den Anträgen auf einstweilige Anordnung nicht die Unzulässigkeit wegen Vorwegnahme der Hauptsache88 entgegen; denn die begehrte einstweilige Anordnung soll nur den vorläufigen Weiterbetrieb der Ausbildung sicherstellen, nicht aber die endgültige Erhaltung von Studiengang resp. Fakultät erreichen.

III. Fazit Die „Organisationsmaßnahme“ Schließung von Studiengängen an Universitäten unterliegt damit keinen bloßen nicht justiziablen Zweckmäßigkeitserwägungen, sondern muss sich der rechtlichen Vereinbarkeitsprüfung stellen, weil das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG betroffen ist, und zwar nicht nur dasjenige ___________ 84

Auch dazu nur Erbguth (Fn. 3), § 20 Rdn. 18 ff, § 19b Rdn. 30 f. Vgl. nur Schenke (Fn. 51), Rdn. 198; auch Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2008, § 35 Rdn. 50. 86 Dazu etwa Schenke (Fn. 51), Rdn. 1006 ff. 87 Vgl. nach Fn. 60. 88 Allgemein etwa Erbguth (Fn. 3), § 20 Rdn. 23. 85

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instutioneller Art der jeweiligen Universität und Fakultät, sondern auch jenes der betroffenen Hochschullehrer. Insoweit ist daher Rechtsschutz eröffnet, dies unabhängig davon, in welcher administrativen Handlungsform die Regelung erfolgt ist. Rechtliche Maßstäbe jeglicher Schließungserklärung sind neben anderem das Willkürverbot und die rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeit, hier in planerischer Ausprägung.

Zum Verpflichtungsgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG Von Rolf Dietrich Herzberg, Bochum „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

I. Die These der Abwägungsfestigkeit 1. Das Dilemma In seiner Kommentierung betrachtet Horst Dreier den ersten Artikel des Grundgesetzes auch im Hinblick auf Zwangsbehandlungen, die viele Geisteskranke alltäglich erleiden. Dass die Menschenwürdegarantie für solche Personen gilt, ist ihm wie allen selbstverständlich. Indes spricht er, mit spürbarem Unbehagen, von einem „Zentralproblem“. „Bei den psychisch und geistig Kranken“ bestehe es „darin, angesichts der teilweise oder vollständig mangelnden Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung Fürsorge- und Zwangsmaßnahmen ergreifen zu müssen, die genau jene Objektsituation herstellen, die sonst gerade als (ein) Kennzeichen menschenwürdeverletzender Vorgänge gilt […]. Im einzelnen sind in diesem schwierigen Bereich noch zahlreiche Fragen ungelöst und vielleicht kaum lösbar.“1 Ich verstehe Dreiers Zweifel an der Lösbarkeit so, dass er befürchtet, auf dem Fundament der eigenen Prämissen manche „Zwangsmaßnahme“ einerseits als Menschenwürdeverletzung bewerten zu müssen und sie andererseits als solche nicht bewerten zu dürfen. Zum Beispiel wenn die Pfleger einen Geisteskranken ohne Rücksicht auf sein Weinen und Flehen gewaltsam an den Stäben seines Bettes festbinden, weil er über Nacht für andere und sich selbst gefährlich würde. Ein Jurist ohne spezielle Kenntnis der Literatur zum Menschenwürdeartikel mag freilich angesichts eines solchen Falles erstaunt fragen, wo denn das Dilemma liege. Die Würde des Kranken, könnte er urteilen, werde hier selbstverständlich „angetastet“ und erleide eine Beeinträchtigung, doch geschehe dies nach Lage des Falls um überwiegender Interessen willen, weshalb die entwür___________ 1

Dreier, GG-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Rn. 65.

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digende Zwangsbehandlung nach den einschlägigen Vorschriften (vgl. etwa §§ 66 Abs. 1 Nr. 16; 73 Nr. 1, 3 VwVG NW) auch zweifellos gerechtfertigt sei. Aber dieser naive Jurist müsste sich eines anderen belehren lassen. Das Dilemma bestehe darin, würde man ihm sagen, dass das Zugeständnis der Rechtmäßigkeit einerseits unumgänglich, aber andererseits nicht vereinbar sei mit der Annahme eines Eingriffs in die Würde des Geisteskranken. Denn ein solcher Eingriff sei ausnahmslos verfassungswidrig und also unter allen Umständen Unrecht. Darum müsse man auf Biegen und Brechen bestreiten, dass solch ein Eingriff vorliege, so sehr das auch einer unbefangenen Bewertung zuwiderlaufe und der üblichen Kennzeichnung der Menschenwürdeverletzung widerspreche. Eine missliche und befremdende Belehrung, die indes tatsächlich das herrschende Gesetzesverständnis zur Grundlage hätte. „Die überwiegende […] Meinung im Verfassungsrecht geht heute davon aus, daß Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht des einzelnen auf die Achtung seiner Menschenwürde enthält“, sagt Hörnle und gibt diesem Grundrecht besonderen Rang: „Die Menschenwürde ist unantastbar; Art. 1 Abs. 1 GG ist abwägungsfest. Wird der Schutzbereich durch eine staatliche Maßnahme oder Dritte angegriffen, ist dies verfassungswidrig, ohne daß eine Legitimierung durch widerstreitende Interessen der Allgemeinheit oder anderer Personen möglich ist.“2 So oder ähnlich sagen es fast alle: „Mit der Unantastbarkeitsformel entzieht die Verfassung die Menschenwürdegarantie dem grundrechtlichen Abwägungsprozess […]. Die Garantie der Menschenwürde unterliegt also keinerlei Beschränkungsmöglichkeiten; die sachliche Reichweite des Tatbestandes markiert zugleich die Verletzungsgrenze.“3 Der Begriff „unantastbar“ bringe zum Ausdruck, „dass die Menschenwürde nicht eingeschränkt werden darf. Die rechtsdogmatische Unterscheidung zwischen Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken gilt im Rahmen der Menschenwürdegarantie nicht.“4 Es liegt „in jedem Eingriff bereits eine Antastung der Menschenwürde und daher unweigerlich ein Verfassungsverstoß. Das BVerfG hat wiederholt und erst jüngst wieder bekräftigt, daß die Menschenwürde mit keinem Einzelgrundrecht […] abwägungsfähig, also insoweit nicht relativierbar ist.“5 ___________ 2

ARSP 2003, 318, 319 f. Höfling, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 1 Rn. 11; ähnlich Epping, Grundrechte, 3. Aufl. 2007, Rn. 596. 4 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Rn. 34. 5 Dreier (Fn. 1), Art. 1 Rn. 44, unter Berufung auf BVerfG, JZ 2003, 622 (623); BVerfGE 93, 266 (293); 34, 238 (245); 75, 369 (380); 80, 367 (373). – Eine Minderheitsmeinung ist allerdings für Abwägbarkeit und Schrankengeltung; vgl. Kloepfer, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. II, S. 77 (97 f.); Merkel, in: Festschrift f. Jakobs, 2007, S. 375 (397); Schlehofer, GA 1999, 356 (363 f.); der Sache nach auch Isensee, in: Festschrift f. Jakobs, 2007, S. 205 (227 f.); Herdegen, in: 3

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2. Kritik Es lohnt sich, hier einen Augenblick zu verweilen und die Skepsis in sich aufzunehmen, mit welcher Hörnle, obwohl selbst dafür, diese Gesetzesdeutung betrachtet. „Innerhalb der Grundstrukturen des deutschen Verfassungsrechts“, hat sie auf einem Bochumer Symposium vorgetragen, „sind abwägungsfeindliche kategorische Imperative an sich ein Fremdkörper. Die Feststellung, ob ein verbotener Eingriff in ein Grundrecht vorliegt, beruht typischerweise auf einer umfassenden Abwägung der gegensätzlichen Interessen, die in Form von Grundrechten, Grundrechtsschranken und sog. Schranken-Schranken zu berücksichtigen und in bestmöglichen Ausgleich zu bringen sind.“6 Anschaulich machen kann man sich das etwa mit dem Beispiel der Religionsfreiheit, das einem auch sogleich die Augen öffnet für die Schwäche des Wortlautarguments. Denn wie in Art. 1 GG die „Unantastbarkeit“, so wird in Art. 4 Abs. 2 GG die „Unstörbarkeit“ gewährleistet, und zwar gleichfalls dem Anschein nach unbegrenzt, ohne Eingriffsvorbehalt. Aber es ist vollkommen unstreitig, dass hier „verfassungsimmanente Schranken“ gelten, d.h. die Religionsausübung eben doch „gestört“ werden darf, wenn dies mit Rücksicht auf andere Grundrechte und Verfassungswerte unumgänglich ist (z. B. weil während des Gottesdienstes blutige Schlachtopfer zelebriert werden oder den Besuchern ein Sprengstoffanschlag droht). Warum dann nicht auch verfassungsimmanente Schranken der Unantastbarkeit? Hörnle führt es, in einem besonders schönen Abschnitt ihres Vortrags, auf Kant zurück und auf unsere „starke Bindung an die Traditionen des deutschen Idealismus“,7 dass man wenigstens die erste und feierlichste Rechtsgewährleistung im Grundgesetz von aller Relativierung freihalten will. Ein Grundzug der Kantischen Philosophie sei „die Ablehnung von Kompromissen; die Geringschätzung von empirischen Bedingungen und von Anpassungen an situationsbedingte Besonderheiten; die Betonung kategorischer Verhaltensgebote. Kants Vorgaben sind abwägungsfeindlich. Widerstreitende Interessen im Einzelfall abzuwägen, konkrete Umstände zu berücksichtigen, könne nur zu einem hypothetischen Imperativ führen. Kant pocht dagegen auf die Notwendigkeit eines kategorischen Imperativs. Der durch diese einflussreichen Vorgaben geprägte ‚Hang zum Absoluten‘ ist in deutschen Diskussionen weit verbreitet […], wie ___________ Maunz/Dürig, GG, 2005, Art. 1 Rn. 43 ff.; Hofmann, in: Festschrift f. Scholz, 2007, S. 225 (246). 6 In: Schweidler (Hrsg.), Postsäkulare Gesellschaft, Perspektiven interdisziplinärer Forschung, 2007, S. 170 (182). 7 (Fn. 6), S. 181; „Rechtsphilosophie zu betreiben, heißt für viele: Auslegung der ‚heiligen Schriften des deutschen Idealismus‘ – nicht selten unter völliger Ausklammerung der seither vergangenen zweihundert Jahre Philosophiegeschichte.“

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auch in politischen Debatten das Bedürfnis nach Bereichen des Unverfügbaren unverkennbar ist“.8 Nun darf man nicht glauben, dass das Dogma der „Abwägungsfestigkeit“ etwas bewirke. Abwägungen, die sein müssen, finden auch statt, ob man es wahrhaben will oder nicht. Das zeigt schon unser Eingangsbeispiel. Kein einziger wird wegen Art. 1 GG die zum Schutz der anderen notwendige Demütigung des weinenden Kranken als Unrecht bewerten. Was sie betrifft, akzeptieren vielmehr alle die – bei einer Würdeantastung angeblich nicht mögliche – „Legitimierung durch widerstreitende Interessen“ (Hörnle) und die Geltung der Erlaubnisnormen im VwVG. Nur vermeidet man es zu sagen, dass dahinter das Recht des Geisteskranken auf Achtung seiner Würde zurückstehen müsse. Vielmehr entscheidet man sich gegen den Augenschein für die begriffliche Festsetzung, seine Würde sei nicht angetastet worden. Weil einerseits das Dogma und andrerseits das Abwägungsergebnis es verlangen, wird die brutale und erschütternde Demütigung, die der Kranke von Pflegerhand erleidet, aus Art. 1 GG hinausdefiniert.

II. Die Theorie der extremen Fälle Lässt sich eine Theorie bilden, die dieses Verfahren erklärt und es vielleicht sogar einleuchtend macht? Man kann versuchen, den Bereich denkbarer Menschenwürdeverletzungen so zu umreißen, dass eine dareinfallende Handlung unter keinen Umständen wegen guter, das Missliche überwiegender Gründe verantwortbar und rechtmäßig ist. In klarer Erkenntnis dieses Ausgrenzungszieles macht sich wohl niemand an die Beschreibungsarbeit. Aber eine halbbewusste und intuitive „Flucht in die extremen Fälle“ ist schon zu beobachten, wo es gilt, Menschenwürdeverletzungen zu kennzeichnen. Dies geschieht nämlich meist durch die Aufzählung von Gräueln und Abscheulichkeiten, für die auf der Hand liegt, dass es schlechterdings keine Gründe geben kann, sie dem Täter zu erlauben. Die Menschenwürdenorm, heißt es etwa, „richtet sich prototypisch gegen Sklaverei, Leibeigenschaft und Menschenhandel, gegen systematische Demütigung, Deportation und Vertreibung bestimmter Volks- oder Personengruppen“.9 Oder es unterbleibt jede Verhaltensbeschreibung, und man soll die Würdemissachtung an abstrakten Schändlichkeiten erkennen, z. B. ob „die Identität eines Menschen“ gebrochen, ob jemand „als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert nicht mehr anerkannt“, „grundsätzlich wie ein Mensch zweiter ___________ 8

(Fn. 6), S. 181 f. Dreier (Fn. 1), Rn. 59. BVerfGE 115, 118, 153 betont – stärker verallgemeinernd – den Schutz „vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst“. 9

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Klasse behandelt“, „seine Subjektqualität prinzipiell in Frage gestellt“, ihm sein „Achtungsanspruch als Mensch abgesprochen“, „seine prinzipielle Gleichheit mit anderen Menschen in Zweifel gezogen“10 wird usw. Im Œuvre des Jubilars findet sich noch kein Beitrag zur Menschenwürdeproblematik. Ich erfreue mich aber des Vorzugs, dem an Gott und der Welt interessierten Fakultätskollegen jederzeit Äußerungen entlocken zu können, die – wenn auch natürlich mit dem Vorbehalt genauerer Prüfung – seinen Standpunkt skizzieren. So hat mich mein Fragen in den Besitz eines Schreibens mit „kursorischen Überlegungen“ gebracht, woraus zu zitieren mir hier am Platze scheint. „Der Begriff der Würde des Menschen“, findet Schnapp, „widersetzt sich weitestgehend den herkömmlichen Auslegungsmethoden“. Er ist „kein abstrakt-allgemeiner Begriff, der sich im Sinne der Logik definieren ließe […]; denn er hat keine Gattung über sich […]. Man wird ,Würde daher wohl als Typus zu verstehen haben, von dem man – je nach Eigenart der Materie oder der situationsgebundenen Entscheidung – ein mehr oder weniger verschwommenes ,Bild‘ hat. Ein solcher Typus ist entwicklungsoffen; man bewegt sich daher quasi auf einem stufenlosen Kontinuum, bei dem an irgendeinem Punkt die Dezision fällt, dass hier die Grenze erreicht ist. Diese Entscheidung ist durch Vernunftgründe zu stützen. Man wird daher nicht nur auf die Herkunft aus der abendländischen Entwicklung achten, sondern auch nach gemeinsamen Anschauungen der Jetztzeit zu suchen haben und die jeweilige richterliche Entscheidung darauf abklopfen müssen, ob sie sich diesem Bild fügt. Ein hilfreiches Kriterium dabei ist vielleicht die von manchen vorgeschlagene Finalität des Verletzungsvorgangs. Nicht die positive Bestimmung des Würdebegriffs steht dann im Vordergrund, sondern der Vorgang des Erniedrigens, der Brandmarkung, der Verächtlichmachung etc. Was mit den KZ-Häftlingen geschah, das war Entwürdigung“.



Eine vorsichtige und bewegliche Lösung, die, wie ich noch zeigen werde, auch dem m. E. richtigen Kriterium Raum gibt. Deutlich ist aber ihre Neigung, sich auf krasse Eingriffe zu begrenzen, wofür sie die in den Konzentrationslagern der Nazis verübten Gräueltaten als Beispiel nennt. Ein Gegenbeispiel ist für Schnapp der „Daschner-Vorgang“, den er nicht anerkennt als einen, „bei dem die Würde des Angeklagten verletzt worden ist“, anscheinend selbst dann nicht, wenn man die zur Offenbarung des Verstecks führende Bedrohung des Kindesentführers Gäfgen, ihm Schmerzen zuzufügen, mit dem LG Frankfurt als strafbare Nötigung zu bewerten hätte. „Daraus, dass die Würde zusammen mit der Freiheit und der Gleichheit gewissermaßen den grundrechtlichen ‚Grundakkord‘ unserer Verfassung abgibt“, schließt Schnapp, „dass dieser Wert nicht ___________ 10

Fremdzitate bei Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 1 Rn. 11, 12.

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zur kleinen Münze degradiert werden darf; man würde sonst Sterne in Vorhöfe zerren“.

1. Die besondere Problematik in Tötungsfällen Wir werden darüber noch nachdenken, uns aber zunächst die auffälligste Schwierigkeit vor Augen führen, womit die „Theorie der extremen Fälle“ zu kämpfen hat. Sie erwächst aus der Forderung, Farbe zu bekennen im Fall der Vernichtung des Würdeträgers, d.h. der Tötung eines Menschen. Im Hinblick auf diesen Fall hat Schlehofer entgegen den herrschenden Thesen und Prämissen gefordert, auch den Würdeachtungsanspruch „durch Abwägung zu bestimmen“, weil man sich sonst in Widersprüche verstricke. „Wie immer man den inneren Wert des Menschen, der seine Würde ausmachen soll, im einzelnen definiert, er verlangt jedenfalls die Achtung der physischen Existenz. Erst wenn sie vorhanden ist, kann man von der Würde des Menschen sprechen. Insofern ist die Existenz der Würde also abhängig von der physischen Existenz des Menschen“. Nun sieht Art. 2 Abs. 2 GG „ausdrücklich vor, daß in das Recht auf Leben ‚aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden‘ darf“. Jeder danach „erlaubte Eingriff in das Recht auf Leben würde dann aber gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen. Denn verlangt man absolute Achtung der Menschenwürde, muß auch das menschliche Leben absolut geachtet werden, weil dessen Achtung, wie gesagt, das Mindeste ist, was die Menschenwürde gebietet“.11 Auf der Abwägungsfestigkeit beharrend, hat Hörnle Schlehofer mit dem Einwand geantwortet, er verkenne „die Quintessenz dessen, was eine Handlung zu einer menschenwürdewidrigen macht: Entscheidend ist nicht eine Einbuße an Gütern oder Rechten als solche, sondern der Modus der Handlung. Es ist deshalb daran festzuhalten, daß nicht jeder Eingriff in das Lebensrecht mit einer Menschenwürdeverletzung verbunden ist“.12 Dieser Ansatz führt Hörnle auf einen äußerst problematischen Standpunkt: Selbst eine vorsätzlich-rechtswidrige Tötung, die den Lebenswillen des Opfers missachtet, missachtet nicht zwangsläufig auch dessen Menschenwürde. Das zweite ist prinzipiell unabhängig vom ersten zu bestimmen. Hörnle hat zunächst geglaubt, die Menschenwürdeverletzung immer dann bejahen zu müssen, wenn die Tötung „auf der utilitaristischen Verrechnung eines Menschenlebens“ beruht.13 Mir scheint, dass dieses Kriterium mehr erfasst, als die Autorin erfassen will und erfassen darf. Letztlich sieht jeder Tötungstä___________ 11

Schlehofer, GA 1999, 356 (363, 364). Hörnle, ARSP 2003, 321. 13 ARSP 2003, 325 (Hervorhebung dort). 12

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ter für sich mehr Nutzen in der Tötung als in der Schonung des Lebens, sei dies nun ein materieller Nutzen (Raubmord, Erbonkeltötung), ein Lustgewinn (Vergewaltigung), die Befreiung von einer Ehrenschuld (Blutrache) oder die Abwälzung einer bedrückenden Last, etwa durch die Tötung des komatösen Vaters. Aber dem Kriterium misslingt nicht nur im Bereich der rechtswidrigen Tötungen die erstrebte Differenzierung zwischen Lebensvernichtung mit und solcher ohne Würdemissachtung, es greift auch zu weit und bestätigt ungewollt Schlehofers These. Betrachten wir einen Fall der knapp gerechtfertigten Notwehr: Eine Frau sieht sich von einem jungen Mann angegriffen, der nur ihr Geld will, und erschießt ihn im Rahmen des zur Angriffsabwehr Erforderlichen – mit Skrupeln zwar, aber letztlich doch egoistisch entscheidend, dass ihr das Geld wichtiger sei als die Erhaltung des jungen Lebens. Denken wir uns die Tat nun so, dass sie moralisch schon zu missbilligen, aber rechtlich nach § 32 StGB noch erlaubt war. Hörnle müsste dann eine rechtmäßige Tötung konstatieren, die sich jedenfalls nach ihrem alten Kriterium als Menschenwürdeverletzung darstellt. Sie selbst sieht das freilich anders. Die Tötung in Notwehr sei „das Standardbeispiel für eine Verletzung des Lebensrechtes ohne Verletzung der Menschenwürde“. Denn hier lägen die Gründe der Tat „außerhalb von Erwägungen zur Qualität von Leben in Relation zu den Kosten“.14 Aber genau diese Relation hat unsere Täterin hergestellt und den Ausschlag geben lassen. Ihr war das Menschenleben ein Wert, den sie anerkannt, aber utilitaristisch verrechnet hat mit dem Gegenwert des bedrohten Geldes. In einem neueren Beitrag lässt Hörnle die alte Formel fallen. An deren Stelle tritt nun der Gedanke, „auf die Hintergründe und Begleitumstände der Tötung abzustellen und zu untersuchen, ob damit eine negative Aussage über den Wert der Betroffenen verbunden ist“. Dass „eine Tötung die Würde verletzt“, will Hörnle z.B. dann bejahen, „wenn die Opfer als minderwertig in Relation zu anderen Menschen eingestuft werden; oder wenn die Bedeutung menschlichen Lebens in Relation zu Sachwerten verkannt wird“.15 M. E. verschafft auch das der Differenzierungslehre keine tragfähige Grundlage. Für unser Notwehrbeispiel läuft es wieder darauf hinaus, dass eine nach § 32 StGB gerechtfertigte Tat die Menschenwürde verletzt, denn die Täterin gibt dem Wert ihrer Barschaft höheren Rang als dem menschlichen Leben. Und der Fall kann so liegen, dass die Frau schwankt, ob sie ihr Notwehrrecht ausüben soll, und es am Ende nur deshalb tut, weil der Angreifer ein „Neger“ ist. Die Tötung würde dann (auch) auf der Einstufung des Opfers als minderwertig in Relation zu anderen Personen beruhen. Trotzdem wäre sie (weil wir kein Gesinnungsstrafrecht haben) als Notwehr erlaubt, aber zugleich wegen der bösen Gesinnung ein Ver___________ 14 15

ARSP 2003, 329. Hörnle, in: Festschrift f. Herzberg, 2008, S. 567 f.

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fassungsverstoß.16 Das ist der Widerspruch, den Schlehofer anprangert. Mir ist klar, dass Hörnle ihn nicht will und (wie man heute zu sagen liebt) „davon ausgeht“, dass trotz der Unabhängigkeit des einen vom anderen eine wie auch immer gerechtfertigte Tötung die Menschenwürde stets unangetastet lasse. Aber ihre Kriterien sind nicht so beschaffen, das zu ergeben. Auch zur anderen Seite hin scheint mir Hörnles neue Fragestellung problematisch. Ein Blutrachemord oder die Tötung eines geliebten Menschen aus Eifersucht enthält meist ganz und gar keine „negative Aussage über den Wert“ des Opfers. Regelmäßig drückt sich darin im Gegenteil aus, dass das vernichtete Leben dem Täter besonders wichtig bzw. gar das wertvollste in der ganzen Welt war. Aber ich wehre mich gegen die Bewertung, dass Akte der Blutrache mit Art. 1 des Grundgesetzes vereinbar seien und dass der Ehemann die Menschenwürde nicht verletze, sondern sie achte, wenn er seine geliebte Frau erschießt, weil er sie ganz für sich behalten will.

2. Die Problematik der „leichten Fälle“ Das Hauptfeld der Ausgrenzung liegt indes auf niedrigerer Ebene. Um sich die Abwägungsnotwendigkeit nicht eingestehen zu müssen, sind die Anhänger der in Rede stehenden Theorie bereit, leichtere und alltägliche Fälle generell preiszugeben. Z. B. den Fall der demütigenden Fesselung ans Bett. Wer dazu, wie es nahe liegt, spontan sagt, dass sei entwürdigend, müsste sich sogleich erwidern lassen: aber unter Umständen unumgänglich und dann auch gesetzlich erlaubt. Weil er das nun nicht bestreiten und auch nicht ernstlich behaupten könnte, die gesetzliche Gestattung sei verfassungswidrig, müsste er akzeptieren, dass hier genau die Abwägung stattfindet, die seinem Dogma widerspricht: Was wiegt schwerer, die entwürdigende Demütigung oder das, was an Schäden droht, wenn man den Geisteskranken nicht fesselt? Überwiegen die Schäden, ist die gesetzliche Fesselungsbefugnis gegeben und die entwürdigende Zwangsbehandlung erlaubt. So sähe man sich zum Eingeständnis gezwungen, dass die Menschenwürde antastbar sei und in manchen Fällen rechtens angetastet werde. Um dem vorzubeugen, stellt man nun die kühne These auf, bei genauerem Hinsehen sei die Menschenwürde hier nicht betroffen, selbst wenn die Pfleger rechtswidrig handeln. Dafür findet sich auch eine Begründung: Die Menschenwürde sei ein so herausgehobenes, hehres und gewichtiges Schutzgut un___________ 16

Hörnle selbst, Festschrift f. Herzberg, 2008, S. 556, bringt das Beispiel der Tötung unschuldiger Passagiere durch Flugzeugabschuss zur Rettung einer viel größeren Zahl von Menschen. Sie hält das aufgrund eindringlicher Erwägungen für eine gerechtfertigte Tötung (S. 570), sieht aber – in einem anderen gedanklichen Zusammenhang – die Menschenwürde verletzt, wenn die Entscheidung darauf beruht, „dass es sich bei den Passagieren, nur um ‚Ausländer‘ handle“ (S. 568).

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serer Verfassung, dass sie nicht „banalisiert“, „trivialisiert“, zur „kleinen Münze degradiert“ werden dürfe; nicht jede rechtswidrige Kränkung verletze auch die „Würde des Menschen“. Ich halte das für eine Ausflucht, die ungewollten Zynismus und das Unverständnis des Laien in Kauf nimmt. Zu sagen, der überrumpelnde Griff in den Ausschnitt der Sekretärin berühre noch nicht ihre Würde, ist ein starkes Stück. Selbstverständlich tut er das. Die Menschenwürde einer Person kann in stärkstem Ausmaß (Versklavung), aber auch in geringem Grade missachtet werden. Die logische Not, die ein Dogma hervorbringt, ist kein Sachgrund, kleinere Demütigungen (die meist sogar Straftaten sind!) unter dem Aspekt der Würdeverletzung für belanglos zu achten. Obwohl selbst gegen die „Trivialisierung“, müsste mir Schnapp in diesem Punkt recht geben, denn er sieht in Würde, Freiheit und Gleichheit den grundrechtlichen „Grundakkord“ und macht sie so gleichrangig. Und es käme doch niemand auf die Idee, Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 3 GG auf kleinere Freiheitsentziehungen und Ungleichbehandlungen, die einem rechtswidrig angetan werden, nicht zu erstrecken. Man denke sich den Fall, dass jemand sich seiner alten Mutter schämt und sie in Erwartung von Gästen in ihrem Zimmer, obwohl sie protestiert, einschließt. „Drittwirkung“ hin oder her, diese strafbare Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) verletzt selbstverständlich auch i. S. von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG „die Freiheit der Person“. Und die „Würde“ der alten Dame? Obwohl sie vielleicht das Zimmer gar nicht verlassen wollte und nur unter der Kränkung und Demütigung gelitten hat, soll man die Einsperrung und die Missachtung ihres Willens nicht als „entwürdigend“, nicht als Antastung ihrer „Würde“ bewerten dürfen? Das ist nicht einleuchtend und eine Vergewaltigung des Begriffs. Wahr ist, dass die Subsumtion unter die Artikel des Grundgesetzes keine rechtlichen Auswirkungen hat. Erst das Straf- und das Zivilrecht sagen uns, wie sich die Betroffene gegen Beeinträchtigungen ihrer Persönlichkeitsrechte wehren kann. Aber das ist ja fast immer so und auch sonst kein Grund, die Merkmale der Grundgesetzartikel gegen ihren natürlichen Sinn zu interpretieren. Es geht also nicht nur im großen Stil um Menschenhandel, Versklavung, Folter, Deportation und um Demütigung nur, wenn sie „systematisch“ betrieben wird. Vielmehr sind auch kleine, einzeltathafte Eingriffe in die „Persönlichkeitsrechte“ (Körperintegrität, Ehre, Freiheit, Willensautonomie, Intimsphäre der Wohnung, sexuelle Selbstbestimmung, Briefgeheimnis, Recht am eigenen Bild) potentielle Verletzungen des Anspruchs, der sich aus der Menschenwürde ergibt. Z. B. eine Ohrfeige, die der vernehmende Polizist dem Beschuldigten gibt, das Ins-Gesicht-Spucken, das Öffnen und laute Lesen eines Liebesbriefes vor den Augen und gegen den Willen der Adressatin, das Veröffentlichen eines pornographischen Fotos der Ex-Freundin auf der eigenen Webseite. Und nicht nur die sexuelle Vergewaltigung verletzt die Würde einer Frau, auch grobe Un-

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verschämtheiten wie ein gewaltsamer Zungenkuss oder beleidigende Zoten können sie missachten. Darum zögere ich auch, dem Jubilar zuzustimmen, wenn er den „Daschner-Vorgang“ a limine ausgrenzt. Gewiss, man hat den Beschuldigten nicht gefoltert. Aber soll eine Würdeverletzung von vornherein ausscheiden, wenn sein Wille durch schwächere Pression, durch bloße Androhung von Schmerzen, gebeugt wird und er aus Angst sein Wissen offenbart? Kurzum, die Theorie der extremen Fälle überzeugt nicht. Sie scheint mir auch unvereinbar mit dem Gesetz. Denn wo dieses sich (ausnahmsweise) einmal rückbezieht auf die „Menschenwürde“ und sie zum Kriterium macht, da ist offensichtlich, dass es für die Verletzung keine extreme, keine „systematische“ Demütigung voraussetzt. So heißt es in § 7 Abs. 1 UZwG, dass Vollzugsbeamte auf Anordnung ihrer Vorgesetzten „unmittelbaren Zwang“ anzuwenden verpflichtet sind, es aber nicht sind, „wenn die Anordnung die Menschenwürde verletzt“. Nach § 2 Abs. 1 UZwG ist „unmittelbarer Zwang die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen“. Die potentiell menschenwürdewidrige Anordnung zielt also auf Taten wie Fesselung, Hiebwaffenschläge, Wasserwerfen usw. (vgl. § 2 Abs. 3, 4 UZwG). Z. B. wenn der Vorgesetzte ein vorbeugendes Einschlagen auf friedliche Demonstranten befiehlt oder die einschüchternde Fesselung eines Beschuldigten vor der Vernehmung. Es ist klar, dass solche Anordnungen gemeint sind. Wer es anders sieht, nimmt § 7 Abs. 1 S. 2 UZwG in der MenschenwürdeAlternative den Anwendungsbereich. Auch § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB widerspricht mit Gesetzesautorität der Theorie der extremen Fälle. „Entwürdigen“ heißt jemandem ein Stück seiner Würde nehmen oder ihn in seiner Würde verletzen. Als Beispiele für „entwürdigende Maßnahmen“ benennt und verbietet die Vorschrift „körperliche Bestrafungen“ und „seelische Verletzungen“. Schon jede bestrafende Ohrfeige, jede Tracht Prügel und jede Kränkung, die der Seele des Kindes erheblichen Schmerz zufügt, tastet also seine Würde an.

III. Das Kriterium der Rechtswidrigkeit Die Abwägungsfestigkeit des Würdeachtungsanspruchs lässt sich aber auf anderem Weg begründen, wobei sie dann freilich auch einen anderen Sinn gewinnt. Blicken wir wieder auf unser Eingangsbeispiel und beobachten wir die Pfleger bei ihrer brutalen Unterdrückung des Patienten! Könnte es nicht sein, dass wir die Sache falsch anpacken, wenn wir bei solcher Demütigung eines armen Menschen die Frage der Verletzung seiner Würde, wie es üblich ist, absolut und direkt zu beantworten suchen, etwa in Anwendung der ObjektSubjekt-Formel? Dies ist es ja, was Dreier ins Dilemma führt und ihn an der Lösbarkeit des Problems zweifeln lässt: Auch wenn die Pfleger so handeln müssen, stellen sie doch „jene Objektsituation“ her, die uns gerade als „Kenn-

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zeichen menschenwürdeverletzender Vorgänge gilt“. Die Konsequenz wäre der in sich widersprüchliche Befund, dass die Pfleger u. U. durch ein unbedingt zu gestattendes und tatsächlich gesetzlich erlaubtes Handeln gegen Art. 1 GG verstoßen. Aber dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man, wie ich es für richtig halte, die Annahme einer Würdeverletzung strikt und ausnahmslos an die Voraussetzung bindet, dass das fragliche Handeln rechtswidrig ist. Oder umgekehrt: Wenn die Zwangsanwendung oder gar die Tötung nach Gesetz und Recht erlaubt oder geboten ist, dann verletzt sie keinesfalls den Anspruch auf Achtung der Menschenwürde.17 Die Rechtswidrigkeit der zu beurteilenden Tat ist das Kriterium der Menschenwürdeantastung.18 Das gilt auch für Tötungen. Darum stimmt Dreiers Feststellung: „Auch eine Tötung in Notwehr oder der polizeiliche Todesschuß (‚finaler Rettungsschuss‘) zur Rettung einer Geisel wird zu Recht nicht als Verletzung der Menschenwürde […] betrachtet“. Und ebenso ist es an sich richtig zu sagen: „Menschenwürdegarantie und Lebensschutz sind daher zu entkoppeln. Entkoppelung bedeutet dabei nicht, dass eine Tötungshandlung nicht eine Menschenwürdeverletzung implizieren könnte; sie stellt aber eben nicht zwingend und automatisch eine solche Verletzung dar.“ „Dafür müssen besondere Umstände hinzutreten.“19 Und welche besonderen Umstände sind das? Darauf gibt Dreier keine Antwort. Aber sie ist recht einfach: Eine vorsätzliche, den Lebenswillen missachtende Tötung ist immer dann auch eine Menschenwürdeverletzung, wenn der Täter sie rechtswidrig begeht. Dieses Kriterium ändert zwar an der Abwägungsnotwendigkeit in der Sache nicht das Geringste. Schon die gesetzliche Gestattung selbst und ihre Eingrenzung beruhen auf der vom Gesetzgeber selbst vorgenommenen Grobabwägung. Und auf dieser Grundlage bleibt abzuwägen, ob die Voraussetzungen der Befugnis (z. B. „Gefahr“, „erforderlich“ oder „geboten“) als erfüllt betrachtet werden dürfen. Aber die Abwägung ist ins Vorfeld verlegt und aus Art. 1 GG herausgehalten. Solange die Rechtswidrigkeitsfrage noch offen ist, wäre es selbst bei einem brutalen Unterdrückungsakt wie Fesselung, Schlagstockeinsatz oder Tötung voreilig, schon von Würdeverletzung zu sprechen. Diese hängt davon ab, dass keine Rechtsbefugnis die Zwangshandlung deckt. So gesehen ___________ 17 Im Kern richtig erfasst von Lübbe, in: Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt?, 2006, S. 67, 74: „Eine Würdeverletzung […], die zu Recht geschieht, kann es nicht geben. Was zu Recht geschieht, das verstößt nicht gegen die Menschenwürde.“ 18 Nicht das einzige! Nicht jede rechtswidrige Tat, auch wenn sie ein individuelles Schutzgut betrifft, berührt die Menschenwürde, z.B. nicht der Diebstahl (§ 242 StGB) und m. E. auch nicht die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB). Ferner werden bloß fahrlässige Rechtsbrüche (schuldhaftes Verursachen einer schweren Verletzung im Straßenverkehr) normalerweise ausscheiden. Aber die dies entscheidenden Kriterien mache ich nicht zu meinem Thema. 19 Dreier (Fn. 1), Art. 1 Rn. 68, 67, Fn. 204.

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stimmt die These von der Abwägungsfestigkeit. Ist in Anwendung des Kriteriums festgestellt, dass ein demütigender Akt eine Menschenwürdeverletzung war, dann kann man ihn nicht mehr für erlaubt befinden. Das Kriterium ist auch keineswegs ein rein formales, es hat mit Bezug auf die Würde des Menschen einen guten Sinn. Denn der Entwürdigung ist nach aller Empfinden ein Moment der Ungerechtigkeit eigentümlich. Man tritt niemandes Würde zu nahe, wenn man ihm nur antut, was er nach Gesetz und Recht zu ertragen hat. Das polizeiliche Festnehmen, Anlegen von Handschellen, Durchsuchen und Abführen ist dann entwürdigend, wenn es auf Willkür und Schikane beruht. Aber es ist ein gut vertretbares Begriffsverständnis, dieselbe Zwangsbehandlung als nicht entwürdigend anzusehen, wenn die StPO die Maßnahmen legitimiert. Natürlich ist es menschlich, sich auch über legitime Eingriffe in die eigene Intimsphäre zu empören und sie „entwürdigend“ zu nennen. Aber abgesehen davon, dass hier die Befangenheit des Urteils dessen indizielles Gewicht vermindert, bleibt mein Argument prinzipiell gültig. Denn der Empörte wäre erst recht empört und sähe sich noch stärker entwürdigt, wenn der demütigende Eingriff ihm nun auch noch ein Unrecht angetan hätte. Es bedarf noch des weiteren Gedankenaustausches, aber mir scheint, dass Friedrich E. Schnapp nur sein Verständnis des Art. 1 GG für Würdeantastungen auch geringeren Gewichtes öffnen müsste, um mein Kriterium in seine Skizze einbauen zu können. Er spricht von einem „Kontinuum, bei dem an irgendeinem Punkt die Dezision fällt, dass hier die Grenze erreicht ist“, und fordert, „diese Entscheidung durch Vernunftgründe zu stützen“. Nehmen wir die Kontinuen sich steigernder Zudringlichkeiten im privaten Kontakt oder sich verschärfender Vernehmungen eines Beschuldigten! Es sind die „Persönlichkeitsrechte“ des Bedrängten, die Wache stehen und die bewusst zu verletzen menschenwürdewidrig ist. „Dass hier die Grenze erreicht ist“, muss in der Tat für einen bestimmten Punkt angenommen werden, aber man kann auch genau sagen, wo der Punkt liegt: dort, wo die Bedrängung die Grenze zum Unrecht überschreitet, z. B. als körperliche Misshandlung (§ 223 StGB), als Beleidigung (§ 185 StGB), als sexueller Missbrauch (§§ 174 ff. StGB), als Verstoß gegen § 136a StPO. Natürlich kann man in manchen Fällen streiten, ob die Grenze überschritten ist; dann muss man wertend entscheiden, ob alle Unrechtsvoraussetzungen erfüllt sind, und so gesehen hat Schnapp recht, von der Notwendigkeit einer „Entscheidung“ zu sprechen. Aber die Entscheidung ist nicht aus einem vagen Würdegefühl heraus zu fällen, sondern im Rahmen der fallbezogenen Auslegung gesetzlicher Merkmale: War die derbe Berührung schon ein „sexueller Missbrauch“, diente die kränkend-herabsetzende Äußerung der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ (§ 193 StGB), war die zur Angriffsabwendung erforderliche Tötung durch Notwehr „geboten“ (§ 32 StGB)?

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Auf diesem Wege ist auch im Fall Daschner unsere Frage zu beantworten. Nach meiner Sicht war die Nötigung des Beschuldigten noch keine „Folter“ (die nach völkerrechtlichen Konventionen von Gesetzesrang absolut verboten wäre), sondern Willensbeugung durch ein nach § 136a Abs. 1 S. 1, 3 StPO prinzipiell unzulässiges, hier aber aus Gründen der Nothilfe (§ 32 StGB) ausnahmsweise gerechtfertigtes Mittel.20 Das ist eine knappe Entscheidung. Vertretbar ist auch die entgegengesetzte, also dass die Bedrohung Gäfgens rechtswidrig war, sei es als Verstoß gegen die UN-Antifolterkonvention (Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 2) oder gegen § 136a Abs. 1 StPO. Aber so oder so, man würde auf meinem Wege allemal Schnapps Forderung erfüllen, seine „Entscheidung durch Vernunftgründe zu stützen“ und „nach gemeinsamen Anschauungen der Jetztzeit zu suchen“. Denn was könnte Juristen für die Antwort auf die Frage der Würdeverletzung einen besseren Vernunftgrund liefern und die Anschauung der Jetztzeit fester verbürgen, als was Gesetz und Recht anordnen, ob sie die demütigende Willensbeugung verbieten oder ob sie sie erlauben? Für den „Daschner-Vorgang“ komme ich also im Ergebnis mit Schnapp überein: Er war „keiner, bei dem die Würde des Angeklagten verletzt worden ist“. Aber ich begründe dies nicht damit, dass das, was Gäfgen angetan wurde, zu unbedeutend war, Art. 1 GG schon ins Blickfeld zu bringen, sondern mit der Rechtmäßigkeit der Willensbeugung. Wer sie in Anwendung der entscheidenden Vorschriften für rechtswidrig befindet, muss auch Gäfgens Menschenwürde verletzt sehen. Im brieflichen Austausch hat Ralf Poscher meine Lösung verworfen, weil „schon der Vorrang der Verfassung“ einer Konzeption widerspreche, die den Verstoß gegen Art. 1 GG von der „einfach-rechtlichen Rechtswidrigkeit abhängig“ mache. Daran ist richtig, dass auch gesetzliche Verbote an der Verfassung zu messen sind. Würde etwa der Gesetzgeber, von allen guten Geistern verlassen, Schönheitsoperationen generell verbieten, dann wäre das mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, und man könnte einen operativen Eingriff nicht deshalb als menschenwürdewidrig verwerfen, weil er gegen dieses Verbot verstieße. Aber bei „vernünftigen“ Verboten und Gestattungen, die im Spielraum der einfachen Gesetzgebung liegen, scheint mir die Abhängigkeit, an der Poscher sich stößt, unbestreitbar. Wenn jede Handlung, die die Menschenwürde antastet, ein Unrecht ist, dann kann rechtmäßiges Handeln nicht gegen Art. 1 GG verstoßen. Die Rechtswidrigkeit des Handelns ist also notwendige Bedingung eines solchen Verstoßes. Ist ein Handeln gerechtfertigt, was selbstverständlich auch voraussetzt, dass die es gestattende Regelung, z. B. § 32 StGB, mit dem Grundgesetz vereinbar ist (dazu sogleich unter IV), dann kann dieses Handeln keine Menschenwürdeverletzung sein, denn als solche wäre es ja ein Unrecht. ___________ 20

Ausführlich begründet habe ich das in JZ 2005, 321 ff.

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Man kann sich das gut klarmachen am Beispiel der Tötung des nasciturus. Jedenfalls als abstrakte These überwiegt die Lehre, dass auch er schon „Menschenwürde“ habe.21 Verletzen kann man den aus der Menschenwürde folgenden Achtungsanspruch des nasciturus schlechterdings nur durch körperliche Misshandlung und durch Tötung. Diese ist nach der gültigen, den Anforderungen des BVerfG genügenden, also verfassungsgemäßen Regelung des § 218a Abs. 1, 2, 3 StGB in manchen Fällen erlaubt (die m. E. unhaltbare Annahme, die nach Abs. 1 straffreien Tötungen seien rechtswidrig, lasse ich beiseite). Weil es nach der gesetzten Prämisse eine erlaubte Antastung nicht gibt, ist genau an dieser Bestimmung abzulesen, wann eine Tötung des nasciturus seine Menschenwürde nicht antastet. Der Verstoß gegen Art. 1 GG ist „von der einfach-rechtlichen Rechtswidrigkeit abhängig“. Mit dem „Vorrang der Verfassung“ hat das alles nichts zu tun. Es geht um die verfassungsrechtliche Frage nach der Menschenwürdeverletzung. Die Antwort verlangt die Auslegung des Art. 1 GG. Diese Auslegung muss „systematisch“ sein, d.h. Widersprüche vermeiden. Das gelingt aber nur, wenn man entscheidend sein lässt, ob die Rechtsordnung im Ganzen, das GG natürlich eingeschlossen, den fraglichen Eingriff zum Unrecht stempelt oder erlaubt. Damit wird nicht etwa eine Verfassungsnorm zugunsten unterverfassungsrechtlicher Normen missachtet oder zurückgesetzt, sondern es wird beides miteinander in Einklang gebracht. Allerdings erweist sich das Menschenwürdegrundrecht als geprägt von einfachrechtlichen Verboten und Erlaubnissen,22 die auf Abwägung beruhen und im Rahmen ihrer Interpretation weitere Abwägung notwendig machen. Der fromme Wunsch, es möchte sich doch wenigstens bei diesem einen Grundrecht anders verhalten, kann da nichts bewirken. Mir scheint es, frei heraus gesagt, geradezu abwegig, zu glauben, dass irgendein Verfassungswert auch in der Sache der Abwägung entzogen sein könne. Wenn die Rechtsordnung selbst das Leben des Menschen in Kollisionsfällen gegen andere Güter abwägen und manchmal zurücksetzen muss, wie sollte es dann bei der Würde anders sein? An ihr liegt doch den meisten bei aller Wichtignahme weniger als am Leben. Man kann dem Dogma der Unabwägbarkeit am Ende nur definitorisch gehorchen: Die Würde wird so definiert, dass sie dort gar nicht betroffen ist, wo ihr zwar der Sache nach ein Opfer abverlangt, sprich: ein Mensch unterdrückt, gekränkt, gedemütigt wird, dies aber sein muss und erlaubterweise geschieht. ___________ 21

Vgl. nur BVerfGE 39, 1 (41): „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“; Höfling (Fn. 3), Art. 1 Rn. 60: „Auch im pränatalen Stadium […] ist der Mensch Grundrechtssubjekt und Träger der Menschenwürde.“ 22 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 23. Aufl. 2007, Rn. 5, sprechen – ohne Bezug auf Art. 1 GG – von „rechts- oder normgeprägten Grundrechten“.

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Es kommt vor, dass jemand im wissenschaftlichen Gespräch diese Sprachregelung einmal aus dem Blick verliert. Vielleicht versehentlich betrachtet er dann eine im Güterkonflikt erlaubte Zwangsmaßnahme nicht nur als rechtmäßige Vernichtung, Erniedrigung, Unterdrückung, Demütigung usw., sondern auch als rechtmäßige Antastung der Menschenwürde des Bezwungenen. Relativ häufig begegnet uns das in Gestalt der These, man dürfe ausnahmsweise die Würde eines Menschen beeinträchtigen, wenn nur so die Würde und das Leben eines anderen zu schützen seien; z. B. durch das „Abknallen“ eines Verbrechers, um seine Geisel aus äußerster Gefahr zu erretten. Die These ist unnötig, denn man hätte der Sprachregelung gemäß sagen können, die Vernichtung eines Würdeträgers sei, wenn legitim, eben keine Antastung seiner Menschenwürde. Aber mehr als einen diplomatisch-sprachlichen Lapsus hat sich der Verfechter der These nicht zuschulden kommen lassen – wenn man es überhaupt als Lapsus ansehen will, dass jemand die Dinge bei einem genauso gut passenden anderen Namen nennt. Darum ist es töricht oder niederträchtig, über ihn herzufallen mit dem Vorwurf, er relativiere den Schutz der Menschenwürde und missachte so das „heiligste Gut“ unserer Verfassung. Es ist schauerlich zu sehen, wie so ein Unfug in unserer Mediengesellschaft tatsächlich hochkocht und einen bedeutenden und integren Rechtswissenschaftler vom verdienten Amte fernhält.

IV. Menschenwürdewidrige Gesetzgebung? „Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.“ Das ist der dritte Leitsatz des Urteils, welches der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am 15. 2. 2006 gesprochen hat.23 Allgemeiner gesagt ging es also um diesen Fall: Der Gesetzgeber hat eine Tötungsbefugnis geschaffen. Sie erschien zunächst als Legitimation eines Eingriffs in das „Recht auf Leben“, das nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich „jeder hat“ und worein nach Satz 3 „nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ darf. Das BVerfG hat aber die Legitimation in beschränktem Umfang als unvereinbar mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Pflichten bewertet und deshalb für nichtig erklärt.24 ___________ 23

BVerfGE 115, 118. In der Entscheidungsformel heißt es, § 14 Abs. 3 LuftSiG sei mit verschiedenen Artikeln des Grundgesetzes „unvereinbar und nichtig“. 24

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Das scheint meiner Sicht zu widersprechen. Denn die Menschenwürdewidrigkeit, die das BVerfG behauptet, kann ja nicht aus einer einfachgesetzlichen Rechtswidrigkeit folgen. Der Senat stellt sie vielmehr als das Primäre und absolut Gegebene hin und folgert aus ihr gerade umgekehrt, was es mit der einfachgesetzlichen Befugnis auf sich hat. Er sagt: Die vorsätzliche Tötung bestimmter Personen an Bord des Flugzeugs ist, ungeachtet der Gestattung in § 14 Abs. 3 LuftSiG, in jedem Fall eine Verletzung ihrer Menschenwürde, und darum ist auch die gesetzliche Gestattung selbst unvereinbar mit Art. 1 GG. Aber hier muss man genauer hinsehen. Machen wir uns die Sache zunächst an einem harmloseren Fall und an einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis klar, die der Bürger, anders als die Abschusserlaubnis im LuftSiG, seit jeher gelassen hingenommen hat. Ein Kunde im SB-Laden beobachtet eine Frau und gewinnt die Überzeugung, sie bei einem Diebstahl auf frischer Tat zu betreffen. Als er sie anspricht, entfernt sie sich schnellen Schrittes. Daraufhin nimmt er sie, ihren Widerstand mit Körperkraft überwindend, „vorläufig fest“, unter dem Beifall zorniger Augenzeugen. Angesichts der naheliegenden Möglichkeit, dass der Täter im Recht war (§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO)25, wird sich die h. L. hüten, hier auch nur eine „Antastung“ der Menschenwürde ohne weiteres zu bejahen. Denn nach dem Dogma der Abwägungsfestigkeit kann eine Antastung niemals erlaubt sein, auch nicht ausnahmsweise, im Hinblick auf überwiegende Interessen. Von diesem Standpunkt aus muss man es vielmehr so sehen: Nur wenn der Täter rechtswidrig, d.h. außerhalb der genannten StPO-Befugnis, gehandelt hat, war die gewaltsame und demütigende Freiheitsberaubung zugleich eine Missachtung der Würde des Opfers. Sind hingegen die Voraussetzungen des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO erfüllt, dann ist, was das Grundrecht „Freiheit der Person“ betrifft, der Eingriff in das Recht zwar gegeben, aber legitimiert (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG), während hinsichtlich des Menschenwürdegrundrechts schon gar kein Eingriff, ja nicht einmal eine „Antastung“ angenommen werden darf. Diese Verneinung hängt also von der Befugnis ab. Das Potential, die Menschenwürde zu beeinträchtigen, hat die Festnahme durchaus. Wäre das Festnahmerecht Amtsträgern vorbehalten und dem „jedermann“ nicht eingeräumt, so geschähe der Frau, selbst wenn wirklich auf frischer Tat ertappt, mit dem, was der Kunde ihr antut, ein Unrecht, und es wäre eine Missachtung ihrer Würde. Diese Wertung liegt gleichsam in der Luft. Sie wird nur hintangehalten durch die z. Z. geltende Jedermannsbefugnis des § 127 Abs. 1 StPO. Mit deren Aufhebung träte die Wertung in Kraft. Aber der Gesetzgeber hat Spielraum. Von Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz kann bei dieser Eingriffsbefugnis keine Rede sein. ___________ 25 Entweder weil die „frische Tat“ tatsächlich oder weil sie scheinbar vorlag und der Kunde ohne Sorgfaltspflichtverletzung vom Vorliegen ausging.

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Für die Abschießerlaubnis des § 14 Abs. 3 LuftSiG sieht das BVerfG es anders: sie sei mit dem Grundgesetz „unvereinbar und nichtig“. Zwar lässt das Urteil offen, „wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären“. Aber es stellt gleich darauf fest, „dass der Gesetzgeber nicht durch Schaffung einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis zu Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG geregelten Art gegenüber unbeteiligten, unschuldigen Menschen ermächtigen“, sie nicht „erlauben darf. Sie sind […] mit dem Recht auf Leben und der Verpflichtung des Staates zur Achtung und zum Schutz der menschlichen Würde nicht zu vereinbaren“.26 Wenn „der Gesetzgeber“ die Tötung der unbeteiligten Menschen im Flugzeug durch dessen Abschuss „nicht erlauben darf“, dann ist damit gesagt, dass kein Gesetz die gültige Erlaubnis solchen Tötens liefern kann. Auch etwa die §§ 32, 34 StGB müssen spätestens seit dem Spruch des BVerfG in diesem Sinn interpretiert werden. Ich lege dem Folgenden darum die Annahme zugrunde, dass die „Maßnahme“, die das Urteil für verfassungswidrig erklärt, nämlich Unbeteiligte im Flugzeug durch Abschuss vorsätzlich zu töten, auch rechtswidrige Tötung wäre.27 Für die Frage des Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich daraus, dass im Ergebnis dem BVerfG zuzustimmen ist: Die Tötung der unschuldigen Insassen verletzt ggf. deren Menschenwürde, denn es kämen Vorsatz, Missachtung des Lebenswillens und Rechtswidrigkeit der Tötung zusammen. Aber diese, man könnte sagen: sekundäre Feststellung und akzessorische Begründung ist natürlich nicht der Sinn des Urteils. Es will nicht vom Fehlen einer gesetzlichen Tötungserlaubnis (die angesichts der Gestattung im Luftsicherheitsgesetz gerade fraglich ist) auf die Würdeverletzung schließen, sondern umgekehrt von dieser auf die Unerlaubbarkeit. ___________ 26

BVerfGE 115, 157. Hörnle, Festschrift f. Herzberg, 2008, S. 570, kommt dagegen zu dem Ergebnis, dass der Abschuss und die Tötung auch der unbeteiligten Personen im Flugzeug nach § 34 StGB „gerechtfertigt“ wäre. Ihre rechtsphilosophisch angelegte Begründung geht freilich nicht ein auf die rechtsgestaltende Wirkung des Urteils. Ähnlich Spendel, Recht und Politik, 2006, 131 ff., 134 (als „das kleinere Übel“ und „Notstandstat“ sei „die Aufopferung der unrettbar verlorenen Menschen […] strafrechtlich zu rechtfertigen“). – Isenseee, in: Festschrift f. Jakobs, 2007, S. 205, 232 deutet die Bemerkung zur strafrechtlichen Beurteilung als „Wink mit dem Zaunpfahl“. Er sieht sich bestätigt vom Berichterstatter des Verfahrens, Dieter Hömig, der nach dem Ausscheiden aus dem Amt erklärt habe: Seine Hoffnung sei gewesen, „daß es im Letzten ein verantwortlicher Amtsträger auf sich nehmen werde, das Notwendige zu vollziehen und als Person die Last eines Rechtsverstoßes auf sich zu laden“. Ein „Rechtsverstoß“ kann m.E. keine nach § 34 StGB „gerechtfertigte“ Tat sein. Vgl. aber auch Isensees Fußnote 45 (S. 216 f.) zur Frage, „ob die grundrechtlichen Passagen des Urteils tragende Gründe sind, welche die Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG erzeugen“, was der Autor verneint. 27

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Darum die wohlbekannte, stereotype Begründung, die auf Immanuel Kants zweiten kategorischen Imperativ zurückgreift, d.h. auf das Gebot, so zu handeln, „daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“.28 Im Urteil begegnet uns diese Maxime als Begründung, weshalb der Staat durch das Abschießen „unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben“ eingriffe. Passagiere und Besatzung wären „bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer“. „Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den […] Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der den Menschen um seiner selbst willen zukommt.“29 Nicht als Subjekte missachtet und darum rechtens abgeschossen würden dagegen die Täter des terroristischen Angriffs. „Es entspricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen Würde nicht beeinträchtigt.“30 Dies Letztere ist verräterisch. Ich behaupte, dass sich hier dem scharf Blikkenden die Unschlüssigkeit der Begründung offenbart. Das Gericht muss von seinem Ansatz her erklären, dass und warum die notwehrhafte Tötung der mit dem Flugzeug angreifenden Terroristen keine Missachtung ihrer Subjektstellung wäre. Es beruft sich darauf, dass die Terroristen durch den tödlichen Abschuss nicht „verdinglicht und entrechtlicht“, sondern „im Gegenteil“ als Personen und Subjekte anerkannt würden, weil die Tötung sie für „die Folgen […] selbstbestimmten Verhaltens […] in Verantwortung“ nähme. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass eine gezielte Tötung, die mit solcher Anerkennung von Autonomie und Verantwortung nicht verbunden wäre, das Opfer vielmehr zum bloßen Objekt einer Maßnahme machen würde, allemal als Missachtung der Menschenwürde und darum zwangsläufig, selbst wenn gesetzlich gestattet, als Unrecht anzusehen sei. ___________ 28

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VII, 61. Dazu Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Teil, § 62: Dieser „von allen Kantianern so unermüdlich nachgesprochene Satz […] ist zwar ein bedeutend klingender und daher für alle die, welche gern eine Formel haben mögen, die sie alles fernern Denkens überhebt, überaus geeigneter Satz; aber beim Lichte betrachtet ist es ein höchst vager, unbestimmter […] Ausspruch […] ungenügend, wenigsagend und noch dazu problematisch“. 29 BVerfGE 115, 152, 154. 30 BVerfGE 115, 161.

Zum Verpflichtungsgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG

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Dieses Verständnis des Art. 1 GG steht im Widerspruch zu unbestreitbaren Notrechten. Kann der geisteskranke, für nichts verantwortliche Amokläufer nur durch Erschießung unschädlich gemacht werden, dann ist diese Rettungstat rechtmäßig. Die Polizistin, die sie in Kenntnis der Schuldunfähigkeit vollbringt, kann gar keinen Verantwortlichen als Subjekt haftbar machen, sie muss den Amokläufer für den Rest seines Lebens als bloßes Objekt behandeln. Aber auch wenn Verantwortlichkeit und selbstbestimmtes Verhalten vorlägen, würde sich der „Geist“ eines solchen „finalen Rettungsschusses“ nicht in den Worten ausdrücken: Damit ich deine Würde nicht antaste, ehre ich dich als Vernünftigen, betrachte dich nicht als bloßes Objekt, sondern als Subjekt, als personalen Träger von Rechten und Pflichten und anerkenne deine Eigenverantwortung dafür, dass ich dich jetzt totschieße. So zu reden wäre zynisch oder lächerlich. Nein, der Amokläufer, ob verantwortlich oder nicht, wird reinweg als Gefahrenquelle behandelt, als Objekt einer Maßnahme der Gefahrenabwehr, nicht anders als ein ausgebrochenes Raubtier, das Menschen angreift. Man mag also die Dinge so hinstellen, wie das BVerfG es tut, nämlich dass die Unschuldigen im Flugzeug „verdinglicht und entrechtlicht“, als „Subjekte missachtet“ würden; dass der Eingriff gegen Art. 1 GG verstoße und deshalb trotz einfachgesetzlicher Rechtfertigung ein Unrecht sei, lässt sich so nicht begründen. Merkel hält dies gleichfalls dem BVerfG entgegen, und zwar anhand des Beispiels einer nach § 34 StGB erlaubten Nötigung. Man frage sich, warum das Gericht „die ohnehin kaum brauchbare Objekt-Formel bemüht, und wenn schon, warum auf eine so unschlüssige Weise“. (Darauf die Antwort: weil es eine schlüssige nicht gibt und die Objektformel nicht kaum brauchbar, sondern unbrauchbar ist.) „Jede im Notstand einem Anderen aufgezwungene Handlung macht den Genötigten ‚ausschließlich zum Mittelǥ für fremde Zwecke. Wer einen widerstrebenden Autofahrer mit vorgehaltener Pistole nötigt, ein schwer verletztes Kind zur Lebensrettung in die Klinik zu fahren, ‚benützt‘ den Autofahrer genau in diesem Sinn. Er ist aber nach § 34 StGB gerechtfertigt. Soll das Dulden dieser Rechtfertigung durch den Staat angesichts seiner in Art. 1 Abs. 1 unzweideutig betonten Schutzpflicht als Menschenwürdeverletzung gelten?“31 Aus Art. 1 GG kann man also nichts ableiten, weder die Rechtswidrigkeit der Tötung durch Abschuss noch die Nichtigkeit der fraglichen Vorschrift im LuftSiG. Das BVerfG behauptet die Menschenwürdeverletzung mit unhaltbarer Begründung. Einen Menschen als bloßes „Objekt“ zu behandeln oder als bloßes „Mittel“ zu gebrauchen ist manchmal rechtmäßig und dann auch kein Verstoß gegen Art. 1 GG. Trotzdem ist der Spruch unseres höchsten Gerichtes: mit dem ___________ 31

JZ 2007, 380 (z. T. Fn. 40). Vgl. auch Isensee, Festschrift f. Jakobs, 2007, S. 227: „In dieser Sichtweise läßt sich jede hoheitliche Inanspruchnahme Einzelner für die Allgemeinheit, jedwedes Sonderopfer als Verdinglichung der Person, als Ausschluß aus der Rechtsgemeinschaft denunzieren.“

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Grundgesetz „unvereinbar und nichtig“, mit guten Gründen vertretbar, und diese Gründe sind es auch, worauf sich das Urteil in Wahrheit stützt. Betrachtet man seine Argumente und Wertungen im Ganzen, dann ist klar, dass es ihm darum geht, dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem „Recht auf Leben“, das angemessene Gewicht zu geben und in umfassender Abwägung zu begründen, dass die Not, die in der beschriebenen Situation zur Tötung auch der unschuldigen Insassen drängt, nicht genügt, die Eingriffserlaubnis des § 14 Abs. 3 LuftSiG zu rechtfertigen. Merkel tritt dem mit einer viel klareren, aufs Prinzipielle gestützten Begründung bei. „Sedes materiae“ sei, wo es ums Töten gehe, nicht das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“, sondern das des „defensiven Notstandes“, welches ein Töten nur legitimiere, wenn auf Seiten des Eingriffsadressaten „Verantwortlichkeit oder wenigstens Zuständigkeit für eine Gefahrenquelle“ gegeben sei.32 Dies sei auch für die Unschuldigen im Flugzeug durchaus in Betracht zu ziehen, aber alles recht erwogen müsse man es am Ende verneinen. „Nach allgemeinen Prinzipien rechtlicher Zurechnung ist es daher nicht akzeptabel, die Passagiere für den Ursprung oder den tödlichen Umfang der Gefahr, mit deren Quelle sie physisch verbunden sind, zuständig zu machen und sie für deren Beseitigung mit dem Leben bezahlen zu lassen. Genau deshalb verstößt eine gesetzliche Abschusserlaubnis gegen die Verfassung“, eine „Diagnose“, für die „Art. 2 Abs. 2 GG genügt […] Art. 1 Abs. 1 GG ist allenfalls deshalb betroffen, weil den Getöteten ihr Recht auf Leben entzogen […] wird“.33 Dies Letzte deute ich in meinem Sinn der akzessorischen Feststellung. Die gesetzliche Abschusserlaubnis ist nach der sachlich vertretbaren und rechtsgestaltenden Entscheidung des BVerfG mit Art. 2 Abs. 2 GG unvereinbar und darum eine verfassungs- und rechtswidrige Missachtung dieses Rechtes. Weil aber jede rechtswidrige Missachtung des Lebensrechtes von Menschen, die leben wollen, ihre Würde antastet, darum ist die Abschusserlaubnis auch mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Ich will damit nicht sagen, dass die Menschwürdewidrigkeit einer gesetzlichen Eingriffsgestattung immer nur als akzessorische Feststellung in Betracht kommt, in Gefolge gleichsam eines Verstoßes gegen ein handfesteres Grundrecht. Das Demütigende, Peinliche, Blamierende einer hoheitlichen Maßnahme kann so sehr im Vordergrund stehen, dass die gesetzliche Gestattung, wenn sie wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot vor dem Grundgesetz nicht bestehen kann, direkt und primär unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde für verfassungswidrig zu befinden ist. Z. B. wenn ein Gesetz den Gerichten erlauben würde, verurteilte Straftäter zur Abschreckung im Internet bloßzustellen. ___________ 32 33

JZ 2007, 384. JZ 2007, 383 (z. T. Fn. 65).

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Nicht nur wäre diese Vorschrift mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig, auch die konkret auf sie gestützte Maßnahme wäre ein Verstoß gegen das Verbot der Menschenwürdeantastung. Unser Kriterium stellt also auf eine einfachgesetzliche Gestattung ab, die gültig ist. Aufgezeigt am Beispiel der körperlichen Durchsuchung eines Gefangenen: Sie verletzt die Menschenwürde, wenn sie rechtswidrig vorgenommen wird. Bei rechtmäßiger Durchführung dagegen tastet sie die Menschenwürde nicht an. Die Rechtmäßigkeit hängt davon ab, dass erstens die Durchsuchung so, wie sie konkret vollzogen wird, den Rahmen des § 84 Abs. 2 StVollzG einhält und zweitens diese Vorschrift gültig, d. h. mit dem GG – auch mit dessen erstem Artikel! – vereinbar ist. Freilich ist die Vereinbarkeit einer gesetzlichen Gestattung mit dem GG in unserem Rechtsstaat so gut wie immer gegeben, weshalb ich diese Voraussetzung unter III nur gestreift habe.

V. Der Jubilar hat wohl recht, wenn er meint, die Menschenwürde sei „kein abstrakt-allgemeiner Begriff, der sich im Sinne der Logik definieren ließe“, denn er habe „keine Gattung über sich“. Aber etwas einer Definition Ähnliches hat sich mir denn doch so unter der Hand ergeben. Die Menschenwürde tastet an, wer vorsätzlich, rechtswidrig und gegen den Willen des Betroffenen in ein Persönlichkeitsrecht eingreift. Demgemäß ist die Menschenwürde das, was verletzt wird durch einen vorsätzlich-rechtswidrigen und gegen den Willen des Betroffenen vorgenommenen Eingriff in ein Persönlichkeitsrecht. Ich weiß, das ist allzu nüchtern-juristisch gedacht. Es passt nicht zur üblichen Kennzeichnung durch Taten abscheulicher Menschenverachtung und zum FeierlichBekenntnishaften des ersten Artikels. Aber ich habe dafür keinen rechten Sinn, auch nicht in einer Festschrift. „Suche nicht weiter“, rät Fontane, „man bringt es nicht weit, bei fehlendem Sinn für Feierlichkeit“. Mit dem Jubilar verbindet mich kein gemeinsames Fach, aber eine lange, niemals getrübte Zusammenarbeit an der Ruhr-Universität und, schöner noch, die fürsorgende Liebe zur deutschen Muttersprache. Wenn also mein Beitrag dem Sprachästheten Friedrich E. Schnapp kein Missbehagen schafft und sein Urteil die Sorgfalt anerkennt, die ich habe walten lassen, so will ich es schon zufrieden sein.

Verfassung und Verteidigung Zur sicherheitsbezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Von Knut Ipsen, Bochum Friedrich E. Schnapp hat in einer seiner vielen eindrucksvollen Abhandlungen über die Toleranzidee unserer Verfassung nachgedacht.1 Wer mit ihm seit über drei Jahrzehnten derselben Fakultät angehört, der weiß, dass Toleranz für ihn nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Aufbereitung, sondern Lebensprinzip ist. Dabei ist Toleranz für ihn – so darf geurteilt werden – nicht die bequeme Hinnahme der von der eigenen abweichenden Position, sondern seine immer wieder festzustellende Bereitschaft, die eigene Position mit jeder neuen gewichtigen Herausforderung zu konfrontieren. Diese ständige Offenheit gegenüber dem geistigen Wettbewerb war gewiss die Basis dafür, dass er als Inhaber des schwerpunktmäßig auf das Sozialrecht ausgewiesenen öffentlichrechtlichen Lehrstuhls und als langjähriger Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialrecht der Ruhr-Universität ihre Juristische Fakultät entscheidend geprägt hat. Die reiche sozialgerichtliche Rechtsprechung – verbunden mit seiner Neigung zur grundsätzlichen Auseinandersetzung – brachte es mit sich, dass sein Werk vielfach grundlagenorientierte Kritik dieser Rechtsprechung aufweist. Deshalb seien ihm im Folgenden in freundschaftlicher Verbundenheit einige Gedanken zu einem Bereich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewidmet, der Kritik herausgefordert hat und noch herausfordert. Wenn im jüngeren Schrifttum nach der Notwendigkeit einer neuen Wehrverfassung gefragt wird2 und Glaubwürdigkeitsdefizite der geltenden Wehrverfassung erörtert werden,3 dann ist das aktuell auslösende Moment nicht zuletzt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz gewesen4. Selbst bei Berücksichtigung des Umstands, dass dieses auf eine Verfas___________ 1

Friedrich E. Schnapp, Toleranzidee und Grundgesetz, in: JZ 1985, S. 857. Manfred Baldus, Braucht Deutschland eine neue Wehrverfassung? in: NZWehrr 2007, S. 133, insbes. S. 134. 3 Christof Gramm, Glaubwürdigkeitsdefizite der Wehrverfassung, in: NZWehrr 2007, S. 221, insbes. S. 222 ff. 4 BVerfGE 115, 118. 2

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sungsbeschwerde hin ergangene Urteil dem Gericht vom Verfahren her Grenzen hinsichtlich der materiellen Erörterung setzte, hätte erwartet werden dürfen, dass die in den Problemkreis zwangsläufig eingeschlossene Verteidigungsaufgabe des Staates auch gegen äußere Angriffe mehr als zwei indirekte Hinweise wert gewesen wäre. Dieses Defizit (des Urteils, nicht der Wehrverfassung) veranlasst wiederum zu der Frage, ob die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wehrverfassung, der mehrfach die Chance einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Verteidigungsrecht des Staates gegeben war, nicht doch etwas „organisationslastig“ geblieben ist, da sie sich überwiegend mit Verfassungsproblemen der Bundesrepublik im multilateralen Verbund zu befassen hatte, weshalb eine Auseinandersetzung mit dem naturgegebenen Recht der individuellen oder kollektiven Verteidigung , dem „inherent right“ im Sinne des Art. 51 VN-Satzung, aus dem Interessenfeld verdrängt worden ist. So ist unverkennbar, das das Bundesverfassungsgericht, selbstverständlich bedingt durch Anträge, Beteiligte und Verfahrensart, in einer Sequenz von Entscheidungen zur Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Organisation des Nordatlantikvertrags, der NATO, judiziert hat, wobei die Tendenz dieser Entscheidungen, gemessen am völkerrechtlichen Inhalt des Nordatlantikvertrags, zum Teil durchaus gewagt gewesen ist.

I. Die Zeit- und Politikgebundenheit der Rechtsprechung zur NATO Die erste Chance, sich grundlegend mit den für die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland einschlägigen Vorschriften des Grundgesetzes auseinanderzusetzen, erhielt das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem sogenannten „Doppelbeschluss“ der NATO, mit dem die Außen- und Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten des Bündnisses der Stationierung nuklearer Mittelstrecken-Flugkörper durch die USA auf dem Hoheitsgebiet einzelner Bündnispartner in Europa zustimmten und zugleich beschlossen, die USA bei ihrem Bemühen um Verhandlungen mit der UdSSR über eine Begrenzung der Rüstung auf dem Gebiet nuklearer Mittelstreckenwaffen zu unterstützen. In einem ersten Verfahren war dem Gericht eine vertiefte Behandlung der Verteidigungsproblematik verwehrt, da es über Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu entscheiden hatte, die in einem Verfahren über Verfassungsbeschwerden beantragt worden war. Da das Gericht die Verfassungsbeschwerden von vornherein als unzulässig erachtete, war eine materielle Erörterung der Verteidigungsproblematik, die sich auch in der öffentlichen Diskussion mit der Stationierung nuklearer Mittelstrecken-Flugkörper aufgetan hatte, von vornherein ausgeschlossen5. ___________ 5

BVerfGE 66, 39 (56).

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Ein Jahr später (1984) hatte das Gericht indessen im Rahmen eines Organstreitverfahrens zwischen einer Fraktion als Teil des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung die Gelegenheit, Grundlegendes zur verfassungsmäßigen Ausgestaltung der Verteidigung, insbesondere der kollektiven Verteidigung, und der damit verbundenen Problematik der vertragsbasierten Stationierung verbündeter Streitkräfte auf deutschem Hoheitsgebiet und ihres Einsatzes von diesem Hoheitsgebiet aus zu erörtern und zu entscheiden. Die Bundesregierung, die seinerzeit bekanntlich zu den Initiatoren des NATO-Doppelbeschlusses zur Aufstellung nuklearer Mittelstrecke-Flugkörper auf dem Hoheitsgebiet einiger westeuropäischer NATO-Mitgliedstaaten gehörte, hatte der Stationierung dieser Waffen auf deutschem Hoheitsgebiet zugestimmt. Das Gericht definierte dies in seiner Entscheidung6 als eine „rechtserhebliche Erklärung im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertragssystems“. Das Erfordernis einer Zustimmung oder Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften in Gesetzesform gemäß oder entsprechend Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG wurde mit folgenden Argumenten verworfen: In der deutschen Staatspraxis hätten einseitige völkerrechtliche Willenserklärungen im Rahmen bestehender zwei- oder mehrseitiger Verträge seit jeher grundsätzlich keiner gesetzlichen Zustimmung bedurft. Eine Ausdehnung des Zustimmungserfordernisses auf derartige Erklärungen gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG sei schon mit dem Wortlaut dieser Vorschrift unvereinbar. Eine analoge Anwendung scheide ebenfalls aus, denn eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs der zitierten Verfassungsnorm würde angesichts der überragenden Bedeutung, die der Außenpolitik für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zukomme, einen Einbruch in zentrale Gestaltungsbereiche der Exekutive darstellen. Die grundsätzliche Zuordnung der Akte des auswärtigen Verkehrs zum Kompetenzbereich der Exekutive beruhe aber auf der Annahme, dass institutionell und auf Dauer typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfüge, auf wechselnde äußere Lagen zügig und sachgerecht zu reagieren und so die staatliche Aufgabe, die auswärtigen Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen, bestmöglich zu erfüllen7. An diesem Ergebnis – so das Gericht wörtlich – ändere sich auch nichts dadurch, „dass über derartige Akte der Exekutive im Einzelfall möglicherweise eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik herbeigeführt wird, die schwer oder überhaupt nicht gelöst werden kann oder die sonstige Wirkungen erzeugt, die nicht oder nur schwer beseitig werden können“.8

___________ 6

BVerfGE 68, 1 (80 f.). So ausdrücklich BVerfGE 68, 1 (83-87). 8 BVerfGE 68, 1 (88). 7

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Diese rigide Position hielt das Bundesverfassungsgericht jedoch in seiner für den Auslandseinsatz der deutschen Streitkräfte grundlegenden AWACS-, Somalia- und Adria-Entscheidung nicht aufrecht. Dort heißt es: „Die Tatsache, dass der Verfassungsgeber in Art. 59 Abs. 2 S. 1 den gesetzgebenden Körperschaften nur für eng begrenzte Tatbestände Mitwirkungsrechte im Bereich der auswärtigen Politik eingeräumt hat, schließt seine Anwendung auf völkerrechtliche Äußerungs- und Handlungsformen nicht aus, die potentiell auf die Änderung eines politischen Vertrags angelegt sind“.9 Diese eher beiläufige – wenn auch insgesamt für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hochbedeutsame – Erweiterung des Anwendungsbereichs der erörterten Verfassungsnorm wurde jedoch nicht vertieft, und das hatte, wie im Weiteren deutlich werden wird, erhebliche Auswirkungen auf die dogmatische Begründung des seitens des Gerichts erkannten Parlamentsvorbehalts für den Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland. Doch zurück zu dem Stationierungsproblem nuklearer MittelstreckenFlugköper, welches das Bundesverfassungsgericht 1984 zu entscheiden hatte. Hier galt folgendes: Truppen und Waffensysteme eines Staates können auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates völkerrechtlich zulässig allein auf der Basis eines einschlägigen zwei- oder mehrseitigen Vertrags stationiert werden10. Der einschlägige Vertrag für die seinerzeitige Flugkörper-Stationierung war der Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23.10.1954, nach dessen Art. 1 Abs. 2 die „Effektivstärke“ der auf deutschem Hoheitsgebiet stationierten Streitkräfte jederzeit mit Zustimmung der Bundesregierung erhöht werden durfte11. Da der Stationierungsvertrag gemäß seinem Art. 1 Abs. 1 als Bemessungsgrundlage für jene Effektivstärke explizit den Ist-Zustand zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Vertrages kennzeichnete, war es in der Tat zweifelhaft, ob das exekutive Zustimmungserfordernis auch die Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen umfasste, deren Einsatzentscheidung allein dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika oblag. In Bezug auf dessen Entscheidung verfügte die Bundesrepublik über keinerlei vertraglich begründete Mitwirkungs- oder gar Vetorechte. Die Stationierung nuklearer Mittelstrecken-Flugkörper bedeutete mithin, dass vom Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aus strategische nukleare Waffensysteme eingesetzt werden konnten, ohne dass die Bundesrepublik als Inhaberin der Gebietshoheit über die völkerrechtliche Rechtsmacht verfügte, einen derartigen Einsatz zu unterbinden. Das Zustimmungsge___________ 9

BVerfGE 90, 286 (377). Vgl. zum Folgenden ausführlich Knut Ipsen, Frieden, Streitkräfte und Rüstungssteuerung im Grundgesetz, in: Sozialverwaltung und Sozialverfassung, Festgabe für Wilhelm Wertenbruch, Zeitschrift für Sozialreform, H. 2/3, 1984, S. 188 (196 f.). 11 BGBl. 1955 II, S. 253. 10

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setz zum Stationierungsvertrag allein konnte diese massive Einschränkung eigener Hoheitsgewalt schwerlich abdecken, da es selbstverständlich nicht weiter reichen konnte als der Stationierungsvertrag selbst und dessen bloßer Verweis auf die zustimmungsbedürftige Erhöhung der Effektivstärke sicherlich nicht die völlig andersartige Qualität der Stationierung strategischer Nuklearwaffen abdeckte. Das Bundesverfassungsgericht beurteilte diese Rechtslage entschieden anders. Nach Auffassung des Gerichts konnten die USA „die Freigabeentscheidung über den Einsatz der in Rede stehenden Waffensysteme ausschließlich in ihrer Eigenschaft und in der Funktion eines Bündnispartners nach Maßgabe des NATO-Vertragswerks, insbesondere der für die Einsatzfreigabe vereinbarten Konsultationen und der Einsatzrichtlinien sowie der dazugehörigen Planungen“ treffen.12 Das Gericht übersah in diesem Zusammenhang schlicht, dass der Nordatlantikvertrag ebenso wenig wie der Stationierungsvertrag als die allein in Betracht kommenden völkerrechtlichen Instrumente keine derart qualifizierte Konsultation vorsahen, wie sie das Gericht glaubte, annehmen zu dürfen.13 Verfassungsrechtlich war diese Situation gemäß Art. 24 Abs. 1 GG unter dem Aspekt zu würdigen, ob und inwieweit der Bund durch das Zustimmungsgesetz zum Nordatlantikvertrag sowie zum Stationierungsvertrag Hoheitsrechte „auf zwischenstaatliche Einrichtungen“ übertragen hatte. Die Stationierung eines Waffensystems auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik, dessen Einsatzentscheidung beim Präsidenten der USA lag, musste nun argumentativ in Vereinbarkeit mit Art. 24 Abs. 1 GG gebracht werden. Sicherlich konnte der USPräsident in dieser nationalrechtlichen Amtsfunktion schlechterdings nicht als „zwischenstaatliche Einrichtung“ im Sinne der deutschen Verfassungsnorm bezeichnet werden. Deshalb griff das Gericht zu einer Argumentationskette, die selbst bei äußerster Anspannung verfassungsrechtlicher Auslegungskunst schlichtweg unvertretbar war. Das Gericht meinte nämlich, dass die (im Einzelnen ohnedies nicht hinreichend spezifizierte) vertragliche Lage aus der verfassungsrechtlichen Sicht des Art. 24 Abs. 1 GG dahin zu werten sei, dass der US-Präsident mit einer „besonderen Bündnisfunktion betraut“ sei. Würde er über den Einsatz der stationierten nuklearen Waffensysteme entscheiden, könne er als „besonderes Organ des Bündnisses“ betrachtet werden. Es ist nicht bekannt, ob dem damaligen US-Präsidenten, Ronald Reagan, je die völkerrechtliche Funktion bekannt ___________ 12

BVerfGE 68, 1 (92). Siehe American Foreign Policy 1950-1955, Basic Documents, Vol. I, Dept. of State Publ. 6446, Washington 1957, Report of the Senate Committee on Foreign Relations, S. 825 („Article 4 carries no obligation other than that of consultation. Whether or not any action was taken following consultation, or what form such action might take, would be matters for each party to decide for itself“). 13

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geworden ist, die ihm das deutsche Bundesverfassungsgericht als NATO-Organ zugedacht hatte. Immerhin lag diese Rolle völlig außerhalb des bereits damals explizit niedergelegten Vertragsverständnisses der USA: Die USA hatten von Anbeginn an größten Wert darauf gelegt, dass die in Art. 11 des Nordatlantikvertrags enthaltene Klausel über die Verfassungskonformität auch für die gesamte künftige Vertragsdurchführung zu gelten hätte.14 Doch auch eine Befassung mit Art. 9 des Nordatlantikvertrags, der einzigen Organisationsvorschrift dieses Pakts, hätte zu der Erkenntnis führen müssen, dass es zu Recht außerhalb der Reichweite jeglichen US-Vertragsverständnisses lag, den US-Präsidenten mit einer Zweitfunktion als NATO-Organ auszustatten.15 Nach alledem nimmt es nicht Wunder, dass das Gericht aus der Präambel sowie aus den Art. 3 und 9 des Nordatlantikvertrags die Ausrichtung auf eine „fortschreitende Organisation und Integration der Verteidigungsanstrengungen und Verteidigungskräfte für den geschützten Bereich“ angenommen hat,16 und dies, obwohl eine derartige Annahme durchaus nicht der Auffassung der USA entsprach.17 In seiner Entscheidung zur Stationierung von chemischen Kampfmitteln hat das Bundesverfassungsgericht 1987 seine NATO-bezogene Argumentation zu Art. 2 Abs. 1 GG ausdrücklich bekräftigt.18 Wiederum wurde Art. 24 Abs. 1 GG zusammen mit dem schon einmal beschworenen, „dem NATO-Vertrag zugrundeliegenden Bündnisprogramm“ bemüht, obwohl der Wortlaut des Vertrags wie auch seine insgesamt vollständig nachgewiesene Entstehungsgeschichte19 eindeutig nachweisen, dass es den USA als Urheber des Vertragstextes um alles andere ging, nur nicht um die Übertragung von Ho-

___________ 14 Siehe Fn. 13, S. 842: „The treaty in no way affects the basic division of authority between the President and the Congress as defined in the Constitution … In particular, it does not increase, decrease, or change the power of the President as Commander in Chief of the armed forces or impair the full authority of Congress to declare war“. 15 Siehe Fn. 13, S. 840: „Since the council (der Nordatlantikrat als das höchste Bündnisorgan, d.Verf.) is given authority only ‚to consider matters concerning the implementation’ of the treaty, its powers are purely advisory with respect to governmental action. Its purpose is to make recommendations to the goverments and to assist them in reaching coordinated decisions … Since the council will have only advisory powers, no voting procedure is needed or contemplated. No party will have a veto, nor can it be coerced into taking a decision against its own judgement. 16 BVerfGE 68, 1 (99). 17 Siehe Fn. 13, S. 833, zu Art. 3: „There is no specific obligation as to the timing, nature, and extent of assistance to be given by any party“. 18 BVerfGE 77, 170 (232). 19 Siehe Fn. 13, insbes. S. 827 f. (enge exekutiv-legislative Kooperation bei der Vertragsformulierung durch die USA).

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heitsrechten auf die Vertragsorganisation. Gerade auf die Feststellung dieses Befunds wurde offenkundig größter Wert gelegt.20 Soweit das Bundesverfassungsgericht über verfassungsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit der Stationierung nuklearer und chemischer Kampfmittel auf deutschem Hoheitsgebiet zu entscheiden hatte, hat das Gericht daher Rechtsfeststellungen getroffen, die selbst bei äußerster Anspannung völkerrechtlicher Auslegungskunst weder aus dem Nordatlantikvertrag noch aus dem Stationierungsvertrag herzuleiten waren: Dass im Gründungsvertrag der NATO ein „Integrationsprozess“ auch in Bezug auf nukleare und chemische Kampfmittel angelegt sei, lässt sich selbst bei größtmöglicher Bündnisfreundlichkeit nicht behaupten. Dass der US-Präsident bei seiner Entscheidung über einen eventuellen Einsatz nuklearer Mittelstrecken-Flugkörper als „besonderes Organ des Bündnisses“ hätte betrachtet werden können, lässt sich aus dem Nordatlantikvertrag nicht einmal ansatzweise begründen und ist zudem allen USamtlichen Erläuterungen über Ziel und Zweck des Vertrags diametral entgegengesetzt. – Was die Nachrüstungs-Entscheidung anbetrifft, so könnte ex post immerhin argumentiert werden, dass der NATO-Doppelbeschluss ja schließlich sein Ziel erreicht habe: Der zweite Teil des Doppelbeschlusses, das Verhandlungsangebot der USA an die UdSSR über den Abbau der MittelstreckenFlugkörper auf beiden Seiten, führte bekanntlich zur Beseitigung der Mittelstrecken-Konfrontation. So könnte die Kritik an der Nachrüstungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lediglich eine Fußnote zu einer sicherheitspolitisch erfolgreichen Aktion des Westens sein, wenn sich die Rechtsprechung des Gerichts nicht im Weiteren bei Verteidigungsproblemen wiederholt schwergetan hätte. Dies gilt insbesondere für das Urteil zum AWACS-, Somalia- und Adria-Einsatz der Bundeswehr vom 12. Juli 1994, das grundlegend für den Auslandseinsatz der deutschen Streitkräfte geworden ist.

II. Die Begründung des Parlamentsvorbehalts Zur Vorbeugung gegen eine vorzeitige Verortung der folgenden Kritik im Bereich konservativer Machtkonzentration auf Seiten der Exekutive sei vorab darauf verwiesen, dass der Autor bereits nach Einfügung der Notstandsverfassung in das Grundgesetz die Ableitung einer alleinigen Entscheidungskompetenz der Bundesregierung über den Einsatz der Streitkräfte zur Verteidigung, wie nach der damals umgestalteten Wehrverfassung immerhin begründbar, verfassungspolitisch eingehend kritisiert hat21 und späterhin eine Parlamentsbetei___________ 20

Siehe Fn. 13, S. 837: „Nothing in the treaty, however, including the provision that an attack against one shall be considered an attack against all, increases or decreases the constitutional powers of either the President or the Congress or changes the relationship between them.” 21 Knut Ipsen, Bündnisfall und Verteidigungsfall, in: DöV 1971, S. 583 (587).

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ligung über das Rechtsstaatsprinzip zu begründen versucht hat.22 Die damalige NATO-Regelung besagte, dass die Alliierten Kommandobehörden die operative Führung über die der NATO zugeteilten Streitkräfte der Bundesrepublik erst dann übernehmen und deutsche Streitkräfte zu militärischen Gegenmaßnahmen des Bündnisses erst dann einsetzen durften, wenn der Vertreter der Bundesrepublik im Nordatlantikrat der Auslösung einer bestimmten Alarmstufe zugestimmt hatte. Dass es bei dem Verzicht auf eine parlamentarische Mitwirkung beim Streitkräfteeinsatz um eine – auch völkerrechtlich schon damals gar nicht erforderliche – Adjustierung des Grundgesetzes an besagte NATO-Regelung ging, verdeutlicht eine in einem ähnlichen Zusammenhang verwendete Argumentation eines exponierten Regierungsvertreters während der parlamentarischen Beratungen, der es „für völlig unmöglich“ hielt, „dass die Bundesregierung als Voraussetzung ihrer Willensbildung im NATO-Rat das Parlament einschalten müsse. Abgesehen von der Eilbedürftigkeit solcher Beschlüsse würde eine solche Einschaltung die Mechanik des NATO-Bündnisses gefährden“.23 Wie damals bereits festgestellt werden konnte, hatte sich das Parlament dieser Argumentation mit einer erstaunlichen, nur durch das Fehlen hinreichender Informationen zu erklärenden Bereitwilligkeit gebeugt. So ließ die zitierte Argumentation vermuten, dass die damals in die Verfassung übernommene exekutivfreundliche Lösung hinsichtlich des Streitkräfteeinsatzes zur kollektiven Verteidigung von ihren Initiatoren durchaus bewusst und gewollt getroffen worden war.24 In der mündlichen Verhandlung des AWACS-, Somalia- und AdriaVerfahrens hat der seinerzeitige Vorsitzende des Rechtsausschusses und Berichterstatter zur Notstandsverfassung auf die Frage des Autors als eines der Prozessbevollmächtigten der Bundesregierung, ob im Rechtsausschuss die Verkoppelung der Streitkräfte-Einsatzes mit dem damaligen NATO-Alarmsystem unabhängig von einer parlamentarischen Entscheidung vertieft worden war, geantwortet, es sei darum gegangen, dass „System funktionsfähig zu halten“.25 Deshalb erschiene ihm im Rückblick „als nach wie vor logisch, dass man hier auf die obligatorische parlamentarische Beteiligung verzichtet hat, weil das in das ganze Überlegungssystem, Abkoppelung, Spannungsfall, Deeskalation bevor die Feindseligkeiten wirklich zum Ausbruch kamen, viel besser ___________ 22 Knut Ipsen, Der Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung, im Spannungs- und Verteidigungsfall sowie im internen bewaffneten Konflikt, in: Klaus-Dieter Schwarz (Hrsg.), Sicherheitspolitik, 3. Aufl., 1978, S. 615 (624 f.). 23 Kurzprotokoll der 78. Sitzung des BT-Rechtsausschusses – 5. Wahlperiode – vom 28.3.1968, S. 10. 24 So schon die unter Fn. 22 zit. Schrift, S. 528. 25 Siehe hierzu und zum folgenden Zitat Klaus Dau/Gotthard Wöhrmann (Hrsg.), Der Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte – Eine Dokumentation des AWACS-, des Somalia- und des Adria-Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, 1996, S. 716 f.

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hinein passte, als das andere“. Ein weiterer Zeitzeuge aus der Ausschussarbeit an der Notstandsverfassung wurde gefragt, ob aus seiner Erinnerung dem Ausschuss nicht klar gewesen sei, dass sich der Einsatz der Streitkräfte bei einem Angriff auf einen NATO-Mitgliedstaat nach dem NATO-Alarmsystem richte, ohne dass vor dem Einsatz der Streitkräfte nach dem Grundgesetz ein Parlamentsbeschluss gemäß Art. 115 a Abs. 1 (bzw. nach altem Verfassungsrecht gemäß Art. 59 a GG) erforderlich sei.26 Die Antwort war, dass dem Rechtsausschuss „sicherlich diese Diskussion bekannt gewesen“ sei, sie sei jedoch „auf Grund politischer Widerstände … nicht in den Text des Grundgesetzes gekommen“.27 So wurde die bereits zu Begin der 70iger Jahre im Schrifttum vorgenommene Einschätzung bestätigt, dass der Einsatz der Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland zur kollektiven Verteidigung im Rahmen des NATOBündnisses gemäß der organschaftlichen Zuordnung der Streitkräfte zur Exekutive auch von der Exekutiv-Spitze, der Bundesregierung, zu entscheiden sei, was bereits damals die vermerkte verfassungspolitische Kritik hervorrief. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass das Bundesverfassungsgericht in der AWACS-, Somalia- und Adria-Entscheidung das verfassungspolitisch absolut zu begrüßende Ergebnis eines parlamentarischen Zustimmungserfordernisses für den Auslandseinsatz bewaffneter Streitkräfte mit einer Begründung versehen hat, die über die Außerachtlassung dieses Hintergrundes hinaus aus weiteren Gründen Kritik herausfordert. So hatte das Bundesverfassungsgericht noch zehn Jahre zuvor in der Nachrüstungs-Entscheidung zutreffend das völkerrechtliche Verständnis der NATO-Mitgliedstaaten dargelegt, dass sich der Nordatlantikvertrag als „Vertragssystem zur kollektiven Selbstverteidigung im Sinne des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen verstehe28 und dass die (übrigens argumentativ durch nichts gedeckte) abweichende Auffassung der Bundesregierung, die NATO sei auch ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG, nicht der Entscheidung bedürfe.29 Im Rahmen der AWACS-, Somalia- und Adria-Entscheidung meinte das Gericht sodann, wegen der Nutzung der NATO-Strukturen zur Wahrnehmung eines VN-Sicherheitsratsmandats des Art. 24 Abs. 2 GG zu bedürfen und erklärte nunmehr die NATO zu einem System kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG. Nun ist es dem höchsten deutschen Verfassungsgericht gewiss unbenommen, selbst einen Begriff, der seinen Inhalt über eine längere Vertragspraxis hinweg im Völkerrecht mit hinreichender Deutlichkeit und Abgrenzungsmög___________ 26

Ebd., S. 730. Ebd., S. 731. 28 BVerfGE 68,1 (80). 29 BVerfGE 68, 1 (95). 27

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lichkeit gewonnen hat, mit einem anderen Inhalt zu versehen, wenn dieser Begriff mit gleichem Wortlaut Inhalt einer Verfassungsnorm ist. Die Kennzeichnung der NATO durch das Gericht als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit beruhte auf Argumenten, die gerade das kollektive Element eines Sicherheitssystems nicht erfassen. Dieses besteht darin, dass der potentielle Friedensstörer in das System mit allen Rechten und Pflichten eingeschlossen ist, nicht aber außerhalb des Systems und seiner Mechanismen verbleibt. Soweit sich das Gericht auf die Präambel und Art. 5 des Nordatlantikvertrags stützt und dabei auch den in Art. 5 enthaltenen Bezug zu Art. 51 VN-Satzung anspricht, werden dagegen gerade die Wesensmerkmale eines Systems kollektiver Verteidigung genannt. Darüber hinaus ist der deklaratorische Bezug zu der bereits von der VN-Satzung gebotenen friedlichen Streitschlichtung sowie die allgemeine Konsultationspflicht nach Art. 4 Nordatlantikvertrag (die, wie das Gericht in seiner jüngsten AWACS-Entscheidung vom 7. Mai 2008 selbst einräumt, in der fast 60-jährigen Praxis des Bündnisses nur ein einziges Mal aktualisiert worden ist),30 zumindest dann nicht konstitutiv für ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, wenn der potentielle Friedenstörer gerade nicht dem System angehört und jedenfalls durch das System weder zur friedlichen Streitbeilegung noch zur Konsultation in Krisenfällen vertraglich verpflichtet ist. Doch auch, wenn diese innere Logik des Begriffs des kollektiven Sicherheitssystems seitens des Gerichts nicht einmal eine Auseinandersetzung wert war, so hätte doch zumindest ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Nordatlantikvertrags Aufklärung darüber gegeben, wie denn die USA als Autoren des Vertragstextes seinerzeit seine systematische Einordnung und sein Verhältnis zur VN-Satzung begriffen haben. Das Verständnis der USA war sehr eindeutig: Es handelt sich um ein Bündnis zur kollektiven Verteidigung, gestützt auf Art. 51 VN-Satzung. Es sei keineswegs beabsichtigt, eine regionale Verdoppelung der UN-Mechanismen zu erreichen, was allerdings nicht ausschlösse, das Bündnis als regionale Einrichtung im Sinne des Kapitel VIII der VNSatzung zu nutzen.31 Dass der völkerrechtliche – und auch der sicherheitsgarantierende – Kern des Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit gerade darin besteht, potentielle Friedensstörer in das System einzuschließen und damit in Bezug auf das gesamte friedenssichernde Instrumentarium völkerrechtlich in die Pflicht zu nehmen, berücksichtigt das Gericht lediglich mit dem Satz, „dass die Streitkräfte der Mitgliedstaaten in einer Weise miteinander verflochten werden, die die Sicherheit unter ihnen selbst erhöht“.32 Solche Sekundärwirkungen eines Verteidigungsbündnisses sind eher selbstverständlich. Sie dürfen indessen nicht dazu bemüht werden, das essentielle Element eines kollektiven ___________ 30

BVerfGE v. 7.7.2008, A I 3, 30; C II 85 (Internetausdruck). Siehe Fn. 13, S. 845. 32 BVerfGE 90, 286 (351). 31

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Sicherheitssystems, den Einschluss der potentiellen Friedensstörer, außer Acht zu lassen. Somit hat das Gericht einen der tragenden Gründe seiner Entscheidung auf eine Argumentation abgestellt, die stets angreifbar bleiben wird. Was die zentrale Frage einer konstitutiven Zustimmung des Bundestags zum Einsatz deutscher Streitkräfte anbetrifft, so konnte das Bundesverfassungsgericht der Feststellung nicht ausweichen, dass ein solcher Parlamentsvorbehalt für UN-Einsätze und weitere Einsatzfälle im Verfassungstext nicht „ausdrücklich bestimmt“ ist.33 Es musste daher, wie in ständiger Rechtsprechung zur Auslegungsmethodik, auf eine Interpretation der Verfassung als logischteleologischer Einheit zurückgreifen. Diese fordert in mehrfacher Hinsicht zur Kritik heraus und hat, wie zuletzt in der Entscheidung vom 7. Mai 2008 deutlich geworden ist, zur Fortsetzung der Kontroversen über die parlamentarische Mitwirkung beim Streitkräfteeinsatz geführt. So sieht das Gericht in der Ersetzung des Art. 59 a GG a. F. durch die Legaldefinition des Verteidigungsfalles in Art. 115 a Abs. 1 GG die Aufrechterhaltung des Parlamentsvorbehalts „für alle damals als möglich angesehenen Einsatzfälle“.34 Angesichts des Umstands, dass das damals geltende NATOAlarmsystem den Streitkräfteeinsatz einschließlich des Einsatzes der Bundeswehr im Falle eines drohenden oder bereits erfolgten Angriffs auf das Bündnisgebiet an ein dreistufiges Alarmsystem koppelte, ohne damit einer parlamentarischen Zustimmung Rechnung zu tragen, war dies eine kühne Behauptung des Gerichts, zumal in der dem Urteil vorausgegangen mündlichen Verhandlung deutlich geworden war, das dem mit der Notstandsverfassung befassten Rechtsausschuss die Verkoppelung des NATO-Alarmsystems mit dem Streitkräfteeinsatz ohne parlamentarische Zustimmung bekannt war.35 Des Weiteren wurde der Parlamentsvorbehalt hinsichtlich des Streitkräfteeinsatzes mit der deutschen Verfassungstradition seit 1918 begründet.36 Dies war zum einen deshalb eine etwas delikate Argumentation, weil der zunächst zitierte Art. 11 Abs. 1 S. 2 der Reichsverfassung von 1871 die Zustimmung des Bundesrates zur Kriegserklärung des Kaisers nur für den Fall vorsah, dass das Reich einem anderen Staat den Krieg erklärte; verteidigte das Reich sich gegen einen „Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten“, so entfiel das Zustimmungserfordernis.37 Nachdem ein verfassungsänderndes Gesetz vom ___________ 33

BVerfGE 90, 286 (383). BVerfGE 90, 286 (382). 35 Siehe oben Fn. 25. 36 BVerfGE 90, 286 (383). 37 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Kommentar, 10. Aufl., 1929, Art. 45, Anm. 3, formuliert zutreffend, dass der Kaiser „nur zur Erklärung von Angriffskriegen der Zustimmung des Bundesrats bedurfte“. 34

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28. Oktober 1918 diese kaiserliche Prärogative bereits eingeschränkt hatte, indem der Kaiser zur Kriegserklärung der Zustimmung sowohl des Bundesrats als auch des Reichstags bedurfte, verzeichnete Art. 45 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung noch eine „Steigerung“,38 wonach die Kriegerklärung durch Reichsgesetz erfolgte. Den Einsatz der Reichswehr verkoppelte die Verfassung allerdings nicht mit diesem Gesetzesakt. Die zeitgenössische Staatsrechtslehre sah diese Konstruktion durchaus richtig in Verbindung mit dem III. Haager Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 1907,39 das heute in der Staatenpraxis wegen des Verbots der Erstanwendung von Waffengewalt durch den Staat allerdings kaum noch eine Rolle spielt.40 – Angesichts dieser verfassungshistorischen Entwicklung erscheint eine Berufung auf die „deutsche Verfassungstradition“ hinsichtlich der Kriegserklärung, die zur Begründung eines Parlamentsvorbehalts nach dem Grundgesetz dienen soll, zumindest gewagt, denn sie blendet die durch Art. 2 Nr. 4 VN-Satzung profund geänderte Völkerrechtslage aus. Des Weiteren hat das Gericht insbesondere die Art. 45 a, 45 b und 87 a Abs. 1 S. 2 GG als „Ausdruck eines ausgeprägten Systems der parlamentarischen Kontrolle“ über die Streitkräfte gesehen.41 Dies wird niemand in Abrede stellen können. Doch wird die Frage erlaubt sein, ob nicht gerade die zitierten Vorschriften ein Ausdruck der dem gewaltenteilenden demokratischen Rechtsstaat immanenten Kontrolle der vollziehenden Gewalt durch die Legislative darstellt. Insbesondere die verfassungsrechtlich gebotene Einrichtung ständiger Bundestagsausschüsse für auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung in einem gemeinsamen Artikel (45 a Abs. 1) hätte doch die Überlegung nahegelegt, ob hier nicht eher die enge Verklammerung zwischen Außenpolitik und Sicherheitspolitik die entscheidende ratio gewesen ist. Die Institution des Wehrbeauftragten, dessen verfassungsrechtliche Aufgabe des Grundrechtsschutzes der Soldaten auf die innere Führung der Streitkräfte gerichtet ist, der aber im übrigen nach der Verfassung ein Hilfsorgan des Bundestages ist und daher keine weitergehenden Kontrollrechte als der Bundestag selbst hat, lässt sich in Anbetracht dieser verfassungsrechtlichen Position nur schwerlich für eine Begründung des Parlamentsvorbehalts bemühen. Und was schließlich den Art. 87 a Abs. 1 S. 2 GG anbetrifft, so zeigt der Wortlaut dieser Vorschrift wie auch ihre Entstehungsgeschichte, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber sich hier gegen einen besonderen organisationsrechtlichen Inhalt und für eine haushaltsrechtliche Ausgestaltung entschieden hat und damit in der Tat der seit dem Preußischen Verfassungskonflikt des 19. Jahrhunderts bestehenden Tradi___________ 38

Siehe ebd. Siehe ebd. 40 Vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 68, Rdnr. 2. 41 BVerfGE 90, 286 (385). 39

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tion gefolgt ist, die Friedensstärke der Streitkräfte der parlamentarischen Bewilligung zu unterwerfen.42 Gerade die seinerzeitige Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers gegen eine organisationsrechtliche Befugnis des Parlaments im Hinblick auf die Streitkräfte hätte Vorsicht geboten, diese Vorschrift als gewichtiges Indiz für einen Parlamentsvorbehalt sogar hinsichtlich der Streitkräfteeinsatzes zu identifizieren. Besonders aber überrascht, dass das Gericht weiteren Verfassungsvorschriften indizielle Bedeutung für die Begründung eines Parlamentsvorbehalts hinsichtlich des Streitkräfteeinsatzes beimisst, deren Normzwecke durchaus andere sind. So ist Art. 87 a Abs. 3 GG allein einer jener Fälle, in denen gemäß der grundlegenden Normierung in Art. 87 a Abs. 2 GG ein Einsatz der Streitkräfte im Inneren ausdrücklich zugelassen ist: Die Befugnis der Streitkräfte, im Verteidigungsfall und im Spannungsfall zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, betreffen hoheitliche Aufgaben der vollziehenden Gewalt auf deutschem Hoheitsgebiet, die in der Normalsituation in die Gefahrenabwehr-Kompetenz der Länder fallen. Hinsichtlich des Inneneinsatzes der Streitkräfte ist die Verfassung so eindeutig, dass gerade dies eine Ausweitung auf den Außeneinsatz schwerlich gestattet. Im Weiteren in diesem Zusammenhang Art. 115 a Abs. 5 und Art. 115 l Abs. 3 GG anzuführen, bedeutet schlicht, auf das Relikt der „Kriegserklärung“ gemäß der deutschen Verfassungstradition zu verweisen, denn diese Vorschriften beziehen sich auf den Beginn und die Beendigung des insoweit dem Verteidigungsfall ähnelnden Kriegszustandes. Dem Art. 115 b, der den Übergang der Befehls- und Kommandogewalt vom Bundesminister der Verteidigung auf den Bundeskanzler regelt, kommt schließlich schon deshalb keine indizielle Bedeutung zu, weil er den parlamentarisch festgestellten Verteidigungsfall voraussetzt. Die wehrverfassungsrechtliche Norm, die eher gegen einen Parlamentsvorbehalt spricht, nämlich die Bündnisklausel des Art. 80 a Abs. 3 GG, wird kurz mit der Behauptung abgetan, sie beträfe nur die zivile Teilmobilmachung, nicht aber den Streitkräfteeinsatz im Bündnisfall,43 obwohl nach dem Wortlaut der Verfassung über Art. 80 a Abs. 3 GG sogar der Einsatz der Streitkräfte im Inneren gemäß Art. 87 a Abs. 3 GG begründbar wäre. So ist die Begründung, die das Bundesverfassungsgericht für die Kennzeichnung der Bundeswehr als „Parlamentsheer“44 gefunden hat, insgesamt relativ schmal, wenn dieser Qualifizierung die verfassungsrechtlich nicht zu bestreitende Position der Streitkräfte als Teil der vollziehenden Gewalt entgegengehalten wird. Im Übrigen kann eine solche Kennzeichnung der deutschen ___________ 42

Siehe Knut Ipsen, Bonner Kommentar, Art. 87 a GG, Rdnr. 20-23. BVerfGE 90, 286 (386). 44 So BVerfGE 90, 286 (382) und neuestens auch Urt. v. 7.5.2008, C I 70. 43

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Streitkräfte auch nicht den Befund korrekt widerspiegeln, dass die Initiative für den Streitkräfteeinsatz stets bei der Exekutive liegt, der konstitutive Zustimmungsbeschluss des Bundestages zwar geboten ist, jedoch eine Mitwirkung ohne eigene Initiativbefugnis darstellt. Die vorstehende Kritik richtet sich – um dies nochmals abschließend festzustellen – nicht gegen die unbestreitbare Sinnhaftigkeit eines Parlamentsvorbehalts zum Außeneinsatz deutscher Streitkräfte. Sie richtet sich lediglich dagegen, dass es dem Bundesverfassungsgericht mit der ausgesprochenen BündnisZentrierung seiner wehrverfassungsrechtlichen Rechtsprechung während des Ost-West-Gegensatzes sowie mit seiner grundlegenden Entscheidung vom 12. Juli 1994 nicht gelungen ist, den Außeneinsatz der Streitkräfte in das Verfassungsgefüge rahmen- und zweckgerecht in übersichtlicher Weise einzuordnen.

III. Die Schlüsselprobleme des Streitkräfteeinsatzes Mit der AWACS-, Somalia- und Adria-Entscheidung war das Bundesverfassungsgericht gut drei Jahre nach Erlangung der vollen Souveränität durch das wiedervereinigte Deutschland dazu aufgerufen festzustellen, was dieser souveräne Rechtsstaat mit seinen Streitkräften gemäß seiner Verfassung im internationalen Bereich tun darf. So hätte es durchaus nahegelegen, den in Art. 87 a Abs. 2 GG als verfassungsrechtlichen Begriff geprägten Hauptzweck der Streitkräfte, nämlich die Verteidigung, gebührend zu analysieren. Eine Erörterung dieses Hauptzwecks der Streitkräfte und seines Zusammenhangs mit dem Begriff des „Einsatzes“ hat das Gericht indessen als nicht entscheidungserheblich angesehen und demzufolge unterlassen.45 Dabei hätte es auch der weiteren Rechtsprechung des Gerichts gut getan, wenn die völkerrechtliche Dimension des Hauptzwecks der Streitkräfte, der Verteidigung, in die Analyse des Verfassungsbegriffs innerhalb der grundlegenden Entscheidung einbezogen worden wäre. Setzt nämlich die Bundesrepublik Deutschland ihre Streitkräfte außerhalb des gemäß Art. 87 a Abs. 2 GG ausdrücklich geregelten staatsinternen Verfassungs- und Gesetzesvollzugs ein, dann handelt sie auf der Ebene der internationalen Beziehungen, auf der sie als Inhaber völkerrechtlicher Rechte und Adressat völkerrechtlicher Pflichten auftritt.46 Soweit das Völkerrecht die Anwendung von Waffengewalt durch Streitkräfte regelt, wird die Bundesrepublik als Völkerrechtssubjekt berechtigt und verpflichtet. Sie ist die Rechtsperson, der das Verhalten ihres Organs Bundeswehr beim Streitkräfteeinsatz zugerechnet wird. Völkerrechtswidriges Verhalten dieses Organs wäre daher eine Völkerrechtsverletzung durch die Bundesrepublik. Schon dieser Rechtsbefund ___________ 45 46

BVerfGE 90, 286 (355). Vgl. zum Folgenden schon Knut Ipsen, Fn. 22, S. 616 f.

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lässt es als angeraten erscheinen, den verfassungsrechtlichen Begriff „Verteidigung“ unter Rückgriff auf die völkerrechtlichen Normen über die Anwendung bewaffneter Gewalt zwischen Völkerrechtssubjekten zu bestimmen. Diese Folgerung steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Bundesrepublik – woran bislang kein Zweifel besteht – den Grundsatz der Völkerrechtstreue uneingeschränkt anerkennt; denn nur unter dieser Voraussetzung wäre es auslegungsmethodisch korrekt, den Inhalt des Verfassungsbegriffs „Verteidigung“ anhand der gegenüber der Verfassung verschiedenartigen Rechtsmasse des Völkerrechts inhaltlich zu klären. Das in Art. 2 Nr. 4 VN-Satzung kodifizierte Verbot der Erstanwendung von Waffengewalt sowie das in Art. 51 der VN-Satzung enthaltene unveräußerliche Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung stellen unbestritten über ihre vertragliche Kodifikation hinaus allgemeine Regeln im Sinne des Art. 25 GG dar und gelten zumindest mit Vorrang vor den einfachen Gesetzen. Dabei ist die Rangfrage in diesem Zusammenhang von sekundärer Bedeutung, denn gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Daraus folgt, dass der Einsatz der Bundeswehr in jedem Falle dem Gewaltverbot und den völkerrechtlich anerkannten Grenzen der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung unterliegt, da diese völkerrechtlichen Normen zu allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehören, die über Art. 25 gemäß Art. 20 Abs. 3 GG von der vollziehenden Gewalt zu beachten sind. Bei Auslegung der Verfassung als logischteleologischer Einheit aber kann der Begriff der „Verteidigung“ in Art. 87 a Abs. 2 keinen anderen Inhalt haben, als er ihn über Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 25 GG gewinnt. Wäre diese grundsätzliche Klärung einmal akzeptiert, dann bedürfte es nur noch zwei weiterer Schritte: Soweit es sich um den Einsatz deutscher Streitkräfte im Bündnissystem handelt, kommt es bei Tätigwerden des Bündnisses, der NATO, nur noch darauf an, ob das Bündnis gemäß seinem selbstgesetzten Hauptzweck zur kollektiven Verteidigung tätig wird, womit der Kreis zu dem völkerrechtlich durch Art. 51 der VN-Satzung ausgefüllten Verteidigungsbegriff geschlossen ist. Wird das Bündnis dagegen im Mandat der VN tätig, dann ergibt sich die Zulässigkeit des Streitkräfteeinsatzes über Art. 24 Abs. 2 GG sowie völkerrechtlich aus den Kapiteln VII und VIII der VN-Satzung in Verbindung mit den als nachfolgende Vertragspraxis entwickelten Mandatierungsmechanismen. Ebenso kann die Bundesrepublik über Art. 24 Abs. 2 GG als außerhalb des Bündnisses vom VN-Sicherheitsrat mandatiertes VNMitglied im Rahmen der VN-Satzung Streitkräfte einsetzen. Werden somit Einsätze deutscher Streitkräfte richtigerweise in ihrer völkerrechtlichen Grundlegung betrachtet, dann würde es vielleicht doch naheliegen, bei der Begründung des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz über eine Analogie zu Art. 59 Abs. 2 GG nachzudenken, denn sowohl die VN-Satzung als auch der Nordatlantikvertrag sind hinsichtlich ihrer völkerrechtlichen Grundlagen für den

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Streitkräfteeinsatz derartig weit gefasst, dass die Parlamentsbeteiligung allein durch Zustimmungsgesetz nicht mehr die möglichen schwerwiegenden Folgen eines Streitkräfteeinsatzes für das Staatswesen zu erfassen vermag. Wenn aber selbst ein Vertrag, welcher die politischen Beziehungen des Bundes regelt, eben deshalb gemäß Art. 59 Abs. 2 GG der Zustimmung durch die Gesetzgebungskörperschaften in Gesetzesform verlangt, dann dürfte es doch nur ebenso sach- wie rechtslogisch sein, dass auch der Streitkräfteeinsatz als – man scheut sich, dies im Sinne Clausewitz’ zu sagen – „intensivste“ Form der politischen Beziehungen der parlamentarischen Zustimmung zwingend bedarf. Leider hat sich das Bundesverfassungsgericht diesen Weg bereits in der Nachrüstungsentscheidung selbst versperrt, in dem es eine analoge Anwendung des Art. 59 Abs. 2 GG auf einseitige völkerrechtliche Rechtsakte ausgeschlossen hat. Das für 192 der 194 Staaten dieser Welt geltende kollektive Sicherheitssystem der Vereinten Nationen in die Verfassungsauslegung in gebührender Weise einzubeziehen, würde es zudem ermöglichen, sich mit der Völkerrechtsmäßigkeit und damit der Verfassungskonformität von Einsätzen wie des Jugoslawien-Einsatzes von 1999 gründlicher auseinanderzusetzen, als es geschehen ist: Wenn das Bundesverfassungsgericht in der Jugoslawien-Entscheidung apodiktisch feststellt, es fehle in dem Verfahren an der Antragsbefugnis, „weil die verfassungsrechtliche Ermächtigung des Bundes, Streitkräfte in einem System kollektiver Sicherheit einzusetzen, grundsätzlich geklärt ist (BVerfGE 90, 286)“, dann wird damit den seinerzeit durchaus ernsthaften Kontroversen über die Völkerrechtsmäßigkeit jenes Einsatzes ausgewichen.47 Vielleicht hätte eine intensive Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Verteidigungsbegriff auch für die vieldiskutierte Entscheidung über das Luftsicherheitsgesetz48 hilfreich sein und das Gericht davor bewahren können, nur mit zwei eher verschämten Adjektiven49 darauf zu verweisen, dass ein dem 11. September 2001 vergleichbarer Luftzwischenfall eventuell auch ein Problem des in der VN-Satzung kodifizierten Selbstverteidigungsrechts sein könnte. Ob diese adjektivische Relativierung wirklich eine Einschränkung war50, wird die Zukunft lehren müssen.

___________ 47

BVerfGE 100, 266 (270). BVerfGE 115, 118. 49 Ebd., 153 („nichtkriegerischen Luftzwischenfalls“), 157 („Streitkräfteeinsätze nichtkriegerischer Art“). 50 So Christof Gramm, Fn. 3, S. 223. 48

Zur dogmatischen Konzeption von Staatsorganrechten Von Walter Krebs, Berlin

I. Einleitung Jubiläen können Anlass sein, sich gemeinsamer Themen zu erinnern. Zu den Themen, mit denen wir uns beide beschäftigt haben, gehört nicht nur das Organisationsrecht1 im Allgemeinen, sondern auch das der Organrechte2 im Besonderen. Die nachfolgenden Überlegungen sollen sich mit Aspekten dieses Themenkreises beschäftigen, die eher am Rande der bisherigen Diskussion stehen. Haben sich Verwaltungsorganrechte ihre rechtsdogmatische Existenz erst relativ spät erkämpft3 und sind diese bis in jüngerer Vergangenheit Gegenstand grundsätzlicher Erörterung geblieben,4 haben Staatsorganrechte diesen existentiellen Kampf nicht führen müssen. Dass es Staatsorganrechte gibt, wird seit ___________ 1 Z. B. Friedrich E. Schnapp, Zu Dogmatik und Funktion des staatlichen Organisationsrechts, Rechtstheorie 9 (1978), S. 275 ff.; ders., Amtsrecht und Beamtenrecht. Eine Untersuchung über normative Strukturen des staatlichen Innenrechts, 1977; ders., Grundbegriffe des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, S. 68 ff.; ders., Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, S. 293 ff.; ders., Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, AöR 105 (1980), S. 243 ff.; Walter Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 108. 2 Z. B. Friedrich E. Schnapp, Der Streit um die Sitzungsöffentlichkeit im Kommunalrecht, VerwArch 78 (1987), S. 407 ff.; Walter Krebs, Rechtsprobleme des Kommunalverfassungsstreits, VerwArch 68 (1977), S. 189 ff.; ders., Grundfragen des verwaltungsrechtlichen Organstreits, Jura 1981, S. 569 ff. 3 Z. B. Gunter Kisker, Insichprozess und Einheit der Verwaltung, 1968; Dieter Lorenz, Zur Problematik des verwaltungsgerichtlichen Insichprozesses, AöR 93 (1968), S. 308 ff.; Dimitris Th. Tsatsos, Der verwaltungsgerichtliche Organstreit, 1969; Werner Hoppe, Organstreitigkeiten und organisationsrechtliche subjektiv-öffentliche Rechte, DVBl. 1970, S. 845 ff. Zum Überblick über den Diskussionsverlauf vgl. Katja Buchwald, Der verwaltungsgerichtliche Organstreit, 1998, S. 44 ff. m.w.N. Zu den Pionierentscheidungen in der Rechtsprechung zählen OVG Lüneburg, OVGE 2, S. 225 (228 ff.); 16, S. 349 (349 ff.); OVG Münster, OVGE 17, S. 261 (261 ff.); 18, S. 104 (104 ff.). 4 Z. B. Wolfgang Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, 2001; Dörte Diemert, Der Innenrechtsstreit im öffentlichen Recht und im Zivilrecht, 2002.

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längerem nur noch selten bezweifelt.5 Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG einen verfassungsrechtlichen Organstreit institutionalisiert hat, den §§ 63 ff. BVerfGG einfachgesetzlich ausgeformt haben. Da die VwGO entsprechende Regelungen nicht kennt, musste das Problem aufkommen, wie mit unübersehbaren Bedürfnissen nach gerichtlicher Austragung von Kompetenzkonflikten umzugehen sei. Von daher musste sich die Frage stellen, ob und inwieweit (Verwaltungs-) Organkompetenzen im Hinblick auf ihre Inhalte und Strukturen Analogien (oder Identitäten) zu (mit) den subjektiven Rechten des Außenrechts aufweisen,6 die es erlauben, den für diese Rechte konzipierten Rechtsschutz der VwGO7 („Individualrechtsschutz“) dem Organstreit zugänglich zu machen. Für den verfassungsprozessualen Rechtsschutz stellte sich diese Frage nicht. Insofern verwundert auch nicht, dass die veröffentlichte wissenschaftliche Diskussion8 der Staatsorganrechte hinter der der Verwaltungsorganrechte quantitativ weit zurückbleibt. Das spricht für einen funktionalen Zusammenhang zwischen der Dogmatik von Organkompetenzen und den Anforderungen des Prozessrechts: Ist die prinzipielle Partei- oder Beteiligtenfähigkeit von Organen gesetzlich geregelt (§ 63 BVerfGG), muss sie nicht mühsam dogmatisch entwickelt werden.9 Dieser Umstand legitimiert das relativ begrenzte Anliegen nachfolgender Überlegungen. Es geht nicht um die Fortsetzung der grundsätzlichen Diskussi-

___________ 5

Vgl. noch unten bei Fn. 16. Dazu die Sicht des Jubilars: Schnapp (Fn. 2), VerwArch 78 (1987), S. 407 (418 ff.). 7 Vgl. Walter Krebs, Subjektiver Rechtsschutz und objektive Rechtskontrolle, in: Hans-Uwe Erichsen/Werner Hoppe/Albert v. Mutius (Hrsg.), Festschrift für ChristianFriedrich Menger, 1985, S. 191 (197 ff.). 8 Z. B. Dieter Lorenz, Der Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Erster Band: Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 225 ff.; Peter Lerche, Strukturfragen des verwaltungsgerichtlichen Organstreits, in: Detlef Merten/Reiner Schmidt/Rupert Stettner (Hrsg.), Festschrift für Franz Knöpfle, 1996, S. 171 ff.; Jost Pietzcker, Organstreit, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Erster Band (Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozeß), 2001, S. 587 ff.; Günter Erdmann, Organstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht, 1964; Manfred Goessl, Organstreitigkeiten innerhalb des Bundes, 1961; Herbert Bethge, Organstreitigkeiten des Landesverfassungsrechts, in: Christian Starck/Klaus Stern/Otto Bachof (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 1983, S. 17 ff. Vgl. aus jüngerer Zeit Buchwald (Fn. 3); Roth (Fn. 4); Diemert (Fn. 4). 9 Vgl. in diesem Zusammenhang Wolfgang Bier, in: Friedrich Schoch/Eberhard Schmidt-Aßmann/Rainer Pietzner (Hrsg.), VwGO, Stand: September 2007, § 61 Rn. 3, 7; sowie zum knappen Überblick Krebs (Fn. 2), Jura 1981, S. 569 ff. 6

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on darüber, was subjektive Rechte, namentlich solche des öffentlichen Rechts10, eigentlich sind und welche Konsequenzen dies für das Verständnis von Kompetenz und Organrecht hat. Schon angesichts der mehrhundertjährigen rechtstheoretischen Diskussion des subjektiven Rechts11 wäre ein solches Vorhaben hier wohl auch eher untunlich. Positiv soll es darum gehen, das Gebot der Problemund Sachgerechtigkeit einer dogmatischen Konzeption in das Bewusstsein zu rücken. Gemeint ist damit die Ausrichtung des Blicks auf die Sachstrukturen des Phänomens, welches es dogmatisch zu verarbeiten gilt. Zielsetzung muss es sein, mit der dogmatischen Konzeption diesen Sachstrukturen gerecht zu werden, was auch bedeutet, diese sichtbar zu machen und zu halten. Für das gewählte Thema ist das die Frage nach der dogmatischen Konzeption eines Staatsorganrechts, die einerseits den rechtlichen Eigenarten von Kompetenzen und Organrechten von Staatsorganen und andererseits der prozessrechtlichen Ausgestaltung ihrer Einklagbarkeit gerecht wird.

II. Zur Eigenart von Staatsorganrechten Die Frage nach der Eigenart und damit die nach dem möglichen Inhalt und der Struktur von Staatsorganrechten zielt auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Staatsorganen, fragt also danach, ob es solche Rechtsbeziehungen überhaupt gibt, welcher Rechtsnatur sie sind und welche Rechtspositionen sie vermitteln. Alle diese Fragen könnte möglicherweise schon Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG beantworten. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Bundesverfassungsgericht „aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind“. Die Vorschrift drückt sich so aus, als seien die Beziehungen zwischen Staatsorganen durch wechselseitige Rechte und Pflichten charakterisiert und als seien diese Rechte „eigene“, also subjektive Rechte. Der Wortlaut der Norm könnte zu einem Verständnis verleiten, als konstituiere sie die Rechtsbeziehungen zwischen den von ihr genannten Streitbeteiligten. Ein ___________ 10 Dazu insb. Arno Scherzberg, Grundlagen und Typologie des subjektiv-öffentlichen Rechts, DVBl. 1988, S. 129 ff.; ders., Subjektiv-öffentliche Rechte, in: Hans-Uwe Erichsen/Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, S. 331 ff.; Hartmut Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986; ders., Altes und Neues zur Schutznormtheorie, AöR 113 (1988), S. 582 ff.; Bertrand Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, 2003; Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991, S. 146 ff.; Rainer Wahl, in: Friedrich Schoch/Eberhard Schmidt-Aßmann/Rainer Pietzner (Hrsg.), VwGO, Stand: September 2007, Vorbemerkung § 42 Abs. 2, Rn. 42 ff.; Buchwald (Fn. 3); Roth (Fn. 4). 11 Vgl. die Darstellung des geschichtlichen Verlaufs bei Roth (Fn. 4), S. 329 ff.

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solches Verständnis klingt in Formulierungen an wie: Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG gestalte „das Verhältnis zwischen den dort als mögliche Parteien von Streitigkeiten Genannten in echte Rechtsverhältnisse um“.12 Nun weist allerdings Art. 93 GG – materiellrechtlich – keinem Staatsorgan irgendeine Befugnis, eine Pflicht oder ein Recht zu und kann damit für die Existenz von Rechtsbeziehungen zwischen Staatsorganen auch nicht konstitutiv sein. Aus dem gleichen Grund erscheint es zweifelhaft, in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG eine Vorschrift zu sehen, die bestehende Rechtsbeziehungen zwischen Staatsorganen in solche subjektiv-rechtlicher Art transformiert. So liest man etwa, der Organstreit werde um „subjektive Rechte“ geführt, „genauer: um durch die Eröffnung des Rechtsweges versubjektivierte verfassungsrechtliche (Organ-)Beziehungen“.13 Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schimmerte diese Auffassung durch. In einer frühen Entscheidung meinte das Gericht, durch die Eröffnung des Organstreits trete „notwendig eine gewisse Subjektivierung der verfassungsrechtlichen Beziehungen“ ein, die es rechtfertige, „mit dem Grundgesetz von ‚Rechten‘ der Staatsorgane zu sprechen, die verletzt und darum verteidigt werden können“.14 Richtig ist, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG seinem Wortlaut nach davon auszugehen scheint, dass Staatsorganen subjektive Rechte zustehen können. Allerdings begründet diese Norm derartige Rechtspositionen nicht, sie setzt sie vielmehr voraus und lässt ihnen, wenn es sie gibt, gerichtlichen Schutz angedeihen. Lassen sich aus dem übrigen Verfassungsrecht indes keine subjektiven Rechte von Staatsorganen begründen, werden sie auch durch Art. 93 GG nicht geschaffen. In diesem Fall hätte die Norm mit verunglückter Terminologie ein rein objektives Beanstandungsverfahren institutionalisiert, das – auch vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Verfassungsstreitverfahrens15 – prozess___________ 12

Günter Erdmann (Fn. 8), S. 79. Klaus Schlaich, Verfassungsprozessuale Auswirkungen des materiellen Verfassungsrechts, in: Günter Püttner (Hrsg.), Festschrift für Otto Bachof, 1984, S. 321 (323). 14 BVerfGE 2, S. 143 (152). 15 Die Norm knüpft an die Tradition des in Art. 19 WRV geregelten Verfassungsstreits an. Allerdings konnten nach dieser Norm nur „Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes“ vor dem Staatsgerichtshof ausgetragen werden. Die kontradiktorische Austragung einer Rechtsstreitigkeit vor Gericht indiziert, dass verschiedene Parteien um „ihre“ Rechte kämpfen, zumindest aber, dass es verschiedene Rechtssubjekte sind, die „um das Recht“ streiten. Die Vorstellung von der „Einheit der – rechtlich impermeablen – Verwaltung“, die der Anerkennung rechtlich relativ verselbständigter Organisationsgliederungen und damit der Anerkennung von Verwaltungsorganrechten lange im Wege stand, hatte also auch unter früheren Verfassungsepochen keine Entsprechung auf Verfassungsebene, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass von einer rechtlich unzergliederten obersten Staatswillensbildung ausgegangen werden konnte. Tatsächlich sind die an diesen Entscheidungsprozessen in begrenztem Umfang beteiligten Ständeund Volksvertretungen in der konstitutionellen Zeit erst sehr allmählich aus der Gesell13

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rechtlich kontradiktorisch ausgestaltet ist. Eine „Versubjektivierung“ von Rechtsbeziehungen zwischen Staatsorganen träte dann nur auf der Prozessebene ein,16 ohne dass ein solches Prozessrechtsverhältnis eine materiell-verfassungsrechtliche Entsprechung hätte. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG gibt demnach für unsere Frage nach dem materiellen Organrecht nur sehr wenig her. Die Norm indiziert allenfalls, dass es solche Rechte geben kann. Zu Begründung, Inhalt und Struktur von Organrechten sagt sie nichts. Über die Eigenart des Untersuchungsgegenstandes lässt sich zunächst negativ so viel aussagen, dass es sich bei einem Organrecht nicht um ein subjektivöffentliches Recht in dem Sinne handeln kann, wie es in der überkommenen, auch heute noch viel verwendeten Begriffsbestimmung definiert wird. Nach ihr setzt das subjektive öffentliche Recht des Außenrechts einen Rechtssatz voraus, der zumindest auch Individualinteressen zu dienen bestimmt ist.17 Auch wenn man dieser Definition nicht zustimmt,18 wird man nicht darüber hinwegsehen können, dass das subjektive öffentliche Recht des Außenrechts an der Rechtsstellung eines Menschen ausgerichtet ist, demnach vornehmlich eine dem Menschen zustehende, d.h. eine personalisierte Rechtsposition beschrieben wird. Die Rechtsstellung eines Organs ist aber nun gerade durch ihre Entpersönlichung charakterisiert, sie ist apersonal.19 Die die Organfunktionen wahrnehmende physische Person soll sie gerade nicht in Verfolgung ihrer eigenen persönlichen Individualinteressen wahrnehmen. Organrechte dürfen daher mit subjektiven öffentlichen Rechten des Außenrechts nicht ohne weiteres verwechselt werden. Das Bundesverfassungsgericht weist in der bereits zitierten Entschei___________ schaft heraus und in den Bereich organisierter Staatlichkeit hinein gewachsen, waren lange fast eher externe Teilhaber an der Ausübung der Staatsgewalt als fest integrierter Teil der Staatsorganisation, mit dieser jedenfalls nicht so innig verschmolzen, dass die Annahme eigener Subjektstellung ganz außerhalb jeder Vorstellung liegen musste. Die Dogmengeschichte des Organstreits ist nicht die der Entwicklung einer Vorstellung unterscheidbarer Streitsubjekte sondern die der Verrechtlichung des Prozesses gegliederter Staatswillensbildung. Noch nach Art. 76 der RV 1871 waren Verfassungsstreitigkeiten von dem Bundesrat oder im Wege der Reichsgesetzgebung also vornehmlich politisch zu erledigen. Vgl. zur Geschichte des Verfassungsorganstreits Buchwald (Fn. 3), S. 18 m. w. N. 16 Hans Spanner, Verfassungsprozeß und Rechtsschutzbedürfnis, in: Karl Carstens/Hans Peters (Hrsg.), Festschrift für Hermann Jahrreiss, 1964, S. 411 ff. 17 Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 8 Rn. 8; HansUwe Erichsen, Das Verwaltungshandeln, in: ders./Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, § 11 Rn. 31; Wahl (Fn. 10), Vorbemerkung § 42 Abs. 2, Rn. 95 m. w. N. 18 Kritisch zur „tradierten Auffassung“ Schnapp (Fn. 2), VerwArch 78 (1987), S. 407 (418 f). Vgl. im Übrigen z. B. Scherzberg (Fn. 10), S. 331 (336 ff.); Buchwald (Fn. 3), S. 93 f.; Roth (Fn. 4), S. 347 ff. 19 Krebs (Fn. 1), § 108 Rn. 29. Vgl. zum Begriff auch Schnapp (Fn. 2), VerwArch 78 (1987), S. 407 (418) m. w. N.

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dung darauf hin, dass „Jene Rechte der Staatsorgane ... nicht den subjektiven Privatrechten gleichzusetzen“20 sind und meint damit ganz zutreffend, dass sie keine subjektiven Rechte Privater seien. Die Vergegenwärtigung des Umstandes, dass subjektive öffentliche Rechte des Außenrechts und Organrechte nicht denselben Bezugsgegenstand haben, macht auf den Vorgang aufmerksam, der sich bei einer Versubjektivierung der Organrechtsstellung ereignet. Wenn man das subjektive Recht, mit dessen Hilfe personale Interessen rechtlich durchsetzbar gemacht werden, in den Dienst eines Staatsorgans stellt, muss man es von seinem personalen Substrat ablösen. Es wird dergestalt zu einer Art Rechtshülse, die mit neuem – anderen – Inhalt gefüllt wird. Damit ist aber für die Frage, was denn dieser Inhalt sei, noch nichts gewonnen. Insoweit könnte man meinen, der Inhalt des Organrechts seien eben die Zuständigkeiten, bzw. die Kompetenzen, die dem Staatsorgan zugewiesen sind.21 Es liegt auf dieser Linie, wenn z. B. formuliert wird, „Rechte und Pflichten“ i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG seien „versubjektivierte Zuständigkeiten“.22 Eine solche Charakterisierung des Organrechts mag zutreffen. Gleichwohl bestehen gegen eine Ineinssetzung von Organkompetenzen und subjektiven Organrechten Bedenken. Diese gründen darauf, dass mit der Zuweisung einer Kompetenz an ein Organ zunächst einmal die Pflicht des Organs begründet wird, die rechtlich zugewiesene Zuständigkeit zur Erfüllung einer Aufgabe auch wahrzunehmen.23 Es ist daher auch zutreffend, von der relativen „Rechts“fähigkeit eines Staatsorgans zu sprechen, weil das Organ mit der Kompetenzzuweisung zum Zurechnungsendpunkt eines innerorganisationsrechtlichen Rechtssatzes wird. Nur muss man sich vergegenwärtigen, dass diese „Rechtsfähigkeit“ zuallererst „Pflichtfähigkeit“ meint.24 Zwangsläufig wird ein Organ mit der Zuweisung einer Zuständigkeit auch „berechtigt“, eine bestimmte Angelegenheit wahrzu___________ 20

BVerfGE 2, S. 143 (152). Nach Schnapp (Fn. 2), S. 426 sind „Subjektive Organrechte … Unterarten des subjektiven öffentlichen Rechts“. Für die Auffassung, Kompetenzen als subjektive Rechte zu verstehen z. B. Buchwald (Fn. 3). 22 Wolfgang Meyer, in: Ingo von Münch (Hrsg.), GG, so noch in der 2. Aufl. 1983, Art. 93 Rn. 24. 23 So, allerdings noch differenzierter Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht, Bd. II, 3. Aufl. 1970, § 72 I: Er unterscheidet die Begriffe „Zuständigkeit“ („Wahrnehmungszuständigkeit“) von „Kompetenz“. Zuständigkeit ist danach die durch Rechtssätze begründete Verpflichtung und Berechtigung, bestimmte Angelegenheiten wahrzunehmen. „Das, was danach zusteht, der Gegenstand der Wahrnehmungsverpflichtung, also die wahrzunehmende Aufgabe (i. w. S.), z. B. Verkehrsüberwachung), ist die Kompetenz.“ Wolff fügt hinzu: „Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß beide Begriffe eng zusammengehören: Zuständigkeit ohne Kompetenz ist ebenso wenig möglich wie Kompetenz ohne Zuständigkeit.“. 24 Rupp (Fn. 10), S. 82 f. mit Fn. 179, 180. 21

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nehmen. Insofern könnte man meinen, das gesuchte Organrecht bestehe in dieser „Berechtigung“. Dagegen spricht aber, dass diese Berechtigung zunächst nichts anderes als die Kehrseite der Organ„pflicht“ ist, so dass sich fragt, was denn damit gewonnen ist, die Organkompetenzen dergestalt in den Rang von (subjektiven) Rechten zu erheben.25 Die Annahme eines – subjektiven – Organrechts erscheint letztlich nur dann sinnvoll, wenn es über die Organkompetenz hinausgeht, also mit ihr gerade nicht identisch ist. Hinzu kommt eine weitere Überlegung, die gegen eine Identität von Organkompetenz und Organrecht spricht: Man mag sich eine Pflicht ohne ein korrelierendes Recht vorstellen können, nicht aber ein Recht ohne eine eben diesem Recht korrespondierende Pflicht. Wenn es zutrifft, dass das „Grundelement jedes subjektiven Rechts ... ein Verlangendürfen“ ist,26 dann heißt also Recht, dass jemand von einem anderen die Einhaltung seiner Pflicht verlangen darf.27 Da Organrechte entweder den zwischen den Staatsorganen bestehenden Rechtsverhältnissen entstammen oder sie solche begründen, zielt das Recht des einen Staatsorgans auf ein Verhalten eines anderen Staatsorgans, das es verlangen darf. Das Organrecht ist also gleichsam „extrovertiert“ und muss daher ein „Mehr“ gegenüber der Berechtigung sein, die eigene Kompetenz wahrzunehmen. Die Annahme eines Staatsorganrechts erfordert demnach eine besondere Rechtskonstruktion, mit deren Hilfe das berechtigte Staatsorgan die Rechtsmacht erhält, von einem anderen, nämlich dem verpflichteten Staatsorgan, ein bestimmtes Verhalten verlangen zu dürfen.

III. Konzeptionen 1. Abwehrmodell Wenn ein Recht ohne eine dem Recht korrespondierende Pflicht nicht denkbar ist, kann ein Organrecht von der Pflichtenseite einer Organbeziehung oder eben der Berechtigungsseite der Rechtsbeziehung aus konstruiert werden. Viele Äußerungen lassen erkennen, dass sie dieser letzteren Möglichkeit zuneigen, also das Organ„recht“ zum Ausgangspunkt machen. Das klingt in der Begriff___________ 25 Für den Verwaltungsprozess kann die Frage nach der Einklagbarkeit von Kompetenzen damit nicht gelöst sein, für den Verfassungsprozess ist eine solche Annahme unnötig. 26 So schon Richard Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 607 (616). 27 Vgl. dazu Rupp (Fn. 10), S. 153 ff., insbes. S. 161 ff.

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lichkeit von der versubjektivierten Organkompetenz28 an oder in Formulierungen, wonach der Kreis der Organkompetenzen in den Rang von Rechten erhoben werde.29 In der Zuweisung einer Kompetenz zu einem Staatsorgan wird – ggfs. unter weiteren Voraussetzungen – die Zuweisung einer Rechtsmacht zur Verteidigung dieser Kompetenz gesehen.30 Das Organ erhält dergestalt ein Recht auf ungestörte Kompetenzausübung. Recht präzise kommt diese Vorstellung etwa bei Lorenz zum Ausdruck: Die verfassungsrechtlich vorausgesetzte Balance im System des gewaltengegliederten Verfassungsstaates verlange eine effektive Abgrenzung der Sachkompetenzen; diese enthielten „deshalb zugleich eine formelle Überwachungskompetenz hinsichtlich der Ungestörtheit der eigenen Aufgabenerfüllung und vermitteln damit genau jene Rechtsmacht zur Verteidigung eines eigenen Sachbereichs gegenüber Eingriffen von außen, die das subjektive Recht kennzeichnet“.31 Mithilfe dieser Rechtsmacht zur Verteidigung gegenüber Eingriffen in den Kompetenzkreis wird das Organ bzw. die Organkompetenz „wehrfähig“32. Das Staatsorganrecht hat, auch wenn man es positiv als Recht auf ungestörte Funktionserfüllung formuliert, abwehrrechtlichen Charakter. Der Kreis zugewiesener Organkompetenzen wird zu einem rechtlich geschützten Kreis, zu einem subjektiv-rechtlich strukturierten „Status“33 des Organs. Dieser subjektive Organstatus hat die Funktion, auf Störungen von außen rechtlich reagieren zu können. Bei derartigen Störungen entstehen dann Reaktionsansprüche,34 also etwa Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche. Das Organrecht entsteht also durch eine subjektiv-rechtliche Ummantelung der Organkompetenzen, der Organstatus wird der Rechtsboden für Störungsabwehransprüche. Diese Konstruktion eines subjektiven Organrechts scheint in sich durchaus stimmig. Allerdings sei angemerkt, dass sie keine vollständige verfassungsprozessrechtliche Entsprechung hat. Gemäß § 67 S. 1 BVerfGG hat das Bundes___________ 28 Z. B. Klaus Stern, in: Bonner Kommentar zum GG, Stand: Februar 2008, Art. 93 Rn. 161; Meyer (Fn. 22) spricht von „versubjektivierten Zuständigkeiten“. 29 Theodor Maunz, in: ders./Günter Dürig, Kommentar zum GG, Stand: Dezember 2007, Art. 93 Rn. 10. 30 Vgl. zum Verwaltungsorganrecht Hans-Uwe Erichsen, Der Innenrechtsstreit, in: ders./Werner Hoppe/Albert v. Mutius (Hrsg.), Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1985, S. 211 (228). Vgl. im Übrigen auch Stern (Fn. 28), Art. 93 Rn. 74. 31 Lorenz (Fn. 8), S. 225 (237). 32 Erichsen (Fn. 30), S. 211 (224 ff.). 33 Begriff bei Werner Hoppe, Organstreitigkeiten vor den Verwaltungs- und Sozialgerichten, 1970, S. 191. Hoppe meint bei seiner Konstruktion eines nach innen gerichteten subjektiven Rechts der juristischen Person einen „intrapersonalen ‚Status‘ der Juristischen Person“. 34 Vgl. zum abwehrrechtlichen Gehalt subjektiv-öffentlicher Rechte nur Rupp (Fn. 10), S. 153 ff.

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verfassungsgericht nur die Feststellung auszusprechen, ob die beanstandete Maßnahme – also bei dieser Konstruktion die potentiell rechtswidrige Störung des Organstatus – gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Dem Gericht obliegt es also nicht, die Reaktionsansprüche des in seinem Status verletzten Organs zu befriedigen. Das Bundesverfassungsgericht tenoriert vielfach35 auch nur die Verfassungsverletzung. Ein durchgreifender Einwand gegen die beschriebene Konzeption ist diese Ausformung des Organprozesses gleichwohl nicht, weil sich die Konstruktion nicht auf der Verfahrensebene, sondern auf der materiell-rechtlichen Ebene abspielt. Im Übrigen kann man durchaus der Auffassung sein, dass bei einem Streit unter Staatsorganen auch ein Feststellungsurteil des Bundesverfassungsgerichts die von ihm erhoffte Befriedigung des Organstreits erreicht. Diese Konzeption – man könnte sie vielleicht eine organisationsrechtliche „Statuslehre“ nennen – ähnelt stark grundrechtsdogmatischen Vorstellungen,36 denen zufolge die Grundrechte dem einzelnen einen Status an rechtlich geschützter Freiheit sichern, der auf rechtswidrige Eingriffe mit Abwehr-, also Unterlassungs- und ggfs. auch Beseitigungsansprüchen reagiert.37 In dieser Parallelität verfassungsrechtsdogmatischer Vorstellungen sind auch die eigentlichen, tiefer wurzelnden Einwände gegen ein so verstandenes Organrecht begründet. Die rechtsdogmatische Konstruktion des Grundrechtsschutzes ist auf das zu schützende Substrat abgestimmt und es fragt sich, ob diese Konzeption ohne weiteres einen Austausch seines „Schutzsubstrats“ verträgt, also auf das Rechtsverhältnis zwischen Staatsorganen übertragbar ist. Grundrechte sind zunächst und zuallererst Individualrechte. Sie sind um des einzelnen willen da, dessen Individualinteressen an persönlicher Freiheit sie unter rechtlichen Schutz stellen. Der Grundrechtsträger übt das geschützte Substrat – seine Freiheit – legitimerweise „für sich“ und in privater Autonomie aus. Dass die Grundrechte, insbesondere die Kommunikationsgrundrechte, daneben noch andere, auf die staatliche Einheitsbildung bezogene Funktionen erfüllen, lässt ihren individualrechtlichen Charakter unberührt. Soweit eine solche Parallele zwischen der Grundrechtsdogmatik einerseits und einer organisationsrechtlichen Statuslehre andererseits besteht, erscheint diese Konzeption in dem Sinne fragwürdig, als sich fragt, ob sie eine dem Recht der Staatsorgane adäquate Rechtskonstruktion ist. Sie steht zumindest in ___________ 35 Z. B. BVerfGE 24, S. 300 (302); 67, S. 100 (103); 105, S. 197 (202). Anders aber z. B. BVerfGE 45, S. 1 (3); 80, S. 188 (190); 82, S. 322 (325 f.); 85, S. 264 (266); 111, S. 382 (383). 36 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hoppe (Fn. 33), S. 138 ff. und S. 191 ff. 37 Zur dogmatischen Konstruktion des Modells vgl. Walter Krebs, Rechtliche und reale Freiheit, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), HdBGR, Bd. II, 2006, § 31 Rn. 36 ff. Dort auch zur begrenzten Funktion des Modells (Rn. 86 ff.).

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der Gefahr, den Akzent zu sehr auf das Recht des Organs zu verlagern, die Berechtigung zur Wahrnehmung der Organzuständigkeiten, die eigentlich nichts als die Kehrseite der Pflichtigkeit ist, als „eigene“ subjektive Berechtigung des Organs zu betonen. Diese Konzeption lenkt den Blick auf die möglichen Gemeinsamkeiten in der rechtstechnischen Konstruktion von Rechten privater Rechtsträger und Staatsorganen und vernachlässigt damit gleichzeitig die unterschiedlichen Eigenarten der jeweiligen Rechtsstellungen. Sie macht zumindest nicht deutlich, dass Organrechte – anders als Grundrechte – nicht um des Organs willen da sein können. Die mögliche Ausschließlichkeit der Wahrnehmungskompetenz und eine innerorganisationsrechtliche (Teil-)Rechtsfähigkeit von Organen ändern nichts daran, dass – um eine Formulierung Böckenfördes38 aufzugreifen – Organkompetenzen „zunächst und primär eine Handlungspflicht“ beinhalten. Sie sind „nicht eine geschützte Handlungsfreiheit und sie sichern nicht die Verfolgung des eigenen Interesses des Handlungsberechtigten, sondern die Wahrnehmung des Interesses der organisierten Einheit“. Böckenförde ist auch zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass die Anerkennung von Organrechten keine „axiomatische, sondern eine sachlich-politische Frage“39 ist. Das Organrecht ist eine Hilfs-Konstruktion, mit deren Hilfe zum besseren Gelingen einer vielgliedrig organisierten staatlichen Willensbildung beigetragen werden soll. Das Organrecht ist mit der Zuweisung einer Kompetenz keineswegs denknotwendig verbunden und eine Organkompetenz muss nicht notwendig subjektiv-rechtlich strukturiert sein. Eine objektiv-rechtliche Konstruktion könnte möglicherweise dieselbe Funktion erfüllen.40 Insofern scheint mir der Hinweis nicht unangebracht, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG durchaus offen formuliert ist.

2. Pflichtenmodell Die bisherigen Überlegungen mögen als Rechtfertigung dienen, einen weiteren Konstruktionsversuch zur Begründung von Organrechten zu unternehmen. Er geht von der Überlegung aus, dass das Staatsorganrecht nicht notwendig von der Berechtigungsseite, sondern ebenso von der Verpflichtungsseite der Organbeziehungen her betrachtet werden kann. Angesetzt wird also bei der Organpflicht. Die Pflicht eines Staatsorgans besteht darin, die in seine Zuständigkeit überwiesenen Aufgaben zu erledigen, also die Organkompetenzen wahrzunehmen.41 Die Erfüllung dieser Pflicht ist nicht Selbstzweck, sondern dient der or___________ 38 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, in: Christian-Friedrich Menger (Hrsg.), Festschrift für Hans Julius Wolff, 1973, S. 269 (303). 39 Böckenförde (Fn. 38), S. 269 (291), Fn. 77. 40 Vgl. dazu Bethge (Fn. 8), S. 17 (26) zu Art. 140 BremVerf. 41 Vgl. Wolff (Fn. 23), § 72 I.

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ganisierten Einheit. Man hat sich zu vergegenwärtigen, dass bei einem organisatorisch vielgliedrig gestalteten und ineinander verschränkten Entscheidungsprozess42 der von dem einen Staatsorgan erwartete Beitrag zur gemeinsamen Entscheidungsfindung vielfach nur gelingen kann, wenn alle anderen oder jedenfalls ein anderes Organ oder eine bestimmte Anzahl der anderen Organe ihren Beitrag ebenfalls erbringen. Funktionsbedingung staatlicher Einheitsbildung ist das Zusammenwirken der arbeitsteilig entscheidenden Staatsorgane.43 Zwischen den Staatsorganen besteht damit ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit von ordnungsgemäßer Kompetenzwahrnehmung. Die Kompetenzwahrnehmung eines Organs dient auch oder bisweilen sogar gerade deshalb der organisierten Einheit, weil es ein anderes Staatsorgan in die Lage versetzt, seine Kompetenzen wahrzunehmen. Z. B. kann eine Regierung nur regieren, wenn das Parlament über ihre Gesetzesinitiativen beschließt. Funktionengegliederte Entscheidungsabläufe sind demnach auf diese „drittschützenden Reflexe“ der Organpflichten angewiesen. Insofern kann man daran denken, das Organrecht an diesem „drittschützenden Reflex“ festzumachen, die Reflexwirkung der Wahrnehmung einer Organkompetenz also zugleich als ein Recht des mitgeschützten Organs zu sehen. Das Organrecht ist also nicht die Berechtigung, die eigenen Kompetenzen wahrzunehmen, sondern das Recht, von einem anderen Organ die Einhaltung von dessen Pflichten verlangen zu dürfen. Es entsteht durch einen organisationsrechtlichen Rechtssatz, der einem Staatsorgan eine Kompetenz zuweist, deren Wahrnehmung auch der Kompetenzwahrnehmung eines anderen Staatsorgans zu dienen bestimmt ist.44 Um den Unterschied zur zuvor geschilderten Konstruktion hervorzuheben: Dieses Organrecht ist nicht wie ein subjektiv-rechtlicher Status, sondern wie ein Anspruch strukturiert. Inhaltlich ist es nicht auf die Störungsabwehr des eigenen Rechtskreises gegen Eingriffe von außen, sondern auf die Einhaltung von Organpflichten anderer Organe gerichtet. Es akzentuiert damit auch weniger das Recht, als vielmehr die Pflichten eines Staatsorgans, dessen Fremdnützigkeit es unterstreicht. Die Organpflicht wird im Dienst eines anderen Staatsorgans und zu diesem Zweck subjektiviert. Diese Konzeption lebt nicht von dem Gedanken der Störungsabwehr, sondern von der Vorstellung, dass die funktionengegliederte Tätigkeit von Staatsorganen kooperativ angelegt ist. Nicht die mit einer Störungsabwehr verbundene Vorstellung einer Distanz, sondern die Zugehörigkeit zu einer Einheit wird unterstrichen. Vielleicht könnte man eine solche Konzeption ein organisationsrechtliches „Pflichtenmodell“ nennen: ___________ 42 Vgl. zu dieser Eigenart staatlicher Entscheidungsfindung Walter Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 41 ff. 43 Vgl. dazu auch Hoppe (Fn. 33), S. 197 ff. 44 So gibt etwa Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG der Bundesregierung einen Anspruch auf Beschluss des Bundestages über ihre Gesetzesinitiative.

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Kompetenzzuweisungen werden als den staatlichen Entscheidungsprozess bedingende und schützende Pflichtenzuweisungen verstanden.

IV. Schlussbemerkung Es sei daran erinnert, dass es das Anliegen der hier angestellten Überlegungen sein sollte, das Gebot sach- und problemadäquater dogmatischer Konzeptionen herauszustellen.45 Zugleich sei an den eingangs erwähnten46 funktionalen Zusammenhang zwischen dem dogmatischen Verständnis des Organrechts und der prozessrechtlichen Ausgestaltung der Austragung eines Kompetenzkonflikts erinnert. Daher stellt sich die Frage der verfassungsprozessrechtlichen „Stimmigkeit“ des hier vorgeschlagenen „Pflichtenmodells“. Wenn das Organrecht nicht vom „Recht“, sondern von der Organpflicht her gedacht wird, muss auch die Organpflicht im Mittelpunkt des verfassungsgerichtlichen Organstreits, also des Organprozesses, stehen. Die Organrechtsbeeinträchtigung erscheint dann eher als eine Frage der Zulässigkeit als eine solche der Begründetheit der Organklage. Für die Begründetheit des Antrags muss es entscheidend darauf ankommen, ob das beklagte Organ seine Pflicht verletzt hat. Da mit dieser Pflichtverletzung ipso iure auch die Rechtsverletzung des Antragstellers begründet ist, reicht die Feststellung der Pflichtverletzung aus. Daher macht auch die sich mit einem solchen Tenor bescheidende Vorschrift des § 67 S. 1 BVerfGG einen guten Sinn. Ist anders als im Individualrechtsschutzverfahren im Organprozess nicht die Rechts-, vielmehr die Pflichtverletzung der eigentliche Streitgegenstand, dann rückt auch der verfassungsgerichtliche Organstreit wieder mehr in die Nähe eines objektiven Beanstandungsverfahrens, bei dem die Rechtsverletzung mehr oder minder nur eine Anstoßfunktion für ein Verfahren hat, dessen eigentlicher Sinn in der Auslegung der Verfassung liegt. Der Organstreit nähert sich damit wieder dem „Verfassungsstreit“ an, aus dessen Tradition er erwachsen ist47 und an den das Grundgesetz anknüpft.

___________ 45

Oben unter I. (S. 3). Unter I. (S. 2). 47 Vgl. o. Fn. 15. 46

Die Rückwirkung von Bundesgesetzen – ein Problem des Übermaßes? Von Wolfgang Meyer, Kassel

I. Rückwirkung und Rückbewirkung – kuriose juristische Zeitreisen? „Niemand lebt in der Vergangenheit“1 und „keiner kann zu Unmöglichem verpflichtet werden“2 sind Sätze der Vernunft und Rechtsklugheit, die seit mehr als zweitausend Jahren anerkannt und jedem Juristen geläufig sind. Gleichwohl gibt es im deutschen Verfassungsrecht eine hoch spezialisierte wissenschaftliche Diskussion um die Fragen, wann ein Gesetz echt/retroaktiv rückwirkt und wann es dies nur unecht/retrospektiv tut, ob Rechtsfolgen rückbewirkt werden und ggf. stets oder nur gelegentlich retroaktiv echt rückwirken, ob sie dann, wenn sie nur unecht retrospektiv rückwirken, stets nur tatbestandlich rück anknüpfen, ob die echt rückbewirkende Rückwirkung stets oder (nur) grundsätzlich verboten ist, ggf., aus welcher Verfassungsnorm dies aufgrund welchen Tatbestandes folgt und welche Rückwirkungen aufgrund welcher Verfassungsnormen dann doch (ausnahmsweise?) erlaubt sind3. Der Ernst, mit dem die Juristen den Vergangenheitsbezug, den jede Gesetzesänderung notwendig aufweist, mit den „Begriffen“ der Rückwirkung und ___________ 1

„ in praeteritum non vivitur“, Dionysius Gothofredus, Anm. zu Cod. Just. 2, 4, 8, zitiert nach Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1982, S. 96, I Nr. 100. 2 „impossibilium nulla obligatio“, Dig. 50, 17, 185 (Celsus). 3 Friedrich E. Schnapp, in: von Münch/ Kunig, GGK II, 5. Aufl. 2001, Rn. 1 bis 6, 24 bis 34; Michael Sachs, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20 Rn. 122 ff., 132 bis 139; Helmut Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 2., 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 146 bis 169; Roman Herzog, in: MaunzDürig, Komm. z. GG, Art. 20 Rn. 64 bis 76; Karl-Peter Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rn. 277 bis 287; alle mit umfangreichen Nachweisen zum Diskussionsstand; grundlegend Bodo Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981; weiterführend Thomas Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002; Wolfgang Meyer, Authentische Interpretation oder Rückbewirkung von Rechtsfolgen ?, in: Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 221 bis 244.

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Wolfgang Meyer

Rückbewirkung sowie der unechten Rückwirkung einzufangen und zu ordnen versuchen, könnte einen unbefangenen Zeitgenossen zu der Annahme verführen, die Diskutanten glaubten wirklich, dass sie es mit rechtlichen Aktionen zu tun hätten, welche in irgendeiner geheimnisvollen Weise „in die Vergangenheit rückwirkten“. Rechtsfolgen würden auf eine Zeitreise in abgelaufene Jahre geschickt, änderten dort etwas mit der Folge, dass sich die rechtliche Gegenwart in einen anderen Zustand versetzt sieht, als sie ihn ohne diese Zeitreise gehabt hätte. Jedenfalls außerhalb der Rechtswissenschaft ist derartiges heute (noch) allein Thema der „science fiction“. Jedoch behandelt die juristische Rückwirkungsdiskussion rechtliche Sachprobleme, die sich ab einer Gesetzesänderung wirklich stellen. Und „natürlich“ gibt es in der Wirklichkeit und– worauf zurück zu kommen sein wird – auch in der des positiven Rechts keine Rückwirkung/Rückbewirkung, keine Zeitreise in die Vergangenheit. Daher drängt sich die Frage auf, ob der augenfällig metaphorische juristische Sprachgebrauch wirklich sachgerecht und zweckmäßig ist oder aber vielleicht den Problemzugang erschwert. Mehr noch: könnte eine Aufgabe der irreführenden Vorstellung, es werde etwas in die Vergangenheit rück gewirkt oder bewirkt, zu einer genaueren Problemerfassung beitragen? Allerdings ist die in Deutschland geführte Diskussion nicht nur an diese Metaphern gebunden, sondern auch inhaltlich in deren Vorstellungswelt einer Zeitreise in die Vergangenheit so verwoben, dass es schwer fällt, wieder einen neutralen Standpunkt zu gewinnen, der ohne das Bild auskommt, es werde etwas gegen die Kausal- und Zeitrichtung bewirkt.. Ein Versuch anzudeuten, wie dies möglicherweise dennoch geschehen könnte, kann aber jedenfalls nicht schaden. Ausgangspunkt sei der unter dieser Perspektive kritisch zu würdigende aktuelle Diskussionsstand in der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

II. Zum Stand der Rechtsprechung Rückwirkung und Rückbewirkung sind keine bloß „akademischen“ Themen. Die Rechtsprechung insbesondere des BVerfG hat sie gestaltet. Sie gehören aber auch zum ständigen Aufgabenkreis der „Fachgerichte“ und vor allem der obersten Gerichtshöfe des Bundes. 1. Das BAG hatte in letzter Zeit mehrfach die rückwirkend belastende Änderung von Tarifverträgen zu prüfen4. Es hat bekräftigt: „Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG können die Tarifvertragsparteien die Regelungen des von ihnen abgeschlossenen Tarifvertrages während dessen Laufzeit rückwirkend ändern, was sich zu Lasten der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber auswirken kann. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zu einem rückwirken-

___________ 4

Stellv. BAG Urteil vom 17.10.2007 – 4 AZR 812/06 m.w.N.

Die Rückwirkung von Bundesgesetzen

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den Eingriff in ihr Regelwerk ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Normunterworfenen begrenzt. Insoweit gelten die gleichen Regeln wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (z.B. 19. Dezember 1961 - 2 BvL 6/59 - BVerfGE 13, 261, 271 f.). Danach ist die Abänderbarkeit der Grundsatz, der Vertrauensschutz die an die Umstände des Einzelfalls gebundene Ausnahme.

Im Miet- und Pachtrecht wurde vom BGH die Bedeutung von Übergangsregelungen bekräftigt und eine Rückwirkung ausgeschlossen, weil der Schutz des berechtigten Vertrauens auf diejenigen Umstände Vorrang hatte, die beim früheren Vertragsschluss vorgelegen hatten.5 2. Das BVerwG6 hatte eine verfassungskonforme beschränkende Auslegung vorzunehmen, als bei einem durch Verwaltungsakt anerkannten und aufgenommenen Spätaussiedler später die Anerkennungsvoraussetzungen für ihn unerfüllbar verschärft wurden. Dessen Rechtsposition unterfalle „dem grundsätzlichen verfassungsrechtlichen (Art. 20 Abs. 3 GG) Verbot echter (retroaktiver) Rückwirkung, also des nachträglichen ändernden Eingriffs in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat und zurücktritt, wenn sich ausnahmsweise kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (BVerfG, Beschluss vom 15. Oktober 1996 – 1 BvL 44/92. 1 BvL 48/92 – BVerfGE 95,64 = juris Rn. 110).“

Einen Fall fehlenden Vertrauens hielt das BVerwG7 bei einer Kostenumlage von Finanzdienstleistungsinstituten für gegeben, als eine Verordnung, die den Anspruch regelte und deren Gültigkeit im Schrifttum bezweifelt wurde, rückwirkend in Gesetzesrang erhoben wurde. Zwar sei die Zulässigkeit rückwirkender Vorschriften, namentlich solcher, die eine öffentliche Leistungspflicht anordnen, „durch das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot des Vertrauensschutzes begrenzt (BVerfG Urteil vom 19.Dezember 1961 – 2 BvL 6/59 – BVerfGE 13, 261 ).“ Belastende Normen, „die abgeschlossenen Tatbestände rückwirkend erfassen, sind regelmäßig unvereinbar mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit, zu dessen wesentlichen Elementen die Rechtssicherheit gehört, die ihrerseits für den Bürger in erster Linie Vertrauensschutz bedeutet“ (mit Hinweis u.a. auf BVerfGE 95, 64 ).

Ausnahmsweise sei eine echte Rückwirkung zulässig, wo sich kein berechtigtes Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage bilden konnte, wie etwa dann, wenn der Bürger nach der damaligen rechtlichen Situation mit dieser Regelung rechnen musste oder wenn eine unklare oder verworrene Rechtslage zu bereinigen sei (mit Hinweis u.a. auf BVerfG Beschluss vom 14.5.1986 – 2 BvL 2/83 – BVerfGE 72, 200 ). ___________ 5

BGH Urteil vom 9.3.2005 – VIII ZR 381/03. BVerwG Urteil vom 13.9.2007 – BVerwG 5 C 38.06. 7 BVerwG Urteil vom 13.9.2006 – BVerwG 6 C 10.06. 6

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3. Von besonderer Bedeutung ist die Rückwirkungsthematik im Steuerrecht und im Sozialrecht. Derjenige, der sich nach dem gültigen Steuerrecht verhält, wird nachträglich, wenn er nichts mehr ändern kann, mit einer oder mit einer höheren Steuerschuld belastet. Soziale Rechte, auch solche, die unter Eigentumsschutz stehen, werden nachträglich entzogen, wobei sich stets eine der Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot einzufinden scheint. Mit dem Vorlagebeschluss des BFH vom 16.12.20038 an das BVerfG und dessen weiteren Vorlagebeschlüssen, auf die zurück zu kommen ist, ist die Hoffnung verbunden, das BVerfG werde die nicht ganz homogenen Ansätze seiner beiden Senate klären und sie neu konzipieren. 4. Das BSG9 hat in neuerer Zeit zur unechten Rückwirkung bei einer Übergangsregelung zu einer Insolvenzgeldverschlechterung mit einer verfassungsgeleiteten Interpretation betont, dass auch eine tatbestandliche Rückanknüpfung nicht schrankenlos zulässig ist. Es sagte: „Eine unechte Rückwirkung (oder tatbestandliche Rückanknüpfung) liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich eine Rechtsposition nachträglich entwertet (BVerfGE 43, 291, 391; 79, 29, 45 f). Zwar ist dem Rechtsstaatsgrundsatz ein absolutes Verbot unechter Rückwirkung nicht zu entnehmen. Jedoch ist die unechte Rückwirkung von Gesetzen unter Berücksichtigung der Schranke des Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzips i.S. des Art. 20 Grundgesetz nur innerhalb sachlicher Grenzen zulässig, die sich aus dem Gebot der Rechtssicherheit und dem daraus folgenden Vertrauensschutz ergeben. Bei der Bestimmung der Grenzen sind das schutzwürdige Interesse des betroffenen Personenkreises an einem Fortbestand der bisherigen Rechtslage und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen (BVerfGE 43, 291, 391; BSG SozR 3-4100 § 242q Nr. 1).“

5. Der 13. Senat des BSG10 hat in seinem Vorlagebeschluss vom 29.8.2006 an das BVerfG zu einer echt rückwirkenden belastenden Änderung einer bereits vorhandenen Kürzungsvorschrift des Fremdrentengesetzes (FRG = rentenversicherungsrechtlicher Lastenausgleich für Vertriebene) den Stand der Rechtsprechung des BVerfG zusammengefasst und eine Reihe sachlich-kritischer Fragen aufgeworfen, für die eine verfassungsgerichtliche Antwort als dringlich zu erachten ist. a) Vorab hat das BSG geklärt, weshalb keine „authentische Interpretation“ vorlag und eine solche die Rückwirkung auch nicht rechtfertigen kann: „Eine ‚authentische Interpretation‘, wie sie dem Gesetzgeber des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetzes (RVNG) augenscheinlich vorschwebt, ist dem geltenden deutschen (Verfassungs-)Recht fremd (hierzu eingehend W. Meyer in: Festschrift

___________ 8

BFH Vorlagebeschluss vom 16.12.2003 – IX R 46/02. BSG Urteil vom 5.12.2006 – B 11a AL 19/05 R. 10 BSG Vorlagebeschluss vom 29.8.2006 – B 13 RJ 47/04 R. 9

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50 Jahre BSG, 2004, S. 221 ff.). Dem Gesetzgeber kommt es nicht zu, ein Gesetz rückwirkend authentisch zu interpretieren. Die Auslegung der gesetzlichen Vorschriften obliegt ausschließlich den Gerichten (BVerfG vom 17. Juni 2004, BVerfGE 111, 54, 107). Das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) verbietet der Gesetzgebung, eine missliebige Rechtsprechung im Nachhinein zu korrigieren und sie damit für die Vergangenheit ins Unrecht zu setzen. Die Behauptung, nichts Neues regeln, sondern durch eine Änderung des Wortlauts (lediglich) „klarstellen“ zu wollen, wie die frühere Gesetzesfassung von Anfang an zu verstehen gewesen sei, entbindet den Gesetzgeber nicht von der Beachtung des Verbots der echten Rückwirkung (BVerfG vom 31. März 1965, BVerfGE 18, 429, 439 = SozR Nr. 5 zu Art. 28 GG; zu § 22b FRG vgl. bereits Senatsurteil vom 11. März 2004, BSGE 92, 248 = SozR 4-5050 § 22b Nr. 1 RdNr. 24 ff.; ausführlich zur „authentischen Interpretation“ z.B. BSG vom 27. September 1989, SozR 4100 § 168 Nr. 22 S. 55 f. m.w.N.; ferner LVerfG Sachsen-Anhalt vom 15. Januar 2002 - LVG 3/01, RdNr. 45 ff.).“

b) Den nach dem BVerfG maßgeblichen „Rückwirkungsbegriff“ umschrieb das BSG so: „Der Änderung des § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG in der Fassung des RVNG kommt eine echte Rückwirkung (eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen) zu. Denn der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs der Rechtsnorm wurde vom Gesetzgeber zum Nachteil der Betroffenen (darunter der Klägerin) auf einen Zeitpunkt festgelegt, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm durch ihre ordnungsgemäße Verkündung rechtlich existent, d.h. gültig geworden ist (vgl. BVerfG vom 3. Dezember 1997, BVerfGE 97, 67, 78 m.w.N.). Da nach Art. 15 Abs. 3 RVNG die Änderung des § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG durch Art 9 Nr. 2 RVNG „mit Wirkung vom 7. Mai 1996“ in Kraft tritt, das RVNG jedoch erst am 26. Juli 2004 verkündet wurde… , liegt eine echte Rückwirkung von über acht Jahren vor.“

Das BSG stellt ausdrücklich den Zeitraum von acht Jahren vor der Gesetzesverkündung heraus, für den es eine Rückwirkung bejaht, als geschähe etwas in der Vergangenheit. Sodann führt es aus, es liege eine belastende Änderung vor; nur bei diesen stelle sich die Rückwirkungsfrage. Die Änderung sei auch nicht nur deklaratorischer Art gewesen, weil sie nicht lediglich bestätigt habe, was schon aus der ursprünglichen Norm folgte. Demnach setzt die Rückwirkungsproblematik eine inhaltliche Gesetzesänderung voraus, nicht nur eine Änderung des Gesetzestextes. c) Dann fasst das Gericht das grundsätzliche Verbot der Rückwirkung und den dazugehörigen Ausnahmekatalog zusammen: „Eine belastende (echte) Rückwirkung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) i.V.m. den jeweils einschlägigen Grundrechten unvereinbar. Zu dessen wesentlichen Elementen gehört die Rechtssicherheit, die ihrerseits, so das BVerfG, für den Bürger in erster Linie Vertrauensschutz bedeutet. Dieser greift ausnahmsweise nicht durch – d.h. die Rückwirkung ist zulässig – , a) wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen musste, b) wenn das bisher geltende Recht unklar und verworren war, c) wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte, d) wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls, die

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dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind, eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen. Diesen Katalog von vier Kriterien (aufgestellt im Urteil vom 19. Dezember 1961, BVerfGE 13, 261, 271 f.; bestätigt im Beschluss vom 31. März 1965, BVerfGE 18, 429, 439; als „ständige Rechtsprechung“ bezeichnet in BVerfG vom 25. Mai 1993, BVerfGE 88, 384, 404) hat es 1971 – inhaltlich – um die Fallgruppen ergänzt, dass e) das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden (BVerfG vom 23. März 1971, BVerfGE 30, 367, 388) oder f) durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird – Bagatellvorbehalt – (BVerfG vom 23. März 1971, BVerfGE 30, 367, 389 f.).“

Dieser Katalog enthält scheinbar sechs Ausnahmen vom „Rückwirkungsverbot“. Dieses selbst setzt sich aber nur selten vor Gericht durch; es wird dort meistens von den „Ausnahmen“ verdrängt. Wenn eine Rückwirkung streitig wird, kehrt sich also faktisch der Grundsatz zur Ausnahme. Ferner ist dieser Katalog nach dem BVerfG nicht einmal abschließend.11 Daher ist jedes Gericht aufgefordert, neue Ausnahmen zu erwägen, wenn der Bürger sich auf das Verbot beruft und keine „Katalogrechtfertigung“ den Eingriff legalisiert. Das heißt: Forensisch kommt es auf die Ausnahmen an. Wenn das Verbot dann noch aus dem Schutz eines (individuell betätigten, berechtigten) Vertrauens des Bürgers in den Fortbestand gültiger Gesetze in der Zukunft hergeleitet wird, das gegen das Interesse des Staates an rückwirkender Gesetzesänderung abgewogen werden soll, läuft dies im Ergebnis darauf hinaus, dass die „Staatsraison“ durchdringt, wenn dies nicht ausnahmsweise dem letztentscheidenden Gericht aus „Vertrauensschutzerwägungen“ als unbillig erscheint. d) Das BSG hatte keinen Anlass, auf die Katalogausnahmen c), e) und f) einzugehen oder zu prüfen, ob dem Katalog überhaupt eine stimmige innere Ordnung zugrunde liegt. Zur „unklaren und verworrenen Rechtslage“ (Katalogfall b), die aber nicht gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze der Bestimmtheit des Gesetzes und der Normenklarheit verstößt und nicht deshalb zur Nichtigkeit des Gesetzes führt (das wäre Katalogfall c) fasst das BSG den Kern seiner Bedenken hierzu so zusammen: „Es ist daher von vornherein zweifelhaft, ob überhaupt durch eine Rechtsprechung eine ‚unklare und verworrene Rechtslage‘ eintreten kann. Der vorlegende Senat ist insoweit der Auffassung, dass nur der Gesetzgeber selbst durch mehrdeutige oder widersprüchliche Gesetze ohne eindeutigen Vorrang durch den Lex specialis- oder den Lex posterior-Satz eine solche unklare und verworrene Rechtslage schaffen kann (s. W. Meyer, Festschrift 50 Jahre BSG, 2004, S. 221, 238 f.). Dann mag er durch schnelles Handeln u.U. auch rückwirkend unklare Regelungen verdeutlichen dürfen (vgl. die Fallgestaltung bei BVerfG vom 4. Mai 1960, BVerfGE 11, 64, 70 ff., 77). Nur wenn ein derartiges Gesetz zur verfassungsrechtlichen Prüfung steht, kann es darauf ankommen, ob die Rechtslage (objektiv) völlig klar war und das Gesetz bisher

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Stellv. BVerfGE 72, 200, 258.

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zutreffend angewandt worden ist. Äußerungen, mit denen das BVerfG diesen Prüfungsmaßstab auch an oberstgerichtliche Entscheidungen anzulegen scheint (BVerfG vom 31. März 1965, BVerfGE 18, 429, 439; vgl. auch die Vorgehensweise in BVerfG vom 24. Juli 1968, BVerfGE 24, 75, 93 ff.), kann gegenüber diesen grundsätzlichen Erwägungen kein entscheidendes Gewicht zukommen. Jedenfalls aber darf sich der Gesetzgeber nicht unter Berufung auf eine unklare und verworrene Rechtslage rückwirkend in Widerspruch zu einer oberstgerichtlichen Rechtsprechung begeben.“

Der verfassungsgerichtliche Ansatz bei dem „Vertrauensschutz des Bürgers“ führt also notwendig zu der Frage, ob der einzelne Bürger oder die von der späteren Rückwirkung belastete Gruppe vor der Gesetzesänderung überhaupt ein Vertrauen auf den Fortbestand der Gültigkeit des bisherigen Gesetzes gebildet haben muss. Für die Gültigkeit und Verbindlichkeit des Gesetzes und für die Befolgungs- und Beachtungspflicht des Bürgers ist unerheblich, ob dieser in die Gültigkeit individuell subjektiv vertraut oder ob ihm diese gleichgültig ist. Es kommt nur darauf an, dass er sich gemäß dem gültigen Gesetz verhält. Ein subjektives Vertrauen auf einen bestimmten Inhalt eines gültigen Gesetzes ist bei einer „unklaren und verworrenen Rechtslage“ nur selten denkbar. Die meisten/nahezu alle Gesetze, die bestimmt, normenklar und justiziabel und deshalb nicht wegen eines solchen Fehlers bereits nichtig sind,12 bedürfen der Auslegung. Mehrere Auslegungen können mit zum Teil unterschiedlichen Ergebnissen zunächst konkurrieren. Diese Unsicherheit wird u.U. erst durch eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes für die Rechtspraxis ausgeräumt. Insoweit und bis dahin kann die „objektive“ Gesetzeslage, soweit sie mit unterschiedlichen Ergebnissen ausgelegt wird, für den Einzelnen noch keine subjektive Vertrauensgrundlage sein. Allerdings kann er sich durchaus schon vor der endgültigen Klärung in deren Sinne, aber ohne Vertrauen, „objektiv“ gesetzeskonform verhalten. Gleiches gilt für den in den Nachkriegs- und Wiedervereinigungszeiten nicht seltenen Fall, dass verschiedene (hinreichend bestimmte) Gesetze nicht nur von fraglicher Gültigkeit waren (Art. 123 GG, Art. 8, 9 Einigungsvertrag), sondern auch Unvereinbares anordneten, ohne dass Regeln der Normenkonkurrenz sicher anwendbar waren. In neuerer Zeit häufen sich (insbesondere im Sozialrecht) die Fälle, in denen die gesetzesvorbereitende Regierung, die ihr dabei „helfenden“ Verwaltungsträger und Lobbyisten sowie Fachleute aus den einschlägigen Parlamentsausschüssen und deren Mitarbeiter Gesetzestexte vorbereiten und vom Deutschen Bundestag beschließen lassen, die bei Anwendung aller anerkannten juristi___________ 12

Vgl. zu einem Gegenbeispiel den Vorlagebeschluss des 4. Senats des BSG vom 5.6.2007 – B 4 RS 5/07 R, dort auch zum Rückwirkungsverbot und den Katalogausnahmen a) und b) (Rn. 109 bis 120) unter Anschluss an die im Text genannten Erwägungen des 13. Senats des BSG.

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schen Auslegungsmethoden an der untersten Grenze der Auslegbarkeit liegen. Diese „Gesetzgeber“ verbinden jedoch mit den Texten einen bestimmten, dem Plenum des Parlaments manchmal nicht einmal oder nur teilweise mitgeteilten und in rechtlicher Auslegung nicht vorzugswürdigen Inhalt. Ihre Vorstellung fechten sie, wenn die Verwaltungsgerichte nicht sofort gemäß den Verwaltungsvorschriften statt nach dem Gesetz entscheiden, bis zu einer oberstgerichtlichen „ständigen Rechtsprechung“ durch. Falls sie dort unterliegen, setzen sie ihren Gestaltungswillen als ursprünglichen und wahren Willen des „Gesetzgebers“ (offenbar ist nicht das Parlament gemeint) in einem späteren Bundestag mittels angeblich „klarstellender“ oder wegen verworrener Rechtslage zulässig rückwirkender Gesetzesänderung durch.13 Vertrauensschutz kann es hier nach dem Willen der vollziehenden Gewalt nicht für ein Vertrauen auf die objektiv gültigen Gesetze, sonder nur für dasjenige auf ihren Willen und auf ihre (gesetzwidrigen) Verwaltungsvorschriften geben. e) Aber: Reicht denn sonst ein Vertrauen des Bürgers auf das gültige Gesetz und dessen Fortbestand aus oder muss er es durch Dispositionen betätigt haben? Fraglich wird ggf., ob dieses betätigte Vertrauen berechtigt war, ggf., ob dieses betätigte und berechtigte Vertrauen auf den zukünftigen Fortbestand derzeit gültiger Gesetze schutzwürdiger ist als das öffentliche Interesse an der Rückwirkung des späteren Änderungsgesetzes. Erst wenn dies alles erfüllt ist, greift das Rückwirkungsverbot durch. Deshalb drängt sich die Frage auf, ob es des genannten grundsätzlichen Verbots und des dazugehörigen Ausnahmenkatalogs überhaupt bedarf. Wenn es nur auf das überwiegende Vertrauen des Bürgers in den zukünftigen Fortbestand des derzeit gültigen Gesetzes ankommt, weshalb sollte man dann ferner noch zwischen echter und unechter Rückwirkung unterscheiden? Was gilt, wenn der Bürger nach der Art der Sachmaterie kein Vertrauen betätigen konnte? – Der 13. Senat des BSG sagt dazu: „Dies wird deutlich anhand solcher Stimmen der Literatur, die die Differenzierung zwischen echter und unechter Rückwirkung fallen lassen wollen; stattdessen sei von einem einheitlichen dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff auszugehen (s. z.B. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 236 f. m.w.N.): Eine Rückwirkung liege vor, wenn ein Gesetz Rechtsfolgen für bereits abgeschlossene Vertrauensbetätigungen ändere. Legt man diese Kriterien an Fallgestaltungen wie die vorliegende an, so wird dort – anders als bei der Änderung von dispositionsbezogenen Steuernormen – kaum jemals eine Vertrauensbetätigung im Sinne einer (Vermögens-)Disposition vorliegen: Die bloße Stellung eines Antrags auf Sozialleistungen (hier: Zahlung einer weiteren Rente) ist keine Vermögensdisposition; und das Wei-

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Einige Beispiele bei W. Meyer, Nochmals: Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, NJW 2007,3682 bis 3688 (Heft 51); hält sich ein oberster Gerichtshof zu fest an die Rechtsprechung des BVerfG, kann dem auch eine Entfernung unbequemer Richter abhelfen, s. Der Spiegel vom 30.7.2007, Nr. 31, S. 51.

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terverfolgen dieses Antrags nach Ablehnung durch den Rentenversicherungsträger verursacht allenfalls Kosten für die Rechtsvertretung. Denkt man in Kategorien einer Vermögensdisposition des Einzelnen, kann in Fällen wie dem vorliegenden auch das für Übergangsregelungen bei unechter Rückwirkung sprechende Argument nicht weiterhelfen, den Betroffenen müsse die Möglichkeit eingeräumt werden, ihre Lebensführung auf künftig eingeschränkte Rentenleistungen einzustellen (hierzu BVerfG vom 13. Juni 2006 – 1 BvL 9/00 u.a., unter C II 2 der Gründe). Ließe man es bei dieser eher subjektiven Beurteilungsgrundlage bewenden, so bedeutete dies freilich einen Freibrief des Gesetzgebers für jegliche echte Rückwirkung, soweit es um solche staatlichen Leistungen geht, die keine weiteren Dispositionen im Hinblick auf eine erwartete Leistungsgewährung nach sich ziehen, wie typischerweise im Sozialrecht. Es geht also nicht etwa um ein Sonderproblem sozialhilfeähnlicher staatlicher Leistungen, sondern um die Grundfrage, ob dem Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt werden soll, ungeachtet (vor allem: entgegen) der Rechtsprechung rückwirkend anzuordnen, dass ein früheres Gesetz nur so und nicht anders verstanden werden durfte (zu einer ganz entsprechenden Fallgestaltung s. bereits die dem Beschluss des BVerfG vom 20. Februar 2002, BVerfGE 105, 48 zugrunde liegende Vorlage des BSG 8. Senat vom 28. Mai 1997 – 8 RKn 27/95, insoweit nicht vollständig in SozR 314 2600 § 93 Nr. 3 abgedruckt).“

Danach legt das BSG dar, dass in den Materien, in denen keine Dispositionen getroffen werden können, ein individualisierter und subjektivierter Vertrauensschutz zur grenzenlosen Rückwirkungsermächtigung mutiere und auch gegen die Gewaltenteilung verstoße, weil es Sache der Rechtsprechung sei, die Gesetze verbindlich auszulegen. Die Zulässigkeit rückwirkender Gesetze könne auch nicht vom Verständnis, nicht vom Verstand und nicht von den Informationsmöglichkeiten Einzelner abhängen. Zu schützen sei die Rechtssicherheit, die sich nicht in ihrer Teilbedeutung als Vertrauensschutz erschöpfe. Daher schloss der 13. Senat des BSG sich ausdrücklich den Erwägungen des BFH im o.g. Vorlagebeschluss vom 16.12.200315 an, mit denen dieser sich gegen einen einheitlichen dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff ausgesprochen hatte. f) Zum „Rechnenmüssen“(Katalogfall a) sagt das BSG: „Ein Anhaltspunkt, das objektivierte Vertrauen, die Rechtssicherheit vor dem erneuten Tätigwerden des Gesetzgebers (ab Dezember 2003) enden zu lassen, fehlt. Zu diesem Zeitpunkt aber hatte die Klärung der durch § 22b FRG a.F. geschaffenen Rechtslage durch das BSG zumindest schon begonnen; sie war dem Grunde nach jedenfalls abgeschlossen, bevor die Neufassung der Vorschrift durch das RVNG verkündet war. Der objektiven Betrachtungsweise des Senats widerspräche es ferner, an Einschnitte innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens des RVNG in dem Sinne anzuknüpfen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt kein „Vertrauen“ in den Bestand der Regelung mehr gerechtfertigt gewesen sei. Die echte Rückwirkung ist weder ab dem

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Der 4. Senat des BSG (SozR 3 -2600 § 93 Nr. 8 S. 84 f.) hatte dem Inhalt jener Vorlage des 8.Senats in materiell-rechtlicher Hinsicht umfassend zugestimmt, war aber trotz ähnlicher materieller Fallgestaltung aus verwaltungsverfahrensrechtlichen Gründen an einer Vorlage an das BVerfG gehindert. 15 BFHE 204, 228, 243f.

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Zeitpunkt z.B. des Kabinettsbeschlusses (vgl. zu § 22b FRG i.d.F. des WFG: BVerfG Kammerbeschluss vom 3. Juli 2006 - 1 BvR 2383/04) noch ab dem des ersten Gesetzesbeschlusses des Bundestages (am 11. März 2004) oder ab dem der Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates (am 16. Juni 2004) zulässig. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn sich das Gesetz selbst – wie hier – keine derartige Rückwirkung beimisst, sondern für sein Inkrafttreten einen noch weiter zurückliegenden Zeitpunkt in der Vergangenheit wählt.“

Hierauf ist später einzugehen. g) Letztlich geht das BSG auch noch auf den Katalogfall d) der zwingenden Belange des Gemeinwohls ein: „Auch zwingende Gründe des gemeinen Wohls rechtfertigen hier keine Durchbrechung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots. Dafür gelten strengere Voraussetzungen als im Falle einer unechten Rückwirkung, bei der lediglich die Anforderungen des Gemeinwohls mit dem Ausmaß des Vertrauensschutzes abzuwägen sind (BVerfG vom 23. März 1971, BVerfGE 30, 367, 390 f.). Zu den Gründen des gemeinen Wohls können zwar finanzielle Belange der öffentlichen Haushalte gehören. Geringe Einspareffekte rechtfertigen indes noch nicht zwingend eine echte Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen), insbesondere keine einschneidenden Eingriffe in einen bereits entstandenen (Einzel-)Anspruch auf Rente (Senatsurteil vom 19. Mai 2004, BSGE 93, 15 = SozR 4-5050 § 22b Nr. 3 RdNr. 62 ff.). Im vorliegenden Fall sind die mit der rückwirkenden Anwendung des § 22b Abs. 1 Satz 1 FRG n.F. verbundenen Einsparungen nicht erheblich. Dies ergibt sich aus den Berechnungen der Bundesknappschaft … ).“

Ersichtlich geht das BSG davon aus, dass erhebliche (ab welcher Höhe?) finanzielle Belange des Staates das objektive Gebot der Rechtssicherheit zu Fall bringen. Nimmt man den „Bagatellvorbehalt“ (Katalogfall f) hinzu, ist das aus der Rechtssicherheit hergeleitete Rückwirkungsverbot aus finanziellen Gründen nicht anzuwenden, wenn die sonst verbotene Rückwirkung dem Bürger nur einen geringen finanziellen Schaden verursacht, ein verfassungsgemäßes Verhalten den Staat also wenig kosten würde, oder wenn es dem Staat viel kosten würde, die Rückwirkung ihn also vor einem erheblichen finanziellen Nachteil bewahrt. Die Rechtssicherheit unterliegt demnach einem Finanzierungsvorbehalt; Rechtssicherheit darf nicht zu teuer (aber auch nicht zu billig) werden. Aus welcher Verfassungsnorm ergibt sich das? 6. Der 9. Senat des BFH hatte bereits in seinem genannten Vorlagebeschluss vom 16.12.200316 zur unecht rückwirkenden und übergangslosen Verlängerung der Spekulationsfrist für private Grundstücksverkäufe, bei denen zum Stichtag die zuvor geltende gesetzliche Spekulationsfrist schon abgelaufen war, bekräftigt: Der Senat „hält dabei nach erneuter Überprüfung an der Unterscheidung von Rückbewirkung von Rechtsfolgen und tatbestandlicher Rückanknüpfung fest, weil sonst

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IX R 46/02 = BFHE 204, 228 = NJW 2004, 881 ff.

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die Gefahr bestünde, den verfassungsrechtlichen Schutz im Bereich der Rückbewirkung von Rechtsfolgen zu verringern. Der Eingriff in einen abgeschlossenen, der Vergangenheit angehörenden Sachverhalt ist besonders einschneidend und bedarf daher stärkeren Schutzes (BVerfGE 30, 250 [268] = NJW 1971, 1603), die Rückbewirkung von Rechtsfolgen ist grundsätzlich unzulässig (BVerfGE 97, 67 [78] = NJW 1998, 1547), ohne dass es - anders als bei tatbestandlicher Rückanknüpfung (vgl. BVerfGE 75, 246 [280] = NJW 1988, 545) hierzu einer Betätigung des Steuerpflichtigen im Vertrauen auf die alte Rechtslage bedarf. Denn der Gesetzgeber greift mit der Rückbewirkung von Rechtsfolgen nicht nur in Dispositionen des Steuerpflichtigen ein, sondern er verstößt zusätzlich auch gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtssicherheit. Dieses Gebot enthält als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 III GG ein objektives Element (so auch Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, § 112, m.w. Nachw.). Es verlangt eine gewisse Rechtsbeständigkeit (BVerfGE 11, 64 [72] = NJW 1960, 1195), Berechenbarkeit und die Verlässlichkeit der geltenden Rechtsordnung (BVerfGE 101, 239 [262] = NJW 2000, 413; BVerfGE 45, 142 [167f.] = NJW 1977, 2024; vgl. F. Kirchhof, StuW 2002, 185 [196]). Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist für eine freiheitliche Ordnung und damit für einen Wandel in geordneter Freiheit wesensnotwendig (BVerfGE 60, 253 [268] = NJW 1987, 1749; BVerfGE 72, 200 [257] = NJW 1987, 1744; Steinberger, BVerfGE 48, 1 [24f.], insoweit in NJW 1978, 1575, nicht abgedr., insoweit nicht abweichend). Teilweise wird auch von einem so genannten rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebot gesprochen (vgl. BVerfGE 84, 239 [285] = NJW 1991, 2129; BVerfGE 102,68 [97] = NJW 2000, 2730; P. Kirchhof, StuW 2000, 221 [222, 224, 227]; A. Leisner, StuW 1998, 254 [258]; dies., in: Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 465ff., 477ff.). Dies objektive Element gewinnt dort an Bedeutung, wo eine rückwirkende Rechtsänderung ohne Dispositionsbezug erfolgt (vgl. z.B. BVerfGE 97, 378 [389 unter 2] = NJW 1998, 2731; s. auch Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 173); in diesen Fällen besteht auf Grund von Art. 20 III GG auch ohne Disposition Schutz vor einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen.“

Dies wird vom BVerfG im Sozialrecht und sonst so nicht eindeutig anerkannt, worauf der 13. Senat des BSG hingewiesen hat. Das wird noch anzusprechen sein. Zwar werde der Rechtsprechung des BVerfG, so der BFH, teilweise entgegengehalten, sie habe „überzeugenden Vertrauensschutz für die Dispositionen des Steuerpflichtigen bisher nicht hervorzubringen vermocht (Birk, Die Verwaltung Bd. 35, 91 [109, 111]). Daher wird gefordert, von einem einheitlichen, dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff auszugehen (Friauf, BB 1972, 669 [675]; Lang, WPg 1998, 163; ders., in: Tipke/Lang, § 4 Rdnr. 178; Schaumburg, DB 2000, 1884; Jachmann, ThürVBl 1999, 269; ausführl. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 245 ff. m.w. Nachw.). Rückwirkung liege vor, wenn ein Gesetz Rechtsfolgen für Vertrauensbetätigungen ändere, die vor dem endgültigen Änderungsbeschluss des Gesetzgebers oder der Verkündung des Gesetzes als abgeschlossen zu beurteilen seien (Lang, WPg 1998, 163 [172]). Im Zeitpunkt der Disposition werde grundrechtliche Freiheit wahrgenommen und rechtsstaatliches Vertrauen betätigt (F. Kirchhof, StuW 2002, 185 [197]). Es sei unerheblich, ob die Gesetzesänderung den Steuerpflichtigen in einer Rechtsposition betreffe, in der er auf Grund eines abgeschlossenen oder eines noch

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offenen, jeweils aber fortwirkenden Sachverhalts steuerbegründend gebunden sei (P. Kirchhof, StuW 2000, 221 [229]). Eine Veräußerung am 1. 1. 1999 unterscheide sich insoweit nicht von einer solchen am 31. 12. 1998 (Schwenke, FR 1997,45 [48f. f.]).“

Auch betone das BVerfG in seiner neueren Rechtsprechung bei Lenkungsnormen die Bedeutung des Dispositionsschutzes: „Bietet ein Steuergesetz dem Steuerpflichtigen eine Verschonungssubvention oder Steuervergünstigung an, die dieser nur während des Veranlagungszeitraums annehmen kann, so schafft dieses Angebot für diese Disposition in ihrer zeitlichen Bindung eine Vertrauensgrundlage, auf die der Steuerpflichtige seine Entscheidung stützt. Er entscheidet sich um des steuerlichen Vorteils willen für ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten, das er ohne den steuerlichen Anreiz so nicht gewählt hätte. Diese Dispositionsbedingungen werden damit vom Tag der Entscheidung an zu einer schutzwürdigen Vertrauensgrundlage (BVerfGE 97, 67 [80] = NJW 1998, 1547; BVerfGE 105, 17 [40] = NJW 2002, 3009; BVerfG, DB 2001, 1650); insoweit wird nicht mehr auf den Zeitpunkt der Entstehung der Steuer (§ 36 I EStG) abgestellt.“

Jedoch, so weiter der BFH, sei bei der tatbestandlichen Rückanknüpfung das rechtsstaatliche Kontinuitätsgebot lediglich zu Gunsten des Steuerpflichtigen in die Abwägung einzubeziehen, ob das Änderungsinteresse des Staates das durch eine Disposition betätigte Vertrauen des Bürgers überwiegt: „Deshalb hält es der Senat mit der neueren Rechtsprechung des BVerfG für erforderlich, bei tatbestandlicher Rückanknüpfung in jedem Einzelfall zu prüfen, inwieweit und mit welchem Gewicht das Vertrauen in die bestehende günstige Rechtslage schützenswert ist und ob die öffentlichen Belange, die eine nachteilige Änderung rechtfertigen, dieses Vertrauen überwiegen (BVerfGE 105, 17 37] = NJW 2002, 3009).“

Hingegen sei eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen nur gegeben, „wenn ein neues Gesetz in Sachverhalte eingreift, die vor der Gesetzesverkündung abgeschlossen waren und die die Voraussetzungen eines bisher geltenden Tatbestands erfüllten (BVerfGE 30, 367 [386f.] = NJW 1971, 309). Für diese Annahme fordert das BVerfG bei Steuergesetzen, dass die Steuer im Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes bereits entstanden ist (sog. Veranlagungszeitraum-Rechtsprechung,…“.

Der BFH erklärt, der verstärkte Schutz von Dispositionen sei auf alle Steuerrechtsnormen zu erstrecken. Der BFH hat nicht erörtert, ob die von ihm für eine unechte Rückwirkung geforderte konkrete Abwägung möglicherweise über den „Vertrauensschutz“ hinausgeht, der dem Bürger bei der echten Rückwirkung im Rahmen des nicht abgeschlossenen Ausnahmenkatalogs zugestanden wird. Nicht angesprochen wurde auch, wodurch sich beide Weisen des Vertrauensschutzes überhaupt konkret unterscheiden. 7. Zuletzt hat der 11. Senat des BFH die Rückwirkungsthematik dem BVerfG mit zwei Vorlagebeschlüssen vom 2.8.2006 vorgetragen, in denen es

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um die rückwirkende Anordnung ging, der halbe Steuersatz des § 34 Abs. 1 EStG a.F. werde durch die sog. Fünftelregelung ersetzt.17 In beiden Fällen waren bei einer Aufhebung des Arbeitsverhältnisses Entschädigungen vereinbart und ausgezahlt worden, bevor das Änderungsgesetz verkündet wurde und rückwirkend auf die Zeiten davor eine höhere Besteuerung vorschrieb. Der BFH weicht ausdrücklich vom BVerfG ab, weil er eine echte Rückwirkung bejaht: „Bei Veranlagungssteuern wie der Einkommensteuer hat sich das BVerfG auf den Standpunkt gestellt, aufgrund der Jahresbezogenheit der Einkünfte- und Einkommensermittlung trete die durch das Verhalten des Steuerpflichtigen ausgelöste Rechtsfolge erst in dem Zeitpunkt ein, in dem die Steuerschuld entsteht (vgl. BVerfGBeschlüsse vom 14. Mai 1986 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200, 253, BStBl II 1986, 628, unter C.II.2.b; vom 15. Januar 1992 2 BvR 1824/89, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung – HFR – 1992, 729; vom 8. Februar 1993 2 BvR 1765/92, HFR 1993, 329). Da die Einkommensteuer gemäß § 36 Abs. 1 EStG grundsätzlich erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums, also des Kalenderjahres (vgl. §§ 2 Abs. 7, 25 Abs. 1 EStG) entsteht, bewirkt dieser Ansatz, dass Handlungen oder Vorgänge während des Kalenderjahres unter dem Gesichtspunkt einer unechten Rückwirkung zu würdigen sind.“

Sodann weist der 11. Senat auf die bereits vom 9. Senat im genannten Vorlagebeschluss dargelegte Entwicklung in der Rechtsprechung des Zweiten Senats des BVerfG und auf die Kritik daran hin, dass der Veranlagungszeitraum für die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung entscheidend sein soll. Er führt aus: „Auch in der Literatur ist der Rechtsprechung des BVerfG in BVerfGE 72, 200, BStBl II 1986, 628 zur Maßgeblichkeit des Ablaufs des Veranlagungszeitraums weitgehend die Zustimmung versagt worden. K. Vogel … hat dargelegt, dass die Dogmatik des Einkommensteuerrechts der Annahme, es könne nicht entscheidend auf die Entstehung der Steuerschuld und den Ablauf des Kalenderjahres ankommen, nicht entgegensteht (K. Vogel, in Festschrift für Martin Heckel, S. 875, 882 f.). Bei den Überschusseinkünften (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 bis 7 EStG) ergäben sich die Überschüsse aus einzelnen Wirtschaftsvorgängen, die sich jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt ereignet hätten. Auch bei den Gewinneinkünften (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 EStG) beruhe der Unterschiedsbetrag gemäß § 4 Abs. 1 EStG zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss eines Wirtschaftsjahres und demjenigen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres zum allergrößten Teil auf einzelnen Geschäftsvorfällen, die gesondert verbucht würden. Nicht zeitlich zuordenbare Wertminderungen oder -erhöhungen könnten pro rata temporis aufgeteilt werden. Nach seiner Formulierung ist deshalb auch für Steuergesetze eine echte Rückwirkung dann anzunehmen, , wenn und soweit eine im Gesetz neu oder verändert vorgesehene Rechtsfolge auch oder nur in Fällen gelten soll, in denen die Tatbestandsvoraussetzungen ausschließlich vor Verkündung des Gesetzes erfüllt worden sind‘ (K. Vogel, a.a.O., S. 875, 878). Die Rechtsansicht, dass für den durch Art. 20 Abs. 3 GG gewährten Vertrauensschutz nicht der Ablauf des Kalenderjahres, sondern nur diejenige Rechtslage maßgebend

___________ 17

XI R 30/03 und XI R 34/02.

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sein kann, die im Zeitpunkt der Handlung des Steuerpflichtigen bzw. der Verwirklichung der Voraussetzungen des gesetzlichen Tatbestandes bestanden hat, entspricht 18 der ganz überwiegenden Meinung in der Literatur.“

Zum Schnittpunkt zwischen echter und unechter Rückwirkung sagt der BFH: „Der Senat sieht grundsätzlich die Verkündung (Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG) des Änderungsgesetzes als den Zeitpunkt an, bis zu dem das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die alte Rechtslage nach den Grundsätzen einer echten Rückwirkung schutzwürdig ist. Denn erst ab seiner Verkündung ist das geänderte Gesetz rechtlich existent (vgl. BVerfG-Beschluss vom 22. März 1983 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343, 353). Auch das BVerfG stellt bei seiner Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung zunächst auf die Existenz des Gesetzes und damit auf den Zeitpunkt der Verkündung ab; der Steuerpflichtige müsse im Rechtsstaat grundsätzlich bis zum Zeitpunkt der Verkündung einer steuerlichen Neuregelung darauf vertrauen können, dass Einkünfte, die ihm bis dahin zugeflossen seien, nicht nachträglich einer schärferen Belastung unterworfen würden, als sie bis dahin gegolten habe (vgl. Beschlüsse in BVerfGE 72, 200, 241 f., 254, BStBl II 1986, 628, und in BVerfGE 97, 67, 78 f., BGBl I 1998, 725). Doch sieht es sodann bei der Prüfung des Vertrauensschutzes häufig den Zeitpunkt des endgültigen Beschlusses des Bundestags gemäß Art. 77 Abs. 1 GG als ausschlaggebend an (vgl. BVerfG-Entscheidungen vom 19. Dezember 1961 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261; vom 29. Oktober 1969 1 BvL 19/69, BVerfGE 27, 167, 173 f.; vom 8. Februar 1977 1 BvF 1/76 u.a., BVerfGE 43, 291, 392; in BVerfGE 72, 200, 260, BStBl II 1986, 628; vom 15. Oktober 1996 1 BvL 44/92, BVerfGE 95, 64, 87; in BVerfGE 97, 67, 79, BGBl I 1998, 725). Von diesem Zeitpunkt an müssten die Betroffenen mit der Verkündung und dem In-Kraft-Treten rechnen und sich mit ihrem Verhalten auf die beschlossene Gesetzeslage einstellen (Beschluss in BVerfGE 72, 200, 261, BStBl II 1986, 628, und in BVerfGE 97, 67, 79, BGBl I 1998, 725). Die Frage, ob der maßgebliche Zeitpunkt für den Vertrauensschutz bei einer echten Rückwirkung die Verkündung des Gesetzes oder der Gesetzesbeschluss des Bundestags ist, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner abschließenden Entscheidung.“

___________ 18

Der BFH verweist auf „z.B. Kruse, in Festschrift für Klaus Tipke, S. 277, 284; Schwenke, Finanz-Rundschau – FR – 1997, 45, 48; Hey, BB 1998, 1444, 1446; dieselbe, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 212 ff.; Lang, Die Wirtschaftsprüfung – WPg – 1998, 163, 170; Arndt/Schumacher, NJW 1998, 1538; Rensmann, JZ 1999, 168, 170 f.; Schaumburg, Der Betrieb – DB – 2000, 1884, 1886 f.; dieselbe in Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2002, 1239; Demuth/Strunk, DStR 2001, 57 f.; P. Kirchhof, StuW 2000, 221, 223; F. Kirchhof, StuW 2002, 185, 196 f.; Offerhaus, DB 2001, 556; derselbe, Deutsche Steuer-Zeitung – DStZ – 2000, 9, 12 ff.; Reimer, DStZ 2001, 725, 730; Pleyer, NJW 2001, 1985 f.; Seeger, FR 2003, 30; Weber-Grellet, StuW 2003, 278, 285; Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 485, 568 f.; Spindler, DStR 1998, 953, 958; derselbe, DStR 2001, 725 f.; derselbe, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft – DStJG – 27 (2004), S. 69, 86; Mellinghoff, DStR 2003, Beihefter 3 zu Heft 20-21, 13 f.; derselbe, DStJG 27 (2004), S. 25, 43 f.; derselbe, in Festschrift für Peter Bareis, S. 171, 187 ff.; Birk, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO Rz. 739, m.w.N.; Kruse/Drüen, in Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO Tz. 16; Pahlke/Koenig/Pahlke, Abgabenordnung § 4 Rz. 80; Klein/ Gersch, a.a.O., § 4 Rz. 5; Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 18. Aufl., § 4 Rz. 177 f.; vgl. auch Osterloh, DStJG 24 (2001), S. 383, 404; Zustimmung zur Veranlagungszeitraum-Rechtsprechung des BVerfG äußern: R. Schmidt, DB 1993, 2250, 2258; Fiedler, NJW 1988, 1624, 1628 f.; Wernsmann, Juristische Schulung 2000, 39, 42).“

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Damit lässt der BFH offen, ob ein erst in Entstehung befindliches Gesetz die Maßgeblichkeit eines gültigen Gesetzes für den Bürger beseitigen kann. Wer hat für den Schaden aufzukommen, der dadurch entsteht, dass der Bürger sich nach einem (ersten?) Gesetzesbeschluss des Bundestages (oder schon ab einer Gesetzesinitiative – warum nur der Bundesregierung? – ) sein Verhalten nicht mehr am gültigen Gesetz ausrichtet, sondern an dem geplanten Gesetz, wenn dieses aber am Bundesrat oder Bundespräsidenten scheitert und daher nie verkündet oder wenn es etwa durch den Vermittlungsausschuss mit nachfolgendem zweiten Bundestagsbeschluss inhaltlich noch wesentlich geändert wird? Der Annahme einer echten Rückwirkung stehe, so der BFH, „nicht entgegen, dass der Bürger nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht darauf vertrauen kann, dass der zu Beginn eines Veranlagungszeitraums geltende Steuertarif bis zu dessen Ende unverändert bleibt (Beschluss vom 19. Dezember 1961 2 BvR 1/60, BVerfGE 13, 274; zustimmend Mellinghoff, DStJG 27 (2004), S. 25, 48; vgl. aber S. 67 zu Sondertarifen; P. Kirchhof, StuW 2000, 221, 231). Denn § 34 Abs. 1 EStG betrifft nicht den allgemeinen, sondern einen Sondertarif für bestimmte außerordentliche Einkünfte i.S. des § 34 Abs. 2 EStG. Diese stellen eine besondere Art von Einkünften innerhalb einer Einkunftsart dar; sie sind von anderen Einkünften der gleichen Einkunftsart zu trennen (vgl. BFH-Urteil vom 29. Oktober 1998 XI R 63/97, BFHE 188, 143, BStBl II 1999, 588). Ist der Sachverhalt, der die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Sondertarifs erfüllt, abschließend vor Verkündung des Änderungsgesetzes verwirklicht, kann nach Ansicht des Senats der Vertrauensschutz nicht geringer sein als z.B. für Steuerbefreiungen.“

Hier wird undeutlich, ob der BFH entgegen der von ihm zuvor zustimmend zitierten Literatur eine echte Rückwirkung bei rückwirkenden Änderungen des allgemeinen Steuertarifs ablehnen würde, oder ob es ihm nur darum ging, aufzuzeigen, dass die Ansicht des BVerfG jedenfalls bei Sondertarifen nicht durchgreifen kann, weil dort auch im Veranlagungszeitraum ein Sachverhalt abgeschlossen und ein Tatbestand erfüllt sein kann. Der BFH bestimmt die Rechtsfolge der echten Rückwirkung in Übereinstimmung mit dem BVerfG: „Nach der Rechtsprechung des BVerfG folgt aus der Unterscheidung von echter und unechter Rückwirkung kein absolutes Verbot der echten Rückwirkung, sondern nur ein graduell unterschiedliches Maß zu schützenden Individualvertrauens (vgl. Kyrill-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 125).“

Das absolute „strafrechtliche“ Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ist unstreitig weder direkt noch entsprechend anwendbar; allerdings lässt es auch keine Folgerung darauf zu, welche Rechtsfolgen sonst mit einer echten Rückwirkung belastender Gesetze verbunden sind. Träfe aber die vom BFH geteilte Ansicht des BVerfG zu, dass die Rechtsfolge einer echten Rückwirkung nur darin besteht, dass dem belastenden Änderungsgesetz lediglich ein „graduell unterschiedliches Maß zu schützenden Individualinteresses“ gegenüberzustellen ist, wäre diese von der Rechtsfolge der unechten Rückwirkung, der indi-

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vidualisierten Vertrauensschutzprüfung, kaum zu unterscheiden. Die Unterscheidung wird praktisch hinfällig. Wozu dient dann der ganze „akademische“ Aufwand? 8. Schließlich hat auch der EuGH, zumeist auf Verordnungsebene, über Rückwirkungsprobleme zu entscheiden. Hier muss der Hinweis ausreichen, dass er seit seinen Urteilen vom 25.1.197919 auf der Grundlage der sog „RackeFormel“ judiziert: „Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es zwar im allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies kann aber ausnahmsweise dann anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.“

Ein rückwirkender Gemeinschaftsakt ist danach unzulässig, wenn offensichtlich ist, dass der triftige Gründe des Gemeinschaftswohls verfolgende Zweck eine Rückwirkungsanordnung nicht erfordert hätte. Ist die Rückwirkung im Sinne dieser „Was wäre, wenn- Formel“ für den legitimen Zweck geeignet und erforderlich, kann sie an einer unzureichenden Berücksichtigung des individuellen Vertrauensschutzes scheitern. Dies setzt im objektiven Vertrauenstatbestand voraus, dass ein Gemeinschaftsorgan sich vertrauensbildend verhalten und dass der Betroffene nach altem Recht sein Vertrauen betätigt, insbesondere eine Disposition getroffen hat. Ferner kommt es subjektiv auf die Vorhersehbarkeit der Rückwirkungsanordnung und dabei auch auf die Vorinformation der (künftig) Betroffenen durch die Gemeinschaftsorgane an. Dagegen ist die unechte Rückwirkung grundsätzlich zulässig. Sie wird nur durch einen verminderten Vertrauensschutz begrenzt.20 Trotz aller Unterschiede läuft auch der Ansatz des EuGH, der näher am Erforderlichkeitsgedanken ausgerichtet ist, darauf hinaus, dass die Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung eine das Problem strukturierende Bedeutung hat. Von ihr hängen das grundsätzliche Verbot der ersten und die grundsätzliche Erlaubtheit der letzten ab, das eine aus Gründen der Rechtssicherheit, das andere aus denen der Demokratie. Dies regt bei den Ausnahmen vom Verbot zur stets offenen Fallgruppenbildung mit einer wenig geleiteten Abwägung zwischen Vertrauensschutz und Staatsinteresse an, bei der Erlaubnis zur Steigerung der individuellen Anforderungen an das Vertrauen und dessen Schutzwürdigkeit. Der EuGH stellt aber im Ansatz auf das auch die rückwirkende Verordnungsgewalt begrenzende „Verhältnismäßigkeitsprinzip“ ab und ___________ 19

Zu den Rechtssachen Racke und Decker, RS 98/78 (Racke), Slg. 1979, S. 69 (86) und RS 99/78 (Decker), Slg. 1979, S. 101 (111). 20 RS 84/78 (Tomadini), Slg. 1979, S. 1801 (1814); RS 278/84 (Deutschland/Kommission), Slg. 1987, S. 1 (47); näher zur Rechtsprechung des EuGH: Thomas Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 171 ff.

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begrenzt das danach erlaubt Erforderliche durch Vertrauensschutz. Dies könnte vielleicht weiterführen.

III. Anfragen Die geschilderten Problemlösungen gehen im Kern davon aus, dass es eine zeitliche Rückwirkung von Normen in die Vergangenheit gibt, die grundsätzlich nicht angeordnet werden darf, weil die Gesetze verlässlich sein müssen und der Bürger darauf vertrauen darf, dass er sein Verhalten nach den gültigen Gesetzen ausrichten kann. Was wäre, wenn man auf die zeitbezogene Rückwirkungsvorstellung verzichtete, wenn es allein um einen Eingriff des Änderungsgesetzes in den bei seiner Verkündung vorhandenen Ausgangsbestand an Rechten und Pflichten des Bürgers ginge und eine (dafür nicht einmal notwendige) Vordatierung ausschließlich den Umfang des Eingriffs offen legte? Hierzu skizzenhaft einige Ansätze.

1. Rückwirkung? – Zum Vergangenheitsbezug jeder Gesetzesänderung Jedes Gesetz, erst recht ein gesetzesänderndes, knüpft an Lebenssachverhalte an, die vor seiner Verkündung im Bundesgesetzblatt bereits vorlagen, mit der es existent und äußerlich wirksam, also mit dem „Geltungsanspruch“ versehen wurde, als Bestandteil der vom Grundgesetz getragenen Rechtsordnung gültig zu sein. Denn Umstände, die vorher noch nicht existierten, konnte der Bundestag nicht erwägen; sie können von gesetzlichen Tatbeständen noch nicht erfasst werden. Gleiches gilt für die Rechtsfolgen des neuen Gesetzes, durch die den Adressaten ein Verhalten geboten, verboten, erlaubt oder freigestellt wird. Nur ein „Handeln“, das der Gesetzgeber vor seinem Gesetzesbeschluss kannte und sich vorstellen konnte, konnte er als Rechtsfolge setzen.21 Wird eine Abgabe eingeführt, knüpft ihr Tatbestand an bekannte Sachverhalte an. Dieser Vergangenheitsbezug ist unvermeidbar, auch bei Gesetzen, die nur Vorgänge regeln, die sich nur nach ihrer Verkündung ereignen. Durch die Verkündung eines Änderungsgesetzes wird darüber hinaus die Rechtslage zeitlich geteilt in die alte Gesetzeslage der Vergangenheit, die Rechtsgeschichte wird, sobald sie forensisch abgearbeitet ist, und in die neue der Zukunft. Die neue Gesetzeslage wird erst im Zeitpunkt der Verkündung des Bundesgesetzes existent, die das Gesetzgebungsverfahren abschließt und ein in___________ 21 Entsprechendes gilt augenfällig auch für neue Normen, die Teilaspekte einer Verhaltensnorm, etwa den Status eines Rechtssubjekts oder eines Rechtsobjekts regeln.

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tegrierender Bestandteil des Rechtsetzungsaktes selbst ist,22 nicht vorher. Ohne die Verkündung und vor ihr kann kein Gesetz gültig und Maßstab oder gar Vertrauensgrundlage für das Verhalten von Bürger und Staat sein. Dennoch kann es im Zeitpunkt seiner Verkündung, nicht vorher, auf die bestehenden, nach altem Recht zuvor begründeten Rechte und Pflichten (Ausgangsbestand) ändernd zugreifen. Richtet der Bürger vorher sein Verhalten nicht am damals gültigen Gesetz aus, sondern an einem noch im Gesetzgebungsverfahren befindlichen, also noch nicht verkündeten, trägt er allein das Risiko aus der Nichtbeachtung des gültigen Gesetzes und ggf. den Schaden, wenn dieses nicht (oder mit einem im Endstadium des Verfahrens wesentlich geänderten Inhalt) verkündet wird. Die angeblich vertrauensschädliche „Vorhersehbarkeit“ einer Gesetzesänderung fordert den Bürger dazu auf, dem gültigen Gesetz zu misstrauen und sein Verhalten an einem im Verfahren befindlichen Entwurf zu orientieren. Der früheste Zeitpunkt des Eingriffs in den Ausgangsbestand, der immer ein in der Zeit ergehender Rechtsakt eines Rechtssubjektes ist, ist somit der der Verkündung. Daran ändert auch dessen „Vordatierung“ nichts. Wann das verkündete Gesetz rechtswirksam wird, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens, das Teil des Gesetzesinhalts ist, weil es den zeitlichen Geltungsbereich des Gesetzes bestimmt.23 Art. 82 Abs. 2 GG gibt hierfür subsidiär einen nach der Verkündung liegenden Zeitpunkt vor, fordert aber vorrangig den Gesetzgeber auf, selbst den Tag des Inkrafttretens zu bestimmen. Auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes kommt es in diesem Zusammenhang nicht an, der nur den „Geltungsanspruch“ des Gesetzes betrifft. Das Grundgesetz enthält kein ausdrückliches Verbot, das Inkrafttreten auf einen Zeitpunkt vor der Verkündung festzusetzen oder Rechte und Pflichten aus in der Vergangenheit abgeschlossenen und rechtlich abschließend geordneten Lebenssachverhalten in einem neuen Gesetz belastend abzuändern, ohne dieses rückwirkend in Kraft zu setzen. Gesetzestechnisch kann man den Eingriff in den Ausgangsbestand an Rechten und Pflichten auch allein im sachlichen Geltungsbereich und ohne die scheinbare Ausdehnung des zeitlichen Geltungsbereichs auf Zeiten vor der Verkündung ausgestalten. Allerdings liegt bei einer Inkraftsetzung vor dem Verkündungszeitpunkt der damit indizierte gesetzgeberische Zugriff offen. Nur hat dies nicht zur Folge, dass die neuen Rechtsfolgen zeitlich vor der Verkündung in der Vergangenheit wirklich rechtswirksam werden. Falls diese Zeitreise Rechtswirklichkeit wäre: Welche Rechtsfolgen hätte dies für Bürger und Staat? Werden jetzt früher rechtmäßige Handlungen nachträglich rechtswidrig? Begründen sie in den Fällen, in denen diese Rückbewir___________ 22 23

Stellv. BVerfGE 7, 330, 337. Stellv. BVerfGE 34, 9, 23; 42, 264, 283.

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kung für die Betroffenen vorhersehbar waren, sie sich aber am alten Gesetz ausgerichtet hatten, jetzt ggf. nachträglich Schadensersatzpflichten wegen Fahrlässigkeit? Hat man etwa nachträglich ordnungswidrig gehandelt? Hätte man schon damals (höhere) Steuern zahlen müssen? Was ist zu verzinsen? Wird ein ermächtigungsloser Grundrechtseingriff rückwirkend gerechtfertigt? – Anerkanntermaßen kann kein Gesetz auf Verhalten in der Vergangenheit einwirken; es kann nur zukünftiges Verhalten nach seiner Verkündung steuern.24 Daher begründet ein neues Gesetz Rechte und Pflichten des Bürgers sowie Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse des Staates nur für Zeiten nach seiner Verkündung. In den im Teil II dargestellten „Rückwirkungsfällen“ ging es u.a. um höhere Steuerschulden, Statusverluste, den Fortbestand privatvertraglicher Rechte oder niedrigere Ansprüche des Bürgers im Zeitpunkt der Verkündung des Änderungsgesetzes, ab dem neue Rechtsfolgen für ein früheres Verhalten galten. Die Normenlogik steht einer solchen nachträglichen Zuordnung von neuen Rechtsfolgen zu einem früheren Verhalten nicht entgegen. Dies hat nichts mit einer Umkehrung des „Kausalitätsgesetzes“ und der Zeitrichtung zu tun,25 aber – entgegen Berger26 – auch nichts mit einer Fiktion, ein bereits vergangener Sachverhalt habe sich während der Geltung des neuen Gesetzes abgespielt. Insbesondere kann damit eine „verhaltensmotivierende Wirkung“ des neuen Gesetzes insoweit nicht hergestellt werden, weil der Betroffene sein früheres Verhalten den neuen Rechtsfolgen nicht mehr anpassen kann. Diese wirken nur auf sein heutiges Verhalten ein, da er z.B. jetzt höhere Steuern zahlen, den Spätaussiedlerstatus verlieren oder Anspruchskürzungen hinnehmen soll. Legt das Gesetz sein Inkrafttreten vor den Verkündungszeitpunkt, bedeutet dies die Anordnung, dass die Adressaten sich heute so verhalten müssen, als hätte es bereits zum Zeitpunkt des vordatierten Inkrafttretens gegolten.27 Die Vordatierung verlegt den Beginn der Rechtswirksamkeit auf den Verkündungszeitpunkt. Die Rechtsprobleme wurzeln somit nicht in einer zeitlichen, sondern in einer sachlichen Dimension. Es geht um einen heutigen Eingriff in Bestände an Rechten oder Pflichten, die früher, vor der Verkündung, gesetzmäßig entstanden sind. Die Vordatierung legt dabei nur den Umfang und ___________ 24

Zur Diskussion um normenlogische Voraussetzungen stellv. Thomas Berger, Zulässigkeitsgrenzen der Rückwirkung von Gesetzen, 2002, S. 33 ff. m.w.N. 25 S. schon Andreas von Thur, Der Allgemeine Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. Erste Hälfte. Die rechtserheblichen Tatsachen, insbesondere das Rechtsgeschäft, München 1914, S. 22. 26 S. FN. 24, S. 34. 27 So stellv. der 4. Senat des BSG im Urteil vom 31.3.1998 – B 4 RA 59/96 R – in SozR 3 –2600 § 93 Nr. 8 S. 84.

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die Intensität des im Verkündungszeitpunkt durchgeführten Eingriffs in den Ausgangsbestand fest, reist aber nicht selbst in die Vergangenheit. Der Betroffene konnte sich nach dem gültigen Gesetz vorher nicht auf den Eingriff einstellen und kann ihn jetzt nicht vermeiden. Liegt es u.a. schon deswegen nicht nahe, diese Eingriffsthematik (ähnlich wie im Ansatz der EuGH) vom Übermaßverbot her aufzugreifen?

2. Eingriff statt echter und unechter Rückwirkung ? a) Ein Eingriff in den Ausgangsbestand an Rechten und Pflichten liegt (wie in den herkömmlich der echten Rückwirkung zugeordneten Fällen) auch bei einer Vordatierung des Inkrafttretens nur vor, wenn das neue Gesetz im Zeitpunkt seiner Verkündung (1) subjektive Rechte (einschließlich der Status, Ansprüche und Forderungen), die nach dem alten Gesetz entstanden waren, einschränkt oder entzieht, oder wenn es (2) bereits entstandene Pflichten des Bürgers verschärft oder erstmals Pflichten an frühere Handlungen knüpft, die nach dem alten Gesetz keine Pflichten begründeten, oder wenn es (3) an frühere Handlungen für einen Teil der Handelnden Begünstigungen knüpft, die nach dem alten Gesetz nicht vorgesehen waren. Auf den Fall (3) einer „rückwirkenden Ungleichbehandlung“ soll hier nicht eingegangen werden; auch er zeigt, dass es um eine heutige, allein durch das ändernde Gesetz bewirkte Belastung der jetzt Benachteiligten im Sinne eines Eingriffs in ihr Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG geht. Es kommt darauf an, ob das neue Gesetz im Zeitpunkt seiner Verkündung (oder dem eines späteren Inkrafttretens) im Sinne von (1) oder (2) belastend ist, d.h., ob es auf den vorhandenen Bestand an Rechten oder Pflichten seiner Adressaten für diese nachteilig zugreift. Zur Vereinfachung wird nachfolgend unterstellt, dass Verkündung und Inkrafttreten gleichzeitig sind. Für einen Rechtseingriff (1) reicht es aber nicht aus, dass der Bürger früher einen Lebenssachverhalt abgeschlossen hatte. Hinzukommen muss, dass die alte Rechtslage ihm aufgrund dieses abgeschlossenen, der Vergangenheit angehörenden Sachverhalts ein (ggf. höherwertiges) Recht zuerkannt hatte. Andernfalls berührt ihn die heutige Gesetzesänderung nicht, es solle so getan werden, als ob das neue Gesetz, das keine oder erstmalige Rechte an den Vorgang knüpft, schon damals gegolten hätte (keine Änderung in seinen Rechten). Waren aber nach Maßgabe der jeweiligen Gesetze (oder durch wirksame Verträge oder Verwaltungsakte oder rechtskräftige Urteile) bereits Rechte zugeordnet, greift der Befehl des neuen Gesetzes, so zu tun, als ob dies ganz oder teilweise nicht geschehen wäre, in diese Rechte ein.

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Nicht wesentlich anders liegt es bei der Pflichtenbegründung (2). Waren unter der alten Rechtslage Handlungen vorgenommen oder unterlassen worden, die damals keine oder geringe Pflichten des Bürgers ausgelöst hatten, führt die heutige Pflichtenbegründung oder deren Verschärfung zwar nicht zu einem Eingriff in Rechte, die im Sinn von (1) aufgrund des abgeschlossenen Lebenssachverhaltes zugewachsen sind, sie greift aber in heute bestehende (Grund-) Rechte ein. Ein Zugriff auf den anfänglichen Pflichtenbestand setzt jedoch voraus, dass der neue Pflichten begründende oder Pflichten verschärfende Tatbestand ausschließlich durch Vorgänge erfüllt wird, die sich vor der Verkündung des neuen Gesetzes ereignet haben. Wird der neue Pflichtentatbestand (auch nur teilweise) erst durch Ereignisse nach der Verkündung erfüllt, greift die neue Pflichtanordnung nicht in den Anfangsbestand ein. Wird z.B. nachträglich eine Abgabe auf früheres Verhalten eingeführt oder erhöht, ist – falls spezielle Grundrechte nicht eingreifen – die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG heute beeinträchtigt, weil der Bürger heute zahlungspflichtig geworden ist. Ein früherer Grundrechtsgebrauch wird hier nicht erheblich. In beiden Grundkonstellationen, die man herkömmlich der „echten Rückwirkung“ zuordnet, handelt es sich demnach um klassische (Legal-) Eingriffe, die dem Übermaßverbot genügen müssen. b) Klassische (Legal-) Eingriffe enthalten aber auch die Fälle einer Gesetzesänderung, die traditionell der „unechten Rückwirkung/tatbestandlichen Rückanknüpfung“ unterfallen. Sie verändert gegenüber dem alten Gesetz nicht den durch dieses geschaffenen Ausgangsbestand an Rechten oder Pflichten im Verkündungszeitpunkt. Sie knüpft Rechtsfolgen nicht ausschließlich, aber auch an Vorgänge, die sich vor der Verkündung des Gesetzes ereignet haben. Wenn das ändernde Gesetz in Rechte oder Pflichten des Bürgers eingreift und zur Vereinfachung unterstellt wird, es sei im Übrigen verfassungsgemäß, kann es doch „unverhältnismäßig“ und nachrangig „vertrauensschutzwidrig“ sein, weil (1) das alte Gesetz die Adressaten zuvor zu einem rechtmäßigen Verhalten angeregt hatte, das nach neuem Recht seinen Zweck nicht (mehr) erreichen kann, oder weil es (2) bedingte Rechte (z.B. auf Leistungen) zugesagt hatte und diese vor dem Bedingungseintritt jetzt kürzt oder entzieht. Auch hier gilt das „Verhältnismäßigkeitsprinzip“, möglicherweise kann bei dessen Prüfung auch „Vertrauensschutz“ erheblich werden.

3. Zur Eingriffsschranke des Übermaßverbots Grundsätzlich darf jeder Deutsche Bundestag (ungeachtet der Organkontinuität) unumstritten in den Grenzen, die ihm das Grundgesetz zieht, bestehende Gesetze seiner Vorgänger und daraus entstandene Rechte und Pflichten aufheben oder ändern und neue Pflichten begründen. Darf er auch auf den genannten

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Anfangsbestand an Rechten und Pflichten zugreifen und so tun, als habe sein neues Gesetz schon vor seiner Verkündung, möglicherweise schon zu Zeiten seines aus einer anderen Wahl hervorgegangenen Vorgängers, gegolten, das alte Gesetz hingegen nicht?28 Welche Verfassungsnorm steht dem entgegen? Ein ausdrückliches Verbot findet sich, wie gesagt, im Grundgesetz nicht. a) Der Bundesgesetzgeber ist nach Art. 20 Abs. 3 Regelung 1 GG ausschließlich an die verfassungsmäßige Ordnung29 gebunden, also an den gesamten Normenbestand des Grundgesetzes. Dazu gehören auch jene „Teilprinzipien“, die unter dem Inbegriff des Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes (so Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) präsentiert30 und in Art. 20 GG verortet werden, darunter die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Rechtsprechung und die Rechtssicherheit, mit diesem verbunden u.a. der Vertrauensschutz und das im Teil II dargestellte „Rückwirkungsverbot“, aber auch das „Übermaßverbot“/“Verhältnismäßigkeitsprinzip“.31 Auf grundrechtliche und andere Eingriffsschranken kann hier nicht eingegangen werden. Im Teil II wurde aufgezeigt, dass die unter „Rückwirkung“ behandelten Sachfragen auf die Problematik „subjektiven Vertrauensschutzes“ reduziert wurden und der BFH und das BSG dem – im einzelnen unterschiedlich – widersprochen haben. Es wurde bereits betont32, dass die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit dem Vertrauensschutzprinzip vorgeordnet sind. Sie gewährleisten gegenüber dem Bundesgesetzgeber u.a. die Unverbrüchlichkeit des von ihm gesetzten Rechts, die Folgerichtigkeit/Widerspruchsfreiheit der Gesetzgebung und die Beständigkeit der Gesetze während ihrer Geltungszeit. Im Ergebnis verbieten sie grundsätzlich Eingriffe in den Anfangsbestand an Rechten und Pflichten, ohne dass insoweit „Vertrauensschutz“ zu bemühen ist. Wird dennoch eingegriffen, ist dies in jedem Fall (auch) am Übermaßverbot zu messen. Nur solche Gesetze greifen nicht übermäßig ein und sind erlaubt, die (1) einen legitimen, also keinen von der Verfassung schlechthin verbotenen Zweck verfolgen, (2) hierfür geeignete, die Möglichkeit der Zweckerreichung förderliche Mittel einsetzen, die (3) erforderlich, mithin zur Zweckerfüllung notwendig sind, ohne dass es mildere Mittel gibt, die gleich geeignet sind und Dritte und die Allgemeinheit weniger belasten, und die (4) angemessen sind. ___________ 28 Auf die darin umschlossenen demokratietheoretischen sowie parlaments- und organisationsrechtlichen Fragen kann hier nicht eingegangen werden. 29 S. dazu Friedrich E. Schnapp, in: von Münch/Kunig, GGK II, 5. Aufl. 2001, Rn. 42 ff. zu Art. 20. 30 So Friedrich E. Schnapp, FN. 29, Rn. 24. 31 Dieses ist jedoch, soweit Grundrechte einschlägig sind, aus diesen zu begründen. 32 Hartmut Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 1. Auflage Band III 1988, Rn. 26 m.w.N.

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Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) liegt vor, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.33 Es ist zwischen den Gemeinwohlbelangen, derentwegen der Rechtseingriff erforderlich ist, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter der Betroffenen abzuwägen. Das Maß der Belastung des Einzelnen muss noch in einem vernünftigen Verhältnis zum Vorteil der Allgemeinheit stehen.34 Zur Wahrung der Angemessenheit können auch Übergangsregelungen erforderlich werden. Das Übermaßverbot bindet den Bundesgesetzgeber stets, wenn er subjektive Rechte des Bürgers irgendwie beeinträchtigt, dessen Rechte kürzt oder entzieht oder ihm Pflichten auferlegt oder sie verschärft. Greift das Gesetz in den bei seiner Verkündung vorhandenen Anfangsbestand an Rechten oder Pflichten ein, gilt das Übermaßverbot ungeachtet dessen, ob Grundrechte oder einfachgesetzlich gewährte Rechte betroffen sind. b) Nach den Vorgaben35 des Übermaßverbots ergibt sich zusammengefasst folgende Prüfung: (1) Greift das neue Gesetz im dargestellten Sinn in den Anfangsbestand an Rechten oder Pflichten des Bürgers oder erst später oder in andere Rechte ein? Ein Eingriff in den Anfangsbestand an Rechten liegt z.B. nicht vor, wenn das alte Gesetz nichtig war (und ex tunc vom BVerfG für nichtig erklärt wird), so dass es keine Rechtswirkungen, keine Entstehung von Rechten, hervorrufen konnte. War hingegen das alte Pflichten begründende Gesetz nichtig, so dass nach alter Rechtslage Pflichten nicht entstehen konnten, ist dies hier unerheblich; es kommt für den Eingriff nur darauf an, ob das neue Gesetz Pflichten tatbestandlich allein von Vorgängen abhängig macht, die sich vor seiner Verkündung ereignet hatten. (2) Verfolgt das neue Gesetz einen legitimen, von Grundgesetz nicht schlechthin verbotenen Zweck? Das dürfte nur selten nicht der Fall sein.36 Der ___________ 33

BVerfGE 113, 167, 260; Zusammenfassend Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Auflage 2007, Rn. 80 ff., 84 bis 86. 34 BVerfGE 100, 313, 375 f. 35 Hier muss außer Betracht bleiben, dass es sich bei beiden „Teilprinzipien“ richtiger Ansicht nach um „Optimierungsgebote“ handelt, die selbst noch keine in Tatbestand und Rechtsfolge gegliederten Rechtsregeln festlegen und die sich nicht rein verwirklichen lassen, mit anderen „Optimierungsgeboten“ in Konkurrenz geraten und in Teilbereichen Ausnahmen zulassen können, die dann aber rechtfertigungsbedürftig sind; dazu Friedrich E. Schnapp, FN. 29, Rn. 6. 36 U.a. in BSGE 72, 50 war der Vortrag zu prüfen, eine deutliche Versorgungskürzung u.a. bei der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz der DDR verfolge einen Strafzweck – „Rentenstrafrecht“ – ; dies wurde verneint.

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zu prüfende Zweck des neuen Gesetzes besteht im Regelfall in seinem sachlichen Regelungsziel. Der Eingriff ist ein Mittel. (3) Ist der Eingriff in den Anfangsbestand ein geeignetes Mittel zur Förderung des Regelungsziels? Das hängt vom jeweiligen Gesetz ab. Die Eignung scheitert nicht daran, dass dieser Eingriff ein schlechthin verbotenes und deshalb ungeeignetes Mittel wäre.37 Das aus den „Prinzipien“ folgende grundsätzliche Verbot schließt Ausnahmen nicht von vornherein aus. (4) Ist der Eingriff erforderlich? Dies verlangt die konkrete Untersuchung, ob er notwendig ist, das Sachziel des Gesetzes zu erreichen. Hier kann die „Was wäre, wenn - Formel“ des EuGH (Teil II Nr. 8) nützlich werden. Dabei muss auch nach gleich geeigneten milderen Mitteln gesucht werden. Diese unter (1) bis (4) genannten Prüfungen haben, worauf hier nur hingewiesen werden kann, in der „Rückwirkungsdogmatik“ keine sachliche Entsprechung, so dass sie den Eingriff erleichtert. (5) Ist der Eingriff angemessen und dem Beeinträchtigten zumutbar? Die Angemessenheit des Eingriffs in den Anfangsbestand muss in einem Abwägungsvorgang ermittelt werden. Dafür sind im ersten Schritt die Interessen des Bundesgesetzgebers zu benennen. Auf seiner Seite sind das Gewicht und die Dringlichkeit des jeweiligen gesetzlichen Sachziels und die mit ihm angestrebten Vorteile für das Gemeinwohl anzugeben. Ihnen sind im zweiten Schritt gegenüberzustellen die Schwere des Eingriffs in die Rechte des Bürgers und deren Nachteile für seine Rechtsgüter. Drittens ist in nachvollziehbaren Wertungsschritten abzuwägen, ob die Belastung des Bürgers noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den für die Allgemeinheit angestrebten Vorteilen stehen. Dies muss unter Beachtung der Vernunft des Grundgesetzes und seiner Wertungen und Grundsätze beurteilt werden. Hierbei kann der Eingriff in den bei der Verkündung des Änderungsgesetzes bereits vorhandenen Bestand an Rechten und Pflichten (Teil III Nr. 2) schon ohne die „Rückwirkungsargumente“ (Teil II Nr. 5 bis 7) als unverhältnismäßig zu qualifizieren sein. Im Übrigen enthält die „Rückwirkungsdogmatik“ keine derart gegliederte und die Auswirkungen einbeziehende, jedoch ohne „Vertrauen“ auskommende Abwägungsstufe. c) Das grundsätzliche Verbot, den Anfangsbestand an Rechten und Pflichten belastend zu verändern, kennzeichnet im zweiten Schritt der Abwägung auf Seiten des Beeinträchtigten den trotzdem erfolgten Eingriff als besonders schwer. Wird aber im ersten Schritt auf Seiten des Staates den von der „Rückwirkungsdogmatik“ in den nicht abgeschlossenen „Katalogfällen“ (Teil II Nr. ___________ 37

Vgl. zu verbotenen Mitteln § 136a StPO.

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5) als rechtfertigende Ausnahmen berücksichtigten öffentlichen Belangen Rechnung getragen? (1) Wenn das alte Gesetz nichtig war (Katalogfall c), liegt, wie gezeigt, schon kein Eingriff in ein anfänglich bestehendes Recht vor. Die erstmalig wirksame Regelung von Rechten ist dem Gesetzgeber auch dann nicht grundsätzlich verboten, wenn diese ungünstiger sind als die zuvor nur scheinbar gegebenen. Ein (grundsätzlich verbotener) Eingriff in andere Rechte liegt hingegen bei der erörterten Pflichtenbegründung im Anfangsbestand vor. Für dessen Angemessenheit ist aber ohne Belang, ob vor der Verkündung des neuen Gesetzes aufgrund eines nichtigen Gesetzes der Schein bestand, es gebe eine (nicht so schwere) Pflicht. (2) War die bisherige Gesetzeslage unklar und verworren (Katalogfall b), ohne dass Nichtigkeit vorlag, oder war sie in einem Maße systemwidrig und unbillig, dass ernsthafte Zweifel an ihrer Verfassungsgemäßheit bestanden (Katalogfall e), liegen dringliche Gründe für den Eingriff vor. Allerdings rechtfertigen sie ihn, anders als bei der „Rückwirkungsdogmatik“, nicht schon aus sich heraus, sondern nur, wenn der dritte Abwägungsschritt dies im jeweiligen Fall trotz der besonderen Schwere des Eingriffs und der Nachteile für den Betroffenen ergibt. Hierbei ist im Blick auf die Bedenken des BSG anzumerken, dass jeder Deutsche Bundestag als „Hüter des Gesetzes“ die Aufgabe und Kompetenz hat, zu entscheiden, ob er ein Bundesgesetz in der Auslegung durch den zuständigen obersten Gerichtshof hinnehmen oder aber das Gesetz mit einem anderen als den durch richterliche/juristische Auslegung festgestellten Inhalt versehen will.38 Für den Eingriff in den Anfangsbestand kommt es dabei wohl nicht auf die These an, er dürfe die Rechtsprechung nicht nachträglich ins Unrecht setzen, soweit es nicht um eine Durchbrechung der Rechtskraft (oder der Bestandskraft) geht. (3) Zur Begründung der Angemessenheit des Eingriffs dürfte hingegen die Katalogfälle a), der „Vorhersehbarkeit des vordatierten Eingriffs, und f), des Bagatellvorbehalts, nicht beitragen. Der erste hat Sinn nur im Kontext der Vertrauensschutzprüfung, weil dem Vertrauen des Bürgers entgegengehalten wird, es sei wegen der Vorhersehbarkeit der „rückbezogenen“ Änderung nicht berechtigt gewesen, er habe nicht mehr auf das gültige Gesetz, sondern nur noch auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, den Beschluss des Bundestages oder weitere Vorstufen des neuen Gesetzes vertrauen dürfen. Ein öffentliches Interesse, den Bürger wegen der Befolgung des gültigen Gesetzes zu sanktionieren, ist schwer darstellbar. Ähnliches trifft auf den „Bagatellvorbehalt“ zu. Allein der Umstand, dass der grundsätzlich verbotene Eingriff nur relativ ge___________ 38 Wolfgang Meyer, in: von Münch/Kunig, GGK III, 5.Aufl. 2003, Rn. 23 zu Art. 97 m.w.N.

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ringfügige Nachteile des Bürgers hervorruft, kann die im öffentlichen Interesse untersagte Rechtsverletzung nicht als angemessen ausweisen, zumal das rechtmäßige Alternativverhalten den Staat nur wenig kosten würde. (4) Der Vorbehalt der „Staatsraison“, der zwingenden Gründe des Gemeinwohls (Katalogfall d), der bislang wohl nie allein einen solchen Eingriff getragen hat, ist unbenannt, so dass mit ihm Vielerlei verbunden werden kann. Er darf nur beachtet werden, wenn durch das jeweilige Sachziel eines neuen Gesetzes ein benanntes Interesse als öffentlicher Belang konkretisiert wird, der sogar dem rechtsstaatlichen Gebot der Rechtssicherheit vorgeht, also ebenfalls Verfassungsrang hat. Dann aber wäre der Eingriff von vornherein nicht verboten, da das Verbot auf dem „Prinzip“ der Rechtssicherheit beruht. Auch die Nichtausgabe von Staatseinkünften kann ein wichtiger Gesetzesbelang sein, jedoch ist bedenklich, ihm die Rechtssicherheit nachzuordnen. Dies ist daher jeweils beim Staatsinteresse in die Prüfung der Angemessenheit einzustellen und konkret mit den Belangen des Bürgers abzuwägen. c) Der hier angedeutete vielgliedrige Schutz, den das objektive Übermaßverbot gegen gesetzliche Eingriffe in den Anfangsbestand an Rechten und Pflichten bietet verdrängt aber, worauf hier nur hingewiesen werden kann, das nachrangige subjektive Vertrauensschutzprinzip nicht völlig. Beim Abwägungsvorgang über die Angemessenheit des Eingriffs kann es – auch in den „Katalogfällen“ – zu dessen Unangemessenheit führen. Wird ein Gesetz geändert, ohne in den jeweiligen Ausgangsbestand an Rechten und Pflichten einzugreifen oder nur auf Vorgänge vor seiner Verkündung abzustellen, kommt der subjektive Vertrauensschutz in Betracht, falls das Gesetz „verhältnismäßig ist, aber gleichwohl Vertrauen enttäuscht. Dabei ist die Annahme, es gebe ein abstraktes Vertrauen des Bürgers in die Gültigkeit und Dauerhaftigkeit von Gesetzesinhalten, rechtspsychologisch eher unbegründet. Ein Vertrauen auf das gültige Gesetz ist eine Sache des Einzelfalls und muss konkret betätigt worden sein, soll es nicht bei einer aus Gründen rechtlicher Argumentation aufgestellten Fiktion bleiben. Dann aber ist es auch berechtigt, weil nur ein gültiges Gesetz, nicht dessen Vorstufen, Grundlage eines rechtmäßigen Verhaltens sein kann. Mit dem Ansatz des EuGH (Teil II Nr. 8) kann aber ein Gesetz, das den Bürgern ein bestimmtes Verhalten, z.B. Vermögensdispositionen, nahelegt, selbst konkretes Vertrauen enttäuschungsfest stellen.

IV. Vorläufiges Ergebnis 1. Wirkt ein neues Gesetz belastend auf den Bestand an Rechten und Pflichten des Bürgers ein, die im Zeitpunkt seiner Verkündung/seines späteren Inkrafttretens bestanden, dürfte auch bei einer Vordatierung des Inkrafttretens vor die Verkündung die Bildersprache einer „Rückwirkung“ nicht zweckmäßig

Die Rückwirkung von Bundesgesetzen

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sein. Denn es geht um Probleme der sachlichen, nicht der zeitlichen Dimension. Die Metapher der Rückwirkung führt auch nach dem neuesten Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu einer die Sachprobleme nur verkürzt behandelnden Vertrauensschutzdiskussion. 2. Die herkömmlich der „echten Rückwirkung“ zugeordneten Fallgruppen betreffen Fälle von klassischen Legaleingriffen in subjektive Rechte, weil das neue Gesetz den Anfangsbestand an Rechten und Pflichten belastend verändert. Es entzieht oder verkürzt Rechte des Bürgers, die vor der Verkündung bestanden hatten, oder begründet oder verschärft Pflichten allein aufgrund von Vorgängen, die sich vorher ereignet hatten. Das ist aufgrund des rechtsstaatlichen „Prinzips“ der objektiven Rechtssicherheit grundsätzlich verboten, weil er für den Bürger, der sich nach dem jeweils gültigen Recht nicht darauf einstellen konnte und der sich dem nun nicht entziehen kann, kein verhaltenssteuerndes Recht, sondern ein Verhängnis von hoher Hand ist. 3. Ein solcher Eingriff ist erstrangig am Maßstab der objektiven Rechtssicherheit zu messen, die gegenüber dem „Unterprinzip“ des subjektiven Vertrauensschutzes vorrangig ist. Das Übermaßverbot sieht mehrere objektive Vorkehrungen gegen unverhältnismäßige Eingriffe vor, die das subjektive Vertrauensschutzprinzip nicht kennt. Es gewährleistet die Rechtssicherheit bei solchen Eingriffen stärker als die nur auf Vertrauensschutz abstellende „Rückwirkungsdogmatik“ und schränkt deren „Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot (nicht abgeschlossene Katalogfälle)“ sachgerecht ein. Das subjektive „Vertrauensschutzprinzip“ kommt nur nachrangig und ergänzend bei der Abwägung der Angemessenheit des Eingriffs sowie bei den „verhältnismäßigen“ Eingriffen zum Tragen, die herkömmlich der „unechten Rückwirkung“ zugeordnet werden.

Die Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG als Recht zur Abwehr missbräuchlicher Enteignungen zugunsten Privater. Eine Fallstudie Von Stefan Muckel, Köln

Demokratie ist, wie Friedrich E. Schnapp treffend betont, schwer zu definieren.1 Staatshandeln, das formal demokratisch legitimiert ist,2 kann selbst dann von erheblichen Teilen der Bevölkerung als ungerecht und verfehlt angesehen werden, wenn es auf einem eigenständigen „parlamentsbeschlossenen Gesetz“ beruht und demgemäß dem „Legitimationsstrom vom unmittelbar demokratisch ausgewiesenen Parlament“3 entspringt. So ist es geschehen im Falle des nordrhein-westfälischen Gesetzes über die Errichtung und den Betrieb einer Rohrleitungsanlage zwischen Dormagen und Krefeld-Uerdingen vom 21. März 20064 und der darauf gestützten Maßnahmen der Verwaltung. Das Gesetz soll Bau und Betrieb einer Pipeline für gasförmiges Kohlenmonoxid über eine Entfernung von ca. 67 km ermöglichen, vor allem die notwendigen Enteignungen zugunsten des privaten Betreibers der Anlage. Zur Begründung verwies der Gesetzgeber vor allem auf die Stärkung der chemischen Industrie, die Sicherung der Arbeitsplätze und Verbesserungen für den Umweltschutz.5 Zu einer parlamentarischen Aussprache kam es weder im Plenum des Landtages noch im zuständigen Ausschuss.6 Das verwaltungstechnisch unauffällig verlaufene Planfeststellungsverfahren bei der Bezirksregierung Düsseldorf musste sich zwar mit einer Reihe von Einwendungen auseinandersetzen,7 zu umfangreichen Pro___________ 1

Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. II, 4./5. Aufl. 2001, Art. 20 Rn. 13. Zu den verschiedenen Formen demokratischer Legitimation Schnapp (o. Fußn. 1), Rn. 19 ff. m.w.N. 3 Zitate: Schnapp (o. Fußn. 1), Rn. 20. 4 GV S. 130 f. 5 LT-Drucks. 14/909, S. 5 ff. 6 Zum Plenum vgl. LT NRW, Plenarprotokoll 14/17 v. 18.1.2006, S. 1758 (Nr. 13) u. S. 1769 (Anlage 5); LT NRW, Plenarprotokoll 14/23 v. 15.3.2006, S. 2411 (Nr. 13); zum Ausschuss für Wirtschaft, Mittelstand und Energie vgl. LT-Drucks. 14/1211, S. 3. Zur späteren Anhörung von Sachverständigen (17.10.2007): LT NRW, Ausschussprotokoll APr 14/509. 7 Vgl. den Planfeststellungsbeschluss der Bezirksregierung Düsseldorf v. 14.2.2007, Az. 541/8-BIS, S. 337 ff. 2

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testen mit vielen tausend Unterschriften, der Bildung mehrerer Bürgerinitiativen, zu parteiübergreifendem Widerstand von Kommunalpolitikern und mehreren Gerichtsverfahren kam es aber erst im Zuge der Verwirklichung des Projekts.8 Nun waren die Betroffenen über die große Gefahr, die von dem geruchlosen Kohlenmonoxid, das so schwer ist wie Luft, ausgeht, aufgeklärt. Aufgrund mehrerer Anträge im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Oberverwaltungsgericht in Münster in zweiter Instanz zwar den Abschluss der Bauarbeiten, nicht aber die Inbetriebnahme der Pipeline erlaubt9. Die für den Fall entscheidenden eigentumsrechtlichen Grundlagen hat das BVerfG in seiner berühmt gewordenen Boxberg-Entscheidung von 1987 gelegt10. Seit der damals geplanten Teststrecke der Fa. Daimler-Benz und der Erweiterung des AirbusWerkflugplatzes in Hamburg-Finkenwerder11 ist die CO-Pipeline der „Bayer MaterialScience AG“ (BMS AG) das dritte prominente Großprojekt, das durch privatnützige Enteignungen realisiert werden soll, gegen die aber die Eigentümer auf breiter Front Widerstand leisten. Das legt die Frage nahe, ob das „Gesetz über die Errichtung und den Betrieb einer Rohrleitungsanlage zwischen Dormagen und Krefeld-Uerdingen“ (im Folgenden: Rohrleitungsgesetz – RohrlG)12 den verfassungsrechtlichen Anforderungen an privatnützige Enteignungen entspricht.

I. Die besondere Problematik privatnütziger Enteignungen Enteignungen sind verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG erfüllt sind. Das Rohrleitungsgesetz sieht Enteignungen zugunsten von Privaten vor13, die allenfalls mittelbar dem Gemeinwohl dienen können und bei denen die Eigentümer, wie das BVerfG mit Recht ___________ 8

Vgl. nur die Zeitungsberichte in: NRZ v. 3.5.2007: „Vom Protest überrascht“; taz NRW v. 10.5.2007, S. 2; Rhein. Post v. 6.9., S. A1; Rhein. Post v. 31.5.2007, S. A3; Rhein. Post v. 13.9.2007, S. A1; WZ v. 20.9.2007, S. 3; Rhein. Post v. 18.10.2007, S. A4; F.A.Z. v. 11.10.2007, S. 12; Rhein. Post v. 20.10.2007, S. A4: „CO-Pipeline – Kripo ermittelt“; Kölner Stadtanzeiger v. 19.12.2007, S. 4: „Bayer-Pipeline muss leer bleiben“. 9 Vgl. nur OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07; OVG NRW, Beschl. v. 24.1.2007 – 20 B 1769/07. 10 BVerfGE 74, 264. 11 Dazu BVerfG, NVwZ 2003, 197 (198 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf BVerfGE 74, 264); OVG Hamburg, NVwZ 2005, 105. 12 O. Fußn. 4. 13 Das RohrlG führt zu Enteignungen, auch wenn ein Vollentzug des Eigentums meist nicht erforderlich ist für den Bau der Pipeline, vgl. OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07, S. 4; allg. zur Eintragung einer Dienstbarkeit als Enteignung BVerfGE 45, 297 (339); 56, 249 (260).

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betont hat,14 in erhöhtem Maße der Gefahr des Machtmissbrauchs ausgesetzt sind. Eine privatnützige Enteignung ist entgegen einer vereinzelt gebliebenen Auffassung15, nicht prinzipiell unzulässig16. Sie unterliegt aber erhöhten Anforderungen im Hinblick auf die gesetzliche Konkretisierung und Sicherung des Wohls der Allgemeinheit als dem nach Art. 14 Abs. 3 GG allein zulässigen Enteignungszweck. Denn das Handeln des begünstigten Privaten ist regelmäßig nicht von altruistischen Motiven bestimmt, sondern wird durch seine eigenen Interessen geleitet, deren Verfolgung nur mittelbar dem Wohl der Allgemeinheit dienen mag17. Dabei ist der Fall, dass nicht schon die von dem Privaten verfolgte Aufgabe (z.B. Energieversorgung) ganz oder zumindest teilweise dem Gemeinwohl dient, sondern – wie im Falle des Rohrleitungsgesetzes – zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und zur Sicherung bzw. Schaffung von Arbeitsplätzen enteignet werden soll, mit Recht als besonders problematisch angesehen worden18. In einem solchen Fall besteht in hohem Maße die Gefahr, dass der wirtschafts- bzw. arbeitsmarktpolitische Aspekt nur vorgeschoben wird, um andere Interessen, so auch das Ziel der Gewinnmaximierung, zu verdecken.19 Es bedarf, wenn der Nutzen für das allgemeine Wohl nur als mittelbare Folge der Unternehmenstätigkeit eintreten soll, differenzierter materiell- und verfahrensrechtlicher Regelungen für die Aktualisierung und Sicherung des Gemeinwohlzwecks.20

II. Hinreichende Bestimmtheit des Enteignungszwecks und Abwägung der gegenläufigen Belange Zu den besonderen Anforderungen an eine privatnützige Enteignung gehört zunächst, dass die gesetzliche Grundlage der Enteignung dem verfassungsrecht___________ 14 BVerfGE 74, 264 (285); vgl. auch das Sondervotum Böhmer, in: BVerfGE 56, 266 (279, 295); ferner Battis/Otto, DVBl. 2004, 1501 (1505). 15 Böhmer, Sondervotum, in: BVerfGE 56, 266 (269, 284 ff.). 16 BVerfGE 74, 264 (284 f.); Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, 1996, S. 148, 154 f. 17 Vgl. Jackisch (o. Fußn. 16), S. 150; Gerhardt, in: W. Fürst/R. Herzog/D.C. Umbach (Hrsg.), FS f. Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1663 f. 18 Jackisch (o. Fußn. 16), S. 158 ff.; vgl. auch Prall, NordÖR 2001, 187 (188), die im Hinblick auf mittelbar gemeinnützige Vorhaben mit Recht darauf hinweist, dass die Förderung von Infrastruktur und die Schaffung von Arbeitsplätzen Folgen sind, die (fast) jedes größere Industrieunternehmen für einen Standort in Anspruch nehmen kann und an sich eine Enteignung nicht rechtfertigen können. 19 Jackisch (o. Fußn. 16), S. 161. 20 Gerhardt, FS f. Zeidler, Bd. 2, S. 1663 (1664), der aber sodann, S. 1667 ff., zu Unrecht für eine Aufgabe der Unterscheidung zwischen privatnützigen Enteignungen und solchen zugunsten der öffentlichen Hand plädiert.

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lichen Gebot hinreichender Bestimmtheit genügt.21 Wenn die in Rede stehenden Gemeinwohlbelange nicht exakt umschrieben sind, ist die von Art. 14 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich vorgegebene Abwägung mit dem Eigentum des Betroffenen nicht möglich. Gegen das Rohrleitungsgesetz bestehen insoweit in mehrerlei Hinsicht Bedenken. Weder die Enteignungszwecke (§ 2 Nrn. 1 bis 4 RohrlG) noch der Verlauf der Pipeline ist in für den Bürger messbarer und voraussehbarer Weise formuliert. Immerhin hat das BVerfG in der Boxberg-Entscheidung Zweifel daran zum Ausdruck gebracht, dass eine gesetzliche Regelung, die – wie § 2 Nr. 1 RohrlG – der Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur dienen und Arbeitsplätze schaffen soll, mit einem so allgemein umschriebenen Zweck dem verfassungsrechtlichen Gebot hinreichender Bestimmtheit entsprechen kann.22 Diese Bedenken werden bestätigt durch § 2 Nr. 1 RohrlG, wenn danach der Bau der Pipeline ohne nähere Spezifizierung dazu dienen soll, „die wirtschaftliche Struktur der Chemieindustrie und der mittelständischen kunststoffverarbeitenden Unternehmen in NordrheinWestfalen zu stärken und damit Arbeitsplätze zu sichern“. Es werden keinerlei Kriterien zur Verlässlichkeit oder auch nur zur näheren Umschreibung von Mitteln angeboten, mit denen die Ziele des § 2 Nr. 1 RohrlG erreicht werden sollen. Nicht minder unbestimmt ist der floskelhafte Verweis auf das Ziel, „die Umweltbilanz“ zu verbessern, in § 2 Nr. 4 RohrlG. Auf den ersten Blick völlig unklar sind schließlich die gesetzlichen Ziele in § 2 Nrn. 2 und 3 RohrlG. Danach soll die Verwirklichung der Rohrleitungsanlage dazu dienen, „den Verbund von Standorten und Unternehmen zu stärken und auszubauen“ (Nr. 2) bzw. „einen diskriminierungsfreien Zugang bei hoher Verfügbarkeit zu gewährleisten“ (Nr. 3). Der geneigte Leser mag sich denken, was gemeint ist. Den rechtsstaatlichen Erfordernissen eines Gesetzes, das intensive Grundrechtseingriffe rechtfertigen soll, dienen solche Worthülsen nicht. Hinzu kommt, dass die in § 2 Nrn. 2 und 3 RohrlG angedeuteten Ziele ausschließlich privatnützigen Charakter haben und somit, gemessen an Art. 14 Abs. 3 GG, bedeutungslos sind. Denn Enteignungen sind nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Auch hat der Gesetzgeber weder formal noch inhaltlich die von Art. 14 Abs. 3 GG zwingend geforderte Abwägung der gegenläufigen Belange – des Gemeinwohlinteresses an der Enteignung einerseits und des privaten Eigentums andererseits – durchgeführt. Weder im Gesetz selbst noch in seiner Begründung23 finden sich dazu substantielle Aussagen. Die ihm vom BVerfG ___________ 21

BVerfGE 74, 264 (287); ferner OLG München, NJW 1990, 519: „Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG gebietet eine genau gesetzliche Beschreibung des Enteignungszwecks.“ Aus der Lit. vgl. nur Jackisch (o. Fußn. 16), S. 129, 130 f., 223. Zum rechtsstaatlichen Erfordernis hinreichender Bestimmtheit von Gesetzen Schnapp (o. Fußn. 1), Rn. 29 m.w.N. 22 BVerfGE 74, 264 (287). 23 LT-Drucks. 14/909.

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vorgezeichnete24 Möglichkeit, das Gesetzgebungsverfahren mit Beratungen in Ausschüssen, Anhörungen und Augenscheineinnahmen zu verwenden, um zu einer abwägenden Gegenüberstellung der betroffenen Belange zu kommen, hat der Gesetzgeber nicht genutzt. Zu einer förmlichen Aussprache über das Rohrleitungsgesetz und seinen Gegenstand kam es im Gesetzgebungsverfahren zu keinem Zeitpunkt.25 Der Gesetzgeber hat die dem Allgemeinwohlbelang „Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen“ entgegenstehenden Interessen, insbesondere der zahlreichen Privatpersonen, deren Eigentum betroffen ist (aber auch der Kommunen, deren Planungen beeinträchtigt werden), gar nicht ermittelt. Die von Art. 14 Abs. 3 GG zwingend geforderte Abwägung der widerstreitenden Belange hat nicht stattgefunden. Würde der bloße Hinweis auf die Sicherung bzw. Schaffung von Arbeitplätzen – zumal in einer derart unsubstantiierten Form wie im Falle des Rohrleitungsgesetzes – ausreichen, wäre es einem Großunternehmen mit einem unmittelbar privatnützigen Vorhaben möglich, sein Interesse an einem Zugriff auf Grundstücke Dritter – mit staatlicher Unterstützung – im Wege der Enteignung allein dadurch durchzusetzen, dass es erklärt, es müsse andernfalls Arbeitsplätze am Standort abbauen oder den Standort durch Wegzug aufgeben.26

III. Gesetzliche Vorkehrungen zur Sicherung des Enteignungszwecks

1. Gesetzliche Sicherung des mittelbar gemeinnützigen Enteignungszwecks bei privatnütziger Enteignung Für besonders großes Aufsehen in der staats- und verwaltungsrechtlichen Diskussion hat die Boxberg-Entscheidung des BVerfG mit ihrer Forderung gesorgt, bei privatnützigen Enteignungen müssten „genügende gesetzliche Vorkehrungen zur Sicherung des Enteignungszwecks“ bestehen.27 Ausdrücklich forderte das BVerfG gesetzliche Regelungen zur Sicherung der Enteignungszwecke. Später hat das Gericht im Hinblick auf Enteignungszwecke wie die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und die Schaffung von Arbeitsplätzen mit Recht betont, dass ihr Eintritt nicht in jeder Hinsicht feststeht, und im Hinblick auf die Enteignung zugunsten eines privaten Unternehmens unter Bezugnahme auf die Boxberg-Entscheidung an dem Erfordernis einer ___________ 24

BVerfGE 74, 264 (297 letzter Satz). O. Fußn. 6. 26 OVG Hamburg, NVwZ 2005, 105 (109 r. Sp.). 27 BVerfGE 74, 264 (Zitat: 287 o., im Einzelnen: 295 f. zu c). 25

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dauerhaften Sicherung des im Allgemeininteresse liegenden Zwecks der Maßnahmen festgehalten.28 In der fachgerichtlichen Rechtsprechung ist dies aufgegriffen und der justiziellen Kontrolle von planerischen und die Enteignung vollziehenden Maßnahmen zugrunde gelegt worden.29 Verfassungsrechtlicher Hintergrund der Notwendigkeit zu sichern, dass der (mittelbar) gemeinnützige Enteignungszweck auch wirklich erreicht wird, ist die Gegenüberstellung von Eigentum und Allgemeinwohl in Art. 14 GG. Das ist hier nicht im Einzelnen zu entfalten. Kurz herausgestellt werden darf aber, dass die Enteignung als dauerhafter Eingriff in das Eigentum nur verfassungsgemäß sein kann, wenn auch das Allgemeininteresse, zu dessen Verwirklichung sie erfolgt, von Dauer ist. Ein nur vorübergehendes Allgemeininteresse kann einen dauernden Eingriff in das Vermögen eines Privaten nicht rechtfertigen. Schon deshalb muss der Enteignungsberechtigte die Gewähr dafür bieten, dass das Eigentum auch in Zukunft nicht dem Allgemeininteresse entfremdet wird, das zur Enteignung geführt hat.30 Mag dies noch als weitgehend unproblematisch erscheinen, wenn zugunsten eines Vorhabens der öffentlichen Verwaltung enteignet wird, so stellt sich die Lage anders dar bei einer Enteignung zugunsten Privater. Bei ihr wird die enteignete Sache, die dem öffentlichen Interesse verhaftet bleiben soll, in eine privatwirtschaftliche Interessensphäre gestellt. Daraus ergeben sich unter Berücksichtigung der Dynamik und auch der Probleme des Wirtschaftslebens zwangsläufig Spannungen im Verhältnis zum Allgemeininteresse.31 Das Erfordernis ___________ 28

BVerfG, NVwZ 2003, 197 (198 r. Sp.). BVerwGE 117, 138 (144); OVG Hamburg, NVwZ 2005, 105 (107 l. Sp.); VG Stuttgart, Urt. v. 19.2.2004 – 1 K 1483/03, Rn. 101 (juris). Allerdings ist zu beachten, dass die Entscheidung BVerwGE 117, 138 (144) den Anforderungen der BoxbergEntscheidung des BVerfG (BVerfGE 74, 264) nicht in letzter Konsequenz gerecht wird. Der Grund liegt darin, dass das vom BVerwG zu beurteilende Vorhaben (zu dessen Realisierung enteignet worden war) grenzüberschreitenden Charakter hatte. Das BVerwG war im Hinblick auf die Sicherung des Enteignungszwecks nur deshalb großzügig, weil „kein Anlass zu der Annahme“ bestehe, „die Tschechische Republik werde das mit der MERO transportierte Erdöl anders als gemeinwohldienlich nutzen. Denn sie hat sich im Freundschaftsvertrag vom 27. Februar 1992 dazu bekannt, eine umfassende friedliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland und die Schaffung eines Europas anzustreben, in dem die Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit geachtet werden ...“ Ob ein völkerrechtlicher Vertrag im Allgemeinen und eine derart unspezifische Regelung wie die vom BVerwG zitierte im Besonderen geeignet sein können, die (gesetzliche) Sicherung des Enteignungszwecks herzustellen, mag durchaus fraglich erscheinen, kann aber für die Mehrzahl der Fälle (ohne völkerrechtlichen Bezug) dahinstehen. 30 So mit Recht schon Bullinger, Die Enteignung zugunsten Privater, in: Der Staat 1 (1962), S. 449 (457). 31 Näher die grundlegenden Ausführungen von Bullinger, Der Staat 1 (1962), S. 449 (457 f.). 29

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klarer rechtlicher Sicherungen des öffentlichen Interesses ist deshalb in der Tat unverzichtbar. Von einzelnen Stimmen in der Literatur ist der Forderung des BVerfG nach gesetzlichen Sicherungsmaßnahmen gleichwohl entgegen gehalten worden, der Gesetzgeber werde damit überfordert und der enteignungsrechtliche Gesetzesvorbehalt überdehnt. Ausreichend sei, wenn die dauerhafte Sicherung des qualifizierten Enteignungszwecks entweder durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes durch Verwaltungsakt, ggf. durch die Enteignungsverfügung selbst, oder durch einen (verwaltungsrechtlichen) Vertrag erfolge.32 Von einer Überforderung des Gesetzgebers kann aber in Wahrheit keine Rede sein. Das BVerfG selbst hat bereits in der Boxberg-Entscheidung von 24.3.1987 „nicht unerhebliche Schwierigkeiten“ zugestanden, „abstrakt-generelle Regelungen zu schaffen, unter die sich das umstrittene Vorhaben subsumieren läßt und die zugleich den Anforderungen der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie genügen“33. Zur Lösung des Problems hat das Gericht „die Möglichkeit eines auf dieses Projekt beschränkten Gesetzes“ aufgezeigt und dem Gesetzgeber damit den Weg eines entsprechenden Maßnahmegesetzes eröffnet.34 Inzwischen hat sich gezeigt, dass der Gesetzgeber durchaus im Stande ist, entsprechende Regelungen zu schaffen. Schon wenige Jahre nach Erlass der Boxberg-Entscheidung konnte eine monographische Abhandlung zur privatnützigen Enteignung auf mehrere Gesetzeswerke verweisen, in denen Maßnahmen zur Sicherung des Gemeinwohlzwecks (die über bloße Rückgewähransprüche hinausgehen) vorgesehen waren.35 Darüber hinaus ist hinzuweisen auf das hamburgische Enteignungsgesetz für die Erweiterung des Werkflugplatzes in Hamburg-Finkenwerder (Werkflugplatz-Enteignungsgesetz) vom 18.2.200436, das der Fa. Airbus Deutschland GmbH durch eine Erweiterung des Werkflugplatzes den Bau des Großraumflugzeuges A 380 ermöglichen sollte und in seinem § 4 umfangreiche Maßnahmen zur Sicherung des (mittelbar gemeinnützigen) Enteignungszwecks, nämlich der Sicherung des Luftfahrtstandortes Hamburg und der Schaffung von Arbeitsplätzen (§ 1 des Gesetzes), vorsieht. So wird in § 4 Abs. 1 des Werkflugplatz-Enteignungsgesetzes „zur dauerhaften Si___________ 32 Papier, Anm. zu BVerfG, Urt. v. 24.3.1987 – 1 BvR 1046/85 („Boxberg“), in: JZ 1987, 619 (620 l. Sp.); vgl. auch ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 586; W. Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, S. 63 f. 33 BVerfGE 74, 264 (297). 34 BVerfGE 74, 264 (297). 35 Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, S. 238, unter Hinweis auf jeweils mehrere Bestimmungen im Energiewirtschaftsgesetz, im Bundesberggesetz und im Personenbeförderungsgesetz in den damals jeweils geltenden Fassungen. 36 HmbGVBl. Teil I, S. 95 ff., in Auszügen auch abgedruckt bei Battis/Otto, DVBl. 2004, 1501 (1502 f. Fußn. 23).

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cherung des Enteignungszwecks“ der Freien und Hansestadt Hamburg und der Betreiberin des Flugplatzes der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages vorgeschrieben, „in dem die Betreiberin des Werkflugplatzes zu verpflichten ist, sämtliche Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Produktion und die Auslieferung von Großraumflugzeugen wie dem Airbus A 380, die Anlass zur jeweiligen Erweiterung gegeben haben, in Hamburg-Finkenwerder erfolgt“. In § 4 Abs. 2 des Werkflugplatz-Enteignungsgesetzes folgen Vorgaben für den näheren Inhalt dieses Vertrages. In § 3 Abs. 2 des Werkflugplatz Enteignungsgesetzes wird die Enteignung u.a. an die Voraussetzung geknüpft, dass „die dauerhafte Sicherung des Enteignungszwecks gemäß § 4 nachgewiesen ist“. In anderen Fällen bestehen vielfältige weitere Möglichkeiten, durch gesetzliche Vorschriften vertragliche Regelungen (ggf. die Vereinbarung von Vertragsstrafen), Nebenbestimmungen zum Enteignungsakt (vor allem Bedingungen und Widerrufsvorbehalte), Sicherheitsleistungen und dingliche Sicherungen anzuordnen.37 Der Kreis der möglichen Sicherungsmittel ist nicht beschränkt. Alles, was unter angemessener Berücksichtigung der Interessen des Begünstigten geeignet ist, die Realisierung des Enteignungszwecks wirksam zu sichern, kommt als Sicherungsmittel in Betracht.38 Auch der Einwand, der Gesetzesvorbehalt werde durch die Forderung des BVerfG nach gesetzlichen Vorkehrungen zur Sicherung des (gemeinnützigen) Enteignungszwecks überdehnt39, ist nicht berechtigt. Es handelt sich vielmehr verfassungsrechtlich um eine unverzichtbare und geradezu selbstverständliche Konsequenz daraus, dass der Staat sich im Falle einer privatnützigen Enteignung zum Instrument der Interessen eines Privaten machen lässt, der nur mittelbar gemeinnützige Zwecke verfolgt. Da der begünstigte Private in erster Linie eigennützige Interessen im Blick hat, kann nie ausgeschlossen werden, dass er sich hierauf beschränkt und die (mittelbar erreichbaren) gemeinnützigen Ziele seines Handelns aufgibt, wenn sich dies als wirtschaftlich nützlich und rechtlich möglich erweist. Gerade in Fällen solcher privatnützigen Enteignungen, deren Gemeinwohlbezug in der Schaffung oder Sicherung von Arbeitsplätzen liegt, bestehen ganz erhebliche „Prognoseunsicherheiten“40, die nur insoweit ___________ 37 Vgl. Zimmer, Flurbereinigung aus städtebaulichen Gründen und privatnützige Enteignung, DÖV 1986, 1001 (1009) m.w.N.; im Einzelnen: Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, S. 240 ff., 263 ff. (der, S. 240 f., auch auf die Möglichkeit untergesetzlicher Rechtsnormen hinweist); Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, 1996, S. 162 ff., 165 m. Fußn. 391, S. 169 ff., 177 ff. (zu möglichen Sicherungsmitteln im Einzelnen), S. 185 (beispielhafte Formulierung für ein Gesetz, das Enteignungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen vorsieht), S. 211 ff., 237, jeweils m.w.N. 38 Vgl. Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, S. 275 f. 39 O. Fußn. 32. 40 Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, S. 216; vgl. auch Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, S. 176.

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tragbar sind, als sie durch Sicherungsmaßnahmen kompensiert werden können.41 Das begünstigte private Unternehmen wird durch die Enteignung in den Funktionskreis öffentlicher Aufgabenerledigung eingebunden. Infolgedessen müssen die gleichen Bindungen und Verantwortlichkeiten gelten wie bei der öffentlichen Verwaltung. Der betroffene Bürger darf nicht schlechter gestellt werden, nur weil der Unternehmensträger ein Privater ist. Ohne klare rechtliche Sicherungen ist die dauernde gemeinnützige Verwendung des enteigneten Gegenstandes – also die zentrale Enteignungsvoraussetzung – nicht gegeben. Einer Ermächtigung zur beliebigen Eigentumsverschiebung von einem Privaten auf den anderen wäre Tür und Tor geöffnet.42 Zwischen der in Art. 14 Abs. 3 GG niedergelegten Voraussetzung für Enteignungen, dem Allgemeinwohl dienen zu müssen, und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit jeder Enteignung besteht ein enger Zusammenhang.43 Es ist dem parlamentarisch-demokratischen Gesetzgeber vorbehalten, die eine Enteignung legitimierenden Gemeinwohlaufgaben zu bestimmen und die hierbei erforderlichen Rechtsvorschriften zu erlassen. Weder die staatliche noch die kommunale Verwaltung können anstelle des Gesetzgebers die eine Enteignung rechtfertigenden Gemeinwohlaufgaben bestimmen.44 Das förmliche Gesetz hat bei der Ausgestaltung der grundgesetzlichen Eigentumsordnung eine zentrale Stellung.45 Den Gesetzesvorbehalt gerade im Hinblick auf privatnützige Enteignungen zurückzudrängen würde bedeuten, seine Funktion, maßgebliche Grundentscheidungen dem parlamentarischen Gesetzgeber zuzuweisen, für eine besonders missbrauchsgefährdete Fallgruppe auszublenden. Eine Enteignung zugunsten Privater trägt immer die Gefahr in sich, öffentlich-rechtliche Bindungen zugunsten der Rechtsformen des privaten Rechtsverkehrs abzuschwächen. Deshalb ist in der Literatur auch schon früh auf „die Schwäche im Bereich der dauerhaften Sicherung des Enteignungszwecks“46 hingewiesen worden. Mit Recht ist für privatnützige Enteignungen die Absicherung des Allgemeinwohlzwecks als das „Maß aller Dinge“ bezeichnet worden.47 Die gesetzliche Sicherung des nur mittelbar gemeinnützigen Enteignungszwecks stellt in ___________ 41

Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, S. 216. Vgl. Zimmer, Flurbereinigung aus städtebaulichen Gründen und privatnützige Enteignung, DÖV 1986, 1001 (1008 zu [3] m.w.N.). 43 Vgl. Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, S. 136 f. 44 BVerfGE 56, 249 (261 f.); vgl. auch Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 14 Rn. 415. 45 Vgl. Depenheuer, in: v. Danwitz/Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 111 (208 m.w.N.). 46 K. Frey, Die Verfassungsmäßigkeit der transitorischen Enteignung, 1983, S. 93, zum Problem auch die instruktiven Ausführungen ebd. S. 256 ff. 47 Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, S. 177. 42

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der Tat eines der unverzichtbaren Kernelemente einer verfassungsrechtlich einwandfreien Enteignung dar. Daran ist festzuhalten. Der Fall des nordrhein-westfälischen Rohrleitungsgesetzes vom 21.3.2006 ist geeignet, die Notwendigkeit dichter verfassungsrechtlicher Maßstäbe an das Enteignungsgesetz und damit zugleich den Gesetzgeber zu veranschaulichen. Auf jede besondere Belastung des privaten Enteignungsbegünstigten, die nicht schon durch allgemeines Enteignungsrecht nach dem Landesenteignungs- und -entschädigungsgesetz (EEG NRW)48 vorgezeichnet war, ist verzichtet worden. Eine parlamentarische Aussprache hat nicht stattgefunden. Räumte man einem derart agierenden Gesetzgeber neue Spielräume bei dem Erlass von Enteignungsgesetzen ein, so hieße dies, das Schutzgut des Grundrechts aus Art. 14 GG der Disposition von Wirtschaftsunternehmen zu überantworten, die kraft ihrer wirtschaftlichen Potenz über hinreichenden politischen Einfluss verfügen. Die mit Art. 14 Abs. 1 GG an erster Stelle verbundene verlässliche Bestandsgarantie, deren Schranken durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber näher bestimmt werden, wäre in ihrem Kern berührt. In dem Rohrleitungsgesetz zu der CO-Pipeline zwischen Dormagen und Krefeld-Uerdingen finden sich auch keine effektiven Sicherungsvorkehrungen.49 Aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung wird zwar deutlich, dass der Gesetzgeber bei „Enteignungen zugunsten eines Vorhabens, das dem öffentlichen Wohl nur mittelbar dient“, um die Notwendigkeit von gesetzlichen „Vorkehrungen zur dauerhaften Sicherung des Enteignungszwecks“50 gewusst hat. Ungeachtet dessen hat er sich beschränkt darauf, in das Gesetz einen Anspruch auf Rückenteignung aufzunehmen (§ 5 RohrlG). Ein solcher Anspruch ist aber von vornherein nicht geeignet, den Enteignungszweck „Erhalt“ bzw. „Schaffung von Arbeitsplätzen“51 zu sichern, weil er nicht dazu dienen kann, den Gemeinwohlzweck unmittelbar durchsetzen zu können. Im Allgemeinen können Rückerwerbsrechte zwar einen gewissen Druck auf den Enteignungsbegünstigten erzeugen in dem Sinne, dass dann, wenn der Begünstigte die Zwecke der Enteignung nicht verwirklicht, er die Sache zurückzuübertragen hat. Schon in der älteren Literatur, die – bevor die BoxbergEntscheidung des BVerfG erging – das Rückerwerbsrecht als Sicherungsmittel ansah, sind aber auch die Schwächen des Rückenteignungsrechts herausgestellt worden. Dazu gehört vor allem, dass das Rückerwerbsrecht nicht von hoheitli___________ 48

Gesetz v. 20.6.1989, GV NRW S. 366. Vgl. OVG NRW, Beschluss v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07, Rn. 35: „Das Rohrleitungsgesetz enthält keine Regelung, die eine – zumal dauerhafte – Sicherung des in seinem § 2 genannten Enteignungszwecks bewirken könnte.“ 50 LT-Drucks. 14/909, S. 8 (Zu § 5, 1. Abs.). 51 LT-Drucks. 14/909, S. 6 bzw. 7. 49

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cher Seite, sondern nur von dem Enteigneten geltend gemacht werden kann.52 Das gilt auch hier. Der Rückübertragungsanspruch steht nach § 5 Satz 1 RohrlG i.V.m. § 42 Abs. 1 EEG NRW dem früheren Eigentümer zu. Schon deshalb ist ein solcher Rückenteignungsanspruch nicht geeignet, im Falle einer privatnützigen Enteignung den mittelbar verfolgten Gemeinwohlzweck zu sichern.53 Von noch größerer Bedeutung ist, dass der Anspruch aus § 5 Satz 1 RohrlG nach dessen Halbsatz 1 beschränkt ist auf den Fall, dass „die Rohrleitungsanlage nicht mehr für den Transport von Kohlenmonoxid beziehungsweise Kohlenmonoxid-Wasserstoffgemischen genutzt oder der Betrieb endgültig eingestellt wird“. Es geht also ausschließlich um den in der Überschrift zu § 5 RohrlG auch so umschriebenen Fall der endgültigen Betriebseinstellung. Die Voraussetzung für die Rückenteignung nach § 5 Satz 1 RohrlG ist nicht, dass die Fa. BMS AG den Enteignungszweck nicht verwirklicht, sondern nur die endgültige Betriebseinstellung.54 Von diesem Rückenteignungsrecht geht keinerlei Druck auf das enteignungsbegünstigte Unternehmen aus. Es wird durch § 5 RohrlG nicht gehindert, die CO-Pipeline zu betreiben und dennoch das Gegenteil dessen zu tun, was in § 2 RohrlG als Zweck der Anlage und der Enteignung angeführt wird. In der jüngeren Literatur werden Rückübertragungsansprüche mit Recht „nicht zu den eigentlichen Sicherungsmaßnahmen“ gezählt.55 Die sog. Rückenteignung ist in allen Fällen die Konsequenz der Nichtverfolgung von Enteignungszwecken. Es handelt sich nicht um ein spezifisches Problem der Enteignung zugunsten Privater. Deshalb ist die Rückenteignung auch kein Mittel zur Sicherung des mittelbar gemeinnützigen Enteignungszwecks im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG, sondern eine für alle Enteignungen mögliche Folge der Zweckverfehlung.56 Das ist auch der Grund dafür, dass nach inzwischen weithin vertretener Auffassung das Recht zum Rückerwerb auch ohne ___________ 52 Vgl. nur Frenzel, Das öffentliche Interesse als Voraussetzung der Enteignung, 1978, S. 128 f. m.w.N. 53 Vgl. Zimmer, Flurbereinigung aus städtebaulichen Gründen und privatnützige Enteignung, DÖV, 1986, 1001 (1009). 54 Ähnlich OVG NRW, Beschluss v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07, Rn. 37. 55 Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, S. 178; skeptisch gegenüber der Rückenteignung als Maßnahme zur Sicherung des Enteignungszwecks auch Gerhardt, FS f. Zeidler, Bd. 2, S. 1663 (1664); anders offenbar Schmidt-Aßmann, Bemerkungen zum Boxberg-Urteil des BVerfG, NJW 1987, 1587 (1588), dessen Bezeichnung „Damoklesschwert der Rückenteignung“ aber jedenfalls für den Fall des Rohrleitungsgesetzes wegen der nicht am Enteignungszweck anknüpfenden Voraussetzungen des Rückerwerbs nach § 5 RohrlG nicht greift. 56 Vgl. Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, S. 181; für Enteignungen im Allgemeinen Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 14 Rn. 431; Wendt, in: Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 14 Rn. 165 m.w.N.

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besondere gesetzliche Grundlage besteht, wenn die enteignete Sache zweckentfremdet verwendet wird.57 So ist die in § 5 RohrlG vorgesehene Regelung nicht nur zur Sicherung des Gemeinwohlzwecks (Sicherung bzw. Schaffung von Arbeitsplätzen) ungeeignet,58 sondern sogar überflüssig. Für das Rohrleitungsgesetz ergibt sich, dass keine den Anforderungen des Art. 14 Abs. 3 GG genügende Sicherung des mittelbar gemeinnützigen Enteignungszwecks besteht. Das Gesetz verstößt auch in dieser Hinsicht gegen Art. 14 Abs. 1 und 3 GG.

2. Kein gesetzlich vorgesehener „Vertrauensvorschuss“ für den privaten Enteignungsbegünstigten Über das Fehlen gesetzlicher Vorkehrungen zur Sicherung des Enteignungszwecks kann im Falle des Rohrleitungsgesetzes nicht aufgrund der Wirtschaftskraft und ggf. Vertrauenswürdigkeit des Bayer-Konzerns hinweggesehen werden. Entsprechende Überlegungen sind – damals im Hinblick auf die Fa. Daimler-Benz – schon im Fall „Boxberg“ vorgebracht worden. Insbesondere das Bundesverwaltungsgericht hatte gesetzliche Regelungen zur Sicherung des nur mittelbar gemeinnützigen Enteignungszwecks für entbehrlich gehalten, da die Wirtschaftskraft der Daimler-Benz AG die Gewähr dafür biete, dass die Gemeinwohlziele durch die plankonforme Errichtung der Teststrecke und ihren dauerhaften Betrieb auch tatsächlich erreicht würden.59 In der Literatur ist flankierend formuliert worden, es sei verfehlt, zur Sicherung des Enteignungszwecks inhaltliche Bindungen des Privatunternehmens zu fordern. Die vorgängige Kontrolle seiner „Bonität“ müsse genügen.60 Das BVerfG hat diesen Gedanken in seiner Boxberg-Entscheidung mit dem Begriff des „Vertrauensvorschusses“ belegt und ihn in der vom BVerwG in Anspruch genommenen Allgemeinheit nicht gelten lassen.61 Das BVerfG hat im Hinblick auf die Sicherung des Enteignungszwecks den Blick auf die Wirtschaftskraft des begünstigten Privatunternehmens zwar nicht generell ausge___________ 57 Vgl. nur BVerfGE 38, 175 (Ls. 1 und S. 179 f.); ferner die umfangreichen Nachw. b. Jackisch, Die Zulässigkeit der Enteignung zugunsten Privater, S. 180 Fn. 465. 58 Vgl. OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07, Rn 37: „Die angenommene Tauglichkeit dieser Vorschrift (scil. § 5 RohrlG) zur Sicherstellung des Gemeinwohlbezugs der Rohrleitungsanlage ist wenig überzeugend.“ 59 BVerwG, NVwZ 1985, 739 (744), zitiert (und zurückgewiesen) auch von BVerfGE 74, 264 (295 u.). 60 Gerhardt, Gibt es verfassungsrechtliche Besonderheiten bei „Enteignungen zugunsten Privater“?, in: FS f. Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1663 (1667). 61 BVerfGE 74, 264 (295 f.).

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schlossen. Das Gericht hat aber ausdrücklich verlangt, der „Vertrauensvorschuss“ zugunsten des betreffenden Großunternehmens „müßte einschließlich der dazu notwendigen Voraussetzungen zumindest gesetzlich vorgesehen sein“62. In der Tat kann ein „Vertrauensvorschuss“ zugunsten des privaten Enteignungsbegünstigten allenfalls in derart zurückhaltender Weise berücksichtigt werden.63 Andernfalls könnten sämtliche Mechanismen zum Schutze des Eigentums und der Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs.1 GG, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Boxberg-Entscheidung herausgestellt hat, ausgehebelt und umgangen werden. Nur gesetzlich bestimmte Vorgaben zur Sicherung des mittelbar gemeinnützigen Enteignungszwecks können dem hohen Rang der Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG gerecht werden und – im Verbund mit der exakten Beachtung der weiteren Anforderungen an Enteignungen – den Eingriff in das Grundrecht des Eigentümers rechtfertigen. Vertragliche Absprachen oder gar der rechtlich nicht näher spezifizierte Blick auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und „Bonität“ des privaten Enteignungsbegünstigten können nicht ausreichen. Deshalb hat das BVerfG auch die flurbereinigungsrechtliche Planvereinbarung, auf die das BVerwG im Fall „Boxberg“ abgestellt hatte,64 ausdrücklich als unzureichend bezeichnet.65 Damals war allerdings zwischen den beteiligten Gemeinden (Assamstadt und Boxberg), der Daimler-Benz AG und dem Land Baden-Württemberg eine Sicherungsvereinbarung geschlossen worden.66 Abgesehen davon, dass eine solche vertragliche Sicherungsmaßnahme in dem Fall der Rohrleitungsanlage zwischen Dormagen und Krefeld-Uerdingen nicht ersichtlich ist, wäre sie nicht geeignet, den Enteignungszweck zu sichern. Denn sie stellte eben keine gesetzlich vorgesehene Sicherungsmaßnahme dar. Auch ergeben sich im Falle der CO-Pipeline keine Anhaltspunkte dafür, dass ein „Vertrauensvorschuss“ zugunsten des Bayer-Konzerns bzw. der Fa. Bayer MaterialScience AG (BMS ___________ 62 BVerfGE 74, 264 (296 o.). Das betont auch OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2007 – 20 B 1586/07, Rn. 38, das ergänzend darauf hinweist, dass auch die Gesetzesbegründung zum RohrlG die Annahme eines verfassungsrechtlich bedeutsamen „Vertrauensvorschusses“ nicht trägt. 63 Nicht zu Unrecht ist allerdings in der Literatur darauf hingewiesen worden, dass die technische Entwicklung regelmäßig dazu führt, Arbeitsplätze bei Großunternehmen ohne Einschränkungen bei der Produktion überflüssig werden zu lassen. Mit Blick auf die Anforderungen der „Boxberg-Entscheidung“ folgert Prall, NordÖR 2001, 187 (189 b. Fußn. 47) daraus mit vollem Recht: „Ohne eine rechtliche Bindung des Vorhabenträgers ist daher keine Sicherung zu erreichen.“ Die weitere Schlussfolgerung, dass ein „Vertrauensvorschuss“ als Sicherungsmittel ausscheidet, wird von Prall zwar nicht gezogen. Sie liegt aber auf der Hand. 64 BVerwG, NVwZ 1985, 739 (744). 65 BVerfGE 74, 264 (296). 66 Vgl. zu dem damaligen Vorgang und zum Inhalt der Sicherungsvereinbarung Schmidbauer, Enteignung zugunsten Privater, 1989, S. 234 m. Einzelheiten.

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AG) zur Sicherung des Enteignungszwecks bedeutsam sein könnte. Denn die vom BVerfG betonte Mindestvoraussetzung an die Berücksichtigung eines „Vertrauensvorschusses“ ist hier nicht erfüllt, dass er nämlich „gesetzlich vorgesehen“ ist67. In dem Rohrleitungsgesetz wird die letztlich enteignungsbegünstigte BMS AG nicht einmal erwähnt. Nur aus der Begründung wird deutlich, dass ihr die Errichtung und der Betrieb der CO-Pipeline zukommen sollen.68

IV. Schluss Privatnützige Enteignungen bilden eine besonders fehleranfällige Fallgruppe der nach Art. 14 Abs. 3 GG grundsätzlich zulässigen Enteignungen. Die Anforderungen, die das BVerfG in seiner wegleitenden Boxberg-Entscheidung von 1987 aufgestellt hat, sind in jeder Hinsicht verfassungsrechtlich geboten und legitim. Sie dienen dazu, Missbräuchen des Enteignungsrechts zugunsten einflussreicher Privatunternehmen entgegenwirken zu können. Der Fall des nordrhein-westfälischen Rohrleitungsgesetzes vom 21.3.2006 zeigt, wie klar das BVerfG die Interessenverflechtungen und -kollisionen im Kraftfeld von Wirtschaft, Politik und Eigentum im Blick hatte. Die Bindung aller staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz, die Friedrich E. Schnapp mit vollem Recht als den „zentralen Grundsatz des Rechtsstaatsgedankens“ bezeichnet hat69, stellt sicher, dass der Eigentümer, der im Streitfall nicht mehr in der Hand hat als sein Recht aus Art. 14 GG, sich zuweilen auch gegen einen übermächtig scheinenden Gegner wie einen weltweit agierenden Chemiegroßkonzern durchsetzt. Nur aufgrund der rechtsstaatlichen Anforderungen, die Friedrich E. Schnapp immer wieder herausgestellt hat und denen jede Behörde und jedes Verwaltungsgericht unterliegt, kann er darauf vertrauen, dass sein Eigentum verfassungsrechtlich korrekt berücksichtigt und (zumindest) von den Gerichten geschützt wird.

___________ 67

BVerfGE 74, 264 (296 – 2. Zeile). LT-Drucks. 14/909, S. 5. 69 Schnapp (o. Fußn. 1), Rn. 43. 68

Christliches, sozialistisches und liberales Gedankengut im deutschen Verfassungsrecht nach 1945 Von Ingo von Münch, Hamburg

I. Christliches Gedankengut Das Wort „christlich“ kommt im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vor. Aus diesem Schweigen folgt jedoch nicht, dass das Grundgesetz eine unchristliche Verfassung ist. Christliches Gedankengut – nicht immer, aber auch nicht selten in einer Gemengelage mit sozialistischem und liberalem Gedankengut – ist nicht nur ein Spurenelement im Grundgesetz. Am deutlichsten offenbart sich das Bekenntnis des Grundgesetzes zu christlichem Gedankengut in seiner Präambel. In der so genannten Invocatio Dei („Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...“1) ist mit Gott nicht irgendeine göttliche Figur irgendeiner Religion gemeint, sondern der Gott des Christentums.2 In dieser Feststellung liegt keine Abwertung irgendeines anderen Gottesbegriffes; denn die Präambel des Grundgesetzes nennt die „Verantwortung vor Gott“ im Zusammenhang mit der Schaffung des Grundgesetzes und dessen Verkündung im Jahre 1949. Auch die Präambel des Grundgesetzes ist also, wie Philip Zorn dies hinsichtlich der Präambel der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 ausgedrückt hat, eine „historische Notiz“.3 Historisch gesehen haben Angehörige nichtchristlicher Religionen an der Schaffung des Grundgesetzes nicht mitgewirkt.4 Die Charakterisierung einer Verfassungspräambel als „historische Notiz“ darf allerdings nicht dahin missverstanden werden, dass die ___________ 1 Vgl. dazu G. Czermak, „Gott“ im Grundgesetz, NJW 1999, S. 1300 ff.; J. Ennuschat, „Gott“ und Grundgesetz, NJW 1998, S. 953 ff.; P. Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat?, in Fs. f. Zeidler, 1987, S. 3 ff. 2 Dass diese Bezugnahme anders ausgerichtete Religionen oder auch areligiöse Vorstellungen nicht ausschließt, „weil ihre Funktion angesichts des Art. 4 I von vornherein nicht auf Ausgrenzung angelegt sein darf“, betont Ph. Kunig in: I. von Münch/Ph. Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl., 2000, Präambel Rn. 16. 3 Ph. Zorn, Das Reichsstaatsrecht, Bd. 1, 2. Aufl., S. 58. 4 Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates sind namentlich und mit ihrer jeweiligen Parteizugehörigkeit aufgeführt in JöR n. F. 1 (1951), S. 4 f. – Zu dessen Arbeit allg.: M. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, 1998.

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Präambel ohne rechtliche Bedeutung ist.5 Zutreffend haben sowohl das BVerfG als auch das BVerwG schon früh erkannt, dass die Präambel des Grundgesetzes Rechtspflichten für politisches Handeln und Grundsätze für die Auslegung der Gesetze enthält (jeweils entschieden für das Wiedervereinigungsgebot der Präambel).6 Bezüglich des Christentums hat die Präambel insoweit rechtlichen Gehalt, als mit ihr eine Einführung des Atheismus als Staatsreligion und eine Vergötzung des Staates im Sinne von Verabsolutierung der Staatsgewalt unvereinbar wäre. Allerdings kann aus der Präambel allein keine prochristliche Auslegungsregel für Grundrechtsnormen und für Bestimmungen einfacher Gesetze entnommen werden.7 Sofern das „Menschenbild des Grundgesetzes“8 eine Rolle spielt, wie z.B. im Zusammenhang mit dem Grundrecht der Menschenwürde, sind christlich geprägte Vorstellungen nicht von der Hand zu weisen. Über die Geschichte der Formulierung der Invocatio Dei geben die Protokolle des Parlamentarischen Rates Auskunft.9 Eine ursprünglich andere Formulierung („Die nationalsozialistische Zwingherrschaft hat das deutsche Volk seiner Freiheit beraubt. Krieg und Gewalt haben die Menschheit in Not und Elend gestürzt ...“) wurde verworfen. Der Abgeordnete Adolf Süsterhenn (CDU) empfahl stattdessen die Einbeziehung der Invocatio Dei mit dem Hinweis auf die Auffassung der scholastischen Naturrechtslehre „von der sog. vis directiva, der sozialpsychologischen und sozialpädagogischen Wirkung eines guten Gesetzes“; mit der Invocatio Dei wollte Süsterhenn „diese dirigierende Kraft“ in der Präambel so gesichert sehen, „daß er seine fundamentalen Wurzeln letzten Endes auch im Metaphysischen findet.“10 Theodor Heuß (FDP) warnte demgegenüber vor zu viel Theologie: „... bezüglich einer theologischen Formel möge man, um der theologischen Position willen, vorsichtig sein, diese mehr diesseitigen Werke zu stark im metaphysischen verankern zu wollen.“11 Die Anrufung Gottes war jedoch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates nahezu beschlossene Sache; unentschieden war nur noch das Beiwerk und die genaue Formulierung. Ein Vorschlag von Hermann von Mangoldt (CDU) mit der Formulierung „Im Vertrauen auf Gott und die wiedererweckten sittlichen Kräfte ___________ 5

Dazu schon U. Lehmann-Brauns, Die staatsrechtliche Bedeutung der Präambel des Bonner Grundgesetzes, Diss. Berlin 1964. 6 BVerfGE 5, 85 [127]; BVerwGE 11,9 [13]. – Vgl. auch in anderem Zusammenhang BayerVerfGH DÖV 1956, S. 762. 7 Zur „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“ und zum Gedanken „der Toleranz für Andersdenkende“ s. BVerfGE 41, 29 [50, 52], allerdings ohne Bezugnahme auf die Präambel. 8 Grundlegend G. Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1952, S. 259 ff. 9 Vgl. dazu JöR n.F. 1 (1951), S. 29 ff. 10 JöR n.F. 1 (1951), S. 29. 11 JöR n.F. 1 (1951), S. 30.

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des deutschen Volkes“ wurde abgelehnt;12 befürchtet wurde eine spöttische Kommentierung, die lauten könnte: „Der liebe Gott kommt von der CDU, die sittlichen Kräfte kommen von der SPD.“ Die Ersetzung der Worte „Im Vertrauen auf Gott“ durch die zum Abschluss der Beratungen im Parlamentarischen Rat angenommene Fassung „In Verantwortung vor Gott“ beruht auf einer Intervention von Theodor Heuß, der gegen das „Vertrauen auf Gott“ eingewendet hatte: „Den lieben Gott für alle die Dummheiten, die hier gemacht werden, unmittelbar verantwortlich zu machen, ist eine theologische Überhebung.“13 Mit der Invocatio Dei knüpfte die Präambel des Grundgesetzes an die Präambeln einiger (aber nicht aller) der bereits vor seiner Verkündung geschaffenen Landesverfassungen an. Die Präambel des Landes Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947, die mit „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott“ beginnt, setzt fort mit dessen Beschreibung „dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft.“ Die Verfassung des Freistaates Bayern vom 8. Dezember 1946 blickt in ihrer Präambel zurück im Zorn auf eine gottlose Zeit, nämlich die des NS-Regimes: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat.“ Wer über das deutsche Verfassungsrecht spricht, kann über das europäische Verfassungsrecht nicht (mehr) schweigen. Deshalb sollte auch im vorliegenden Zusammenhang zumindest daran erinnert werden, dass die Frage der Aufnahme oder Nichtaufnahme einer Invocatio Dei in den europäischen Verfassungsvertrag zu intensiven Diskussionen im politischen Raum geführt hat.14 Staatsverfassungen fallen nicht vom Himmel. Verfassungsgebung ist ein Prozess und am Ende eine rechtliche und politische Entscheidung, mit der Antworten auf elementare Fragen sowohl des Zusammenlebens der Menschen im Staat als auch der staatlichen Organisation gegeben werden. Die diesbezüglichen Fragen und Antworten haben eine länger zurückliegende und eine unmittelbar vergangene Vorgeschichte. Im Fall des Grundgesetzes und der Landesverfassungen war die länger zurückliegende Zeit die des Konstitutionalismus ___________ 12

JöR n.F. 1 (1951), S. 32. JöR n.F. 1 (1951), S. 34. 14 Vgl. dazu z.B. G. Waschinski, Gott in die Verfassung? Religion und Kompatibilität in der Europäischen Union, Baden-Baden 2007; M.H. Weninger, Europa ohne Gott? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, Baden-Baden 2007. – In einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) hat Bundesaußenminister Steinmeier Verständnis für die Kritik von Papst Benedikt XVI. am fehlenden Bezug auf das jüdisch-christliche Erbe in den EU-Texten und die päpstlichen diesbezüglichen Mahnungen als hilfreich bewertet (FAZ Nr. 86 v. 13.4.2007, S. 4). 13

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und später die der Weimarer Republik, die unmittelbar vorherliegende Zeit war die des totalitären Regimes der NS-Zeit. Die nationalsozialistischen Machthaber standen dem Christentum feindlich gegenüber.15 Zwar hatte das Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920 sich nicht offen gegen das Christentum gestellt, aber doch schon Einschränkungen gemacht, wenn es darin (in Nr. 24) hieß: „Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.“ Adolf Hitler selbst schrieb in „Mein Kampf“, die nationalsozialistische Bewegung „sieht in beiden religiösen Bekenntnissen gleich wertvolle Stützen für den Bestand unseres Volkes ...“.16 Die scheinbare Toleranz Hitlers hörte aber bei der so genannten „Judenfrage“ auf: „Nehmen z.B. in der Judenfrage nicht beide Konfessionen heute einen Standpunkt ein, der weder den Belangen der Nation noch den wirklichen Bedürfnissen der Religion entspricht?“17 In vertraulichen Gesprächen ließ Hitler später die Maske fallen und erwähnte die Unvereinbarkeit seines politischen Glaubensbekenntnisses mit dem Christentum: „Eine deutsche Kirche, ein deutsches Christentum ist Krampf. Man ist entweder Christ oder Deutscher. Beides kann man nicht sein.“18 Mit seiner Einschätzung vom „Krampf“ einer „deutschen Kirche“ distanzierte Hitler sich von dem Bild, das Alfred Rosenberg mit seiner Vorstellung einer „auf der Idee der Nationalund Persönlichkeitsehre aufgebauten „Deutschen Volkskirche“ entworfen hatte.19 Der Katholizismus als politische Gestaltungskraft hatte mit der Selbstauflösung der Partei des Zentrum im Juli 1933 seine Organisation verloren, eine Auflösung, die dem Parteienverbot durch das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933 (§ 1: „In Deutschland besteht als einzige politische Partei die nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“20) zuvorgekommen war. Der kurz darauf erfolgte Abschluss des Reichskonkordats vom 20. Juli 193321 war nur ein taktischer Schachzug der NS-Kirchenpolitik aus der Anfangsphase des „Dritten Reiches“. Der später einsetzende Kampf des Regimes gegen die christlichen Kirchen und gegen christliche Sekten ist bekannt. Außerhalb der Präambel kommt Gott ausdrücklich nur in der in Art. 56 Abs. 1 GG vorgeschriebenen Eidesformel vor, nämlich in der Beteuerung „So ___________ 15

Dazu z.B. K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. 2 Bde. 1986/88. Mein Kampf, S. 379. 17 Mein Kampf, S. 121. 18 Zitiert bei H. Rauschning, Gespräche mit Hitler, 1939. 19 Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 1930, S. 621. 20 RGBl. 1933 I, S. 479. 21 RGBl. 1933 II, S. 679. 16

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wahr mir Gott helfe“. Allerdings kann der Amtseid des Bundespräsidenten gem. Art. 56 Abs. 2 GG auch „ohne religiöse Beteuerung“ geleistet werden. Gleiches gilt gem. Art. 64 Abs. 2 GG für den Amtseid des Bundeskanzlers und der Bundesminister, die ebenfalls den in Art. 56 GG für den Bundespräsidenten vorgeschriebenen Amtseid leisten müssen.22 Auch die Verfassungen der Länder sehen, mit Ausnahme der Verfassung des Landes Berlin, einen Amtseid der Regierungsmitglieder vor, so – ohne inhaltliche Spezifizierung – die Verfassung von Bayern (Art. 56), die Verfassung von Bremen (Art. 109) und die Verfassung von Hessen (Art. 111). Wie das Grundgesetz formulieren die Verfassungen von Baden-Württemberg (Art. 48 Abs. 3), Nordrhein-Westfalen (Art. 53 Abs. 2) und des Saarlandes (Art. 89 Abs. 2). Die brandenburgische Verfassung (Art. 88 Abs. 2) konzediert ebenso wie die sächsische (Art. 61 Abs. 3), die schleswig-holsteinische (Art. 28 Abs. 2) und die thüringische (Art. 71 Abs. 1), der Amtseid „kann auch mit einer religiösen Beteuerung geleistet werden.“ In den einschlägigen Bestimmungen der Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern (Art. 44 Abs. 2), Niedersachsen (Art. 31 Abs. 2) und Sachsen-Anhalt (Art. 66 Abs. 2) findet man die Regelung, dass der Amtseid „mit oder ohne religiöse Beteuerung“ abgelegt werden kann. Ähnlich formuliert die Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz, die in Art. 100 Abs. 2 auf die Vorschrift des Art. 8 Abs. 3 Satz 2 („Die Benutzung einer religiösen Eidesformel steht jedem frei“) verweist; jedoch fällt die rheinland-pfälzische Verfassung insofern aus dem Rahmen des Üblichen heraus, als die in Art. 100 Abs. 1 für den Ministerpräsidenten und die Minister vorgeschriebene Eidesformel mit den Worten beginnt: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden ...“. Größere Bedeutung für die Pflege des christlichen Gedankenguts als die Eidesformel haben die Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 7 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG mit dem Verweis auf die Religionsbestimmungen der WRV sowie – im Hinblick auf die christliche Sicht von Ehe und Familie – Art. 6 Abs. 1 und 2 GG. Wie war es zu diesen Regelungen gekommen? Bezüglich der Frage der kirchlichen Verfassungsartikel (die zwar an sich alle Kirchen betrafen, tatsächlich aber im Hinblick auf die Mitgliederzahlen die beiden christlichen Großkirchen am meisten privilegierten), bildeten im Parlamentarischen Rat die Abgeordneten von CDU/CSU, Zentrum und Deutscher Partei eine Art „Koalition“. Diese „Koalition“ hatte allerdings keine Mehrheit; denn von den 65 stimmberechtigten Mitgliedern des Parlamentarischen Rates (die fünf Vertreter Berlins hatten nur beratende Stimme) gehörten ihr nur 31 an (CDU/CSU 27, Zentrum 2, DP 2) gegenüber 34 Abgeordneten oder anderen Parteien (SPD ___________ 22 Der einzige Bundeskanzler, der bisher seinen Amtseid ohne „So wahr mir Gott helfe“, geleistet hat, war Gerhard Schröder.

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27, FDP 5, KPD 2). Dementsprechend wurde z.B. ein gemeinsamer Antrag von CDU/CSU, Zentrum und DP abgelehnt, der lautete: „Die Kirchen werden in ihrer Bedeutung für die Wahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlage des menschlichen Lebens anerkannt.“ Eine unmittelbare Einflussnahme der christlichen Kirchen und christlichen Verbände auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates hat offenbar nur in geringem Ausmaß stattgefunden.23 Vermutlich fühlten die christlichen Kirchen und die christlichen Verbände sich durch die ihnen nahestehenden Parteien im Parlamentarischen Rat zufriedenstellend vertreten – bekannt geworden sind von den direkten Einflussnahmen eine Eingabe der „Konferenz der Kirchen der britischen Zone“ und vom „Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland.“ Legt man z.B. die Eingabe des Rates der EKD wie eine Blaupause auf das Grundgesetz, so zeigt sich, welche Unterschiede zwischen dem kirchlichen Willen einerseits und der Beschlussfassung des Parlamentarischen Rates andererseits bestanden. Eine typische Kompromisslösung beinhaltet die vom Parlamentarischen Rat beschlossene Vorschrift über den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen. Der Rat der EKD hatte gefordert: „Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach in allen Schulen. Er wird nach den Grundsätzen der Kirchen in ihrem Auftrag und unter ihrer Aufsicht erteilt.“ Art. 7 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG bestimmt demgegenüber: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“ Der Wunsch des Rates der EKD, „daß in einem besonderen Artikel das Recht der christlichen Kirchen garantiert wird, in dem neuen Staat ihren Glauben auszubreiten und dafür zu werben“, wurde vom Parlamentarischen Rat zwar so nicht erfüllt; aber das BVerfG legt Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in diesem Sinne aus. Auch die vom Rat der EKD vorgetragene Notwendigkeit des Schutzes „insbesondere auch des keimenden Lebens“, ist nicht ausdrücklich in das GG aufgenommen worden, jedoch vom BVerfG in seinen Entscheidungen betreffend § 218 StGB grundsätzlich anerkannt worden. Betrachtet man die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Grundrecht der Religionsfreiheit und zum Staatskirchenrecht, so kann diese Rechtsprechung im Allgemeinen als kirchenfreundlich gewertet werden. Der insoweit untypische so genannte Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat vermutlich deshalb so viel Aufmerksamkeit und so harsche Kritik erfahren, weil diese Entscheidung nicht bedingungslos der christlich-kirchlichen Linie folgte. ___________ 23 Zum späteren kirchlichen Einfluss auf die deutsche Politik vgl. Antonius Liedhegener, Macht, Moral und Mehrheiten. Der politische Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA seit 1960, Baden-Baden 2006.

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Gesprächiger als das Grundgesetz sind hinsichtlich der Aufnahme von christlichem Gedankengut die Verfassungen der deutschen Länder. Dies gilt zwar nicht für die Präambeln; denn einige Landesverfassungen enthalten überhaupt keine Präambel (so die Verfassungen von Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Schleswig-Holstein), andere Landesverfassungen haben eine Präambel, aber ohne einen Gottesbezug (so Bremen und Sachsen), und wiederum andere, nach Verkündung des Grundgesetzes erlassene Landesverfassungen lehnen sich an den Wortlaut der Invocatio Dei der Präambel des Grundgesetzes an (so Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen). Außerhalb der Präambel findet der Begriff „christlich“ sich zumeist in den Verfassungsbestimmungen, die das Schulwesen regeln. Beispiele hierfür sind Art. 135 Satz 2 der bayerischen Verfassung („In ihnen [den öffentlichen Volksschulen. D. Verf.] werden die Schüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet und erzogen.“), Art. 32 Abs. 1 der bremischen Verfassung („Die allgemeinbildenden Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht auf allgemein christlicher Grundlage“), sowie Art. 12 der nordrhein-westfälischen Verfassung. In dieser Bestimmung wird zunächst der Begriff „Grundschulen“ unterteilt in „Gemeinschaftsschulen, Bekenntnisschulen oder Weltanschauungsschulen“ (Abs. 3 Satz 1); eine Bezugnahme auf das Christentum bzw. den katholischen oder evangelischen Glauben erfolgt in Abs. 6 Satz 1 und 2: „In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen. In Bekenntnisschulen werden Kinder des katholischen oder des evangelischen Glaubens oder einer anderen Religionsgemeinschaft nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen.“24 Am häufigsten finden sich Bezugnahmen auf christliches Gedankengut in der Verfassung des Landes Baden-Württemberg. Der Charakter der christlichen Gemeinschaftsschule wird in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 dahin umschrieben, dass in den christlichen Gemeinschaftsschulen „die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen (werden)“. Sogar an eine diesbezügliche Konfliktregelung hat der baden-württembergische Verfassungsgeber gedacht, nämlich in Abs. 3: „Ergeben sich bei der Auslegung des christlichen Charakters der Volksschule Zweifelsfragen, so sind sie in gemeinsamer Beratung zwischen dem Staat, den Religionsgemeinschaften, den Lehrern und den Eltern zu beheben“. (Für den heutigen Leser ist auffallend, dass die Schüler, obwohl sie die Hauptbetroffenen einer solchen „Zweifelsfrage“ ___________ 24

Den Unterricht und die Erziehung in Weltanschauungsschulen regelt Satz 3.

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sind, in der Aufzählung fehlen). Ausdrücklich genannt ist die Jugend dagegen in der Bestimmung, die das allgemeine (also nicht nur das schulische) Erziehungsziel umschreibt; Art. 12 Abs. 1 der baden-württembergischen Verfassung lautet: „Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und zu sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.“ Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Erziehungsziel „im Geiste der christlichen Nächstenliebe“ sich auch in der Verfassung des Saarlandes (Art. 30) findet, einer Bestimmung, deren Wortlaut fast deckungsgleich mit Art 12 Abs. 1 der Verfassung des Landes BadenWürttemberg ist. Eine baden-württembergische (Verfassungs-)Besonderheit ist allerdings die „Erfüllung des christlichen Sittengesetzes“, die in Art. 1 Abs. 1 angemahnt wird: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu erfüllen.“ Die „christliche Überlieferung“ ist schließlich in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 und 3 erwähnt, wo es heißt: „Die staatlich anerkannten Feiertage werden durch Gesetz bestimmt. Hierbei ist die christliche Überlieferung zu wahren.“25 Keine ausdrückliche Erwähnung hat die katholische Soziallehre26 in Form des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz gefunden.27 Der Grundgedanke der Subsidiarität, der sich nicht nur aus christlichkatholischem Gedankengut speist sondern der auch einem liberalen Grundrechtsverständnis zugrunde liegt, findet sich aber in nicht wenigen Bestimmungen des Grundgesetzes, am deutlichsten ausformuliert in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach Pflege und Erziehung der Kinder „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ sind.

II. Sozialistisches Gedankengut Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 war hinsichtlich ihrer sozialistischen Inhalte unterschiedlich bewertet worden. Während Gerhard Anschütz da___________ 25 Vgl. demgegenüber Art. 140 GG, Art. 139 WRV, wo dieser Hinweis auf die christliche Überlieferung fehlt. Zum verfassungsrechtlichen Schutz des Sonntags allg. vgl. Ph. Kunig, Der Schutz des Sonntags im verfassungsrechtlichen Wandel, Berlin 1989. 26 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema vgl. z.B. Hans Maier, Katholische Sozial- und Staatslehre und neuere deutsche Staatslehre, AöR 93 (1968), S. 1 ff. 27 Zum „Zweifrontenkampf“ der katholischen Soziallehre „sowohl gegen die einseitige Überbetonung der Gemeinschaft in den sozialistischen und faschistischen Systemen des totalitären Staates wie auch gegen die einseitige Betonung der Privatrechte im Liberalismus“: Lehrschreiben der deutschen Bischöfe über Aufgaben und Grenzen der Staatsgewalt vom 12.12.1953 (Abschn. II: Grenzen der Staatsgewalt).

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zu meinte, „Sozialismus und Kollektivismus sind die herrschenden Mächte“28, urteilte Ernst Niekisch: „Der Bürger hatte in Weimar dem Arbeiter den Absud der Frankfurter Verfassung des Jahres 1849 vorgesetzt. Daß der Bürger das nationalliberale Erbe seiner Väter aus dem Schrank hervorholte und es nicht feierlich verleugnete, ließ der Arbeiter als vollwertiges bürgerliches Zugeständnis gelten. Der Bürger brachte das Petrefakt seiner ehemaligen revolutionären Produktivität an den Mann und setzte sich dabei noch in das Licht, damit ungeheuer splendid gewesen zu sein ... Die Weimarer Verfassung war das Opium, mittels dessen die Arbeiterschaft in den Klassenschlaf versenkt wurde.“29 Die zeitlich vor dem Grundgesetz und den Verfassungen der Länder liegende NS-Zeit war in Bezug auf sozialistisches Gedankengut gekennzeichnet vom Widerspruch zwischen dem teilweise sozialistischen Programm30 der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ (NSDAP)31 vom 24. Februar 1920 und der Wirklichkeit des „Dritten Reiches“. Im Parlamentarischen Rat hatte die SPD mit 27 von 65 Abgeordneten eine sehr starke Stellung. Aus ihren politischen Erklärungen vor dem Beginn der Beratungen des Parlamentarischen Rates32 hat die SPD im Parlamentarischen Rat selbst kaum verfassungsrechtliche Konsequenzen gezogen. Als Begründung für diese Zurückhaltung wurde angegeben, dass mit dem vom Parlamentarischen Rat zu beschließenden Grundgesetz keine echte Verfassung geschaffen werden solle, sondern nur ein provisorisches Verwaltungsstatut für Westdeutschland. Die Durchsetzung der Hauptforderung der Gewerkschaften und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer sollten nach Auffassung der SPD einer späteren gesamtdeutschen Verfassung vorbehalten bleiben. ___________ 28

DJZ 1919, S. 115. In: Die Legende von der Weimarer Republik, 1967. 30 Vgl. Z.B. die Programmpunkte Nr. 11 (Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens); Nr. 13 (Verstaatlichung aller [bisher bereits] vergesellschafteten [Trusts] Betriebe); Nr. 14 (Gewinnbeteiligung an Großbetrieben); Nr. 16 (sofortige Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende); Nr. 17 (eine den nationalen Bedürfnissen angepasste Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke, Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation). Nr. 14 enthielt die oft gebrauchten Worte: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. 31 In der Kundgebung im Münchner Hofbräuhaus, auf der Hitler an diesem Tag das Programm verkündete, war der Name der bis dahin als Deutsche Arbeiter-Partei (DAP) sich bezeichnenden Partei in NSDAP umbenannt worden; die endgültige Namensgebung erfolgte im September 1920. 32 So hatte Kurt Schumacher schon im Dezember 1945 erklärt: „Deutschland kann nur unter der Voraussetzung wahrhaft demokratisch werden, daß seine soziale Struktur geändert, die Macht der Konzerne gebrochen und der Arbeiterschaft ein entscheidender Einfluss auf die Produktion eingeräumt wird.“ 29

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Die Gewerkschaften waren – wie auch alle anderen gesellschaftlichen Gruppen – im Parlamentarischen Rat nicht unmittelbar vertreten, sondern nur mittelbar über die ihnen politisch nahestehenden Parteien.33 Unter den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates befanden sich fünf Gewerkschaftsfunktionäre (SPD: 3; CDU: 2; KPD: 1). Von Seiten der Gewerkschaften selbst ist kein Druck auf den Parlamentarischen Rat ausgeübt worden, insbesondere auch nicht durch Arbeitskampfmaßnahmen in Form politischer Streiks. Insgesamt gesehen sind die Gewerkschaften während der Beratungen des Parlamentarischen Rates verhältnismäßig passiv geblieben. Immerhin hat der DGB (britische Besatzungszone) eine Eingabe an den Parlamentarischen Rat gerichtet mit Forderungen für „sozialrechtliche Bestimmungen im Grundgesetz“. Die diesbezüglichen Vorschläge34 trugen die Überschriften. „1. Grundsatz; 2. Einheitliches Arbeitsrecht; 3. Weltarbeitsrecht; 4. Koalitionsfreiheit; 5. Gewerkschaften; 6. Streikrecht; 7. Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen; 8. Schlichtung; 9. Mindestlöhne35; 10. Arbeitsbedingungen; 11. Der Arbeitslohn; 12. Arbeitszeit und Urlaub; 13. Unfallverhütung und Gesundheitsschutz; 14. Frauen- und Jugendschutz; 15. Freizügigkeit; 16. Feiertag der Arbeit; 17. Kündigungsschutz; 18. Ausübung staatsbürgerlicher Rechte; 19. Arbeitsgerichtsbarkeit; 20. Die Sozialversicherung; 21. Soziale Fürsorge.“ Das Hauptanliegen der Gewerkschaften, die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit, ist im Grundgesetz stark betont und gegenüber dem Grundrecht der (allgemeinen) Vereinigungsfreiheit herausgehoben worden: Die Koalitionsfreiheit ist nicht nur als ein Deutschenrecht sondern als ein Menschenrecht in das Grundgesetz aufgenommen, und die besondere Stellung wird durch die verselbständigte Regelung in Art. 9 Abs. 3 GG unterstrichen. Auch die Landesverfassungen, die teils vor, teils nach dem Grundgesetz beschlossen wurden, widmen der Koalitionsfreiheit eigene Regelungen. Das Recht zur Führung von Arbeitskämpfen war zwar in der ursprünglichen Fassung des Art. 9 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich genannt. Dieses Recht war aber allgemein anerkannt und wurde im Zuge der Notstandsverfassung als Art. 9 Abs. 3 Satz 3 in das Grundgesetz ___________ 33 Zur Rolle der Gewerkschaften bei der politischen Willensbildung allg. vgl. schon K.-H. Gießen, Die Gewerkschaften im Prozeß der Volks- und Staatswillensbildung, Berlin 1975. – Grundlegend: G. Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, Tübingen 1978; dazu P. Häberle, Verbände als Gegenstand demokratischer Verfassungslehre, ZHR 145 (1981), S. 473 ff. 34 Deutscher Gewerkschaftsbund (britische Besatzungszone). Geschäftsbericht 19471949. Köln. Vollständiger Text auch in: Werner Sörgel, Konsensus und Interessen. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes, Stuttgart 1969, S. 321 ff. 35 Text: „In Berufszweigen, in denen die tarifrechtlichen Voraussetzungen fehlen, können aus sozialen Gründen durch paritätische Ausschüsse Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden. Das Nähere bestimmt das Gesetz.“

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aufgenommen – in demselben Jahr (1968), in welchem in der neuen Verfassung der DDR das Streikrecht gestrichen wurde. Ein ursprüngliches Essentiale des Sozialismus war die Forderung nach Sozialisierung der Produktionsmittel, eine Forderung, die z.B. im Erfurter Programm der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAPD)36 von 1891 aufgestellt worden war: „Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums“ der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.“ Der marxistischen Auffassung lag die Vorstellung zugrunde, der Kapitalismus als Gesellschaftsform sei freiheits- und friedensfeindlich sowie ungerecht. Die für die Arbeiterklasse erkämpften Freiheitsrechte seien für diese illusorisch, weil die Arbeiterklasse wegen ihrer Mittellosigkeit nicht in der Lage sei, ihre Freiheitsrechte wahrzunehmen. Die ökonomische und die daraus entspringende politische Macht des Großkapitals verhindere die tatsächliche Gleichheit der Menschen und lasse die formelle Garantie der Menschenrechte zu einer Verhöhnung der Ausgebeuteten werden.37 Der Begriff der Sozialisierung ist vieldeutig. Ursprünglich bedeutete „Sozialisierung“ die Vergesellschaftung, d.h. die Beseitigung und Ersetzung des Privateigentums an den (=allen) Produktionsmitteln, wobei Träger der vergesellschafteten Produktionsmittel nicht der nach Friedrich Engels zum Absterben verurteilte Staat werden sollte, sondern „die Gesellschaft“. Verstaatlichung (Nationalisierung) und Vergemeindlichung (Kommunalisierung) sind also keine Sozialisierung im echten Sinne. Verstaatlichung und Vergemeindlichung, d.h. die Überführung von Unternehmen in öffentliche Gemeinwirtschaft, ziehen die Konsequenz aus der Tatsache, dass in modernen Staaten mit Millionenbevölkerung eine Überführung auf “die Gesellschaft“ unvollziehbar ist. Zutreffend hat Oswald von Nell-Breuning dazu festgestellt: „Die Vergesellschaftlichung ist ein Bestandteil der eschatologischen Utopie des Marxismus, aber kein ___________ 36

Die SAPD war 1875 durch die Vereinigung des 1863 von F. Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) und der von K. Liebknecht und A. Bebel 1869 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) entstanden. Nach dem Sozialistengesetz wurde die Partei 1890 als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) wiedergegründet. 37 Auf dieser Linie lag später die von Lenin behauptete Unterscheidung zwischen nur „formalen Grundrechten“ in den bürgerlichen Staaten und „materiellen Grundrechten“ in den sozialistischen Staaten.

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Gegenstand praktischer Politik.“38 Da die Sozialisierung schon in der Weimarer Reichsverfassung als Möglichkeit vorgesehen war (Art. 156 Abs. 1 Satz 1)39, bot sie in den Beratungen des Parlamentarischen Rates keinen Anlass zu grundsätzlichen Kontroversen. Diskutiert wurde vor allem die mehr rechtstechnische Frage des Verhältnisses der Regelung der Sozialisierung zur Regelung der Enteignung. Die Annahme des Sozialisierungsartikels des Grundgesetzes (Art. 15) wurde der nichtsozialistischen Seite im Parlamentarischen Rat schließlich dadurch erleichtert, dass die für Enteignungen vorgesehene Entschädigungsregelung auch für Sozialisierungen entsprechend gelten sollte (Art. 15 Satz 2 GG). Zudem glaubten konservative Kräfte, dass jedenfalls die deutsche Schwerindustrie die schweren Kriegsschäden durch die Luftangriffe und Nachkriegsschäden durch die Demontagen nicht aus eigener Kraft würde überwinden können. Bemerkenswert sind die Erwartungen, die der Abgeordnete Menzel (SPD) anlässlich der Beschlussfassung im Plenum des Parlamentarischen Rates über den Sozialisierungsartikel äußerte: „Gerade hieraus erhoffen wir Sozialdemokraten in der Vorstellungswelt der Deutschen eine zunehmende Einsicht über die Notwendigkeit, die deutschen Schlüsselindustrien in Gemeineigentum überzuführen. Darin sehen wir einen politischen Fortschritt, der mit dazu beigetragen hat, manche Bedenken gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes auszuräumen. Seit Jahrzehnten fordert die Sozialdemokratie die Sozialisierung. Wir wissen, daß diese Forderung ein wesentliches, vielleicht das entscheidende Ziel unseres politischen Kampfes zur Befreiung des arbeitenden Menschen von den Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaftsordnung ist. Die Hoffnungen von Millionen auf eine Sozialisierung scheiterte nach 1918 an dem Widerstand der Deutschen und nach 1945 an dem der Alliierten. Nun können wir erneut hoffen. Die Sozialdemokratie wird es daher als ihre vornehmste Pflicht betrachten, alsbald nach dem Zusammentritt des ersten Bundestages durch entsprechende Gesetzesentwürfe an dieses große Werk der Sozialisierung heranzugehen, da es die Ära einen dauernden Friedens einleiten kann.“40 Art. 15 GG ist mit seiner Formulierung für mehrere nachkonstitutionelle Verfassungen, insbesondere für die der neuen Länder, Vorbild gewesen.41 Frühere Landesverfassungen regelten die Voraussetzungen einer Sozialisierung ___________ 38

Die Verfassung der DDR vom 9.4.1968 i.d.F. vom 7.10.1974 benannte in Art. 10 Abs. 1 die Formen des „sozialistischen Eigentums“, von dem in Art. 11 „das persönliche Eigentum der Bürger“ unterschieden wurde. 39 Text: „Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen.“ 40 Zit. In: JöR n.F. 1 (1951), S. 159 Fn. 34. 41 Vgl. Art. 41 Abs. 5 Verf. Brandenburg; Art. 32 Abs. 2 Verf. Sachsen; Art. 18 Abs. 4 Verf. Sachsen-Anhalt.

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teils konkreter, teils vollmundiger. Beispiele hierfür sind die bayerische Verfassung, derzufolge „für die Allgemeinheit lebenswichtige Produktionsmittel, Großbanken und Versicherungsunternehmen in Gemeineigentum übergeführt werden (können), wenn die Rücksicht auf die Gesamtheit es erfordert“ (Art. 160 Abs. 2 Satz 1), und die bremische Verfassung, die zwischen Unternehmen, die in Gemeineigentum zu überführen „sind“ und solchen, die in Gemeineigentum überführt werden „können“, unterscheidet (Art. 42). Hinsichtlich der letzteren nennt die bremische Verfassung unter anderen solche „Unternehmen, die aus eigensüchtigen Beweggründen volkswirtschaftlich notwendige Güter verschwenden oder die sich beharrlich den Grundsätzen der sozialen Wirtschaftsverfassung widersetzen“ (Art. 42 Abs. 2 lit. d). Die hessische Verfassung ordnet – in Widerspruch zu der späteren Regelung in Art 15 Satz 2 GG – an: „Bei festgestelltem Missbrauch wirtschaftlicher Macht ist in der Regel die Entschädigung zu versagen.“ (Art. 39 Abs. 4 Satz 2). Was die Praxis der Durchführung von Sozialisierungen betrifft, so bestand eine fundamentale Gegensätzlichkeit zwischen der Situation in Westdeutschland auf der einen Seite und der Sowjetischen Besatzungszone (der späteren DDR) auf der anderen Seite. Während es in Westdeutschland nur in wenigen Fällen zu Sozialisierungen gekommen ist42, wurden Sozialisierung und „Bodenreform“ in der SBZ und der DDR eisern durchgezogen: das einzige bedeutende Wirtschaftsunternehmen, das – wegen des Vorhandenseins von schweizer Aktienbesitz – in der DDR nicht sozialisiert worden ist, war die Mitropa AG.43 Die Ausgestaltung des Wirtschaftssystems der Bundesrepublik44 sollte nach den Vorstellungen der SPD einer gesamtdeutschen Verfassung vorbehalten bleiben. Carlo Schmid begründete dieses Aufschieben so: „Rechtssätze, in denen Inhalte unseres Gemeinschaftslebens verfasst werden sollen, können nicht von uns in Stellvertretung für das Ganze aufgestellt und geformt werden. Hier brauchen wir, um etwas Gültiges zu schaffen, das Wort unserer Brüder im Osten.“ Die Regelung des Arbeits- und Wirtschaftslebens blieb damit weitgehend den Verfassungen der Länder überlassen, nach Inkrafttreten des Grundge___________ 42

Zu erwähnen ist in diesem die Vergesellschaftung von Verkehrsbetrieben in Hessen; vgl. dazu F.W. Jerusalem, Das Bonner Grundgesetz und die Hessische Sozialisierung, insbesondere der Eisenbahnbetriebe, NJW 1950, S. 210 ff. – Zu Art. 15 GG allg.: H. Ridder, Enteignung und Sozialisierung, VVdStRL 10 (1952), S. 124 ff.; W. Weber, Zur Problematik von Enteignung und Sozialisierung nach neuem Verfassungsrecht, NJW 1950, S. 402 ff. – Aus dem neueren Schrifttum vgl. z.B. B.-O. Bryde, Art. 15, in: von Münch/Kunig, GGK, Bd. 1, 5. Aufl., 2000. Aus der Rspr. Vgl. BVerfGE 12, 354 ff. (VW-Privatisierung); 46, 268 ff. (bayer. BodenreformG.). 43 Ausführlich dazu: G. Bechtloff, Die Mitropa AG. Ein privatrechtliches Unternehmen des Schlaf- und Speisewagenverkehrs im Spannungsfeld wirtschaftlicher Interessen und Abhängigkeiten von 1916 – 1990, Frankfurt a.M./ Bern 2000. 44 Dazu BVerfGE 4, 7 ff. (Investitionshilfegesetz).

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setzes allerdings eingezäunt durch dessen Gesetzgebungszuständigkeitsregelungen. Da die Vorschriften der Landesverfassungen hinsichtlich der Materie Arbeit und Wirtschaft aber zumeist – wie z.B. die Art 24 ff. der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen zeigen – nur Programmsätze enthalten, sind Kompetenzkonflikte zwischen Bundesverfassungsrecht und Landesverfassungsrecht jedenfalls in dieser Materie bisher nicht an der Tagesordnung gewesen. Aus der Mottenkiste sozialistischen Gedankenguts stammt schließlich eine Aussage der bayerischen Verfassung, die heute wieder von Interesse ist; Art. 123 Abs. 3 Satz 1 lautet: „Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zweck, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.“ Diesen Zweck hat die Erbschaftssteuer offenkundig nicht erfüllt.45 Stets aktuell bleiben wird die Frage, was Sozialstaat in Gegenwart und Zukunft bedeuten kann und bedeuten muss.46

III. Liberales Gedankengut Verfassungshistorisch betrachtet ist ein großer Teil der Grundrechte im Grundgesetz liberalen Ursprungs. In Stichworten formuliert entstand der Liberalismus im 17. Jahrhundert in England im Kampf gegen den monarchischen Absolutismus. Zentrales Anliegen dieser Strömung war die Entfaltung des Menschen in Freiheit; John Locke brachte diese Forderung auf die Formel „life, liberty, property.“ Aufklärung, Neuhumanismus und Idealismus waren geistige Triebfedern.47 In Frankreich radikalisierte sich unter dem Einfluss von Voltaire und Rousseau der Liberalismus, insbesondere in einer antikirchlichen Stoßrichtung. Eine verfassungsrechtliche Rezeption liberalen Gedankenguts erfolgte mit der Verfassung der USA von 1776 und – hinsichtlich des Gedankens der Selbstverwaltung – mit den Stein-Hardenberg’schen Reformen, sodann in den Grundrechtsbestimmungen der Paulskirchenverfassung von 1848, verschiedenen Landesverfassungen, insbesondere der Preußens, in der Zeit des Konstitutionalismus, schließlich in der Weimarer Reichsverfassung und in denjenigen Verfassungen deutscher Länder, die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ___________ 45 In unterschiedlichen Bewertungsregeln für Kapitalvermögen, Grundbesitz und Betriebsvermögen unter dem Aspekt des Art. 3 Abs. 1 GG jetzt BVerfGE 117, 1 ff. = NJW 2007, S. 573 ff. 46 Vgl. dazu z.B. Fr. E. Schnapp, Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, JuS 1998, S. 873 ff.; ders., Die Sozialstaatsklausel – Beschwörungsformel oder Rechtsprinzip?, SGb 2000, S. 341 ff. 47 Überblick in: G. Schwarz/G. Habermann/Cl. Aebersold (Hrsg.), Die Idee der Freiheit. Eine Bibliothek von 111 Werken der liberalen Geistesgeschichte, Zürich 2007.

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beschlossen worden waren. Zu nennen sind hier insbesondere die Grundrechte der Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Kunstfreiheit, der Wissenschaftsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit, der Freizügigkeit, der Berufsfreiheit, der Gewährleistung des Eigentums und des Erbrechts, des Asylrechts und des Petitionsrechts sowie der prozessualen Grundrechte. Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Wahlrecht und Parteienfreiheit verkörpern liberales Gedankengut.48 Dementsprechend nennt das Grundgesetz die mit ihm geschaffene Staatsordnung eine freiheitliche Demokratie49, die – worauf das BVerfG hinweist – an die Tradition des liberalen bürgerlichen Rechtsstaats anknüpft.50 Die Entscheidung des Verfassungsgebers, durch die Einrichtung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit auch politische Vorgänge einer richterlichen Kontrolle zu unterwerfen (wobei nicht nur die klassischen Organstreitigkeiten politischen Inhalt zum Gegenstand haben, sondern dies auch bei Verfassungsbeschwerden der Fall sein kann)51, hat das BVerfG als einen „dem Grundgesetz eigentümlichen Zug“ bezeichnet „der es auch aus dem Kreis der liberal-demokratischen Verfassungen heraushebt“52. Eine Ablösung des liberalen Gedankenguts zur Trennung von Staat und Gesellschaft sieht das BVerfG auch in „der in einer Reihe von Staaten zu beobachtenden Entwicklung von der liberal-repräsentativen zur parteienstaatlichen Demokratie“; im konkret entschiedenen Fall hat das BVerfG jedoch das politische Prinzip der liberal-repräsentativen Demokratie für ausschlaggebend erklärt.53 Die Staatsform der Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat entspricht der liberalen Grundforderung nach Dezentralisation der Staatsorganisation. In der politischen Praxis finden sich jedoch schon im Liberalismus des 19. Jahrhunderts starke unitarische Tendenzen, die sich allerdings auf das liberale Urgestein der kommunalen Selbstverwaltung bezogen. Wenn von liberalem Gedankengut im deutschen Verfassungsrecht die Rede ist, so darf nicht übersehen werden, dass es auch insoweit – wie schon zwischen christlichem und sozialistischem Gedankengut – inhaltliche und entwicklungsgeschichtliche Überlappungen gibt. So entspringt z.B. die grundrechtliche Gewährleistung des elterlichen Erziehungsrechts sowohl christlichen wie liberalen ___________ 48 Zum Verhältnis von Liberalismus und Rechtsordnung allg.: Th. Mayer-Maly, Der liberale Gedanke und das Recht, in: Fs. f. Merkl, 1970, S. 247 ff. 49 Zum Inhalt der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ i.S. des Art. 21 Abs. 2 GG: BVerfGE 2, 1 ff. [12/13] – SRP-Verbotsurteil; dort auch: „In einem liberalen demokratischen Staate, wie er der deutschen Verfassungsentwicklung entspricht“ (S. 11). 50 BVerfGE 5, 85 ff. [197] – KPD-Verbotsurteil. 51 Vgl. dazu I. von Münch, Die Verfassungsbeschwerde als Instrument des Rechts und der Politik, liberal 23. Jg. (1980), S. 37 ff. 52 BVerfGE 5, 85 ff. [139]. 53 BVerwGE 4, 144 [151] – Abgeordnetenentschädigung.

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Forderungen. Der allgemeine Gleichheitssatz, dessen Verortung im sozialistischen Gedankengut nahe liegen könnte, ist schon von Gerhard Anschütz als „altliberales Gedankengut“ bezeichnet worden.54 Die meisten Grundrechte des Grundgesetzes, z.B. die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102), wird man heute nicht mehr dem einen oder alternativ dem anderen Gedankengut zuweisen können. Dies schließt nicht aus, dass bei der Auslegung einer Grundrechtsbestimmung die Berücksichtigung christlichen, sozialistischen oder liberalen Gedankengutes durchaus zu unterschiedlichen Wertungsergebnissen führen kann; die unterschiedliche Auslegung des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) im Zusammenhang mit der Frage der Strafbarkeit oder Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs55 mag hier als Beispiel erwähnt werden. Die Mélange im Verfassungsrecht resultiert auch aus der Tatsache, dass Verfassunggebung Kompromisse der in der verfassunggebenden Versammlung repräsentierten politischen Kräfte voraussetzt und erfordert. Davon unberührt bleiben die Gräben, die zwischen verschiedenen Weltanschauungen aus dogmatischer Sicht vorhanden sind. Aus christlicher Sicht hat Clemens Bauer im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft eine Unvereinbarkeit von christlicher Lehre und Liberalismus deklariert: „Unvereinbar mit der christlichen, nicht nur der katholischen Lehre bleibt das eigentliche Zentrum des Liberalismus als Weltanschauung, der Autonomieanspruch des Individuums, welcher dieses zum Souverän macht; denn ‚souverän‘ ist allein Gott.“ Eine solche über Gott stehende „Souveränität“ des Individuums bildet jedoch keinen Wesensbestandteil des modernen Liberalismus; auch mit seiner rationalistischen Komponente steht der Liberalismus deshalb in keinem zwingenden Gegensatz zum christlichen Glauben. Unverzichtbares liberales Gedankengut ist allerdings der Grundsatz der Neutralität im Verhältnis von Staat zu Kirche. Handfester als der Disput zwischen christlicher und liberaler Sicht ist der zwischen sozialistischer und liberaler Weltanschauung – eine Kontroverse, die sich auch heute noch am Begriff des „Wirtschaftsliberalismus“ entzündet. Skizzenhaft formuliert geht der Wirtschaftsliberalismus von der Idee einer Marktwirtschaft aus, die – entsprechend dem liberalen Gedanken der Freiheit des Individuums von geistigem, politischem und sozialem Zwang – sich frei von staatlichem Zwang selbst steuert und reguliert. Dementsprechend wird die Koordination zwischen Produktion und Bedarf vom Markt bewerkstelligt, auf dem der sich frei bildende Preis nicht nur das Angebot und die Nachfrage in Übereinstimmung bringt, sondern zugleich auch angibt, ob für den bestehenden Bedarf die Produktion erhöht oder gesenkt werden soll. Der Egoismus in Form ___________ 54 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl., Berlin 1933, Erl. III zu Art. 109, S. 526. 55 Dazu BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203 ff.

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des Profitstrebens führt nach dieser liberalen Vorstellung letztlich zum Gemeinwohl: gewinnträchtige Märkte saugen Konkurrenzunternehmen an, woraufhin die Konkurrenzunternehmen sich in den Preisen unterbieten und mit höheren Löhnen Arbeitnehmer von Konkurrenzbetrieben abwerben. Es bildet sich also eine „Konkurrenz der Unternehmer um Märkte und Arbeitnehmer.“ Noch positiver als der liberale Wirtschaftsoptimismus, demzufolge die Summe der privaten Egoismen das Gemeinwohl ergebe, war das Menschenbild des Wilhelm von Humboldt, demzufolge „der Mensch an sich mehr zu wohltätigen als zu eigennützigen Handlungen geneigt“ sei. Dem Wirtschaftsoptimismus widersprach der Wirtschaftspessimismus: Die Arbeitnehmer leben danach stets am Rande des Existenzminimums; steigen die Löhne, so vermehrt sich die Arbeiterbevölkerung, was wiederum die Löhne drückt (Ricardo). Tatsache ist, dass der Wirtschaftsliberalismus die sozialen Probleme der Arbeiter im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nicht gelöst hat, mit der Folge, dass die liberalen Parteien der Arbeiterschaft keine politische Heimat boten, wofür der Austritt von August Bebel aus der Liberalen Fortschrittspartei im Jahr 1867 ein sichtbares Zeichen setzte. Eine der zentralen Forderungen des Liberalismus ist die Vertragsfreiheit. Der liberale Gedanke der Vertragsfreiheit basiert auf der Idee des Marktes (Markt von Gedanken und Gütern). Auf dem Markt ist der Bürger Handlungssubjekt, nicht wie in einer Staatswirtschaft ohne Vertragsfreiheit, also in einem Zuteilungssystem, Handlungsobjekt. Die Erneuerung und Modifizierung des Wirtschaftsliberalismus und eine Abkehr vom „Manchesterliberalismus“ ist das Anliegen des Neoliberalismus56, einer Entwicklung, für die die so genannte Freiburger Schule (ORDO), insbesondere die Namen Eucken, Röpke, Rüstow und von Hayek stehen.57 Eine absolut unbeschränkte Vertragsfreiheit darf es danach dann nicht geben wenn Wirtschaftsmonopole (Trusts, Kartelle) den Preismechanismus aufheben und damit die freie Steuerung des Marktes beseitigen. Bei grundsätzlicher Anerkennung des Vorranges der individuellen Freiheit ist der Staat deshalb nicht nur berechtigt sondern verpflichtet, eine Wirtschaftsordnung (Wettbewerbsordnung) zu gewährleisten, die die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft und damit die Freiheit der Wettbewerber, dies auch zum Nutzen der Verbraucher, aufrechterhält.

___________ 56 Zur neueren Diskussion über den Begriff: G. Braunberger, Was Neoliberalismus wirklich ist, FAZ Nr. 133 v. 12. 6. 2007, S. 15. 57 Liberale Sicht zu den Irrtümern des Sozialismus: Fr. A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (deutsche Übersetzung von „The Road to serfdom“), München 2007.

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Diesseits und jenseits von einzelnen Regelungen oder Nichtregelungen der Wirtschaftsordnung bleibt als essentielles Postulat des Liberalismus58 das, was Theodor Heuss beschrieben hat mit „Vermenschlichung des Staates anstatt Verstaatlichung des Menschen“. Konkret rechtlich betrachtet bedeutet dies den Vorrang der Privatrechtsgesellschaft59 vor einer verstaatlichten Gesellschaft, wobei letztere dadurch gekennzeichnet ist, dass sie in die Privatautonomie z.B. durch gesetzliche Anordnung von Kontrahierungszwängen60 oder durch Zwangsmitgliedschaften eingreift.

IV. Herausforderungen Die Bewahrung sowohl des christlichen als auch des sozialistischen und des liberalen Gedankengutes im deutschen Verfassungsrecht steht vor nicht wenigen Herausforderungen. Das christliche Gedankengut sieht sich vor allem mit den Problemen von Präsenz von Millionen von Muslimen in der Bundesrepublik Deutschland konfrontiert, einer Präsenz, die im Geiste der Toleranz gestaltet werden sollte, ohne Grundwerte des GG, wie z.B. die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Meinungs- und Kunstfreiheit, aufzugeben. Sozialistisches und liberales Gedankengut müssen die Idee der sozialen Gerechtigkeit und die Idee der Leistungsgerechtigkeit miteinander verbinden. Ob diese Herausforderungen bewältigt werden können, wird die Zukunft zeigen.

___________ 58 Zum Ganzen vgl. die Beiträge von Ralf Dahrendorf, Robert Leicht u.a. in: Was heißt heute liberal? Ein ZEIT-Symposium zum 85. Geburtstag von Marion Gräfin Dönhoff, ZEIT-Punkte Nr. 1/1995. 59 Vgl. dazu K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft. Zur Verteidigung der „Privatrechtsgesellschaft“, Tübingen 2006; aus soziologischer Sicht s. W. Sofsky, Verteidigung des Privaten. Eine Streitschrift, München 2007. 60 Zu dem am 14. 8. 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vgl. z.B. K. Adomeit/ J. Mohr, Kommentar zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, Stuttgart 2007; Chr. Rolfs, Allgemeine Gleichbehandlung im Mietrecht, NJW 2007, S. 1489 ff.; Chr. Armbrüster, Kontrahierungszwang im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz?, NJW 2007, S. 1494 ff; T. Repgen, Antidiskriminierung – die Totenglocke des Privatrechts läutet, in: J. Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, Berlin 2007, S. 11 ff; G. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, München 2007. Zum Schutz des angemessenen Vertrags und dem Schutz des Schwächeren s. G. Thünsing, Schutz durch Vertragsfreiheiten, FAZ Nr.192 v. 20.08.2007, S.8.

Das Verbot bundesgesetzlicher Aufgabenübertragung an Gemeinden Von Bodo Pieroth, Münster

Friedrich E. Schnapp hat in seiner Habilitationsschrift1 die Bedeutung des Organisationsrechts für die gesamte Rechtsordnung unter anderem unter Rückgriff auf die Unterscheidung von H.L.A. Hart zwischen primären oder Verhaltensnormen und sekundären oder Rechtsverwirklichungsnormen2 näher herausgearbeitet und später wie folgt zusammengefasst: „Damit die sog. materiellrechtlichen (Verhaltens-)Regeln gelten, müssen sie unter Beachtung der einschlägigen Vorschriften über Zuständigkeit, Form und Verfahren zustande gekommen sein. Insofern hält das Organisationsrecht u.a. Erkenntnisregeln bereit, die sich darüber verhalten, unter welchen Voraussetzungen eine primäre Regel rechtliche Gültigkeit besitzt.“3 Zugleich wird so die klassische, dem deutschen Rechtskreis geläufige Aufgliederung in materielles Recht (Anordnungen für das Verhalten von Rechtssubjekten) und formelles Recht (Organisation und Verfahren bei der Rechtsfindung und -durchsetzung) bekräftigt4. Ich versuche im Folgenden, diese Unterscheidung zur Lösung des Interpretationsproblems Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG fruchtbar zu machen.

I. Problemstellung Art. 84 GG ist im Rahmen der Föderalismusreform5 umfassend geändert und u.a. um Abs. 1 S. 7 ergänzt worden: „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.“ Derselbe Wort___________

Andreas Meßmann danke ich herzlich für seine hervorragende Unterstützung dieses Beitrags, der aus einem Teil eines gemeinsam den Bundesverbänden der Behindertenhilfe erstatteten Rechtsgutachtens hervorgegangen ist. 1 Friedrich E. Schnapp, Amtsrecht und Beamtenrecht. Eine Untersuchung über normative Strukturen des staatlichen Innenbereichs, 1977, S. 107ff., 285f. 2 H.L.A. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 131ff. 3 Friedrich E. Schnapp, AöR, 105. Band (1980), S. 243, 246. 4 Schnapp (o. Fn. 3), S. 249. 5 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 (BGBl I, 2034).

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laut ist als Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG eingefügt worden. Bereits kurz nach Inkrafttreten dieser Änderung am 1. September 2006 hat sich die Norm in der Verfassungspraxis als „Problemfall“6 herausgestellt. Das sei an zwei Streitigkeiten gezeigt. Das ursprüngliche Verbraucherinformationsgesetz (VIG) wurde vom Bundestag am 1. September 2006 beschlossen und fand die Zustimmung des Bundesrates am 22. September 20067. Es gewährte in § 1 Abs. 1 S. 1 erstmals jedermann einen Anspruch auf freien Zugang zu allen Daten über Informationen, die bei einer Behörde des Bundes, eines Landes, einer Gemeinde u.ä. vorhanden sind. Auch die Gemeinden waren somit Adressat dieses Informationsanspruchs. Bundespräsident Horst Köhler sah deshalb im VIG die (erstmalige) Übertragung einer Aufgabe (auch) an die Gemeinden und Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG verletzt, so dass er die Ausfertigung des VIG unter Berufung auf sein Prüfungsrecht aus Art. 82 Abs. 1 GG verweigerte.8 Dieser Einschätzung des Bundespräsidenten widersprachen Stimmen aus Rechtswissenschaft und Politik. Es wurde z.B. vorgetragen, mit Aufgabe i.S.v. Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG sei nur die Ausführung von Bundesgesetzen gemeint, das VIG sei jedoch nicht auszuführen, sondern zu befolgen.9 Daneben wurde argumentiert, durch das VIG werde den Gemeinden keine neue Aufgabe übertragen. Die Gemeinden hätten ja auch bisher schon die Aufgabe der Lebensmittelüberwachung wahrnehmen und betroffenen Bürgern Akteneinsicht gewähren müssen. Das VIG bestimme nun ergänzend nur, dass jeder Verbraucher automatisch als „betroffen“ gelte.10 Die andere Streitigkeit entfachte der durch Gesetz vom 2. Dezember 200611 eingeführte § 133b SGB XII, durch den einer bestimmten Personengruppe zusätzlich zu den Leistungen nach § 35 SGB XII eine einmalige Weihnachtsbeihilfe gewährt wird. Die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände sehen darin die Schaffung einer neuen Aufgabe durch den Bund. Diese Aufgabe dürfe der Bund wegen der Neufassung von Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht mehr selbst an die Gemeinden übertragen, sondern müsse die Aufgabenübertragung den Landesgesetzgebern überlassen.12 Andere sehen in § 133b SGB XII jedoch keine ___________ 6

Henneke, DVBl 2006, 867. Vgl. BR-Drs. 584/06. 8 Vgl. die Presseerklärung des Bundespräsidialamtes vom 8.12.2006, abrufbar unter: http://www.bundespraesident.de/dokumente/2.634505/Pressemitteilung/doku-ment.htm. 9 Hans Meyer, SZ Nr. 294 vom 21.12.2006, S. 2. 10 Prantl, SZ Nr. 285 vom 11.12.2006, S. 6; vgl. zum Streit um das VIG auch Schiedermair, DÖV 2007, 726 ff. und Försterling, Der Landkreis 2007, 56, 57 ff. ; ders., ZG 2007, 36, 40 ff. 11 BGBl. I, 2670. 12 Siehe dazu eine Pressemitteilung des Deutschen Landkreistages vom 28. November 2006, abrufbar unter: http://www.kreise.de/landkreistag/dlt-aktuell/pressetexte/pressetexte-2006/pt-06-11-28b.pdf; so auch die Rundschreiben von Städtetag (R 11132/ 7

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neue Aufgabe, sondern lediglich die Ausgestaltung und inhaltliche Erweiterung einer bereits bestehenden Aufgabe, die die Gemeinden schon aufgrund des gem. Art. 125a Abs. 1 GG fortgeltenden § 3 SGB XII auszuführen hätten. Eine landesrechtliche Aufgabenübertragung sei vor diesem Hintergrund unnötig.13 In meiner Ende 2006 unter großem Zeitdruck entstandenen Kommentierung dieser Vorschrift14 habe ich geschrieben: „Aufgaben sind materiell-rechtliche, kostenverursachende Pflichten, nicht aber zur Ausführung der Bundesgesetze erforderliche Verhaltensregelungen wie Informationspflichten.“ Diese Aussage halte ich nicht länger aufrecht. Zwar ist die Entstehungsgeschichte wenig ergiebig (unten II.) und der Meinungsstand in der Literatur diffus (unten III.), aber Wortlaut und Systematik erlauben unter Berücksichtigung des eingangs genannten Gesichtspunkts eine Auslegung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG, die auch die genannten Streitfälle überzeugend löst (unten IV.).

II. Entstehungsgeschichte Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG ist ein Ergebnis der Arbeit der von 2003 bis Ende 2004 tagenden Gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Föderalismuskommission). Deren Aufgabe war unter anderem die Prüfung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern, wobei auch die Situation der Kommunen beleuchtet werden sollte15. Die parlamentarischen Beratungen der Verfassungsänderung ___________ 2006) und Landkreistag (726/2006) Baden-Württemberg vom 09.11.2006, die die Weihnachtsbeihilfe deshalb als neue Aufgabe ansehen, weil hier aus einer Freiwilligkeitsleistung eine Leistung mit Rechtsanspruch werde. 13 Ministerium für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg, LT-Drs. 14/639 S. 3. Das erwägt auf Thüringen bezogen auch Horsch, ThürVBl 2007, 97, 100, der die Frage aber letztlich offen lässt: Das Thüringer Ausführungsgesetz zum SGB XII enthalte nämlich eine dynamische Verweisung auf das SGB XII. Selbst wenn es sich bei § 133b SGB XII um eine neue Aufgabe handele, sei sie daher bereits gem. §§ 1, 3 ThürAGSGB XII den Gemeinden übertragen worden. Dabei übersieht Horsch jedoch, dass eine Entscheidung des Auslegungsstreits schon deswegen nicht dahinstehen kann, weil die Gemeinden über die landesrechtlichen Konnexitätsregeln nur dann die Kosten der Weihnachtsbeihilfe von ihrem Land ersetzt verlangen können, wenn die landesrechtliche Übertragung notwendig und die Aufgabe nicht schon wegen Art. 125a Abs. 1 GG, § 3 SGB XII auf die Gemeinden übertragen war. Im letzten Fall hätte das Land Aufgabe und Kosten nämlich nicht verursacht. 14 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz. Kommentar, 9. Aufl. 2007, Art. 84 Rn. 7. 15 BT-Drs. 15/1721; BR-Drs. 750/03; Zur Sache 1/2005, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, S. 17 f.

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im Jahr 2006 haben an der in der Föderalismuskommission gefundenen Fassung des Art. 84 GG nichts Wesentliches geändert16. Hintergrund für den Auftrag an die Föderalismuskommission zur Beleuchtung der Situation der Kommunen war folgende für die Gemeinden unbefriedigende Verfassungsrechtslage. Die Rechtsprechung und das überwiegende Schrifttum verstanden unter Behörde i.S.v. Art. 84 Abs. 1 GG a.F. alle amtlichen Stellen17, unabhängig davon, ob es sich dabei um Behörden der unmittelbaren oder mittelbaren Landesverwaltung oder sonstige selbstständige Rechtsträger handelte18. Demzufolge sah man auch die Gemeinden und Gemeindeverbände als Behörden i.S.v. Art. 84 Abs. 1 GG a.F. an und hielt die Zuweisung von Aufgaben an die Gemeinden durch den Bund für zulässig.19 Das BVerfG und ihm – mit unterschiedlicher Begründung20 – folgend das Schrifttum verlangten für eine Aufgabenzuweisung aber als zusätzliche und – vermeintlich21 – einschränkende Voraussetzung, dass es sich um eine punktuelle Annexregelung zu einer zur Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers gehörenden materiellen Regelung handelte und diese für den wirksamen Vollzug der materiellen Bestimmungen des Gesetzes notwendig war22. In der Verfassungspraxis hat der Bundesgesetzgeber die Möglichkeit der unmittelbaren Aufgabenübertragung auf die Gemeinden mehrfach ausgenutzt23. Die finanzverfassungsrechtlichen Folgen dieser Sichtweise ergaben sich aus dem Konnexitätsprinzip des Art. 104a Abs. 1 GG, wonach diejenige Körperschaft, die die Verwaltungskompetenz für eine Aufgabe besitzt, auch die Ausgaben aus der Aufgabenerfüllung zu tragen hat. Das sind regelmäßig die Länder und mittelbar nach Maßgabe des Landesverfassungsrecht die Gemeinden als ihre Glieder. Da der Bundesgesetzgeber gestützt auf Art. 84 Abs. 1 GG a.F. und mit Zustimmung des Bundesrates insbesondere auch ausgabenintensive Aufgaben wie die Sozialhilfe und die Grundsicherung für Arbeitsuchende auf ___________ 16 Rauber, in: Holtschneider / Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2006, S. 47, fasst die wenigen Änderungen im Gesetzgebungsverfahren zusammen. 17 BVerfGE 10, 20, 48; Pieroth (o. Fn. 14), Art. 84 Rn 3. 18 BVerfGE 39, 96, 109; Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 84 Rn 7. 19 BVerfGE 22, 180, 209 f.; 77, 288, 299; zum Schrifttum vgl. den umfassenden Nachweis bei Mückl, Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, 1998, S. 116 Fn. 126. 20 Vgl. etwa Pieroth (o. Fn. 14), Art. 84 Rn 2a, der auf das Übermaßverbot abstellt, einerseits und Dittmann (o. Fn. 18), Art. 84 Rn 13, der auf die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung abstellt, andererseits. 21 Remmert, VerwArch 94 (2003), 459, 476 ff. 22 BVerfGE 22, 180, 209 f.; 77, 288, 299; Pieroth (o. Fn. 14), Art. 84 Rn 2a; Dittmann (o. Fn. 18), Art. 84 Rn 13. 23 Vgl. etwa §§ 69 KJHG, 4 GSiG, 3 SGB XII, 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II.

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die Gemeinden erstmals übertragen oder – ohne dass die Zustimmung des Bundesrats erforderlich war – bereits übertragene Aufgaben ausgeweitet hat, führte das zu einer erheblichen Belastung der kommunalen Haushalte24. Gegenüber dem Bund konnten die Gemeinden solche Gesetze weder verhindern noch durch Kostenerstattungsansprüche kompensieren25. Gegenüber dem jeweiligen Land gewähren die Konnexitätsregelungen der Landesverfassungen den Kommunen zwar einen finanziellen Ausgleich bei Belastungen durch landesrechtliche Aufgabenzuweisung. Diese Regelungen greifen aber dann nicht ein, wenn der Bund den Gemeinden Aufgaben überträgt, ohne dass das betroffene Land selbst darauf inhaltlichen Einfluss nimmt26. Um die geschilderte, für die Gemeinden unbefriedigende Verfassungsrechtslage zu ändern, wären mehrere radikale Maßnahmen in Betracht gekommen. So hätte man den Art. 104a Abs. 1 GG dahingehend ändern können, dass die Ausgabenverantwortung der Gesetzgebungskompetenz statt der Verwaltungskompetenz folgt, dass mit anderen Worten vom verwaltungskausalen Konnexitätsprinzip zum gesetzeskausalen Konnexitätsprinzip gewechselt würde. Oder man hätte eine den landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsprinzipien entsprechende Norm zwischen Bund und Ländern ins Grundgesetz aufnehmen können, wodurch die Mediatisierung der Gemeinden durch die Länder beseitigt und gewissermaßen eine dritte bundesstaatliche Ebene eingezogen worden wäre. Beide Optionen wurden aber schon früh mangels Mehrheitsfähigkeit verworfen27. Die Belastung der Gemeinden durch bundesgesetzliche Aufgabenübertragung wäre auch dann entfallen, wenn dem Bund insgesamt die Möglichkeit genommen worden wäre, die Behördeneinrichtung bei der Landeseigenverwaltung zu regeln. Aber auch das war vor allem wegen des Widerstandes der Bundesseite nicht durchsetzbar28. Endgültig schied diese Variante erst nach den Verhandlungen zwischen den Vorsitzenden der Föderalismuskommission im Dezember 2004 zu Gunsten des jetzigen Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG aus29. Damit hat sich ein Vorschlag durchgesetzt, der vom Abgeordneten Stünker (SPD) ___________ 24

Vgl. zu den Folgen der Aufgabenübertragungen für die kommunalen Haushalte nur Schoch, in: Ehlers/Krebs (Hrsg.), Grundfragen des Verwaltungsrechts und des Kommunalrechts, 2000, S. 98 ff. m.w.N. 25 Vgl. Hartmann/Meßmann, JuS 2006, 246ff. 26 Ziekow, DÖV 2006, 489, 497. 27 Vgl. zum ersteren Protokollvermerk S. 18 zur dritten Sitzung der Arbeitsgemeinschaft 2; zum letzteren Protokollvermerk S. 1 zur ersten Sitzung der Arbeitsgemeinschaft 1 und stenographischer Bericht S. 9 zur ersten Sitzung der Kommission. 28 Vgl. Protokollvermerk S. 12 zur ersten Sitzung der Arbeitsgemeinschaft 1; Protokollvermerk S. 7f. zur vierten Sitzung der Arbeitsgemeinschaft 1. 29 Vgl. Stenographischer Bericht S. 203 zur neunten Sitzung der Kommission; Arbeitsunterlage 104 – neu –, S. 2; Stenographischer Bericht S. 279 zur 11. Sitzung der Kommission.

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schon zu Beginn der Beratungen in der Projektgruppe I der Arbeitsgruppe 1 eingebracht worden war30. Dass Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG weniger weit geht als von den Gemeinden gewünscht, ergibt sich aus der Stellungnahme des Deutschen Landkreistags vom 15. Dezember 200431. Einerseits wird das Verbot der bundesgesetzlichen Aufgabenübertragung an die Gemeinden nachdrücklich begrüßt. Andererseits heißt es: „Das Ziel der Neuregelung besteht darin, dass es für die Zukunft ausgeschlossen sein soll, dass Bundesgesetze, die neue Aufgaben begründen oder bereits bestehende Aufgaben erweitern, direkt vom Bund auf die Kommunen übertragen (gemeint ist: an die Kommunen adressiert) werden dürfen. Dieses Ziel wird mit der vorgeschlagenen Neuregelung allerdings dann nicht erreicht, wenn sich eine bundesgesetzliche Regelung künftig (…) auf materielle Regelungen beschränkt, eine bundesrechtliche Zuständigkeitsbestimmung kommunaler Träger aber bereits besteht. Gerade diese Konstellation ist vielfach gegeben, wie etwa die kommunalen Zuständigkeitsbestimmungen in §§ 66 KJHG, 96 BSHG, 4 GSiG, 6 SGB II und 3 SGB XII zeigen. (…) Ohne eine ergänzende Übergangsbestimmung hinsichtlich der Fortgeltung der bisherigen bundesgesetzlichen Zuständigkeitsbestimmungen als Landesrecht könnten trotz derartiger Änderungen (…) die Gemeinden und Gemeindeverbände bei bereits bestehenden bundesgesetzlichen Zuständigkeitsbestimmungen weiterhin unmittelbar in Pflicht genommen werden, ohne dass es – wie einhellig beabsichtigt – überhaupt eines Übertragungsaktes der Landesgesetzgeber bedürfte“. Da es trotz dieses Beklagens einer „Schutzlücke“ zu keiner Änderung der Norm gekommen ist, spricht die Entstehungsgeschichte dafür, dass Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG dem Bundesgesetzgeber nicht verbietet, bereits übertragene Aufgaben materiell-rechtlich zu modifizieren.

III. Auffassungen in der Literatur 1. Unterscheidung von Ob und Wie gemeindlichen Tätigwerdens Burgi32 anerkennt, dass das Tatbestandsmerkmal „Aufgabenübertragung“ in Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG viele Interpretationsmöglichkeiten eröffnet, und bedauert, dass die erforderliche politische Lösung der Auslegungsschwierigkeiten so kurz nach Inkrafttreten der Föderalismusreform nicht zu erwarten sei. Er versteht Art. 84 Abs. 1 GG als Norm, die dem Bund grundsätzlich die Kompetenz ___________ 30

Projektgruppenarbeitsunterlage 1/0002, S. 2. Arbeitsunterlage 110, S. 1f. 32 Burgi, DVBl 2007, 70, 76 ff. 31

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einräumt, einem Verwaltungsträger per Gesetz bestimmte Aufgaben i.S.v. Tätigkeitsbereichen zur Wahrnehmung zuzuordnen. S. 7 schließe mithin für einen Ausnahmefall die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Regelungen über die Zuständigkeit der Kommunen als Verwaltungsträger für eine bestimmte Aufgabe aus. Davon sieht Burgi jede Regelung erfasst, die die Zuständigkeit der Gemeinden inhaltlich verändert, gleichgültig, ob die betreffende Aufgabe gleichsam von Null aus übertragen wird (Neubegründung von Aufgaben) oder ob bereits eine Teil-Zuständigkeit vorhanden gewesen ist (Erweiterung von Aufgaben), ohne dass im letzteren Fall die Anwendung von Art. 125a Abs. 1 GG in Erwägung gezogen würde. Burgi will letztlich danach unterscheiden, ob ein bestimmter Tätigkeitsbereich zugewiesen und / oder erweitert wird (dann Anwendbarkeit des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG) oder ob das Wie des Tätigwerdens in einem als solchen unverändert bleibenden Tätigkeitsbereich reglementiert wird. Nur sofern eine bundesgesetzliche Regelung nicht die Zuständigkeit, sondern bloß die Handlungsform der Aufgabenerledigung, die hierbei zum Einsatz kommenden Instrumente, die anwendbaren Verfahrensgrundsätze oder die materiell-rechtlichen Standards erfasse, stehe ihr Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht entgegen.

2. Striktes und umfassendes Verbot Schoch33 versteht Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG als striktes und umfassendes Verbot der bundesgesetzlichen Aufgabenübertragung an die Kommunen. Auch wegen des weiten „Aufgaben“-Begriffs – Aufgaben seien alle sachlichen Bereiche staatlichen Tätigwerdens, auf dem Gebiet der Exekutive sowohl die gesetzesakzessorischen und gesetzesfreien, hoheitlichen und nichthoheitlichen administrativen Tätigkeiten – verwirkliche Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG einen umfassenden Schutz der Gemeinden gegenüber einer (erstmaligen) bundesgesetzlichen Aufgabenübertragung. Auf die Erweiterung bereits vor der Föderalismusreform übertragener Aufgaben wendet Schoch – anders als Burgi – Art. 125a Abs. 1 GG an. Unter Rückgriff auf die Ratio der Art. 84 Abs. 1 S. 7, 125a Abs. 1 GG und die zu Art. 125a Abs. 2 GG entwickelten Schutzstandards spricht Schoch dem Bund eine Änderungskompetenz bezüglich der bereits übertragenen Aufgaben ab. Allenfalls dann, wenn Sachregelungsbefugnis (Bund) und Organisationskompetenz zur Regelung der Aufgabenträgerschaft (Länder) auseinander fallen, hält Schoch es in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 125a ___________ 33

Schoch, DVBl 2007, 261 ff.

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Abs. 2 GG34 für möglich, dass der Bund einzelne, bereits bestehende bundesrechtliche Vorschriften modifizieren könne.35 Für juristisch konsequent hält er hingegen eine Verfassungsinterpretation, die es dem Bund untersagt, materielle Rechtsänderungen zur Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben an die Kommunen zu adressieren. Der materiellen Rechtsänderung durch den Bund müsste vielmehr eine landesgesetzliche Bestimmung der Aufgabenträgerschaft folgen.

3. Direkte Zuweisung und indirekte Folgen bundesgesetzlicher Regelungen Germann36 definiert in einem ersten Schritt den Begriff Aufgabenübertragung als jede Begründung oder Erweiterung von Verpflichtungen zum behördlichen Handeln im Zusammenhang mit der Ausführung von Bundesgesetzen37. Aus dem genetischen und teleologischen Zusammenhang des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG mit dem landesrechtlichen Konnexitätsprinzip folgert er, das jede bundesgesetzliche Regelung eine „Übertragung“ von Aufgaben darstellt, die auch als landesgesetzliche Regelung die Pflicht zur Regelung der Kostenfolgen auslöste. Dafür sei eine „Aufgabendifferenz“ zwischen dem Bestand an Handlungspflichten vor und nach der betreffenden Regelung entscheidend. In einem zweiten Schritt fragt Germann, wann eine Aufgabe i.S.v. Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG gerade auf die Gemeinden übertragen werde.38 Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass dem Bund die direkte Adressierung von Gemeinden durch eine bundesgesetzliche Aufgabennorm – sei es in Form einer spezifischen Adressierung der Kommunen oder einer unspezifischen Adressierung von Behörden unter Einschluss der Kommunen – verboten sei. Nicht von Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG erfasst seien hingegen indirekte Folgen bundesgesetzlicher Regelungen auf die Aufgabenlast von Kommunen, etwa wenn materiellrechtliche Regelungen die Kosten der Aufgabenerledigung erhöhten oder eine bundesgesetzliche Aufgabennorm die Kommunen treffe, weil sie an funktional umschriebene Behörden adressiert und deren Aufgaben wiederum durch Landesrecht schon vorher den Kommunen zugeordnet seien. Zwar werde dadurch eine Aufgabenmehrung zulasten der Kommunen durch eine bundesgesetzliche Regelung ausgelöst. Dass von ihr aber gerade die Kommunen betroffen würden, liege außerhalb der Einflusssphäre des Bundesgesetzgebers.39 ___________ 34

Vgl. BVerfGE 111, 10 ff. So auch Trute, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform – Einführung, 2007, Rn 176. 36 Germann, in: Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz – Einführung und Kommentierung, 2007, Art. 84, 85 Rn 113 ff. 37 Germann (o. Fn. 36), Art. 84, 85 Rn 113, 114. 38 Germann (o. Fn. 36), Art. 84, 85 Rn 120 ff. 39 Germann (o. Fn. 36), Art. 84, 85 Rn 121 ff. 35

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IV. Methodengerechte Auslegung 1. Unterscheidung von Aufgabe und Aufgabenübertragung Der Schlüssel zur methodengerechten Auslegung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG liegt in der schon vom Wortlaut vorgegebenen Unterscheidung zwischen Aufgaben und ihrer Übertragung. Damit wird die eingangs vorgestellte fundamentale Unterscheidung zwischen primären und sekundären Normen, Verhaltensnormen und Rechtsverwirklichungsnormen sowie materiellem und formellem Recht aufgegriffen. Konkreter bezeichnet Aufgabe im verfassungsrechtlichen Zusammenhang den sachlichen Bereich staatlichen Tätigwerdens40. Übertragung von Aufgaben bedeutet dasselbe wie Zuordnung oder Zuweisung von Aufgaben und damit nichts anderes als Zuständigkeit, die bekanntlich die ausschließliche Zuordnung eines Gegenstands im Sinne einer Aufgabe zu einem Subjekt meint41. Bestätigt wird dies durch die Entstehungsgeschichte; denn die Einführung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG ist vor allem auch eine Reaktion auf die Rechtsprechung des BVerfG, die unter „Einrichtung von Behörden“ i.S.v. Art. 84 Abs. 1 GG a.F. auch die „Zuweisung von Aufgaben an die Gemeinden“42 verstanden hat43. Wenn dem Bund durch Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG die Übertragung von Aufgaben an die Gemeinden verboten ist, darf er also keine Normen erlassen, die die Zuständigkeit der Gemeinden begründen. Damit ist aber noch nichts über das materielle Recht, über die inhaltliche Bestimmung der Aufgabe gesagt. Hierzu kann sich Art. 84 GG, der im Abschnitt VIII über die Ausführung der Bundesgesetze steht, auch gar nicht verhalten, weil die inhaltliche Bestimmung von Aufgaben Sache der Gesetzgebung ist, die im Abschnitt VII über die Gesetzgebung des Bundes geregelt ist. Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG betrifft somit nur bundesgesetzliche Regelungen der Zuständigkeit der Gemeinden. ___________ 40 Pieroth (o. Fn. 14), Art. 30 Rn 3; so auch Burgi, DVBl 2007, 70, 76 f. und Schoch, DVBl 2007, 261, 263. 41 Vgl. Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht Band 3, 5. Aufl. 2004, § 84 Rn 4 f., die davon sprechen, dass der Prozess der Aufgabenzuweisung die Zuständigkeit der einzelnen Subjekte der Verwaltungsorganisation begründet, und unter Zuständigkeit die i.d.R. ausschließliche Zuordnung eines Gegenstands im Sinne einer Aufgabe zu einem Subjekt verstehen. 42 BVerfGE 77, 288, 299. 43 BVerfG, Urteil v. 20.12.2007 – 2 BvR 2433/04 – verhält sich nur zu Art. 84 Abs. 1 GG a.F. und gibt für die Auslegung von Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nichts her. Zwar bezeichnet das Gericht Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG in einem Nebensatz als „absolutes Verbot der Aufgabenzuweisung auf die kommunale Ebene“, verweigert aber im Übrigen ausdrücklich jede Aussage zum Gehalt von Art. 84 Abs. 1 S. 7, weil dazu im vorliegenden Verfahren „kein Anlass besteht“ (Rn. 135 und 136).

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Weil die Vorschrift das materielle Recht und insbesondere die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes unberührt lässt, darf das materielle Recht auch nach Inkrafttreten der Föderalismusreform auch dort geändert werden, wo in der Vergangenheit begründete Zuständigkeiten der Gemeinden bestehen. Damit dürfen auch bereits den Gemeinden übertragene Aufgaben erweitert werden. Das wird bestätigt durch die Übergangsnorm des Art. 125a Abs. 1 GG, wonach „Recht, das … wegen der Einfügung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 … nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte,“ als Bundesrecht fortgilt, aber durch Landesrecht ersetzt werden kann. Es ist evident, dass diese Ersetzungsbefugnis lediglich Zuständigkeitsnormen betrifft, weil durch diese Übergangsvorschrift kein Einbruch in die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes für das materielle Recht angeordnet werden kann.

2. Kritik abweichender Auffassungen Die dargelegten grammatischen und systematischen Argumente werden in der bisherigen Diskussion nicht hinreichend beachtet. Schoch meint, es würde der „Ratio“ der Art. 84 Abs. 1 S. 7, 125a Abs. 1 GG nicht entsprechen, wenn der Bund den Gemeinden bereits übertragene Aufgaben erweitern dürfe. Dabei wird mehr auf die Wünsche der Gemeinden als auf die mehrheitlich getroffenen Entscheidungen der Föderalismuskommission und die auf Grund dessen verabschiedete Verfassungsnorm abgestellt. In Projektgruppe, Arbeitsgruppe und Kommission ging es maßgeblich um das Bund-Länder-Verhältnis und waren die kommunalen Fragen nur Annex der Beratungen, in denen im Vordergrund stand, die Zustimmungspflicht der Länder vom Eingriff in ihre Organisationshoheit abzukoppeln44. Das zeigt sich besonders bei der Stellungnahme des Deutschen Landkreistags vom 15. Dezember 2004, in der Übergangsregelungen zur Beseitigung der aus weiter geltenden Aufgabenübertragungen an die Gemeinden resultierenden Problematik vorgeschlagen wurden, die aber gerade nicht Verfassungsrecht geworden sind. Es überzeugt nicht, dass Schoch – in Anlehnung an die Gesetzesbegründung45 – die zu Art. 125a Abs. 2 GG entwickelten „Schutzstandards“ auf Art. 84 Abs. 1 S. 7, 125a Abs. 1 GG anwenden will. Mit seiner Rechtsprechung zu Art. 125a Abs. 2 GG hat das BVerfG den Bundesgesetzgeber zwar auf die Modifikation einzelner Vorschriften des fortgeltenden Bundesrechts beschränkt und keine grundlegende Neukonzeption der Materie erlaubt. Damit wollte er aber erreichen, dass eine sachlich gebotene und politisch gewollte Neuregelung ___________ 44 Vgl. auch Burgi, DVBl 2007, 70, 75 und 76; Rauber (o. Fn. 16), S. 37; 42 f.; Försterling, ZG 2007, 36, 44. 45 BR-Drs. 178/06, S. 49.

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nicht nur deshalb unterbleibt, weil der Bund sie nicht vornehmen darf und gleichzeitig nicht bereit ist, die Materie den Ländern durch Freigabe zur Regelung zu überlassen.46 Dieser Schutzzweck ist für Art. 125a Abs. 2 GG durch die Neufassung des Art. 72 GG weitgehend obsolet geworden, und bei Art. 125a Abs. 1 GG liegt eine vergleichbare Situation nicht vor: Die Länder können das gem. Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG fortgeltende Bundesrecht gem. Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG jederzeit durch Landesrecht ersetzen, so dass eine „Versteinerung“ hier nicht droht. Schutzstandards für die Gemeinden ergeben sich vielmehr aus dem Abweichungsrecht der Länder gem. Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG und aus Art. 104a Abs. 4 GG, der die Zustimmung des Bundesrates zum Erlass von Geldleistungsgesetzen notwendig macht, die von den Ländern – denen auch die Gemeinden zugerechnet werden – als eigene Angelegenheit ausgeführt werden. Mit der Unterscheidung zwischen der verbotenen direkten Adressierung von Gemeinden und der Zulässigkeit von indirekten Folgen bundesgesetzlicher Regelungen kommt Germann der hier vertretenen Auslegung von Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG sachlich, wenn auch nicht begrifflich schon recht nahe. Denn die Fälle, in denen er zulässige indirekte Folgen bundesgesetzlicher Regelungen auf die Aufgabenlast der Gemeinden annimmt, erfassen zumindest auch die Fälle, in denen der Bundesgesetzgeber eine bestehende und den Gemeinden bereits übertragene Aufgabe durch eine Änderung des materiellen Rechts erweitert: Die Aufgabenlast trifft die Gemeinden nicht direkt aufgrund dieser Norm, sondern nur indirekt als Folge der fortgeltenden Zuständigkeitsnorm. Abzulehnen ist auch die Auffassung von Henneke,47 der – ohne Begründung – davon ausgeht, dass die gem. Art. 125a Abs. 1 GG fortgeltenden Zuständigkeitsnormen nicht dynamisch auf das jeweilige materielle Recht verweisen. Seiner Meinung nach sind die Länder dafür zuständig, die Aufgabe – soweit sie erweitert wurde – selbst zu erledigen oder den Gemeinden zur Erledigung zuzuweisen. Diese Auffassung findet jedoch schon keinen Anhaltspunkt im Wortlaut des Art. 125a Abs. 1 GG, der eine uneingeschränkte Fortgeltung früherer Aufgabenübertragungen an die Gemeinden anordnet. Diese gelten so fort, wie sie vor Inkrafttreten der Föderalismusreform galten. Zu diesem Zeitpunkt wirkten sie aber – wie alle Zuständigkeitsnormen – dynamisch: Waren ihre Tatbestandsmerkmale erfüllt, trat die Rechtsfolge – Zuständigkeit der Gemeinden – ein. Dabei kam es vor und kommt es nach Inkrafttreten der Föderalismusreform nicht darauf an, ob die materiell-rechtliche Norm, für deren Anwendung die Gemeinde als Rechtsfolge der Zuständigkeitsnorm zuständig ist, vor oder nach der Aufgabenzuweisungsnorm erlassen wurde. Es käme doch auch niemand auf die Idee, dass die Zuständigkeitsregelungen etwa des Polizeigesetzes neu ge___________ 46 47

BVerfGE 111, 10, 31. Henneke, NdsVBl 2007, 57, 67.

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fasst werden müssen, nur weil eine neue polizeirechtliche Befugnisnorm erlassen wird. Daher bleibt es dabei, dass der Bundesgesetzgeber den Gemeinden bereits übertragene Aufgaben erweitern kann. Das führt zwar dazu, dass die Gemeinden auch die Kosten, die sich durch die Erfüllung der erweiterten Aufgaben ergeben, zu tragen haben, da sie weder gegenüber dem Bund noch gegenüber ihrem Land einen Kostenerstattungsanspruch haben. Trotzdem widerspricht dieses Ergebnis – wie oben gezeigt wurde - nicht der Entstehungsgeschichte des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG. Zudem stand in der Föderalismuskommission nie in Rede, den Gemeinden Kostenerstattungsansprüche für bereits übertragene Aufgaben zu gewähren. Schließlich sollten die Gemeinden – insoweit bestand von Anfang an Konsens – ausdrücklich nicht zu einer dritten Ebene des Staatsaufbaus, sondern weiter als Teil der Länder behandelt werden. Hat sich die Situation für die Gemeinden demnach nicht verbessert, so hat sie sich durch die Föderalismusreform auch nicht verschlechtert; denn wenn den Gemeinden bereits übertragene Aufgaben ausgabenwirksam erweitert werden, ist diese Aufgabenänderung weiterhin – statt über Art. 84 Abs. 1 GG a.F. jetzt über Art. 104a Abs. 4 GG – zustimmungspflichtig. Außerdem können die Länder jetzt zum Schutz ihrer Gemeinden sogar neue, eigene Zuständigkeitsregelungen erlassen (Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG), die dann die landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen auslösen. Der Schutz der Gemeinden hängt damit letztlich von „ihren“ Ländern, also den Körperschaften ab, denen sie durch die Verfassung ohnehin zugerechnet werden. Kann „ihr“ Land allerdings keine Mehrheit im Bundesrat beschaffen und die ausgabenwirksame Aufgabenübertragung deshalb nicht verhindern oder verhält es sich passiv und erlässt keine eigene Zuständigkeitsregelung48, stehen die Gemeinden wenn auch nicht schlechter, dann aber doch genauso schlecht da wie vor der Föderalismusreform: Sie haben nicht bestellt, müssen aber trotzdem bezahlen.

3. Grenzen des einfachen Rechts Die hier für richtig gehaltene Auslegung des Art. 84 Abs. 1. S. 7 GG muss sich noch folgendem Einwand stellen: Führt die Unterscheidung von Aufgabe und Aufgabenübertragung mit der Reduktion des Anwendungsbereichs des Art. ___________ 48 Wenn den Gemeinden eine durch bundesgesetzliche Aufgabenbestimmungsnorm erweiterte Aufgabe bereits vor der Aufgabenerweiterung durch Landesrecht zugeordnet war, hängt es von der Auslegung des jeweils maßgeblichen landesrechtlichen Konnexitätsprinzips ab, ob der Landesgesetzgeber nach der Aufgabenerweiterung verpflichtet ist, die Gemeinden entweder durch eine nachträgliche Regelung der neuen finanziellen Folgen im Sinne eines Mehrbelastungsausgleichs oder durch eine Änderung der Zuständigkeitsregelung zu entlasten; vgl. Germann (o. Fn. 36), Art. 84, 85 Rn 121.

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84 Abs. 1 S. 7 GG auf Zuständigkeitsnormen und der Zulässigkeit der Erweiterung von Aufgaben, die den Gemeinden bereits früher übertragen worden sind, nicht dazu, dass der Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenzen beliebig viele neue Aufgaben so deklarieren kann, dass sie den bereits bestehenden Normen über die Zuständigkeit der Gemeinden unterfallen? Wenn das möglich wäre, würde Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG in der Tat umgangen werden und leerlaufen. Diese Überlegung stellt aber nicht das bisher gefundene Auslegungsergebnis in Frage, sondern verweist auf Grenzen des einfachen Rechts. In den Zuständigkeitsnormen wird regelmäßig auf die Aufgaben verwiesen, für die die Zuständigkeit begründet wird. Die Inbezugnahme der Aufgaben in den Zuständigkeitsnormen geschieht aber regelmäßig abstrakt (rahmenartig). Bestimmt beispielsweise § 3 Abs. 2 SGB XII die Kreise und kreisfreien Städte zu örtlichen Trägern der Sozialhilfe, dann müssen die Gemeinden solange auch Erweiterungen der Aufgabe erledigen, wie es sich dabei um Sozialhilfe i.S.d. § 3 Abs. 2 SGB XII handelt.49 Legt man den Begriff der Sozialhilfe nun aus, um zu ermitteln, was genau ihm unterfällt, ergeben sich formale und inhaltliche Grenzen. Die formale Grenze besteht darin, dass Sozialhilfe i.S.d. § 3 Abs. 2 SGB XII nur solche Hilfearten und Leistungen erfasst, die im SGB XII selbst geregelt sind oder auf die das SGB XII – wie z.B. in § 54 Abs .1 Hs. 1 SGB XII – ausdrücklich verweist. Diese Anforderung ergibt sich aus dem allgemeinen Grundsatz, dass Zuständigkeitsregelungen nur solche Aufgaben erfassen, die in demselben Gesetz geregelt werden, in dem auch die Zuständigkeitsregelungen getroffen werden. Fragen einer ausnahmsweisen subsidiären Anwendbarkeit von Zuständigkeitsnormen eines Gesetzes für ein anderes Gesetz, in dem Zuständigkeitsnormen fehlen, wie sie häufig im Verhältnis des allgemeinen Polizeiund Ordnungsrechts zum Sonderpolizei- oder -ordnungsrecht angestellt werden müssen, können angesichts der sehr speziellen Regelungen der Sozialgesetzbücher hier bei Seite bleiben. Inhaltlich rekurriert der Begriff der Sozialhilfe i.S.d. § 3 Abs. 2 SGB XII auf die Aufgabenbeschreibung in § 1 SGB XII, erfasst also jede Leistung, die den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens ermöglichen soll, das der Würde des Menschen entspricht und sie dabei so weit wie möglich befähigen soll, unabhängig von ihr zu leben. Das führt dazu, dass jede Aufgabenerweite___________ 49 Äußerste Grenze ist dabei stets die Gesetzgebungskompetenz des Bundes, hier die Gesetzgebungskompetenz für die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG), auf die sich der Bund zum Erlass des SGB XII gestützt hat. Da Fürsorge aber mehr als Sozialhilfe ist (vgl. die Aufzählung bei Pieroth [o. Fn. 14], Art. 74 Rn 17), kann der Bund den Gemeinden durch eine Aufgabenbestimmungsnorm nicht jede „fürsorgliche“ Regelung als Sozialhilfe i.S.v. § 3 Abs. 2 SGB XII unterschieben; vgl. zum Beispiel der Sozialhilfe auch Schoch, DVBl 2007, 261, 265.

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rung – sei es durch Einführung einer neuen Leistungsart in den Katalog des § 8 SGB XII, sei es durch Einführung eines neuen Anspruchs in eine bestehende Leistungsart – solange noch über § 3 Abs. 2 SGB XII den kreisfreien Städten und Kreisen zur Erledigung zugewiesen wird, wie sie diese Definition erfüllt. Für § 3 SGB XII bleibt also stets der Begriff der Sozialhilfe i.S.d. § 1 SGB XII in der jetzigen Fassung maßgeblich. Für den Fall, dass der Gesetzgeber § 1 SGB XII über die jetzige Definition hinaus erweitert, würden neue Leistungsansprüche, die nur wegen dieser Erweiterung Sozialhilfe i.S.d. § 1 SGB XII sind, aber nicht unter die jetzige Fassung der Norm fallen, nicht durch § 3 Abs. 2 SGB XII den kreisfreien Städten und Kreisen zur Erledigung zugewiesen50. Insoweit, also beschränkt auf die abstrakte (rahmenartige) Aufgabenbestimmung, die in der Zuständigkeitsnorm in Bezug genommen wird, besteht also in der Tat eine gewissermaßen statische Verweisung, aber nicht darüber hinaus.

4. Ausnahme für Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft? Bereits in der Sachverständigenanhörung im Rahmen der Föderalismuskommission51, später dann im Gesetzgebungsverfahren im Bundestagsausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung52 und in einer Erklärung der Koalitionsfraktionen im Bundestagsrechtsausschuss53 sowie schließlich in einem Rundschreiben der Bundesministerien des Inneren und der Justiz über die Auswirkungen der Föderalismusreform auf die Vorbereitung von Gesetzentwürfen der Bundesregierung und das Gesetzgebungsverfahren54 gab es die Überlegung, dass das strikte Verbot einer Aufgabenübertragung in Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht greifen könne, wenn es um Aufgaben gehe, die die Gemeinden aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) wahrnehmen und wahrnehmen müssen, insbesondere nicht die durch das Baugesetzbuch den Gemeinden zugewiesene Zu___________ 50 Für die Erfüllung dieser neuen Ansprüche wären wegen Art. 83 GG dann die Länder zuständig. Diese könnten sie durch Landesbehörden erfüllen oder durch Landesgesetz den Gemeinden und Gemeindeverbänden zur Erledigung übertragen. Im letzteren Fall griffen dann die landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen mit der Folge, dass die Gemeinden und Gemeindeverbände einen Anspruch auf Kostenerstattung hätten. Vgl. zu den möglichen Formen des landeseigenen Vollzugs von Bundesrecht Schnapp, in: Wirtschaft und Gesellschaft im Staat der Gegenwart – Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, 2007, S. 508. 51 P.M. Huber in der 5. Sitzung der Kommission, Stenografischer Bericht, S. 99. 52 Entschließung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, BT-Drs. 16/2069, S. 4. 53 BT-Drs. 16/2069, S. 13. 54 BR-Drs. 651/06, S. 17.

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ständigkeit für die Bauleitplanung im Gemeindegebiet. Nur ein solches Verständnis werde dem Regelungsgehalt des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG gerecht, denn er solle die Gemeinden und Gemeindeverbände vor der Übertragung von mit erheblichen Kosten verbundenen Leistungsgesetzen schützen. Diese Überlegung geht fehl.55 Schon ihr gedanklich-dogmatischer Ausgangspunkt – die Gemeinden würden bereits durch Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG dazu verpflichtet, eine Aufgabe wahrzunehmen, so dass Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG der Regelung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG als lex specialis vorgehe – trifft nicht zu. Vielmehr gewährleistet Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (Allzuständigkeit) im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung (Eigenverantwortlichkeit) zu regeln.56 Damit ist den Gemeinden aber die Entscheidung nicht nur über das Wie, sondern auch über das Ob der Aufgabenerledigung übertragen,57 so dass sich eine Verpflichtung der Gemeinden zur Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe allein aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG gerade nicht ergibt58. Trotz der allgemein üblichen Bezeichnung „Allzuständigkeit“ weist Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG selbst den Gemeinden auch keine Aufgabe zur Erledigung zu, ist also keine Aufgabenübertragungsnorm, sondern gewährleistet nur „die Befugnis der Gemeinden, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (…) ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen“59. Eine Zuständigkeit der Gemeinde für eine Angelegenheit wird nicht schon dadurch begründet, dass es sich um eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft handelt. Vielmehr muss sich die Gemeinde der Angelegenheit auch annehmen, d.h. ihre Zuständigkeit durch einen eigenen Entschluss konkretisieren. Das Verbot bundesgesetzlicher Aufgabenübertragung an die Gemeinden ist ausnahmslos formuliert und auch so gemeint. Allein die Tatsache, dass der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD einen Entschließungsantrag annimmt, in dem er einseitig „davon ausgeht“60, dass Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht solche Aufgaben umfasse, die die Gemeinden auf Grund der Selbstverwaltungsgarantie nach ___________ 55

Im Ergebnis ebenso Germann (o. Fn. 36), Art. 84, 85 Rn 118; Trute (o. Fn. 35), Rn

175. 56

Pieroth (o. Fn. 14), Art. 28 Rn 12. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 28 Rn 114. 58 Selbst diejenigen, die aufgrund der verfassungsrechtlichen Institutionalisierung der eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung eine grundsätzliche Pflicht zur Ausfüllung der Funktion des Selbstverwaltungsträgers annehmen, sehen die Entscheidung über ein Tätigwerden im Einzelfall als von dieser Pflicht unberührt an; vgl. Erichsen, Kommunalrecht des Landes NRW, 2. Aufl. 1997, § 16 B) 2. m.w.N. 59 BVerfGE 79, 127, 2. Leitsatz. 60 BT-Drs. 16/2069, S. 4. 57

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Art. 28 Abs. 2 GG wahrnehmen, kann daran ebenso wenig etwas ändern wie die einseitige und gleichlautende Erklärung der Fraktionen von CDU/CSU und SPD im Bundestagsrechtsausschuss61.62 Das hat zur Folge, dass der Bund auch solche Aufgaben, die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft betreffen und deshalb unter Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG fallen, wegen Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG den Gemeinden nicht direkt zuweisen darf. Vielmehr kann er sie nur den Ländern zuweisen. Denn gerade weil die Gemeinden (bundes)verfassungsrechtlich als Glieder der Länder betrachtet werden, ist es Aufgabe der Länder zu entscheiden, ob sie Aufgaben aus dem Bereich der Selbstverwaltung den Gemeinden übertragen oder in Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG eingreifen wollen und sich für eine Aufgabenübertragung an eine andere Behörde entscheiden.63 Diese Konsequenz steht in Übereinstimmung mit den Zielen der Föderalismusreform: Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern sollten verbessert und politische Verantwortlichkeiten durch eine Entzerrung der (Gesetzgebungs-)Zuständigkeiten deutlicher zugeordnet werden.64 Nach der hier vorgeschlagenen Lösung wird genau dies auch im Selbstverwaltungsbereich durch Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG erreicht. Der Eingriff des Bundes in die Organisationshoheit der Länder wird verhindert.65 Vielmehr wird der Tatsache, dass die Länder und nicht der Bund für die ihnen zugerechneten Gemeinden verantwortlich sind, dadurch Rechnung getragen, dass (erst) die Länder entscheiden, ob sie durch Aufgabenübertragung in die Selbstverwaltungsgarantie eingreifen. Schließlich lässt diese Auslegung auch den Gesetzesvorbehalt in Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG („im Rahmen der Gesetze“) für bundesgesetzliche Eingriffe in das Selbstverwaltungsrecht nicht leer laufen. Denn dem Bund wird durch Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG lediglich untersagt, eine Aufgabe direkt an die Gemeinde zu adressieren und so die Zuständigkeit der Gemeinde zu begründen. Dem Bundesgesetzgeber bleibt es aber auch unter Geltung des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG möglich, Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft einem anderen Verwaltungsträger als den Gemeinden zu übertragen, und dadurch – auf Grundlage des Gesetzesvorbehaltes in Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG – in die Allzuständigkeit der Gemeinden einzugreifen. Außerdem kann er weiterhin nicht nur materielle Aufgaben ___________ 61

BT-Drs. 16/2069, S. 13. Försterling, ZG 2007, 36, 39; Henneke, NdsVBl 2007, 57, 63 ff. 63 So auch Trute (o. Fn. 35), Rn 175. 64 BT-Drs. 15/1721; BR-Drs. 750/03; Zur Sache 1/2005, Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, S. 17 f. 65 So auch Henneke, Der Landkreis 2006, S. 508. 62

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schaffen, sondern auch – unter den sonstigen Voraussetzungen des Art. 84 Abs. 1 GG – das Verfahren bei der Aufgabenerfüllung festlegen.

V. Fazit Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG verbietet dem Bund den Erlass von Aufgabenübertragungs-, d.h. Zuständigkeitsnormen. Er beschränkt den Bund aber nicht im Erlass von materiell-rechtlichen Aufgabennormen, die staatliches Tätigwerden unabhängig davon regeln, welchem Verwaltungsträger die Aufgabe übertragen wird. Der Bund darf daher auch Aufgaben erweitern, die den Gemeinden bereits durch eine gem. Art. 125a Abs. 1 GG fortgeltende Zuständigkeitsnorm übertragen worden sind, ohne mit Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG in Konflikt zu geraten. Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG gilt auch im Bereich der Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden. Für die oben genannten Streitigkeiten folgt daraus: Der Bundespräsident hatte Recht, als er die ursprüngliche Fassung des Verbraucherinformationsgesetzes für verfassungswidrig hielt. § 133b SGB XII ist dagegen verfassungsmäßig.66

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Das Manuskript ist Anfang Februar 2008 abgeschlossen worden.

Innere Sicherheit in „guter Verfassung“? Zur Terrorismusbekämpfung im präventiven Gewährleistungsstaat Von Rainer Pitschas, Speyer Autor und Jubilar sind seit langen Jahren in gemeinsamer Arbeit dem Verfassungs- und Sozialrecht verbunden.1 Beiden geht es darum, das Recht der sozialen Sicherheit2 angesichts stetig wechselnder Herausforderungen an dessen Kontinuität und Flexibilität3 problembewusst zu entfalten und immer wieder von neuem zu justieren. Diesem Anliegen scheinen zwar die nachfolgenden Überlegungen zu den Herausforderungen der inneren Sicherheit in Deutschland und der Europäischen Union (EU) mit der Frage nach deren „Verfassung“ zu widerstreiten. Denn was hat die Frage nach dem gegenwärtigen Zustand staatlicher Freiheitssicherung und ihrer verfassungsrechtlichen Legitimation mit der sozialen Sicherheit zu tun? Die Antwort ist längst bekannt: Soziale Sicherheit ist die Schwester der inneren Sicherheit.4 Beide sind vielfältig miteinander im Verfassungsprinzip „Sicherheit“ als Fundament der grundgesetzlich umfassend gewährleisteten Frei___________ 1

Siehe hierzu als sichtbare Zeichen u.a. den Abdruck meines am 28.11.1992 an der Universität Bochum im 25. Praktikerseminar des Instituts für Sozialrecht gehaltenen Vortrags über „Inhalt und Reichweite des Mandats der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik“ in ZSR 1993, 468 ff.; vgl. ferner F. E. Schnapp, Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialrechts?, in: R. Pitschas/S. Kisa (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, Berlin 2002, S. 357 ff.; R. Pitschas, Die Modernisierung der sozialen Sicherung im Zeichen von Effektivität und Effizienz. Zum Grundsatz der Wirtschaftlichkeit im Sozialrecht, in: H. Butzer (Hrsg.), Wirtschaftlichkeit durch Organisations- und Verfahrensrecht. Symposium zum 65. Geburtstag von F. E. Schnapp, Berlin 2004, S. 31 ff. 2 Zu deren Begriffsgehalt und Reichweite s. mit w. Nachw. R.. Waltermann, Sozialrecht, 7. Aufl. 2008, Rn. 37. 3 Vgl. dazu nur R. Pitschas, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRL Bd. 64 (2005), S. 109 (113 ff., 135 ff., 136) m. w. Nachw. 4 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl., Stuttgart 1973, S. 140 ff., 149 zur Einheit von „Sicherheit“ als integrativer Wertidee.

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heitssicherung des Bürgers verknüpft.5 Dementsprechend dient die Sozialpolitik als unverzichtbares Instrument zur vorbeugenden Bekämpfung aller Kriminalität. Gemeinsamkeiten realisieren sich ebenso in der komplementären Verwirklichung von Solidarität als einem „sozialen“ Anspruch des einzelnen auf wirksamen (Sozial-)Schutz seitens des sog. Gewährleistungsstaates vor Beeinträchtigung seiner personalen Integrität durch Mitbürger. Also hofft der Verfasser darauf, dass der zu Ehrende auch den ihm hier gewidmeten Beitrag aus dem Polizei- und Sicherheitsrecht akzeptieren möge.

I. Die gegenwärtige Auseinandersetzung um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheitsvorsorge 1. Überschießendes Freiheitspathos oder „entmoralisiertes Risikomanagement“? Wie fremd aber dürfte den Jubilar angesichts dieser Sinnzuschreibung an die staatliche Sicherheitsvorsorge als Integrationsauftrag die in der Literatur derzeit weithin und in martialischem Duktus gepflegte Auseinandersetzung über die aktuelle Sicherheitspolitik zur Bekämpfung des Terrorismus anmuten?6 Da ist die Rede von einer „ständigen innenpolitische(n) Aufrüstung“ durch eine Gesetzgebung, „die den Rechtstaat untergrabe“7 und ferner davon, dass „Regierung und Parlament ... immer wieder Hand an die Verfassung und unsere Grundrechte ... legen“ würden.8 Der dadurch möglicherweise erzielte „Sicherheitsgewinn stehe in keinem Verhältnis“ zu dem gleichzeitig eintretenden Freiheitsverlust; das Ergebnis sei vielmehr – so wird behauptet – die „Erosion der Grundrechte“.9 Andere Autoren heben dagegen den „wehrhaften Rechtsstaat“ hervor10; sie sehen diesen „im Zeitalter des Terrorismus“ mit der „Realität eines

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Pitschas (Fn. 3), S. 113 ff., 136. Ein Spiegel der Debatte bei H. P. Bull, Freiheitspathos und Sicherheitspolitik, RuP 2008, 16 ff.; zur Problematik in der Sache vgl. auch ders., Freiheit und Sicherheit angesichts terroristischer Bedrohung, in: M. H. W. Möllers/R. Chr. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2002/2003, 2003, S. 265 ff. 7 B. Hirsch, Aktuelle Sicherheitspolitik im Lichte des Verfassungsrechts – Eine notwendige Entgegnung, ZRP 2008, 24 (25). 8 Hirsch (Fn. 7), 25, r. Sp. 9 Gerhart Rudolf Baum, Die Erosion der Grundrechte, in: Süddt. Zeitg. v. 7.1.2008, S. 2. 10 W. Schäuble, Der wehrfähige Rechtsstaat, in: R. Pitschas/A. Uhle (Hrsg.), FS für R. Scholz, Berlin 2007, S. 97 ff.; ders., ZRP 2007, 210 ff. 6

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weltweiten Bürgerkriegs“ konfrontiert, in dem der „clash of civilizations“ auch ein „Bürgeropfer“ des Staates durch erlaubten Flugzeugabschuss legitimiere.11 Man mag in gutwilliger Interpretation derlei Aussagen einem überwältigten Freiheitspathos zuschreiben12, doch sind Sprache und Form einer solchen Auseinandersetzung der „Selbstachtung des Rechtstaats“ (Di Fabio) nicht angemessen. Dies gilt insbesondere gegenüber jenen Bemerkungen, mit denen behauptet wird, wir würden derzeit „die Entwicklung einer Kontrollkultur (erleben), in der einerseits die staatliche Kontrolle, andererseits Mechanismen sozialer Kontrolle im Alltag neue Formen annehmen, und die so den Charakter unserer Gesellschaft als Sicherheitsgesellschaft nachhaltig zu prägen scheint.“ Die Facetten dieser Entwicklung, so heißt es, seien komplex und sie reichten „von der Konstruktion von Bedrohungen, Gefährdungen und Feindbildern, über die politische Mobilisierung und Instrumentalisierung von Kriminalitätsfurcht (governing through crime), Verschärfungen des Strafrechts und ein Anwachsen positiver Einstellungen bis hin zu Diagnosen einer (Re)Privatisierung sozialer Kontrolle und der sicherheitstechnischen Aufrüstung öffentlicher Räume in Städten und eines ‚post-disziplinären Risikomanagements.“ In diesem Sinne wird zugleich danach gefragt, ob die Konstruktion und Inszenierung von Feindbildern und Bedrohungen als eine wesentliche Grundlage der Legitimation von Sicherheitspolitiken angesehen werden müsse und sich Tendenzen eines „entmoralisierten Risikomanagements“ entwickeln würden.13



Wer auf diese Weise die Feder gegen die aktuelle und von parlamentarischen Mehrheiten getragene demokratisch legitimierte Gesetzgebungspolitik im Feld der inneren Sicherheit führt, muss sich einerseits fragen lassen, ob er sich tatsächlich der veränderten realen Gefährdungen bewusst ist, denen die modernen Gesellschaften des Europas der EU in der Lebenswirklichkeit durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit sowie durch transnationale, insbesondere terroristische Bedrohungen ausgesetzt sind. Nur dann lassen sich Transformationen der Sicherheitsgesellschaft empirisch zureichend interpretieren. Andererseits bleibt die Frage zu beantworten, welches Maß an Freiheitlichkeit oder Sicherheitsvorsorge zur Freiheitssicherung den demokratischen Gewährleistungsstaat angesichts der offenkundigen terroristischen Gefährdungen letztendlich prägen soll. Zur Diskussion steht insoweit der (rechtliche) Maßstab, an dem staatliche Maßnahmen zum Schutz vor terroristischen Anschlägen zu messen sind. Erst an das Ergebnis dessen lassen sich dann Einschätzungen dazu an___________ 11

O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, 2007; zur Vorstellung eines spezifischen „Feindstrafrechts“ im Innern vgl. S. 55 ff. 12 Bull (Fn. 6), 16 ff., 22. 13 Alle Formulierungen aus dem „Call for Papers“ für verschiedene Sektionsveranstaltungen auf dem Soziologiekongress der DGS vom 06. – 10.10.2008 in Jena; vgl. auch Kongressprogramm (www.dgs2008.de), S. 36 f., 67.

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knüpfen, ab wann der Staat „im Kampf gegen den Terrorismus“ Gefahr läuft, „die Freiheit der Sicherheit zu opfern“.14

2. Fehlgeleitete Unterscheidung von „guter“ und „schlechter“ Sicherheit Das Verhältnis von „Freiheit“ und „Sicherheit“ ist jedenfalls komplexer, als es die in der Diskussion gemeinhin verwendeten einfachen Formeln zu fassen bemüht sind: Es lässt sich nur mehrpolig und im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nur ebenenübergreifend15 ausbuchstabieren. Deshalb dürfen Freiheit und Sicherheit auch nicht als ein lediglich bipolar angelegtes Spannungsverhältnis begriffen werden, in dem sich Gewinne auf der einen Seite und Verluste auf der anderen Seite diametral gegenüberstehen. Statt dessen bilden sich in der „Zerfaserung“ des Staates16 und im Zuge der sog. Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft17, die mit einer neuen Kultur der Privatheit einhergeht (Hassemer), neue Träger von Freiheit, aber auch der Gewährleistung von Sicherheit heraus.18 In der Folge dessen werden veränderte Strategien zur Gestaltung und zum In-Verhältnis-Setzen von Freiheit und Sicherheit erforderlich, wie noch zu zeigen sein wird. Letztlich entsteht aus alledem nicht nur ein allmählich heraufziehendes Verfassungsproblem der Zuständigkeitsverteilung zwischen Parlament, Exekutive und Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Erforderlichkeitsprüfung und Wirkungsbeurteilung gegenseitiger Zuordnung von Freiheit und Sicherheit. Dar___________ 14

So D. Grimm, Aus der Balance, in: Die Zeit Nr. 49 v. 29.11.2007, S. 14. Vgl. Art. 61 ff. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) i. d. F. des Vertrages über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union vom 25.04.2005 (BGBl. II S. 1146); K. Heussner, Informationssysteme im Europäischen Verwaltungsverbund, Tübingen 2007, S. 98 ff.; 360 ff., 392 ff.; U. Di Fabio, Sicherheit in Freiheit, NJW 2008, 421 ff., zur völkerrechtlichen Perspektive. 16 P. Genschel/B. Zangl, Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, H. 20 – 21/2007, S. 10 f., 12 f.; W. Leisner, „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts. Von der „Hoheitsgewalt“ zum gleichordnenden Privatrecht, Berlin 2007. 17 Zum Konzept der „Verantwortungsteilung“ s. nur H.- H. Trute, Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privaten Sektor, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, Baden-Baden 1999, S. 13, 20 ff.; krit. aber bereits R.. Pitschas, „Sicherheitspartnerschaften“ der Polizei und Datenschutz, DVBl. 2000, 1805 (1806 f.); ders., Neues Verwaltungsrecht im partnerschaftlichen Rechtsstaat“, DÖV 2004, 231 (232); dem numehr folgend F. Schoch, Gewährleistungsverwaltung: Stärkung der Privatrechtsgesellschaft?, NVwZ 2008, 241 (244 m. Fn. 57 f.). 18 Vgl. C. Gusy, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, VVDStRL Bd. 63 (2004), S. 151, 156 ff., 173 ff. 15

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über hinaus lässt sich Freiheitssicherung materiell-rechtlich zukünftig nicht mehr auf der Grundlage überkommener formelhafter Vorstellungen von einer einheitlichen „Gefahrenabwehr“ zur Freiheitssicherung im Rahmen des herkömmlichen Polizeirechts entfalten. Gleiches gilt für die Berücksichtigung „gebrochener“ öffentlicher Sicherheit und diffuser sowie miteinander konkurrierender privater Freiheiten vielfältiger Akteure im gesellschaftlichen Raum: Jedes in der Luft abgeschossene Flugzeug beeinträchtigt die Freiheit der von dem Absturz Betroffenen auf dem Boden. Das Freiheitskonzept des Gewährleistungsstaates ist m. a. W. komplex angelegt. Dem daraus resultierenden Dilemma, rechtsstaatlichen Freiheitsschutz des Individuums in einem hinreichenden Ausgleich mit dem strukturellen Gefährdungswandel der inneren Sicherheit und zur Freiheitsdynamik moderner Gesellschaften zu halten, stand denn auch das BVerfG spätestens in seinen Entscheidungen zur Online-Durchsuchung sowie zur Speicherung von Kraftfahrzeugkennzeichen und zur Vorratsdatenspeicherung gegenüber.19 Sein mutiger Versuch, im Beziehungsgeflecht von Freiheit, Sicherheit, Demokratie und Öffentlichkeit zwischen „guter“ und „schlechter“ Sicherheit zu unterscheiden und zu diesem Zweck eine weitere grundrechtliche Dimension des Art. 2 Abs. 1 GG zu „erfinden“20, musste im Ergebnis fehlschlagen: Die vom Gericht betriebene neue grundrechtliche Ausdifferenzierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung betont einseitig ein individualistisches Freiheitskonzept im Widerstreit zur Rezipientenfreiheit und zum Werteverlust bzw. Gestaltwandel der Privatheit, aber auch zum Zeitalter der E-Governance und zu neuartigen Bedrohungslagen für die innere Sicherheit, die realempirisch wahrnehmbar und für die normativ-rechtliche Reaktion des demokratisch-parlamentarisch legitimierten Gesetzgebers bestimmend gewesen sind.

___________ 19 Zur Nichtigkeit der Vorschriften zur Online-Durchsuchung im Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen s. BVerfG, Urt. v. 27.02.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07, NJW 2008, 822; zur automatischen Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen s. BVerfG, Urt. v. 11.03.2008 – 1 BvR 2074/05, 1 BvR 1254/07, unveröff.; zum Eilantrag in Sachen „Vorratsdatenspeicherung“ s. BVerfG, Beschl. v. 11.03.2008, 1 BvR 256/08, unveröff. 20 Um eine Neuschöpfung handelt es sich nämlich, vgl. BVerfG, NJW 2008, 822 (827 f., Rn. 201 f., 203 f.); einer ähnlichen Problematik sah sich bereits das BVerfG in seinem Urt. v. 15.12.1983, BvR 209/83 u. a., zu Bestimmungen des Volkzählungsgesetzes gegenüber (E 65, 1 ff.). Auch damals stand im Streit, ob das BVerfG ein (weiteres) Grundrecht entwickelt hat bzw. dies überhaupt gedurft hätte, vgl. R. Scholz/R. Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, Berlin 1984, S. 23 f. mit Fn. 43. Zu Recht wird deshalb in der Entscheidung zur Online-Durchsuchung betont (Rn. 25), Schutzfundament sei nach wie vor „das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der hier behandelten Ausprägung“.

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3. Sicherheitsvorsorge als komplexe Aufgabe des aktiven Rechtsstaates a) Erweiterter Sicherheitsbegriff und aktiver Rechtsstaat Lässt sich aber die skizzierte Komplexität des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit weder auf die Formel „Freiheit durch Sicherheit“ noch auf die Aussage „Sicherheit durch Freiheit“ reduzieren21, bedarf es statt dessen einer ausgleichenden Balance zwischen den mehrpoligen und ebenenübergreifenden Reaktionserfordernissen ausgreifender Sicherheitsbedrohungen und den Schutzbegehren segmentierter Freiheit. Einzubeziehen sind darin die im Wandel der Staatlichkeit unterschiedlich legitimierten Akteure als Träger der Freiheit bzw. Garanten der Sicherheit.22 Die Verteidigung der vielfältigen Freiheiten der Grundrechtsträger – und damit zusammenhängend ihrer Eigenverantwortung für den Selbstschutz und die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme in der Informationsgesellschaft23 – muss folgerichtig von der Politik, und d. h. durch den Gesetzgeber im Rahmen des ihm von Verfassungs wegen zugewiesenen Einschätzungsspielraums mit den in sich unterschiedlichen Freiheitsverlangen und Bedürfnissen in der Bevölkerung nach Sicherheit in Einklang gebracht werden. Das setzt neben einem umfassenden Sicherheitsbegriff, der sich über den vorbeugenden Schutz vor Kriminalität und Unrecht hinaus auch und z. B. auf die primäre und sekundäre Kriminalprävention, also auch auf die Gewährleistung sozialer Sicherheit erstreckt24, einen aktiven Rechtsstaat voraus: Dieser begreift und bekämpft selbstbewusst, zupakkend und vorausschauend auf der Grundlage dafür erforderlicher Informationen den transnationalen Terrorismus als das, was er tatsächlich ist, nämlich als eine Form organisierter Kriminalität (und nicht des Krieges).25 Die bisherige rechtliche Auseinandersetzung mit terroristischen Bedrohungen als tödliche Variante von Kriminalität hat zwar nach der Beurteilung durch ___________ 21 Deshalb ist „Freiheit ... mehr und anderes als eine Folge von Sicherheit“, so zutr. Gusy (Fn. 18), S. 165; in der Tendenz auch Di Fabio (Fn. 15), 422. 22 Zu dieser „Balance“-Vorstellung siehe neben Grimm (Fn. 14), S. 14, auch bereits W. Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP 2002, 497 ff. 23 BVerfG, NJW 2008, 822 (827, Rn. 200). Bedauerlicherweise betont das BVerfG, a. a. O. nicht die Selbstverantwortung der „zur Nutzung berechtigten Person“ für fremde Zugriffe (Rn. 205); vgl. dazu bereits R. Pitschas, Referat vor dem 62. DJT, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhdlg. 62. DJT, Bd. II/1 (Sitzungsberichte – Referate und Beschlüsse), München 1998, M. 9 ff., 28 ff., 29 ff.; ders., Informationelle Selbstbestimmung zwischen digitaler Ökonomie und Internet, DuD 1998, 139 ff. 24 R. Pitschas, Öffentliche Sicherheit durch Kriminalprävention, in: Ders. (Hrsg.), Kriminalprävention und „Neues Polizeirecht“, Berlin 2002, S. 13 ff. 25 Ebenso Di Fabio (Fn. 15), 423 l. Sp.

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das BVerfG die Verletzung der informationellen Selbstbestimmung von Bürgern durch die automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen26 und gesetzlich ermöglichte Online-Durchsuchungen27, aber auch durch Abhörbefugnisse der Nachrichtendienste28, des Zollkriminalamtes29 sowie durch akustische Wohnraumüberwachung30 bewirkt. Daneben stehen fragwürdige Vorhaben des Gesetzgebers wie z. B. jenes, ein von Terroristen beherrschtes Flugzeug unter Inkaufnahme des Todes unschuldiger Passagiere abschießen zu lassen.31 Dabei wird freilich dem aktiven Rechtsstaat wenig an Vertrauensvorschuss zugestanden. Und – wie schon angemerkt –, das BVerfG hat sich in seiner Judikatur darauf beschränkt, dem Leitgedanken eines unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung und Kommunikation Raum zu geben und den Gesetzgeber verpflichtet, entsprechend kernbereichsschützende Regelungen u. a. für die „akustische Wohnraumüberwachung“ bzw. zur „Integrität informationstechnischer Systeme“ zu schaffen.32 Gegenläufige Kritik der polizeilichen Praxis33 und an der Betonung des von ihm zugrunde gelegten individualistischen Freiheitskonzepts34 ist bislang unberücksichtigt geblieben. Die komplexe Balanceaufgabe verlangt indes, die Gesamtheit der Gefährdungen für Freiheit und Sicherheit in den Blick zu nehmen, das der Rechtsprechung zugrunde gelegte Freiheitskonzept zu überprüfen und das Prinzip einer monolithisch verstandenen Privatsphäre zu reflektieren.35 Dann erweist sich auch hinsichtlich der neuartig gebündelten Bedrohungen durch den Terrorismus

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A. a. O. (Fn. 19). BVerfG, NJW 2008, 822 ff. – Online-Durchsuchung. 28 BVerfGE 100, 313 – BND. 29 BVerfG 110, 33 – Zollkriminalamt. 30 BVerfG 109, 279 – Akustische Wohnraumüberwachdung. 31 BVerfG 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz; dazu C. Pestalozza, Inlandstötungen durch die Streitkräfte – Reformvorschläge aus ministeriellem Hause, NJW 2007, 492 ff.; W.- R. Schenke, Zur Verfassungswidrigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG, NJW 2006, 736 ff. 32 BVerfGE 109, 279 (313, 318 f.); BVerfG NJW 2008, 822 (830, Rn. 234 ff.); dazu M. Baldus, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – absolut geschützt, aber abwägungsoffen, JZ 2008, 218 ff. 33 Nachw. bei Baldus (Fn. 32), 219 in Fn. 11. 34 Dazu bereits die Kritik bei Pitschas, DJT-Referat (Fn. 23), M 15, 18 f., 29 ff., s. ferner im hiesigen Kontext Bull (Fn. 6), 21; E. Haas, Abweichende Meinung zum Beschl. des Ersten Senats vom 04.04.2006 – 1 BvR 518/02, BVerfGE 115, 320 – präventive Rasterfahndung (371, 373 ff.); K.-H. Ladeur, Riskantes Netz. Die Informationsgesellschaft braucht Verkehrsregeln – nicht den Schutz eines nur als Bürger auftretenden nomadisierenden Individuums, F.A.Z. v. 24.04.2008, S. 8. 35 Ansätze dazu bei BVerfG NJW 2008, 822 (827, Rn. 206) – Online-Durchsuchung. 27

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der Staat des Grundgesetzes als genügend abwehrbereit, ohne Straftäter oder Tatverdächtige, Störer oder der Störung Verdächtige rechtlos zu stellen.36

b) Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als rechtsstaatlicher Maßstab zulässiger Sicherheitsvorsorge Verfassungsrechtlicher Ansatzpunkt für die entsprechende Ausdeutung des aktiven Rechtsstaats ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Maßstab37 der bedrohungsseitig veranlassten Freiheitssicherung und zugleich der von Verfassungs wegen noch zulässigen gesetzlichen Sicherheitsvorsorge. Im Rückgriff auf diesen Maßstab, den auch das BVerfG als zentralen Abwägungsparameter verwendet38, offenbart sich eine gerichtlich „verschwiegene“ Eigenheit: Der Gesetzgeber hat sowohl ein Übermaß freiheitseinschränkender Gesetzgebung zu vermeiden als auch ein Untermaß der gleichzeitig als erforderlich, geeignet und zumutbar deklarierten Sicherheitsvorsorge zu beachten.39 Die Frage ist somit und unabhängig von der hier kritisierten „Leitbildsetzungs- und Moderationsfunktion“ des BVerfG im gesetzgeberischen Zuständigkeitsbereich, ob das Gericht von einer zutreffenden Einschätzung der „Lage“ und der Notwendigkeit polizeilicher Anstrengungen, „vor die Lage zu kommen“40, ausgegangen ist. Im Übrigen ist der von Gerichtsseite individualisierte Freiheitsschutz nicht grenzenlos garantiert. Wo einzelne oder Teile der Gesellschaft die grundrechtliche Freiheit in krimineller Absicht missbrauchen, ermöglicht es die „wehrhafte Demokratie“ (Art. 18 GG), die Verwirkung von Grundrechten auszusprechen. Dahinter steht der Wille des Verfassungsgebers, den Freiheitsschutz im Rechtsstaat nicht gegen diesen selbst zu wenden. Folgerichtig stellt das BVerfG seit jeher die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines unantastbaren Kern-

___________ 36 Di Fabio (Fn. 15), S. 425 f., spricht insoweit von der „rationalisierenden Kraft des Rechtsstaates“. 37 R. Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, München 2008, § 42 Rn. 107 ff. 38 Er steht u. a. im Zentrum der Argumentation des BVerfG-Urteils zur OnlineDurchsuchung (Fn. 35), Rn. 226 ff., 242 ff., 256. 39 Pitschas (Fn. 37), Rn. 110 m. w. Nachw.; vor der Überdehnung des Verhältnismäßigkeitsprinzips warnt indes Di Fabio (Fn. 15), 424 m. Fn. 28: dieser würde dann ggf. „jedes Mittel“ rechtfertigen. Doch steht der Schraubstock von „Übermaß“ und „Untermaß“ dagegen. 40 J. Ziercke, Wir stehen vor großen Herausforderungen, Der Sicherheitsdienst (DSD) 2008, 22 (25 l. Sp.).

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bereichs privater Lebensgestaltung unter Missbrauchsvorbehalt.41 Der Rechtsstaat erfüllt mithin seinen Auftrag, die individuelle Freiheit zu schützen, nicht nur durch die (präventive) Abwehr staatlicher (Informations-)Eingriffe und durch die Entwicklung neuer Schutzinstrumente, sondern auch durch die Maßgabe eines komplexen Ordnungsrahmens, der Freiheitsschutz im Einzelfall konzeptionell als differenzierte Freiheitsvielfalt versteht.42 Das BVerfG hat indes einen anderen Weg eingeschlagen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird in den bereits erwähnten Entscheidungen43 ausschließlich als Übermaßverbot, d. h. mit Blick auf den grundrechtlich-rechtsstaatlichen Freiheitsschutz i. S. eines Gebots entfaltet, unantastbare Bereiche persönlicher (Kommunikations-)Freiheit zu gewährleisten. Der sog. „Gewährleistungsstaat“44 gibt sich zu erkennen.45 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip existiert allerdings als Gewährleistungsgebot im Hinblick auf seinen Gegenstand nur idealtypisch. Denn pauschalierte Freiheit gibt es nicht. Sie „lebt“ zersplittert und dem gibt das Untermaßverbot eigenen Ausdruck. Was also müsste der Rechtsstaat „gewährleisten“? Welchem Freiheitskonzept gibt er Raum?

c) Gleiche Freiheit in Sicherheit – oder: welches Freiheitskonzept gilt? Im hiesigen Zusammenhang des bereits angesprochenen Wandels der Staatlichkeit46 interessiert vor allem das durch die Privatisierung des Staates herbeigeführte (partielle) Untermaß des Schutzes individueller Sicherheit. Denn das Maß der jeweiligen Sicherheitsgewähr steht im „begrenzten“ Staat seinerseits in einem inneren Zusammenhang mit der Frage nach der sozialen Gleichheit staatlich und/oder privat dargebotenen Schutzes. Die Frage ist, ob Schutz vor Kriminalität, Schutz vor den Fährnissen der Globalisierung (und Schutz vor sozialer Deklassierung) im „privatisierten Staat“ noch immer demselben Grundstock erfließen, nämlich der in der Verfassung objektiv-rechtlich geborgenen generalisierten Zuordnung von „Freiheit“ und „Sicherheit“, die den rechtstaatli___________ 41 Vgl. nur und mit Blick auf die akustische Wohnraumüberwachung BVerfGE 109, 279 (319); zuvor bereits BVerfGE 80, 367 (375) – Tagebuch. 42 R. Poscher, Du musst nicht verfassungstreu sein, FAZ v. 28.06.2007, S. 7. 43 A. a. O. (Anm. 27 – 32). 44 W. Hoffmann-Riem, Governance im Gewährleistungsstaat – Vom Nutzen der Governance – Perspektive für die Rechtswissenschaft, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung, Baden-Baden 2005, S. 195 ff. 45 Zur Kritik daran s. statt anderer C. Franzius, Der „Gewährleistungsstaat“ – ein neues Leitbild für den sich wandelnden Staat?, in: Der Staat, Bd. 42 (2003), S. 493 (516 f.); Pitschas (Fn. 37), Rn. 13 mit Fn. 44. 46 Vgl. oben im Text um und zu Anm. 16 f.

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chen Zusammenhang von „frei“ und „Individuum“ ergänzt.47 Zwar will das Grundgesetz individuelle Sicherheit auch im Wandel der Staatlichkeit und mit ihr der Öffentlichkeit48 als verfassungsprinzipiell geschuldet betrachten. Doch gleichzeitig drängt es darauf, den Aufwand hierfür vor Art. 3 Abs. 2 GG zu legitimieren, d. h. es will diesen mit dem unverzichtbaren Maß an gleicher Freiheit für alle Bürger abgewogen wissen. Gleiche Freiheit in Sicherheit mit dem bestandskräftigen Schutz der – in sich unterschiedlichen – Freiheitserwartungen von Mitbürgern verbunden zu sehen, ist die Forderung des Grundgesetzes. Verfassungsrechtlich zu berücksichtigen sind deshalb gegenläufige Freiheitspositionen bei der Ausprägung von Sicherheitsgewährleistungen, die in der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG nicht hinreichend beachtet werden.49 Das darin entfaltete Übermaßverbot bedürfte somit strukturell differenzierter Durchleuchtung.

d) Segmentierte innere Sicherheit Dem differenzierten Freiheitskonzept des Grundgesetzes entspricht die in der Lebenswirklichkeit segmentierte innere Sicherheit. Denn schon längst sind in der Bundesrepublik Deutschland neue Bedrohungspotentiale für den inneren Frieden aufgetreten, deren Existenz eng mit dem Globalisierungsprozess verknüpft und gruppenspezifisch ausgeprägt ist.50 Hervorzuheben bleibt insoweit und neben dem schleichenden Wachstum der privat organisierten Kriminalität, dem das BVerfG sinnigerweise Gefahrenabwehr gegenüber staatlichen Maßnahmen wie bei der Rasterfahndung entgegensetzt51, die latente Bedrohung durch den in länderübergreifenden Netzwerken verbundenen Terrorismus.52 Die von ihm ausstrahlende und regelmäßig unsichtbare Gefahr nimmt angesichts re-

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In diese Richtung auch Gusy (Fn. 18), S. 161, 180 f. H. Rossen-Stadtfeld, Beteiligung, Partizipation und Öffentlichkeit, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (Fn. 37), § 29 Rn. 77, 81, 89 ff., 93 („Zerfall einer autochthonen bürgerlichen Öffentlichkeit“), 104 ff. 49 Vgl. nur Sondervotum E. Haas, BVerfGE 115, 320 – präventive Rasterfahndung (371, 374 f.). 50 Ebenso Ziercke (Fn. 40), 23. 51 BVerfGE 115, 320 (350 f.); „private Stellen“ werden nur mittelbar als Schutzobjekt angesprochen. Wie hier ferner U. Sieber, Gefahren und Präventionsmöglichkeiten im Bereich der internationalen Organisierten Kriminalität, in: Ders. (Hrsg.), Internationale Organisierte Kriminalität. Herausforderungen und Lösungen für ein Europa offener Grenzen, Köln u. a. 1997, S. 269 (276 ff., 278). 52 Ziercke (Fn. 40), 23. 48

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ligiöser Auseinandersetzungen und erheblichen Migrationsdrucks auch in Deutschland ständig zu.53 Die Zentren dieser transnational verursachten, aber im Inland zu Aktionen drängenden Entwicklungen liegen vor allem in den Großstädten und deren Umland. Die Dynamik diffuser und fragmentierter Stadtentwicklung erzeugt soziale Konflikte, Gewalt und migrationsbedingte Kriminalität. Nicht von ungefähr gehen bereits ausländische Mitbürger auf Patrouille, um Jugendliche aus der eigenen Ethnie von Straftaten abzuhalten.54 Verbunden hiermit ist ein erneuter Strukturwandel der Öffentlichkeit, in dessen Verlauf sich eine für organisierte Kriminalität und terroristische Gewalttaten kennzeichnende Konfliktkultur55 entfaltet. Großstädte mutieren zu stabilitätspolitischen Risiken, wie aus berufenem Mund zu hören ist: „‚Verstädterung‘ der Armut, Obdachlosigkeit, rapide steigende Verbrechenshäufigkeit, Herausbildung von ‚Mega Slums , subkulturelle Milieus und Parallelgesellschaften mit spezifischen Wert- und Normvorstellungen“ seien deren Kennzeichen. Ein entwurzeltes Stadtproletariat würde deshalb als Rekrutierungsbasis für Terrorismus und Organisierte Kriminalität dienen.56



II. Gefahrenprävention als Antwort rechtsstaatlicher Freiheitssicherung 1. Abgrenzung der „Gefahrenabwehr“ von der „Gefahrenprävention“ Der aktive Rechtsstaat muss vor dem Hintergrund dieser Bedrohungslagen und stratifizierten, d.h. unter sich konfligierenden Freiheitserwartungen alle notwendigen Maßnahmen treffen und Instrumente einsetzen, die der Kriminalitätsverwirklichung steuern und in geeigneter Weise vorbeugen können. Wohlgemerkt geht es dabei nicht allein um (bekannt gewordene) Gefahren; soll Kriminalität in ihren Facetten und insbesondere die terroristische Bedrohung wirksam bekämpft werden, bedingt dies eine tatsachengestützte Risikoeinschätzung ___________ 53

Ziercke (Fn. 40), 23. R. Benda, Segmentierte Sicherheit, in: CD-Sicherheitsmagazin, 32. Jg. (2008), H. 1, S. 154 (157). 55 Vgl. zu dieser Bedeutungsschicht „politischer Kultur“ D. Gosewinkel/G. F. Schuppert (Hrsg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit. WZB-Jahrbuch 2007, Berlin 2008; R. Pitschas, Interkulturelles Sicherheitsmanagement – Polizeikooperation im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: integration, 24 Jg. (2001), H. 3., S. 289 (294 ff.). 56 Ziercke (Fn. 40), 23. 54

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hinsichtlich der noch ungewissen Bedrohungslage.57 Hierbei geht es nicht, wie das BVerfG mit Recht anmerkt58, um „Gefahrenabwehr“ im überkommenen polizeirechtlichen Verständnis, d. h. um eine Sachlage, bei der im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ohne Eingreifen des Staates ein Schaden für die Schutzgüter der Norm durch bestimmte Personen verursacht wird. Die Zielsetzung des polizei- und sicherheitsbehördlichen Handelns ist vielmehr präventiv; es geht um vornehmlich informationelle Vorfeldtätigkeit zur Straftatenverhütung i. S. umfassender Früherkennung und Frühwarnung mit der Maßgabe, Straftaten gar nicht erst entstehen zu lassen. In diesem Sinne angelegte „Vorfeldaufklärung“ bedeutet, so führt das Gericht im Urteil zur Online-Durchsuchung und im Anschluss an die Literatur59 zutreffend aus, eine spezifische „Gefahrenprävention“.60

2. Der Preis präventiver Freiheitssicherung: Übergang zum „Risikoschutz“ bei unklaren Sachlagen? Sicherheit in segmentierten Gesellschaften zu leisten, hat insofern ihren Preis: Wer vom Staat vor dem Hintergrund der skizzierten gesellschaftlichen Bedrohungslagen verlangt, umfassende Sicherheit zu gewährleisten sowie gleichheitsorientierten Schutz erwartet, muss dem Staat die Möglichkeit einräumen, auch „vor der Lage“ zu ermitteln, ab wann die Gewährleistungspflicht eingreift. Zwar ist völlige Sicherheit niemals erreichbar, doch muss derjenige die Sicherheitsrisiken umreißen dürfen, bei deren Eintritt eine konkrete Gefahr vorliegt. Der Preis der Sicherheit liegt deshalb letztlich darin, dass die Risiken der Kriminalität an ihren diversen Quellen vor dem Eintritt konkreter Gefahren

___________ 57

Ziercke (Fn. 40) 25; auch das BVerfG spricht vom „Risiko“, vgl. etwa BVerfGE 100, 313 (395); BVerfGE 110, 33 (56, 58 f.) – Zollkriminalamt – zum „Risiko einer Fehlprognose“ und BVerfGE 115, 320 (350, 362) zum „Risiko ... der Sammlung personenbezogener Daten auf Vorrat“ und zum „Risikoverdacht“; die Entscheidung zur Online-Durchsuchung (Fn. 35) räumt zwar evtl. auftretende – und d. h. Riskanz anzeigende – Ungewissheiten ein (Rn. 256), besteht aber zugleich auf „stets“ erforderlichen „tatsächlichen Anhaltspunkten“ (Rn. 255). 58 BVerfGE 110, 33 (55 f.); BVerfG NJW 2008, 822 ff. (Rn. 242, 246 ff.: Das Gericht spricht von „Gefahrenprävention“). 59 U. di Fabio, Gefahr, Vorsorge, Risiko: Die Gefahrenabwehr unter dem Einfluss des Vorsorgeprinzips, Jura 1996, 566 ff.; H.- H. Trute, Gefahr und Prävention in der Rechtsprechung zum Polizei- und Ordnungsrecht, DV Bd. 36 (2003), S. 501 ff.; R. Pitschas, Polizeirecht im kooperativen Staat. Der Schutz innerer Sicherheit zwischen Gefahrenabwehr und kriminalpräventiver Risikovorsorge, in: Ders. (Hrsg.), Kriminalprävention und „Neues Polizeirecht“ (Fn. 24), S. 241 (247 ff., 251 ff.) m. w. Nachw. 60 BVerfG NJW 2008, 822 (831 f., Rn. 246, 253, 256).

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und auch jenseits eines bloßen Gefahrenverdachts61 im Wege der „Verdachtsgewinnung“62 sowie durch „Risikoprognosen“63 von der Polizei aufgespürt sowie einem Wahrscheinlichkeitsurteil über zu erwartendes Unheil unterworfen werden.64 Polizeirecht wird auf diese Weise, ob man das will oder nicht, zum „Risikorecht“. Die damit verbundenen Probleme sind offenkundig. Die Bindung des Polizeihandelns an das Recht sowie an Eingriffsschwellen ist Grundlage des freiheitlichen Rechtsstaates sowie der polizeilichen Tätigkeit: die „Gefahr“ bezeichnet stets eine gegebene Einschreitbefugnis. Wie aber sollen „Risiken“ in diese Bindung einbezogen werden? In den bereits oben genannten Entscheidungen des BVerfG hat diese Frage eine zentrale Rolle gespielt. So wirft das Gericht in seinen grundsätzlichen Aussagen zur Verfassungsmäßigkeit der präventiven Rasterfahndung65 die Problematik auf, ob der Einsatz dieser Fahndungsmethode überhaupt noch über einen tatsächlichen Anwendungsbereich verfügt, wenn man mit dem Gericht hierfür „hinreichend fundierte konkrete Tatsachen“ verlangt – die zu liefern der Risikoschutz in aller Regel nicht leisten kann. In seiner „Online-Entscheidung“ unterstreicht das Gericht diesen Standpunkt noch, indem es zwar einräumt, dass es „nicht gelingen“ könnte, „speziell auf im Vorfeld tätige Behörden zugeschnittene gesetzliche Maßgaben für den Eingriffsanlass zu entwickeln“66, zugleich aber darauf verweist, dass „selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung ... auf das Erfordernis einer hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit nicht verzichtet werden“ kann.67 Darin liegt eine gewisse Widersprüchlichkeit! „Risikoschutz“ ist eben mit der Forderung nach „tatsächlichen Anhaltspunkten einer konkreten Gefahr“68 nicht vereinbar. ___________ 61 Dazu BVerwG DVBl. 2002, 1562; V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Aufl., Göttingen 2001, Rn. 155; W.- R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2007, Rn. 83 ff. 62 So auch W. Brugger, Freiheit und Sicherheit, Baden-Baden 2004, S. 98 f.; Bull (Fn. 6), 19; der Unterschied zur „Gefahrenforschung“ – dazu Schenke (Fn. 61), Rn. 86 ff. – liegt auf der Hand: diese setzt eine konkrete Gefahr voraus; zur Terminologie allgemein E. Denninger, Polizeiaufgaben, in: v. Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, S. 299 ff. (insbes. Rn. 187). 63 Vgl. Anm. 57. 64 Di Fabio (Fn. 59), 570; R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, München 1990, S. 271 f. 65 BVerfG 115, 320 (355 f., 363: „Eingriffschwelle ... darf aber die einer konkreten Gefahr nicht unterschreiten“). 66 A. a. O. (Fn. 60), Rn. 256. 67 A. a. O. (Fn. 60), Rn. 245. 68 Anders aber wohl BVerfGE 100, 313 – Bundesnachrichtendienst (395: „in gewissem Umfang verdichtete Umstände“).

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Zu vermerken bleibt indes, dass in beiden sowie in den weiteren schon genannten Entscheidungen aus jüngerer Zeit69 richtigerweise die „Gefahrenprävention“ nunmehr endgültig von der „Gefahrenabwehr“ unterschieden und damit „altes“ Polizeirecht verabschiedet wird. Der Erforderlichkeit präventiver Vorfeldtätigkeit von Polizei- und Sicherheitsbehörden verschließt sich denn auch im informationstechnischen Bereich das BVerfG nicht. Es anerkennt m. a. W. die Bedeutung entsprechender polizeilicher Tätigkeit im Gesamtsystem der Kriminalprävention.70 Unklarheiten bestehen allerdings noch über die Verbindung der Gefahrenprävention mit dem „Risikoschutz“.

3. Gefahrenprävention als Risikoschutz vor terroristischer Kriminalität Von Teilen der Literatur wird jedenfalls die präventive Vorfeldtätigkeit noch immer als Abwehr allgemein bestehender Gefahren verstanden.71 Dem ist jedoch nicht zu folgen. Straftatenverhütung und Verfolgungsvorsorge, also Präventionsaufgaben der Polizei nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht und bei der Strafverfolgung verfügen jeweils über eigenständige Strukturen und Komponenten. Dementsprechend ist auch die Straftatenverhütung („Gefahrenprävention“) von der Gefahrenabwehr sorgsam zu unterscheiden.72 Dazwischen liegt der sog. Gefahrenverdacht: Kann eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts, also eine „Gefahr“ nicht bejaht werden, deuten jedoch gleichwohl Indizien auf eine, obschon entfernte Schadensmöglichkeit hin, spricht man vom Gefahrenverdacht.73 Dieser bildet eine eigenständige Eingriffsschwelle unterhalb des wahrscheinlichen Schadenseintritts, setzt aber die Existenz einer „Gefahr“ voraus. Der Verdacht ist zugleich von der Besorgnis zu trennen, dass zu irgendeinem späteren Zeitpunkt eine Gefahrenlage eintreten könnte.74 Als qualifizierte Vermutung verweist sie nicht auf eine Gefahr, sondern sie erfordert eine „Risikoprognose“, bezieht sich also auf ein Risiko des Gefahreneintritts, für den im Hinblick auf einen möglicherweise schädigenden Kausalverlauf eben noch kei___________ 69

Resümierend insoweit BVerfG NJW 2008, 822 zur Online-Durchsuchung. Ein langer Weg dahin von BVerfGE 65, 1 ff. 71 Siehe etwa F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl., München 2007, Rn. 15. 72 So auch M. Möstl, Die neue dogmatische Gestalt des Polizeirechts – Thesen zur Integration eines modernen informationellen Vorfeldrechts in das klassische rechtsstaatliche Gefahrenrecht, DVBl 2007, 581 ff. 73 Vgl. Anm. 61. 74 So Di Fabio (Fn. 59), 570; die „Besorgnis“ ist also mehr als eine „diffuse Vermutung“ (zu dieser vgl. BVerfG NJW 2008, 822, 831, Rn. 250), aber weniger als eine Tatsachenbasis. 70

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ne tatsächlichen Anhaltspunkte vorliegen.75 Im Ergebnis bedeutet deshalb polizeiliche Vorfeldaufklärung durch Gefahrenprävention, dass ohne tatsächliche Anhaltspunkte für einen schädigenden Kausalverlauf gehandelt wird. Oder m. a. W., im Risikoschutz, der bei der Terrorabwehr lebenswichtig ist, liegt in der Tat eine Entgrenzung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs. Das BVerfG will demgegenüber auf tatsächliche Anhaltspunkte für die Verdachtsgewinnung und damit auf das Erfordernis einer gesicherten Eintrittswahrscheinlichkeit des prognostizierten Schadens nicht verzichten. In der „Online-Entscheidung“ hat es deshalb präzise Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die Tatsachenbasis der Besorgnis („Prognose“) formuliert. Auf keinen Fall, so meint das Gericht, seien polizeiliche Eingriffe im Vorfeldstadium hinnehmbar, „wenn nur ein durch relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren gekennzeichnetes Geschehen bekannt ist“.76 Allerdings werden dadurch nicht alle Vorfeldeingriffe ausgeschlossen: Ein solcher kann nach Ansicht des BVerfG bereits dann gerechtfertigt sein, „wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr schon in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. Die Tatsachen müssen zum einen den Schluss auf wenigstens nach seiner Art konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest soviel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann.“77

An dieser Aussage irritiert, dass sie den Gefahrenbegriff mit der Besorgnis des Bestehens eines Risikos vermengt. Auch im Übrigen überzeugen die Ausführungen nicht in jeder Hinsicht. Zumal was die kriminelle Kommunikation78 anbelangt, lassen nicht immer schon bestimmte Tatsachen die im Einzelfall drohende Gefahr aus den einsehbaren Informationen erschließen. Statt dessen kommt es entscheidend auf die Aufdeckung spezifischer Informationen an. Wer gleichwohl „tatsächliche Anhaltspunkte“ einer konkreten Gefahr (für ein überragend wichtiges Rechtsgut) verlangt, sondert von vorneherein bestimmte (heimliche) Ermittlungsmaßnahmen aus dem Kreis der Versuche, „vor die La-

___________ 75

„Vermutungen“ reichten jedoch nicht, wie das BVerfG (Fn. 74) meint. A. a. O. (Fn. 74), Rn. 253. 77 A. a. O. (Fn. 74), Rn. 251: „Zeitgerechtigkeit“ wird auf diese Weise zum Handlungsmaßstab; vgl. dazu Pitschas (Fn. 37), Rn. 139 ff. 78 Zu den darauf bezogenen Regelungen s. vor allem M. Albers, Die Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Straftatenverhütung und der Verfolgungsvorsorge, Berlin 2001, S. 131 ff., 276 ff., 312 ff. 76

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ge“ zu kommen, aus. Risikoinformationen sind nun einmal durch Ungewissheit gekennzeichnet.79 Dem Rechtsstaat freilich dienen solche Eingrenzungen allemal. Das BVerfG lässt darüber hinaus einen Umweg zur Erlangung der verdeckten Informationen zu, wenn es allgemein auf bestimmte Tatsachen verweist, „die eine Gefahrenprognose tragen“ könnten – obwohl „Vermutungen oder allgemeine Erfahrungssätze allein“ als nicht ausreichend erkannt werden.80 Konkrete Ausgangspunkte im Tatsächlichen für anschließende Informationsermittlungen lassen sich m. a. W. in zulässiger Weise auch außerhalb der verdeckten („geheimen“) Informationsgesamtheit ausmachen.

4. Im Mittelpunkt: eigenständige polizeiliche Informationstätigkeit Wie bereits angeklungen ist, bildet die vorbeugende Information das wichtigste Instrument der Gefahrenabwehr und Gefahrenprävention. Deshalb gehört heute die eigenständige polizeiliche Informationsvorsorge zu den zentralen Instrumenten der Bekämpfung krimineller Kommunikation und kriminellen Handelns.81 Nur auf der Grundlage eines engmaschig geknüpften und breit angelegten Informationsnetzwerkes kann auf die oben skizzierten transnationalen Bedrohungslagen und kriminellen Risiken zeitgerecht reagiert werden. Die Organisation des polizeilichen Wissens gehört damit zu den herausragenden Ansatzpunkten erfolgreicher Terrorismusabwehr. Das BVerfG hat deshalb zu Recht judiziert, der Zugriff auf informationstechnische Systeme – auch und gerade für die Abwehr terroristischer Angriffe die herausragende Erkenntnisquelle – sei schon dann gerechtfertigt, „wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr schon in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut“ hinweisen würden.82 In der Tat kommt zumal bei der Terrorismusabwehr die besondere Nutzungsqualität der Sammlung polizeilicher Informationen zu Zuge: Werden sie vernetzt, dann lassen sich unbestritten strategische Planungen organisierter Kriminalität oder auch Planungen terroristischer Anschläge sowie die möglichen Ziele deren Ausführung erkennen. Die Bundesregierung Deutschlands hat ___________ 79 Darauf weist auch Ziercke hin (Fn. 40), 25; vgl. ferner den Hinweis von Ladeur (Fn. 34), auf die „riskanten Netzwerken inhärenten Bedrohungspotentiale“ (S. 8). 80 Anm. 74. 81 Albers (Fn. 78); F.-L. Knemeyer, FS W. Rudolf, Berlin 2001, S. 483 ff.; Möstl (Fn. 72), passim; R. Pitschas, Verbrechensbekämpfung durch polizeiliche Informationsvorsorge, in: Ders. (Hrsg.),Speyerer Arbeitshefte Nr. 121, 1999, S. 65 ff. 82 BVerfG NJW 2008, 822 – Online-Durchsuchung (831, Rn. 251).

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aus dieser Erkenntnis gelernt. Dem Ziel der Informationsvernetzung dient die eingerichtete Anti-Terror-Datei, die Informationen unterschiedlichster Sicherheitsbehörden auf gesetzlicher Grundlage in einem „Informationsboard“ zusammenführt.83 Selbstverständlich wird auch dadurch das ambivalente Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit berührt. Schon das im Jahr 1984 für die deutsche Rechtslage vom BVerfG entwickelte Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) hatte insoweit der Datensammlung und -verknüpfung unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten rechtsstaatlich enge Grenzen gezogen.84 Die „Online“-Entscheidung des BVerfG verweist aber nunmehr und kaum mit Recht darauf, dass der in dem heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System liegende Grundrechtseingriff „im Rahmen einer präventiven Zielsetzung angesichts seiner Intensität nur dann dem Gebot der Angemessenheit“ entspräche, „wenn bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen“ würden.85 Allerdings bleibt es, wie schon bei der Definition des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das Gericht, angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen der Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz und dem Interesse des Einzelnen an Geheimhaltung seiner (evtl. höchstpersönlichen) Informationen rechtsstaatlich zulässig, der Reichweite zu schützender Informationen auch im Kernbereich persönlicher Freiheit letzte Grenzen zu ziehen. Darauf ist oben bereits hingewiesen worden.86 Ein solcher Schritt würde eine gesetzliche Grundlage und ferner voraussetzen, dass der Grundrechtsschutz für den Betroffenen durch geeignete Verfahrensvorkehrungen zu sichern ist. Alles dies sind rechtsstaatliche Rahmenbedingungen des heimlichen Zugriffs auf die vertraulich in einem informationstechnischen System gespeicherten Daten. Sie zählen zum Datenschutz und dienen der informationellen „Selbstbestimmung“. Deshalb erheben sich große Zweifel, ob die weitere Ableitung eines eigenständigen „Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)

___________ 83 Gesetz zur Errichtung einer standardisierten zentralen Antiterrordatei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern vom 22.12.2006 (BGBl. I 34 09). 84 M. Albers, Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (Fn. 37), § 22 (Rn. 58 ff.); F. Schoch, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, JURA 2008, S. 352 ff.; Scholz/Pitschas (Fn. 20), S. 135 ff., 157 ff., 184 ff. 85 A. a. O. (Fn. 82), Rn. 242; krit. demgegenüber auch Ladeur (Fn. 34). 86 Anm. 41.

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tatsächlich unabweisbar war.87 Der Verdacht ist nicht von der Hand dass sich das BVerfG einer solchen Ableitung bedient hat, um die mene „Leader“-Position gegenüber dem Gesetzgeber mit Blick auf gesetzliche Funktionenverteilung verfassungsrechtlich angemessen zu können.

zu weisen, eingenomdie grundbegründen

III. Mehr Staat durch informationelle Gefahrenprävention – mehr Sicherheit? 1. Ausbau der Informationskapazitäten des Staates im Bereich innerer Sicherheit Es liegt auf der Linie der hiesigen Überlegungen zur informationellen Gefahrenprävention, wenn in Deutschland zunehmend versucht wird, bekannte Instrumente des repressiven Polizeihandelns wie z. B. die Video-Überwachung, die akustische Wohnraumüberwachung („Lauschangriff“) oder auch die Rasterfahndung durch generalklauselartige Polizeigesetzgebung in Richtung von Vorfeldermittlungen zu entwickeln.88 Die Video-Überwachung wird dann dort eingesetzt, wo die Begehung von Straftaten vermutet wird; sie mutiert zum Mittel der Straftatenverhütung, erweist sich aber auch und vor allem bei der Terrorismusbekämpfung als ein Instrument der Verfolgungsvorsorge. Gleiches gilt für die präventive Rasterfahndung. Es ist verständlich, wenn das BVerfG dem rechtsstaatliche Grenzen zu ziehen versucht. Auch aus kriminologischer Sicht ist vor einer voreiligen institutionellen Ausweitung der präventiven Institutionen zu warnen: Mehr Sicherheitsorganisation und mehr verfahrensmäßige Vernetzung von Präventionsanstrengung generieren noch kein Mehr an Sicherheit. Prävention bleibt zu ihrem größten Teil auf den Einsatz sozialer Kompetenzen sowie auf Akzeptanz ihrer Instrumente gegründet. Das wird durch Organisations- und Verfahrensentwicklung nur bedingt vermittelt. Der Prävention geht es vielmehr um gesellschaftliches „Lernen“, nicht in erster Linie um sicherheitsbehördliches Handeln.89 ___________ 87

Vgl. nur den vorsorglichen Hinweis bei Albers (Fn. 84) zu BVerfGE 65, 1 ff., das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei keine „Erfindung“ des Gerichts (Rn. 61); die Bemerkung verfehlt jedoch das eigentliche Problem, vgl. dazu im hiesigen Text oben und zu Anm. 20. 88 Dazu siehe die Rechtsgrundlagen, die in den einschlägigen Entscheidungen des BVerfG (Fn. 27 – 32) auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand gestellt wurden. Zur Videoüberwachung von Kriminalitätsschwerpunkten vgl. überdies P. Collin, JuS 2006, 494 ff. 89 H. J. Schneider, Neue Wege der Kriminalitätskontrolle, Universitas 1999, S. 819 ff.

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2. Nationale Zentralisierung der Präventionskompetenzen versus Dezentralisierung Von daher ist im Ausgangspunkt der in Deutschland derzeit wahrnehmbare Trend zur Zentralisierung von Polizeiaufgaben durch „Hochzonung“ kritikwürdig. „Vor Ort“ ist der Erfolg der „alten“ Prävention erreicht worden und „vor Ort“ wurden die Bombenkoffer der neuen Terroristen gefunden. Dadurch sollte allerdings die sinnvolle Zentralisierung der Präventionskompetenzen nicht ausgeschlossen werden. Um Strukturen zu ermitteln und aufzudecken, waren deshalb bereits die überkommenen Präventionsanstrengungen bemüht, organisierte Kriminalität zentral zu bekämpfen – etwa durch Internationalisierung im Wege der Verbesserung grenzüberschreitender Kooperation und Begründung supranationaler Behörden wie z. B. EUROPOL. Auch die Bekämpfung des Terrorismus wird von der Notwendigkeit solcher Koordination der nationalen Anstrengungen durch supranationale und internationale Zusammenarbeit begleitet.90 Zudem verstärkt die Koordination der unterschiedlichen Sicherheitsbehörden den Bedarf nach zentraler Steuerung. Die Einrichtung des Gemeinsamen Anti-Terror-Zentrums in Berlin macht deshalb Sinn; fragwürdig ist allein die noch ausstehende gesetzliche Absicherung, wie sie der institutionelle Gesetzesvorbehalt erfordert.91

3. Rechtssatzmäßige Entfaltung der Gefahrenprävention Unabhängig davon wird man sich aber auch in Deutschland künftig darauf einrichten müssen, dass Gefahrenprävention für Gleichheit und Sicherheit ohne vermehrte Eingriffe in die Freiheit der Bürger nicht mehr zu erbringen sein wird. Sie setzt deshalb i. S. der Rechtsprechung des BVerfG voraus, eine spezifische Präventionsgesetzgebung zu entwickeln, um die schon erwähnten „Befugnisschichten“ der Straftatenverhütung und Verfolgungsvorsorge92 rechtsstaatlich zu „verfassen“. Nur auf diese Weise vermag, ähnlich wie bei der überkommenen Gefahrenabwehr durch die Polizei, das Präventionshandeln adäquat rechtsstaatlich gesteuert zu werden. Zentraler Regelungsgegenstand der rechtsstaatlich gebotenen Einhegung namentlich informationeller Vorfeldbefugnisse ist die „Gefahrenprognose“. Sie ___________ 90

Ziercke (Fn. 40), 24, 25. V. Mehde, Terrorismusbekämpfung durch Organisationsrecht, JZ 2005, 815 ff.; C. Ohler, Der institutionelle Vorbehalt des Gesetzes, AöR Bd. 131 (2006), S. 336 ff.; M. A. Zöller, Der Rechtsrahmen der Nachrichtendienste bei der „Bekämpfung“ des internationalen Terrorismus, JZ 2007, 763 (767 f.). 92 Möstl (Fn. 72), 584. 91

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beruht auf dem Leitbegriff der Risikovorsorge, der dem Gefahrenbegriff im „alten“ Polizeirecht nunmehr zur Seite steht. Insofern wird vorgeschlagen, in der künftigen Sicherheitsgesetzgebung auf eine erhöhte abstrakte Besorgnis abzustellen, wobei zwischen konkreten und allgemeinen Anhaltspunkten zu unterscheiden wäre: Die konkrete Besorgnisprognose soll sich auf einen vermuteten Kausalverlauf beziehen, freilich ohne den Wahrscheinlichkeitsgrad der konkreten Gefahr zu erreichen. Die darauf gestützte Verdachtannahme berechtigt dann die Polizei zu spezifischen Erforschungsmaßnahmen. Bei der abstrakten Besorgnis fehlt es dagegen an einem solchen gedachten Kausalverlauf; es müssen Lageerkenntnisse vorliegen, die den Verdacht bereits auf bestimmte Personen lenken. Bei alledem ist im Einzelfall das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Komplexmaßstab fruchtbar zu machen.93

4. Gefahrenprävention im europäischen Sicherheitsverbund Auch auf europäischer Ebene wird seit einiger Zeit und namentlich seit dem 09.11.2001 dem Problemzusammenhang von Kriminalprävention und öffentlicher Sicherheit ein hoher Stellenwert beigemessen. Art. 61 lit. a EGV bildet den gemeinschaftsrechtlichen Ansatzpunkt hierfür. Er sieht zum schrittweisen Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vor, dass der Rat einzelne Maßnahmen zur Verhütung spezifischer Kriminalität erlässt. In diesem Sinne fördern bereits derzeit das Gemeinschaftsrecht und in dessen Anwendung auch die Europäische Kommission die Prävention als eine gemeinschaftliche Aufgabe. Unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsgrundsatzes ist damit institutionell der Aufbau eines europäischen Netzwerkes der Kriminalprävention angestrebt.94 Als weiterer Akteur in diesem Feld der Kriminalpolitik auf europäischer Ebene hat sich der Europarat zu Wort gemeldet. Er plädiert für den Abschluss grenzüberschreitender Präventionsabkommen – auch mit den neuen Mitgliedstaaten. Wie die Kommission zuvor, weist er zudem den Gemeinden und Regionen eine Schlüsselrolle für die Kriminalitätsverhütung zu.95

___________ 93

Vgl. auch Di Fabio (Fn. 15), 424 r. Sp. M. Baldus, Polizeiliche Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: M. H. W. Möllers/R. Chr. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2004/2005, 2005, S. 383 ff.; J. Hecker, Die Europäisierung der inneren Sicherheit, DÖV 2006 ff.; R. Pitschas, Netzwerke der europäischen inneren Sicherheit, in: R. Pitschas/R. Stober (Hrsg.), Kriminalprävention durch Sicherheitspartnerschaften, Köln u. a. 2000, S. 1 ff. 95 Dazu näher H. Risch, Die deutsche Polizei und Europa, 1997, S. 33 f. 94

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5. Insbesondere: Anti-Terrormaßnahmen der Europäischen Union Speziell zur Terrorismusabwehr hat darüber hinaus die EU die Initiative ergriffen und ein Strategiekonzept vorgelegt, das in einer Reihe von Dokumenten seit dem Jahr 2001 entfaltet worden ist.96 Ein erster Schritt war dabei der Entwurf einer europäischen Sicherheitsstrategie in Verbindung mit der Ausformulierung finanzierungsbezogener Anteile. Als zweiter Schritt ist das sog. „Haager Programm“ im Jahr 2004 zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Gemeinschaft zu nennen.97 Darüber hinaus und drittens ist das Konzept der europäischen Sicherheitsstrategie um ein spezifisches Strategem zur Bekämpfung der Finanzierung und Terrorismus erweitert worden, in dessen Mittelpunkt die Festlegung von Verfahrensabsprachen zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft steht.98 Ein vierter Schritt bestand in der Entwicklung eines Gemeinsamen Standpunktes zu der Verlautbarung einer Liste von Personen, deren Freizügigkeit im Raum der Freiheit und Sicherheit Europas beschränkt werden darf.99 Hierzu ist ein spezifisches Verfahren vorgesehen. Schließlich und fünftens wurde im April 2005 ein Strategieelement zur Bekämpfung der Anwerbung für den Terrorismus über das Internet entwickelt („Check the Web“). Alle diese Elemente und Teil-Strategien sind Ende 2005 in einer allgemeinen Partnerschaft der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung des Terrorismus zusammengeführt worden.100 Ein Bestandteil dessen ist die institutionelle Ausweitung der Akteure zur Terrorismusabwehr. So wurde im Sekretariat des Europäischen Rates ein „Lagecenter“ zum Austausch der anfallenden Informationen geschaffen. Der Koordinator dieses Centers ist dem Außenminister „unterstellt“. Er sorgt für die Implementierung der strategischen Empfehlungen für die Mitgliedstaaten sowie für die Unterstützung einer „Gemeinsamen Ermittlungsgruppe“, die auf Beschluss des Europäischen Rates („Rahmenbeschluss“) im Jahr 2002 gebildet worden ist. Außerdem wurde mit der „Frontex“ eine spe___________ 96 Ein guter Überblick jeweils bei D. Al-Jumaili, New York, Brüssel, Berlin – Stationen im Kampf gegen die Terrorismusfinanzierung, NJOZ 2008, 188 ff.; St. Lorenzmeier, Der Rahmenbeschluss als Handlungsform der Europäischen Union, ZIS 2006, 506 ff. 97 Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung v. 13.06.2002, 2002/475/JL, ABl. EG v. 22.6.2002, Nr. L 164, S. 3; KOM (2004) 409 endg., v. 08.06.2004. 98 Vgl. Al-Jumaili (Fn. 96), S. 199 f. 99 Gemeinsamer Standpunkt v. 27.12.2001 und VO 2580/2001 v. 27.12.2001 (ABl. EG L 344/70 v. 28.12.2001; die Liste wird seitdem durch den Rat mindestens halbjährlich aktualisiert; zur Kontrollproblematik s. Nachw. zur Rspr. des EuG bei Al-Jumaili (Fn. 96), 200 f. 100 Zu den „Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Antiterrorpolitik“ vgl. im Übrigen den gleichnamigen Beitrag von C. Gusy, in: M. Zuleeg (Hrsg.), Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Baden-Baden 2007, S. 61 ff.

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zielle Außengrenzenagentur eingerichtet. Darüber hinaus existiert ein spezielle Arbeitsgruppe „Terrorismus“ beim Rat. Mit diesen und weiteren Aktivitäten sind zahlreiche Legitimations- und Rechtsschutzprobleme verbunden, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.101 Im Übrigen sorgt im Raum des Gemeinschaftsrechts die Generaldirektion „Justiz und Inneres“ innerhalb der Kommission unter Beachtung der Souveränität der Mitgliedstaaten für den Schutz kritischer Infrastrukturen im Rahmen der sog. Dritten Säule des Gemeinschaftsvertrags.

IV. Zusammenfassung Die Analyse der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die verfassungsgerechte Zuordnung von Freiheit und Sicherheit im nationalen und supranationalen Rahmen offenbart eine gewisse überschießende Tendenz bzw. ein unerträgliches Freiheitspathos, das den Differenzierungsbedürfnissen rechtsstaatlicher Einhegung der Terrorismusabwehr zuwiderläuft. Die Diskussion bedarf deshalb einer Neurausrichtung, in deren Verlauf die empirischen und rechtsdogmatischen Grundlagen gegenwärtiger Aussagen in Literatur und Rechtssprechung überprüft werden sollten. Dabei ist von einer bedrohungsgerechten Situationsanalyse einerseits, von einem differenzierten Freiheitskonzept des Rechtsstaats andererseits in Bezug auf die rechtsförmliche Freiheitssicherung auszugehen. Letztlich hat auch das BVerfG in einer Reihe jüngerer Entscheidungen diesen Weg gewählt. Freilich hat es sich noch nicht zur Anerkennung einer eigenständigen dogmatischen Grundlage für die Gefahrenprävention als Schutz vor terroristischen Risiken durchringen können. Hierfür dürften die undeutlichen Folgen einer rechtsstaatlich nur schwer erträglichen Bezugnahme auf risikotheoretische Annahmen verantwortlich zeichnen. Doch führt kein Weg daran vorbei, dass mit der bisherigen Dogmatik des Gefahrenabwehrrechts eine in Zeiten des Terrorismus allein Erfolg versprechende Straftatenverhütung und Strafverfolgungsvorsorge nicht zu bewirken ist. Namentlich die informationelle Gefahrenprävention leidet unter den damit verbundenen verfassungsgerichtlichen Restriktionen. Es steht deshalb zu erwarten, dass in einer weiteren Phase der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die notwendigen Ansatzpunkte für ein „neues“ Polizeirecht formuliert werden. Einige Erkenntnisse dafür will der hiesige Beitrag vermitteln.

___________ 101

Dazu jedoch Gusy (Fn. 100), S. 70 ff.

Mehr europapolitischer Einfluss der deutschen Länder? Die Umsetzung des Vertrages von Lissabon in Deutschland Von Adelheid Puttler, Bochum

I. Neue Einflussmöglichkeiten auf die europäische Rechtsetzung durch den Vertrag von Lissabon Der Vertrag von Lissabon (VL)1 wird in den bestehenden EU-Vertrag und den EG-Vertrag Regelungen einfügen, die erstmals in der Geschichte der Europäischen Union direkte Beziehungen zwischen der EU und den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten herstellen und die nationalen Parlamente zumindest punktuell am Rechtsetzungsverfahren auf europäischer Ebene teilhaben lassen. Es handelt sich dabei um das Rüge- und Klagerecht der nationalen Parlamente im Rahmen des Frühwarnsystems zur Subsidiaritätskontrolle sowie um das Vetorecht der nationalen Parlamente beim neuen vereinfachten Vertragsänderungsverfahren in Anwendung von Brückenklauseln. Über den Bundesrat können sich dadurch auch den deutschen Ländern neue Einflussmöglichkeiten auf die europäische Rechtsetzung eröffnen. Allerdings überlässt das Europarecht es der innerstaatlichen Umsetzung, wie die Rechte der nationalen Parlamente im Einzelnen ausgestaltet werden. Es räumt dabei den Mitgliedstaaten einen großen Spielraum ein. Im Folgenden soll die Umsetzung dieser neuen vertraglichen Rechte im deutschen Grundgesetz und im Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon untersucht und danach gefragt werden, ob und inwieweit der europapolitische Einfluss der deutschen Länder dadurch gestärkt wird. Dazu sollen nach einem Blick auf die Bemühungen der Länder um Ausgleich für ihre Verluste an politischer Gestaltungsmacht durch die europäische Integration (II.) die neuen Kontroll- und Mitwirkungsrechte für nationale Parlamente im Vertrag von Lissabon vorgestellt und ihre Umsetzung in deutsches Recht untersucht werden (III.). Zunächst werden Entwicklung und Zielsetzung ___________ 1 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13.12.2007, ABlEU 2007 C Nr. 306/1.

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des VL in Erinnerung gerufen und die Gründe für die Einführung der neuen Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente angesprochen (III. 1. und 2.), bevor auf die Rechte im Einzelnen eingegangen wird (III. 3.). Die europarechtlichen Regelungen und ihre jeweilige Umsetzung ins deutsche Recht werden dabei jeweils im Hinblick auf ihre Wirkungen für den Bundesrat und für die einzelnen Länder untersucht. Eine Bewertung schließt die Ausführungen ab (IV.).

II. Gestaltungsverlust der Länder und Bemühungen um Ausgleich Die deutschen Länder bemühen sich seit Jahren um mehr Einfluss auf die Entscheidungen europäischer Institutionen. Denn je mehr die europäische Integration voranschreitet, desto mehr verlieren die deutschen Länder an Eigenständigkeit und politischer Gestaltungsfreiheit. Erstens kann der Bund nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG auch solche Kompetenzen auf die EU und ihre Gemeinschaften übertragen, die nach den Verteilungsregeln des Grundgesetzes den Ländern vorbehalten sind.2 Zweitens sind die Länder im Rahmen ihrer Gesetzgebungszuständigkeiten auch zur Umsetzung von EG-Richtlinien in Landesrecht3 und im Rahmen ihrer Verwaltungszuständigkeiten zur Durchführung von unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht4 verpflichtet. Drittens schließlich müssen die Länder auch bei ihrer Haushaltswirtschaft die Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft berücksichtigen.5 Um einen gewissen Ausgleich für diese Gestaltungsverluste zu erreichen, haben sich die Länder daher in der Vergangenheit auf der Ebene des deutschen Rechts um Mitspracherechte bei weiteren Kompetenzübertragungen und um Mitwirkungsrechte bei der Entwicklung europapolitischer Positionen des Bundes bemüht. Im 1992 im Rahmen der Zustimmung zum Vertrag über die Europäische Union6 neu eingefügten Art. 23 GG wurden erstmals entsprechende Rechte in der Verfassung verankert. Dabei ___________ 2 S. Art. 23 Abs. 5 S. 2 und Abs. 6 S. 1 GG, die die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder ausdrücklich erwähnen; Ondolf Rojahn, in: Ingo von Münch (Begr.)/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 4. Aufl., 2001, Art. 23 Rn. 42 und Art. 24 Rn. 23; Rudolf Streinz, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., 2007, Art. 23 Rn. 55. 3 Ausführlich Christian Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001. 4 Rudolf Streinz, Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch deutsche Staatsorgane, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 182 Rn. 44 f.; s. auch Art. 10 Abs. 3 Einigungsvertrag. 5 So nunmehr ausdrücklich Art. 109 Abs. 5 S. 1 GG. 6 Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992, ABlEG 1992 C Nr. 191/1, in Kraft getreten am 1.11.1993 (auch als „Vertrag von Maastricht“ bezeichnet).

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handelt es sich allerdings nicht um Rechte einzelner Länder; die Länder werden vielmehr durch den Bundesrat mediatisiert.7 Parallel zu den Bemühungen um Mitwirkungsrechte auf deutscher verfassungsrechtlicher Ebene setzen sich die deutschen Länder – teilweise in Zusammenarbeit mit regionalen Untergliederungen anderer Mitgliedstaaten8 – seit Jahren auch auf europäischer Ebene für Mitspracherechte der Regionen und Berücksichtigung ihrer Belange ein.9 Als Ergebnisse dieser Bemühungen sind u. a. der Ausschuss der Regionen10 und das Subsidiaritätsprinzip11 zu verzeichnen, die durch den Vertrag von Maastricht12 geschaffen und in den vertraglichen Grundlagen der Union verankert wurden. Ein weiterer Schwerpunkt der Europapolitik der deutschen Länder liegt im Bemühen um eine klarere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union auf der Grundlage des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Damit im Zusammenhang steht die Forderung nach einer besseren Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, von dem sich die Länder eine kompetenzbegrenzende Wirkung und damit Schutz vor ausufernder Inanspruchnahme von Gemeinschaftszuständigkeiten erhoffen. Der Vertrag von Lissabon trägt diesen Forderungen mit dem Frühwarnsystem zur Subsidiaritätskontrolle und Beteiligungsrechten der nationalen Parlamente bei vereinfachten Vertragsänderungsverfahren zum Teil Rechnung.

___________ 7

Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG (Hoheitsrechtsübertragung durch zustimmungsbedürftiges Gesetz mit verfassungsändernden Mehrheiten) und Art. 23 Abs. 2 sowie Abs. 4 bis 6 GG (Mitwirkungsrechte des Bundesrates). 8 Zu den Aktivitäten der Regionen mit eigenen Gesetzgebungsbefugnissen s. die Internetseite des informellen Netzwerks REGLEG www.regleg.org; Andreas Kiefer, Informelle effektive interregionale Regierungszusammenarbeit: REGLEG – die Konferenz der Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen und ihre Beiträge zur europäischen Verfassungsdiskussion 2000 bis 2003, Jahrbuch des Föderalismus 2004, 398 ff. 9 S. dazu nur Hans Eberhard Birke, Die deutschen Bundesländer in den Europäischen Gemeinschaften, 1973; Michael Borchmann, Doppelter Föderalismus in Europa – Die Forderungen der deutschen Länder zur politischen Union, Europa-Archiv 1991, 340 ff.; Rudolf Hrbek, Die Auswirkungen der EU-Integration auf den Föderalismus in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte B 24/97, S. 12 ff.; Rudolf Hrbek/Martin Große Hüttmann, Von Nizza über Laeken zum Reform-Konvent: Die Rolle der Länder und Regionen in der Debatte zur Zukunft der Europäischen Union, Jahrbuch des Föderalismus 2002, S. 577 ff. 10 Art. 198a bis 198c EG-Vertrag (nunmehr Art. 263 bis 265 EG). 11 Art. B Abs. 2 EU-Vertrag, Art. 3b Abs. 2 EG-Vertrag (nunmehr Art. 2 Abs. 2 EU, Art. 5 Abs. 2 EG). 12 S. oben Fn. 6.

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III. Die neuen Kontroll- und Mitwirkungsrechte für nationale Parlamente im Vertrag von Lissabon und ihre Umsetzung 1. Mehr demokratische Elemente im Vertrag von Lissabon Nachdem das ehrgeizige Ziel, mit einem Verfassungsvertrag die Europäische Union auf eine neue vertragliche Grundlage zu stellen, im Jahr 2005 an ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, machten die europäischen Staats- und Regierungschefs unter deutscher Präsidentschaft auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel im Juni 2007 einen neuen Anlauf. Sie beriefen eine Regierungskonferenz ein, die mit einem detaillierten Mandat ausgestattet13 den Text eines Reformvertrages ausarbeitete, der am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in einer feierlichen Zeremonie in Lissabon unterzeichnet wurde. Nach ihrem Willen sollen die erforderlichen Ratifikationsverfahren in den Mitgliedstaaten noch 2008 abgeschlossen werden, damit der Vertrag Anfang 2009 in Kraft treten kann.14 Der Reformvertrag (Vertrag von Lissabon – VL)15 greift im Wesentlichen auf die Bestimmungen des Verfassungsvertrages (VV)16 zurück, verzichtet aber auf alle Elemente mit Verfassungscharakter.17 So soll der VL die bestehenden Verträge nicht ersetzen, sondern die bestehenden Verträge nur ändern und dabei den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenennen. Zu den wichtigsten Zielen des VL gehört die Reform der Institutionen, die handlungsfähiger für die Herausforderungen einer erweiterten Union mit 27 Mitgliedstaaten gemacht werden sollen. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist die Stärkung der Akzeptanz der Union in den Mitgliedstaaten und bei den zunehmend euroskepti___________ 13 Europäischer Rat (Brüssel) vom 21./22.6.2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 11177/07, Ziff. 11 und Anlage I. 14 Europäischer Rat (Brüssel) vom 14.12.2007, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 16616/07, Ziff. 3. 15 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13.12.2007, s. oben Fn. 1. 16 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABlEU 2004 C Nr. 310/1. 17 Erste Analysen des Vertrages von Lissabon liefern u. a. Franz C. Mayer, Die Rückkehr der Europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zum Vertrag von Lissabon, ZaöRV 67 (2007), 1141 ff.; Thomas Oppermann, Die Europäische Union von Lissabon, DVBl 2008, 473 ff.; Hans-Jürgen Rabe, Zur Metamorphose des Europäischen Verfassungsvertrages, NJW 2007, 3153 ff.; Peter Schiffauer, Zum Verfassungszustand der Europäischen Union nach Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon, EuGRZ 2008, 1 ff.; Albrecht Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 ff.

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scheren Bürgern dadurch, dass die Entscheidungsabläufe in den Institutionen, insbesondere bei der Rechtsetzung, transparenter gemacht werden und das viel beklagte Demokratiedefizit durch eine Beteiligung auch der nationalen Parlamente an einigen Punkten des Rechtsetzungsprozesses abgemildert wird.

2. Erstmals vertraglich verankerte Beteiligung der nationalen Parlamente und damit auch des Bundesrates Zur Stärkung der Demokratie auf EU-Ebene will der VL erstmals Rechte der nationalen Parlamente auf Beteiligung am europäischen Rechtsetzungsprozess in den Verträgen verankern und damit direkte Rechtsbeziehungen zwischen den Organen der Union18 und den innerstaatlichen Parlamenten schaffen. Der EUVertrag in der Fassung des VL wird einen neuen Art. 12 erhalten, der den Beitrag der nationalen Parlamente hervorhebt („Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei …“) und ihre verschiedenen Rollen aufzählt. Dazu gehören u. a. ihre Unterrichtung durch die EU-Organe (Art. 12 lit. a n. F. EU), ihre Kontrollfunktion im Hinblick auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 12 lit. b n. F. EU) und ihre Beteiligung an den Verfahren zur Änderung der Verträge nach Art. 48 EU (Art. 12 lit. d n. F. EU). Der VL berücksichtigt dabei die Tatsache, dass nicht alle Mitgliedstaaten Parlamente mit einem Einkammersystem haben. In Mitgliedstaaten, in denen die Parlamente aus zwei Kammern bestehen, soll jede Kammer das entsprechende Recht besitzen, etwa das Recht zur Abgabe einer Stellungnahme oder ein Stimmrecht.19 Nachdem im deutschen parlamentarischen System Bundestag und Bundesrat in diesem Sinne zwei Kammern bilden, nimmt also auch der Bundesrat an diesen neuen Rechtsbeziehungen teil. Vermittelt durch ihn steigt auch der Einfluss der deutschen Länder auf die europäische Rechtsetzung.

3. Die neuen Mitwirkungsrechte im Einzelnen und ihre Auswirkungen auf den europapolitischen Einfluss der deutschen Länder An neuen Mitwirkungsrechten für nationale Parlamente enthält der VL Beteiligungsrechte im Rahmen des Frühwarnsystems zur Subsidiaritätskontrolle, ___________ 18 Gemäß Art. 1 Ziff. 2 b) VL tritt nach Art. 1 Abs. 3 S. 3 n. F. EU die Union an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist. 19 Vgl. Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, ABlEU 2007 C Nr. 306/1 (148), Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABlEU 2007 C Nr. 306/1 (150).

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die Rechte der Parlamente zu Subsidiaritätsrügen und Subsidiaritätsklagen umfassen. Neben dieser auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beschränkten Kontrolle über das Sekundärrecht räumt der VL den nationalen Parlamenten außerdem Mitwirkungsrechte bei der Änderung des Primärrechts ein. Bei vereinfachter Vertragsänderung durch Anwendung von Brückenklauseln erhalten die nationalen Parlamente Vetorechte, mit denen sie die betreffende Vertragsänderung verhindern können.

a) Frühwarnsystem zur Subsidiaritätskontrolle

aa) Unmittelbare Information von Bundestag und Bundesrat Der VL führt mit dem Frühwarnsystem einen neuartigen Kontrollmechanismus zur Gewährleistung der Befolgung des Subsidiaritätsprinzips ein und beteiligt damit erstmals die nationalen Parlamente an einem Teilbereich der europäischen Rechtsetzung. Der VL greift hierfür in Art. 5 Abs. 3 n. F. EU i. V. m. dem neuen Subsidiaritätsprotokoll20 auf die nahezu wortgleichen entsprechenden Bestimmungen des VV zurück.21 Nach Art. 5 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 n. F. EU achten die nationalen Parlamente auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Erstes Element des neuen Frühwarnsystems bildet die Pflicht der an der Rechtsetzung beteiligten europäischen Organe, also Kommission, Rat und Europäisches Parlament, die nationalen Parlamente über geplante Rechtsakte zu informieren und ihnen direkt entsprechende Entwürfe zuzuleiten.22 Diese gehen in Deutschland sowohl an den Bundestag wie auch an den Bundesrat.23 Zur innerstaatlichen Regelung der Ausübung der neuen Rechte von Bundestag und Bundesrat nach dem VL wurde ein Begleitgesetz24 erlassen, das im Wesentlichen ___________ 20 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Fn. 19). 21 Art. I-11 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 VV (Fn. 16) und Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABlEU 2004 C Nr. 310/1 (207). 22 Art. 4 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). 23 Dies ergibt sich aus Art. 8 i. V. m. Art. 2 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente (Fn. 19). 24 Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates aus dem Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft = Art. 1 Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Gesetzentwurf vom 11.3.2008 (BT-Drs 16/8489) wurde am 24.4.2008 vom Bundestag unverändert angenommen (Br-Drs. 277/08). Die Zustimmung des Bundesrates wurde am 23.5.2008 erteilt (BR-Plenarprotokoll 844).

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das im Zusammenhang mit dem VV beschlossene, aber nicht in Kraft getretene Begleitgesetz zum VV von 200525 übernimmt. § 1 Begleitgesetz VL überlässt den Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundestag die Regelung, wie die von den EU-Organen direkt zugeleiteten Dokumente dort jeweils weiter zu behandeln sind. Bereits seit September 2006 leitet die Kommission ihre Initiativen und Konsultationspapiere den nationalen Parlamenten zu und gibt ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme, freilich ohne bislang vertraglich dazu verpflichtet gewesen zu sein.26 Im neuen Frühwarnsystem wird diese Übung nunmehr auf die anderen europäischen Rechtsetzungsorgane erweitert. Das Recht zur Abgabe einer Stellungnahme wird allerdings nunmehr auf die Rüge der Verletzung des Subsidiaritätsprinzips beschränkt.

bb) Subsidiaritätsrüge Innerhalb von acht Wochen nach Übermittlung des Entwurfs können die nationalen Parlamente in einer begründeten Stellungnahme an den Präsidenten des jeweiligen Organs darlegen, weshalb sie den Entwurf für nicht vereinbar mit dem Subsidiaritätsprinzip halten.27 § 2 Abs. 1 Begleitgesetz VL28 verpflichtet die Bundesregierung, dem Bundestag und dem Bundesrat innerhalb von zwei Wochen nach Beginn der 8-Wochen-Frist eine ausführliche Unterrichtung und weitere ihr vorliegende vorbereitende EU-Dokumente zum Entwurf des betreffenden Rechtsetzungsakts zu übermitteln. Nur durch diese Unterstützung der Bundesregierung können Bundestag und Bundesrat, die nur über geringe personelle Mittel zur Informationsbeschaffung verfügen, in der Kürze der Zeit die erforderlichen Hintergrundinformationen für eine fundierte Stellungnahme erhalten. Die Frist für die Abgabe der Stellungnahme wurde zwar im Subsidiaritätsprotokoll des VL im Gegensatz zur Regelung im Subsidiaritätsprotokoll des VV29 um zwei Wochen verlängert, ist aber bei Berücksichtigung der parlamentarischen Arbeitsabläufe immer noch sehr kurz, so dass sich Bundestag und Bundesrat trotz Unterrichtung durch die Bundesregierung in der Praxis auf ___________ 25

Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates aus dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa = Art. 1 Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 17.11.2005, BGBl I, S. 3178. 26 S. Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf des Lissaboner Reformvertrages vom 12.10.2007, BR-Drs. 569/07 (Beschluss), Ziff. 6. 27 Art. 6 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). 28 S. oben Fn. 24. 29 Art. 6 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll VV (Fn. 21): sechs Wochen.

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Stellungnahmen zu wenigen ausgewählten, besonders wichtigen Rechtsetzungsvorhaben der Union beschränken werden müssen. § 2 Abs. 2 Begleitgesetz VL überlässt es auch hier den Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat zu regeln, wie eine Entscheidung über die Abgabe einer solchen Stellungnahme herbeigeführt werden soll. Für den Bundesrat stellt sich dabei die Frage, ob vor seiner Entscheidung über eine Stellungnahme die Landtage anzuhören sind. Zwar stellt Art. 6 Abs. 1 S. 2 Subsidiaritätsprotokoll30 den nationalen Parlamenten eine Konsultation der „regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen“ anheim. Da die Europäische Union jedoch keine Kompetenz zur Regelung der mitgliedstaatlichen Verfassungsstrukturen besitzt, kann dies allenfalls als Appell verstanden werden. Auch die Konferenz der europäischen gesetzgebenden Parlamente (CALRE)31 mahnte in einer Erklärung aus dem Jahr 2007 eine aktive Teilhabe der Regionalparlamente an der Subsidiaritätskontrolle durch geeignete Verfahren an.32 In Deutschland ist die Einführung solcher Beteiligungsmechanismen allerdings Sache der einzelnen Länder. Zur Beteiligung der Landtage am Subsidiaritäts-Frühwarnmechanismus existieren in den Ländern gegenwärtig bereits unterschiedliche Vereinbarungen und Verfahren.33 Wegen Art. 51 Abs. 1 GG, nach dem der Bundesrat aus Mitgliedern der Landesregierungen, nicht aber der Länder besteht, hätten jedoch Stellungnahmen von Landesparlamenten für die Mitglieder des Bundesrates keine verbindliche Wirkung.34 Eine Anhörung der Landesparlamente kann daher vor der Entscheidung über eine Subsidiaritätsrüge, aber auch im Laufe des weiteren Verfahrens nach den landesverfassungsrechtlichen Regelungen durchgeführt werden. Sie ist aber weder nach Europarecht noch nach Bundesverfassungsrecht geboten. Nationale Subsidiaritätsrügen können ein Rechtsetzungsvorhaben der Union nur verlangsamen und erschweren, letztlich aber, wenn die EU-Organe sich nicht umstimmen lassen, nicht verhindern. Die Stellungnahmen der nationalen Parlamente oder ihrer Kammern sind von den EU-Organen im weiteren Recht___________ 30

S. oben Fn. 19. Conference of European Legislative Regional Assemblies, s. deren Internetseite http://www.calre.eu . 32 11. Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnis in der Europäischen Union (CALRE), 22. und 23. Oktober 2007, Erklärung von Berlin, Ziff. 10, abgedruckt in: Landtag Rheinland-Pfalz, LT-Drs. 15/1805. 33 S. dazu Bericht der brandenburgischen Landesregierung an den Landtag zur Gestaltung des deutschen Frühwarnsystems zur Subsidiaritätskontrolle einschließlich Vorschlägen zur Beteiligung des Landtages Brandenburg in Fragen der Subsidiaritätskontrolle vom 23.2.2007, LT-Drs. 4/4211, unter II. 1. 34 Vgl. BVerfGE 8, 104, 120. 31

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setzungsverfahren zu berücksichtigen.35 Bei den Stellungnahmen verfügt jedes nationale Parlament über zwei Stimmen, bei Zweikammerparlamenten kommt jeder Kammer, also in Deutschland Bundestag und Bundesrat, je eine Stimme zu.36 Erreicht die Zahl der Rügen ein Drittel der Gesamtzahl aller vertraglich vorgesehenen Parlamentsstimmen, muss der Entwurf überprüft werden.37 Erreicht im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens die Zahl der nationalen Rügen die einfache Mehrheit der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten vertraglich zugewiesenen Stimmen, kann das Verfahren nur weitergeführt werden, wenn die Kommission eine besondere weitere Begründung liefert, die wiederum vom Unionsgesetzgeber zu überprüfen ist, und sich Rat und Europäisches Parlament nicht mehrheitlich gegen eine weitere Prüfung des Vorschlags aussprechen.38

cc) Subsidiaritätsklage Letzte Stufe des nationalen Subsidiaritätskontrollsystems bildet die Klage zum Gerichtshof wegen Verstoßes eines Rechtsetzungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip nach Maßgabe des Art. 263 AEUV39. Klagebefugt sind der Ausschuss der Regionen40 und die Mitgliedstaaten41. Außerdem kann ein Mitgliedstaat dem EuGH auch „im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments“ eine Subsidiaritätsklage übermitteln.42 Durch das Subsidiaritätsprotokoll erhalten also Bundestag und Bundesrat ein eigenes, vertraglich niedergelegtes Klagerecht vor dem EuGH. Ob und inwieweit dieses neue Klagerecht den deutschen Ländern weiteren Einfluss auf die europäische Rechtsetzung ermöglicht, hängt allerdings entscheidend von der innerstaatlichen Umsetzung und Ausgestaltung ab, steht das Klagerecht den Parlamenten oder ihren Kammern nach Art. 8 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll doch nur „entsprechend der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung“ zu. Das Europarecht stünde also innerstaatlichen Vorbedingungen oder Einschränkungen nicht entgegen. ___________ 35

Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). 37 Art. 7 Abs. 2 UAbs. 1 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). Bei Entwürfen von Rechtsakten nach Art. 76 AEUV (insbesondere Asyl, Einwanderung, Grenzkontrollen, Kriminalitätsverhütung und Anerkennung von zivilrechtlichen Entscheidungen betreffend) reicht bereits ein Viertel. 38 Art. 7 Abs. 3 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). 39 Entspricht dem jetzigen Art. 230 EG. 40 Art. 8 Abs. 2 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). 41 Art. 8 Abs. 1 Alt. 1 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). 42 Art. 8 Abs. 1 Alt. 2 Subsidiaritätsprotokoll (Fn. 19). 36

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Unter derartigen Voraussetzungen stehen nämlich die bislang schon nach deutschem Recht dem Bundesrat und einzelnen Ländern gewährten Klagerechte. § 7 Abs. 1 EuZBLG43 enthält bereits seit Jahren ein Recht des Bundesrates, von der Bundesregierung Klageerhebung im Länderinteresse zu verlangen. Hierbei handelt es sich aber im Gegensatz zur neuen Subsidiaritätsklage um eine rein innerstaatliche Regelung, die der deutsche Gesetzgeber davon abhängig gemacht hat, dass die Länder in ihren Gesetzgebungsbefugnissen betroffen sind und die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes gewahrt bleibt. Der im Zuge der Föderalismusreform eingefügte § 7 Abs. 4 EuZBLG regelt ebenfalls auf rein innerstaatlicher Grundlage den Sonderfall eines Rechtsmittels des Bundes im Interesse der Länder gegen eine länderübergreifende Finanzkorrektur der Europäischen Gemeinschaften. Hier kann nicht der Bundesrat wie in § 7 Abs. 1 EuZBLG, sondern mehrere von den Finanzkorrekturen betroffene Länder, ja sogar ein einzelnes Land44, von der Bundesregierung Klageerhebung verlangen, wenn zwischen Bundesregierung und den betroffenen Ländern kein Einvernehmen über die Rechtsmitteleinlegung erzielt werden konnte (§ 7 Abs. 4 S. 2 EuZBLG). Weitere Voraussetzungen muss das klagewillige Land nicht erfüllen. Als Folge seines Verlangens nach Rechtsmitteleinlegung hat es allerdings die Verfahrenskosten zu tragen (§ 7 Abs. 4 S. 3 EuZBLG). Um Bundestag und Bundesrat die Prüfung einer Subsidiaritätsklage zu erleichtern, hat die Bundesregierung gemäß § 3 Abs. 1 Begleitgesetz VL beide Häuser spätestens eine Woche nach Veröffentlichung eines europäischen Rechtsetzungsaktes zu unterrichten und eine Subsidiaritätsbewertung beizufügen. Art. 23 Abs. 1a GG, der im Zuge der innerstaatlichen Zustimmung zum VL neu in das Grundgesetz aufgenommen werden soll45, verankert in der Verfassung das ausdrückliche Recht von Bundestag und Bundesrat zur Erhebung einer Subsidiaritätsklage (Abs. 1a S. 1). Im Gegensatz zu den innerstaatlich gewährten Rechten, Klageerhebung im Länderinteresse zu verlangen, enthält das Begleitgesetz VL46 für Subsidiaritätsklagen des Bundesrates keine Vorbedingungen. Nach § 3 Abs. 6 Begleitgesetz VL kann zu einem Antrag auf Klageerhebung im Bundesrat lediglich der Bundestag eine Stellungnahme abgeben ___________ 43 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12.3.1993, BGBl I S. 313, geändert durch Gesetz vom 17.11.2005, BGBl I S. 3178 und Gesetz vom 5.9.2006, BGBl I S. 2098. 44 S. Begründung zum Entwurf eines Föderalismus-Begleitgesetzes, BT-Drs. 16/814, S. 14. 45 Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93) vom 11.3.2008 (BT-Drs 16/8488) wurde am 24.4.2008 vom Bundestag unverändert angenommen (BR-Drs. 276/08). Die Zustimmung des Bundesrates wurde am 23.5.2008 erteilt (BR-Plenarprotokoll 844). 46 Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates aus dem Vertrag von Lissabon (Fn. 24).

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und umgekehrt. Nach § 3 Abs. 3 bleibt es dem Bundesrat überlassen, in seiner Geschäftsordnung zu regeln, wie ein Beschluss über eine Subsidiaritätsklage herbeizuführen ist. Eine auf der Grundlage eines solchen Beschlusses verfasste Klageschrift reicht die Bundesregierung nach § 3 Abs. 3 Begleitgesetz VL ohne weitere Prüfung an den EuGH weiter. Nur der Bundesrat, nicht aber ein einzelnes deutsches Land hat ein europarechtlich verankertes Klagerecht. Die Subsidiaritätsklage einer Untergliederung eines Mitgliedstaates ist im Subsidiaritätsprotokoll des VL nicht vorgesehen. Entsprechende Bemühungen der deutschen Länder auf Verankerung eines Klagerechts einzelner Regionen im Europarecht scheiterten schon im Verfassungskonvent.47 Allerdings könnte der deutsche Gesetzgeber das Klagerecht des Bundesrates dahingehend modifizieren, dass der Bundesrat schon bei Antragstellung eines einzelnen Landes im Bundesrat automatisch zur Erhebung einer Subsidiaritätsklage verpflichtet wäre. Eine solche Regelung würde einem einzelnen Land faktisch ein Klagerecht einräumen. Da Art. 8 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll das Klagerecht der nationalen Parlamente ausdrücklich unter den Vorbehalt der „jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung“ stellt, würde eine solche Beschränkung der Entscheidungsfreiheit des Bundesrates nicht gegen Europarecht verstoßen.48 Nachdem die Bemühungen um ein Klagerecht für einzelne Regionen auf europäischer Ebene keinen Erfolg erkennen ließen, schlugen Ländervertreter im Rahmen der Diskussion um die Föderalismusreform 2003/2004 vor, die Bindung des Bundesrates an den Klageantrag eines einzelnen Landes in das Grundgesetz einzufügen.49 Auch eine entsprechende Regelung durch Bundesgesetz wurde vertreten.50 Letztlich konnte sich jedoch keiner der Vorschläge durchset___________ 47 Zu Einzelheiten s. Regierungserklärung des damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel, Ergebnisse des Konvents für die Zukunft Europas, Landtag von BadenWürttemberg, Plenarprotokoll 13/48, S. 3305, 3308; Philipp Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage des Europäischen Verfassungsvertrages für die Länder, VBlBW 2005, 169, 171. 48 Ferdinand Kirchhof, Zur indirekten Klagebefugnis eines deutschen Bundeslandes beim Europäischen Gerichtshof in Subsidiaritätsfragen über einen Antrag des Bundesrates, DÖV 2004, 893 f. (zum wortgleichen Entwurf des Verfassungskonvents). 49 S. dazu den Textvorschlag des damaligen Ministerpräsidenten BadenWürttembergs Erwin Teufel für eine Ergänzung von Art. 23 GG: „Auf Antrag eines Landes übernimmt der Bundesrat ohne Beschlussfassung eine vom Land bei ihm eingereichte Klage an ein Gericht der Europäischen Union und leitet sie an die Bundesregierung weiter; diese übermittelt die Klage unverzüglich an das Gericht.“, abgedruckt in: Deutscher Bundestag, Bundesrat – Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005, S. 167; zur Regelung durch Verfassungsänderung auch Ferdinand Kirchhof, a. a. O. (Fn. 48) S. 896. 50 Ferdinand Kirchhof, a. a. O. (Fn. 48) S. 897 ff.; dagegen Philipp Molsberger, a. a. O. (Fn. 47) S. 172.

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zen. Fraglich ist, ob der Bundesrat zukünftig selbst durch Änderung seiner Geschäftsordnung oder durch einfachen Dauerbeschluss eine solche Regelung treffen könnte. Politisch ist man im Bundesrat mittlerweile nämlich übereingekommen, dass eine Subsidiaritätsklage eingereicht wird, wenn ein einzelnes Land dies will.51 Zwar kann nach § 3 Abs. 3 Begleitgesetz VL52 „Der Bundesrat … in seiner Geschäftsordnung regeln, wie ein Beschluss des Bundesrates über die Erhebung einer Klage nach Artikel 8 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit herbeizuführen ist.“ Vorgesehener Regelungsort ist also die Geschäftsordnung. Allerdings setzt § 3 Abs. 3 voraus, dass der Bundesrat über die konkrete Klageerhebung jeweils einen Beschluss fasst und die Geschäftsordnung nur dessen Zustandekommen regelt. Die Verankerung der automatischen Weiterleitung der Subsidiaritätsklage eines einzelnen Landes an die Bundesregierung würde einen solchen Beschluss aber gerade ausschließen. Außerdem geht die Verankerung eines Zugangsrechts einzelner Länder zum EuGH über die Binnenorganisation des Bundesrates und damit den zulässigen Regelungsgegenstand der Geschäftsordnung hinaus.53 Diese Argumente sprechen auch gegen die Regelung durch einen Dauerbeschluss des Bundesrates. Auch ein Dauerbeschluss würde einen Beschluss über die konkrete Klageerhebung i. S. v. § 3 Abs. 3 Begleitgesetz VL ausschließen und damit gegen die gesetzliche Regelung verstoßen. Wegen der grundlegenden Bedeutung eines faktischen Klagerechts eines einzelnen Landes für die Machtbeziehung zwischen Bundesregierung, Bundesrat und Länder wäre ein – zudem jederzeit aufhebbarer – Dauerbeschluss des Bundesrates keine zulässige Regelungsform.54 Es besteht daher kein, auch kein faktisches Klagerecht eines einzelnen Landes im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle. Nur wenn das antragstellende Land im Einzelfall die für einen Bundesratsbeschluss erforderliche Mehrheit findet, kann ein gültiger Bundesratsbeschluss über die Erhebung der konkreten Subsidiaritätsklage herbeigeführt werden. Nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG ist dafür mindestens die Mehrheit der Stimmen nötig. Der neu ins Grundgesetz einzufügende55 Art. 23 Abs. 1a erlaubt in seinem Satz 3 zwar, durch Gesetz „für die Wahrnehmung der Rechte, die dem Bundestag und dem Bundesrat in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind, Ausnahmen ___________ 51

So der bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein in der Bundestagsdebatte zum Vertrag von Lissabon und zum Begleitgesetz, Stenografischer Bericht der 157. Sitzung des Bundestages am 24.4.2008, Plenarprotokoll 16/157, S. 16469 (B). 52 Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates aus dem Vertrag von Lissabon (Fn. 24). 53 Ferdinand Kirchhof, a. a. O. (Fn. 48) S. 900; im Ergebnis auch Philipp Molsberger, a. a. O. (Fn. 47) S. 172. 54 So auch Ferdinand Kirchhof, a. a. O. (Fn. 48) S. 900. 55 S. oben Fn. 45.

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von Artikel 42 Abs. 2 Satz 1 und Artikel 52 Abs. 3 Satz 1“ zuzulassen. Im Hinblick auf die Subsidiaritätsklage sieht das Begleitgesetz VL jedoch keine solche Ausnahme für Abstimmungen im Bundesrat vor. Es bleibt daher beim Erfordernis der einfachen Mehrheit des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG.

b) Vetorecht bei vereinfachter Vertragsänderung durch Anwendung der Brückenklausel Die Rüge- und Klagerechte im Rahmen des Subsidiaritäts-Frühwarnsystems erlauben den nationalen Parlamenten – und damit auch dem deutschen Bundesrat – Einflussnahmen auf die Setzung von europäischem Sekundärrecht. Es handelt sich hierbei allerdings um zweifach beschränkte Rechte. Sie sind zum einen verfahrensmäßig auf die Kontrolle durch Rüge und Klage eingegrenzt und zum anderen inhaltlich auf die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip beschränkt. Im Gegensatz dazu erhalten die nationalen Parlamente im Bereich des Primärrechts echte neue Mitentscheidungsrechte. Für bestimmte Änderungen der Verträge räumt der VL den nationalen Parlamenten Vetorechte ein, d. h. die betreffende Vertragsänderung kommt nicht zustande, wenn auch nur ein nationales Parlament widerspricht.

aa) Die Vetorechte in den Verträgen Die neuen Vetorechte finden sich in Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 n. F. EU56 (Brückenklausel beim Übergang zu Mehrheitsentscheidungen und zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren) und in Art. 81 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV57 (besondere Brückenklausel für Maßnahmen zum Familienrecht). Die Brückenklauseln (clauses passerelles) dienen der vereinfachten Vertragsänderung, bei der bestimmte Bestimmungen des Primärrechts vom Europäischen Rat (Art. 48 Abs. 7 UAbs. 1, 2 n. F. EU) oder vom Rat (Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV) nach Zustimmung des Europäischen Parlaments (Art. 48 Abs. 7 UAbs. 4 n. F. EU) oder nach dessen Anhörung (Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV) einstimmig durch Beschluss geändert werden können. Brückenklauseln ermöglichen es, die Verträge zu ändern, ohne das förmliche Vertragsänderungsverfahren im Sinne des bisherigen Art. 48 EU58 mit Regierungskonferenz und anschließender Ratifikation in den Mitgliedstaaten durchführen zu müssen. ___________ 56

Entspricht Art. IV-444 Abs. 1 und 2 VV. Entspricht Art. III-269 Abs. 3 VV, dort aber noch ohne Parlamentsveto. 58 Nach dem VL in Art. 48 Abs. 2 bis 5 n. F. EU geregelt. 57

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Art. 48 Abs. 7 n. F. EU gestattet vereinfachte Vertragsänderungsverfahren für zwei Fallgruppen. UAbs. 1 erlaubt den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit im Rat für Entscheidungen über Materien des AEUV59 und des Titel V des EU-Vertrages in der Fassung des VL60. UAbs. 2 ermöglicht dem Europäischen Rat durch Beschluss in Fällen, in denen der AEUV besondere Rechtsetzungsverfahren mit Übergewicht des Rates gegenüber dem Europäischen Parlament anordnet, zum sog. ordentlichen Gesetzgebungsverfahren überzugehen, das ein weitgehendes Gleichgewicht zwischen Rat und Europäischem Parlament bei der Entscheidungsfindung vorsieht61. Art. 81 Abs. 3 AEUV enthält eine Sonderbestimmung für ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren für den Bereich des Familienrechts. Danach kann der Rat für bestimmte familienrechtliche Maßnahmen vom einstimmigen Beschlussverfahren im Rat mit bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren übergehen. Der Übergang vom Einstimmigkeitserfordernis zu Mehrheitsentscheidungen im Rat erleichtert und beschleunigt die Beschlussfassung in einem Rat mit 27 Mitgliedstaaten und dient damit dem Ziel des VL, die EU-Organe in einer erweiterten Union handlungsfähiger zu machen. Der Übergang vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren räumt dem Europäischen Parlament ein größeres Gewicht bei der Rechtsetzung ein und trägt zur Stärkung des durch das Europäische Parlament vermittelten Legitimationsstranges bei. Allerdings schwächen diese Maßnahmen zugleich immer auch den Einfluss des einzelnen Mitgliedstaates auf die Entscheidungsfindung in der EU. Wenn aber das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland auf europäischer Ebene sinkt, reduzieren sich dadurch mittelbar auch die europapolitischen Einflussmöglichkeiten der deutschen Länder über ihre Mitwirkung an der Europapolitik des Bundes nach Art. 23 Abs. 4 bis 6 GG. Die deutschen Länder versuchten daher bereits im Verfassungskonvent, die Aufnahme einer clause passerelle in den Verfassungsentwurf zu verhindern.62 Die Brückenklausel fand zwar dennoch Eingang in den VV. Den Bedenken wurde allerdings durch Aufnahme einer Vetoklausel Rechnung getragen. Der Beschluss für eine Vertragsänderung sollte danach nicht erlassen werden, wenn der entsprechende Vorschlag von einem nationalen Parlament innerhalb von sechs Monaten, nachdem er dem nationalen Par___________ 59

Entspricht im Wesentlichen dem bisherigen EG-Vertrag. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, d. h. insbesondere Maßnahmen in den Bereichen Asyl, Einwanderung, Grenzkontrollen, Kriminalitätsverhütung und Anerkennung von zivilrechtlichen Entscheidungen. 61 Art. 294 AEUV (Fortschreibung des bisherigen Verfahrens der Mitentscheidung nach Art. 251 EG). 62 Michael W. Bauer, Der europäische Verfassungsprozess und der Konventsentwurf aus Sicht der deutschen Länder, Jahrbuch des Föderalismus 2004, 453, 459, 461. 60

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lament übermittelt worden war, abgelehnt wird.63 Der VL übernimmt diese Bestimmung nahezu wörtlich in Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 n. F. EU und fügt außerdem der besonderen Brückenklausel für den Bereich des Familienrechts, für die der VV noch kein Vetorecht bestimmt hatte64, ein Vetorecht der nationalen Parlamente an (Art. 81 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV).

bb) Das Vetorecht des Bundesrates Zur Frage, wer in Deutschland über die Einlegung eines nationalen Parlamentsvetos entscheidet, enthält das Europarecht keine Vorgaben. Da die Union keine Kompetenz zur Ausgestaltung der innerstaatlichen Verfassungsordnung besitzt, dürfte sich das Europarecht auch nicht dazu äußern, ob in Deutschland jeweils Bundestag und Bundesrat alleine über die Einlegung eines Vetos bestimmen können oder ob – und gegebenenfalls wie – eine gemeinsame Entscheidung beider Organe herbeizuführen ist, bevor ein Veto in Brüssel angebracht wird. Zwar ergibt sich aus Art. 6 und 8 des Protokolls über die nationalen Parlamente65, dass die Vorschläge zur Vertragsänderung unter Inanspruchnahme einer Brückenklausel, die gemäß Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 n. F. EU und Art. 81 Abs. 3 UAbs. 3 S. 1 AEUV den nationalen Parlamenten zuzuleiten sind, sowohl dem Bundestag als auch dem Bundesrat übermittelt werden müssen. Denn auch für die nationalen Vetorechte gelten in einem Mitgliedstaat mit einem Zweikammersystem die Vorschriften bezüglich des nationalen Parlaments für jede der Kammern. Diese europarechtlichen Vorschriften enthalten aber nur Handlungsanweisungen an den Europäischen Rat bzw. den Rat zur Frage, welche nationalen Institutionen unterrichtet werden müssen. Hingegen kann den Regelungen wegen der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten nichts dazu entnommen werden, wer in Deutschland aufgrund dieser Informationen im Namen des deutschen Parlaments ein Veto einlegen darf. Diese Frage muss vielmehr das deutsche Recht regeln. Dazu war vorgeschlagen worden, Art. 23 GG um eine Bestimmung zu ergänzen, nach der es für ein deutsches Parlamentsveto ausreicht, wenn entweder der Bundestag oder der Bundesrat einen entsprechenden Beschluss mit einfacher Mehrheit fasst.66 Eine solche Regelung hätte sich in Systematik und Wertungen des bisherigen Art. 23 GG eingefügt.67 Dem Bundesrat hätte eine entsprechende Grundgesetz___________ 63

Art. IV-444 Abs. 3 UAbs. 1 VV. S. Art. III-269 Abs. 3 VV. 65 S. oben Fn. 19. 66 Adelheid Puttler, Die neuen Vertragsänderungsverfahren der Europäischen Verfassung im Lichte des Grundgesetzes, DÖV 2005, 401, 408 ff. 67 Adelheid Puttler, a. a. O. (Fn. 66) S. 409 f. 64

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änderung die Sicherheit gegeben, ein Vetorecht von gewissem Bestand zu erhalten, das er nur unter den erschwerten Voraussetzungen einer Verfassungsänderung wieder hätte verlieren können. Die Regelung hätte weiter das Zustandekommen eines Parlamentsvetos erleichtert, weil in jedem Fall ein Beschluss eines der beiden Organe ausgereicht hätte. Zur Verankerung eines uneingeschränkten Vetorechts des Bundesrats im Grundgesetz ist es allerdings nicht gekommen. Die Umsetzungsregelungen finden sich nunmehr im Begleitgesetz VL.68 Die innerstaatliche Ausübung des Vetorechts wird dort in § 4 Abs. 3 davon abhängig gemacht, ob die Vertragsänderung aufgrund der Brückenklausel Materien anbelangt, bei denen im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes oder der Länder betroffen sind. Sind im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen, kommt ein nationales Parlamentsveto zustande, wenn es der Bundesrat mit der Mehrheit seiner Stimmen beschließt (§ 4 Abs. 3 Ziff. 2 Begleitgesetz VL). Umgekehrt kommt es auf einen entsprechenden Beschluss des Bundestages an, wenn die Vertragsänderung im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes betrifft (§ 4 Abs. 3 Ziff. 1 Begleitgesetz VL). In allen anderen Fällen können sowohl der Bundestag wie auch der Bundesrat einen Vetobeschluss treffen. Weist das jeweils andere Gesetzgebungsorgan jedoch den getroffenen Beschluss zurück, wird die Initiative nicht abgelehnt, d. h. es kommt nicht zu einem deutschen Parlamentsveto. Der neu einzufügende Art. 23 Abs. 1a GG69 lässt in seinem Satz 3 für diesen Fall Ausnahmen von den üblichen Mehrheitserfordernissen für Beschlüsse des Bundestages (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG) und des Bundesrates (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG) zu. Davon macht § 4 Abs. 3 Ziff. 3 S. 4 Begleitgesetz VL Gebrauch und bestimmt, dass die Zurückweisung gegebenenfalls einer Zweidrittelmehrheit bedarf, wenn der ursprüngliche Vetobeschluss im anderen Organ zuvor mit einer Zweidrittelmehrheit gefasst wurde. Der Bundesrat kann nach der Regelung im Begleitgesetz VL somit auf jeden Fall dann die Vetoreinlegung allein beschließen, wenn die europarechtliche Initiative im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betrifft. Sind keine ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes im Schwerpunkt betroffen, kann der Bundesrat ebenfalls die Vetoeinlegung beschließen, kann daran aber durch einen entsprechenden Zurückweisungsbeschluss des Bundestages gehindert werden. Beim Parlamentsveto werden die Länder durch den Bundesrat mediatisiert. Ein einzelnes deutsches Land benötigt die Unterstützung durch eine entsprechende Mehrheit im Bundesrat, wenn es die Inanspruchnahme einer Brückenklausel verhindern will. ___________ 68 Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates aus dem Vertrag von Lissabon (Fn. 24). 69 S. oben Fn. 45.

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IV. Bewertung und Ausblick Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die neuen Mitwirkungsrechte, die der VL den nationalen Parlamenten einräumt, auch den deutschen Ländern gewisse Einflussmöglichkeiten auf die europäische Rechtsetzung eröffnen werden. Die Rechte stehen allerdings nicht den Ländern selbst, sondern nur dem Bundesrat zu. Die Landtage bleiben bei dieser weiteren Ausprägung des Exekutivföderalismus außen vor. Auch da, wo es durch eine entsprechende innerstaatliche Ausführungsregelung möglich gewesen wäre, einzelnen Ländern Rechte einzuräumen, bleibt es bei der Mediatisierung durch den Bundesrat. Vor allem die Bemühungen der Länder um ein eigenes Recht zur Subsidiaritätsklage waren nicht von Erfolg gekrönt. Forderungen, eine automatische Bindung des Bundesrates an den Klageantrag eines einzelnen Landes im Grundgesetz oder zumindest in einem Bundesgesetz zu verankern, konnten sich nicht durchsetzen. Wie gezeigt wurde, kann der Bundesrat einen solchen Automatismus nun nicht mehr selbst festschreiben, etwa in seiner Geschäftsordnung oder durch einen entsprechenden Dauerbeschluss. Ein einzelnes Land kann somit nur zum „Wächter der Subsidiarität“70 werden, wenn es in jedem Einzelfall die Mehrheit der Stimmen im Bundesrat für seinen Klageantrag erhält. Die Praxis wird zeigen müssen, ob der derzeitige politische Konsens, die Subsidiaritätsklage im Bundesrat zu beschließen, wenn auch nur ein Land die Klageerhebung beantragt, von Dauer sein wird. Positiv zu bewerten ist die ausdrückliche Festschreibung der Pflichten der Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat zeitnah mit den erforderlichen Informationen für eine Subsidiaritätsprüfung zu versorgen. Ohne die Unterstützung der Bundesregierung könnten Bundestag und Bundesrat die erforderlichen Informationen nicht ausreichend rasch beschaffen. Ohnehin ist die Frist von acht Wochen für eine Subsidiaritätsrüge so knapp bemessen, dass sich der Bundesrat auf die Stellungnahme zu wenigen wichtigen Rechtsetzungsvorhaben beschränken müssen wird. Ob die Subsidiaritätsklage überhaupt die erhoffte Kontrollwirkung haben kann, wird allerdings sehr davon abhängen, ob der EuGH seine bisherige Zurückhaltung bei der Subsidiaritätsprüfung aufgibt und das Subsidiaritätsprinzip in seiner zukünftigen Rechtsprechung zu einer justiziablen Kompetenzausübungsschranke macht.71 ___________ 70

So die Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein zur künftigen Rolle Bayerns in der Bundestagsdebatte zum Vertrag von Lissabon und zum Begleitgesetz, s. oben Fn. 51. 71 Zur Kritik an der bisherigen Rechtsprechung s. etwa Silke Albin, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU, Anspruch und Rechtswirklichkeit, NVwZ 2006, 629, 630 ff.; Ute Mager, Die Prozeduralisierung des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents – Verbesserter Schutz vor Kompetenzverlagerung auf die Gemeinschaftsebene?, ZEuS 2003, 471, 476 f.

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Bemerkenswert ist, dass zwar das Recht von Bundesrat und Bundestag zur Erhebung einer Subsidiaritätsklage im Grundgesetz ausdrücklich verankert wird. Das Recht zur Vetoeinlegung beim vereinfachten Vertragsänderungsverfahren unter Anwendung einer Brückenklausel findet jedoch keine ausdrückliche Erwähnung. Das dürfte damit zu tun haben, dass die innerstaatliche Ausgestaltung im Begleitgesetz VL durch seine nicht einfach zu handhabenden Voraussetzungen72 die Ausübung des Vetorechts des deutschen Parlaments eher schmälert. Bei einer Verankerung des Vetorechts im Grundgesetz hätten diese Einschränkungen in Art. 23 alle aufgeführt werden müssen. Nur wenn im Schwerpunkt jeweils ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse betroffen sind, kann Bundestag oder Bundesrat allein über die Vetoeinlegung entscheiden. In allen übrigen Fällen müssen Bundestag und Bundesrat zusammenwirken, teilweise unter der erschwerten Anforderung einer Zweidrittelmehrheit für den entsprechenden Beschluss. An dieser Ausgestaltung lässt sich die Bereitschaft des deutschen Gesetzgebers ablesen, von Ausnahmen abgesehen den Einfluss des Mitgliedstaates Deutschland in der Europäischen Union zurückzunehmen und das Interesse des Rates an größerer Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsentscheidungen sowie das Interesse des Europäischen Parlaments an einer Ausweitung seiner Entscheidungsmacht zu Lasten des Rates in den Vordergrund zu stellen.

___________ 72 Vgl. zur Frage, wann Gesetzgebungsbefugnisse „im Schwerpunkt“ betroffen sind, die Konfliktfälle bei der Übertragung der Verhandlungsführung an den Vertreter der Länder nach Art. 23 Abs. 6 S. 1 GG, dazu näher Christina Baier, Bundesstaat und Europäische Integration – Die Europatauglichkeit des deutschen Föderalismus, 2006, S. 106 ff.

Die Absenkung des parlamentseigenen Antragsquorums zur abstrakten Normenkontrolle im Grundgesetz Von Edzard Schmidt-Jortzig, Kiel

Was für ein Thema wählt man, wenn man sich mit einer wissenschaftlichen Erörterung an der Festschrift für einen befreundeten Kollegen beteiligen möchte? Natürlich muss sachlich ein Bezug zum Oeuvre des Jubilars bestehen. Und es sollen wohl auch persönliche Gemeinsamkeiten zwischen Laureat und Autor anklingen. Beides kann gottlob bei einem Kollegen wie Friedrich Schnapp nicht schwer fallen. Er hat sich in seiner wissenschaftlichen und fachlichen Arbeit auf vielen Feldern des Öffentlichen Rechts bewegt, so daß berufliche Anknüpfungspunkte unschwer zu finden sind. Aber auch außerhalb rein fachlicher Präsenz hat sich Friedrich Schnapp immer breit engagiert und gibt damit vielfältig Gelegenheit, Affinitäten freizulegen und Verbindungen herzustellen. Ein Gebiet, auf dem man ihm stets begegnen konnte, ist die politische Beratung. Friedrich Schnapp hat sich ebenso bei Verfassungsberatungen im Ausland eingebracht1 wie bei Anhörungen und gutachtlichen Stellungnahmen zu Gesetzgebungsprojekten im Inland. Er hat dabei vor allem die politische Dimension des öffentlichen Rechts immer deutlich benannt sowie auf eine klare Grenzziehung zwischen rechtssystematischer Herleitung und abmessender Gestaltung Wert gelegt. Vorbehalte, sich mit den Akteuren und Plänen der Politik einzulassen, hatte er jedenfalls nie und war dort mit seinem unbestechlichen juristischen Blick allemal ein begehrter Gesprächspartner. Mit dem vorliegenden Beitrag soll deshalb in Reverenz für diesen Ansatz eine Frage untersucht werden, die zwar rein verfassungsrechtsdogmatisch daherkommt, aber unverkennbar große politische Auswirkungen hätte. Es ist dies jener Vorstoß, der unlängst von der Opposition im Deutschen Bundestag gestartet wurde und augenscheinlich dem Unbehagen mit einer numerisch übermächtigen Regierungsmehrheit entspringt. Es geht dabei um das nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (§ 76 Abs. 1 BVerfGG) verlangte Quorum von einem Drittel der ___________ 1

Spektakulär etwa der entsprechende Einsatz des Jubilars 1995 ff. in Burma (S. Presseerklärung der Ruhr-Universität Bochum, Juristische Fakultät, abrufbar unter: www.paed.rub.de/rubens/rubens17/14.htm). Vgl. auch Schnapp, Verfassungsentwurf für ein freies Burma, in: JöR n.F. 46 (1998), S. 671 ff.

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Mitglieder des Bundestages für eine abstrakte Normenkontrollklage gegen Gesetze, die im Parlament von der regierenden Koalitionsmehrheit beschlossen wurden, wenn die Mehrheit aber eben größer als zwei Drittel der Abgeordneten ist. Der Antrag auf Änderung der konstitutionellen Vorgabe will dieses Quorum nun wenigstens auf ein Viertel der Bundestagsmitglieder (wenn nicht noch weiter) absenken, um eine wirksame Kontrolle der Mehrheitspolitik durch die Minderheit sicherzustellen2.

I. Verfassungsmäßigkeitskontrolle Bei aller Vereinnahmung der Normenkontrollmöglichkeit als Minderheitenrecht darf nicht übersehen werden, daß das Instrument zu allererst ein Mittel ist, um die Gebundenheit der „Gesetzgebung … an die verfassungsmäßige Ordnung“ (Art. 20 Abs. 3 GG) sicherzustellen3. Die Maßgeblichkeit des Rechts – und namentlich die des Verfassungsrechts als rangoberster positivierter Rechtsebene – läßt sich wirksam nur gewährleisten, wenn es genügend Handhabe gibt, ihre Einhaltung bei rangtieferer Rechtsetzung (namentlich dem einfachen Gesetz) auf einen gerichtlichen Prüfstand stellen zu können. Der wirkungsvolle Ausbau der abstrakten Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht ist deshalb neben Verfassungsbeschwerde, Organklage, konkreter Normenkontrolle und den Bund-Länder-Streitigkeiten vor allem eine Frage rechtsstaatlicher Gediegenheit.

___________ 2

Gesetzentwurf der FDP-Fraktion „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 93 Abs. 1 des Grundgesetzes“ v. 1.12.2005, BT-Drs. 16/126. Ähnlich allgemein der Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen v. 7.2.2006, BT-Drs. 16/581 (insb. Begründung 7. Spiegelstrich); und noch weitergehend Nr. II b des Antrags der Fraktion Die Linke v. 19.1.2007, BT-Drs. 16/4119: Absenkung auf einfache Fraktionsstärke. – Zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses, am 1.12.2007, hatte der Bundestag über die Anträge noch nicht entschieden. 3 Zuletzt etwa Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts – HStR –, Bd. II (3. Aufl. 2004), § 26 Rn. 45. Und ebenso bereits Martin Draht, Die gesetzliche Mitgliederzahl des Bundestages, in: FS zum 41. DJT in Berlin (1955), S. 79 (90); Gisela Babel, Probleme der abstrakten Normenkontrolle (1965), S. 9: Schutz der Rechtsordnung und Verschaffung von Rechtsgewißheit; oder Hartmut Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: Chr. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I (1976), S. 292 (298 f.). Das BVerfG stellte für sich frühzeitig und lapidar fest: „Bei der Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2 GG steht die Aufgabe des BVerfG als Hüter der Verfassung im Vordergrund“ (E 1, 184, 195. Und ähnlich dann auch E 1, 208, 219, 386, 413; 31, 381, 385; 52, 63, 80; 68, 346, 351, u.a.m.).

Die Absenkung des Antragsquorums zur abstrakten Normkontrolle

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Rechtsstaatlichkeit bedeutet im Kern immer Herrschaft des Rechts4. Und dies gilt sowohl für den Inhalt staatlicher Tätigkeit, die sich eben an den rechtlichen Vorgaben auszurichten hat, als auch bezüglich der Instrumente des Handelns, so daß nur in eindeutigen Rechtsformen, begründungspflichtig und nachprüfbar agiert werden darf. Das Grundgesetz hat die rechtsstaatliche Kontrollinstanz, die Gerichtsbarkeit, in dieser Hinsicht mit der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts „gekrönt“ 5, das in allen Fragen der Einhaltung der Verfassung das entscheidende und letzte Wort hat. Ob insoweit die Konzipierung der abstrakten Normenkontrollklage nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG optimal gelungen ist, läßt sich in der Theorie nur unvollkommen beurteilen. Zu sehr kommt es auf das praktische Raumgeben oder Begrenzen durch die Vorschriften an. Gleichwohl scheint die Normierung optimalen Vorstellungen wirklich nahe zu kommen. Gegenständlich wird jedenfalls alles Wünschbare erfaßt, wenn es um die „förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht“ (und damit die Durchsetzung von Art. 31 GG) geht, und als auslösendes Moment genügen ja auch schon „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“, um die Fragen vor das Bundesverfassungsgericht bringen zu können6. Allenfalls bei den Antragsberechtigten mag man noch gewisse Vervollständigungs- oder Verbesserungsmöglichkeiten sehen. Schon im Parlamentarischen Rat war ja auch erwogen worden, ob man neben „der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem (bestimmten Quorum) der Mitglieder des Bundestages“ noch etwa den Bundespräsidenten und/oder – möglicherweise anstelle der Landesregierungen – die Landtage mit einbeziehen sollte7. Als richtig er___________ 4

Statt anderer Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (20. Aufl. 1995), Rn. 183 ff.; Walter Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, in: JZ 1977, S. 537 (537: Normativismus); Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 333 ff. (insb. 390 ff.); oder Hans F. Zacher, Was kann der Rechtsstaat leisten?, in: FS für K. Stern (1997), S. 393 ff. 5 So das bekannte Zitat des zweiten BVerfG-Präsidenten, Josef Wintrich, das allenthalben wiederholt und variiert wird (Wintrich/Hans Lehner, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Hrsg., Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 643, 649). W. Nachw. bei Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II (1980), S. 953 N. 87. 6 Daß § 76 I BVerfGG diese weite Zulässigkeit einschränkt, wird von manchen bekanntlich für verfassungswidrig gehalten bzw. seinerseits verfassungskonform restriktiv interpretiert; vgl. Stern, Staatsrecht II (o. Fn. 5), S. 986; Ernst Benda/Eckart Klein, Verfassungsprozeßrecht (2. Aufl. 2001), Rn. 730 f.; oder Klaus Schlaich/Stefan Karioth, Das Bundesverfassungsgericht (7. Aufl. 2007), Rn. 130, jeweils m.w.Nachw. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch die Einschränkung als zulässig akzeptiert: E 96, 133 (137). 7 Parl. Rat, Vhgn. d. HauptAus (1948/9), S. 275 und 462.

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weist sich jedenfalls, daß die möglichen Gegenkräfte zum gesetzesbeschließenden Akteur, dem Bundestag also bzw. der betreffenden Bundestagsmehrheit, die Berechtigung für den Kontrollierungsantrag zugewiesen erhalten, und das ist im wesentlichen geschehen.  Die Bundesregierung stellt einen solchen Widerpart dar, wenn der Bundestag gegen ihre rechtlichen Vorstellungen ein Gesetz erlassen hat, der Bundesrat via Vermittlungsausschuß abweichende Regelungen durchsetzen konnte oder ein Land, ein Landtag, mit Bundesrecht konfligierende Normen setzt.  Eine Landesregierung gerät in die verfassungwahrende Standschaftsstellung, wenn der Bund bei der Gesetzgebung Landesreservate mißachtet haben sollte oder Landes-Rechtsauffassungen von der Bundesseite nicht geteilt werden.  Und der Deutsche Bundestag kann ein Kontrollinteresse entwickeln, wenn Länder gegen Bundesrecht zu verstoßen drohen oder sich legislatorisch abweichende Rechtsaufassungen des Bundesrates durchsetzen konnten. Natürlich spielt im Gesetzgebungsverfahren auch der Bundespräsident eine Verfassungsgarantenrolle, aber die kann er hinreichend bei der Ausfertigung der Gesetze zur Geltung bringen, so daß eine Antragsbefugnis zur Normenkontrolle für ihn nicht erforderlich scheint, ja, sogar übergewichtig wirken müßte8. Und ein Landtag kann zwar gegenüber dem Bundesgesetzgeber durchaus eigene Verfassungsbewahrungsinteressen entwickeln, so namentlich wenn es Streit um die Einhaltung der bundesstaatlich angelegten Gesetzgebungszuständigkeit gibt (und eine Landesregierung wegen ihrer Einflußnahmemöglichkeit über den Bundesrat ein Ferngehaltenwerden des Landtages durchaus vielleicht meint verschmerzen zu können). Aber das föderative Konzept des Grundgesetzes geht nun einmal für die Länderseite von einer Präponderanz der Landesregierungen aus, was man wohl kaum nun von der Sekundärebene aus verändern kann. Dagegen hat es eine besondere Diskussion, welches Abgeordnetenquorum für die Antragsberechtigung des Bundestages das richtige sei, nie gegeben. Im Parlamentarischen Rat wurde die geltende Fixierung auf ein Drittel der Mitglieder des Bundestages offenbar auf eine Anregung der Abgeordneten Paul de Chapeaurouge, Thomas Dehler und Walter Strauß hin im eher nachrangigen Rechtspflegeausschuß so getroffen9. Und angeblich war dafür das Beispiel der Antragsbefugnisse nach der Bayerischen Landesverfassung von 1946 maßge___________ 8

Im Ergebnis ähnlich Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht (o. F. 6), Rn. 714. Ausschuß für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege, 6. Stzg. v. 6.12.1948, Kurzprot. S. 4. 9

Die Absenkung des Antragsquorums zur abstrakten Normkontrolle

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bend10. Nur der Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm hatte noch eine abweichende Vorstellung artikuliert, als er die Antragsbefugnis schon einem Fünftel der Bundestagsmitglieder zuerkennen wollte, damit aber scheiterte11. Richtig ist jedenfalls, daß innerhalb eines Antragsberechtigten „Deutscher Bundestag“ die Kontrollfunktion der Minderheit gegenüber der gesetzesbeschließenden Mehrheit berücksichtigt werden muß, denn wer für ein Gesetz gestimmt hat und dies ja auch nur tat, wenn er der Überzeugung war, es sei verfassungsgemäß, wird in aller Regel nicht die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes beim Bundesverfassungsgericht geltend machen wollen. Ob nun ein Drittel, ein Viertel oder ein Fünftel der Mitglieder des Bundestages die angemessene Quantifizierung für die Antragsberechtigung ist, stellt dann erst eine Folgefrage dar.

II. Normenkontrollbefugnis als Minderheitenrecht Es bringt wenig, sich theoretisch darüber zu streiten, ob die Zuweisung der normenkontrollmäßigen Antragsberechtigung an ein Drittel der Abgeordneten des Bundestages neben der (zusätzlichen) Absicherung möglicher Verfassungsmäßigkeitskontrolle auch noch dem Minderheitenschutz im Parlament und damit der Oppositionsstärkung dienen soll. Von manchen wird das verneint12. Das Bundesverfassungsgericht aber hat es ohne weiteres bestätigt: Die Antragsberechtigung sei gezielt auch „einem Drittel der Mitglieder des Bundestages verliehen worden, um eine Kontrolle der Mehrheit und einen Schutz der Minderheit sicherzustellen“13. Zweifellos nämlich wirkt der Berechtigungszuschnitt bei ___________ 10

So pauschal Gerd Sturm, in: M. Sachs (Hrsg.), GG. Kommentar (4. Aufl. 2007), Art. 93 Rn. 2 mit N. 5. Die Antragsberechtigungen für die einzelnen Klagearten beim BayVerfGH sind jedoch in der BayVerf gar nicht geregelt, sondern werden erst in dem betreffenden Gerichtsgesetz festgelegt. Möglicherweise aber haben bayerische Vorstellungen insoweit Einfluß gehabt, als im Parlamentarischen Rat für die Beratungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit von Bayern zwei Memoranden vorgelegt wurden (vorwiegend auf Hans Nawiasky zurückgehend), die starken Einfluß auf die Erörterung hatten. Vgl. dazu Stern (1982), in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 93 (Zweitbearb.) Rn. 4; ders., Staatsrecht II (o. Fn. 5), S. 330 f. mit N. 2; oder Gerhard Robbers, Geschichtliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: D.C. Umbach/T. Clemens/F.-W. Dollinger (Hrsg.), BVerfGG Mitarbeiterkommentar und Handbuch (2. Aufl. 2005), S. 8 Rn. 27. 11 Parl. Rat, Vhgn. d. HauptAus (37. Stzg. v. 13.1.1949), S. 462. 12 Beispielsweise Söhn, Normenkontrolle (o. Fn. 3), S. 292 (298 f.); Christine Landfried, BVerfG und Gesetzgeber (1980), S. 176; oder Benda/Klein, Verfassungsprozeßecht (o. Fn. 6), Rn. 711. 13 BVerfGE 68, 346 (349). Ähnlich Stern, Staatsrecht II (o. Fn. 5), S. 985; Klaus Stüwe, Die Opposition im Bundestag und das BVerfG (1997), S. 77, 180; oder Wolfgang Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des BVerfG, in: HStR, Bd. III (3. Aufl. 2005), § 70 Rn. 60. Abstrakt auch schon Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30 (75).

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den Parlamentsabgeordneten einfach faktisch in diese Richtung, ob gewollt oder ungewollt. „Die Verfassung benutzt (auf jeden Fall) die zwischen Majorität und Minorität des Parlaments bestehenden, kontrollfördernden Spannungen zur Ankurbelung eines Verfahrens“14, und „der Opposition wird (tatsächlich) die Möglichkeit eröffnet, sich des Mittels der abstrakten Normenkontrolle auch im politischen Kampf und zu politischen Zielen zu bedienen“15. Die verfassungsrechtlichen Ausgangspunkte für diesen Aspekt sind klar: Parlamentarischer Minderheitenschutz und Oppositionsfreiheit stellen ja nur zwei Seiten derselben demokratischen Erscheinung dar. Bei den Minderheitenrechten geht es um abstrakte Verfahrensgarantien für quantitativ überstimmbare Abgeordnetengruppen, gleichgültig wie nahe sie an eine mögliche Mehrheitsstellung heranreichen oder welche Ziele sie inhaltlich verfolgen. Und Opposition bedeutet das institutionelle Anbringen von Kritik, Gegenmeinung und Kontrolle zu den regierungtragenden Kräften, also eine durchaus inhaltlich besonders ausgerichtete Anstrengung. So deutlich begrifflich die beiden Komplexe zu unterscheiden sind, so weitgehend kommen sie in der parlamentarischen Praxis zur Deckung. Die Gruppierungen, die nach der politischen Zusammensetzung des Bundestages in der Minderheit bleiben, weil sie von vornherein zahlenmäßig geringer sind als andere Gruppierungen und auch nicht an einer die Mehrheit organisierenden Koalition beteiligt werden, machen in aller Regel auch die Oppositionskräfte aus, welche der (mehrheitsgetragenen) Regierungspolitik gegenüber stehen. Beides ist also rechtssystematisch voneinander zu trennen, parlamentarisch-praktisch jedoch zusammenfallend. Oppositionsfreiheit ist dabei ein konstitutives Element der demokratischen Ordnung nach dem Grundgesetz und als solches durch eine Vielzahl von Prinzipien gewährleistet16. Dazu gehört vor allem das parlamentarische Regierungssystem, das nach seiner Wesensart auf eine Opposition angewiesen ist. Aber ebenso rechnen dazu das demokratische Mehrheitsprinzip, welches von der originären Existenz abweichender Meinungen ausgeht, das Prinzip des ___________ 14

Babel, Probleme (o. Fn. 3), S. 14/5. Stüwe, Opposition (o. Fn. 13), S. 183. Und ähnlich Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß (1968), S. 15; Rudolf Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des BVerfG (1972), S. 117; Göttrik Wewer, Das Bundesverfassungsgericht – eine Gegenregierung?, in: B. Blanke/H. Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel (1991), S. 310 (328, 333); Christian Hillgruber, in: Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozeßrecht (2004), Rn. 496; oder Malte Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger (o. Fn. 10), § 76 Rn. 2. 16 Ausführlich Hans-Peter Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd I: Die Grundlagen (1974), S. 208 ff.; oder Dorothee Hassenpflug-Hunger, Verfassungsrechtliche Abmessungen parlamentarischer Opposition nach dem Grundgesetz und Art. 12 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (1999), S. 56 ff. 15

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Minderheitenschutzes, das nicht nur die Existenz der Opposition garantiert, sondern auch ihren Schutz bewirkt, der Grundsatz der sog. „Alternanzdemokratie“, nach dem allemal eine machtübernahmebereite (regierungswillige) Gegenkraft vorhanden sein muß, und das Prinzip einer Herrschaft auf Zeit. Oppositionsfreiheit und freiheitlich-demokratische Grundordnung bedingen sich daher gegenseitig. Auf der einen Seite ergibt sich die Oppositionsfreiheit erst aus der spezifischen konstitutionellen Grundordnung, auf der anderen Seite ist die Grundordnung erst mit der inhaltlichen Ausgestaltung durch die Oppositionsfreiheit eine wirklich freie demokratische Anlegung17. Diese ruft also ein Recht auf Existenz parlamentarischer Opposition und auf Ausübung von Opposition hervor. Der 1971 als erster entsprechend in eine deutsche Verfassung aufgenommene Art. 73a der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg („Die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Sie hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit“) gibt insoweit auch die – ungeschriebene – Rechtslage nach der Bundesverfassung zutreffend wieder. Eine Positivierung im Grundgesetz würde hieran juristisch nichts ändern. Nur atmosphärisch oder perspektivisch wäre vielleicht eine gewisse Bestärkung zu gewinnen. Das richtige Maß an Einräumung von Oppositionsrechten obliegt jeweils der konkreten Regelung in den einzelnen Zusammenhängen und ist allemal eine Frage der gedeihlichen Ausbalancierung verschiedener Vektoren. Denn keinesfalls darf das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie durch Oppositions- bzw. Minderheitsrechte so begrenzt oder erschwert werden, daß ein Handelnkönnen der regierungtragenden Mehrheit im Parlament ernstlich behindert würde.

1. Festlegungen im geltenden Recht Die Normierung von Oppositionsbefugnissen erfolgt durchweg als Gewährung von Minderheitenrechten. Denn es wird einfach von der schon skizzierten Regel ausgegangen, daß die parlamentarischen Oppositionskräfte organisatorisch allemal die Minderheitsgruppierungen sind18 (sog. „Minderheitsopposition“). Denkbar wäre freilich auch Opposition aus einer (potentiellen) Mehrheitsposition heraus, nämlich dann, wenn eine Minderheitenregierung zustande gekommen ist oder eine Regierung ihre Mehrheit verloren hat. Es erschienen ___________ 17 Wolfgang Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: HStR III (o. Fn. 13), § 52 Rn. 22. 18 Statt anderer Peter M. Huber, Regierung und Opposition, in: HStR III (o. Fn. 13), § 47 Rn. 40 ff. m.w.Nachw.

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dann aber die Oppositionskräfte, weil zur parlamentarischen Mehrheit geworden oder jedenfalls zu ihr fähig, nicht mehr schutzbedürftig, und deshalb verzichtet das Recht dazu auf besondere Festlegungen. Für die regelhafte „Minderheitsopposition“ sind die Befugnisse und Möglichkeiten nur zu geringem Teil in der Verfassung selber vorgesehen19. Im Grundgesetz gibt es an aktiven Minderheitenrechten (also solchen, mit denen etwas durchgesetzt werden kann) das Bundestags-Einberufungsverlangen für ein Drittel der Bundestagsmitglieder nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG, die Einsetzungserzwingung eines Untersuchungsausschusses für ein Viertel der Bundestagsmitglieder nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG und eben die Antragsbefugnis für eine abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht für ein Drittel der Mitglieder des Bundestages nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. An passiven Oppositionsmöglichkeiten (also solchen, mit denen etwas verhindert werden kann) kennt das Grundgesetz Blockadepositionen für solche Abgeordnetengruppierungen, die zahlenmäßig bei der Bundeskanzlerwahl das Zustandekommen einer absoluten Mehrheit in der 1. und 2. Wahlphase vereiteln können (Art. 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG), eine absolute Mehrheit für ein konstruktives Mißtrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG zu unterbinden vermögen oder die Zwei-Drittel-Mehrheit für den Ausschluß der Öffentlichkeit im Bundestag verstellen würden (Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG). Und selbstverständlich gehört hierher auch die Konstellation von Art. 79 Abs. 2 GG, wonach eine Minderheit, die mehr als ein Drittel der Bundestagsmitglieder umfaßt, eine Verfassungsänderung verhindern kann. In einfachen Gesetzen bieten etwa §§ 48 Abs. 1 BVerfGG (Beschwerde gegen Wahlprüfungsentscheidungen des Bundestages), 14 Satz 2 WahlprüfG (Einspruch gegen die Gültigkeit einer Wahl zum Bundestagsabgeordneten) oder 16 Abs. 3 WahlprüfG (Antrag auf einstweilige Anordnung des BVerfG im verfassungsgerichtlichen Wahlprüfungsverfahren) Minderheitenrechte. Z.T. werden für Parlamentsminderheiten außerdem mittelbar Schutzrechte eingeräumt, wenn nämlich in speziellen Gremien wie Untersuchungsausschüssen oder Parlamentarischem Kontrollgremium Minoritäten der dortigen Mitglieder mit Sonderbefugnissen ausgestattet werden (die dann auch für die politisch hinter ihnen stehenden Plenumsgruppierungen Oppositionsmöglichkeit bieten), z.B. aktiv §§ 8 Abs. 2, 10 Abs. 1, 17 Abs. 2, 18 Abs. 3, 25 Abs. 1 Satz 3, 34 Abs. 1 Satz 2 PUAG: regelmäßig für 1/4 der Mitglieder; oder passiv § 2c Satz 1 PKGrG: für ein Quorum von mehr als 1/3 der Mitglieder. Die breit ausgestalteten Minderheitenrechte nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages brauchen hier nicht im einzelnen aufgeführt zu werden, ___________ 19 Zum folgenden etwa Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: HStR III (o. Fn. 13), § 53 Rn. 39 ff., 49 ff.

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sie decken nahezu alle relevanten Bereiche ab20. Die dortigen Regelungen sind allerdings nur dann änderungsfest und bieten also stärkeren Schutz, wenn sie bereits durch höherrangiges Recht, d.h. Verfassung, Gesetz oder Rechtsverordnung garantiert werden und eben dort keine Modifizierung erfahren. Denn Geschäftsordnungsrecht kann eben leichter überwunden werden. Mögliche Abschaffungen oder Abwandlungen von Minderheitenrechten müssen dort jedoch wenigstens in einem förmlichen Änderungsverfahren erfolgen; die qualifizierte Durchbrechung nach § 126 GeschO BT wird bei ihnen nicht für zulässig erachtet21. Umgekehrt darf eine geschäftsordnungsmäßige Einräumung von Minderheitenrechten aber auch selbstverständlich nicht höherrangigen Festlegungen widersprechen.

2. Konkrete Bemessung und Dosierung der Minderheitenrechte An welchen Stellen bzw. für welche Anliegen die Rechtsordnung Minderheitenprivilegien schafft, obliegt dem jeweiligen Rechtsetzer. In aller Regel wird also der Bundestag darüber zu befinden haben, sei es als verfassungsändernder bzw. einfacher Gesetzgeber, sei es als Autor seiner Geschäftsordnung. Ihm kommt dabei jeweils ein weiter politischer Gestaltungsraum zu, der (außer bei den schon benannten Vorgaben höherrangigen Rechts) seine Grenzen nur dort findet, wo das demokratisch parlamentarische Verfahren oder effektive Regierungshandeln anfängt wirklich behindert oder fühlbar erschwert zu werden. Aber selbst diese Grenze dürfte in ihrem Erreichtsein wieder kontrovers beurteilt werden können, also immer eine Einschätzungsmarge aufweisen. Wenn nicht alles täuscht, hat das geltende Recht die maßgeblichen, empfehlenswerten und gedeihlichen Bereiche bzw. Gegenstände für den Minderheitenschutz umfassend thematisiert. Neue Themenfelder sind jedenfalls nur schwer auszumachen oder würden ziemlich „an den Haaren herbeigezogen“ wirken. Anders dürfte es sich mit dem jeweiligen Größenzuschnitt der mit Rechten versehenen Minderheiten verhalten. Die grundgesetzlichen Minderheitenrechte changieren zwischen 1/3 und 1/4. Die gesetzlichen Einräumungen stellen überwiegend auf 1/10 der Abgeordneten ab, halten aber auch etwa eine Quantifizierung von 100 Abgeordneten bereit (§ 14 Satz 2 WahlprüfG), was etwa 1/6 der Plenarstärke bedeutet. Und die geschäftsordnungsmäßigen Minderheitenrechte kommen ebenfalls sehr unterschiedlich daher, kaprizieren sich indessen meistens auf 1/4 oder auf Fraktionsstärke, also (§ 10 Abs. 1 GeschO-BT) 5 % = ___________ 20 Im einzelnen Heike Baddenhausen-Lange, Minderheitsschutz im Deutschen Bundestag (Wiss. Dienste des Dt. BT, Ausarbeitung 1/1997, S. 4 ff. 21 Zeh, HStR III, § 53 Rn. 15; oder Baddenhausen-Lange, Minderheitsschutz (a.a.O.), S. 16.

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1

/20 der Mitglieder des Bundestages. Allenthalben ist hier erneut großer Gestaltungsspielraum eröffnet, und eine wirkliche Systematik läßt sich kaum erkennen.

III. Quorumsansetzung bei der abstrakten Normenkontrolle Daß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (§ 76 Abs. 1 BVerfGG) die Antragsberechtigung für die abstrakte Normenkontrolle auf ein Drittel der Mitglieder des Bundestages festlegt, scheint „eher zufällig als zwingend“ geschehen zu sein22. Im Parlamentarischen Rat gab es dafür – wie gesehen23 – jedenfalls keinerlei Begründung, und selbst aus der Ablehnung einer Quorumsherabsetzung auf 1/5 der Bundestagsmitglieder24 läßt sich eine Erklärung kaum entnehmen. Der antragstellende Abg. Seebohm hatte allerdings auch etwas einseitig mit „subjektiven“ Positionen argumentiert: Die Festlegung auf ein Drittel der Bundestagsmitglieder erscheine „zum Schutz der Minderheit nicht ausreichend25.

1. Teleologische Rekonstruktion Gisela Babel erwägt, ob es für die Drittelfixierung in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nicht doch eine verfassungsgeschichtliche oder systematische Begründung gebe26. Denn nachdem in der Verfassunggebenden Nationalversammlung von Weimar der Vorschlag, eine Antragsberechtigung von 100 Reichstagsabgeordneten für eine Normenkontrollklage vorzusehen, erfolglos geblieben war, habe Alexander Graf zu Dohna (auf dem 33. Deutschen Juristentag 1925) als Erster ein entsprechendes Antragsrecht für ein Drittel der Reichstagsabgeordneten gefordert, weil der Reichstag die Frage nämlich, ob bei einer Vorschrift die Verfassung geändert werde und also das dafür vorgeschriebene Verfahren einzuhalten sei, mit einfacher Mehrheit entscheiden könne und daher das Recht der Minderheit, eine Verfassungsänderung zu verhindern, schutzlos der mehrheitlichen Willkür preisgegeben sei, wenn sie sich nicht dagegen wehren könnte. Das Drittelerfordernis wurde demnach als Gegengröße zur förmlichen Verfas___________ 22

Söhn, Normenkontrolle (o. Fn. 3), S. 292 (297). Ebenso Gilmar Ferreira Mendes, Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem brasilianischen Supremo Tribunal Federal (1991), S. 84: „eine gewisse Zufälligkeit“. 23 Oben mit Fn. 9. 24 Oben mit Fn. 11. 25 Parl. Rat, Vhgn. d. HauptAus, S. 462. Widergegeben auch etwa bei Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit (o. Fn. 15), S. 80. 26 Babel, Probleme (o. Fn. 3), S. 38 f. mit eingehenden Nachw. Auch Mendes, Normenkontrolle (o. Fn. 22), S. 57 f.; oder BVerfGE 1, 396 (400 ff.).

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sungsänderungsmehrheit gesehen und fand insoweit noch einmal Unterstützung, als die Reichsregierung durch Innenminister Wilhelm Külz einen Gesetzentwurf einbrachte27, wonach jeweils einem Drittel der Mitglieder beider Gesetzgebungskörperschaften (Reichstag und Reichsrat) ein Antragsrecht zur Normenkontrolle beim Staatsgerichtshof zuzuweisen sei. Der Entwurf wurde jedoch weder beraten noch beschlossen28. Die Argumentation mit der verfassungändernden Zwei-Drittel-Mehrheit ist jedoch schon deshalb wenig überzeugend, weil nach Art. 76 Abs. 1 Sätze 2 und 3 WRV die verfassungsändernde Mehrheit in Reichstag und Reichsrat nur auf zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten bzw. der abgegebenen Stimmen festgelegt war29, so daß die Minderheit, welche tatsächlich eine Verfassungsänderung verhindern konnte, in aller Regel sehr viel kleiner sein mochte als ein Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl. Das brachte ja zu Recht auch Heinrich Triepel dazu, den Dohnaschen Vorschlag auf jeweils ein Drittel der Anwesenden zu reduzieren30, was dann freilich eine vorab zahlenmäßig feste Angabe des antragsberechtigten Quorums unmöglich machen würde. Im übrigen wäre der Gedanke mit dem Aushebelnkönnen der Minderheitenoption zur Verfassungsänderungsverhinderung durch die einfache Parlamentsmehrheit auch kaum aus der Weimarer Reichsverfassung auf das Grundgesetz zu übertragen, weil eine Verfassungsänderung, die nun ja bekanntlich eine 2/3-Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl in beiden Gesetzgebungskörperschaften verlangt, nach der jetzigen Konstitution immer das förmliche Verfassungsänderungsverfahren einhalten muß und nicht nur dann, wenn das Parlament es will: Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG. Die deutschen Landesverfassungen, die unmittelbar nach dem Weltkrieg und dem endgültigen Zusammenbruch der vergewaltigten Weimarer Verfassung entstanden, trennten deshalb auch ganz überwiegend das Antragsrecht für Parlamentsminderheiten zur Normenkontrolle oder einem vergleichbaren Verfah___________ 27 Entwurf eines „Gesetzes über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts“ v. 11.12.1926: Vhgn. d. RT, III. WP 1924, Bd. 412 (Anlagen), Drs. 2855. 28 Und dies geschah ebenso mit dem im neugewählten Reichstag eingebrachten gleichlautenden Antrag v. 16.10.1928; Vhgn d. RT, IV. WP 1928, Bd. 431 (Anlagen), Drs. 382. 29 Bei allerdings im Reichstag notwendiger Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl (Art. 76 I 2 WRV), was dort die Verfassungsänderungsmehrheit immerhin auf mindestens 4/9 der Mitgliederzahl anhob, während im Reichsrat, wo geschäftsordnungsmäßíg nur die Beschlußfähigkeit (mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend) als Rechenbasis angelegt war, im schlechtesten Fall schon 2/6 der Mitglieder (plus ein Abgeordneter) für den Verfassungsänderungsbeschluß ausreichten. 30 Triepel, in: Vhgn. d. 33. DJT (1925), S. 62.

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ren von der Sperrminorität bei Verfassungsänderungen (oder überließen die nähere Festlegung dem einfachen Gesetzgeber). So verlangten Hamburg und Bremen jeweils ein Abgeordnetenquorum von 1/5 der Parlamentsmitglieder, Hessen legte sich auf 1/10 fest, Rheinland-Pfalz auf die Größe einer Fraktion, und nur das Saarland fixiert die Befugnis auf 1/3 der Landtagsmitglieder31. Eine historisch teleologische Linie für die grundgesetzliche Festlegung läßt sich also nicht erkennen. Und auch ein Rückschluß aus den anderen beiden Minderheitspositionen im Grundgesetz führt nicht weiter. Denn die pflichtige Bundestagseinberufung nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG, welche das Quorum so wie in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf das Abgeordnetendrittel festlegt, hat an operativer Handlungssubstanz und politischem Gewicht mit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zur Normenkontrolle eben wenig gemein. Und die zwingende Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, die am ehesten mit der parlamentsseitigen Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts vergleichbar wäre, legt das Antragsquorum gerade abweichend, nämlich auf 1/4 der Parlamentsmitglieder fest.

2. Rechtspolitische Überlegungen Vielleicht könnte man aber den Zusammenhang zwischen der – aus dem Parlament heraus betriebenen – abstrakten Normenkontrolle und einer (für die Minderheit nicht mehr verhinderbaren) Verfassungsänderung doch noch nutzbar machen. Dafür spräche ja nicht nur intuitiv einiges, weil Verfassungsänderungen für den Rechtsstaat immer eine offene Flanke bedeuten. Vielmehr weist auch die rechtsstaatliche Funktion der Normenkontrolle bzw. das allgemeine Interesse an einer Sicherstellung verfassungsmäßiger Zustände in diese Richtung. Denn mindestens müßte auf diesem Wege doch die Möglichkeit von verfassungswidrigem Verfassungsrecht verhindert werden können, weil sonst eben, wenn ein Zur-Überprüfung-Bringen beim Bundesverfassungsgericht nicht möglich sein sollte, neue und materiell inakzeptable Maßstäbe für nachgeordnete Rechtssetzungen, namentlich einfache Gesetze, geschaffen werden. Und es ist eine Standarderkenntnis, daß es von der Ausgestaltung der Antragsbefugnis

___________ 31 HH Art. 65 III Nr. 3 (Mai 1946); He Art. 131 II (Dezember 1946); RhPf Art. 130 II (Mai 1947); HB Art. 140 I 1 (Oktober 1947); Sld 97 Nr. 2 (Dezember 1947). Bay überließ die Festlegung dem einfachen Gesetz, und B („Groß-Berlin“) wird hier nicht aufgeführt, weil es seinen Status nach 1946 (bis heute) vollständig verändert hat und die Verfassung damals auch eine Schöpfung der Alliierten war.

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abhängt, ob und inwieweit das Verfassungsgericht „seine Aufgabe als Garant der Verfassung erfüllen kann“32. Schon rein rechnerisch genügt dann aber die Kaprizierung der Normenkontroll-Antragsbefugnis auf ein Drittel der Mitglieder des Bundestages nicht. Ein sog. „genaues Drittel“ wäre als Anknüpfungspunkt nämlich bereits deshalb unzutreffend, weil es eine Verfassungsänderung gar nicht verhindern könnte33. Und zahlenmäßig ist es ohnehin absolute Ausnahme, daß ein solcher Verfassungseingriff genau mit der Zwei-Drittel-Zustimmung des Bundestages nach Art. 79 Abs. 2 GG zustande käme. Immer wird die verfassungsändernde Mehrheit tatsächlich größer als die geforderte Mindestzahl sein, so daß die restlichen Abgeordneten, die für die Erhebung eines Normenkontrollantrags in Frage kämen, niemals ein Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl erreichen können. Von den neun späteren (nach dem Grundgesetz entstandenen) Verfassungen der westlichen wie der östlichen (neuen) Bundesländer haben sich deshalb auch nur noch drei (Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) für das der Komplementärgröße zur Verfassungsänderungsmehrheit entsprechende Mitgliederdrittel bei der Normenkontroll-Antragsberechtigung entschieden. Drei weitere wählen ein Viertel als notwendiges Quorum (Berlin, Sachsen und Sachsen-Anhalt) und die drei übrigen entscheiden sich für ein Fünftel (Brandenburg, Niedersachsen und Thüringen), obwohl allenthalben die verfassungsändernde Mehrheit bei zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl liegt34. Die Sicherstellung einer wirksamen verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Verfassungsänderungen setzt also für die Antragsberechtigung auf Parlamentsseiten ein Quorum voraus, das kleiner ist als die rechnerische Komplementärgröße zur Verfassungsänderungsmehrheit, d.h. weniger als ein Drittel der gesetzlichen Parlamentsmitglieder beträgt. Ob man dazu auf 1/4 oder 1/5 heruntergeht oder gar schlicht auf den Fraktionsstatus abstellt (mindestens 1/20), ist von dorther unerheblich. Für diese Frage dürften vielmehr Gesichtspunkte politischer Gestaltungs- und Entscheidungsfähigkeit der Regierungsmehrheit bzw. möglicher Überlastung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich sein. ___________ 32 So bereits Kelsen, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30 (74). Und nachfolgend etwa Babel, Probleme (o. Fn. 3), S. 13; Söhn, Normenkontrolle (o. Fn. 3), S. 292 (298); oder Stüwe, Opposition (o. Fn. 13), S. 180, 183/4. 33 Schon Triepel 1925, a.a.O. (Fn. 30). Nötig wäre immer mindestens ein gesetzliches Drittel plus 1 Abgeordneter. 34 Brbg Art. 113 Nr. 2; MV Art. 53 I Nr. 2; Nds Art. 54 Nr. 3; NW Art. 75 Nr. 3; Sa Art. 81 I Nr. 2; SaAh Art. 75 Nr. 2; SH Art. 44 Nr. 2; Thü Art. 80 I Nr. 4. BaWü überläßt die Festlegungen dem einfachen Gesetz. – Auch im Ausland hat man sich überwiegend von der Fixierung auf die Sperrminorität bei Verfassungsänderungen gelöst; s. die Angaben bei Mendes, Normenkontrolle (o. Fn. 22), S. 82.

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3. Verfassungsgesetzliche Festlegung Bei einer demgemäß zu empfehlenden Absenkung des parlamentseigenen Antragsquorums zur abstrakten Normenkontrolle (unter das bisherige Mitgliederdrittel) mag es im einzelnen zunächst darum gehen, eine gewisse Systematik in die konstitutionellen Minderheitenrechte zu bringen. Daß die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts aus einer parlamentarischen Minderheitenposition, was die operative Handlungssubstanz und das politische Gewicht anbetrifft, eher mit der Erzwingung einer Untersuchungsausschuß-Einsetzung (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG) verglichen werden kann als mit dem organisatorisch formellen Instrument einer pflichtigen Bundestagseinberufung (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG), wurde bereits erwähnt. Deshalb würde aus dieser Perspektive vieles für eine Herabsetzung des Quorums wie bei der zwingenden Untersuchungsausschuß-Einsetzung, also auf 1/4 , sprechen. Einer Absenkung gleich auf Fraktionsstärke (= ein Zwanzigstel der Parlamentsmitglieder) steht andererseits gewiß die Filterfunktion der Antragsberechtigung entgegen. Denn mit ihr soll verhindert werden, daß das Bundesverfassungsgericht durch die Häufung von Normenkontrollklagen überfordert werden könnte35. Immerhin wäre die Zahl der möglichen Fraktionen im Bundestag unterhalb der Ein-Drittel-Schwelle rechnerisch als bis zu sechs denkbar, und derzeit gibt es tatsächlich bereits drei. Außerdem fehlt für eine entsprechende Befugniserweiterung auch das politische Bedürfnis. Denn in den meisten Fällen steht einer Fraktion ja bereits die Organstreitigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zur Verfügung, u.zw. nicht nur, wenn sie um eigene Organschaftsrechte streitet, sondern ebenso, wenn sie in Prozeßstandschaft für den Gesamt-Bundestag eine Verletzung seiner Rechte geltend machen will. Pure Normenkontrolle läßt sich auf diesem Wege allerdings nicht betreiben. Die Herabsetzung des Antragsquorums auf ein Viertel der Bundestagsmitglieder (für die ja auch eine Mittelung der verschiedenen im deutschen Parlamentsrecht verwirklichten Antragsquoren sprechen mag) würde jedenfalls die Gefahr einer Überschwemmung des Bundesverfassungsgerichts mit einschlägigen Verfahren und einer Lähmung wirksamen Regierungshandelns ernsthaft nicht erwarten lassen. Schon bisher haben Oppositionsklagen ja keineswegs die Größenordnung erreicht, die ihnen ängstliche und warnende Stimmen nachsagen wollten36. Und auch die Absenkung des Antragsquorums um einen einzi___________ 35 Babel, Probleme (o. Fn. 3), S. 14; Stern, BK (o. Fn. 10), Art. 93 Rn. 208; Söhn, Normenkontrolle (o. Fn. 3), S. 292 (297); Mendes, Normenkontrolle (o. Fn. 22), S. 83. 36 Für 1951 bis 1995 ausführlich Stüwe, Opposition (o. Fn. 13), S. 174 ff. Ebenso dann erweitert bis 1999 neuerlich ders., Das BVerfG als verlängerter Arm der Opposition?, in: APuZ B 37-38/2001, S. 34 ff., wo allerdings nicht zwischen Normenkontrollen und Organstreitigkeiten differenziert wird.

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gen Bruchteilpunkt wird daran nichts ändern. Außerdem endeten bisher Prozeßinitiativen, die überwiegend auf politischen Motiven beruhten, in Karlsruhe regelmäßig mit einer Abfuhr37, und jeder weiß, daß solche Niederlagen für den Kläger viel größeren Imageschaden bringen, als man durch die Klageerhebung erzielen könnte. Nur angedeutet werden mag zum Schluß noch eine gänzlich andere Alternative, um die Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Rechtsvorschriften durch das Bundesverfassungsgericht zu verbessern. Es wäre dies die Einführung einer ganz neuen, vielleicht auch nur ergänzenden oder subsidiären Antragsberechtigung bei der abstrakten Normenkontrolle, nämlich die Schaffung einer unabhängigen Einrichtung, welche allein die Beobachtung und Kassationseinleitung von Verfassungswidrigkeiten zur Aufgabe hat. Ein solcher „Verfassungsanwalt“ wurde ja auch bereits frühzeitig in die Diskussion gebracht. Hans Kelsen regte ihn 1928 an38 und empfahl seine Präsenz als eine „ernstester Prüfung durchaus würdige Institution“. Nur vereinzelt aber wurde diese Überlegung aufgegriffen39. Von ihm könnte immer (auch) dann ein Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gestellt werden, wenn wegen übergroßer Regierungsmehrheit im Parlament das parlamentsseitige Antragsquorum von der opponierenden Minderheit nicht zu erreichen ist, verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen beschlossenen Gesetzesakt aber eine gerichtliche Klärung angebracht erscheinen lassen. Von den Bundesländern hat bisher nur Hessen eine solche Einrichtung verwirklicht. Der dortige Landesanwalt ist neben den anderen Antragsberechtigten zur Erhebung einer abstrakten Normenkontrollklage berechtigt40. Man sieht, auch nach über fünfzig Jahren erfolgreicher Arbeit läßt sich die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“ immer noch effektivieren. ___________ 37

Überzeugend Wewer, Bundesverfassungsgericht (o. Fn. 15), S. 310 (328 mit den empirischen Nachweisen). 38 VVDStRL 5 (1929), S. 30 (75): „… die Aufstellung eines Anwalts der Verfassung (Verfassungsanwalts) beim Verfassungsgericht, der – nach Analogie des Staatsanwalts im Strafverfahren – von Amts wegen das Verfahren zur Überprüfung jener Akte einzuleiten hätte, die, der Kontrolle des Verfassungsgerichts unterworfen, vom Verfassungsanwalt für verfassungswidrig erachtet werden“. 39 Bspw. bei René Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat (1957), S. 359 f.; Hans-Justus Rinck, Initiative für die verfassungsmäßige Prüfung von Rechtsnormen, in: EuGRZ 1974, S. 91 (95); Ernst Fiesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Jura 1982, S. 505 (509); oder Mendes, Normenkontrolle (o. Fn. 16), S. 74, 86. Vgl. auch Marcic, Zur Reform der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Gebhard Müller (1970), S. 217 (255); oder Hans R. Klecatsky, Verfassungsanwalt und Vertreter des öffentlichen Interesses in Österreichs Gerichtsbarkeit und Verwaltung, in: F.O. Kopp (Hrsg.), Die Vertretung des öffentlichen Interesses in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1982), S. 85 (86 f.). 40 Art. 130 I 2 Verf HE, §§ 10, 19 (II Nr. 7), 21 Gesetz über den Staatsgerichtshof (StHHG) neu bek. gem. am 19.1.2001 (GVBl. I S. 78).

Föderalismusreform und Vollziehung von Gemeinschaftsrecht* Von Michael Schweitzer, Passau

I. Im Rahmen der Föderalismusreform kam es auch zu einer Änderung des Art. 84 Abs. 1 GG. Satz 1 bestimmt zwar nach wie vor, dass die Länder die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, wenn sie die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen. Die Einschränkung, dass Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen können, ist aber weggefallen. In Satz 2 Halbsatz 1 ist zwar vorgesehen, dass Bundesgesetze etwas anderes bestimmen können; nicht mehr vorgesehen ist dabei allerdings die Zustimmungsbedürftigkeit solcher Gesetze. In Satz 2 Halbsatz 2 wurde der damit verbundene Wegfall der Einflussmöglichkeit der Länder kompensiert durch die Möglichkeit, dass die Länder davon abweichende Regelungen treffen können. Die Sätze 2 bis 7 enthalten Verfahrens- und Ausnahmevorschriften von dieser grundsätzlichen Neuregelung der Länderverwaltung unter Bundesaufsicht. Anlässlich dieser Reform tauchte wieder ein kontrovers diskutiertes, vom BVerfG noch nicht entschiedenes Problem auf, nämlich die Geltung des Art. 84 Abs. 1 GG für die Vollziehung von Gemeinschaftsrecht. Es geht dabei um die Frage, ob das Gemeinschaftsrecht von den Ländern gemäß Art. 84 GG (mit den Einflussmöglichkeiten des Bundes) oder gemäß Art. 30 GG vollzogen wird.

II. Die Vollziehung von Gemeinschaftsrecht wird einerseits von der EG selbst, d. h. von ihren Organen, wahrgenommen. Man spricht dann von gemeinschaftsunmittelbarer Vollziehung1. Diese Art der Vollziehung stellt den Ausnahmefall ___________ * Meinem Mitarbeiter, Herrn Ass. Michael Pahlke, danke ich sehr herzlich für die Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags.

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dar. Sie kommt nur dann zur Anwendung, wenn das primäre Gemeinschaftsrecht dies ausdrücklich regelt, wie z.B. im Beihilfenrecht (Art. 88 EGV) und im Währungsrecht (Art. 105 ff. EGV), oder wenn das primäre Gemeinschaftsrecht den Erlass von entsprechendem sekundärem Gemeinschaftsrecht vorsieht oder zulässt, wie z. B. im Fall der auf Art. 83 EGV gestützten Verordnung 1/2003 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 16. Dezember 2003 (Kartellverfahrensverordnung)2. Im Regelfall wird das Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten vollzogen. Man spricht dabei von mitgliedstaatlicher Vollziehung und unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer mitgliedstaatlicher Vollziehung.3 Bei der unmittelbaren mitgliedstaatlichen Vollziehung wird das Gemeinschaftsrecht direkt von den Organen und Behörden der Mitgliedstaaten vollzogen. Voraussetzung dafür ist, dass das Gemeinschaftsrecht unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit hat. Unmittelbare Geltung bedeutet, dass das Gemeinschaftsrecht nicht in das nationale Recht inkorporiert werden muss (etwa durch Transformation oder Vollzugsbefehl), sondern dass es unmittelbar und neben dem nationalen Recht als eigenständiges Recht (Recht sui generis) gilt, von der gesamten Staatsgewalt zu beachten ist und Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt.4 Unmittelbare Anwendbarkeit bedeutet, dass eine Norm inhaltlich geeignet ist, Rechte und Pflichten aufzuerlegen, ohne dass es einer weiteren Konkretisierung bedarf, sie also vollzugsfähig i. S. v. self executing ist.5 Unmittelbare Geltung haben in der Regel das primäre Gemeinschaftsrecht, Verordnungen (ausdrücklich) nach Art. 249 Abs. 2 EGV, Entscheidungen nach Art. 249 Abs. 4 EGV und völkerrechtliche Verträge der EG nach Art. 300 Abs. 7 EGV. In den meisten Fällen haben diese Normen auch unmittelbare Anwendbarkeit. Im Wesentlichen gleich zu behandeln sind Richtlinien mit unmittelbarer Wirkung. Eine solche tritt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH dann ein, wenn eine Richtlinie, die Rechte des Einzelnen beinhaltet und unmittelbar anwendbar ist, nicht fristgerecht oder falsch ungesetzt wird.6 Daraus folgt, dass der Einzelne sich gegenüber der staatlichen Hoheitsgewalt auf diese Rechte berufen kann; Behörden und Gerichte müssen die Richtlinie unmittelbar als ___________ 1

S. dazu Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, 2007, Rz. 697 f. Sartorius II, Nr. 165. 3 S. dazu Schweitzer/Hummer/Obwexer (Fn. 1), Rz. 699 ff. 4 S. dazu EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, S. 629 ff., Rz. 14/16. 5 S. dazu z. B. EuGH, Rs. 57/65, Lütticke, Slg. 1966, S. 258 ff., 266. 6 Z. B. EuGH, Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, S. 53 ff., Rz. 21 ff. 2

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Rechtsgrundlage für ihre Entscheidungen heranziehen. Davon unberührt bleibt die weiterhin bestehende Pflicht des Mitgliedstaats zur (richtigen) Umsetzung der Richtlinie. Wenn das geschehen ist, wird die unmittelbare Wirkung gegenstandslos. Daher ist diese – dogmatisch gesehen – nicht mit einer unmittelbaren Geltung gleichzusetzen, auch wenn sich für den Einzelnen, rein praktisch gesehen, keine Unterschiede ergeben.7 Die mittelbare mitgliedstaatliche Vollziehung kommt zum Zuge, wenn zwar Gemeinschaftsrecht vorliegt, dieses aber keine unmittelbare Geltung bzw. Anwendbarkeit hat. Es muss daher vom nationalen Gesetz- oder Verordnungsgeber umgesetzt oder durchgeführt werden. Dies ist insbesondere bei Richtlinien gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV der Fall. Die nationalen Behörden vollziehen dann nationales Recht, das aber insofern einen Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht behält, als das nationale Recht gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt und angewandt werden muss.8

III. Bei der mittelbaren mitgliedstaatlichen Vollziehung finden die Art. 30 und 83 ff. GG unstreitig direkte Anwendung, da es um den Vollzug nationalen Rechts geht.9 Anders ist es bei der unmittelbaren mitgliedstaatlichen Vollziehung. Denn Art. 84 Abs. 1 GG regelt nur den Fall, dass die Länder „Bundesgesetze“ als eigene Angelegenheit ausführen. Unmittelbar geltendes und anwendbares Gemeinschaftsrecht ist aber nicht als „Bundesgesetz“ einzustufen. Vielmehr handelt es sich – wie dargestellt – um ein Recht sui generis, was auch vom BVerfG anerkannt worden ist.10 Dazu kommt, dass – mit einer Ausnahme – das GG keine ausdrückliche Regelung einer Bundeszuständigkeit bei der Vollziehung von Gemeinschaftsrecht enthält.11 Diese – nur wenig bedeutende – Ausnahme findet sich in Art. 108 ___________ 7

S. zum Ganzen Schweitzer/Hummer/Obwexer (Fn. 1), Rz. 274 ff. S. dazu (für Richtlinien) z.B. EuGH, Rs. 14/83, Von Colson und Kamann, Slg. 1984, S. 1891 ff., Rz. 26. 9 Hermes, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 2000, Art. 83 Rz. 6; Streinz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 7, 1992, § 182 Rz. 58; Suerbaum, Die Kompetenzverteilung beim Verwaltungsvollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts in Deutschland, 1998, S. 221; Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, 5. Aufl., 2005, Art. 83 Rz. 65. 10 BVerfGE 37, S. 271 ff., 277 f. 11 Dittmann, in: Sachs, Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl., 2007, Art. 83 Rz. 20; Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, 2001, S. 174; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl., 8

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Abs. 1 Satz 1 GG und betrifft die Abgaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften, die durch Bundesfinanzbehörden verwaltet werden. Um diese Lücke zu schließen wurde von der Enquete-Kommission Verfassungsreform 1976 vorgeschlagen, dass gemäß eines neu einzufügenden Art. 90a GG für die Ausführung von Rechtsvorschriften einer zwischenstaatlichen Einrichtung, auf die der Bund gemäß Art. 24 GG Hoheitsrechte übertragen hat,12 die Regelungen für die Ausführung von Bundesgesetzen entsprechend gelten sollten.13 Dazu kam es allerdings nicht. In der Literatur wurden für das Problem verschiedene Lösungen angeboten:

1. Direkte Anwendung der Art. 83 ff. GG Eine in der neueren Literatur – soweit ersichtlich – nicht mehr vertretene Ansicht ging davon aus, dem Bund komme nicht nur die Kompetenz zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern – damit einhergehend – auch zur Ausführung des von der dadurch geschaffenen Hoheitsgewalt erlassenen Rechts zu.14 Denn wenn der Bund nicht nur eigene, sondern auch Hoheitsrechte der Länder übertragen könne,15 müsse daraus gleichzeitig eine umfassende Ausführungskompetenz erwachsen. Ebenso wenig durchgesetzt hat sich der Versuch, eine Bundeskompetenz für den Vollzug von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht aus Art. 5 EWGV (jetzt Art. 10 EGV) oder aus Art. 32 Abs. 1 GG abzuleiten.16 Beide Auffassungen sind gemeinschaftsrechtlich nicht geboten und würden die grundgesetzliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern aushöhlen.17 Gegen die erstgenannte Ansicht wird auch eingewandt, dass Art. 24 ___________ 2008, vor Art. 83 Rz. 12; Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 7; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2, 1980, S. 784; Streinz (Fn. 9), § 182 Rz. 59. 12 Heute wäre dies im Falle der EU Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. 13 Vgl. Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform, Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Teil II, S. 86 f., 93. 14 Vgl. die Nachweise bei Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik, 1988, S. 27 ff.; gegen diese Ansichten auch: Birke, Die Deutschen Bundesländer in den Europäischen Gemeinschaften, 1973, S. 125; ebenso: Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bundesstaat: Bund/Länder-Verhältnis und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 44 ff. 15 Im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG entsprach dies der h. L. (s. Schweitzer, Staatsrecht III, 9. Aufl., 2008, Rz. 54), im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG ergibt sich dies schon aus Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG. 16 Vgl. hierzu Weber (Fn. 14), S. 28 f. m. w. N. 17

Streinz (Fn. 9), § 182 Rz. 53; ähnlich auch Birke (Fn. 14), S. 125.

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Abs. 1 (entsprechend jetzt Art. 23 Abs. 1 Satz 2) GG sich in der Übertragung von Hoheitsrechten erschöpfe und nicht die Durchführung des von der neu geschaffenen Hoheitsgewalt geschaffenen Rechts umfasse.18 Den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen werde durch die verfassungsrechtliche Pflicht der Länder zur Ausführung des Gemeinschaftsrechts genügt, die notfalls mittels Bundeszwangs gemäß Art. 37 GG herbeigeführt werden könne, wozu der Bund gemeinschaftsrechtlich überdies verpflichtet sei.19 Schließlich wird einer generellen Bundeszuständigkeit bei der Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht auch entgegengesetzt, dass sie wegen Fehlens eines ausreichenden Verwaltungsunterbaus des Bundes unpraktikabel wäre.20

2. Analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG Vom Ausgangspunkt her besteht in der neueren Literatur Einvernehmen darüber, dass die Frage der Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht unter Rückgriff auf das nationale Verfassungsrecht zu beantworten sei, 21 also anhand der Art. 30 und 83 ff. GG. In einigen Fällen wird jedoch lediglich eine Anwendbarkeit der Art. 30 und Art. 83 ff. GG entsprechend auf die unmittelbare Vollziehung von Gemeinschaftsrecht festgestellt, ohne dass gesagt wird, welche Regelung vorrangig heranzuziehen und wie das Verhältnis dieser Bestimmungen zueinander ist.22 Das BVerwG hat auf die Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht die Art. 83 ff. GG angewendet, ohne sich festzulegen, ob eine direkte oder entsprechende Anwendung geboten sei.23

___________ 18

Schwan, Die deutschen Bundesländer im Entscheidungssystem der Europäischen Gemeinschaften, 1982, S. 147 f.; Weber (Fn. 14), S. 28. 19 Streinz (Fn. 9), § 182 Rz. 53. 20 Streinz (Fn. 9), § 182 Rz. 59. 21 Bull, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001, vor Art. 83 Rz. 105; Everling, in: Zur Integration Europas, Festschrift für Carl Friedrich Ophüls aus Anlass seines siebzigsten Geburtstages, 1965, S. 33 ff., 36; Lerche, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Band 5, Stand: Juni 2007, Art. 83 Rz. 51; Stern (Fn. 11), S. 784; Suerbaum (Fn. 9), S. 232; Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 64. 22 Henneke (Fn. 11), vor Art. 83 Rz. 12; Trüe, EuR 1996, S. 179 ff., 196 f. 23 BVerwGE 102, 119 ff., 125 f.

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a) Volle Analogie Die Vertreter einer vollen Analogie gehen vom Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke im Grundgesetz aus, da es sich ja bei der Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht begrifflich nicht um die Ausführung von „Bundesgesetzen“ handele.24 Die Regelungslücke sei auch heute noch ungewollt, da Art. 23 GG zwar das Zusammenwirken von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union umfassend regele, allerdings nur bezogen auf die innerstaatliche Willensbildung im Vorfeld von Rechtssetzungsakten der EU und nicht im Hinblick auf die Ausführung von solchermaßen entstandenem Recht.25 Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht sei daher – trotz seines höheren Ranges – stets „Bundesgesetzen“ gleichzustellen.26 Das Gemeinschaftsrecht habe mit den Bundesgesetzen gemeinsam, dass es für das gesamte Gebiet der Bundesrepublik gelte, woraus die eine analoge Anwendung rechtfertigende Vergleichbarkeit der Sachverhalte hergeleitet wird.27 Für eine direkte oder analoge Heranziehung des Art. 30 GG verbleibt unter Zugrundlegung dieser Meinung wegen der umfassenden Gleichsetzung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht und Bundesgesetzen kein Anwendungsbereich. Begründet wird die analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG häufig auch damit, dem Bund müssten die in Art. 84 Abs. 2 bis 5 GG eingeräumten Aufsichtsbefugnisse (Ingerenzrechte) eingeräumt werden, da er nur so seiner gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Vollziehung des ___________ 24 Birke (Fn. 14), S. 125; Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996, S. 151; Bull (Fn. 21), vor Art. 83 Rz. 106; Broß, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 4./5. Aufl., 2003, Art. 83 Rz. 21; Dittmann (Fn. 11), Art. 83 Rz. 20; Ehlers, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., § 4 Rz. 53; Everling (Fn. 21), S. 33 ff., 36 (dort Fn. 14); Fischer, Europarecht in der öffentlichen Verwaltung, 1994, S. 118; Koenig, DVBl. 1997, S. 581 ff., 585; Lerche (Fn. 21), Art. 83 Rz. 51; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl., 2006, § 22 Rz. 12; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Aufl., 2007, Art. 83 Rz. 5; Streinz, in: Schweitzer (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht, 1991, S. 241 ff., 260; Weber (Fn. 14), S. 47 f.; zum Vorhandensein einer Lücke ausführlich: Suerbaum (Fn. 9), S. 233 ff., der sich allerdings gegen eine pauschale analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG wendet; für eine direkte Anwendung des Art. 83 GG hingegen: Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 212. 25 Heitsch (Fn. 11), S. 174; a. A.: Vogel, in: Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 829: Eine Lücke gebe es seit der Neufassung des Art. 23 GG im Jahre 1992 nicht mehr; letzterem folgend Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 66, der eine planwidrige Unvollkommenheit des GG in diesem Punkt auch wegen des nicht aufgegriffenen Vorschlags der Enquete-Kommission Verfassungsreform von 1976 bezweifelt. 26 Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl., 1997, Rz. 1240. 27 Birke (Fn. 14), S. 126; Heitsch (Fn. 11), S. 174.

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Gemeinschaftsrechts wirksam nachkommen könne.28 Dies müsse auch dann gelten, wenn für die gemeinschaftsrechtlich geregelte Sachmaterie – bei innerstaatlicher Betrachtung – eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder bestünde.29 Es sei mit einigen tatbestandlichen und rechtspraktischen Schwierigkeiten verbunden, müsste der Bund allein unter Berufung auf den Grundsatz der Bundestreue oder mit den Mitteln des Bundeszwangs gemäß Art. 37 GG die Bundesländer zur Vollziehung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts anhalten.30 Die analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG führt nach wohl überwiegender Auffassung somit zu einer Regelzuständigkeit der Landeseigenverwaltung gemäß Art. 83 und Art. 84 GG.31 Gelegentlich wurde eine Einzelfallprüfung für das jeweilige Sachgebiet nach nicht näher benannten Kriterien verlangt, deren Ergebnis entweder zu einer Anwendung des Art. 84 oder des Art. 85 GG führe.32 Mitunter werden dem Bund generell die Aufsichts- und Einwirkungsrechte gemäß Art. 84 GG und Art. 85 GG zugesprochen,33 ohne aber immer zu differenzieren, wann das Instrumentarium des Art. 84 GG zur Anwendung komme und in welchen Fällen die Fachaufsicht des Art. 85 GG gegeben sei. Dagegen wurde eingewandt, eine Ausweitung der Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes bei der landeseigenen Vollziehung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts sei nur durch eine Verfassungsänderung, nicht aber durch eine extensive Auslegung des Art. 85 GG möglich.34 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass in der Vergangenheit vertreten wurde, Art. 30 GG beträfe nur die Kompetenzverteilung beim Vollzug des na-

___________ 28 Birke (Fn. 14), S. 125; Bleckmann (Fn. 26), Rz. 1240; Dittmann (Fn. 11), Art. 83 Rz. 20. 29 Dittmann (Fn. 11), Art. 83 Rz. 20. 30 So Dittmann (Fn. 11), Art. 83 Rz. 20. 31 Birke (Fn. 14), S. 125; Ehlers, DVBl. 1991, S. 605 ff., 611; Lerche (Fn. 21), Art. 83 Rz. 51; Streinz (Fn. 9), § 182 Rz. 60; vgl. auch Vogel (Fn. 25), S. 828: Die Gleichstellung des Gemeinschaftsrechts mit dem Bundesrecht könne „wohl nichts anderes als die Anwendung des Art. 84 GG bedeuten“; ähnlich Weber (Fn. 14), S. 48: „wohl als landeseigener Vollzug von Bundesrecht einzustufen“. 32 Rengeling, EuR 1974, S. 216 ff., 223 f.; zum damaligen Meinungsstand: derselbe, Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1977, S. 31. 33 Maurer (Fn. 24), § 22 Rz. 12; ähnlich auch Bleckmann (Fn. 26), Rz. 1240, der verlangt, dem Bund müssten „die notwendigen Kontroll- und Zwangsmittel (…) zur Verfügung stehen“. 34 Lerche (Fn. 21), Art. 83 Rz. 51.

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tionalen Rechts.35 Schon aus diesem Grund könne nicht auf diese Norm zurückgegriffen werden, vielmehr müssten die Art. 83 ff. GG analoge Anwendung finden. Die Gegner einer pauschalen Gleichsetzung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts mit Bundesgesetzen halten das Argument einer unangemessenen Schwächung des Bundes, der für eine etwaige Vertragsverletzung gegenüber der EG einzustehen hat, für nicht tragfähig. Der Bund bedürfe nicht generell des Zugriffs auf die Ingerenzrechte des Art. 84 f. GG, da ausreichende andere Instrumente zur Verfügung stünden.36 Im Einzelnen ist hierbei aber streitig, woraus sich die Verpflichtung der Länder zur ordnungsgemäßen Vollziehung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts herleitet. Häufig wird auf den Bundeszwang gemäß Art. 37 GG als ultima ratio verwiesen,37 teilweise wird auf die Bundestreue rekurriert.38 Andere Autoren ziehen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG heran, wonach das kompetenzgerecht erlassene Gemeinschaftsrecht auch für die Länder verbindlich und von ihnen zu vollziehen sei.39 Vertreten wird auch eine „selbstständige“ Bundesaufsicht, die sich aus Art. 37 GG ergebe,40 als geeignetes Mittel, die Länder zur ordnungsgemäßen Vollziehung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts anzuhalten.41 Es ist der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes zudem nicht fremd, dass der Bund bei der Erfüllung von bestimmten gemeinschaftsrechtlichen Pflichten auf die Mithilfe der Länder angewiesen ist. So richtet sich im Bereich der gesetzgeberischen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts – insbesondere von Richtlinien – die Kompetenz nach allgemeiner Ansicht nach den Art. 70 ff. GG. Auch hier kann bei Fehlen einer Bundeszuständigkeit der gemeinschaftsrechtli___________ 35

Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl., 1995, § 22 Rz. 12a; dagegen: Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 64 m. w. N. 36 Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 10; Kössinger (Fn. 14), S. 54; Suerbaum (Fn. 9), S. 235, 238 f.; Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 66. 37 Vogel (Fn. 25), S. 829 m. w. N.; a. A.: Heitsch (Fn. 11), S. 175, der Bundeszwang komme nicht in Frage, da die Pflicht der Länder zur Ausführung des Gemeinschaftsrechts nicht gegenüber dem Bund, sondern gegenüber der Gemeinschaft besteht. 38 Kössinger (Fn. 14), S. 54; Suerbaum (Fn. 9), S. 238; Weber (Fn. 14), S. 31; dagegen Heitsch (Fn. 11), S. 175, unter Hinweis auf die Subsidiarität der Bundestreue. 39 Heitsch (Fn. 11), S. 175; Kössinger (Fn. 14), S. 65 f.; Trüe, EuR 1996, S. 197; im Hinblick auf Art. 24 Abs. 1 GG a.F. schon Weber (Fn. 14), S. 31. 40 Zur unterschiedlichen Herleitung der „selbstständigen Bundesaufsicht“ vgl. die Nachweise bei Lühmann, DVBl. 1999, S. 752 ff., 759. 41 Lühmann (Fn. 40), S. 752 ff., 759; Vogel (Fn. 25), S. 829; a. A.: Degenhart, Staatsrecht I, 23. Aufl., 2007, Rz. 519, „Das Grundgesetz kennt keine allgemeine (…) Bundesaufsicht.“; ablehnend auch Ipsen, Staatsrecht I, 19. Aufl., § 11 Rz. 626, der eine selbstständige Bundesaufsicht für mit dem Bundesstaatsprinzip unvereinbar hält.

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chen Pflicht nur genügt werden, wenn die Länder ihre Gesetzgebungskompetenz pflichtgemäß wahrnehmen.42 Wenn beispielsweise ein Land eine Richtlinie nicht umsetzt, haftet der Bund bzw. die Bundesrepublik Deutschland für diese Gemeinschaftsrechtsverletzung. Daraus wird nun keineswegs abgeleitet, dass der Erlass von Umsetzungsgesetzen bei Richtlinien in die Zuständigkeit des Bundes falle. Allenfalls kann man im Rahmen des Art. 37 GG ein Recht des Bundes zur Ersatzvornahme als ultima ratio im Einzelfall vertreten. Insgesamt gesehen ist daher ein Zugriff des Bundes auf die Ingerenzrechte des Art. 84 f. GG nicht gerechtfertigt.43 Der Theorie der vollen analogen Anwendung der Artikel 83 ff. GG ist daher nicht zuzustimmen.

b) Differenzierende Lösung Statt einer pauschalen Gleichsetzung von Bundesgesetzen mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht will eine differenzierende Lösung die Art. 30 und 83 ff. GG in einer Weise auslegen, die an die innerstaatliche Verteilung der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen anknüpft.44 Es entspreche nämlich dem Willen des Verfassungsgebers, von mehreren Auslegungsvarianten diejenige zu wählen, welche das grundgesetzliche Kompetenzgefüge am wenigsten verändere.45 Des Weiteren sei es nicht sachgerecht, die Kompetenzen bei der mittelbaren Vollziehung von Gemeinschaftsrecht einerseits und bei der unmittelbaren Vollziehung andererseits unterschiedlich zu handhaben. Die Frage, ob eine gemeinschaftsrechtliche Norm von den europäischen Rechtsetzungsorganen unmittelbar anwendbar ausgestaltet oder die Notwendigkeit einer mitgliedstaatlichen Umsetzung zwischengeschaltet wird, sei „oft rein technisch zu entscheiden“.46 Es sei nicht sachgerecht, an den Grad der Regelungsdichte einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung unterschiedliche verfassungsrechtliche Folgerungen in Bezug auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung zu knüpfen.47 Die differenzierende Lösung vermeidet nach Auffassung ihrer Befürworter auch „Friktionen“, zu denen es insbesondere bei der unmittelbaren Wirkung ___________ 42

S. Suerbaum (Fn. 9), S. 239. So auch Suerbaum (Fn. 9), S. 239. 44 Groß in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, Stand: April 2007, Art. 83 Rz. 18; Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 10; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S. 237; Kössinger (Fn. 14), S. 39 ff., 53 ff.; Scheuing, EuR 1985, 229 ff., 249; Suerbaum (Fn. 9), S. 236 ff. 45 Suerbaum (Fn. 9), S. 240. 46 Kössinger (Fn. 14), S. 55. 47 Kössinger (Fn. 14), S. 55. 43

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von Richtlinien im Einzelfall kommen könne.48 Wenn eine – der Kompetenzmaterie nach von den Ländern umzusetzende – unmittelbar anwendbare Richtlinie, die dem Einzelnen unmittelbar Rechte verleiht, nicht fristgemäß oder falsch in nationales Recht umgesetzt wird, hat diese nach ständiger Rechtsprechung des EuGH – wie dargestellt – unmittelbare Wirkung. Für die mittelbare Vollziehung der umzusetzenden Regelung wären eigentlich gemäß Art. 30 GG (direkt) die Länder zuständig. Wegen der Direktwirkung der Richtlinie kommt es zu einem Fall des unmittelbaren mitgliedstaatlichen Vollzugs. Dies führe – wenn man hierauf pauschal die Art. 83 ff. GG analog anwende – zu „divergierenden Zuständigkeiten“ für ein und dieselbe Materie.49 Dies halten einige Autoren für nicht praktikabel, da es auf diese Weise zudem zu einer je nach Bundesland unterschiedlichen Vollziehung kommen könne.50 Einzuwenden ist allerdings, dass in diesem Fall die Zuständigkeit der Länder durchaus erhalten bleibt, denn auch der Regelfall des Art. 83 GG ist die Landeseigenverwaltung. Die Anwendung der Art. 83 und 84 GG analog auf den Fall der Vollziehung von direkt wirkenden Richtlinienbestimmungen führt also lediglich dazu, dass der Bund die Ingerenzrechte des Art. 84 Abs. 2 bis 5 GG erhält.51 Dies geschieht zudem nur temporär, bis das Land seiner Umsetzungspflicht nachgekommen ist.52 Von einem generellen Auseinanderfallen der Zuständigkeiten kann daher in dieser Konstellation nicht gesprochen werden. Als weiteres Argument gegen eine undifferenzierende Heranziehung der Art. 83 ff. GG analog wird angeführt, einer entsprechenden Anwendung bedürfe es nicht, soweit der Bund seine Verwaltungszuständigkeit unmittelbar aus Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG herleiten könne.53 Denn diese Bestimmung gelte auch dann direkt, wenn die Errichtung der selbständigen Bundesoberbehörde, bundesunmittelbaren Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ganz oder teilweise der Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht dient, für die innerstaatlich der Bund gesetzgebungskompetent wäre.54 Schon

___________ 48

Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 66. So Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 10; Suerbaum (Fn. 9), S. 241, spricht lediglich von einer „Verlagerung von der Anwendung des Art. 30 GG zu Art. 83 ff. GG analog“. 50 Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 10; Suerbaum (Fn. 9), S. 240 f. 51 So auch ausdrücklich Suerbaum (Fn. 9), S. 241; Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 10 spricht hingegen von „divergierenden Zuständigkeiten“ und „Zuständigkeitswechseln“. 52 Suerbaum (Fn. 9), S. 241. 53 Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 66, unter Hinweis auf die Errichtung der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung; ebenso Groß (Fn. 44), Art. 83 Rz. 18; Suerbaum (Fn. 9), S. 230. 54 Suerbaum (Fn. 9), S. 230 f. 49

Föderalismusreform und Vollziehung von Gemeinschaftsrecht

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jetzt lägen erhebliche Vollzugszuständigkeiten im Bereich der unmittelbaren Vollziehung von Gemeinschaftsrecht beim Bund.55 Weiterhin wird von den Anhängern einer differenzierenden Lösung eingewandt, dass die analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG dazu führe, dass dem Bund Kompetenzen auch dort zugewiesen würden, wo er sie bei entsprechenden nationalen Rechtsakten nicht hätte. Bei einem Abstellen auf die fiktive Gesetzgebungszuständigkeit würden hingegen die Art. 83 ff. GG auf die unmittelbare Vollziehung von Gemeinschaftsrecht keine analoge Anwendung finden, wenn der Bund auch nicht für das Setzen eines ausführungsbedüftigen innerstaatlichen Rechtsakts zuständig wäre.56 An einer der Ausführung von Bundesgesetzen vergleichbaren Interessenlage und damit an einer Voraussetzung für eine analoge Anwendung der Art. 83 ff. GG fehlt es somit, wenn die zu vollziehende Materie in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt. In diesem Fall gilt bei Zugrundelegung der differenzierenden Lösung Art. 30 GG direkt. Positiv gewendet sind die Art. 83 ff. GG daher nur dann analog anwendbar, wenn die gemeinschaftsrechtliche Regelung nach der grundgesetzlichen Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen in die Zuständigkeit des Bundes fallen würde. Dem Begriff Bundesgesetze in Art. 83 GG wird auf diese Weise eine eigenständige Bedeutung zuteil. Der Vergleich mit der innerstaatlichen Kompetenzverteilung ist im Übrigen nicht unbekannt, wenn es darum geht, die mit der Übertragung von Hoheitsrechten verbundenen bundesstaatlichen Probleme zu lösen.57 Als Beispiel kann Art. 23 Abs. 5 GG mit seiner nach Maßgabe der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung abgestuften Einflussnahme der Länder im Rahmen der Mitwirkung des Bundesrates herangezogen werden.58 Die Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht in Bereichen, in denen innerstaatlich ein Fall der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz vorläge, wird von den Befürwortern einer differenzierenden Lösung auch als ein Fall der Art. 83 ff. GG gesehen.59 Der Bund sei nicht gezwungen, trotz der unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechtsnorm selbst noch eine Regelung zu erlassen, um sich beim Verwaltungsvollzug die Ingerenzrechte aus den Art. 83 ff. GG zu eröffnen.60 ___________ 55

Scheuing, EuR 1985, S. 229 ff., 249; Suerbaum (Fn. 9), S. 231. Kössinger (Fn. 14), S. 53 ff.; Scheuing, EuR 1985, 229 ff., 249; Suerbaum (Fn. 9), S. 236 ff.; Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 66. 57 Suerbaum (Fn. 9), S. 240. 58 Suerbaum (Fn. 9), S. 240. 59 Groß (Fn. 44), Art. 83 Rz. 19; Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 11; Suerbaum (Fn. 9), S. 242 f.; Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 66. 60 Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 11. 56

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Schließlich berufen sich die Vertreter einer differenzierenden Lösung zur Stützung ihrer Argumentation auf die Begründung des Schlussberichts der Enquete-Kommission Verfassungsrecht zu dem Entwurf eines Art. 90a GG61, obschon auch die Befürworter einer analogen Anwendung der Art. 83 ff. GG hierin einen Anhaltspunkt für die Richtigkeit ihrer Auffassung zu sehen meinen. Zusammenfassend gehen die Vertreter einer differenzierenden Lösung also davon aus, dass die Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht gemäß Art. 30 GG durch die Länder im Wege der Landeseigenverwaltung erfolgt, wenn bei einer fiktiven innerstaatlichen Regelung ausschließliche Landeskompetenzen einschlägig wären.62 In diesem Fall würden keine Ingerenzrechte des Bundes bestehen.63 Falls der Bund für die gemeinschaftsrechtlich geregelte Materie aber eine ausschließliche oder konkurrierende Gesetzgebungskompetenz besitzt, kämen die Art. 83 und 84 GG analog zur Anwendung. Wenn die auszuführenden Normen des Gemeinschaftsrechts in den Bereich der obligatorischen Bundesauftragsverwaltung64 fielen, gehen die Anhänger einer differenzierenden Lösung von einem Fall des Art. 85 GG aus.65 Sehe das Grundgesetz eine lediglich fakultative Bundesauftragsverwaltung vor,66 bedürfe es eines zustimmungsbedürftigen Bundesgesetzes.67 Aber auch der differenzierenden Lösung kann – wie gleich zu zeigen ist – nicht zugestimmt werden.

3. Anwendung des Art. 30 GG Der gewichtigste Einwand gegen beide Analogielösungen richtet sich gegen die Berufung auf eine Regelungslücke. Mit Art. 30 GG sieht das GG nämlich eine Generalnorm vor, die auch auf die innerstaatliche Vollziehung von Gemeinschaftsrecht direkt oder zumindest analog anwendbar ist.68 In diesem Zusammenhang wird vorgebracht, dass zu den staatlichen Befugnissen und Aufgaben i. S. v. Art. 30 GG auch die unmittelbare Vollziehung von Gemeinschaftsrecht gehöre, da die Mitgliedstaaten der EG insoweit kraft eigener öffentlicher Gewalt tätig würden.69 ___________ 61

Suerbaum (Fn. 9), S. 237. Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 10; Kössinger (Fn. 14), S. 59. 63 Groß (Fn. 44), Art. 83 Rz. 18; Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 10. 64 Art. 90 Abs. 2; 104a Abs. 3 Satz 2; 108 Abs. 3 GG. 65 Suerbaum (Fn. 9), S. 245; Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 67. 66 Art. 87b Abs. 2 Satz 1 Var. 2; 87c; 87d Abs. 2; 89 Abs. 2 Satz 3, 4; 120a GG. 67 Suerbaum (Fn. 9), S. 245; Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 67. 68 S. dazu Trute (Fn. 9), Art. 83 Rz. 64; Trüe, EuR 1996, S. 179 ff., 197 geht von einer analogen Anwendung des Art. 30 GG aus. 69 Suerbaum (Fn. 9), S. 216 ff. 62

Föderalismusreform und Vollziehung von Gemeinschaftsrecht

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Im ersten Rundfunkurteil70 stellte das BVerfG fest, dass die „äußerste Grenze“ der Verwaltungstätigkeit des Bundes die ihm zugewiesene Gesetzgebungskompetenz sei. Dieser Grundsatz ließe sich, so wird argumentiert, auf die Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht übertragen.71 Eine gesetzliche Regelung der Materie durch den Bund und damit auch eine diesbezügliche Zuständigkeit im Rahmen des Art. 84 Abs. 1 GG wäre demgemäß ausgeschlossen, da die entsprechende Materie ja bereits durch unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht geregelt ist.72 Gegen diese Lösung werden natürlich Bedenken erhoben. Denn konsequenterweise muss die Ansicht, die Art. 30 GG heranzieht, daher von einer generellen Kompetenz der Länder für die Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht ausgehen. Eine bundesgesetzliche Regelung gemäß Art. 84 Abs. 1 GG käme daher nicht mehr in Betracht.73 Da im Bereich des Art. 30 GG keine Ingerenzrechte des Bundes bestehen, verlöre der Bund seine wesentlichen Einflussmöglichkeiten auf den Verwaltungsvollzug. Auch in Bereichen, für die eigentlich eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes bestünde, wäre nach dieser Auffassung die Vollziehung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung gemäß Art. 30 GG Sache der Länder.74 All dies ist allerdings nicht zu beanstanden, wenn das GG eine solche Lösung angelegt hat; dann wären alle Bedenken als rein rechtspolitisch einzustufen. Alles entscheidend ist daher die Frage, ob tatsächlich eine Lücke vorliegt, die eine Analogie rechtfertigt. Die Antwort auf diese Frage wird in der Literatur allerdings nur wenig thematisiert.75 Voraussetzung für eine derartige (planwidrige) Lücke ist eine unvollständige Regelung, die, obwohl Vollständigkeit gewollt wurde, eine bestimmte Fallgestaltung nicht erfasst.76 Im vorliegenden Fall wird für eine Lücke vorgebracht, dass der Verfassungsgeber angesichts des Umstandes, dass die Frage der Vollziehung unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts erst mit der Gründung

___________ 70

BVerfGE 12, 205 ff., 229. Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 8; gegen eine Übertragung: Kössinger (Fn. 14), S. 53, der ausführt, das BVerfG habe bei seiner Entscheidung eine solche Tragweite nicht beabsichtigt. 72 Vgl. Hermes (Fn. 9), Art. 83 Rz. 8; vgl. auch Suerbaum (Fn. 9), S. 227 ff., der das Erste Rundfunkurteil für die Verteilung der Vollzugskompetenzen hinsichtlich des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts für unergiebig erachtet. 73 Vgl. Suerbaum (Fn. 9), S. 227. 74 Suerbaum (Fn. 9) S. 227. 75 So auch Suerbaum (Fn. 9), S. 233. 76 Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 355. 71

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der EG und mit der fortschreitenden Integration aktuell geworden ist, die relevante Fallgestaltung ersichtlich nicht bedacht habe.77 Dem ist zu widersprechen. Dem Grundgesetz lag von Anfang an in Art. 24 Abs. 1 GG die Möglichkeit zugrunde, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Klar war auch, dass dies die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen beinhaltet. Daraus war wiederum ohne weiteres zu folgern, dass die daraus fließenden Rechtsakte vollzogen werden müssen. Für die Feststellung, wer dies zu tun habe, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder die zwischenstaatliche Einrichtung selbst oder die deutsche Hoheitsgewalt. Wenn zu dieser Konstruktion im GG keine ausdrückliche Regelung, wie beispielsweise im Umfang des dargestellten Vorschlags der Enquete-Kommission Verfassungsreform, getroffen wird, so heißt das, dass die bestehende Regelung für ausreichend erachtet wurde. Und die findet sich in Art. 30 GG. Auch die dargestellte Argumentation, der Bund verlöre mit der Ablehnung einer Analogie seine wesentlichen Einflussmöglichkeiten auf die Vollziehung, ist – sofern sie nicht rein rechtspolitisch zu verstehen ist – nicht überzeugend. Bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen i. S. v. Art. 24 Abs. 1 GG oder auf die EU im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG kann es sehr wohl zu Kompetenzverschiebungen kommen. So geht die h. L. ohne weiteres davon aus, dass es sich bei den Hoheitsrechten sowohl um Bundes- als auch um Landeshoheitsrechte handelt. Damit können im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG mit einem dort vorgesehenen einfachen und zustimmungsfreien Gesetz in Bereichen Hoheitsrechte übertragen werden, die in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder fallen.78 Daran hat auch der Art. 23 GG nichts geändert, der lediglich mit Abs. 1 Satz 2 und Abs. 5 die Position der Länder etwas verbessert hat. Denn immer noch können gegen den Willen eines einzelnen Landes dessen Hoheitsrechte auf die EU übertragen werden, wenn es im Bundesrat überstimmt wird. Entscheidend ist aber die durch die Föderalismusreform eingeführte Änderung des Art. 84 Abs. 1 GG. Durch die Möglichkeit der Länder, gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 2 GG abweichende Regelungen zu Bundesgesetzen zu treffen, die die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, werden dem Bund – von den in Art. 84 Abs. 1 GG abgesehenen eher selten zu erwartenden Ausnahmen – ohnehin die wesentlichen Einflussmöglichkeiten entzogen. Diese Entziehung kann daher nicht länger als Begründung für eine Analogie herangezogen werden.

___________ 77 78

Suerbaum (Fn. 9), S. 234. S. dazu Fn. 15.

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IV. Im Ergebnis bleibt also festzuhalten, dass eine planwidrige Lücke nicht vorhanden ist, und dass sich daher eine Analogie verbietet. Damit richtet sich die Vollziehung von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht ausschließlich nach Art. 30 GG. Die damit verbundene Änderung im System der Vollziehung des GG ist hinzunehmen. Der Verlust der Einflussmöglichkeiten des Bundes auf die Vollziehung in diesen Fällen ist ebenfalls hinzunehmen, ist aber nach der Neuregelung des Art. 84 Abs. 1 GG ohnehin schon verfassungsrechtlich angelegt. Dem Bund verbleiben genügend Einflussmöglichkeiten, wie z. B. Art. 37 GG. Die Kompetenzerweiterung der Länder kann durchaus als Kompensation für die dargestellte Übertragung ihrer Hoheitsrechte durch den Bund angesehen werden.

Zukunft des Steuerföderalismus Von Roman Seer, Bochum

I. Einführung Die Bundesrepublik Deutschland ist ein föderaler Bundesstaat. Seine Struktur gründet auf den negativen Erfahrungen mit zentralistischen und einheitsstaatlichen Systemen.1 Mit der Finanzreform 1969 wurde für den Bereich der Steuern das noch heute geltende Verbund- und Kooperationsprinzip eingeführt, das der Idee eines „kooperativen Föderalismus“ folgt. Diese Idee entspricht dem von Konrad Hesse entwickelten Modell des unitarischen Bundesstaats.2 Dieses Modell ist in jüngerer Zeit aber vermehrt auf Kritik gestoßen. Der unitarische Bundesstaat, der einheitliche Lebensverhältnisse schaffen will, befindet sich in der „Politikverflechtungsfalle“.3 Die Föderalismusreform hat deshalb auf einer ersten Stufe versucht, die Gesetzgebungsbefugnisse von Bund und Ländern zu entflechten, dabei einerseits die Länder zu stärken, andererseits jedoch auch die Zustimmungsrechte des Bundesrats zu stutzen.4 Das Herzstück staatlicher Machtverteilung, die Finanzhoheiten, hat sie bisher jedoch nur am Rande gestreift.5 Dieser Kernfrage will sich nun die zweite Stufe der Föderalismusreform widmen. Dazu haben Bundestag und Bundesrat am 15.12.2006 eine 32-köpfige Kommission unter dem gemeinsamen Vorsitz des Fraktions___________ 1

H. Wilms, ZRP, 2003, 86. K. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. 3 Siehe F. W. Scharpf, Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus, in: Scharpf/Reissert/Schnabel (Hrsg.), Politikverflechtung, Bd. 1, 1976, 20 f.; zur Kritik s. die Übersicht bei W. Jestaedt, Bundesstaat als Verfassungsprinzip, in Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 29, Rn. 30 ff.; W. Kluth, in Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, Einf., Rn. 34 ff. 4 Siehe Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006, BGBl. I 2034; zu den einzelnen Änderungen s. W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz (Fn. 3); C. Starck (Hrsg.), Föderalismusreform, Einführung, 2007. 5 Art. 1 Nr. 18 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes v. 28.8.2006 (Fn. 4), hat die Gesetzgebungskompetenz der Länder lediglich in Art. 105 Abs. 2a GG durch die Einräumung eines Steuersatzrechts für die Grunderwerbsteuer nur leicht erweitert. 2

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vorsitzenden der SPD, MdB Peter Struck, und des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger (kurz: Föderalismusreformkommission II) einberufen.6 Mittlerweile haben etliche Sitzungen zu diesem hochkomplexen Thema stattgefunden, ohne dass bereits konsensfähige konkrete Lösungen gefunden wären.7 Zu Ehren des Jubilars möchte ich im Folgenden unser bundesstaatliches Finanzsystem unter dem Gesichtspunkt des Steuerföderalismus beleuchten und einige Denkanstöße zu seiner Fortentwicklung geben. Dabei beschränkt sich der nachfolgende Beitrag auf die Gesetzgebungs- und Ertragskompetenzverteilung (Art. 105 – 107 GG). Die Steuerverwaltungskompetenz (Art. 108 GG) habe ich bereits an anderer Stelle gewürdigt;8 sie bleibt aus Platzgründen ausgespart.

II. Status Quo der bundesstaatlichen Finanzverfassung 1. Steuergesetzgebungshoheit (Art. 105 GG) Die Hauptfinanzierungsquelle des Staates bilden nach wie vor Steuern; die Steuerfinanzierungsquote beträgt ca. 75%.9 Das BVerfG versteht die Finanzverfassung (Art. 105 – 108 GG) als eine in sich geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung, die auf Formenklarheit und auf Formenbindung angelegt und nicht analogiefähig ist.10 Sie sucht zwei einander widerstrebende Prinzipien auszugleichen:11 Einerseits das (Finanz-)Autonomieprinzip, das Bund und Ländern gesonderte Kompetenzen zuweist; andererseits das „Bündische Prinzip“,12 das gemeinsame Aufgaben und Zuständigkeiten begründet. Keine ausdrückliche Regelung haben dagegen die nichtsteuerlichen sog. Vorzugslasten (Gebühren, Beiträge) gefunden.13 Sie werden als Annexkompetenz zur jeweiligen Sachmaterie behandelt.14 Die Einnahmekompetenz folgt insoweit der Gesetzgebungskompetenz. ___________ 6

Siehe BT-Drucks. 16/3885. Siehe im Einzelnen unter http://www.bundestag.de/parlament/gremien/foederalismus2, wo sämtliche Protokolle, Stellungnahmen, etc. abrufbar sind. 8 R. Seer, Kooperativ-föderale Steuerverwaltung in Deutschland, in: Festschrift für H. G. Ruppe, 2007, 533. 9 Lt. Statistischem Bundesamt betrug sie im Jahre 2005 75,24%. 10 BVerfG v. 6.11.1984 – 2 BvL 19/83 u. a. BVerfGE 67, 256, 288 f.; BVerfG v. 28.3.2002 – 2 BvG 1/01 u. a., BVerfGE 105, 185, 193 f. 11 K. - A. Schwarz, ZG 2004, S. 268, 271. 12 BVerfG v. 24.6.1986 – 2 BvF 1/83 u. a., BVerfGE 72, 330. 13 Mit Recht krit. F. Kirchhof, VVDStRL, Bd. 52 (1993), 71, 95 ff. 14 BVerfG v. 19.3.2003 – 2 BvG 1, 2/01, BVerfGE 108, 1, 13 f.; BVerwG v. 3.3.1994 – 4 C 1.93, BVerwGE 95, 188, 192 f. 7

Zukunft des Steuerföderalismus

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Art. 105 GG regelt abschließend, wer die Steuergesetze beschließt und ist lex specialis gegenüber den Vorschriften in Art. 70 ff. GG.15 Auf der Basis dieses Artikels hat der Bund vor allem die sog. Gemeinschaftsteuern (Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer) sowie die ihm zustehenden besonderen Verbrauchsteuern (Mineralöl-, Strom-, Alkohol-, Tabak- und Kaffeesteuer) geregelt. In Ausübung einer bis 1994 deutlich weiter reichenden Vereinheitlichungskompetenz beanspruchte der Bund in der Vergangenheit auch für Landessteuern die Zuständigkeit, obwohl deren Ertrag durch Art. 106 Abs. 2 GG allein den Ländern zugewiesen ist. Nach der alten Gesetzesfassung konnte der Bund auch hier tätig werden, wenn zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus, ein Bedürfnis nach einer bundesgesetzlichen Regelung bestand (sog. Bedürfnisklausel). Das BVerfG räumte ihm hierbei einen weiten Beurteilungsspielraum ein.16 Durch die 1994 eingefügten „Erforderlichkeitsklausel“17 ist dieser weite Gestaltungsspielraum des Bundes eingeengt worden. Das BVerfG legt die voll justitiable Erforderlichkeitsklausel streng aus: 18 Voraussetzung für die Erforderlichkeit ist danach die Gefahr einer Rechtszersplitterung, welche die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik beeinträchtigt. Von der Gesetzesänderung sind im Steuerrecht die derzeit noch bundesgesetzlich geregelten Landes- und Gemeindesteuern, besonders die Vermögensteuer, die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die Kraftfahrzeugsteuer sowie die kommunalen Realsteuern (Gewerbe- und Grundsteuer) betroffen. Zwar ordnet die Identitätsklausel des Art. 125a GG für vor der Verfassungsänderung erlassene Gesetze die Weitergeltung der unter der schwächeren Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. erlassenen Gesetze an und sperrt damit die Kompetenz der Länder. Diese Änderungskompetenz des Bundes ist jedoch, sofern die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. nicht gegeben sind, eng auszulegen. Sie ist an die Beibehaltung der wesentlichen Elemente der in dem fortgeltenden Bundesgesetz enthaltenen Regelung geknüpft. Deshalb ließe eine grundlegende Reform, erst recht die Aufhebung einzelner Steuern, die grundsätzliche Landeskompetenz wieder aufleben.19 Außerdem besteht ___________ 15

K. Tipke, Steuerrechtsordnung Bd. III, 1993, 1086. BVerfG v. 22.4.1953 – 1 BvL 18/52, BVerfGE 2, 213, 214; BVerfG v. 29.11.1961 – 1 BvR 758/57, BVerfGE 13, 230, 233; BVerfG v. 15.7.1969 – 2 BvF 1/64, BVerfGE 26, 338; BVerfG v. 8.6.1988 – 2 BvL 9/85 u. a., BVerfGE 78, 249. 17 Gesetz vom 27.10.1994, BGBl. I 1994, 3146. 18 BVerfG v. 24.10.2002 – 2 BvF 1/01, BVerfGE 106, 62, 143 ff.; siehe auch BVerfG v. 27.7.2004 – 2 BvF 2/02, BVerfGE 111, 226; BVerfG v. 26.1.2005 – 2 BvF 1/03, BVerfGE 112, 226. 19 J. Hey, in Festschrift für Solms, 2005, 35, 39 f. 16

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seit dem 1.9.2006 nach Art. 93 Abs. 2 GG die Möglichkeit eines Kompetenzkontrollverfahrens, durch das die Länder die Feststellung des BVerfG erzwingen können, dass ein Bundesgesetz, soweit die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung nicht mehr besteht, durch ein Landesgesetz ersetzt werden kann.20 Ob und inwieweit die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG (auch) im Bereich der Steuern zu einer anderen Gewichtung der Gesetzgebungskompetenz führt, ist derzeit aber noch umstritten. Während etwa Werner Heun21 im gesamtstaatlichen Interesse der Wahrung der Wirtschafts- und Rechtseinheit im Fall von Steuern weiterhin vom Erfordernis einer bundeseinheitlichen Regelung ausgeht, halten hingegen Rainer Wernsmann und Valentin Spernath22 die bundeseinheitliche Regelung der Landes- und Gemeindesteuern für nicht länger erforderlich. Nach wohl zutreffender Ansicht von Johanna Hey23 lässt sich diese Frage indessen nicht pauschal beantworten. Vielmehr ist steuerartenspezifisch zu differenzieren: Bei Landessteuern, die ihre Wirkung auf das jeweilige Land – wie etwa die Grund-, Grunderwerb- oder Kfz-Steuer – beschränken, sind Doppelbesteuerungsprobleme ebenso wie ein Steuerwettbewerb praktisch ausgeschlossen. In diesen Fällen ist eine bundeseinheitliche Regelung nicht erforderlich. Für Steuern, die an Sachverhalte anknüpfen, welche sich typischerweise auf das gesamte Bundesgebiet erstrecken, ist dagegen das Erfordernis einer bundeseinheitlichen Regelung grundsätzlich weiterhin gegeben. Denn die Vermeidung von Doppelbesteuerungskonflikten und die Senkung der Steuerbefolgungskosten liegen im gesamtstaatlichen Interesse der Wahrung der Rechtsund Wirtschaftseinheit. Dies entspricht offenbar auch der Sicht des Verfassungsgebers, der im Zuge der sog. Föderalismusreform die Gesetzgebungskompetenz der Länder in Art. 105 Abs. 2a GG durch Aufnahme der Grunderwerbsteuer nur vorsichtig erweitert hat.24 Dabei beschränkt sich die zugesicherte Befugnis der Länder im konkreten Fall aber auf die Bestimmung des Steuersatzes. Diese Unterscheidung macht nur Sinn, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass der Bund im Übrigen das Grunderwerbsteuerrecht weiterhin für das gesamte Bundesgebiet einheitlich regeln darf.

___________ 20

Gesetz vom 28.8.2006, BGBl. I 2006, 2034. W. Heun, in Dreier, Grundgesetz, Kommentar, 2000, Art. 105 Rz. 35. 22 R. Wernsmann/V. Spernath, FR 2007, 829. 23 J. Hey, in Festschrift für O. Solms, 2005, 35, 38 f.; dies., VVDStRL Bd. 66 (2007), 277, 311; so nunmehr auch J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl. 2008, § 3 Rz. 38 ff. 24 Siehe Fn. 5. 21

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Jedes bundesstaatliche System muss letztlich einen Zielkonflikt auflösen: Grundanliegen des bundesstaatlichen Gefüges ist zum einen die Integration der disparaten Teile in einen Verbund, der materielle Gleichheit nicht nur dem den Bund bildenden Gemeinwesen sichert, sondern auch den einzelnen Bürgern, die in diesem Verbundsystem leben.25 Ohne ein Ausmaß an grundständiger Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen würde der Bund an den immer wieder aufbrechenden Konfliktlinien und denen sich daran entzündenden Verteilungskämpfen irgendwann scheitern.26 Zugleich aber ist die Prämisse des bundesstaatlichen Gefüges der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Eigenständigkeit der einzelnen in ihm zusammengeschlossenen Gemeinwesen, nach Bewahrung der unterschiedlichen kollektiven Identitäten der Gliedstaaten. Dies verlangt nach „Vielfalt in der Einheit“, nach Bewahrung von Unterschiedlichkeiten – sonst wäre ein Beharren auf dem bundesstaatlichen System sinnlos. Eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse erfordert daher ein stetes Ausbalancieren der Bestrebungen nach Integration und Subsidiarität, verlangt Angleichung der unterschiedlichen Lebensniveaus bei möglichst weitgehender Aufrechterhaltung der Eigenheiten der Gliedstaaten im Rechts-, Wirtschafts- und Sozialleben.27 Der 3. Absatz des Art. 105 GG begründet daher für die Bundesgesetze über Steuern, deren Aufkommen den Ländern oder den Gemeinden ganz oder zum Teil zufließt, einen Zustimmungsvorbehalt des Bundesrats. Die Beteiligung der Länderkammer soll die Interessen der Länder wahren, wenn deren Steueraufkommen betroffen wird.

2. Steuerertragshoheit (Art. 106, 107 GG) Art. 106 GG regelt die primäre Aufteilung des Gesamtsteueraufkommens auf Bund, Länder und Gemeinden. Dabei geht Art. 106 GG von der grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Aufgaben von Bund und Ländern als Konsequenz der Eigenstaatlichkeit der föderalen Verbände aus. Dies bedeutet, dass Aufgaben des Bundes und Aufgaben der Länder denselben Anspruch auf Deckung aus (knappen) gesamtstaatlichen Steuermitteln haben. Die Bundesrepublik Deutschland folgt bei der Verteilung der Steuern einem Mischsystem. Dieses kombiniert das Trennsystem, nach dem Bund und Ländern der Ertrag bestimmter Steuern oder Steuerarten jeweils ausschließlich zuzuweisen ist, mit dem Verbundsystem, bei dem der Ertrag bestimmter Steuern oder Steuerarten Bund und Ländern gemeinsam zugewiesen wird. In diesem Sinne sind die „großen“ ___________ 25 S. Oeter, in v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Kommentar, 5. Aufl., 2005, Band II, Art. 72 Abs. 2 Rz. 93. 26 S. Oeter, ebenda. 27 S. Oeter, Integration und Subsidiarität, 1998, S. 532 ff.

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Steuern (Einkommen-, Körperschaft-, Umsatzsteuer) in einem Verbundsystem der Gemeinschaftsteuern (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG) mit quotenmäßiger Aufteilung zusammengefasst (Art. 106 Abs. 3, 4 GG). Dabei sind die Anteile von Bund und Ländern an der Einkommen- und Körperschaftsteuer verfassungsrechtlich festgelegt (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG). Die übrigen („kleineren“) Steuern werden nach einem Trennsystem entweder vollständig dem Bund (Art. 106 Abs. 1 GG) oder vollständig den Ländern (Art. 106 Abs. 2 GG) zugewiesen. Die Umsatzsteuer bildet schließlich das bewegliche Glied. Ihre Aufteilung erfolgt im Rahmen verfassungsrechtlicher Vorgaben durch den Bundesgesetzgeber (Art. 106 Abs. 3 Sätze 3 – 6, Abs. 4 Satz 1 GG). Art. 107 Abs. 1 Sätze 1 – 3 GG basiert auf dem Prinzip der Steuerverteilung nach der regionalen Steuerkraft. Es wird nicht an den Finanzbedarf, sondern an die Steuerleistung der Wirtschaft angeknüpft. Die Länder sollen am Erfolg ihrer Wirtschafts- und Strukturpolitik, die sich in den von ihren Bürgern erzielten wirtschaftlichen Erfolgen niederschlägt, partizipieren. Das liegt im Sinne der Gebietshoheit und der Finanzautonomie der Länder.28 Nach Art. 107 Abs. 1 Satz 1 GG steht der Anteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer zwar den einzelnen Ländern grundsätzlich insoweit zu, als die Steuern in dem Gebiet vereinnahmt werden. Dieses Prinzip des örtlichen Aufkommens ist jedoch aufgrund der Konzentration der Wirtschaft allein kein geeigneter Maßstab. Deshalb sehen Sätze 2 und 3 eine Modifizierung dieses Grundsatzes durch ein zustimmungspflichtiges Bundesgesetz vor: So zerteilt das entsprechende Zerlegungsgesetz die Körperschaftsteuer nach dem Betriebsstättenprinzip. Problematisch ist die Zerlegung der Lohnsteuer. Hier gilt das Wohnstättenprinzip, wonach das Land den Länderanteil der Lohnsteuer erhält, in dem der betreffende Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat. Vor allem die Stadtstaaten beklagen, dass viele Pendler aus dem Nachbarland zur Arbeit herankommen und diverse staatliche Angebote nutzen, aber ihre Steuer im Wohnsitzstaat zahlen. Diesen Umstand berücksichtigt die sog. Einwohnerveredelung. Danach wird den betroffenen Stadtstaaten beim sekundären horizontalen Finanzausgleich ein überdurchschnittlicher Pro-Kopf-Bedarf (135%) unterstellt (§ 9 Abs. 2 Finanzausgleichsgesetz). Die Umsatzsteuer wird schließlich zu 75% nach der Einwohnerzahl der Länder verteilt. Art. Art. 107 Abs. 2 GG (sog. Länderfinanzausgleich) korrigiert die primäre Steueraufteilung des Art. 107 Abs. 1 GG durch Umverteilung der primären Steueraufkommen der Länder. Er hat zum Ergebnis, dass die finanzschwachen Länder 95% der durchschnittlichen Finanzkraft aller Länder erreichen. Hintergrund dieser Regelung ist, dass die Länder eine unterschiedliche Wirtschafts___________ 28

BVerfG v. 24.06.1986 – 2 BvF 1/83 u. a., BVerfGE 72, 330, 384, 390 ff., 406.

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struktur und Wirtschaftskraft aufweisen und deshalb die insoweit schlechter gestellten Länder – aufgrund entsprechend geringerer Steuererträge – ihre Aufgabe nicht angemessen erfüllen könnten. Das aber würde gegen Art. 109 Abs. 1 GG, nach dem die Länder eine selbständige und unabhängige Haushaltswirtschaft betreiben, verstoßen und wäre auch mit dem bundesstaatlichen Prinzip der Solidargemeinschaft nicht vereinbar.29 Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG eröffnet dem Bund die Möglichkeit, aus seinen Mitteln „Ergänzungszuweisungen“ an leistungsschwache Länder zu gewähren. Ausgleichswirkungen entfalten auch die Zuweisungen im Rahmen von Mischfinanzierungstatbeständen (Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a, b GG, Geldleistungen/Finanzhilfen nach Art. 104a Abs. 3, 4; Art. 104b GG und Sonderbelastungen nach Art. 106 Abs. 8 GG). All diese Zuweisungen gehören systematisch zum vertikalen Finanzausgleich, sie haben jedoch durch die unterschiedliche Zuteilung an die Länder auch einen horizontalen Verteilungseffekt.30 Das BVerfG hat jüngst in seinem Urteil vom 19.10.2006 deutlich gemacht, dass Bundesergänzungszuweisungen zum Zweck der Sanierung eines in Not geratenen Landeshaushalts einem strengen ultima ratio-Prinzip unterliegen.31 Danach sind Sanierungsbeihilfen nur zulässig und geboten, wenn die Haushaltsnotlage eines Landes relativ – im Verhältnis zu den übrigen Ländern – als extrem zu werten ist. Außerdem muss sie auch absolut ein solch extremes Ausmaß erreicht haben, dass ein bundesstaatlicher Notstand eingetreten ist. Das die Sanierungsbedürftigkeit reklamierende Land trägt dafür die Darlegungs- und Beweislast und muss nachweisen, dass es alle ihm verfügbaren Möglichkeiten der Abhilfe erschöpft hat, so dass die Bundeshilfe der einzig verbliebene Ausweg ist. Durch diese Entscheidung hat das BVerfG eine wichtige Barriere gegen die weitere Verschuldung von Ländern auf Kosten des Bundes und der Gemeinschaft der Länder aufgestellt. Bei der Gewährung der davon zu unterscheidenden allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen muss der Gesetzgeber vor allem das Nivellierungsverbot beachten. Er darf die Finanzkraftreihenfolge unter den Geberländern nicht verändern, insbesondere leistungsschwachen Ländern keine überdurchschnittliche Rangposition verschaffen. Schließlich muss er das föderative Gebot der Gleichbehandlung aller Länder beachten.

___________ 29

Kritisch dagegen H. Wilms, ZRP 2003, 86, 89, der den horizontalen Finanzausgleich abschaffen will. 30 H. Hofmann, ZRP 1999, 465, 467. 31 BVerfG v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116, 327; dazu S. Korioth, ZG 2007, 1.

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III. Föderalstaatliche Diskussion 1. Kritische Würdigung der deutschen Finanzordnung Die Verbindung von steuerlichem Trenn- und Verbundsystem hat erheblich zur politischen und sozialen Integration der Bundesrepublik beigetragen.32 Ein weiterer Vorteil des derzeitigen Systems ist, dass durch die Existenz der aufkommensstarken Gemeinschaftsteuern konjunkturabhängige Haushaltsrisiken über das Verbundssystem verteilt werden und nicht einseitig eine Ebene belasten. Außerdem haben die Einkommen- und Körperschaftsteuer auch stabilitätspolitische und distributive Ziele, die nur mit einheitlichen Regelungen auf Bundesebene sinnvoll erreicht werden können. Schließlich vereinfacht die zentrale Festlegung der Bemessungsgrundlage der Steuerarten, deren Einnahmen den Ländern zukommen, das Steuersystem.33 Das System des kooperativen Föderalismus stößt jedoch nicht überall auf Zustimmung. So wird es z. B. dafür verantwortlich gemacht, dass sich in Deutschland im Laufe der Zeit bei gleichbleibenden Grundstrukturen ein Unitarisierungs- und Zentralisierungsprozess vollzogen habe.34 In der Finanzwissenschaft ist dieses Phänomen schon vor Jahrzehnten mit der Formel von der „Anziehungskraft des größten Etats“ umschrieben worden.35 Die Folge davon sei, dass das momentane Finanzausgleichssystem es dem Bund erlaube, seine politischen Ziele auf Kosten der Länder zu verfolgen. Zu Lasten der Länder wirkt sich vor allem das für sich betrachtet einleuchtende Konnexitätsprinzip des Art. 104a Abs. 1 GG aus: Da die Bundesgesetze regelmäßig von den Ländern vollzogen werden, sind sie als deren Aufgaben auch von ihnen zu finanzieren. Christoph Gröpl nennt dies einen verhängnisvollen föderalen Aberwitz: Das Prinzip „wer bestellt, zahlt“ wird auf finanzverfassungsrechtlicher Ebene in sein Gegenteil verkehrt. Der Bund „bestellt“ (erlässt die ausgabenträchtigen Gesetze), die Länder aber „zahlen“.36 Wie oben bereits festgestellt, haben die Länder kaum eigene Spielräume für die Finanzierung der (vielen) Aufgaben, die sie zu erfüllen haben. Allein die Beteiligung der Länder über den Bundesrat nach Art. 105 Abs. 3 GG kann die fehlende Finanzautonomie auf der Einnahmenseite nicht kompensieren, denn ___________ 32 W. Renzsch, in: T. Büttner (Hrsg.), Finanzverfassung und Föderalismus in Deutschland, 2000, 39, 46. 33 C. Lindner, in: F. Decker (Hrsg.), Föderalismus an der Wegscheide?, 2004, 121, 134 f. 34 R. Hendler, DÖV 1993, 292. 35 Grundlegend J. Popitz, Der Finanzausgleich, in Gerloff/Meisel, Handbuch der Finanzwissenschaft, Band II, 1927, 338, 348. 36 C. Gröpl, DVBl. 2006, 1079, 1083.

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„das Recht aller Länder zur Mitentscheidung schafft kein länderspezifisches Profil“.37 In den fehlenden substantiellen Entscheidungs- und Gestaltungskompetenzen liegt die Gefahr, dass die Gliedstaaten auf Dauer zu bloßen Untergliederungen des Zentralstaats verkommen.38 Da die Länder in Deutschland im Unterscheid zu den USA, Kanada oder der Schweiz – kaum eigenständig Steuern erheben können, wirken sie auch nicht auf die Steuerbelastung der Wirtschaftssubjekte ihres Gebiets ein. Es ist ihnen kaum möglich, finanzpolitische Erfolge an die Steuerzahler ihres Landes weiterzugeben.39 So verliert der Steuerzahler einen Teil seines Einflusses auf die politische Willensbildung, da die Landespolitiker die Höhe der Steuern vor den Wählern nicht begründen müssen bzw. gar nicht können und ihnen auch nicht die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen den Steuern und den staatlichen Leistungen möglich ist.40

2. Kritische Würdigung des Länderfinanzausgleichs Der aus ökonomischer Sicht zentrale Kritikpunkt sind die negativen Anreizwirkungen, die dem derzeitigen Ausgleichssystem immanent sind. Hierunter fällt der mögliche Anreiz zum „moralischen Risiko“ (auch „moral hazard“), den das System des Finanzausgleichs begünstigt. Ein Finanzausgleich, der auf aktuellen Einnahmen und Ausgaben aufgebaut ist, sieht sich der Kritik ausgesetzt, dass er Verantwortungslosigkeit in der Haushaltsführung fördert. Wenn nämlich Fehlbeträge im Länderhaushalt unter dem Aspekt der „Solidargemeinschaft“ zum großen Teil von allen Ländern oder dem Bund getragen werden, verwundert es nicht, wenn keine Anreize bestehen, diese Fehlbeträge zu verhindern. Im Extremfall lässt sich ein Land durch die Hoffnung, in Ausübung zwischenstaatlicher Solidarität „gerettet“ zu werden („bail out“), dazu verleiten (Beispiel: Stadtstaat Bremen), mehr auszugeben als es die eigene Leistungsfähigkeit erlaubt.41 Zudem ist es denkbar, dass das Ausgleichsystem dazu führt, dass die Länder nicht mehr daran interessiert sind, durch eine aktive Standortpolitik die örtlichen Steuerquellen zu erweitern und eine die Steuerkraft steigernde Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sowohl die finanzstarken als auch die finanzschwachen Länder haben zwei Verhaltensstrategien. Sie können entweder eine Politik ___________ 37 R. Wendt, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1993, 56, 71; C. Waldhoff, Die Verwaltung, Bd. 39 (2006), 155, 170. 38 C. Gröpl, DVBl., 2006, 1079, 1084. 39 C. Lindner, a.a.O. (Fn. 33), 135. 40 C.Lindner, a.a.O. (Fn. 33), 128. 41 P. Spahn, in: E. Döhler/C. Esser (Hrsg.), Die Reform des Finanzausgleichs – Neue Maßstäbe im deutschen Föderalismus?, 2001, 28 f.

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wählen, mit der durch wirtschafts- und strukturpolitische Maßnahmen die ländereigene Steuerkraft erhöht wird (Strategie I), oder sich für eine Politik entscheiden, die entsprechende Maßnahmen unterlässt und die nicht aktiv beabsichtigt, die vorhandene Steuerkraft zu verändern (Strategie II). Wenn sowohl finanzstarke als auch finanzschwache Länder beide Strategie I wählten, kann man zumindest langfristig und unter sonst gleichen Bedingungen davon ausgehen, dass sich die Wirtschaftskraft und damit auch das Steuerpotential aller Länder erhöhen. Hier käme es zu einer pareto-effizienten Kollektivsituation. Unabhängig vom Verhalten der finanzstarken Länder lohnt es sich aufgrund des hohen Nivellierungsgrads des Finanzausgleichs für die finanzschwachen Länder jedoch, Strategie II zu wählen, also auf das Ergreifen von steuerkraftsteigernden Maßnahmen zu verzichten. Denn bei ihnen würde eine Steigerung der eigenen Finanzkraft zu einer starken Kürzung der Ausgleichszahlungen führen, womit es für sie lohnender ist, sich ohne Eigenanstrengungen auf die Zahlungen des Länderfinanzausgleichs zu verlassen. Für die finanzstarken Länder gibt es keine derartig dominante Situation. Ihr Verhalten wird von der Strategie der finanzschwachen Länder abhängig sein. Nur wenn sich die finanzschwachen Länder gegen die Etablierung von steuerkraftsteigernden Maßnahmen entscheiden, werden sich auch die finanzstarken Länder wegen des hohen Ausgleichsniveaus so verhalten, also Strategie II wählen. Das einseitige Ergreifen von steuerkraftsteigernden Maßnahmen durch die finanzstarken Länder würde nur bewirken, dass die Finanzkraft aller Länder im Durchschnitt steigt und sich der Umfang der zu leistenden Ausgleichszahlungen stark erhöht. Dies stellt für die politischen Entscheidungsträger in den finanzstarken Ländern keinen Anreiz dar, weil die originär gestiegene Finanzkraft nur begrenzt dem eigenen Land und damit den eigenen Wählern von Vorteil sein wird. Hieraus folgt ein Quasi-Gefangenendilemma, bei dem sowohl die finanzstarken als auch die finanzschwachen Länder das im Hinblick auf ein langfristiges gesellschaftliches Wachstumspotential pareto-ineffiziente Ergebnis realisieren, d. h. auf das Ergreifen von steuerkraftsteigernden Maßnahmen verzichten.42 Die Regelungen des Länderfinanzausgleichsystems sind zudem kompliziert und intransparent. Sie werden nur für eine kleine Zahl von Fachleuten verständlich. Zuständigkeiten sowie finanzielle und politische Verantwortlichkeiten bleiben für das Gros der Bürger undurchschaubar.43 Daraus folgt, dass die Steuerzahler die Wirkungen der einzelnen Umverteilungsschritte nicht mehr verstehen können, was zu hohen Informationskosten führt. Durch ein einfacher

___________ 42 T. Döring, Institutionenökonomische Fundierung finanzwissenschaftlicher Politikberatung, 2001, 265 ff. 43 T. Döring, in: E. Döhler/C. Esser (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 41), 46 f.

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und leichter verständlich aufgebautes Finanzausgleichssystem könnten diese Informationskosten reduziert werden.44 Zu kritisieren ist die überzogene horizontale Umverteilung zwischen den Gebietskörperschaften, die sogar zur Übernivellierung führen kann.45 Besonders fragwürdig ist die „Veredelung“ der Einwohner von Stadtstaaten bei der Ermittlung des Finanzbedarfs zum Ausgleich von „Spillover-Effekten“46 und die Berücksichtigung von Hafenlasten in Form eines pauschalen Abschlags auf die Finanzkraft der Länder mit Häfen internationaler Bedeutung. Hierbei wurde davon ausgegangen, dass Häfen aufgrund ihrer Infrastruktur eine besondere Belastung für das Land darstellen. Dies erscheint nur schwer nachvollziehbar, weil die betroffenen Länder aufgrund ihrer Stellung als nationale Logistikzentren auch Vorteile und damit auch eine höhere Steuerkraft aufweisen. Zum anderen wird dem System des Länderfinanzausgleichs vorgeworfen, dass es sich zu sehr an der Erreichung einheitlicher Lebensverhältnisse orientiere und dabei ökonomische Grundregeln außer Acht lasse.47 Strategisch steckt der Finanzausgleich insofern in einem Zwiespalt: Einerseits soll er die negativen Folgen unterschiedlicher Leistungskraft abfedern, andererseits ist er aber nicht in der Lage, deren Ursache nachhaltig zu beheben. Den finanzstarken Ländern bleibt auch nach horizontalem Finanzausgleich ein finanzieller Vorteil gegenüber den schwächeren, der es ihnen grundsätzlich erlaubt, ihren Vorsprung zu bewahren oder auszubauen. Tendenziell steigt damit der notwendige finanzielle Einsatz, um die Kluft zwischen den leistungsstarken und leistungsschwachen Ländern nicht weiter wachsen zu lassen.48

3. Neugliederung der Länder Angesichts der erheblichen finanziellen Unterschiede zwischen den Ländern geht eine Forderung deshalb dahin, eine Neugliederung des Bundesgebiets, verbunden mit einer Reduzierung der Anzahl der Bundesländer, voranzutreiben.49 Gefordert wird, finanziell etwa gleich starke Bundesländer zu schaffen (wobei dann zumindest die Stadtstaaten in größere Länder aufgehen und die Zahl der nach der deutschen Wiedervereinigung neu dazugekommenen Bundesländer auf zwei bis drei zu reduzieren sei). Dies brächte eine solide Struktur ___________ 44 45 46 47 48 49

T. Döring, a.a.O. (Fn. 43), 47; P. Spahn, a.a.O. (Fn. 41), 22. P. Spahn (Fn. 41), 26. C. Lindner, a.a.O. (Fn. 33), 141. H. - W. Arndt, Wirtschaftsdienst 1998/II, 76, 78. W. Renzsch, a.a.O.(Fn. 32), 48. H. Wilms, ZRP 2003, 86, 87.

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in die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und den Ländern untereinander. Ansonsten wird befürchtet, dass bei Ausbleiben einer Neugliederung der Länder der Bund in zunehmendem Maße für gleichwertige Lebensverhältnisse in den verschiedenen Regionen sorgen muss.50 Dies hätte jedoch eine noch stärkere Zentralisierung zur Folge. Der Vorschlag, das Bundesgebiet neu zu gliedern, stößt aber nicht nur auf Gegenliebe. So wird angeführt, dass die aktuelle Ländergliederung im Bewusstsein der Bürger viel zu stark verankert sei, als dass man sie einfach aufheben könne. Zudem gäbe es keine Garantie dafür, dass allein eine Länderzusammenlegung ein neues leistungsstarkes Land schafft. Bei dieser Argumentation wird allerdings außer Acht gelassen, dass durch eine Neugliederung auch Probleme gelöst werden könnten, die dadurch entstehen, dass Wirtschafts- und Lebensräume künstlich durchschnitten werden und so potentielle Synergieeffekte nicht genutzt werden können und es zu Koordinationskosten kommt. Dies ist vor allem bei den Stadtstaaten der Fall.51 Gleichwohl scheiterte im Rahmen eines Volksentscheids der Versuch, den Stadtstaat Berlin und das Bundesland Brandenburg zu verschmelzen. Auch in Zukunft wird eine Neugliederung des Bundesgebiets wohl auf erheblichen politischen Widerstand stoßen. Es besteht insgesamt ein institutionelles Dilemma dahingehend, dass sich das derzeitige System des Finanzausgleichs und die Ländergliederung selbst stabilisieren. So haben auf der einen Seite die durch den Finanzausgleich begünstigten Länder kein Interesse daran, eine Neugliederung überhaupt anzudenken. Auf der anderen Seite führt die unausgewogene Ländergliederung zu einem stets zunehmenden Ausgleichsbedarf, der einer Reform der Länderfinanzierung entgegenstand. Angesichts dieser Schwierigkeiten werden auch die Möglichkeiten grenzüberschreitender Kooperationen und länderübergreifender Organisationspolitiken wie sie im Bereich der Landeszentralbanken, Rundfunkanstalten und sozialen Sicherungssystemen bereits erfolgreich praktiziert werden, diskutiert.52

4. Stärkung des Wettbewerbsföderalismus Als Reformoption zum derzeit geltenden Modell des „kooperativen Föderalismus“ wird von Ökonomen mehrheitlich ein Systemwechsel zum „Wettbewerbsföderalismus“ (oder auch Konkurrenzföderalismus bzw. kompetitiver Föderalismus) vorgeschlagen. Bei diesem System würde der derzeitige Aufga___________ 50 51 52

U. Leonardy, in: F. Decker (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 33), 81. U. Leonardy, ebenda, 75. J. J. Hesse, in: T. Büttner (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 32), 9, 16.

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ben- und Steuerverbund, der zwischen Bund, Ländern und Gemeinden existiert, aufgelöst. Die Zuteilung der Steuern würde nicht mehr nach dem Verbundsystem, sondern nach dem Trennsystem erfolgen. Danach wäre der Ertrag bestimmter Steuern oder Steuerarten dem Bund und den Ländern jeweils ausschließlich zugewiesen, so dass die Bürger und Politiker jeder Gebietskörperschaft genau wüssten, mit welchen finanziellen Mitteln sie rechnen können.53 Dadurch, dass die einzelnen Länder eine umfassende Ausgaben- und Einnahmenautonomie erhalten, soll mehr Wettbewerb zwischen den Ländern untereinander und gegenüber dem Bund geschaffen werden. Weiterhin soll eine klare Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, also insgesamt marktähnliche Mechanismen, eingeführt bzw. verstärkt werden.54 Der Übergang zum Wettbewerbsföderalismus zielt also auf die Realisierung der in der Theorie des Fiskalföderalismus verankerten Grundsätze der Autonomie sowie der Transparenz und Bürgernähe politischer Entscheidungsprozesse ab. Von diesem System erhofft man sich, dass ein intensiver Kostenwettbewerb zwischen den Ländern entsteht. Dieser hätte zur Folge, dass die Bereitstellung öffentlicher Leistungen und die Steuerpolitik besser auf die Wünsche der Bevölkerung der jeweiligen Länder und der Unternehmen abgestimmt würden. So soll eine überzogene Ausweitung der Staatstätigkeit unterbunden und die Ausgabenbelastung beschränkt werden können.55 Zudem hätte ein System, in dem die Länder ihre Aufgaben und Ausgaben im Wesentlichen selbst zu bestimmen haben, den Vorteil einer größeren Transparenz. Des weiteren verspricht man sich vom Wettbewerbsföderalismus, dass die Gefahr der negativen Anreizwirkungen gesenkt wird, da ein Land, das wirtschaftlich und gesetzgebungstechnisch schlecht organisiert ist oder bestimmte politische Zielvorstellungen verfolgt, die konträr zum Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stehen, diese unwirtschaftliche Politik nicht länger auf Kosten gut organisierter und wirtschaftlich erfolgreicher Länder finanziert bekäme.56 Von dem höheren Wettbewerb unter den Ländern sowie den erhöhten Anreizen im föderativen Finanzsystem erhofft man sich daher, dass die Länder zukünftig ihre eigenen Steuerquellen stärker pflegen. Am Wettbewerbsföderalismus allgemein wird aber kritisiert, dass der Wettbewerb dem Verteilungsgesichtspunkt nicht Rechnung trägt. Denn ein reines Trennsystem hätte die Nachteile, dass sowohl ein Belastungsausgleich zwischen Bund und Ländern als auch eine „rationales Steuersystem“57 deutlich er___________ 53 54 55 56 57

C. Blankart: Die öffentlichen Finanzen in der Demokratie, 2006, 674. T. Döring: a.a.O. (Fn. 42), 305 f. T. Döring, ebenda, 305. H. Wilms, ZRP 2003, 86, 89. W. Heun, Der Staat, Bd. 31 (1992), 205, 214.

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schwert würden. Die Korrektur der Umsatzsteuerverteilung als Reaktion auf Belastungsverschiebungen zwischen Bund und Ländern ist ein vergleichsweise einfach zu handhabendes Instrument, das sich als Finanzpuffer zur Feinsteuerung bewährt habe.58 Sich gegenseitig kompensierende Steuersenkungen und Steuererhöhungen der beiden staatlichen Elemente wären bei einem reinen Trennsystem deutlich aufwendiger.59 Zudem bestehe die Gefahr, dass die finanzstarken Länder immer reicher und die finanzschwachen Länder immer ärmer würden. Um dies zu verhindern und dem bundesstaatlichen Prinzip der Solidargemeinschaft gerecht zu werden, bedürfe es aber wiederum zwingend eines Finanzausgleichs. Schließlich wird befürchtet, dass ein Steuerwettbewerb der Länder einen Steuersenkungswettbewerb einleiten könnte. Ein solcher mag zwar kurzfristig im Interesse der Bürger liegen, berge aber mittel- oder langfristig die Gefahr des Abbaus von staatlichen und kommunalen Aufgaben. Dies könnte darin gipfeln, dass früher oder später auch die – für große Teile der Bevölkerung unverzichtbaren – Kernaufgaben des Staates, wie z. B. die Daseinsvorsorge, abgebaut werden (müssen).60 Überdies fehle es an den Grundvoraussetzungen eines wirtschaftlichen Wettbewerbs:61 Weder bieten die Länder und Kommunen ihre „Leistungen“ an einem „Markt“ an, noch sind sie frei in ihren Entscheidungen, andere bei den „Preisen“ zu unterbieten oder bei der Qualität zu überbieten. Sie können sich nicht gegenseitig die „Kunden“ wegnehmen und den Schwächeren die Lasten überlassen. Sie sind vielmehr dazu verpflichtet, Aufgaben im Allgemeininteresse zu erfüllen. Wenn die deutsche Finanzverfassung grundlegend im Sinne des Wettbewerbsföderalismus neugestaltet werden würde, ist zu bedenken, dass man nicht bei null beginnt. Vielmehr müsste dieses neue System in die vorhandenen institutionellen Strukturen, politischen Entscheidungsverfahren und überlieferten Wertvorstellungen eingegliedert werden. Ein in der ökonomischen Theorie als ideal angesehener föderaler Wettbewerb muss nicht zwangsläufig auch in der Praxis die existierenden Probleme des Finanzausgleichs lösen können. Es ist hingegen mit Blick auf die politische Durchsetzungsfähigkeit denkbar, dass eine „zweitbeste“ Lösung einer von den konkreten historischen und verfassungsrechtlichen Gegebenheiten losgelösten „erstbesten Lösung“ überlegen ist. So würde z. B. schon die Realisierung nur eines Teils der angeregten Reformen bei der Aufgaben- und Ausgabenverteilung zu einer starken Veränderung des deutschen föderativen Systems führen.62 Es macht Sinn, die Steuergesetzgebungs___________ 58 59 60 61 62

F. Kirchhof (Fn. 13), VVDStRL, Bd. 52 (1993), 71, 89. W. Renzsch, a.a.O. (Fn. 32), 39, 51. H. - P. Bull, DÖV 1999, 269, 271. H. - P. Bull, ebenda. T. Döring, a.a.O. (Fn. 42), 310 f.

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hoheit der Länder zu stärken. Landessteuern auf immobile Steuergegenstände können gänzlich in die Hände der Länder gegeben werden. Anders ist dies aber bei Landessteuern (wie z. B. die Erbschaft- und Schenkungsteuer), deren Bemessungsgrundlage über das Gebiet eines Bundeslandes hinausreicht. Hier ist zumindest eine einheitliche Bemessungsgrundlage zur Verhinderung einer dem Gesamtinteresse des Bundesstaats abträglichen Rechtszersplitterung erforderlich. Die bereits im internationalen Kontext nur schwer lösbaren Fragen der Doppelbesteuerung würden sich plötzlich auch innerstaatlich zwischen den 16 Bundesländern stellen. Ein solches Szenario widerspricht dem Ziel der „Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit“.63 Raum bliebe allerdings für eine teilautonome Steuersatzgestaltung in Gestalt eines flexiblen Steuerzuschlagsrechts der Länder.64

5. Begrenzung des sekundären Finanzausgleichs Der kompetitive Gedanke sollte mithin nur in gewissen Grenzen umgesetzt werden, so dass er lediglich ergänzend und korrigierend wirkt.65 Ein Finanzausgleich, der die finanzschwachen Länder unterstützt, muss in modifizierter Form beibehalten werden. Denn angesichts der sehr unterschiedlichen Ausgangslagen etwa von süd- und ostdeutschen Ländern wird sich ein ausgeprägter Steuerwettbewerb zwischen den Ländern nicht verwirklichen lassen.66 Der Gedanke der bündischen Solidargemeinschaft rechtfertigt einen umverteilenden Finanzausgleich aber nur, um die Leistungsfähigkeit sämtlicher Glieder zu gewährleisten, nicht aber, um sie systematisch zu nivellieren. Um die Eigenverantwortung der Länder zu wahren, bedarf es wirksamer Begrenzungen des Finanzausgleichs. Dem Finanzausgleich ist die „Subventionsmentalität“ zu nehmen. Ein derartiger „anreizorientierter Finanzausgleich“ könnte in den Grundzügen so ausgestaltet sein, dass zum einen ein Mindesttransfer zur Hilfe der finanzschwachen und bedürftigen Länder und zum anderen ein kontinuierlich abnehmender Transfer zur Aufrechterhaltung der Leistungsanreize an die Länder, die finanziell besser gestellt sind, eingeführt wird.67 Dies impliziert, dass auch nach Durchführung des sekundären Finanzausgleichs die unterschiedliche Finanzkraft der Länder im Sinne eines Abstandsgebots sichtbar bleibt. Für Zwecke des Finanzausgleichs sollte zudem statt auf die vereinnahmten Steuern ___________ 63 J. Hey, VVDStRL Bd. 66 (2007), 277, 311; R. Seer/K.-D. Drüen, in W. Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, Art. 105 GG, Rz. 8; J. Lang, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., 2008, § 3 Rz. 42; a. A. R. Wernsmann/V. Spernath, FR 2007, 829. 64 Siehe J. Hey, a. a. O., 312 ff. 65 So auch H.-P. Bull, DÖV 1999, 269, 271. 66 J. Wieland, JZ 2006, 751, 755. 67 Vgl. C .Blankhart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, München 2006, 674.

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auf die Steuerkraft, d. h. auf das Aufkommenspotential (Soll-Aufkommen) abgestellt werden, wie es nun für die Grunderwerbsteuer in Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG n. F. geschehen ist.68 Ausgleichsansprüche können danach erst entstehen, wenn ein Land seine Steuerquellen ausgeschöpft hat. Der Anreiz, auf Kosten der anderen Länder den eigenen Steuervollzug zu vernachlässigen,69 würde gemindert. Gänzlich wegfallen würde er, wenn im Bereich der Auftragsverwaltung die anordnende Körperschaft (z. B. Bund) die ausführende Körperschaft (z. B. Land) nach dem Grundsatz der Gesetzeskausalität von den Steuervollzugskosten freistellt. Außerdem sollten Bundesergänzungszuweisungen im Sinne des Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG der Vergangenheit angehören. Schließlich bedarf es der Begrenzung der Staatsverschuldung durch effektive Neuverschuldungsgrenzen. Hier setzt die jüngste Entscheidung des BVerfG vom 19.10.200670 ein wichtiges Zeichen. Sie muss nun im Rahmen der Föderalismusreform II durch eine sinnvolle Regelung auf Verfassungsebene ausgebaut werden.71 Ich bin gespannt, was Friedrich E. Schnapp aus der Sicht des Sozialrechtlers zu den aufgeworfenen staatswissenschaftlichen Fundamentalfragen sagen wird.

___________ 68

J. Hey, VVDStRL, Bd. 66 (2007), 277, 316. Zum Problem des negativen administrativen Konkurrenzföderalismus s. R. Seer, in Festschrift H. G. Ruppe, 2007, 533, 536 ff. 70 Siehe oben Fn. 31. 71 Vorschläge etwa bei J. Wieland, JZ 2006, 751; C. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 2006, 672 f. J. - K. Fromme, ZRP 2007, 263; Modell einer neuen Schuldenbegrenzungsregel des Bundesministers der Finanzen v. 23.1.2008, Föderalismuskommission, Drucksache 096. 69

Die Spielbankabgabe und die Beteiligung der Gemeinden an ihrem Aufkommen – zugleich ein Beitrag zu den finanzverfassungsrechtlichen Ansprüchen der Gemeinden Von Helmut Siekmann, Frankfurt a.M. Die Spielbankunternehmer haben in Nordrhein-Westfalen eine Spielbankabgabe in Höhe von 80 % der Bruttospielerträge zu entrichten, § 4 Abs. 2 S. 1 des Spielbankengesetzes NW.1 Dafür sind sie aber von denjenigen Landes- und Gemeindesteuern befreit, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Betrieb der Spielbank stehen, § 4 Abs. 3 Spielbankengesetz NW. Ein „angemessener“ Anteil dieser Abgabe ist den jeweiligen Spielbankgemeinden2 wegen der Befreiung des Spielbankunternehmers von Gemeindesteuern zuzuwenden. Durch Rechtsverordnung bestimmt der Innenminister im Einvernehmen mit dem Finanzminister die Höhe dieses Anteils, § 4 Abs. 2 Satz 3 Spielbankgesetz NW. Er hat ihn in § 1 der Verordnung über den Anteil der Spielbankgemeinden an der Spielbankabgabe vom 8. Mai 19853 auf 15 % festgesetzt. 11 Jahre später ist dieser Anteil durch das Haushaltsbegleitgesetz 2006 von 15 % auf 12 % abgesenkt worden.4 Die Absenkung ist am 1. Juli 2006 in Kraft getreten, § 2 Nr. 2 des Haushaltsstrukturgesetzes 2006.5

___________ 1

Gesetz über die Zulassung öffentlicher Spielbanken im Land Nordrhein-Westfalen (Spielbankgesetz NW – SpielbG NW) vom 19.03.1974, GV. NRW, S. 93. 2 Es handelt sich um die Städte Aachen, Bad Oeynhausen, Dortmund und Duisburg. 3 GV. NRW, S. 438. 4 Nr. 7 des Gesetzes zur Änderung haushaltswirksamer Landesgesetze (Haushaltsbegleitgesetz 2006) vom 23. Mai 2006, GV. NRW, S. 197, 205. Es ist als Artikel 2 des Gesetzes über die „Feststellung des Haushaltsplans des Landes Nordrhein-Westfalen für das Haushaltsjahr 2006“ und des Gesetzes „zur Änderung haushaltswirksamer Landesgesetze (Haushaltsstrukturgesetz 2006)“ erlassen worden, GV. NRW, S. 197. Artikel 2 selbst trägt die Bezeichnung: „Gesetz zur Änderung haushaltswirksamer Landesgesetze (Haushaltsbegleitgesetz 2006)“. Sie stimmt damit nicht genau mit der Bezeichnung in der Überschrift für das gesamte Gesetz überein. Im Folgenden soll einheitlich die Bezeichnung Haushaltsbegleitgesetz 2006 verwendet werden. 5 GV. NRW, S. 197, 206.

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Seit dem 6. Mai 2006 wird darüber hinaus die vom Spielbankunternehmer zu zahlende Umsatzsteuer auf die Spielbankabgabe angerechnet.6 Das hat zur Folge, dass sich die (absolute) Höhe des Landesanteils an den Bruttospielerträgen – und damit auch der an die Gemeinden weitergereichte Betrag – um die angerechnete Umsatzsteuer verringert. Im Ergebnis haben sich also die Einnahmen der Spielbankgemeinden aus der Spielbankabgabe aus zwei Gründen verringert: Der zu verteilende Kuchen wird durch die angerechnete Umsatzsteuer verkleinert und die Gemeinden erhalten ein kleineres Stück des Kuchen. Eine Reihe von kommunalrechtlichen, aber auch finanzverfassungsrechtlichen Fragen sind dadurch aufgeworfen worden. Sie betreffen in ihrem Kern das Recht auf Selbstverwaltung, vor allem den Anspruch der Gemeinden auf eine angemessene Finanzausstattung. Möglicherweise haben die Spielbankgemeinden einen Anspruch auf Zuweisung des ungeschmälerten Anteils an dem Aufkommen der Spielbankenabgabe. Als Grundlage für einen derartigen Anspruch kommen vor allem die Selbstverwaltungsgarantie in ihrer finanziellen Ausprägung nach Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG und die Finanzausgleichsregelungen in Art. 106 Abs. 2 und 6 GG in Betracht.

I. Die Erhebung einer Spielbankabgabe 1. Gesetzgebungszuständigkeit des Landes Der Bund hat nach Art. 105 Abs. 1 GG die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit über Zölle und Finanzmonopole. Die Spielbankabgabe ist aber weder ein Zoll noch fließen ihre Erträge aus einem Finanzmonopol. Da eine ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nicht gegeben ist, könnte die Zuständigkeit des Landes nach Art. 105 Abs. 2 oder 2a GG gegeben sein. Sie könnte aber auch aus der Zuständigkeit zur Regelung eines einheitlichen Gegenstandes „Spielbankrecht“ folgen, für das die Länder mangels anderweitiger Zuweisung zuständig sind, Art. 70 Abs. 1 GG (Residual- oder Auffangkompetenz der Länder). Die finanzverfassungsrechtliche Gesetzgebungszuständigkeit hängt davon ab, ob es sich bei der Abgabe um eine Steuer handelt. Art. 106 Abs. 2 GG führt in seiner Aufzählung von Steuern („Das Aufkommen folgender Steuern … “), deren Ertrag den Ländern zusteht, ausdrücklich unter Nr. 6 die „Abgabe von Spielbanken“ an. Diese formale Behandlung spricht bereits deutlich für das Vorliegen einer Steuer. Aber auch materiell ist eine Abgabe von Spielbanken ___________ 6 Das ist eine Konsequenz von Artikel 2 des Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen vom 28.04.2006, BGBl. I, S. 1095.

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der Art, wie sie in Nordrhein-Westfalen erhoben wird, keine Vorzugslast. Sie ist nicht Gegenleistung für die Erteilung der Spielbankkonzession,7 sondern eine Geldleistung, die ohne weitere Voraussetzungen zu erbringen ist, wenn der Tatbestand der Abgabenorm erfüllt ist. § 4 Abs. 1 Satz 1 SpielbG NW knüpft lediglich an die Eigenschaft „Spielbankunternehmer“ an. Es handelt sich daher um eine Steuer im verfassungsrechtlichen Sinne.8 Wenn es sich um eine Steuer im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit handelt, kommt es weiter darauf an, ob eine Regelung der Materie durch den Bund vorliegt. Eigene Gesetze hat der Bund nicht erlassen. Wenn jedoch das Reichsrecht, das die ursprüngliche Spielbankabgabe geregelt hatte, als Bundesrecht und nicht als Landesrecht weiter gilt, könnte eine die Länder sperrende Bundesgesetzgebung vorliegen. Das ist tatsächlich bisweilen vertreten worden,9 doch berücksichtigt diese Auffassung nicht hinreichend die tragenden Gründe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verwendung des „Troncs“ der Spielbanken. Das Gericht hat in dieser Entscheidung ausdrücklich das Spielbankrecht unter Nennung der maßgebenden Vorschriften der weiter geltenden reichsrechtlichen Verordnung als eine einheitliche Materie („Spielbankrecht insgesamt“) bezeichnet.10 § 7 Abs. 2 Satz 2 SpielbVO über die Verwendung des Troncauf___________ 7

BFHE 58, 556 (559): keine „Verwaltungsabgabe“; 177, 276 (286) für die Niedersächsische Spielbankabgabe; allgemein BFH, Beschluss v. 29.3.2001 - III B 80/00, NV 2002, S. 1294 (1296); Maunz, Theodor, in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, München, Art. 106 Rdn. 33 (Loseblatt: 1978). 8 BFH, Beschluss v. 29.3.2001, - III B 80/00, NV 2002, S. 1294 (1296); Walter, Hannfried, Spielbankabgabe und Finanzverfassung, Steuer und Wirtschaft 1972, S. 225 (227); Maunz (Fn. 7), Rdn. 33; Siekmann, Helmut, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl., München, 2007, Art. 106 Rdn. 11; Pieroth, Bodo, in: Hans D. Jarass und Bodo Pieroth, Grundgesetz, 9. Aufl., München, 2007, Art. 106 Rdn. 5; Schwarz, KyrillA., in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, 5. Aufl., München 2005, Art. 106 Rdn. 58; Hidien, Jürgen W., in: Rudolf Dolzer / Klaus Vogel / Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg, Art. 106 Rdn. 1446 (Loseblatt: 2002); offen gelassen von BVerfGE 28, S. 119 (150 f.); Steuer im Sinne der Abgabenordnung: BFHE 58, 556 (559) unter Bezugnahme auf den Zweck einer „umfassenden Abschöpfung“; 177, 276 (282 f., 285) auch für die (höhere) zusätzliche Spielbankabgabe nach niedersächsischem Recht (286); Birk, Dieter, in: Walter Hübschmann / Ernst Hepp / Armin Spitaler, Abgabenordnung – Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Köln, § 1 Rdn. 9 (Loseblatt: 2005); Vogt, Herbert, Spielbankabgaben, Zeitschrift für Kommunalfinanzen 1984, S. 162 (163); für „Abgabe“ Schmitz, Hans G., Die Spielbankabgabe in der Bundesrepublik Deutschland, Finanzarchiv 1965, S. 472 (475), allerdings vor Änderung von Art. 106 Abs. 2 GG. 9 Walter (Fn. 8), S. 225: § 5 Abs. 1 SpielbankVO v. 27.7.1938 (RGBl. I, S. 955) gelte als Bundesrecht weiter. Nach Auffassung des BFH würde eine solche Qualifikation die Länder aber gleichwohl nicht an konkretisierender eigener Gesetzgebung hindern, BFHE 177, 276 (285). 10 BVerfGE 28, 119 (145, 149).

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kommens verwirkliche ebenso wie die §§ 5, 6 und 9 der Verordnung den maßgeblichen Grundgedanken der Abschöpfung.11 Die Materie „Spielbankrecht“ falle unter keine der dem Bund ausschließlich oder konkurrierend zugewiesenen Sachbereiche und es verbleibe bei der Gesetzgebungskompetenz der Länder.12 Das Gericht lässt dann aber dahingestellt, ob es sich bei der eigentlichen Spielbankabgabe um eine Steuer handele und wie sie in das Steuersystem einzuordnen sei. Dessen ungeachtet zieht es dann aber doch ein umfassendes Fazit: „Das Spielbankrecht betrifft nicht einen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes.“13 Diese kompetenzrechtlichen Festlegungen des Bundesverfassungsgerichts sind auch nicht durch die Entscheidung vom 19. Juli 2000 in Frage gestellt worden, die den Betrieb einer Spielbank zum Schutzbereich der Berufsfreiheit gerechnet hat.14 Wenn die Spielbankabgabe untrennbarer Bestandteil des Spielbankrechts insgesamt ist,15 muss die (ausschließliche) Zuständigkeit der Länder angenommen werden.16 Diese Gesetzgebungskompetenz der Länder würde sich aber auch aus Art. 105 Abs. 2a GG ergeben, da es sich um eine örtliche Verbrauchoder Aufwandsteuer handelt, die bundesgesetzlich geregelten Steuern nicht gleichartig ist. Steuerquelle und Steuerbemessungsgrundlage sind die Bruttospielerträge fast ohne Abzugsmöglichkeiten oder Anrechnungen. Das macht sie einzigartig im Vergleich zu anderen Steuern.

2. Zulässigkeit der Erhebung einer Spielbankabgabe Die Erhebung einer solchen Abgabe muss wegen ihrer ausdrücklichen Erwähnung in Art. 106 Abs. 2 Nr. 6 GG auch materiell als vom Grundgesetz in ihrer „Grundstruktur“ gebilligt angesehen werden, selbst wenn die Vorschrift nur die Ertragskompetenz regelt.17 Die Verteilung des Aufkommens aus einer ___________ 11

BVerfGE 28, 119 (146). BVerfGE 28, 119 (146): „Das Spielbankrecht gehört weder zum Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) noch zum Arbeitsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) oder zum Steuerrecht des Art. 105 Abs. 2 GG.“ 13 BVerfGE 28, 119 (151). 14 BVerfGE 102, 197 (215). In dieser Entscheidung wird ohne Vorbehalt oder Einschränkung die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers unter Berufung auf BVerfGE 28, S. 119 (144 ff.) in einem Satz festgestellt. 15 Wohl BVerfGE 28, S. 119 (151); Lauer, Alfons, Staat und Spielbanken. Rechtsfragen des Staatshandelns in einem Spannungsfeld zwischen Erwerbswirtschaft und Gefahrenabwehr, Heidelberg, 1993, S. 96 f.; offen gelassen von BFHE 177, 276 (284). 16 Schmitz (Fn. 8), S. 474 Fn. 2. 17 Eingehend unter Diskussion der verschiedenen Meinungen anhand der Gewerbesteuerabgeltung BFHE 203, 206 (267ff.). 12

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Abgabe, die das Grundgesetz verbietet, würde keinen Sinn machen, es sei denn, die konkrete Ausgestaltung der Abgabe wäre mit Vorschriften des Grundgesetzes nicht (mehr) vereinbar, wie das bei den Steuern, die auf gleichheitswidrig festgesetzten Einheitswerten beruhten, der Fall war.18 Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Grundrechte oder materielle Grundprinzipien des Grundgesetzes durch die konkrete Ausgestaltung der Abgabe in Nordrhein-Westfalen sind aber nicht ersichtlich. Bei ähnlicher Gestaltung in Hamburg und Schleswig-Holstein sah der BFH jedenfalls in der Heranziehung der Spielgeräteaufsteller zur Gewerbesteuer keinen Verstoß gegen die europarechtlichen Freiheiten und keine gleichheitswidrige Schlechterstellung gegenüber den Spielbankunternehmern, die nach § 3 Nr. 1 GewStG von der Zahlung der Gewerbesteuer befreit sind.19 Die dem Bundesverfassungsgericht vorliegenden Verfahren der konkreten Normenkontrolle20 betreffen keine hier relevanten Fragen.

II. Die Weiterleitung von Ertragsanteilen Art. 106 Abs. 2 Nr. 6 GG weist das Aufkommen aus der Abgabe von Spielbanken den Ländern zu. Diese Festlegung ist zwingend. Abweichende vertragliche Regelungen sind nicht zulässig.21 Erlaubte Durchbrechungen der Ertragsverteilungsregeln des Art. 106 GG waren abschließend in Art. 91 a und b sowie Art. 104 Abs. 4 GG22 geregelt. Die Vereinbarung über die Abführung von Teilen der Spielbankenabgabe an den Bund war daher verfassungswidrig.23 Eine ___________ 18

BVerfGE 93, 121 (142); zuvor schon BFH, BStBl. 1978 II, S. 446; BFHE 125,

188. 19

BFH, Beschluss v. 29.3. 2001, - III B 80/00 - NV 2002, S. 1294 (1296f.). BVerfG - 2 BvL 5/03, Vorlagebeschluss des FG Niedersachsen vom 14.05.2003 3 K 264/95; BVerfG - 2 BvL 6/03, Vorlagebeschluss des FG Niedersachsen vom 15.05.2003 - 3 K 289/95. 21 BVerfGE 55, 274 (300 f.); Siekmann (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 3; Pieroth (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 3; Häde, Ulrich, Finanzausgleich, Tübingen, 1996, S. 2, 183, unter Berufung auf Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 106 Rdn. 34; Schwarz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 25; Heun, Werner, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, Tübingen, 2000, Art. 106 Rdn. 10; ausführlich jetzt Hidien (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 484, 679 (nicht 677, wie im Stichwortverzeichnis angegeben). 22 Seit dem 1.9.2006 in Art. 91 b und 104 b Abs. 2 GG sowie wohl auch in Art. 91a Abs. 3 GG in der neuen Fassung. 23 Walter (Fn. 8), S. 229; Siekmann (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 3; Pieroth (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 3; Schneider, Jens-Peter, in: Erhard Denninger (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., Art. 106 Rdn. 6 (Loseblatt: 2002); Schwarz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 25; Heun (Fn. 21), Art. 106 Rdn. 10, 16; Heintzen, Markus, in: Ingo v. Münch / Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 4./5. Aufl., München, 2003, Art. 106 Rdn. 9; Hidien (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 484, 487, 679, 1446; zu den Einzelheiten des Abkommens, seiner Vorgeschichte und finanziellen Auswirkung Schmitz (Fn. 8), S. 486 ff. 20

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horizontale Umverteilung zwischen den Ländern kann dagegen durch Bundesgesetz geregelt werden, soweit sie sich als „Zerlegung“ des Aufkommens im Sinne von Art. 107 Abs. 1 Satz 3 GG darstellt.24 Aber auch insoweit sind vertragliche Abmachungen in jedem Fall unzulässig. Die Beteiligung der Kommunen am Aufkommen der Abgabe könnte jedoch anders zu beurteilen sein. In Übereinstimmung mit den übrigen Abschnitten des Grundgesetzes behandelt die Finanzverfassung die Gemeinden und Gemeindeverbände als Bestandteile der Länder und ihres Verfassungsrechtskreises.25 Das folgt eindeutig aus der Überschrift von Abschnitt II des Grundgesetzes und aus Art. 106 Abs. 9 GG, der die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden und Gemeindeverbände ausdrücklich den Einnahmen und Ausgaben der Länder zuordnet. Daran hat auch die schrittweise Einführung von Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG nichts ändern wollen.26 Auch bedeuten die besonderen Garantien für die kommunale Finanzausstattung (Art. 28 Abs. 2 Satz 3, 106 Abs. 5 und 5a GG) keine Abkehr vom Grundprinzip der Zweistufigkeit,27 selbst wenn das Bundes___________ 24 Walter (Fn. 8), S. 230, allerdings mit der Einschränkung, dass es sich um bundesgesetzlich geregelte Landessteuern handeln müsse. 25 BVerfGE 86, 148 (215): „Im Bundesstaat des Grundgesetzes stehen sich Bund und Länder und die Länder untereinander gegenüber; die Kommunen sind staatsorganisatorisch den Ländern eingegliedert“. Das ist in der Begründung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 28 und 106) v. 20.10.1997 noch einmal ausdrücklich bekräftigt worden (BT-Drs. 13/1685, S. 4) und damit als (fortbestehender) Wille des Verfassunggebers anzusehen; dezidiert in diesem Sinne auch nach Änderung von Art. 84 Abs. 1 GG und 85 Abs. 1 GG Nierhaus, Michael und Rademacher, Sonja, Die große Staatsreform in der Föderalismusfalle?, LKV 2006, S. 385 (393). 26 Bei der Formulierung der Vorschläge zur Ergänzung des Art. 28 Abs. 2 GG war Wert darauf gelegt worden, dass „auch nur der Anschein“ vermieden werden müsse, es solle von „dem im Grundgesetz begründeten zweigliedrigen Staatsaufbau abgewichen“ werden, BT-Drs. 12/6000, S. 47; ebenso Mückl, Stefan, Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, Stuttgart München Hannover Berlin Weimar Dresden, 1998, S. 159 f.; Vogel, Klaus / Waldhoff, Christan, in: Rudolf Dolzer / Klaus Vogel / Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg, vor Art. 104 a Rdn. 51 (Loseblatt: 1997); J.-P. Schneider (Fn. 23), Art. 106 Rdn. 19; Dreier, Horst, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 2. Aufl., Tübingen, 2006, Art. 28 Rdn. 95; Schwarz, Kyrill-Alexander, Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung, Baden-Baden, 1996, S. 65, unklar S. 72 ff. 27 BVerfGE 86, 148 (215, 220); Grawert, Rolf, Die Kommunen in Länderfinanzausgleich, Berlin, 1989, S. 23 ff., 45; Vogel/Waldhoff (Fn. 26), vor Art. 104 a Rdn. 48; Waldhoff, Christian, Reformperspektiven im Finanzrecht – ein Überblick, Die Verwaltung, Bd. 39 (2006), S. 155 (172); ders., in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl., Heidelberg, 2007, § 116 Finanzwesen, Rdn. 18; Prokisch, Rainer, in: Rudolf Dolzer / Klaus Vogel / Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg, Art. 104a Rdn. 58 (Loseblatt: 2003); Heintzen (Fn. 23), vor Art. 104 a Rdn. 48; Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, München, 1980, S. 1053; v. Arnim, Hans Herber, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl., Heidelberg, 1999, § 103 Finanzzuständigkeit, Rdn. 3, 32; Wendt, Rudolf, ebda., § 104 Rdn. 62; J.-P. Schneider

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verfassungsgericht unlängst in einer nicht näher begründeten Bemerkung etwas anderes angedeutet hat.28 In den abschließenden Beratungen der Grundgesetzänderung ist aber dezidiert darauf hingewiesen worden, dass „die Finanzverfassung“ „durch die vorgeschlagene Ergänzung von Art. 28 Abs. 2 GG nicht verändert werden“ solle.29 Daraus folgt, dass die Weiterleitung von Mitteln aus der Spielbankabgabe an Kommunalkörperschaften den bundesstaatlichen Finanzausgleich nicht berührt. Die Mittel werden lediglich innerhalb einer der föderativen Ebenen umgeschichtet. Es handelt sich deshalb schon a-limine nicht um einen Vorgang des bundesstaatlichen Finanzausgleichs. Jedenfalls liegt aber keine Abweichung von den zwingenden und unabdingbaren Vorgaben des Grundgesetzes für die Steuerertragsverteilung vor. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass die Regelungen des Grundgesetzes, welche speziell die Kommunalkörperschaften und ihre Finanzen betreffen, nicht doch einschlägig sind. Sie können als „leges speciales“ oder Durchbrechungen dieser grundsätzlichen Ordnung etwas anderes bestimmen und bedürfen deshalb noch einer näheren Betrachtung.

III. Anspruch auf Zuweisung eines Anteils an dem Aufkommen der Spielbankabgabe Wenn also die Zuweisung von Mitteln aus dem Aufkommen der Abgabe an die Kommunen verfassungsrechtlich unbedenklich ist, ist damit aber noch nicht entschieden, ob auch ein Anspruch auf diese Zahlungen besteht und wenn ja, in welcher Höhe.

___________ (Fn. 23), vor Art. 104 a Rdn. 3, Art. 106 Rdn. 19; Häde (Fn. 21), S. 188; Korioth, Stefan, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Tübingen, 1997, S. 42, 425; eindeutig Mückl (Fn. 26), S. 144 ff., 194; Scholz, Rupert, in: Theodor Maunz und Günter Dürig, Grundgesetz, München, Art. 28 Rdn. 84b (Loseblatt: 1997): „…verbleibt es aber – systemgerecht – beim definitiv zweistufigen Aufbau der bundesstaatlichen Finanzordnung“; Schwarz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 111; unklar Hellermann, Johannes, in: Hermann v.Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz, München 2005, Art. 104 a Rdn. 23; anders vielleicht Weiß, Bernd, Die völkerrechtliche Pflicht zur aufgabenadäquaten Finanzausstattung der Kommunen, DÖV 2000, S. 905 (909), der Ansprüche der Gemeinden aus Art. 28 Abs. 2 GG in Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 2 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (EKC) herleitet. 28 BVerfGE 101, 158 (230): „modifiziert die bisherige Zweistufigkeit der Finanzverfassung“. 29 Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 12/6000, S. 47 f.; im Ergebnis wie hier: keine Modifikation, auch nicht nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Waldhoff (Fn. 27), S. 175.

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1. Anspruchsgrundlage Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG (1) Das Verhältnis von Art. 28 Abs. 2 GG zu Art. 78 Abs. 1 LVerf. NW ist nicht eindeutig geklärt. Im Grundsatz bestand ursprünglich Einigkeit, dass die Selbstverwaltungsgarantie der Landesverfassung unmittelbar an die im Grundgesetz ausgeformten Gewährleistungen anknüpft, aber zum Teil darüber hinausgeht.30 In seiner neueren Rechtsprechung fügte der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen sogar Art. 28 Abs. 2 GG in Klammern der Vorschrift der Landesverfassung hinzu.31 Im Ergebnis verkörpert Art. 28 Abs. 2 GG wohl eine Mindestgewährleistung,32 die auf Landesebene ebenso wie die Vorschriften der Landesverfassung zu beachten ist. Dogmatisch ist die grundgesetzliche Vorschrift aber trotz ihres Durchgriffscharakters nicht Teil der Landesverfassung. Die Garantien des Grundgesetzes und der Landesverfassung stehen selbstständig nebeneinander.33 Entsprechendes dürfte für das Verhältnis zu Art. 79 LVerf. NW gelten, der als Präzisierung oder „spezielle Ausformung“ der Finanzausstattungsgarantie des Art. 78 Abs. 1 LVerf. NW verstanden werden kann.34 Dabei kommt es im Ergebnis nicht darauf an, ob Art. 79 LVerf. NW hinter den neuen Gewährleistungen von Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG zurückbleibt oder nicht.35 Die grundgesetzlichen Vorgaben sind auch auf Landesebene strikt zu beachten. Die schrittweise Einfügung der Halbsätze 1 und 2 in Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG in den Jahren 1994 und 199736 könnte zu verfassungsrechtlich abgesicherten Ansprüchen der Gemeinden auf bestimmte Einnahmequellen und damit auch des Anteils an der Spielbankabgabe geführt haben. Dies gilt vor allem auch im Hinblick auf eine mögliche Abgeltung von Steuern durch die Spielbankabgabe, deren Erträge sonst den Gemeinden zustünden. Die Vorschrift wirft zahlreiche Interpretationsprobleme auf, da sie nach Wortlaut, Zweck und systematischer Stellung alles andere als eine gesetzgebe___________ 30

VerfGH NW, OVGE 9, 74 (75); Tettinger, Peter J., in: Wofgang Löwer und Peter J. Tettinger (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Stuttgart München Hannover Berlin Weimar Dresden, 2002, Art. 78 Rdn. 13. 31 VerfGH NW, NWVBl. 1991, S. 187 (188); 1993, S. 381 (382 f.); 1997, S. 333 (336); 1999, S. 136. 32 In diesem Sinne Volkmann, Uwe, Der Anspruch der Kommunen auf finanzielle Mindestausstattung, DÖV 2001, S. 497 (498). 33 Tettinger (Fn. 30), Art. 78 Rdn. 12. 34 Tettinger (Fn. 30), Art. 79 Rdn. 5, 14. 35 In diesem Sinne aber wohl Grawert, Rolf, Verfassung für das Land NordrheinWestfalen, Wiesbaden, 1998, Art. 79 Anm. 1; dagegen Tettinger (Fn. 30), Art. 79 Rdn. 14. 36 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 27.10.1994, BGBl. I, S. 3146; 44. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 20.10.1997, BGBl. I, S. 2470.

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rische Meisterleistung ist.37 Das zeigt nicht zuletzt auch ihre Genese. Zum Teil wird im Schrifttum sogar die Auffassung vertreten, dass ihre Einfügung überhaupt nicht zu einer Änderung der Position der Gemeinden im System der Finanzverfassung geführt habe.38 Diese Deutung bedarf indes keiner weiteren Vertiefung, da die Garantie der kommunalen Finanzhoheit auch schon vor der Neufassung von Art. 28 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt war.39 Da dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht völlig überflüssiges und damit sinnloses Tätigwerden unterstellt werden kann, muss die Neuregelung zumindest als verbindliche Klarstellung der Rechtslage verstanden werden.40 Im Ergebnis dürfte sie zwei Varianten von finanziellen Gewährleistungen aussprechen: –

eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle,



die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung im Allgemeinen.

Im Übrigen verbietet sich eine isolierte Interpretation von Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG. Die Vorschrift muss im Zusammenhang mit Abschnitt X des Grundgesetzes – und dort vornehmlich mit Art. 106 GG – gelesen werden.41 (2) Möglicherweise kann die mit der Erhebung der Spielbankabgabe verbundene Befreiung der Spielbankunternehmer von der Gewerbesteuerpflicht in § 3 Nr. 1 GewStG, unvereinbar mit Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG sein, vor allem, wenn aus dieser Vorschrift auch die Gewährleistung eines bestimmten Aufkommens abzuleiten sein sollte. Es ist aber schon sehr zweifelhaft, ob eine (institutionelle) Garantie der „Gewerbesteuer […] in Form der Gewerbeertragsteuer“ überhaupt der Vorschrift entnommen werden kann.42 Wortlaut und Entstehungsgeschichte43 lassen eine solche Deutung nicht zu.44 ___________ 37

Sehr krit. Löwer, in: Ingo von Münch und Philip Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Band 2, 4./5. Aufl., München, 2001, Art. 28 Rdn. 88. 38 Scholz (Fn. 27), Art. 28 Rdn. 84a; ihm folgend Nierhaus, Michael, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl., München, 2007, Art. 28 Rdn. 84ff; Löwer (Fn. 37), Art. 28 Rdn. 88: „ein Stück bloß semantischer Verfassungsreform“; zust. Waldhoff (Fn. 27), S. 175; ders. (Fn. 27), § 116 Rdn. 24. 39 BVerfGE 52, 95 (117); 71, 25 (36); implizit wohl auch 83, 363 (386). 40 Nierhaus (Fn. 38), Art. 28 Rdn. 86; Löwer (Fn. 37), Art. 28 Rdn. 88; Waldhoff (Fn. 27), S. 175; weiter aber wenig folgerichtig Scholz (Fn. 27), Art. 28 Rdn. 84b: „Diese Gewährleistung wird durch den neuen Art. 28 Abs. 2 S. 3 nicht nur deklaratorisch bestätigt, sondern materiell-rechtlich verstärkt.“ 41 Nierhaus (Fn. 38), Art. 28 Rdn. 86 im Sinne einer „Klarstellung“. 42 Pieroth (Fn. 8), Art. 28 Rdn. 14. 43 Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drs. 13/8488): „… (Änderung von Artikel 28) Die Ergänzung des S. 3 in Abs. 2 ist erforderlich, um kommunale [!] Finanzautonomie durch den Bestand der Gewerbeertragsteuer oder durch eine andere an

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Im Übrigen zeigt auch die gebotene Zusammenschau mit Abschnitt X des Grundgesetzes – und dort vornehmlich mit Art. 106 GG, dass eine solche Garantie nicht in Betracht kommt. Wenn der Gesetzgeber mit der Änderung von Art. 28 Abs. 2 GG die Gewerbesteuer in ihrer Existenz oder mit einem bestimmten Ertrag hätte garantieren wollen, wäre es ein Leichtes gewesen, in Anlehnung an die Formulierung der Ertragsverteilungsregelung in Art. 106 Abs. 6 GG dies unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Das ist aber nicht geschehen. Darüber hinaus ist sehr zweifelhaft, ob aus einer institutionellen Garantie der Gewerbesteuer klagbare (subjektive) Rechte zu Gunsten einer einzelnen Gemeinde bei einer Verletzung dieser Garantie abgeleitet werden könnten.45 Aber auch diese Frage bedarf keiner Vertiefung, da die Gewerbesteuer durch die Spielbankabgabe nicht abgeschafft oder in eine andere Ertragskompetenz überführt wird. Die „Vorenthaltung“ von Erträgen fällt aber in die Regelung der Ertragsverteilung gemäß Art. 106 Abs. 6 GG. Dort ist die Frage einer Garantie der Gewerbesteuer und ihres Aufkommens noch einmal zu stellen.46 Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG gewährt jedenfalls im Ergebnis keine Ertragsgarantie für eine wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.47 (3) Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht eine Garantie der kommunalen Finanzhoheit schon aus Art. 28 Abs. 2 GG a.F. abgeleitet, doch ließ es ausdrücklich offen, ob zu dieser Gewährleistung auch ein Anspruch der Gemeinden auf eine „angemessene Finanzausstattung“ oder jedenfalls eine „finanzielle Mindestausstattung“ gehört.48 Im Schrifttum49 und in der Rechtsprechung der ___________ der Wirtschaftskraft der am Wirtschaftsleben der jeweiligen Gemeinde Beteiligten anknüpfende Steuer zu gewährleisten.“ [Hervorhebung nicht im Original]. 44 Siekmann (Fn. 8), Art. 105 Rdn. 53, Art. 106 Rdn. 41f.; Scholz (Fn. 27), Art. 28 Rdn. 84d; Löwer (Fn. 37), Art. 28 Rdn. 88. 45 „Keine individuelle Anspruchsgrundlage“ Rennert, Klaus, in: Dieter C. Umbach / Thomas Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, Heidelberg, 2002, Art. 28 Rdn. 169; zust. Waldhoff (Fn. 27),S. 176; ders. (Fn. 27), § 116 Rdn. 24. 46 S. unten S. 333. 47 Tettinger, Peter J., in: Hermann v.Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Aufl., München 2005, Art. 28 Rdn. 250 unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien. 48 BVerfGE 26, 172 (181); 71, 25 (36 f.); 83, 363 (386); 2. Kammer des 2. Senats v. 7.1.1999, NVwZ 1999, S. 520 (521). 49 Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., München, 1984, S. 422; Scholz (Fn. 27), Art. 28 Rdn. 84b: „aufgabenadäquate Finanzausstattung“ vor der Änderung, danach Erweiterung zur „angemessenen Finanzausstattung“; Wendt, Rudolf, Abschaffung und Ersetzung der Gewerbesteuer aus verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Sicht, BB 1987, S. 1677 (1679); Meis, Christiane, Verfassungsrechtliche Beziehungen zwischen Bund und Gemeinden, Baden-Baden, 1989, S. 68 f.: „Finanzausstattungsanspruch“; Mohl, Helmut, Die Einführung und Erhebung neuer Steuern augrund des kommunalen Steuererfindungsrechts, Köln, 1992,

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Landesverfassungsgerichte50 sowie des Bundesverwaltungsgerichts51 wurde eine Garantie der angemessenen Finanzausstattung auch schon vor der Ergänzung der Vorschrift nahezu einhellig anerkannt. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass das gewährleistete eigenverantwortliche Handeln ohne entsprechende finanzielle Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltungskörperschaften kaum möglich sei.52 (4) Eine Konkretisierung der Angemessenheit fällt indes schwer. Nicht selten wird – auch nach der Neufassung – nur eine „finanzielle Mindestausstattung“ oder „gewisse finanzielle Mindestausstattung“ als garantiert angesehen. Diese „Schutzwirkung“ soll aber erst bei einer „gänzlich inadäquaten Einengung“ oder „Aushöhlung der kommunalen Finanzausstattung“ „zum Tragen“ kommen.53 Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen sieht die „Finanzausstattungsgarantie“ dann als verletzt an, wenn „das Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt und einer sinnvollen Betätigung der Selbstverwaltung die finanzielle Grundlage entzogen wird“.54 Dabei ist ungeklärt, ob sich eine Finanzsausstattungsgarantie auch zu einem Anspruch einer individuellen Gemeinde verdichten kann.55 Stimmen im Schrifttum gehen zum Teil deutlich über diese Minimalposition hinaus.56 Eine Verletzung der Garantie soll sogar schon bei einer Unterschreitung der freien Spitze von fünf bis zehn Prozent der insgesamt verfügbaren Mittel anzunehmen sein.57 Die Festlegung numerisch exakt bestimmter oder bestimmbarer freier Mittel als Kriterium für die Verletzung der von Art. 28 Abs. 2 ___________ S. 48 f.; Mückl (Fn. 26), S. 66 f.; Rennert (Fn. 45), Art. 28 Rdn. 173; Waldhoff (Fn. 27), S. 175; ders. (Fn. 27), § 116 Rdn. 21, aber keinen „ausdrücklichen Anspruch“; wohl nicht Nierhaus/Radermacher (Fn. 22), S. 386: „Zukunftsmusik“. 50 VerfGH NW, OVGE 38, 301 (303); 40, 300 (302); NWVBl. 1993, S. 381 (382): „angemessene Finanzausstattung“; VerfGH Rh-Pf, DÖV 1978, S. 763 (764). 51 BVerwGE 106, 280 (286f.). 52 VerfGH NW, NWVBl. 1993, S. 381 (382); Scholz (Fn. 27), Art. 28 Rdn. 84b. 53 Tettinger (Fn. 47), Art. 28 Rdn. 246, als amtierendes Mitglied des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen unter Berufung auf BVerfGE 83, 363 (386), wo das so aber nicht steht; Volkmann (Fn. 32), S. 500 f.: „finanzielle Mindestausstattung“; krit. Mückl (Fn. 26), S. 71. 54 VerfGH NW, NWVBl. 1993, S. 381 (382); NWVBl. 1998, S. 390 (391). 55 Dezidiert dagegen Rennert (Fn. 45), Art. 28 Rdn. 169; Waldhoff (Fn. 27), S. 176; dafür Mückl (Fn. 26), S. 87; vgl. ferner Volkmann (Fn. 32), S. 504. 56 Scholz (Fn. 27), Art. 28 Rdn. 84b; Hufen, Friedhelm, Aufgabenentzug und Aufgabenüberlastung, DÖV 1998, S. 276, S. 276; Weiß (Fn. 27), S. 909: „aufgabenadäquate Finanzausstattung“ garantiert, wenn auch nicht unmittelbar über Art. 9 der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (EKC); jeweils mit umfassenden Nachw. 57 Vgl. Schoch, Friedrich / Wieland, Joachim, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben, Stuttgart, 1995, S. 189; Hufen (Fn. 56), S. 280. Einzelheiten sind bei Dreier (Fn. 26), Art. 28 Rdn. 156, dargestellt.

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GG gebotenen Finanzausstattung mag einen effektiveren Schutz versprechen als unbestimmte Begriffe,58 doch dürfte sie im Hinblick auf die tatsächliche finanzielle Lage vieler Kommunen eher Wunschdenken als der gerichtsfesten verfassungsrechtlichen Wirklichkeit entsprechen. Konkrete, gerichtlich durchsetzbare Ansprüche können daraus jedenfalls kaum hergeleitet werden.59 Es besteht regelmäßig kein Anspruch auf eine bestimmte Ausgestaltung des kommunalen Einnahmesystems.60 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Kammerentscheidung ausdrücklich die Finanzhoheit als nicht „berührt“ bezeichnet, wenn „den Gemeinden einzelne Einnahmen entzogen oder verwehrt“ werden.61 Ansprüche gegen den Bund aus Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG sind in jedem Fall ausgeschlossen.62 (5) Aber selbst wenn man die Existenz einer derart präzisierten Finanzausstattungsgarantie mit Ansprüchen gegen das Land unterstellt, kommen als anspruchsbegründende Tatbestände allenfalls konkrete Maßnahmen (des Gesetzgebers) in Betracht. Bezogen auf die Spielbankabgabe hieße das, dass die verfassungsrechtlich gebotene finanzielle Mindestausstattung der Spielbankgemeinde durch die Reduktion ihres Anteils an der Spielbankabgabe unterschritten worden sein müsste. Die Zuweisungen der Anteile der Spielbankabgaben an die jeweiligen Spielbankgemeinden durch das Land erlauben aber kaum eine solche Annahme63. In diesem Zusammenhang müssen zudem die positiven Effekte, die mit dem Betrieb einer Spielbank verbunden sind, hinreichend berücksichtigt werden. ___________ 58

Dreier, (Fn. 26), Art. 28 Rdn. 156. Dezidiert gegen derartige Festlegungen VerfGH NW, NWVBl. 1993, S. 381 (382); 1998, S. 390 (392); Mohl, (Fn. 49), S. 51, 57 f.; Stern (Fn. 49), S. 422: „… dürfte es außerordentlich schwer fallen, konkrete oder gar bezifferbare Ansprüche durchzusetzen“. 60 Wendt (Fn. 49), S. 1679. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine verfassungsrechtliche Gewährleistung einer kommunalen Steuer- und Abgabenhoheit, Rennert (Fn. 45), Art. 28 Rdn. 171; anders Waldhoff (Fn. 27), S. 174, der sie als Teilelement der kommunalen Finanzhoheit ansieht, sich aber zu Unrecht auf Rennert beruft. 61 2. Kammer des 2. Senats v. 7.1.1999, NVwZ 1999, S. 520 (521); dazu Koenig, Christian / Siewer, Thilo, Zur Verfassungsmäßigkeit der unentgeltlichen Nutzungsberechtigungen von Telekommunikationsnetzbetreibern an kommunalen Verkehrswegen, NVwZ 2000, S. 609 (613). 62 Im Bericht des Rechtsausschusses wird das Ergebnis der Beratungen wie folgt zusammengefasst (BT-Drs. 12/6000, S. 48): „Die vorgeschlagene Ergänzung könne aber weder als eine Finanzausstattungsgarantie des Bundes zugunsten der Kommunen interpretiert werden, noch ließe sich aus ihr die Möglichkeit einer über die Bestimmungen des X. Abschnitts hinausreichenden finanziellen Inpflichtnahme des Bundes ableiten.“ Dementsprechend spricht sich auch Scholz strikt gegen Ansprüche gegen den Bund (mit Ausnahme aus Art. 106 Abs. 5a) aus ([Fn. 27], Art. 28 Rdn. 84b); ebenso Volkmann (Fn. 32), S. 498. Meis (Fn. 49), S. 88 f., erkennt aber eine „Sekundärverantwortung“ des Bundes an; ebenso Mückl (Fn. 26), S. 74. 63 Näher unten S. 341. 59

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Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 18. Mai 1970 die Vorteile einer Gemeinde, die ihr durch das Betreiben einer Spielbank auf ihrem Gebiet zukommen, hervorgehoben. Wörtlich führte es aus: „Ohne Zweifel ist […] der Betrieb einer Spielbank auf Gewinn gerichtet. Die in den Spielbanken zugelassenen Glücksspiele sind so angelegt, dass jedenfalls in aller Regel die Bank letztlich gewinnt. […] Dieser Umstand war eines der Motive des Gesetzgebers von 1933. Für ihn spielten aber auch wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle: die Steigerung des Devisenaufkommens durch Anlockung [!] von Ausländern, insbesondere aber die Förderung des Fremdenverkehrs ganz allgemein und die Förderung bestimmter Kur- und Badeorte im besondern, in denen auf mannigfache Weise eine Vielzahl von Gewerbetreibenden vom Spielbankbetrieb und von den Spielbankenbesuchern profitieren, die aber auch insofern einen beträchtlichen Nutzen aus dem Spielbankenbetrieb ziehen, als der Staat ihnen seit jeher einen Teil der Spielbankabgabe zur Erhaltung und zum Ausbau ihrer Kur- und Badeanlagen zur Verfügung gestellt hat“.64 Das Gericht hat damit den Vorteil der Spielbankgemeinden aus dem Betrieb einer Spielbank unmissverständlich auf zwei Säulen gestellt: die Beteiligung an der Spielbankabgabe und die zusätzlichen (Steuer-)Einnahmen aus den Geschäften anderer Betriebe mit den Besuchern der Spielbank. Eine einseitige Betrachtung allein der kommunalen Einnahmen aus der Spielbankabgabe verbietet sich daher. Die Existenz von Teilhaberechten an den finanziellen Mitteln des Landes wegen der Insuffizienz der Finanzausstattung der Spielbankgemeinden im Allgemeinen dürfte daher ebenso wenig zu begründen sein wie die Existenz konkreter Zahlungsansprüche.65

2. Anspruchsgrundlage Art. 106 Abs. 2 GG Wegen der Zweistufigkeit des finanzverfassungsrechtlichen Aufbaus sind die Gemeinden prinzipiell gegenüber dem Bund mediatisiert. Wenn – ausnahmsweise – die kommunale Ebene in der Finanzverfassung des Grundgesetzes mit eigenen Rechten (oder auch Pflichten) angesprochen sein soll, kann das wegen des Regel-Ausnahme-Verhältnisses nur dann angenommen werden, wenn es dafür eindeutige Anhaltspunkte im Text des Grundgesetzes gibt. Der klare Wortlaut von Art. 106 Abs. 2 GG liefert keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Vorschrift den Kommunen Ansprüche einräumen will. ___________ 64

BVerfGE 28, 119 (147); vgl. auch Schmitz (Fn. 8), S. 494 ff. Das VG Oldenburg hatte diese Möglichkeit (in Frage stellen der Finanzausstattung) als „abwegig“ bezeichnet, Urteil vom 8. Juli 2005, Az. 2 A 1373/05, Volltext in der Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG veröffentlicht, teilweise unter Beck RS 2005, 28401. 65

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Funktion und Zweck der Vorschrift rechtfertigen ebenfalls nicht ein solches Ergebnis. Art. 106 Abs. 2 GG ist eine Vorschrift zur Regelung der Ertragskompetenz. Sie ist Teil des primären, vertikalen Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländergesamtheit und damit zwar prinzipiell geeignet, Ansprüche zu erzeugen, doch lediglich im Bund-Länder-Verhältnis. Ansprüche der Gemeinden sind nicht Regelungsgegenstand der Vorschrift. Die Begründung von Ansprüchen oder Anwartschaften der kommunalen Ebene sind nach Sinn und Zweck der Regelung dem Landesrecht überlassen. Auch die Entstehungsgeschichte der Norm vermag nicht weiterzuhelfen. Erst das Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 195566 hat die Abgabe von Spielbanken in die Bestimmung aufgenommen und nach längeren Diskussionen bewusst auf eine Regelung zur Weiterleitung oder Umverteilung von Erträgen verzichtet.67 Im Regierungsentwurf zum Finanzverfassungsgesetz von 1955 war die Spielbankabgabe noch nicht erwähnt.68 Der Bundestagsausschuss für Finanz- und Steuerfragen unterbreitete dann jedoch den Vorschlag, dass der Ertrag der Spielbankabgabe ausdrücklich den Ländern zugewiesen werden sollte, allerdings verbunden mit einer Beteiligung des Bundes. Die Beteiligung des Bundes, die – wie bereits dargelegt – eine verfassungsrechtliche Grundlage benötigte, wurde damit begründet, dass mit der Zahlung der Spielbankabgabe zugleich die an sich fälligen Umsatz- und Einkommenssteuern abgegolten sein sollten.69 Der Bundestag nahm den Ausschussvorschlag an.70 Im Vermittlungsausschuss wurde die Klausel über die Beteiligung des Bundes aber gestrichen. Im Bericht hieß es wörtlich: „Das Aufkommen an Abgaben von Spielbanken hat der Vermittlungsausschuss ausschließlich den Ländern zugewiesen […]“71. Eine Regelung über eine Beteiligung des Bundes am Aufkommen der Abgabe ist also erwogen, aber schließlich bewusst abgelehnt worden.72 Eine Beteiligung der Kommunen ist hingegen nicht einmal in Betracht gezogen worden. Dies war auch folgerichtig, da die Finanzverfassung des Grundgesetzes im Jahre 1955 noch viel konsequenter die Zweistufigkeit verwirklicht hatte. Sie enthielt keine (ausdrücklichen) Regelungen über die Finanzausstattung der Kommunen. Erst durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 24. Dezember 1956 ist den Gemeinden ein Anspruch auf das Aufkommen an den Re___________ 66

BGBl. I, S. 817. Vgl. BFHE 58, S. 556 (559); Czapski, H., Spielbankabgabe und Steuer, DGStZ 1967, S. 145 (146 ff.); Walter (Fn. 8), S. 228 f. 68 BT-Drs. II/480, Anlage 1. 69 BT-Drs. II/960, Anlage 1, S. 11. 70 57. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 19.11.1954. 71 76. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 24.3.1955. 72 Vgl. Schmitz (Fn. 8), S. 488 f.; Walter (Fn. 8), S. 229. 67

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alsteuern sowie auf Teilhabe an den Gemeinschaftssteuern nach Maßgabe der Landesgesetzgebung eingeräumt worden.73 Die in Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG in der Fassung des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Dezember 1955 getroffene Regelung war damit so konzipiert, dass den Ländern die Entscheidungsbefugnis zustehen sollte, „ob und inwieweit das Aufkommen der Landessteuern den Gemeinden zufließt“. Dabei ist zu beachten, dass es auch noch keine Realsteuergarantie zu Gunsten der Gemeinden gab. Art. 106 Abs. 2 Nr. 7 GG in der damaligen Fassung sah auch für diese Steuern lediglich eine Ertragskompetenz der Länder vor. Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte von Art. 106 Abs. 2 GG lassen daher nur die Deutung zu, dass Ansprüche der Gemeinden durch diese Vorschrift nicht begründet werden. Wegen der damaligen generellen finanzrechtlichen Abstinenz des Grundgesetzes in Bezug auf die Gemeinden kann daraus aber andererseits auch nicht gefolgert werden, dass anderweitig begründete Ansprüche der kommunalen Ebene ausgeschlossen sein sollten.74 Die Materie ist damals insoweit, aber auch nur insoweit, schlicht ungeregelt geblieben. Das hat aber auch zur Folge, dass damit (implizit) eine endgültige und abschließende Regelung über die Verteilung des Aufkommens vorliegt, wenn keine anderweitige verfassungsrechtliche Anordnung zu finden ist. Im Ausgangspunkt noch strenger ist das Urteil des VG Oldenburg vom 8. Juli 2005.75 Das Gericht sieht die Ableitung von verfassungsrechtlichen Ansprüchen der Gemeinden mit Bezug auf die „Landessteuern“ als unvereinbar mit der Übertragung der Entscheidung über die Beteiligung der Gemeinden an diesen Steuern auf „die Landesgesetzgebung“ in Art. 106 Abs. 7 Satz 2 GG an. Nicht ganz folgerichtig hat das Gericht aber gleichwohl recht eingehend erörtert, ob nicht Art. 106 Abs. 6 GG zu einem für die klagende Spielbankgemeinde günstigeren Ergebnis führen könnte.

3. Anspruchsgrundlage Art. 106 Abs. 6 GG (1) Im Schrifttum sind aus der Anordnung in Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG, dass das Aufkommen der Gewerbesteuer den Gemeinden zusteht, konkrete Teilhabeansprüche der Spielbankgemeinden in Bezug auf die Spielbankabgabe konstruiert worden.76 Die Spielbankabgabe habe Abgeltungswirkung für die ___________ 73

BGBl. I, S. 1077. Vgl. Koch, Thorsten, Verfassungsfragen der Beteiligung der Spielbankengemeinden an der Spielbankabgabe, NdsVBl. 2001, S. 305 (308). 75 Az. 2 A 1373/05, Volltext in der Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG veröffentlicht, teilweise unter Beck RS 2005, 28401. 76 Koch (Fn. 74), S. 307. 74

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Gewerbesteuer. Da der Ertrag der Gewerbesteuer aber den Gemeinden von Verfassung wegen zustehe, müssten ihre Einnahmeausfälle auf Grund der Abgeltungswirkung über eine entsprechende Beteiligung an der Spielbankabgabe ausgeglichen werden. Hinzu könne auch noch der entgangene Ertrag der Vergnügungsteuer treten, der ebenfalls ausgeglichen werden müsse. Die Abgeltungswirkung transformiere die gemeindliche Ertragshoheit in Bezug auf die Gewerbesteuer und die Vergnügungsteuer in einen Teilhabeanspruch am Aufkommen der Spielbankabgabe, aber beschränkt auf die Höhe der Steuereinbußen der Gemeinde.77 Das Finanzverfassungsrecht des Bundes kennt die Begriffe „Abgeltungswirkung“ oder „Abgeltungsteuer“ indes nicht.78 Gemeint ist damit, dass in Verbindung mit dem „exorbitant hohen Steuersatz“ von 80% auf die Bruttospielerträge – ohne die Möglichkeit, die betrieblich veranlassten Kosten abzuziehen – aus Praktikabilitätsgründen auf die Erhebung aller anderen Steuern verzichtet werden sollte.79 Dies ist durch umfassende Befreiungstatbestände in den verschiedenen Steuergesetzen – ohne Verfassungsrang – verwirklicht worden.80 Schon § 6 der Verordnung über öffentliche Spielbanken vom 27. Juli 193881, die auf Grund von § 3 des Gesetzes über die Zulassung öffentlicher Spielbanken82 erlassen worden war und als Landesrecht weiter galt, enthielt umfangreiche Steuerbefreiungen für die zugelassenen öffentlichen Spielbanken unter Einschluss der Gewerbesteuer.83 Nunmehr findet sich aus Gründen der Rechtssicherheit eine ausdrückliche Regelung im Gewerbesteuergesetz, § 3 Nr. 1.84 Die ___________ 77

Koch (Fn. 74), S. 309. Koch (Fn. 74), S. 307. 79 BFH, Beschluss v. 29.3.2001 - III B 80/00, NV 2002, S. 1294 (1296). 80 Vgl. Reiß, Wolfram, in: Klaus Tipke / Joachim Lang, Steuerrecht, 19. Aufl., Köln, 2008, § 15 Rdn. 47. 81 RGBl. I, S. 955. 82 v. 14.7.1933, RGBl. I, S. 480. 83 Vgl. Czapski (Fn. 67), S. 145f. 84 Durch Art. 11 Nr. 1 JStErgG 1996 (BGBl. I 1995, S. 1959) wurde die Befreiung der Spielbanken eingefügt. Danach lautet die Vorschrift: „§ 3 Befreiungen Von der Gewerbesteuer sind befreit 1. das Bundeseisenbahnvermögen, die Monopolverwaltungen des Bundes, die staatlichen Lotterieunternehmen, die zugelassenen öffentlichen Spielbanken mit ihren der Spielbankenabgabe unterliegenden Tätigkeiten und der Erdölbevorratungsverband nach § 2 Abs. 1 des Erdölbevorratungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1987 (BGBl. I S. 2509)“; 78

zur Entstehung vgl. BT-Drs. 13/3084 vom 22.11.1995, S. 25; Güroff, Georg, in: Peter Glanegger / Georg Güroff, Gewerbesteuergesetz, 6. Aufl., München, 2006, § 3 Rdn. 7; Sarrazin, Viktor, in: Edgar Lenski / Wilhelm Steinberg, Kommentar zum Gewerbesteuergesetz, 9. Aufl., Köln, § 3 Rdn. 14 (Loseblatt: 1995 ff.).

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Befreiung von der Umsatzsteuer in § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG85 führte aus europarechtlichen Gründen86 zu unerwünschten Ergebnissen und wurde deshalb aufgehoben.87 Da durch die Steuerbefreiungen in Verbindung mit der Erhebung der Spielbankabgabe wichtige eigene Einnahmen der Gemeinden, aber auch des Bundes und der Länder, die keine Spielbanken zulassen, entfallen, könnte die Besteuerung der Spielbanken für die Gemeinden zu erheblich höheren Einnahmen führen, wenn sie statt dessen nach den allgemeinen Regeln erfolgte.88 Damit ist in der Tat die Frage zu stellen, ob bei der Entscheidung über eine Beteiligung der Gemeinde am Aufkommen der Spielbankabgabe zu berücksichtigen ist, dass diese Abgabe (teilweise) auch an die Stelle von Steuern tritt, deren Aufkommen gemäß Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG den Gemeinden zusteht. (2) Auch wenn die Gesetzgebungszuständigkeiten und die Ertragsverteilung für Steuern im Abschnitt über das Finanzwesen im Grundgesetz vollständig und abschließend geregelt sind,89 folgt daraus nicht zwangsläufig, dass die Re___________ 85

„§ 4 Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen

Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei: […] 9. […] b) die Umsätze, die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallen, sowie die Umsätze der zugelassenen öffentlichen Spielbanken, die durch den Betrieb der Spielbank bedingt sind. Nicht befreit sind die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallenden Umsätze, die von der Rennwett- und Lotteriesteuer befreit sind oder von denen diese Steuer allgemein nicht erhoben wird“. 86 Mit Urteil vom 17. Februar 2005 hatte der EuGH entschieden, dass eine Umsatzsteuerbefreiung von Glückspielen mit Geldeinsatz in zugelassenen öffentlichen Spielbanken mit Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.5.1977 unzulässig ist, wenn gleichartige Umsätze außerhalb dieser Spielbanken umsatzsteuerpflichtig sind, EuGH C-453/02 und C-462/02 (EuZW 2005, S. 210); zur Vereinbarkeit der Befreiung von der GewSt mit dem Verfassungs- und Europarecht, vgl. BFH NV 2001, S. 1294 ff. 87 Gesetz vom 28. April 2006, BGBl. I, S. 1095. Die Vorschrift lautet nun: „§ 4 Steuerbefreiungen bei Lieferungen und sonstigen Leistungen

Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei: a) die Umsätze, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen, b) die Umsätze, die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallen. Nicht befreit sind die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallenden Umsätze, die von der Rennwettund Lotteriesteuer befreit sind oder von denen diese Steuer allgemein nicht erhoben wird; […]“. 88 Vgl. Schmitz (Fn. 8), S. 492; Vogt, ZKF 1984, S. 162 (164); von Koch ohne Beleg schlicht unterstellt ([Fn. 74], S. 307]. 89 Siekmann (Fn. 8), vor Art. 104a Rdn. 12 ff.

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gelung in Art. 106 Abs. 2 Nr. 6 GG die anderweitige Begründung von Ansprüchen der Gemeinden auf Anteile an den Erträgen der Spielbankabgabe ausschließt, namentlich wenn sie auf Art. 106 Abs. 6 GG gestützt ist.90 Im Schrifttum sind die Meinungen geteilt, ob mit der Zuweisung der Ertragshoheit über die Gewerbesteuer an die Gemeinden durch Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG auch eine verfassungsrechtliche Garantie des Fortbestandes der Gewerbesteuer verbunden ist. Vereinzelt wird die Existenz der Gewerbesteuer als garantiert angesehen. Sie müsse es geben und ihr Aufkommen stehe den Gemeinden zu.91 Ganz überwiegend wird jedoch – ebenso wie im Rahmen des Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG – eine solche (institutionelle) Garantie abgelehnt. Die Vorschrift enthalte lediglich eine Ertragszuweisung dahingehend, dass den Gemeinden das Aufkommen aus dieser Steuer zustehe, wenn und soweit sie existiere.92 Entsprechendes muss auch für die Vergnügungsteuer gelten. Für die zuletzt genannte Auffassung spricht, dass Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG in seinem Wortlaut keinen Anhaltspunkt dafür bietet, ihm Inhalte zu entnehmen, die über eine reine Ertragsverteilung hinausgehen. Darüber hinaus besteht das Problem, dass nicht ohne weiteres von der abstrakten Betrachtungsebene („die Gewerbesteuer“) auf einzelne ertragsberechtigte Subjekte übergegangen werden darf. Dies leitet über zu der Frage, ob aus einer institutionellen Garantie überhaupt subjektive Rechte abgeleitet werden können. Jedenfalls wird durch § 3 Nr. 1 GewStG und die Regelung der Beteiligung der Spielbankgemeinden am Aufkommen der Spielbankabgabe weder die Gewerbesteuer insgesamt noch für die jeweilige Gemeinde im Speziellen abgeschafft. Eine eventuelle institutionelle Garantie ist also nicht verletzt.

___________ 90

Dazu oben S. 333 f. Grawert, Rolf, Kommunale Finanzhoheit und Steuerhoheit, in: Festgabe zum 70. Geburtstag G.C. v. Unruh, Berlin, 1983, S. 587 (593); Stern (Fn. 27), S. 1152; Wendt (Fn. 49), S. 1678; Henneke, Hans-Günther, Öffentliches Finanzwesen - Finanzverfassung, 3. Aufl., Heidelberg, 2007, Rdn. 904 f. 92 Maunz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 88; Scholz (Fn. 27), Art. 28 Rdn. 84d; Pagenkopf, Hans, Der Finanzausgleich im Bundesstaat, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 1981, S. 191; Meis (Fn. 49), S. 94; Vogel, Klaus, in: Josef Isensee und Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Aufl., Heidelberg, 1999, § 87 Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, Rdn. 31; weniger deutlich Waldhoff (Fn. 27) in der Neuauflage, § 116 Rdn. 23, 26; Siekmann (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 41; Heun (Fn. 21), Art. 106 Rdn. 37; Pieroth (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 1, 16; Brockmeyer, Hans Bernhard, in: Bruno SchmidtBleibtreu / Franz Klein, GG, Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl., Köln München, 2008, Art. 106 Rdn. 17c, 18a; Löwer (Fn. 37), Art. 28 Rdn. 88 a.E.; Heintzen (Fn. 23), Art. 106, Rdn. 49; Schwarz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 127; Häde (Fn. 21), S. 190; Selmer, Peter / Hummel, Lars, Verfassungsrechtliche Pflicht der Gemeinden zur Erhebung von Gewerbesteuer? – Überlegungen auf der Grundlage des BVerfG-Beschlusses vom 25.1.2005, NVwZ 2006, S. 14 (19); offen gelassen in BVerfGE 26, 172 (184). 91

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Noch problematischer wäre die Bejahung einer Garantie eines bestimmten Aufkommens der Gewerbesteuer.93 Sie wäre aber erforderlich, wenn aus einer konkreten Spezialregelung im Gewerbesteuergesetz (Befreiung der Spielbanken von der Gewerbesteuerpflicht) ein Kompensationsanspruch, ein Anspruch auf Teilhabe an der Spielbankenabgabe, folgen sollte. Die Ertragshoheit kann nicht als umfassendes gemeindliches Abwehrrecht gegen aufkommenswirksame Maßnahmen des Gesetzgebers interpretiert werden, zumal Art. 28 Abs. 2 Satz 3, Halbs. 2 GG (nur) von einer „wirtschaftskraftbezogene[n] Steuerquelle“ spricht. „Da wohl jede Ausgestaltung des Gesetzgebers […] im Ergebnis Auswirkungen auf den konkreten Umfang des den Gemeinden zufließenden Aufkommens zeitigt, hieße es, die dadurch berührte gemeindliche Ertragshoheit als generelle Grenze zu begreifen, dem Gesetzgeber sein von Art. 106 Abs. 6 S. 2 GG doch eingeräumtes und damit gewolltes Gestaltungsrecht zu entziehen.“94 Das Aufkommen der Gewerbesteuer ist nur in dem Umfang den Gemeinden verfassungsrechtlich garantiert, das sich aus der einfachgesetzlichen Ausgestaltung dieser Steuer ergibt.95 (3) Auch wenn formal die Steuerbefreiung in das Gewerbesteuergesetz aufgenommen worden ist, könnte es sich aber um eine Regelung des Spielbankrechts handeln, wenn man mit der Grundaussage des Bundesverfassungsgerichts Ernst macht, dass es sich um ein einheitliches Rechtsgebiet handelt.96 Ob es auch die Abgabenpflicht und die damit verbundene Befreiung von verschiedenen Steuern für die Spielbankunternehmen darunter fasst, ist der Entscheidung nicht mit letzter Sicherheit zu entnehmen. Hier könnte aber ein Ansatzpunkt für Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gewerbesteuerrechtlichen Seite des Regelungskomplexes liegen. Auch insoweit könnte die Materie in die alleinige Zuständigkeit der Länder fallen. Wenn man dem nicht folgt, müssen die Voraussetzungen für die Ausübung der konkurrierenden Zuständigkeit durch den Bund erfüllt sein. Art. 105 Abs. 2 GG weist die (konkurrierende) Gesetzgebungskompetenz für die Gewerbesteuer dem Bund zu.97 Diese Kompetenz beschränkt sich inhaltlich nicht auf die Ausgestaltung von Modalität und Verfahren, zumal diese immer ___________ 93 Abgelehnt von BVerfGE 26, 172 (184); BFHE 168, 350 (360); Maunz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 88; Pagenkopf (Fn. 92), S. 191; Wendt (Fn. 49), S. 1678, obwohl er eine Bestandsgarantie bejaht; Vogel (Fn. 92), § 87 Rdn. 31; Siekmann (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 41; Heun (Fn. 21), Art. 106 Rdnr. 37; Pieroth (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 1, 16; Brockmeyer (Fn. 92), Art. 106 Rdn. 17c, 18a; Heintzen (Fn. 23), Art. 106, Rdn. 49; Schwarz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 127; Häde (Fn. 21), S. 190; Selmer/Hummel (Fn. 92), S. 19. 94 Selmer/Hummel (Fn. 92), S. 19. 95 Vgl. BFHE 168, 350 (360); Maunz (Fn. 21), Art. 106 Rdn. 88. 96 Dazu oben S. 322. 97 Jachmann, Monika, in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Band 3, 5. Aufl., München 2005, Art. 105 Rdn. 24 ff.

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auch ertragsrelevant sein können. Sie umfasst auch die Befugnis, eine Steuer abzuschaffen. Die in Art. 106 GG genannten Steuern müssen somit nicht erhoben werden98, und ihr Ertrag ist nicht verfassungsmäßig garantiert.99 Dies wird besonders deutlich bei der Vermögensteuer, die nicht (mehr) erhoben werden darf, weil ihre über Jahrzehnte (bewusst) aufrecht erhaltene verfassungswidrige Ausgestaltung nicht bereinigt worden war.100 Die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers ist nicht etwa ein Verstoß gegen Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 GG. Allerdings müssen auch für die Ausübung der Gesetzgebungskompetenz aus Art. 105 Abs. 2 GG die Voraussetzungen von Art. 72 Abs. 2 GG erfüllt sein. Das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 25. Januar 2005 noch einmal bekräftigt, in dem es den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Einfügung von § 16 Abs. 4 Satz 2 in das Gewerbesteuergesetz ablehnte.101 Mit dieser Gesetzesänderung wurde die Pflicht der Gemeinden begründet, die Gewerbesteuer mit einem Mindesthebesatz von 200 v. H. zu erheben. Bis dahin waren die Gemeinden berechtigt, die Steuer zu erheben, durften aber im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Hebesatzautonomie (Art. 28 Abs. 2 Satz 3, 106 Abs. 6 Satz 2 GG) den Hebesatz auf Null festsetzen.102 Das Gericht hat aber ausdrücklich die Frage als ungeklärt bezeichnet, ob sich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz auch auf die Anordnung einer Untergrenze des Hebesatzes und damit den Zwang zu Erhebung der Gewerbesteuer erstrecke.103 Denkt man diesen Ansatz konsequent zu Ende, könnte er auch bedeuten, dass Zweifel an der Kompetenz des Bundes bestünden, eine ___________ 98 Maunz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 19, 21, allerdings mit der Einschränkung, dass Gemeinschaftssteuern nicht abgeschafft werden dürften; Vogel/Waldhoff (Fn. 26), vor Art. 104a Rdn. 581; Heintzen (Fn. 23), Art. 105 Rdn. 46, Art. 106 Rdn. 10; Vogel (Fn. 92), § 87 Rdn. 31; Schwarz (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 20; Pieroth (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 1; Korioth (Fn. 27), S. 429; im Erg. ebenso Tipke, Klaus, Vom Konglomerat herkömmlicher Steuern zum System gerechter Steuern: Steuerreformen und Gleichheitssatz unter dem Aspekt der Art. 105, 106 GG, Betriebs-Berater 1994, S. 437; a.A. v. Arnim, Hans-Herbert, Der Landkreis, 1985, S. 520. 99 Wendt (Fn. 49), S. 1679, speziell für die Gewerbesteuer. 100 Näher Siekmann (Fn. 8), Art. 105 Rdn. 8-10. 101 BVerfGE 112, 216 (222) = DStRE 2005, S. 771 (772). 102 Das Bundesverfassungsgericht hält es für möglich, dass Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG „eine neben der Finanzhoheit bestehende „Hebesatzhoheit“ begründet, BVerfGE 112, 216 (222). In früheren Entscheidungen hatte das Bundesverfassungsgericht schon betont, dass es mit der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren wäre, wenn eine Gemeinde sich bei Ausübung ihrer Gesetzgebungsbefugnisse, also auch bei Festsetzung von Hebesätzen, an den Regelungen anderer Gemeinden anzupassen hätte, BVerfGE 21, 54 (68). Andererseits hat es die Vermeidung von „Steueroasen“ als legitimes Regelungsziel anerkannt, BVerfGE 23, 353 (371). Selmer/Hummel halten die Anordnung von Mindesthebesätzen in § 16 Abs. 4 Satz 2 GewStG im Ergebnis für verfassungsmäßig, ([Fn. 92], S. 21). 103 BVerfGE 112, 216 (222).

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Steuer, hier die Gewerbesteuer, punktuell – für die Spielbankgemeinden – durch eine andere Steuer, die Spielbankabgabe zu substituieren. Allerdings hat der Verfassunggeber diese Situation, anders als die Anordnung von Mindesthebesätzen, vorgefunden, so dass zumindest von einer impliziten Billigung dieser Vorgehensweise auszugehen sein dürfte. Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz nach Art. 105 Abs. 2 GG Gebrauch gemacht und durch § 3 Nr. 1 GewStG die Spielbanken von der Gewerbesteuer befreit.104 Zu berücksichtigen ist dabei aber, dass die Spielbanken von der Gewerbesteuer nur befreit worden sind, weil sie eine hohe Spielbankabgabe zahlen, die unter anderem auch die Gewerbesteuer abgelten soll. Es könnte daher erwogen werden, ob die Gewerbesteuer der Spielbanken nicht nur in einem anderen Gewande, nämliche der Spielbankabgabe erhoben wird. Dann käme es auf die Garantie von Bestand und Höhe im Allgemeinen und für eine einzelne Spielbankgemeinde im Besonderen nicht mehr entscheidend an.105 Es stellt sich dann die Frage, ob Gewerbe- und Vergnügungsteuer nicht weiterhin, wenn auch in anderer Form, erhoben werden. Der Abgeltungscharakter der Spielbankabgabe beruht freilich auf Praktikabilitätserwägungen,106 nicht aber darauf, dass Steuern im wirtschaftlichen Ergebnis ganz oder teilweise nicht erhoben werden sollen. (4) Geht man nun davon aus, dass die in Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG genannten Steuern erhoben werden können, steht das Aufkommen aus diesen Steuern ohne weiteres den Gemeinden zu. Das grundgesetzlich vorgegebene System der Steuerertragsverteilung könnte unterlaufen werden, wenn der einfache Bundesund Landesgesetzgeber an die Stelle der den kommunalen Gebietskörperschaften zustehenden Steuern eine Abgeltungssteuer treten lassen dürfte, deren Aufkommen insgesamt einem anderen Steuersubjekt zusteht.107 Konstruktiv könnte man der Spielbankabgabe wegen ihrer Substitutionsfunktion den Charakter einer reinen Landessteuer im Sinne des Art. 106 Abs. 7 Satz 2 GG absprechen, so dass es nicht mehr der Landesgesetzgebung überlassen bliebe, ob und inwieweit das Aufkommen dieser Steuer den (Spielbank-)Gemeinden zufließt.108 Die Landesgesetzgebung wäre danach verpflichtet eine Beteiligung vorzusehen, ___________ 104

Siehe S. 337 f. Sinngemäß so Koch (Fn. 74), S. 308. 106 Vgl. BFH, BStBl. 1995, II, S. 432 (437). 107 Vgl. Lauer (Fn. 15), S. 101; Hidien (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 1446, sieht die Gefahr der Aushöhlung bundesgesetzlich geregelter Gemeinschaftssteuern durch den Landesgesetzgeber bei der Regelung der Spielbankabgabe, verkennt dabei aber, dass die eigentliche „Abgeltungswirkung“ durch Steuerbefreiungen in der Bundesgesetzgebung erzeugt werden. 108 Vgl. Pieroth (Fn. 8), Art. 106 Rdn. 18. 105

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hätte aber Entscheidungsspielräume zur Bestimmung der Höhe der Beteiligung.109 Solange jedoch den Spielbankgemeinden ein „angemessener“ Anteil am Ertrag der Spielbankabgabe zugewiesen wird, kann nicht von einem „Unterlaufen“ der grundgesetzlichen Ertragsverteilung ausgegangen werden. Nur ein völliger Ausschluss vom Aufkommen der Spielbankabgabe wäre nach diesem Ansatz verfassungswidrig. § 4 Abs. 2 Satz 3 Spielbankgesetz NW sieht aber vor, dass den Spielbankgemeinden ein angemessener Anteil an der Spielbankabgabe durch die Verordnung des Innenministers zuzuweisen ist („bestimmt“). Auch wäre dieser Ansatz nicht mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu vereinbaren, der die Spielbankabgabe schon frühzeitig als „einheitliche Steuer“ qualifiziert und eine gesonderte Beurteilung ihrer unterschiedlichen Elemente ausdrücklich abgelehnt hat.110 Das VG Oldenburg weist ebenfalls alle dahinzielenden Deutungen von Art. 106 GG zurück. Durch die Änderung des Grundgesetzes sei nicht die inhaltliche Reichweite der Realsteuern in Art. 106 Abs. 2 Nr. 7 GG a. F. verändert, sondern lediglich um den Aspekt der Ertragszuweisung zugunsten der Gemeinden ergänzt worden. Eine modifizierende Abgrenzung von Art. 106 Abs. 2 Nr. 6 GG und von Art. 106 Abs. 2 Nr. 7 GG a. F. im Sinne eines neuartigen Vorranges der Ertragszuweisung der Realsteuern sei nicht vorgenommen worden. Die Realsteuergarantie sei bereits „vorbelastet“ und durch die besondere Ertragsberechtigung der Länder im Hinblick auf die Spielbankabgabe erfolgt. Den Ertragsverteilungsregelungen könne im Ergebnis keine Anspruch begründenden Elemente entnommen werden.111 Für diese Auffassung spricht zudem im Ergebnis, dass die Gewerbesteuer vollständig abgeschafft werden dürfte, wenn eine andere ertragsabhängige Steuer als Ersatz eingeführt würde. Allenfalls die Selektivität der Befreiung zu Lasten der Spielbankgemeinden ist unter diesem Aspekt noch ein Problem. Es ist systematisch jedoch nicht bei Art. 106 GG anzusiedeln. (5) In jedem Fall ist aber wieder zu berücksichtigen, dass die Zulassung einer Spielbank auf dem Gebiet der Spielbankgemeinde positive ökonomische und auch fiskalische Effekte für die Gemeinde haben kann, die weit über die entgangenen Einnahmen aus der Gewerbesteuer und der Vergnügungsteuer ___________ 109

A. A. Koch (Fn. 74), S. 309, für den die Ertragshoheit der Gemeinden sich in einen Teilhabeanspruch gegen das Land in der Höhe der Gemeindesteuereinbußen verwandelt. 110 BFHE 58, 556 (561). 111 Az. 2 A 1373/05, Volltext in der Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG veröffentlicht, teilweise unter Beck RS 2005, 28401.

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hinaus gehen können.112 Nur wenn im Einzelnen nachgewiesen werden kann, dass die entgangenen Einnahmen auf Grund der Steuerbefreiungen für die Spielbanken höher sind als die – noch verbliebene Beteiligung an der Spielbankabgabe – und die zusätzlichen Einnahmen der Spielbankgemeinde auf Grund der Zulassung und des Betriebs einer Spielbank, kommt ernsthaft ein Ausgleichsanspruch einer Spielbankgemeinde in Betracht. Exemplarisch seien hier die Zuweisungen des Landes Nordrhein-Westfalen an die Stadt Duisburg dargestellt: – 2002: 1,673 Mio. Euro – 2003: 3,300 Mio. Euro – 2004: 4,312 Mio. Euro – 2005: 4,626 Mio. Euro – 2006: 3,881 Mio. Euro – 2007: 6,720 Mio. Euro113 Diese Zahlen erlauben nicht ohne weitere hinzutretende Umstände – die hier nicht ersichtlich sind – die Angemessenheit der Beteiligung in Frage zu stellen. Betrachtet man die tatsächlichen Zuweisungen aus der Spielbankabgabe an die Spielbankgemeinden, dürfte es schwierig zu begründen sein, dass eine „angemessene“ Beteiligung nicht vorliegt. Lediglich wenn die Steuerausfälle der Stadt durch die verschiedenen Steuerbefreiungen für den Betrieb der Spielbank eindeutig höher sind als die positiven Effekten, kann ernsthaft die Angemessenheit in Frage gestellt werden.

4. Anspruchsgrundlage Art. 79 LVerf. NW Schon tatbestandlich ist es kaum möglich, Ansprüche aus dieser Vorschrift herzuleiten. Das Recht, eigene Steuerquellen zu erschließen, kann das Land nur im Rahmen der Finanzordnung des Grundgesetzes gewähren. Diese geht in jedem Fall vor. Selbst einfachgesetzliche Vorgaben des Bundes haben Vorrang vor Landesverfassungsrecht, so dass die gesetzlichen Steuerbefreiungen zugunsten der Spielbanken die Vorschrift nicht verletzen können. Im Übrigen ist der Verpflichtungsgrad der Norm (der Gesetzgeber hat „Rechnung zu tragen“) gering. Den landesverfassungsrechtlichen Ansprüchen der Gemeinden hat die ge___________ 112

Siehe S. 331 ff. Kapitel 20 020, Titel 633 14 der Haushaltspläne des Landes Nordrhein-Westfalen für die Haushaltsjahre 2003 bis 2007. 113

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setzliche Regelung der Spielbanken durch den Landesgesetzgeber auch bei einem reduzierten Anteil „Rechnung“ getragen.

5. Anspruchsgrundlage Art. 78 Abs. 1 LVerf. NW Die Finanzausstattungsgarantie des Art. 78 Abs. 1 LVerf. NW ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen dann verletzt, wenn das Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt und einer sinnvollen Bestätigung der Selbstverwaltung die finanzielle Grundlage entzogen ist.114 Folgt man diesem Ansatz, ist die von der Verfassung gewährleistete Finanzausstattung erst dann unzureichend und nicht mehr angemessen, wenn die Gemeinden ihre verfassungsrechtlich oder gesetzlich obliegenden Aufgaben nicht mehr erfüllen können.115 Der Verfassungsgerichtshof billigt dabei dem Gesetzgeber aber einen „weiten Gestaltungsspielraum“ zu. Die Höhe der gemeindlichen Finanzausstattung dürfe vor allem auch unter angemessener Berücksichtigung des finanziellen Bedarfs und der Haushaltssituation des Landes bestimmt werden. Art. 78, 79 LVerf. NW legten den Umfang der Mittel nicht fest, die den Gemeinden zur freien Disposition gestellt werden müssten: weder zahlenmäßig festgelegte Beträge noch bestimmte Quoten.116 Da die finanziellen Möglichkeiten des Landes aber seit Jahren sehr begrenzt sind und nur mit Mühe verfassungsmäßige Haushalte verabschiedet werden können, steht auch die gemeindliche Finanzausstattungsgarantie einer Kürzung nicht entgegen. Eine Verletzung dieses Anspruchs dürfte nur dann vorliegen, wenn der Gesamtumfang der Finanzausstattung durch die Reduktion des Anteils an der Spielbankabgabe derart verringert wurde, dass einer sinnvollen Betätigung der Gemeinde die finanzielle Grundlage entzogen worden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer – hypothetischen – Prüfung von Art. 28 Abs. 2 GG verlangt, dass dargelegt wird, welchen Gesamtumfang die Finanzausstattung der Gemeinde hat und inwieweit dieser durch die beanstandeten Vorschriften gemindert wird und welche Aufgaben nun nicht mehr (angemessen) erfüllt werden können.117 Der bloße Hinweis auf die kritische Haushaltslage und die ungesicherte Finanzierung von Bauprojekten dürfte dafür kaum ausreichen. Zudem wäre immer auch eine Vergleichsberechnung erforderlich, wie die städtischen Finanzen ohne Spielbank und ohne Anteil an der Spielbankabgabe dastünden. ___________ 114

Oben Fn. 54. Vgl. Dreier (Fn. 26), Art. 28 Rdn. 156; Pieroth (Fn. 8), Art. 28 Rdn. 14 ff. 116 VerfGH NW, NWVBl. 1998, S. 390 (392). 117 BVerfGE 71, 25 (37). 115

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Auch Aspekte des Vertrauensschutzes helfen im Hinblick auf die Finanzausstattung der Gemeinde nicht weiter, da selbst dem Bürger zugemutet wird, grundlegende Erschütterungen seiner Investitionskalkulationen durch tief greifende und unsystematische Änderungen der (betrieblichen) Besteuerung – auch noch in der laufenden Steuerperiode – hinzunehmen, selbst wenn dadurch schon getätigte Investitionen ökonomisch völlig entwertet werden. Die Garantie der Selbstverwaltung der Gemeinden enthält jedenfalls keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Beibehaltung einer einmal erreichten Struktur oder eines einmal erreichten Standards des Finanzausgleichs. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen steht es dem Gesetzgeber weitgehend frei, „veränderte Rahmenbedingungen, neue Erkenntnisse und gewandelte Präferenzvorstellungen bei der jährlichen Regelung des kommunalen Finanzausgleichs zu berücksichtigen“.118

6. Verletzung des interkommunalen Gleichbehandlungsgebots Durch die Reduzierung des Anteils der Spielbankgemeinden könnte schließlich noch das interkommunale Gleichbehandlungsgebot als spezielle Ausformung des rechtsstaatlich determinierten Gleichheitssatzes119 verletzt sein. Im Rahmen der Überlegungen, ob die Vorenthaltung eines angemessenen Anteils an der Spielbankabgabe verfassungswidrig ist, braucht auf die Diskussion über die Grundrechtsfähigkeit der Gemeinden120 und die Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG auf öffentlich-rechtlich organisierte Einheiten nicht weiter eingegangen zu werden.121 Art. 78 LVerf. NW kann eine Pflicht des Landes zur Gleichbehandlung der kommunalen Gebietskörperschaften in Finanzdingen entnommen werden,122 jedenfalls in Angelegenheiten des Finanzausgleichs.123 ___________ 118

VerfGH NW, NWVBl. 1993, S. 381 (382). Tettinger (Fn. 30), Art. 78 Rdn. 32. Das Bundesverfassungsgericht hat im Staatsorganisationsrecht zunehmend die Anwendung des – objektiv-rechtlich gedeuteten – Art. 3 Abs. 1 GG durch das Rechtsstaatsgebot als Rechtsgrundlage für staatsorganisationsrechtliche Gleichheitsgebote ersetzt, Osterloh, Lerke, Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz – Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2002, S. 309 , unter Berufung auf BVerfGE 86, 148 (250 f.). Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht aber regelmäßig auf die objektive Geltung des Gleichheitssatzes auch für „die Beziehungen innerhalb des hoheitlichen Staatsaufbaus“ abgestellt, BVerfGE 72, 330 (404); 76, 130 (139). 120 Das BVerfG lehnt die Grundrechtsfähigkeit der Gemeinden in st. Rspr. ab, vgl. BVerfGE 61, 82 (100 ff.). 121 Dafür Koch (Fn. 74), S. 310. 122 Tettinger (Fn. 30), Art. 78 Rdn. 32. 123 VerfGH NW, NWVBl. 1993, S. 381 (382); 1998, S. 390 (391f.); Tettinger (Fn. 30), Art. 78 Rdn. 12 ff. 119

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Das Land ist demnach verpflichtet, bestimmte Gemeinden oder Gemeindeverbände bei der Zuweisung von Finanzmitteln nicht sachwidrig zu begünstigen oder zu benachteiligen. Die gewählten Maßstäbe dürfen „nicht in Widerspruch zueinander stehen und dürfen nicht ohne einleuchtenden Grund verlassen werden“.124 Der Grundsatz ist erst dann verletzt, wenn „für die getroffene Regelung jeder sachliche Grund fehlt“.125 Die Vorteile, die eine Spielbankgemeinde aus der Existenz einer Spielbank genießt, dürften ein hinreichender sachlicher Grund sein, um die punktuellen Durchbrechungen der Steuerpflicht zugunsten der Spielbankbetreiber zu rechtfertigen.126 Ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht der Kommunen, (neue) Steuerquellen zu erschließen, das weiterhelfen könnte, wird nahezu einhellig abgelehnt.127 Selbst punktuelle Belastungen werden kaum im Ergebnis zu einer Verletzung der Selbstverwaltungsgarantie führen können.128 Immerhin ließe sich argumentieren, dass den Gemeinden die verschiedenen Steuerquellen allgemein nicht in gleicher Höhe zur Verfügung stehen können, da zwischen den tatsächlich durch die Ertragshoheit der Gemeinden erzielten Steuern und den zu finanzierenden Aufgaben der Gemeinden ein spezifischer Zusammenhang besteht.129 Die Einbeziehung spezifischer Belastungen durch die Errichtung von Spielbanken könnte bei einer per Saldo Betrachtung möglicherweise doch die Rechtsposition der einzelnen Gemeinde verbessern. Der Grundsatz der interkommunalen Gleichbehandlung aus Art. 78 LVerf. NW könnte als Anspruchsgrundlage dienen, vorausgesetzt es wird dargelegt, dass die Kommune Aufwendungen tragen muss, die bei der Festsetzung des Anteils nicht hinreichend berücksichtigt worden sind und zu einer Schlechterstellung unter Berücksichtigung aller Umstände führen.

7. Zwischenergebnis Die Prüfung der möglichen Anspruchsgrundlagen liefert bei nüchterner Betrachtung nur wenige Ansatzpunkte für die Konstruktion eines Anspruchs der ___________ 124 VerfGH NW, OVGE 40, S. 300 (302); VerfGH NW, NWVBl. 1993, S. 381 (382); 1998, S. 390 (392). 125 VerfGH NW, NWVBl. 1998, S. 390 (391). 126 So auch VG Oldenburg, Urteil vom 8. Juli 2005, Az. 2 A 1373/05, Volltext in der Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG veröffentlicht, teilweise unter Beck RS 2005, 28401. 127 Vgl. nur Siekmann (Fn. 8), Art. 105 Rdn. 45, 48; zust. Tettinger (Fn. 47), Art. 28 Rdn. 250; Waldhoff (Fn. 27), § 116 Rdn. 27; a.A. Mohl, (Fn.49), S. 64-71; Koch (Fn. 74), S. 310, ohne hinreichende Begründung. 128 Tettinger (Fn. 47), Art. 28 Rdn. 235. 129 Vgl. Koch (Fn. 74), S. 310.

Die Spielbankabgabe und die Beteiligung der Gemeinden

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Spielbankgemeinden. Lediglich wenn bei Berücksichtigung aller Umstände die finanziellen Nachteile für die Städte aus dem Betrieb der Spielbank die finanziellen Vorteile unter Einschluss des (reduzierten) Anteils an der Spielbankabgabe übertreffen, dürften Ansprüche bestehen.

IV. Ergebnis Die Reduzierung des Anteils der Spielbankgemeinden am Aufkommen der Spielbankabgabe in Nordrhein-Westfalen auf 12 v.H. ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Lediglich besondere Umstände der finanziellen Gesamtsituation der Spielbankgemeinde könnten zu einer anderen Beurteilung führen. Art. 106 Abs. 2 Nr. 6 GG weist das Aufkommen aus der Spielbankabgabe zwingend den Ländern zu. Über die weitere Verteilung wird keine Aussage getroffen, insbesondere lässt sich weder aus dem Grundgesetz noch aus der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen ein Anspruch auf eine bestimmte Zuweisung an die Spielbankgemeinden herleiten. Das kommunale Selbstverwaltungsprinzip aus Art. 28 Abs. 2 GG und Art. 78, 79 LVerf. NW umfasst zwar auch die finanzielle Eigenverantwortlichkeit und eine angemessene Finanzausstattung, jedoch vermittelt es keinen Anspruch auf eine bestimmte Ausgestaltung des kommunalen Einnahmensystems. Art. 106 Abs. 2 GG vermag ebenfalls keinen Anspruch der Spielbankgemeinden gegen das Land auf Zuweisung bestimmter Finanzmittel zu begründen. Selbst wenn man den Anteil der Gemeinden an der Spielbankabgabe als Substitut für die Gewerbesteuer ansehen wollte, von der die Spielbanken befreit sind, lässt sich kein Anspruch auf eine bestimmte Beteiligungshöhe an dieser Abgabe begründen. Art. 106 Abs. 6 GG weist zwar das Aufkommen der Gewerbesteuer den Kommunen zu, jedoch ergibt sich aus der Ertragszuweisung keine institutionelle Garantie der Steuer. Den Gemeinden steht die Steuer nur zu, wenn und soweit sie existiert. Allerdings ist es Sache des Bundes, diese Ertragsverteilung zu ändern, die Länder dürfen sie nicht durch Zuteilung einer zu geringen Spielbankabgabe unterlaufen. Solange jedoch den Spielbankgemeinden ein „angemessener“ Anteil am Ertrag der Abgabe zugewiesen wird, kann nicht von einem „Unterlaufen“ ausgegangen werden. Zieht man die positiven ökonomischen und fiskalischen Effekte in die Betrachtung ein, so kann selbst bei einem Anteil von 12 v. H. an der Spielbankabgabe nicht von einer unangemessenen Beteiligung gesprochen werden. Dies liegt erst vor, wenn die Steuerausfälle der Stadt aufgrund der Steuerbefreiungen deutlich höher sind als die positiven Effekte. Eine Verletzung des interkommunalen Gleichbehandlungsverbotes ist deshalb ebenfalls abzulehnen.

Zweiter Teil: Gesundheits- und Sozialrecht

Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch Apotheken – Zum Vertragsrecht nach § 129 SGB V Von Peter Axer, Trier Die Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln bildete im Jahre 2006 den zweitgrößten Ausgabenposten in der gesetzlichen Krankenversicherung nach der Krankenhausbehandlung und noch vor der ärztlichen Behandlung1. Trotz ständiger gesetzgeberischer Bemühungen, die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel zu begrenzen und zu senken, sind die Kosten für die Arzneimittelversorgung von 14, 6 Mrd. Euro im Jahre 1990 über 19 Mrd. Euro im Jahre 2000 auf 23, 7 Mrd. Euro im Jahre 2006 gestiegen2. Selbst wenn es in einzelnen Jahren gelang, die Kosten gegenüber dem Vorjahr zu stabilisieren oder sogar zu reduzieren, kam es danach regelmäßig wiederum zu einem Anstieg der Ausgaben. Die Gründe für den Ausgabenanstieg sind komplex und vielfältig3. Sie reichen von einem veränderten Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten, auch aufgrund der sich wandelnden Alters- und Morbiditätsstruktur der Bevölkerung, bis hin zur Entwicklung neuer Arzneimittel und damit zum Teil verbundener höherer Arzneimittelpreise. Der Gesetzgeber versucht seit Jahren die Kostenentwicklung bei der Arzneimittelversorgung gesetzlich Versicherter durch zahlreiche und unterschiedliche Instrumente zu steuern und in den Griff zu bekommen. Kostendämpfungsgesetze haben in der Arzneimittelversorgung eine lange Tradition und führten im Ergebnis zu immer umfangreicheren Regulierungen. Durch den Ausschluss unwirtschaftlicher Arzneimittel oder sog. Lifestyle-Präparate (§ 34 SGB V), durch Zuzahlungspflichten und Zuzahlungsfreistellungen für Versicherte (§ 31 ___________ 1

Statistische Angaben zu den Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen 2007, 2007, S. 77. 2 Zahlen nach Horst Bartels/Dorothee Brakmann, Kostendämpfung und -kontrolle in der Arzneimittelversorgung, in: GesR 2007, S. 245. 3 Siehe dazu etwa: Marion Wille/Erich Koch, Die Gesundheitsreform 2007, 2007, Rn. 167; Gerd Glaeske, Mehr Rezepte, teurere Arzneimittel, höhere Ausgaben, in: MedR 2006, S. 697 ff.; Gutachten 2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Koordination und Qualität im Gesundheitswesen, in: BT-Drucks. 15/5670, S. 287 ff.

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Abs. 3 SGB V), durch Bonus-Malus-Regelungen, die das Verordnungsverhalten der Ärzte lenken sollen (§ 84 SGB V), durch die Festsetzung von Festbeträgen (§§ 31 Abs. 2, 35 SGB V) oder durch die Pflicht zur Rabattgewährung für Apotheken und pharmazeutische Unternehmen (§§ 130, 130a SGB V) sollen die Ausgaben für Arzneimittel begrenzt und die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gewährleistet werden. Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26. 3. 20074 sieht mit dem Erstattungshöchstbetrag für neuartige und innovative Arzneimittel (§ 31 Abs. 2a SGB V), mit der Kosten-Nutzen-Bewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (§ 35b SGB V), dem Erfordernis, eine Zweitmeinung bei der Verordnung kostenintensiver oder risikoreicher Arzneimittel einzuholen (§ 73d SGB V), oder der stärkeren Berücksichtung vertraglich rabattierter Arzneimittel (§ 130a Abs. 8 SGB V) in der Versorgung mit Arzneimitteln, etwa im Rahmen der aut-idem Regelung gemäß §129 Abs. 1 S. 3 SGB V, weitere Instrumente vor, um die Ausgaben zu begrenzen und zugleich auch Effizienz und Qualität zu steigern. Über die Jahre hinweg ist im Arzneimittelbereich ein nur schwer zu durchschauendes Dickicht von Steuerungsinstrumenten entstanden. Dies allerdings ist für das Sozialrecht insgesamt durchaus nicht untypisch und ungewöhnlich. Konsistente und transparente Regelungen sind im Sozialrecht eher selten. Friedrich E. Schnapp schildert anschaulich die Schwierigkeiten eines „Normaljuristen“, sich durch den Dschungel unterschiedlicher Regelungen und Regelungsstufen hindurch zu kämpfen, denn schon die Menge des Stoffes sei geeignet, Furcht und Schrecken zu erregen5. Für die Arzneimittelversorgung bedarf es keiner prophetischen Gaben, um vorherzusagen, dass zukünftig auch und gerade zur Kostenbegrenzung weitere Steuerungsinstrumente entwickelt oder zumindest Bestehende verändert werden und damit die Menge des Stoffes wachsen wird. Der Gesetzgeber wird und muss weiterhin auf dem Feld der Arzneimittelversorgung aktiv bleiben. Das Dickicht wird immer undurchdringlicher werden.

___________ 4 BGBl. I, S. 378. – Zu den Neuregelungen durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz im Arzneimittelbereich: Peter Dieners/Maria Heil, Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - Stärkung oder Einschränkung des Wettbewerbs im Arzneimittelmarkt?, in: PharmR 2007, S. 89 ff., 142 ff.; zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vgl. etwa: Peter Axer, Finanzierung und Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, in: GesR 2007, S. 193 ff.; Helge Sodan, Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, in: NJW 2007, S. 1313 ff. 5 In: ders. (Hg.), Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil I, 1998, S. 11 f.

Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung

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I. Der Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Arzneimitteln Der Versicherte hat nach § 31 SGB V einen Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen6 Arzneimitteln7 im Rahmen des auch für die Arzneimittelversorgung geltenden allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebots, wonach Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen8. Der Anspruch erstreckt sich regelmäßig nur auf verschreibungspflichtige Arzneimittel9, während nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Leistungspflicht nur umfasst sind, wenn die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 S. 5 SGB V vorliegen, es sich also etwa um Kinder unter 12 Jahren handelt, oder der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien ihre Verordnungsfähigkeit anerkannt hat10. Der Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln ist zudem der Höhe nach beschränkt, wenn für das jeweilige Arzneimittel ein Festbetrag oder ein Erstattungshöchstbetrag festgesetzt ist11. Wählt der Versicherte insoweit ein teureres Arzneimittel, so trägt er die über den Festbetrag oder den Erstattungshöchstbetrag hinausgehenden Kosten selbst. Die Verordnung von Arzneimitteln gehört nach § 73 Abs. 2 S. 1 Nr. 7 SGB V zur vertragsärztlichen Versorgung, so dass der Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln im Krankheitsfall eine Verordnung auf „Kassenrezept“12 durch den Vertragsarzt voraussetzt. Der Vertragsarzt verordnet dem Versicherten als Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung das Arzneimit___________ 6 Zur Apothekenpflicht, d.h. der Pflicht, bestimmte Arzneimittel nur über Apotheken oder bei Vorliegen im Einzelnen geregelter Voraussetzungen auch über den Versandhandel abzugeben, vgl.: §§ 43 ff. AMG; näher zu Inhalt und Umfang der Apothekenpflicht: Hans-Dieter Lippert, in: Erwin Deutsch/Hans-Dieter Lippert (Hg.), Kommentar zum Arzneimittelgesetz (AMG), 2. Aufl. 2006, § 43 Rn. 2 ff. 7 Zum Arzneimittelbegriff statt Vieler: Peter Wigge/Marion Wille, Die Arzneimittelversorgung im Vertragsarztrecht, in: Friedrich E. Schnapp/Peter Wigge (Hg.), Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl. 2006, § 19 Rn. 2 ff.; zur Vorgreiflichkeit des Arzneimittelrechts siehe: Robert Francke, Die regulatorischen Strukturen der Arzneimittelversorgung nach dem SGB V, in: MedR 2006, S. 683, (684 ff.). 8 § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V. 9 Ausgeschlossen sind jedoch etwa verschreibungspflichtige Bagatellarzneimittel; vgl. § 34 Abs. 1 S. 6 SGB V. – Zur Verschreibungspflicht nach § 48 AMG i.V.m. der Arzneimittelverschreibungsverordnung: Lippert, in: Deutsch/Lippert (Fn. 6), § 48 Rn. 1 ff. 10 § 34 Abs. 1 S. 2 SGB V. – Zur Problematik der Aufnahme nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel in die sog. OTC-Ausnahmeliste: Wigge/Wille, in: Schnapp/Wigge (Fn. 7), § 19 Rn. 14 ff; Marion Wille, GKV-WSG: Umsetzungsstand in der Arzneimittelversorgung, in: PharmR 2007, S. 503, (504 f.). 11 § 31 Abs. 2 SGB V – Festbeträge; § 31 Abs. 2a SGB V – Höchstbeträge. 12 BSG, in: SozR 3-2500, § 129 SGB V Nr. 1, S. 7.

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tel, welches er bei der diagnostizierten Krankheit als medizinisch notwendig ansieht. Er entscheidet damit zugleich kraft der ihm durch das Vertragsarztrecht verliehenen Kompetenzen als Vertreter der Krankenkasse13, ob und welches Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen der gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben zu erbringen ist, und konkretisiert somit den Anspruch nach § 31 SGB V auf Versorgung mit Arzneimitteln im Einzelfall. Zutreffend bezeichnet das Bundessozialgericht den Vertragsarzt deshalb auch als „Schlüsselfigur“ in der Arzneimittelversorgung14. Der Anspruch des Versicherten nach § 31 SGB V richtet sich gegen seine Krankenkasse auf Versorgung mit Arzneimitteln in Form der Sachleistung15. Für die Arzneimittelversorgung gilt damit ebenfalls das die gesetzliche Krankenversicherung seit langem prägende Sachleistungsprinzip16, für das, trotz aller Kritik17, auch gute Gründe gerade im Hinblick auf den Schutz des Versicherten und der Sicherung einer wirtschaftlichen Versorgung sprechen18. Selbst Zuzahlungen des Versicherten sollen nach Ansicht des Bundessozialgerichts den Sachleistungscharakter des Anspruchs unberührt lassen und das Sachleistungsprinzip nicht durchbrechen, sondern es nur inhaltlich durch die Pflicht zur partiellen Eigenbeteiligung im Sinne eines wirtschaftlichen Verhaltens ergänzen19. Eine Kostenerstattung bei Arzneimitteln ist in der gesetzlichen Krankenversicherung dagegen nur möglich, wenn der Versicherte sich dafür ausdrücklich entschieden hat20. Die Erfüllung des Sachleistungsanspruchs des Versicherten gegenüber den Krankenkassen obliegt den Apotheken als Leistungserbringer21. Als Leistungserbringer zur Erfüllung des Sachleistungsanspruchs sind die Apotheken daher ___________ 13

BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 2 Rn. 20. SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 2 Rn. 20. 15 BSGE 94, 213 (215). 16 Zur Bedeutung des Sachleistungsprinzips und dessen Verhältnis zum Kostenerstattungsprinzip grundlegend: Friedrich E. Schnapp, Privatversicherungsrechtliche Elemente in der gesetzlichen Krankenversicherung – verfassungsrechtliche Bewertung, in: ZMGR 2005, S. 6 ff. 17 Kritik etwa bei: Matthias G. Fischer, Das Sachleistungsprinzip der GKV, in: Hermann-Josef Blanke (Hg.), Die Reform des Sozialstaats zwischen Freiheitlichkeit und Solidarität, 2007, S. 139 ff. 18 Vgl. BSGE 69, 170 (172 f.); 88, 20 (26 f.). 19 BSG, in: GesR 2007, S. 327 (330). 20 § 13 Abs. 2 SGB V. 21 Zur Entwicklung der Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Apotheken: Kirstin Landgraf-Brunner, Die Auseinandersetzungen zwischen Apothekern und den gesetzlichen Krankenkassen von Beginn der Gesetzlichen Krankenversicherung an, 1989, S. 4 ff.; Hans F. Zacher, Die Geschichte der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: FS Elisabeth Liefmann-Keil, 1973, S. 201 (210 ff.). 14

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auch folgerichtig Regelungsgegenstand des SGB V. Mit dem Begriff „Apotheken“ knüpft der Gesetzgeber in den §§ 129 ff. SGB V an die berufsrechtliche Begriffsbildung und an die berufsrechtlichen Voraussetzungen zum Betrieb einer Apotheke an, wie sie insbesondere im Apothekengesetz oder in den von den Apothekerkammern der Länder erlassenen Berufsordnungen normiert sind22. Die Erfüllung dieser Anforderungen ist somit eine Voraussetzung, um Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen. Neben den Apotheken23 werden in die Arzneimittelversorgung durch das SGB V auch die pharmazeutischen Unternehmen, vor allem im Hinblick auf Rabatte für Arzneimittel (§130a SGB V), sowie die pharmazeutischen Großhändler (§ 131 SGB V) einbezogen. Selbst wenn weder die pharmazeutischen Unternehmer noch die pharmazeutischen Großhändler in einer unmittelbaren rechtlichen oder tatsächlichen Beziehung zum Versicherten stehen, sind sie in die Versorgung des Versicherten mit Arzneimitteln durch die Krankenkassen eingebunden, so dass auch insoweit von Leistungserbringern gesprochen werden kann. Die Regelungen über die Abschläge bei den Arzneimittelpreisen bei der Versorgung gesetzlich Krankenversicherter oder zur Datenübermittlung sind aufgrund des Zusammenhangs von Leistungs- und Leistungserbringungsrecht durch das Sachleistungsprinzip sozialversicherungsrechtlicher Natur. Entsprechend zieht das Bundesverfassungsgericht als Gesetzgebungskompetenz für die Rabattverpflichtungen und die Art und Weise ihrer Abwicklung in der Handelskette vom Arzneimittelhersteller über den Großhändler und die Apotheke bis hin zum Verbraucher nicht nur Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG heran. Vielmehr stützt es die Regelungen auch auf die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, weil Preisrabatte als Mittel zur finanziellen Entlastung der Sozialversicherungssysteme der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit dienen24. Die speziellen krankenversicherungsrechtlichen Anforderungen des Leistungserbringungsrechts an Apotheken, pharmazeutische Unternehmen und Großhändler lassen sich auf die Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversi___________ 22

Vgl. Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 416 f.; zu den apothekenrechtlichen Voraussetzungen zum Betrieb einer Apotheke: Thomas Kieser, Apothekenrecht, 2006, S. 7 ff.; Michael Quaas/Rüdiger Zuck, Medizinrecht, 2005, § 42 Rn. 25 ff. 23 Zu den Krankenhausapotheken vgl. § 129a SGB V. 24 BVerfGE 114, 196 (221 f.); siehe auch: Maximilian Wallerath, Preisdirigismen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: SGb 2006, S. 505 (507 f.), der die Gesetzgebungskompetenz auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützt und eine Herleitung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG verneint. – Ablehnend gegenüber einer Zuordnung des Apothekenabschlags nach § 130 SGB V unter die Kompetenz Sozialversicherung dagegen: Friedrich E. Schnapp, Der Apothekenrabatt – eine Sonderabgabe sui generis?, in: VSSR 2003, S. 343 (345 ff.).

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cherung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG stützen, wenn und weil sie der Erfüllung des krankenversicherungsrechtlichen Leistungsanspruchs dienen25.

II. Die sozialversicherungsrechtlichen Anforderungen an die Arzneimittelabgabe Neben den berufsrechtlichen und den insbesondere im Arzneimittelgesetz geregelten arzneimittelrechtlichen Pflichten für die Arzneimittelabgabe stellt das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung insbesondere in § 129 Abs. 1 SGB V im Rahmen des allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebots weitere Anforderungen an die Abgabe von Arzneimitteln. Diese werden zudem durch den nach § 129 Abs. 2 SGB V zwischen dem Spitzenverband Bund und der für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisation der Apotheker auf Bundesebene geschlossenen Rahmenvertrag26 sowie durch ergänzende landesvertragliche Regelungen nach § 129 Abs. 5 SGB V zwischen den Krankenkassen oder ihren Verbänden einerseits sowie den maßgeblichen Organisationen der Apotheken auf Landesebene konkretisiert. Die krankenversicherungsrechtlichen Pflichten richten sich begrifflich an „Apotheken“, wobei damit diejenige Person gemeint ist, die die Apotheke nach dem Apothekengesetz betreibt27.

1. Die Einbindung der Apotheken in die Leistungserbringung Für die Abgabe von Arzneimitteln an Versicherte zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung fordert das SGB V keine Zulassung der Apotheke durch ___________ 25

Zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch für das Leistungserbringungsrecht: Peter Axer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2007, Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Rn. 43 f. - Zur Diskussion der Reichweite der Gesetzgebungskompetenz im Hinblick auf das Vertragsarztrecht: Hermann Butzer, § 95 SGB V und die Neuausrichtung des ärztlichen Berufsrechts, in: NZS 2005, S. 344 ff.; Ingwer Ebsen, Die ambulante ärztliche Versorgung als Sachleistung im Überschneidungsfeld von Sozialversicherung und ärztlichem Berufsrecht sowie von Bundes- und Länderkompetenz zur Gesetzgebung, in: FS Peter Krause, 2006, S. 97 ff.; Stephan Rixen, In guter Verfassung? – Das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz (VÄndG) auf dem Prüfstand der Gesetzgebungskompetenz des Grundgesetzes, in: VSSR 2007, S. 213 ff. 26 Siehe dazu den am 1. 4. 2007 in Kraft getretenen Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V in der Fassung vom 23. 3. 2007. 27 Zur Begrifflichkeit: Guido Kirchhoff, Die Beteiligung von Apotheken an integrierter Versorgung, in: SGb 2006, S. 710 (711 mit Fn. 10); siehe auch: Peter Lindemann, in: Georg Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar zum Recht des Sozialgesetzbuchs, Loseblatt, Stand: 2007, § 69 SGB V Rn. 6, wonach die Wortwahl des Gesetzes „zumindest unkorrekt“ ist.

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Verwaltungsakt vergleichbar der vertragsärztlichen Leistungserbringung. Während der Arzt, um vertragsärztliche Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen, einer umfangreichen Voraussetzungen unterliegenden Zulassung oder Ermächtigung bedarf28, fehlt eine entsprechende Regelung für Apotheken. Allerdings verlangt der Gesetzgeber nach § 129 Abs. 3 SGB V, dass die Apotheke entweder Mitglied eines Verbandes ist, der der vertragsschließenden Spitzenorganisation angehört und dessen Satzung vorsieht, dass von der Spitzenorganisation abgeschlossene Verträge Rechtswirkungen für die dem Verband angehörenden Apotheken haben oder sie dem Rahmenvertrag beitreten. Mitgliedschaft oder Beitritt sind nach der gesetzgeberischen Konzeption Voraussetzung für die Rechtswirkung des Rahmenvertrages. Doch folgt die Rechtsverbindlichkeit des Rahmenvertrags bereits aus der in der gesetzlichen Ermächtigung zum Normerlass liegenden Verbindlichkeitsanordnung, so dass Mitgliedschaft und Beitritt keine konstitutive Wirkung für die Geltung des Rahmenvertrages haben29. Allerdings kommt der Mitgliedschaft oder dem Beitritt konstitutive Wirkung insoweit zu, als dass sie Voraussetzung dafür sind, Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgeben zu können30. Ohne eine entsprechende Erklärung seitens der Apotheke, die auch beim Beitritt ausdrücklich erfolgen muss31, ist eine Abrechnung zu Lasten der Krankenkassen unzulässig. Insoweit ist nicht zu übersehen, dass der Gesetzgeber einen besonderen Verpflichtungsakt seitens der Apotheke als Voraussetzung für die Leistungserbringung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verlangt, der sich in seinen Voraussetzungen und von seiner Form her von der vertragsärztlichen Zulassung unterscheidet und hinter dieser zurückbleibt, jedoch eine Voraussetzung für die Leistungserbringung ist und damit zulassungsähnliche Wirkung besitzt.

___________ 28 Zur Zulassung und Ermächtigung nach den §§ 95 ff. SGB V: Matthias Schnath, Formen der Teilhabe, in: Schnapp/Wigge (Fn. 7) § 5b Rn. 1 ff.; zu den Änderungen durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz v. 22. 12. 2006 (BGBl. I, S. 3439): Ulrich Orlowski, Vertragsarztrechtsänderungsgesetz, in: VSSR 2007, S. 157 ff. 29 Siehe dazu unten III, 1. 30 Nach Ansicht des SG Frankfurt (GewArch 2006, S. 478 (480)) reicht eine Abrechnung analog des Rahmenvertrages nach § 129 SGB V nicht aus. 31 Einen ausdrücklichen Beitritt verlangt ebenfalls Rainer Hess, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Loseblatt, Stand: 2007, § 129 SGB V Rn. 10, während nach Stefan Knittel, in: Dieter Krauskopf (Hg.), Soziale Krankenversicherung, Loseblatt, Stand: 2007, § 129 SGB V Rn. 9, schon die Einlösung der ärztlichen Verordnung durch die Apotheke bei der Krankenkasse als konkludenter Beitritt genügen soll. Angesichts der Bedeutung des Beitritts sollte jedoch schon aus Gründen der Rechtsklarheit ein ausdrücklicher Beitritt erfolgen.

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2. Die Rechtsbeziehungen gegenüber den Krankenkassen Der gesetzlich Versicherte übermittelt das in der vom Arzt ausgestellten Verordnung verkörperte und konkretisierte Vertragsangebot der Krankenkasse der Apotheke als Bote. Dagegen handelt der Versicherte hinsichtlich der Auswahl der konkreten Apotheke, die grundsätzlich seiner freien Entscheidung obliegt, als Vertreter der Krankenkasse. Das in der Verordnung verkörperte Vertragsangebot der Krankenkasse steht unter dem Vorbehalt bzw. der Bedingung der Einhaltung der maßgeblichen Abgabebestimmungen durch die Apotheke32. Die Apotheke nimmt das Angebot an, indem sie dem Versicherten das Arzneimittel aushändigt. Mit Annahme kommt ein als öffentlich-rechtlicher Vertrag zu qualifizierender Kaufvertrag zwischen der Apotheke und der Krankenkasse zustande33. Der Versicherte selbst ist nicht Vertragspartner, sondern begünstigter Dritter des öffentlich-rechtlichen Kaufvertrags nach § 328 BGB analog34. Nach bundessozialgerichtlicher Rechtsprechung ist der Versicherte selbst dann nicht Vertragspartner, wenn er Zuzahlungen leistet35. „Anders mag es sein“ – so das Gericht – im Hinblick auf den Mehrbetrag der anfällt, wenn der Versicherte ein Arzneimittel wählt, dessen Preis über dem Festbetrag liegt36. Aus dem öffentlich-rechtlichen Kaufvertrag resultiert für die Apotheke ein Zahlungsanspruch gegenüber der Krankenkasse nach § 433 Abs. 2 BGB analog37 i.V.m. § 129 SGB V und den auf dieser Grundlage auf Bundes- und Landesebene geschlossenen Verträgen. Die Krankenkasse ist zur Zahlung des Preises bzw. des Festpreises oder Höchstbetrages für das verordnete Arzneimittel abzüglich der Rabatte nach §§ 130, 130a SGB V und etwaiger vom Versicherten zu leistender Zuzahlungen gemäß § 31 Abs. 3 SGB V verpflichtet38. Gegenüber dem Zahlungsanspruch der Apotheke hat die Krankenkasse ein Recht zur Aufrechnung (Retaxierung)39 bei Vorliegen der Voraussetzungen eines öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs40. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts ___________ 32

BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 1 Rn. 20. BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 2 Rn. 16. – Zur öffentlich-rechtlichen Qualifikation des Vertrages: BSGE 94, 213 (215). 34 BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 2 Rn. 20; a. A. Heinz-Uwe Dettling, Grundstrukturen des Rechtsverhältnisses zwischen Leistungserbringern und gesetzlich Versicherten, in: VSSR 2006, S. 1 (9 ff.). 35 BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 2 Rn. 20. 36 BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 2 Rn. 20. 37 Zur analogen Anwendbarkeit der Vorschriften des BGB nach § 69 S. 4 SGB V: BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 3 Rn. 10. 38 Vgl. BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 3 Rn. 13. 39 Zum Umfang des Rechts zur Rechnungs- und Taxberichtigung: BSG, in: SozR 42500, § 129 SGB V, Nr. 2 Rn. 30. 40 BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V Nr. 1 Rn. 15 ff.; BSG, in: SozR 4-2500, § 129 Nr. 2 SGB V Rn. 18 ff. 33

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besteht mangels gesetzlicher Ermächtigung und mangels eines Über-/Unterordnungsverhältnisses keine Kompetenz der Krankenkassen zum Erlass eines Verwaltungsakts seitens der Krankenkasse gegenüber dem freiberuflichen Apotheker41. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, jedoch könnte vor dem Hintergrund der sog. „Kehrseitentheorie“ eine Geltendmachung durch Verwaltungsakt dann möglich sein, wenn die Leistung, die seitens der Krankenkasse zurückgefordert wird, durch Verwaltungsakt festgesetzt worden ist42, was vom Bundessozialgericht im Hinblick auf sog. Taxbeanstandungen allerdings verneint wird43. Hat der Versicherte eine Leistung rechtswidrig erhalten, so kann sich die Apotheke gegenüber der Aufrechnung durch die Krankenkasse nicht darauf berufen, dass diese nicht entreichert sei, weil der Versicherte eine Leistung erhalten habe, denn die Regelungen des Leistungserbringungsrechts über die Erfüllung der formalen und inhaltlichen Voraussetzungen für die Leistungserbringung verlören ihre Steuerungsfunktion, wenn rechtswidrig bewirkte Leistungen im Ergebnis dennoch von den Krankenkassen vergütet werden müssten44.

3. Die Abgabepflichten, insbesondere: die aut-idem Regelung Die Apotheke handelt auf der Grundlage der ärztlichen Verordnung. Der verordnende Arzt trägt insoweit auch hinsichtlich der Auswahl der verordneten Arzneimittel und der Zulässigkeit der Substitution im konkreten Einzelfall45 die Verantwortung für die medizinisch richtige Therapie. Die Apotheken sind „weder medizinische Obergutachter noch eine medizinische Aufsichtsbehörde des Arztes“46. Es wäre, so das Bundessozialgericht zu Recht, „eine zeitlich-fachliche Überforderung des Apothekers und würde seiner Stellung im System der Kassenversorgung nicht entsprechen, wenn er jedes von ihm vorgegebene Rezept auf dessen medizinische Richtigkeit überprüfen sollte“, andererseits dürften bei der Versorgung der Versicherten mit Arzneimittel „nicht die Augen“ vor einer rechtsmissbräuchlichen Verschreibung verschlossen werden47. ___________ 41

SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 1 Rn. 10. Siehe zur Kehrseitentheorie mit weiteren Nachweisen: Fritz Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 436 f. 43 BSGE 94, 213 (214 f.). 44 BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 1 Rn. 22 f.; siehe auch BSGE 94, 213 (220). 45 Siehe dazu: Arend Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 338. 46 BSG, in: SozR 3-2500 SGB V, Nr. 1 S. 17. 47 BSG, in: SozR 3-2500 SGB V, Nr. 1 S. 17; siehe dazu auch: Becker (Fn. 45), S. 333 f. 42

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Nach § 129 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V sind die Apotheken zur Abgabe eines preisgünstigen Arzneimittels in den Fällen verpflichtet, in denen der Arzt ein Arzneimittel nur unter seiner Wirkstoffbezeichnung verordnet oder die Ersetzung des Arzneimittels durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel von ihm nicht ausgeschlossen wird (aut-idem). Soweit die Ersetzung vom Arzt nicht ausgeschlossen wird, trägt die Apotheke die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Ersetzung durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel. Die mit der grundrechtlich geschützten ärztlichen Therapiefreiheit grundsätzlich zu vereinbarende autidem Regelung48 ist nur anwendbar, wenn das jeweilige Arzneimittel mit dem verordneten in Wirkstärke und Packungsgröße identisch sowie für den gleichen Indikationsbereich zugelassen ist und es ferner die gleiche oder eine austauschbare Darreichungsform besitzt49. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat unter Berücksichtigung der therapeutischen Vergleichbarkeit zur Austauschbarkeit der Darreichungsformen Hinweise mittels Richtlinien zu geben50. Da die Hinweise in Form der Richtlinie erfolgen, partizipieren sie unabhängig von ihrer Bezeichnung als Hinweise, was begrifflich eine Unverbindlichkeit nahe legen könnte, an der Rechtsverbindlichkeit der Richtlinien. Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sind unabhängig von ihrer Qualifikation im Kanon der untergesetzlichen Rechtsquellen verbindliche Normen der Exekutive51. Soweit für ein wirkstoffgleiches Arzneimittel ein Rabattvertrag zwischen einer Krankenkasse und einem pharmazeutischen Unternehmen nach § 130a Abs. 8 SGB V existiert, ist die Ersetzung durch ein rabattiertes Arzneimittel vorzunehmen, wenn nicht vertraglich auf Landesebene etwas anderes vereinbart ist52. Mit der durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz eingeführten Vorschrift wird ein Vorrang für die Abgabe rabattierter Arzneimittel im Rahmen der aut-idem Regelung statuiert53, so dass angesichts der damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen für den pharmazeutischen Unternehmer ein weiterer Anreiz geschaffen bzw. der Druck erhöht wird, Rabattverträge nach § 130 Abs. 8a SGB V abzuschließen. Die Verpflichtung zur Abgabe eines preisgüns___________ 48

Siehe dazu mit weiteren Hinweisen auf den Streitstand: Becker (Fn. 45), S. 336 f. § 129 Abs. 1 S. 2 SGB V. Vgl. zur aut-idem Regelung: Timo Kieser, Kleines Kreuz mit großer Wirkung? Rechtliche Probleme des aut-idem bei Kassenrezepten, in: ApoR 2006, S. 45 ff. 50 § 129 Abs. 1a SGB V; siehe dazu: Wille (Fn. 10), S. 508. 51 Zu den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, ihrer Funktion und ihrer Bedeutung statt Vieler: Friedrich E. Schnapp, Untergesetzliche Rechtsquellen im Vertragsarztrecht am Beispiel der Richtlinien, in: FS 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 497 ff. 52 § 129 Abs. 1 S. 3 SGB V. – Soweit keine Vereinbarung nach § 130a Abs. 8 SGB V besteht, hat die Apotheke die Ersetzung durch ein preisgünstigeres Arzneimittel nach Maßgabe des Rahmenvertrages vorzunehmen (§ 129 Abs. 1 S. 4 SGB V). 53 Zum Inhalt und zu den Auswirkungen des Vorrangs: Wille (Fn. 10), S. 508 f. 49

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tigen wirkstoffgleichen Arzneimittels erstreckt sich nach Maßgabe des Rahmenvertrages auch auf importierte Arzneimittel54. Ferner hat die Abgabe von Arzneimitteln im Rahmen der aut-idem Regelung in wirtschaftlichen Einzelmengen zu erfolgen55. Zur Stärkung des Kostenbewusstseins beim Versicherten ist zudem der Apothekenabgabepreis auf der Arzneimittelpackung anzugeben56.

III. Der Rahmenvertrag und landesvertragliche Normenverträge Der Gesetzgeber überträgt die Konkretisierung der Regelungen zur Arzneimittelabgabe den Verbänden der Krankenkasse auf Bundes- und Landesebene durch Rahmenverträge einerseits und ergänzende Verträge andererseits (§ 129 Abs. 2, 5 SGB V). Daneben sind auch individuelle Verträge der Krankenkasse mit einzelnen Apotheken im Rahmen vertraglich vereinbarter Versorgungsformen möglich, etwa im Rahmen der integrierten Versorgung nach den §§ 140 ff. SGB V57. Allerdings sind jenseits vertraglich vereinbarter Versorgungsformen oder sonstiger ausdrücklich normierter Ermächtigung Einzelverträge, die Inhalte des Rahmenvertrages oder ergänzender Verträge auf Landesebene betreffen, zwischen einer Krankenkasse und einer Apotheke über die Arzneimittelabgabe zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unzulässig; die jeweiligen Spitzenorganisationen besitzen insoweit die ausschließliche Befugnis zum Abschluss von Rahmenverträgen und ergänzenden Verträgen auf Landesebene58.

1. Der Rahmenvertrag auf Bundesebene Im Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V ist zwischen dem Spitzenverband Bund und der für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen gebildeten maßgeblichen Spitzenorganisation der Apotheker das Nähere zur Arzneimittelabgabe zu regeln. Obwohl das Gesetz auf Seiten der Apotheken als Vertragspartner nur von „Spitzenorganisation“ spricht, d. h. den Singular verwendet, während es etwa in § 131a Abs. 1 SGB V bei den pharmazeutischen Unternehmen als Vertragspartner die „Spitzenorganisationen“ vorsieht, müs___________ 54

Zu den Voraussetzungen im Einzelnen: § 129 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V; § 5 des Rahmenvertrages; siehe auch: Becker (Fn. 45), S. 340 ff. 55 § 129 Abs. 1 Nr. 3 SGB V; § 6 des Rahmenvertrages. – Zu den Folgen der Verletzung der Pflicht zur Abgabe wirtschaftlicher Einzelmengen: BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 1 Rn. 18 ff. 56 § 129 Abs. 1 Nr. 4 SGB V. 57 Siehe dazu: Kirchhof (Fn. 27), S. 710 ff. 58 Vgl. SG Frankfurt, in: GewArch 2006, S. 478 (481); siehe auch: LSG RheinlandPfalz, in: NZS 2006, S. 318 (319 f.).

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sen, wenn auf Bundesebene mehrere Spitzenorganisationen der Apotheken existieren, diese auch Vertragspartner sein können. Erforderlich für die Qualifikation als Spitzenorganisation ist allerdings, dass die jeweiligen Verbände bundesweit die wirtschaftlichen Interessen zahlreicher Apotheken vertreten und somit auch als eine „maßgebliche“ Vertretung angesehen werden können. Selbst wenn mehrere Organisationen als Vertragspartner des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Betracht kommen können, müssen die getroffenen Regelungen über die Abgabe von Arzneimitteln aufgrund der Funktion des Rahmenvertrages, die gesetzlichen Vorgaben der Leistungserbringung für alle Apotheken und Krankenkassen sowie den Inhalt des Leistungsanspruchs des Versicherten bundesweit zu konkretisieren, inhaltlich weitgehend gleich ausgestaltet sein. Abweichungen bei mehreren Verträgen dürfen nicht den einheitlich ausgestalteten Leistungsanspruch des Versicherten verändern sowie zu einer Vielzahl von Sonderregelungen führen und damit auch den Abschluss ergänzender landesvertraglicher Regelungen erschweren oder sogar verhindern. Die Regelungskompetenz der Rahmenvertragsparteien erstreckt sich nach § 129 Abs. 2 SGB V auf das „Nähere“59. In Bezug genommen wird damit aufgrund der Systematik des § 129 SGB V die Vorschrift des § 129 Abs. 1 SGB V, die Vorgaben für die Arzneimittelabgabe an Versicherte trifft. Angesichts des weiten Regelungsbereichs der Vorschrift haben die Vertragspartner einen weiten vertraglichen Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum60. Die Kompetenz umfasst im Rahmen der Vorgaben des § 129 Abs. 1 SGB V alle Regelungen, die die Arzneimittelabgabe an den Versicherten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung betreffen und nicht anderen Stellen, etwa dem Gemeinsamen Bundesausschuss, zugewiesen sind. Vor dem Hintergrund der Vorschrift in § 130 SGB V über den Apothekenrabatt sind ebenfalls einzelne Regelungen über die Abrechnung der Arzneimittel möglich61, wobei gerade für die Datenerfassung und -übermittlung die Vorschrift des § 300 SGB V zu beachten ist, die eine auf gleicher Ebene abzuschließende Arzneimittelabrechnungsvereinbarung ___________ 59

§ 129 Abs. 2 SGB V. Ein weites Verständnis wird befürwortet von: Andreas Kranig, in: Karl Hauck/ Wolfgang Noftz (Hg.), SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, Loseblatt, Stand: 2007, § 129 SGB V Rn. 15. – Zur Frage, ob und inwieweit eine Regelung zum Generikarabatt im Rahmenvertrag zulässig ist: Andrea Sandrock/Christian G. Stallberg, Der Generikarabatt nach § 130a Abs. 3b Satz 1 SGB V, in: PharmR 2007, S. 498 (501). 61 Das Bundessozialgericht (SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 3 Rn. 16 ff.) trennt dagegen im Hinblick auf Ausschlussfristen für die Einreichung von Rezepten zwischen Abgabebestimmungen und Abrechnungsbestimmung, doch scheint die Rechtswidrigkeit der Retaxierung weniger auf der Unzulässigkeit von Abrechnungsbestimmungen in einem Normenvertrag zur Arzneimittelversorgung im Grundsätzlichen zu beruhen, sondern eher auf einer fehlenden hinreichend bestimmten Regelung für eine materielle Ausschlussfrist. Zu der Entscheidung, die einige Fragen aufwirft: Martin Krasney, Urteilsanmerkung, in: SGb 2007, S. 182 ff. 60

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vorsieht62. Während in der vertragsärztlichen Versorgung der Bundesmantelvertrag sich von Gesetzes wegen auf den allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge bezieht und Bestandteil dieser ist 63, fehlt es an entsprechenden Regelungen für den Arzneimittelrahmenvertrag. Weder begrenzt das Gesetz die Regelungskompetenz auf den „allgemeinen Inhalt“, noch wird der Rahmenvertrag Bestandteil der Landesverträge nach § 129 Abs. 5 SGB V, deren Abschluss auch nicht zwingend vorgesehen ist und die gesetzlich auch nur als „ergänzende“ Verträge firmieren. Zulässig ist es daher, selbst wenn das Gesetz von einem „Rahmenvertrag“ spricht, dass auf Bundesebene in einem Rahmenvertrag auch Detailregelungen zur Arzneimittelversorgung getroffen werden. Aufgrund der Grundrechtsrelevanz der meisten rahmenvertraglichen Regelungen, gerade im Hinblick auf die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) der Apotheker64, bedarf es von Verfassungs wegen einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Der Parlamentsvorbehalt erfordert, dass gerade im Bereich der Grundrechtsausübung der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft65. Da es sich bei den im Rahmenvertrag getroffenen Regelungen um untergesetzliche Normen handelt, bietet es sich an, im Hinblick auf die Bestimmtheitsanforderungen der gesetzlichen Ermächtigung und inhaltlichen Vorgaben auf die für die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen geltenden Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG abzustellen66. Danach müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt sein. Soweit zudem auf die Wesentlichkeitstheorie abgestellt wird, sind die Anforderungen an die Detailliertheit der gesetzlichen Vorgaben umso höher, je intensiver ein Eingriff in ein Grundrecht erfolgt. Für rahmenvertragliche Sanktionen bei rechtswidriger Arzneimittelabgabe hat der Gesetzgeber beispielsweise mit § 129 Abs. 4 SGB V ausdrücklich eine spezielle Ermächtigung vorgesehen. Spezielle Ermächtigungen existieren zudem für die Datenübermittlung in § 129

___________ 62

Zur Arzneimittelabrechnungsvereinbarung und zur gesetzlichen Bezugnahme auf die Schiedsstelle nach § 129 Abs. 8 SGB V: Dirk Waschull, in: Krauskopf (Fn. 31), § 300 SGB V Rn. 11 ff. 63 § 82 Abs. 1 SGB V. 64 Zu den Grundrechten der Apotheker im Hinblick auf den Apothekenrabatt: Schnapp (Fn. 24), S. 351 ff.; Wallerath (Fn. 24), S. 506 ff.; siehe auch: BVerfGE 114, 196 (242 ff.). 65 Zum Parlamentsvorbehalt und zur Wesentlichkeitstheorie: Friedrich E. Schnapp, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 20 Rn. 56; ders., Geltung und Auswirkungen des Gesetzesvorbehalts im Vertragsarztrecht, in: MedR 1996, S. 418 (420 ff.). 66 Vgl. dazu allgemein im Hinblick auf die untergesetzliche Normsetzung im Sozialversicherungsrecht: Peter Axer, Normsetzung der Exekutive im Sozialversicherungsrecht, 2000, S. 332 ff.

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Abs. 6 S. 2 SGB V oder für die rahmenvertragliche Festsetzung des Apothekenrabatts ab dem Jahre 2009 nach § 130 Abs. S. 1, 1. Hs. SGB V67. Der Rahmenvertrag ist aufgrund seines Regelungsgegenstandes, das Nähere zur Arzneimittelversorgung der gesetzlich Versicherten auf der Grundlage des Sachleistungsprinzips zu regeln, als öffentlich-rechtlicher Vertrag zu qualifizieren68. Ihm kommt normative Wirkung zu69, denn er berechtigt und verpflichtet nicht vorrangig die vertragsschließenden Parteien, selbst wenn er etwa mit Kündigungsregelungen entsprechende Vorschriften enthält, sondern er begründet schwerpunktmäßig in abstrakt-genereller Weise gerade Rechte und Pflichten für Dritte, primär für die Krankenkassen und die Apotheken. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Leistungsanspruch als Rahmenrecht70, das durch das Leistungserbringungsrecht konkretisiert wird, kommt dem Rahmenvertrag auch Verbindlichkeit gegenüber dem Versicherten zu. Aus der im Sachleistungsprinzip gründenden Konexität von Leistungserbringungsrecht und Leistungsrecht folgt, dass das Leistungserbringungsrecht den Leistungsanspruch des Versicherten auch auf Versorgung mit Arzneimitteln im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften ausgestaltet. Aufgrund der normativen Bindungswirkung ist der Rahmenvertrag als öffentlich-rechtlicher Normenvertrag zu qualifizieren71, der trotz des gesetzlichen Erfordernisses der Mitgliedschaft der Apotheke in einem Mitgliedsverband der Spitzenorganisation oder des Beitritts zum Rahmenvertrag bereits aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung unmittelbar bindend ist. Aus der gesetzlichen Ermächtigung an die Vertragsparteien, das Nähere zur Arzneimittelabgabe zu regeln, resultiert der staatliche Geltungsbefehl, so dass es nicht einer Mitgliedschaft oder eines Beitritts bedarf, damit Bindungswirkung für den einzelnen Apotheker besteht. In der Vorschrift des § 129 Abs. 3 SGB V spiegeln sich letztlich noch zivilrechtliche Vorstellungen von der Wirkungsweise des Vertrages aufgrund einer Willenserklärung wider, deren es aber für die Verbindlichkeit des öffentlich-rechtlichen Normenvertrages nicht bedarf. Etwas anderes gilt dagegen im Hinblick auf die Befugnis, Arzneimittel zu Lasten der gesetzli___________ 67

Zu den geplanten sowie dann letztlich erfolgten Änderungen im Hinblick auf den Apothekenrabatt durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz: Dieners/Heil (Fn. 4), S. 142; Koch/Wille (Fn. 3), Rn. 198. 68 Vgl. Michael-Peter Henninger, Beziehungen zu Apotheken, in: Bertram Schulin (Hg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 44 Rn. 21 ff.; a.A. Ulrich Hencke, in: Horst Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Loseblatt, Stand: 2007, § 129 SGB V Rn. 9. 69 BSG, in: SozR 3-2500, § 129 SGB V, Nr. 1 S. 6. 70 Zu dieser mit weiteren Nachweisen kritisch am Beispiel der vertragsärztlichen Versorgung: Volker Neumann, Das Verhältnis des Leistungsrechts zum Vertragsarztrecht, in: Schnapp/Wigge (Fn. 7), § 13 Rn. 1 ff. 71 Zum Begriff: Axer (Fn. 66), S. 60 ff.

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chen Krankenversicherung abzugeben, denn diese setzt die Mitgliedschaft oder den Beitritt voraus, so dass beiden Wegen insoweit eine zulassungsähnliche Wirkung zukommt. Normenverträge besitzen gerade im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung eine lange Tradition. Vorreiter- und Vorbildfunktion kommt insoweit dem Vertragsarztrecht zu. Beginnend mit dem Berliner Abkommen vom 23. Dezember 191372 etablierten sich in der Folgezeit in immer stärkerem Maße normenvertragliche Strukturen in der vertragsärztlichen Versorgung, indem die Zusammenschlüsse der Ärzte, seit Ende der Weimarer Zeit die Kassenärztlichen Vereinigungen, mit den Verbänden der Krankenkassen für die Ärzte und Krankenkassen verbindliche Regelungen durch Verträge trafen. Das verbandliche Zusammenwirken von Ärzten und Krankenkassen nicht nur in Form von Normenverträgen, sondern auch durch Normsetzung mittels gemeinsam gebildeter Einrichtungen, etwa dem Gemeinsamen Bundesausschuss mit der Befugnis zum Erlass von Richtlinien, prägt das Vertragsarztrecht. Mit der Ermächtigung von Ärzten und Krankenkassen, die vertragsärztliche Leistungserbringung gemeinsam, d. h. im Wege gemeinsamer Selbstverwaltung73, zu regeln, bedient sich der Gesetzgeber des Sachverstandes der Betroffenen und verpflichtet sie, ihre oftmals gegensätzlichen Interessen auszugleichen, um so eine effektive und effiziente Leistungserbringung zur erreichen. Als „gemeinsame Selbstverwaltung“ lässt sich auch das Zusammenwirken von Krankenkassen und Apotheken bei der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung bezeichnen. Der Gesetzgeber bedient sich der Krankenkassen und ihrer Verbände einerseits sowie der Apotheken und ihrer Verbände anderseits zur Erfüllung der Verwaltungsaufgabe „Absicherung des Krankheitsrisikos“. Im Unterschied zum Vertragsarztrecht sind die Apotheken allerdings nicht in Form der Körperschaft des öffentlichen Rechts entsprechend den Kassenärztlichen Vereinigungen zusammengefasst, sondern in privatrechtlich organisierten Verbänden zusammengeschlossen. Soweit die Verbände der Apotheken jedoch Aufgaben aufgrund gesetzlicher Ermächtigung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung wahrnehmen, wie etwa durch den Abschluss von Rahmenverträgen, handeln sie als Beliehene hoheitlich74. Eine Be___________ 72 Zur Entwicklung des Vertragsarztrechts: Friedrich E. Schnapp, Geschichtliche Entwicklung des Vertragsarztrechts, in: Schnapp/Wigge (Fn. 7), § 1 Rn. 1 ff. 73 Zum Begriff der gemeinsamen Selbstverwaltung: Peter Axer, Gemeinsame Selbstverwaltung, in: FG 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 339 ff.; siehe auch: Andreas Musil, Gemeinsame Selbstverwaltung als Kooperationsform, in: Arndt Schmehl/Astrid Wallrabenstein (Hg.), Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, Bd. 2, 2006, S. 49 ff. 74 Zur Möglichkeit der Beleihung privatrechtlich organisierter Verbände im Sozialversicherungsrecht allgemein: Axer (Fn. 66), S. 32 ff.; Britta Beate Wiegand, Die Beleihung mit Normsetzungskompetenzen, 2008; siehe auch: BSGE 94, 50 (79).

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leihung mit Normsetzungskompetenzen privater Organisationen, die sich aus den an der Leistungserbringung Beteiligten zusammensetzen, ist im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung verfassungsrechtlich grundsätzlich möglich und zulässig; sie verstößt insbesondere nicht gegen das Demokratieprinzip75. Die Regelungen des Rahmenvertrages sind wie Rechtsnormen allein nach dem „objektiven Willen des Gesetzes“ auszulegen76. Als öffentlich-rechtlicher Normenvertrag unterliegt der Rahmenvertrag dabei nicht den Vorschriften der §§ 53 ff. SGB X über öffentlich-rechtliche Verträge, obwohl allgemeiner Ansicht nach gerade für vertragsärztliche, aber auch für sonstige Normenverträge die Anwendbarkeit der §§ 53 ff. SGB X bejaht wird77. Der Anwendungsbereich der Vorschriften über den öffentlich-rechtlichen Vertrag beschränkt sich jedoch auf Verfahren, welche die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit regeln, damit auf Verwaltungsverfahren. Als Verwaltungsverfahren gilt nach § 8 SGB X „die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf die Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsakts oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist“. Das Verwaltungsverfahren im Sinne des SGB X bezieht sich, wie sich aus der Gleichsetzung von Verwaltungsakt und öffentlich-rechtlichem Vertrag ergibt, auf Verfahren zum Erlass von Einzelfallregelungen, nicht dagegen auf den Erlass abstrakt-genereller Regelungen, d. h. auf die untergesetzliche Normsetzung. Hinzu kommt, dass, wenn die Vorschriften der §§ 53 ff. SGB X die Grundlage bildeten, einige nur, wenn überhaupt, modifiziert angewandt werden könnten, etwa das Zustimmungserfordernis nach § 57 Abs. 1 SGB X. Kommt kein Konsens über den Inhalt des Rahmenvertrages zustande, sieht das Gesetz eine Entscheidung durch die Schiedsstelle vor, ein für Normenverträge im Krankenversicherungsrecht typisches Instrument der Streitschlichtung78. Der Gestaltungsspielraum der Schiedsstelle reicht dabei soweit wie der der Vertragsparteien. Der Schiedsspruch, der den Inhalt des Vertrages festsetzt, ___________ 75 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Beleihung mit Normsetzungskompetenzen und deren Grenzen im Gesundheitswesen allgemein: Britta Beate Wiegand, Die Beleihung mit Normsetzungskompetenzen, 2008. 76 BSG, in: SozR 3-2500, § 129 SGB V, Nr. 1 S. 6. 77 Zum Streitstand allgemein mit weiteren Nachweisen: Peter Axer, Das Kollektivvertragsrecht in der vertragsärztlichen Versorgung, in: Schnapp/Wigge (Fn. 7), § 8 Rn. 11 f. - Eine Anwendung der §§ 53 ff. SGB X wird etwa befürwortet von: SG Frankfurt, in: GewArch 2006, S. 478 (479). 78 Siehe § 129 Abs. 7 ff. SGB V. Zu Bedeutung und Funktion von Schiedsämtern bei Normverträgen im Krankenversicherungsrecht: Friedrich E. Schnapp, Rechtsetzung durch Schiedsämter und gerichtliche Kontrolle von Schiedsamtsentscheidungen, in: ders., (Hg.), Probleme der Rechtsquellen in der Sozialversicherung, Teil II, 1999, S. 77 ff.; allgemein zu Schiedsämtern im Sozialrecht und zum Verfahren vor Schiedsämtern: Friedrich E. Schnapp (Hg.), Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, 2004.

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stellt einen Verwaltungsakt gegenüber den Vertragsparteien dar. Zugleich wird sein Inhalt Teil des Vertrages und nimmt an der normativen Wirkung des Vertrages teil. Die Schiedsstelle setzt sich von Gesetzes wegen aus Vertretern der Krankenkasse und der Apotheken in gleicher Zahl sowie aus einem unparteiischen Vorsitzenden und zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern zusammen79. Die Mitglieder führen ihr Amt als Ehrenamt und sind an Weisungen nicht gebunden80; die Aufsicht über die Geschäftsführung der Schiedsstelle obliegt dem Bundesministerium für Gesundheit, dem auch die Möglichkeit zusteht, durch Rechtsverordnung nähere Regelungen zur Ausgestaltung der Schiedsstelle zu treffen81. Die Schiedsstelle entspricht damit weitgehend dem Schiedsamt in der vertragsärztlichen Versorgung, auf das der Gesetzgeber im Hinblick auf den Fall, dass eine Einigung nicht zustande kommt, auch verweist82.

2. Ergänzende Verträge auf Landesebene Auf Landesebene können die Krankenkassen oder ihre Verbände mit der auf Landesebene für die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen maßgeblichen Organisation der Apotheken ergänzende Verträge schließen83. Der Abschluss von Arzneilieferungsverträgen steht im Ermessen der Vertragsparteien und unterliegt daher auch nicht einem Schiedsstellenverfahren. Können sich die Parteien nicht einigen, kommt kein Vertrag auf Landesebene zustande. Als „ergänzende“ Verträge auf Landesebene haben die Verträge den Vorrang des auf Bundesebene geschlossenen Rahmenvertrages zu beachten und dürfen keine entgegenstehenden Regelungen treffen. Der Rahmenvertrag zeitigt Sperrwirkung, es sei denn, der Gesetzgeber sieht für einzelne Regelungsgegenstände ausdrücklich die Zuständigkeit der Landesebene vor84. Landesvertragliche Regelungen können sich beispielsweise auf Vorlagefristen für Kassenrezepte durch die Versicherten85 oder auf die Abrechnung der Apotheken gegenüber den Krankenkassen beziehen86. Die ergänzenden Verträge auf Landesebene sind als öffentlich-rechtliche Normenverträge zu qualifizieren. Diese sind unmittelbar verbindlich, selbst ___________ 79

§ 129 Abs. 8 S. 1 SGB V. Im Einzelnen: § 129 Abs. 9 SGB V. 81 Im Einzelnen: § 129 Abs. 10 SGB V. 82 § 129 Abs. 8 S. 4 SGB V. 83 § 129 Abs. 5 SGB V. 84 Vgl. § 129 Abs. 5 S. 4 SGB V. 85 Siehe dazu: BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 2. 86 BSG, in: SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 3, mit Anm. von Krasney (Fn. 61). – Zu dieser Entscheidung siehe auch oben Fn. 61. 80

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wenn der Gesetzgeber entsprechend der Regelung zum Rahmenvertrag die Mitgliedschaft oder den Beitritt der Apotheke ausdrücklich vorschreibt. Mitgliedschaft und Beitritt sind allerdings Voraussetzung dafür, dass die Apotheke berechtigt ist, Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abzugeben. Die Rechtsverbindlichkeit der landesrechtlichen Normenverträge gründet dagegen bereits im staatlichen Geltungsbefehl durch die gesetzliche Ermächtigung. Auf diese Weise lässt sich auch die Geltung eines landesrechtlichen Vertrages für Krankenkassen mit Sitz in einem anderen Bundesland, die damit nicht Mitglied des Landesverbandes sind, der den Vertrag geschlossen hat, bzw. für Versicherte mit Wohnsitz außerhalb des Landes, in dem die für die Arzneimittelversorgung aufgesuchte Apotheke ihren Sitz hat, erklären87. Für Ländergrenzen überschreitende Arzneimittelabgaben besitzt der Vertrag schon aufgrund des staatlichen Geltungsbefehls durch die gesetzliche Ermächtigung zum Erlass eines öffentlich-rechtlichen Normenvertrages Verbindlichkeit.

IV. Gemeinsame Selbstverwaltung in der Arzneimittelversorgung Obwohl zwischen der Einbindung der Apotheken und der Einbeziehung der Vertragsärzte in die Leistungserbringung im Einzelnen Unterschiede bestehen, zeigen sich zahlreiche Parallelen. Zwar sieht das SGB V bei der Arzneimittelversorgung keinen öffentlich-rechtlichen Zwangszusammenschluss der Apotheken und keine Zulassung wie bei den Vertragsärzten vor, doch finden sich vergleichbare Instrumente. Indem den privatrechtlich organisierten Verbänden der Apotheken auf Landes- und Bundesebene die Kompetenz zum Abschluss öffentlich-rechtlicher Normenverträge zugewiesen wird, werden sie als Beliehene in die Staatsorganisation einbezogen. Die einzelne Apotheke ist zwar nicht von Gesetzes wegen Zwangsmitglied der jeweiligen Verbände, doch muss sie, um Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbringen zu können, Mitglied werden oder den Beitritt zu den Verträgen erklären. Der Mitgliedschaft und dem Beitritt kommen insoweit zulassungsähnliche Wirkungen zu. Die Leistungserbringung durch Apotheken ist in weiten Teilen vergleichbar dem Vertragsarztrecht durch den Gedanken der gemeinsamen Selbstverwaltung geprägt und bestimmt.

___________ 87 Zu dieser Problematik: BSG, in: SozR 3-2500, § 129 SGB V, Nr. 1 S. 5, 8 f.; BSG, SozR 4-2500, § 129 SGB V, Nr. 3 Rn. 15.

Der Generationenvertrag Zu Herkunft und Inhalt eines sozialstaatlichen Schlüsselbegriffs Von Hermann Butzer, Hannover

Über zwei Jahrzehnte ist es her, dass Bundesminister Norbert Blüm, an einer Litfasssäule stehend, versehen mit Leiter, Kleber, Plakat und Pinsel, verkündete: „Denn eins ist sicher: Die Rente.“ Der kesse Spruch von damals stößt den Deutschen heute bitter auf; vielen gilt er als grobe Irreführung. Nimmt man allerdings Blüms „Die Rente ist sicher“ wörtlich, ist die Aussage nicht falsch gewesen: Denn es ist sicher – damals wie heute –, dass weiter Renten ausgezahlt werden. Doch fassten die Bürger die Botschaft so auf, als ob auch ein fortlaufender, niveausichernder Anstieg der Renten sicher sei, wobei wohl unterstellt werden darf, dass die Bürger den langjährigen Minister für Arbeit und Sozialordnung genau im Sinne einer solchen Niveaugarantie – und damit, wie wir heute wissen: falsch – verstehen sollten.

I. „Generationenvertrag“ – ein Schlüsselbegriff des Sozialstaats Der Jubilar hat die Diskrepanz zwischen dem von Blüm ausdrücklich Gesagten und dem, was die Menschen in diese Botschaft hineininterpretiert haben, in seinen sozialrechtlichen Vorlesungen und Gesprächen immer gerne aufgegriffen. Blüms Botschaft diente ihm als Problemeinstieg, um an ihr das „Geheimnis“ des Umlageverfahrens1 und die mit diesem Verfahren bekanntlich eng verbundene Idee des Generationenvertrages zu erläutern. Friedrich E. Schnapp hat den Generationenvertrag dabei nie auf die Rentenversicherung verengt, sondern stets zu verdeutlichen versucht, dass er in gleicher Weise im Kranken- und Pflegeversicherungsrecht Bedeutung hat: Auch in diesen beiden Zweigen findet ___________ 1

Zum Verstehen des Umlageverfahrens empfiehlt der Jubilar zur Lektüre stets den Beitrag von Dieter Schewe, Die Umverteilung durch die soziale Rentenversicherung, FS für Walter Bogs, 1967, S. 147 ff. In einem an mich gerichteten E-Mail hat er diesen Lesehinweis vor Jahren mit der Bemerkung versehen: „Hätte sich mancher, der sich heute zu Rentenfragen äußert, diesen Beitrag vorher durchgelesen, hätte er sich vermutlich nicht so geäußert, wie er es getan hat“.

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eine gewichtige intergenerative Umverteilung statt, weil die durchschnittlichen Gesundheits- und Pflegeausgaben im Alter deutlich höher sind als während der Phase des Erwerbslebens, in der Beiträge gezahlt werden. Folglich finanzieren die jeweils Erwerbstätigen mit ihren Beiträgen zu einem erheblichen Teil die Sozialversicherungsleistungen der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Generation, und sie tun das nur, weil sie dadurch Ansprüche auf ähnliche Leistungen der nachfolgenden Generationen an sie selbst erwerben wollen. Der Ausdruck „Generationenvertrag“, der diese Erwartung auf ein Wort zu bringen sucht, ist zweifellos (neben vielen anderen2) ein Schlüssel-, Leit- bzw. Verbundbegriff 3 des Sozialstaats mit Bedeutung auch für das Sozialrecht. Solche Schlüsselbegriffe haben – wie aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive überzeugend dargelegt worden ist4 – die Funktion, „übergreifende Ordnungsideen für bestimmte Argumentationszusammenhänge fruchtbar zu machen, indem sie eine Fülle von Informationen und Gedanken in einem Wortspeicher bündeln, strukturieren und begreifbar machen“. Schlüsselbegriffe führen dabei zumeist verschiedene Perspektiven zusammen. Damit reduzieren sie Komplexität, werden möglicherweise aber auch zu einer „Inspirationsplattform, indem sie Assoziationskräfte freisetzen“5. Häufig kommen in ihnen jene übergeordneten Grundvorstellungen zum Ausdruck, die notwendig sind, um das bestehende Repertoire an Rechtsinstituten und Regelungsmodellen im Hinblick auf veränderte Realbedingungen neu zu durchdenken und fortzuentwickeln. Schließlich erfüllen Schlüsselbegriffe als „Rezeptions-“ oder „Anschlussbegriffe“ auch eine interdisziplinäre Funktion6: Sie erlauben das Gespräch mit Nach___________ 2

Andere Schlüsselbegriffe des Sozialstaats – auf verschiedener Abstraktionshöhe frei gegriffen – sind etwa Solidarität, Subsidiarität, Kooperation bzw. Verantwortungsteilung, ferner Individualisierungsprinzip, Finalität, Fördern und Fordern, aber auch z.B. gemeinsame Selbstverwaltung, unechte Unfallversicherung, Ökonomisierung, aktivierender Sozialstaat. 3 Nachfolgend soll von „Schlüsselbegriff“ gesprochen werden, weil hiermit am besten der Werkzeugcharakter solcher Begriffe für die juristische und interdisziplinäre Kommunikation zum Ausdruck kommt. 4 S. etwa Hans Christian Röhl, Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff, Die Verwaltung Beiheft 2 (1999), S. 33 (34); Andreas Voßkuhle, „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 92 (2001), S. 194 (196); ähnlich ders., Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/ Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 1 Rn. 40. Zur Verwendung solcher Begriffe als metaphorisches Mittel der Propagierung und Durchsetzung einer Reformidee s. Hubert Treiber, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – eine „Revolution auf dem Papier“? Anmerkungen zu einem intendierten Paradigmawechsel und zur „Kühnheit“ von Schlüsselbegriffen, Kritische Justiz 2007, 328 ff. (Teil 1), Kritische Justiz 2008, S. 48 ff. (Teil 2), bes. S. 55 ff. 5 Voßkuhle (N 4), VerwArch 92 (2001), S. 194 (196). 6 Röhl (N 4), Die Verwaltung Beiheft 2 (1999), S. 33 (34).

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barwissenschaften, indem sie zu gemeinsamen Problemen und Fragestellungen hinführen. Angesichts dieser Funktionenvielfalt muss es erstaunen, dass dem sozialstaatlichen Schlüsselbegriff „Generationenvertrag“ bislang eher wenig Aufmerksamkeit zugewendet worden ist7. Überwiegend finden sich Argumentationen und Inbezugnahmen, die eher pauschal mit ihm operieren8, gelegentlich auch kluge Wertungen, etwa der Art, der Generationenvertrag sei „ebenso genial wie trügerisch“9. Es besteht folglich Grund, dem Begriff einmal etwas genauer nachzugehen. Dazu sollen in einer historischen Rückblende zunächst Herkunft und zugrundeliegende Idee aufgezeigt werden (II.). Sodann soll geklärt werden, was Generationenvertrag meint, welchen konkreten Inhalt er besitzt und welche Bewertungspotentiale in ihm stecken (III.). Die kurze Schlussbemerkung (IV.) gilt dem Gebot begrifflicher Klarheit beim Umgang mit Schlüsselbegriffen, wie „Generationenvertrag“ einer ist.

II. Historische Rückblende: Herkunft und historische Idee Die historische Rückbetrachtung führt in die 1950er Jahre10. Als Ausgangspunkt des Themas mag man Konrad Adenauers Regierungserklärung vom ___________ 7 Wichtig aber: Friedrich E. Schnapp/Peter Kostorz, Demographische Entwicklung, soziale Sicherungssysteme und Zuwanderung, ZAR 2002, 163 (167 f.). 8 Etwa: Christoph Becker, Verantwortung und Verantwortungsbewusstsein: Über Solidarität zwischen den Generationen, 2001, S. 33 ff.; Walther Ecker, Anmerkungen zum „Generationenvertrag“, S. 45 ff.; Peter Häberle, Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen – Die „andere“ Form des Gesellschaftsvertrages: der Generationenvertrag, FS für Hans F. Zacher, 1998, S. 215 ff.; Kurt-Peter Merk, Die Dritte Generation. Generationenvertrag und Demokratie – Mythos und Begriff, 2002, S. 11 ff. 9 Hans F. Zacher, Alterssicherung – Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, DRV 1987, S. 714 (727, 728). 10 Das weiterhin grundlegende Werk zum Vorlauf der Rentenreform 1957 hat Hans Günter Hockerts (Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, 1980) vorgelegt. Neueren Datums und vergleichsweise enger angelegt sind: Bettina Martin-Weber, Einleitung, in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, hrsgg. für das Bundesarchiv von Friedrich P. Kahlenberg, Ministerausschuß für die Sozialreform 1955-1960, 1999, S. 16 ff.; Winfried Schmähl, Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene, in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 3, 2005, S. 357 ff. (Auszug daraus abgedr. in: DRV 2007, S. 69 ff.). Ergänzend zu diesen drei zentralen Beiträgen siehe etwa: Elmar Löckenhoff, Die Sozialpolitiklehre Wilfrid Schreibers zur Gesetzlichen Rentenversicherung und Vermögensbildung. Analyse, Rezeption und Würdigung seiner Konzeptionen mit Vervollständigung seines Schriftenverzeichnisses seit 1969, 1990, S. 24 ff.; Günter Hönig, Die Entstehungsgeschichte der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze für Arbeiter und Angestellte, Diss. rer. pol., Bonn 1961, S. 6 ff.

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20. Oktober 195311 nehmen, in der der Bundeskanzler als eine der wichtigsten Aufgaben der Bundesregierung in der zweiten Legislaturperiode eine „umfassende Sozialreform“ ankündigte. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens erwies sich Arbeitsminister Anton Storch – obwohl sich sein Ministerium bei Walter Bogs durch ein Gutachten Material für die Entwicklung einer eigenen Reformkonzeption verschafft hatte12 – gegenüber seinen Ministerkollegen Ludwig Erhard (Wirtschaft) und Fritz Schäffer (Finanzen) jedoch als zu wenig durchsetzungsfähig. So verstrichen nach dieser Regierungserklärung 14 Monate ergebnislos im „Stellungskrieg“ uneiniger Ministerien.

1. Wilfrid Schreiber und sein Schreiber-Plan Dann war Adenauers Geduld am Ende. Ohne die Ressortchefs Storch, Erhard und Schaeffer darüber in Kenntnis zu setzen, beauftragte er von sich aus Ende Februar 1955 eine unabhängige Kommission – bestehend aus Joseph Höffner (Münster), dem späteren Kardinal und Erzbischof von Köln, und den drei Frankfurter Professoren Hans Achinger, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer – strengvertraulich damit, Vorschläge für eine Neuordnung des Sozialsystems zu machen. Den vier Professoren – und nun kommt man dem Generationenvertrag näher – lag dabei ein Manuskript für eine Denkschrift vor, die der Bonner Privatdozent der Volkswirtschaft und Geschäftsführer des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU) Wilfrid Schreiber13 verfasst hatte. Die Ergebnisse dieser Ausarbeitung Schreibers mit dem Titel „Ein neues System der sozialen Sicherheit“ sind von dem „Vier-Männer-Gremium“ in den rentenversicherungsrechtlichen Teil ihrer am 26. Mai 1955 vorgelegten und einflussreich14 gewordenen „Rothenfelser Denkschrift“15 weithin übernommen worden. ___________ 11 BT-PlPr 2.WP/3. Sitzung vom 20.10.1953/S. 13 D. Zu den vielen Reformplänen und -ideen der 1950er Jahre: Viola Gräfin von Bethusy-Huc, Das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1976, S. 58 ff.; Karl-Heinz Orda, Im Vorfeld der Rentenreform, in: Reinhart Bartholomäi/Wolfgang Bodenbender/Hardo Henkel/Renate Hüttel (Hrsg.), Sozialpolitik nach 1945. Geschichte und Analysen, S. 95 ff.; Peter Quante, Entwicklung und Stand der deutschen Sozialgesetzgebung, in: Erik Boettcher (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialreform, 1957, S. 115 ff. 12 Zu diesem Gutachten s. Schmähl (N 10), S. 357 (394 ff.). 13 Zu dessen Biographie siehe Jörg Althammer, Wilfrid Schreiber (1904-1973), in: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 12, 2007, S. 77 ff., S. 234 f.; Philipp Herder-Dorneich, Wilfrid Schreiber (1904 bis 1975), in: Friedrich-Wilhelm Henning (Hrsg.), Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler, 1988, S. 167 ff. 14 Zur Rothenfelser Denkschrift und ihrer Rezeption siehe Hockerts (N 10), S. 279 ff. 15 Hans Achinger/Joseph Höffner/Hans Muthesius/Ludwig Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen. Denkschrift auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers, Köln 1955. Das Gutachten, das nach dem Ort der Klausurtagung benannt wurde, war in der

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Der Schreibersche Rentenreformvorschlag, der aus zahlreichen Aussprachen innerhalb des BKU über die angekündigte Sozial- und insbesondere über eine Rentenversicherungsreform entstanden war, kam aber noch auf einem ganz anderen und noch viel direkteren Weg in die politische Diskussion. Denn am 19. August 1955, also zweieinhalb Monate nach Fertigstellung der Rothenfelser Professoren-Denkschrift, übergab der BKU seinen Mitgliedern und der Öffentlichkeit die jetzt gedruckte, 46-seitige Broschüre Wilfrid Schreibers16. Neben anderen ging die Denkschrift auch an Kaplan Paul Adenauer heraus – und der nutzte den gemeinsamen Urlaub mit seinem Vater, dem Bundeskanzler, im schweizerischen Kurort Mürren, um seinem Vater Schreibers Vorschläge zur Rentenreform nahezubringen. Der Kanzler war jedenfalls sehr angetan und lud Schreiber zum Vortrag vor dem Sozialkabinett, einem Ministerausschuss für die Sozialreform. Am 13. Dezember 1955 kam es, erstmals unter dem persönlichen Vorsitz des Kanzlers, zu diesem Vortrag17. Schreibers Plan, der – so das Lob Adenauers – „komplizierte Probleme mit einfachen Grundgedanken“ löste, wurde so mit einem Schlage weitbekannt18.

a) Umlageverfahren anstelle des Kapitaldeckungsverfahrens Die Grundidee von Schreiber19 bestand in der Ablösung des in der Rentenversicherung zuvor praktizierten Kapital- bzw. Anwartschaftsdeckungsverfahrens20 durch ein Umlageverfahren. Bei diesem hat jeder Versicherte einzig und allein den Anspruch darauf, bei zukünftigen Umverteilungsprozessen aus zukünftigen Sozialversicherungsbeiträgen entsprechend seiner persönlichen pro___________ Druckfassung 136 Text- und 50 Anmerkungsseiten lang. Siehe auch das Gegengutachten der Professoren Walter Rohrbeck, Erich Roehrbein und Carl Meyrich, Zum Problem der Realisierbarkeit der Vorschläge der Rothenfelser Denkschrift über die Neuordnung der sozialen Leistungen, Berlin 1955. 16 Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. Vorschläge des Bundes Katholischer Unternehmer zur Reform der Sozialversicherungen, Köln 1955. Flankierend: ders., Sicherung der Existenz – aber wie?, in: Rheinischer Merkur v. 24.6.1955 (Nr. 26), S. 4. 17 Entwurf des Referats mit Anschreiben, vom 6.12.1955, datiert auf das Datum der Sitzung am 13.12.1955; Memorandum vom 30.12.1955 (dokumentiert in: Kabinettsprotokolle [N 10], Anhang 1, Dokument 9, S. 268 [277 f.], Dokument 12, S. 296 [301]). 18 Nachweise bei Löckenhoff (N 10), S. 48 f. 19 Schreiber, Existenzsicherheit (N 16), S. 23. 20 Das sozialversicherungsrechtliche Kapitaldeckungsverfahren, in Wahrheit stets nur ein Anwartschaftsdeckungsverfahren (auch Halbdeckungsverfahren genannt), war freilich immer schon – vor allem in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – mit einem Umlageverfahren verbunden. Die laufenden Beiträge wurden also nicht etwa am Kapitalmarkt angelegt, sondern zur Erfüllung von Leistungsansprüchen direkt wieder an die Versicherten ausgeschüttet.

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zentualen Rangstelle angemessen beteiligt zu werden. Abhängig von den demographischen, arbeitsmarktpolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen können die Versicherungsleistungen zukünftiger Perioden dabei, je nach der zur Verfügung stehenden Verteilungsmasse, höher, aber auch niedriger als diejenigen der laufenden Periode sein. Dieser Ausgangspunkt der Schreiberschen Konzeption einer „dynamischen Alterssicherung“21 beruhte vermutlich seinerseits auf einem berühmt gewordenen Vortrag, den der Kieler Soziologe Gerhard Mackenroth im Jahre 1952 vor dem „Verein für Socialpolitik“ gehalten hatte22. Mackenroth hatte dort die Auffassung vertreten, dass die wirtschaftliche Entwicklung zu einer veränderten Aufgabenstellung der Sozialpolitik geführt habe und fortan der gesamte Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden müsse. Wird dieses kreislauftheoretische Theorem von Mackenroth auf das System der Alterssicherung übertragen, was Schreiber tat, heißt das: Die Bestandsrenten müssen immer aus dem Bruttosozialprodukt der jeweiligen Periode finanziert werden.

b) Die Idee des Solidar-Vertrages zwischen zwei Generationen Ein Umlageverfahren bringt zum einen Ungewissheit über die Rentenhöhe oder die Höhe der Kranken- und Pflegeversicherungsleistungen mit sich. Und es verlangt – vorliegend wichtiger – zum anderen auch Vertrauen darin, dass die heutige Kinder- und alle weiteren Generationen das Verfahren weiter praktizieren, wenn die heutige Erwerbsgeneration im Ruhestand und die Kindergeneration selbst erwerbstätig geworden ist. Um diese Unsicherheit auszuschließen, sollte nach Schreibers Konzeption ein „Solidar-Vertrag“ geschlossen werden, und zwar – folgt man dem ersten Leitsatz seiner Schrift – zwischen der „Gesamtheit der Empfänger von Arbeitseinkommen“23. Begünstigte dieses „Solidar-Vertrages“ sollten – siehe den drit___________ 21

Den Terminus „dynamische Rente“ verwendete Schreiber in seiner Denkschrift nicht. Er wurde erstmals von dem Freiburger Volkswirtschaftler J. Heinz Müller in einer öffentlichen Diskussion über den Schreiber-Plan Anfang Oktober 1955 benutzt. Schreiber nahm den rasch populär werdenden Begriff in seine Terminologie auf. In Regierungskreisen wurde später zeitweilig auch von „Produktivitätsrente“ gesprochen. Vgl. Hockerts (N 10), S. 311, Fn. 324. 22 Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik N.F. Bd. 4, 1952, S. 39 ff. Zur eigentlichen Herkunft dieses Theorems s. Schmähl (N 10), S. 357 (391 ff.). 23 Schreiber, Existenzsicherheit (N 16), S. 23 (Ls. 1), ebenso S. 25, Ls. 10. Schreibers Etikettierung des „Solidar-Vertrages“ war nicht unumstritten. Oswald von Nell-Breuning (Sicherung der Existenz – Vorschläge des Bundes Katholischer Unternehmer zur Reform der Sozialversicherung, in: Rheinischer Merkur v. 26.8.1955 [Nr. 35], S. 4) hielt

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ten Leitsatz – (ohne selbst Vertragspartner zu sein) einerseits die nicht erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen, andererseits die Altersruhegeldbezieher sein. Allerdings hielt Schreiber diese Aussage zu den Partnern des abzuschließenden Solidar-Vertrages nicht konsequent durch: An einer anderen Stelle der Denkschrift spricht er nämlich nicht von einem Vertrag bloß der Empfänger von Arbeitseinkommen untereinander (S. 23, Ls. 1), sondern von den „den SolidarVertrag schließenden Partnern aller Altersstufen“ (S. 23, Ls. 2). Ferner findet sich in der Denkschrift die Formulierung „Solidarverträge [sic! Plural] zwischen den verschiedenen Lebensaltern“ (S. 28, S. 39) und schließlich – auch in diese Richtung gehend, nur präziser – die Formulierung „Solidar-Vertrag zwischen jeweils zwei Generationen“ (S. 28). Die erstgenannte Formulierung läuft auf einen (einzigen) Vertrag der Arbeitstätigen hinaus, die zweite ebenfalls auf einen (einzigen) Vertrag, aber diesmal zwischen den drei Altersstufen (Kinder und Jugendliche, Arbeitstätige und Alte [vgl. Ls. 3]). Bei der dritten und vierten wäre hingegen die Gesamtheit der Empfänger von Arbeitseinkommen zweimal Vertragspartei, und zwar einerseits in Form eines Vertrages zwischen ihr und den Alten und andererseits in Form eines weiteren Vertrages zwischen ihr und den Kindern und Jugendlichen. In Schreibers Denkschrift gibt es somit ganz unterschiedliche, miteinander unvereinbare Konzeptionen zu Zahl und Partnern des abzuschließenden Vertrages oder der abzuschließenden Verträge. Entweder ist dieser Punkt von ihm nicht hinreichend durchdacht gewesen, oder er hat insoweit ohne Problemsensibilität und in der Folge unsorgfältig formuliert. Bemerkenswert ist noch, dass in dem Entwurf Schreibers für sein Referat vor dem Sozialkabinett wiederum die Formulierung „Solidar-Vertrag zwischen 2 Generationen“ auftaucht24. Klar und stimmig sind hingegen Schreibers Aussagen zum Inhalt der wechselseitigen Pflichten25. Die Empfänger von Arbeitseinkommen verpflichten sich danach zum einen (gegenüber den Alten), einen bestimmten Teil ihres Einkommens für den Unterhalt dieser nicht mehr Erwerbstätigen aufzubringen, zum an___________ den Ausdruck „Vertrag“ für eine unglückliche Wortwahl: Generationen schlössen keine Verträge, sondern übten vielmehr Solidarität. Woher Solidarität und zwar erzwungene Solidarität kommen soll, erklärte Nell-Breuning indes nicht. Hier verschmelzen aber beide Ansätze, denn rechtlich erzwungene Solidaritätspflichten lassen sich am zwanglosesten aus Vertragstheorien erklären (dazu näher: Hermann Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 380 f.). 24 S. Entwurf des Referats mit Anschreiben, vom 6.12.1955, datiert auf das Datum der Sitzung am 13.12.1955 (dokumentiert in: Kabinettsprotokolle [N 10], Anhang 1, Dokument 9, S. 268 [274, unter 13.2., aE.]). Dort heißt es: „Es handelt sich sozusagen um einen Solidarvertrag zwischen 2 Generationen: die jeweils Arbeitstätigen verpflichten sich, die jeweils Alten durch ihre Beitragsleistungen mit zu ernähren und erwerben dadurch den verbrieften Anspruch, in ihrem eigenen Alter von den dann Arbeitstätigen mit ernährt zu werden“. 25 Schreiber, Existenzsicherheit (N 16), S. 28, S. 33 f.

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deren verpflichten sie sich (gegenüber den Jungen), die nachwachsende Generation der Kinder und Jugendlichen aufzuziehen und auszubilden. Mit der erstgenannten Leistung tragen sie dabei ihre Schuld ab gegenüber der Generation der Alten, die die Last ihres Aufziehens und ihrer Ausbildung getragen hat. Und durch die zweitgenannte Leistung – das Aufziehen von Kindern – treffen sie die einzig mögliche Vorsorge dafür, dass auch für sie, wenn sie dereinst aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, ein Sozialprodukt erarbeitet wird, aus dem Altersrenten abgezweigt werden können. Die gesellschaftliche und politische Bedeutung dieser beiden parallelen, zeitgleich zu erfüllenden Unterhaltsverpflichtungen sei – so Schreiber26 – politisch gleich zu bewerten und – in der Konsequenz – rechtlich gleich zu regeln. Wenn ein generatives Umlageverfahren eingeführt werde, dürfe nicht nur der Alters-, sondern es müsse auch der Kinderunterhalt in die gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernommen werden. Anderenfalls müssten alle Erwerbstätigen zwar kollektiv den Lebensabend aller Senioren zwangsweise finanzieren, der gleichzeitig anfallende Unterhalt der nachfolgenden Generation werde aber nur von denjenigen Erwerbstätigen zusätzlich geleistet, die auch Kinder hervorgebracht hätten. Zudem würden diese Kinder dann als Erwachsene gleichwohl sämtliche Mitglieder ihrer Vorgängergeneration, die dann Senioren sind, unterhalten müssen, obwohl nur ein Teil dieser Vorgängergeneration vorher, in ihrer Erwerbsphase, die generative Unterhaltsleistung an sie erbracht habe. Um das zu verhindern, ging Schreibers Vorschlag dahin, die Altersrente mit einer von ihm als „Kindheits- und Jugendrente“ bezeichneten finanziellen Hilfeleistung zu verbinden27. Jeder Jugendliche (respektive dessen Eltern) sollte während der Zeit des Heranwachsens eine Rente erhalten. Diese Kindheits- und Jugendrente – in heutiger Diktion ein Familienleistungsausgleich – solle genauso wie die Altersrente im Rahmen eines Umlageverfahrens aufgebracht werden. Die Jugendrente sei später zurückzuzahlen, wobei die jeweiligen Erstattungsleistungen nach der eigenen Kinderzahl der Pflichtigen zu staffeln seien. Einem unverheirateten 35-jährigen sollte nach Schreibers Vorstellung z.B. die doppelte Erstattungsquote aufgebürdet werden28. Verheiratete mit zwei Kindern sollten dagegen (nur) den einfachen Erstattungssatz zurückzahlen, Verheiratete mit vier Kindern den halben. Nur so lasse sich – was Schreiber deutlich vor Augen hatte – verhindern, dass es zu einer sachlich nicht gerechtfertigten sozioökonomischen Transferleistung der Erwerbstätigen mit Kindern an die Erwerbstätigen ohne Kinder komme. ___________ 26

Schreiber, Existenzsicherheit (N 16), S. 34 f. Schreiber, Existenzsicherheit (N 16), S. 35. 28 Schreiber, Existenzsicherheit (N 16), S. 34. 27

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2. Die Durchsetzung der Rentenreform 1957 Der Schreiber-Plan, wie er alsbald überall genannt wurde, gehört zu den am heftigsten umstrittensten Reformvorschlägen in der Geschichte der Bundesrepublik29. Jedem Interessierten war klar, dass mit einem Umlageverfahren30 und der dadurch ermöglichten dynamischen Rente ein Schritt auf völliges sozialpolitisches Neuland getan werden würde. Die Rente würde fortan nicht mehr nur ein Zuschuss zum Lebensunterhalt im Alter sein, sondern Lohnersatzfunktion haben. Schreibers großes historisches Verdienst liegt, wie man nach Öffnung der Akten besser sehen kann, weniger darin, dass er mit seiner Denkschrift die Blaupause für die Rentenreform 1957 geliefert hätte – dazu wurden zu wenige seiner Detailvorschläge im späteren Gesetz umgesetzt. Insofern handelt es sich auch nicht um den Sieg eines Außenseiters über die Ministerialbürokratie31. Überaus wichtig war aber die große Anstoßwirkung des Schreiber-Plans: Erst durch seine Denkschrift und durch seinen Kontakt mit Adenauer ist das Reformvorhaben richtig in Schwung gekommen. Angesichts grundlegender Meinungsunterschiede unter den Ministern (die Zeitgenossen sprachen von „Rentenkrieg“) kamen regierungsintern die notwendigen Kompromisse jedoch nur in mühseligstem Ringen zustande, wobei Adenauer, vor allem in der zentralen Frage der Rentendynamisierung, innerhalb des Kabinetts gegenüber inhibierenden Ministern wie Ludwig Erhard und Fritz Schäffer mehrfach sogar seine Richtlinienkompetenz nach Art. 65 Satz 1 GG ausspielen musste32. Überhaupt wird Adenauers individueller Durchsetzungsanteil am Gelingen des Reformwerks33, das der Deutsche Bundestag schließlich ___________ 29 Einzelheiten zu den regierungs- und fraktionsinternen und zu den parlamentarischen Auseinandersetzungen bei Hockerts (N 10), S. 300 ff., bes. S. 318 f.; MartinWeber (N 10), S. 16 ff.; Schmähl (N 10), S. 357 (404 ff.). Auch Schreiber selbst griff wiederholt publizistisch in die Diskussion ein (Dynamische Rente keine Belastung. Sparbereitschaft und Versicherungschancen bleiben erhalten, in: Rheinischer Merkur v. 17.2.1956 [Nr. 7], S. 4; Keine Halbheiten! – Prinzip und Modalitäten der dynamischen Rente im Kreuzfeuer der Kritik, in: Rheinischer Merkur v. 28.9.1956 [Nr. 39], S. 3). 30 Eingeführt wurde zunächst ein sog. Abschnittsdeckungsverfahren. Danach sollten die Beiträge jeweils so bemessen werden, dass die Einnahmen der folgenden zehn Jahre die Ausgaben in diesen zehn Jahren deckten und zudem die Bildung einer Rücklage in Höhe einer Jahresausgabe ermöglichten; erst 1969 wurde auf einen einjährigen Dekkungsabschnitt umgestellt. Die 1957 laufenden Renten erhöhten sich jedenfalls (dazu BT-Drs. III/568) von einem Tag auf den anderen im Durchschnitt um 65,3 Prozent (Arbeiterversicherung) bzw. um 71,9 Prozent (Angestelltenversicherung). 31 Vgl. zu dieser und zu den nachfolgenden Bewertungen: Hans Günther Hockerts, Konrad Adenauer und die Rentenreform von 1957, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Die dynamische Rente in der Ära Adenauer und heute, 1978, S. 11 (21 f.). 32 Hockerts (N 10), S. 406 f. 33 Zur sozialpolitischen Einordnung der Rentenreform 1957 s. etwa Michael Stolleis, Einschnitte und Übergänge sozialrechtlicher Entwicklung, SDSRV 55 (2006), S. 153

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nach viertägiger Abschlussdebatte in der Nacht zum 22. Januar 1957 verabschiedete, allgemein als sehr hoch eingestuft. Umstritten ist nur, welche Motivation er dafür hatte: Hier werden die genuin sozialpolitische und die rein wahlkampftaktische Komponente sehr unterschiedlich gewichtet34. In der gesamten Durchsetzungsphase der Reform ist der Schreiber-Plan allerdings immer auf die Frage des Altersunterhalts verkürzt worden (und auch insoweit sind – wie schon angedeutet – Schreibers Denkschrift-Vorschläge nur zum Teil verwirklicht worden). Die von Schreiber ergänzend geforderte Kindheits- und Jugendrente wurde – soweit ersichtlich – von der Politik in jenen Jahren nie ernsthaft diskutiert, weil man meinte, den erwerbstätigen Wählern neben den ohnehin erforderlichen höheren Beitragssätzen zur Rentenversicherung (14 statt vorher 11 Prozent) nicht noch weitere Belastungen zumuten zu können. Vermutlich konnte man sich aber auch nicht vorstellen, dass an dieser Stelle ein Problem schlummerte. „Kinder kriegen die Leute sowieso“ – mit dieser lapidaren Bemerkung soll Adenauer diesen zweiten Teil von Schreibers Rentenmodell vom Tisch gewischt haben.

3. Zwei Zweigenerationenverträge oder ein Dreigenerationenvertrag? Während sich in der Auseinandersetzung um Pro und Contra der dynamischen Rente das Schreiber’sche Diktum von einem „Vertrag zwischen jeweils zwei Generationen“ und die daraus geronnene Kurzform „Generationenvertrag“ gegen Oswald v. Nell-Breunings Vorschlag35, statt Vertrag lieber von Solidarität zu sprechen, durchsetzte, ist es umgekehrt wohl ein Verdienst von v. NellBreuning, den von Schreiber ins Spiel gebrachten Generationenvertragsgedanken klarer als dieser konturiert zu haben36. ___________ (158); vgl. auch Hermann Butzer, Die Sozialstaatsentwicklung unter dem Grundgesetz. Verfassungsgebotene Entfaltung oder exzessive Expansion, 2006, S. 28 f. 34 Siehe einerseits Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, Deutsche Geschichte 1945-1955, 1991, S. 250, Detlev Zöllner, Landesbericht Deutschland, in: Peter A. Köhler/Hans F. Zacher (Hrsg.), Ein Jahrhundert Sozialversicherung, 1980 S. 45 (143); andererseits Hockerts (N 10), S. 412 ff.; Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, 1994, S. 956 ff.; Schmähl (N 10), S. 357 (434). 35 Oswald v. Nell-Breuning, Die Produktivitätsrente, ZSR 1956, S. 97 (98 f.). S. auch Fn. 23. S. ferner aus der Literatur: Peter Kostorz, Später (k)eine Rente (?). Anmerkungen zur Demografiefalle und zur Rentenkrise, RV 2004, S. 61 ff.; J. Heinz Müller/ W. Burckhardt, Die 3-Generationen-Solidarität in der Rentenversicherung als Systemnotwendigkeit und ihre Konsequenzen, SF 1983, S. 73 ff.; Klaus Schaper, Sicherung im Pflegefall und Generationenvertrag, ZSR 1993, S. 87 (87 f.). 36 Ich habe mich insoweit von Peter Kostorz, Bochum/Münster (Brief v. 4. Mai 2004) überzeugen lassen, dass die wichtige Konturierung als Dreigenerationenvertrag auf v. Nell-Breuning zurückgeht, meine aber weiterhin, dass man als „Vater“ des Genera-

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Bei gleicher Sicht auf die notwendigen Verpflichtungen hing Schreiber ausweislich seiner Denkschrift (S. 28) und seines Vortrags vor dem Sozialkabinett am 13. Dezember 1955 der Vorstellung an, dass es zur Sicherstellung des generativen do ut des zwei Verträge geben müsse37. Ein erster Zweigenerationenvertrag, der zwischen der erwerbstätigen und der heranwachsenden Generation abzuschließen sei, gelte deren Zeugung, Erziehung und Ausbildung (do). Hinzu komme ein weiterer Zweigenerationenvertrag zwischen der erwerbstätigen und der älteren Generation, der zu bestimmen habe, dass die erwerbstätige Generation an die ältere Generation Rentenzahlungen leistet (do) und dafür als Gegenleistung (ut des) Rentenzahlungen der nachfolgenden Generation im nächsten Zeitstadium erhält. V. Nell-Breuning erkannte, dass bei diesem Verständnis das „do ut des“ auseinanderfällt und die doppelseitige Verpflichtung der erwerbstätigen Generation nicht „eingefangen“ werden kann. Deshalb fand er zu der Interpretation, dass es nur einen Vertrag zu geben habe, und zwar einen Dreigenerationenvertrag. Dieser müsse zum Inhalt haben, dass die jeweils erwerbstätige Generation einerseits vorleiste, indem sie Kinder bekommt sowie diese erzieht und ausbildet (do), und dass sie andererseits eine Schuld abträgt, indem sie für die ältere Generation (als Gegenleistung für ihre eigene Erziehung und Ausbildung) Rentenleistungen erbringt (ut des). Der 1957 zustande gekommene Generationenvertrag verwirklicht indes nicht einen Dreigenerationenvertrag, sondern nur den zweiten der Schreiber’schen Zweigenerationenverträge: Die jeweils erwerbstätige Generation leistet an die ältere Generation und erhält als Gegenleistung Rentenzahlungen der nachfolgenden Generation. Bei dieser Konstruktion wird – entgegen Schreiber und v. Nell-Breuning – nicht explizit als notwendige Vorleistung der erwerbstätigen Generation festgehalten, dass immer eine nachwachsende Generation in ausreichender Größe, mit entsprechender Ausbildung und mit der Bereitschaft, diesen Generationenvertrag zu erfüllen, vorhanden ist. Wie man heute weiß, liegt hier für die nächsten drei Jahrzehnte das zentrale Problem der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung38.

___________ tionenvertrages doch eher Schreiber anzusehen hat. Auf ihn geht die Vertragsidee zurück, und er hat überdies – genauso wie v. Nell-Breuning – klar erkannt, dass im Umlageverfahren die erwerbstätige Generation doppelt verpflichtet sein muss, nämlich gegenüber den Alten und gegenüber den Kindern und Jugendlichen. 37 Wie hier: Franz-Xaver Kaufmann, Gibt es einen Generationenvertrag?, FAZ v. 12.7.2004 (Nr. 159), S. 7. 38 Nähere Problembeschreibung etwa bei Schnapp/Kostorz (N 7), ZAR 2002, 163 ff.; dies., Der Bevölkerungswandel in Deutschland und seine Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, in: Gesundheits- und Sozialpolitik 9-10/2006, S. 18 ff. S. ferner Kostorz (N 35), RV 2004, S. 61 ff.

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III. Einordnung und Sinngehalt des Generationenvertrages Der Schreiber-Plan hat also den Begriff „Generationenvertrag“ in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeführt, und Oswald v. Nell-Breuning hat ihn scharfsinnig als Dreigenerationenvertrag konturiert. Doch was ist eigentlich ein Generationenvertrag? Was ist sein genauer Inhalt? Hat er Verpflichtungskraft? Welchen Wert hat er überhaupt?

1. Der Generationenvertrag – ein „echter“ (= juristischer) Vertrag? Eines wird man gleich zu Beginn feststellen können: Ein „echter“ Vertrag ist der Generationenvertrag jedenfalls nicht. Zieht man die zivilrechtliche Dogmatik heran, ist ein Vertrag die von zwei oder mehr Personen erklärte Willensübereinstimmung über die Herbeiführung eines bestimmten rechtlichen Erfolges39. Ein erster „Stolperstein“ für den Generationenvertrag ist insoweit schon die Parteienproblematik – zwei oder mehr Personen – und hier die Beobachtung, dass Generationen – Junge, Erwerbstätige, Alte – keinen festen und dauerhaften Mitgliederstamm besitzen, weil die Zugehörigkeit zu ihnen im Laufe eines Menschenlebens zweimal wechselt. Kann also, wenn verschiedene Generationen eine dauerhafte Übereinkunft treffen, trotz dieser Fluktuation noch von Vertragsparteien gesprochen werden? Sodann: Es fehlt an tatsächlich übereinstimmenden Willenserklärungen40. Weder haben sich die verschiedenen Vertreter der Generationen an einem Tag X getroffen und Erklärungen ausgetauscht, noch gibt es Indizien dafür, dass ein Vertragsschluss konkludent erfolgt ist oder ein – im Zivilrecht ohnehin problematischer41 – Vertragsschluss durch Schweigen vorliegt. Schließlich: An einen Vertrag gebunden sind nur diejenigen, die ihn schließen42. Die nachfolgenden Generationen, die bei Vertragsschluss noch nicht geboren waren, können also nicht verpflichtet sein. Zudem verbietet das Zivilrecht Verträge zu Lasten Dritter, so dass Nichtbeteiligte wie die zum Abschlusszeitpunkt noch nicht geborenen Menschen schon deshalb nicht ohne ihre Zustimmung in Verpflichtungen eingebunden werden können.

___________ 39

Vgl. Palandt/Helmut Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl. 2008, Einf. vor § 145 Rn. 1; Heinz Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2. Aufl. 1996, Rn. 985; Karl Larenz/Manfred Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 29 Rn. 3. 40 Vgl. Larenz/Wolf (N 39) § 29 Rn. 71 ff. 41 Überblick bei Larenz/Wolf (N 39), § 29 Rn. 62 ff. 42 Vgl. Palandt/Heinrichs (N 39), Einl. vor § 241 Rn. 5; Larenz/Wolf (N 39), § 29 Rn. 5.

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2. Der Generationenvertrag – ein philosophisches Konstrukt? Vorbild und Verwandte des Generationenvertrages können deshalb nur in einem ganz anderen Bereich zu suchen sein, nämlich in dem der politischen Philosophie und hier in der Figur des Gesellschaftsvertrages.

a) Vorbild: Die Idee des Gesellschaftsvertrages Zum Gesellschaftsvertrag können hier nur ganz skizzenhafte Hinweise gegeben werden: Man muss sich zurückversetzen in die frühe Neuzeit, als der Mensch – anders als zuvor – nach und nach als ein freies, souveränes und selbstzentriertes Individuum begriffen wird43. Diese Subjektivierung des Menschen lässt vorher nicht hinterfragte Herrschaft legitimierungsbedürftig erscheinen; sie verlangt nach einer Begründung, warum Herrschaft den individuellen Freiheitsraum des Menschen einschränken darf. In den Vordergrund tritt hier, dass Herrschaft der Herstellung eines inneren gesellschaftlichen Friedens dienen und damit die friedliche Koexistenz der Menschen sichern kann und soll. Auf Thomas Hobbes und seinen Leviathan44 geht dann die Erkenntnis zurück, dass staatliche Herrschaft, soziale Normen und politische Organisationsformen nur dadurch zu rechtfertigen sind, dass sie auf die Zustimmung aller Individuen zurückgeführt werden können. Hobbes geht dabei bekanntermaßen aus von einem Naturzustand, in dem die Menschen leben, und beschreibt ihn als Kriegszustand, als anarchische Welt ohne Recht und Ordnung. Die Menschen sind „wölfisch“ und leben, weil sie um knappe Güter ebenso wie um Macht konkurrieren, in steter Todesfurcht. Diese Furcht führt zu dem Wunsch nach Sicherheit, die wiederum nur durch die Unterwerfung unter die Macht eines Souveräns über alle möglich ist. Und diese Unterwerfung geschieht nach Hobbes durch einen Sozialvertrag, einen Vertrag eines jeden mit einem jeden. Durch diesen Vertrag, mit dem sich die Menschen zweckrational und freiwillig einer absoluten staatlichen Autorität unterwerfen und sie legitimieren, wird der Übergang vom Sozialzustand zum Staat vollzogen. Im Gegenzug für ihren Freiheits- und Autonomieverlust erhalten die Menschen vor allem die Abwesenheit von personaler Gewalt. ___________ 43 Ausführlicher etwa Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 7 ff. 44 Zum Hobbes’schen Denken s. etwa Dieter Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan. Hobbes’ politische Philosophie nach 350 Jahren, 2005; Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der Leviathan, 2000. Speziell zu Hobbes’ Vertragstheorie s. etwa Franz Heppe, Die Erschaffung des Leviathan. Die Funktion des Gesellschaftsvertrages bei Thomas Hobbes, in: Hüning, ebda., S. 201 ff.

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Seit Hobbes gehört dieses Vertragsdenken zu den meistdiskutierten Vorstellungen der politischen Philosophie und Rechtstheorie45. Fast jeder Philosoph der Neuzeit hat sich irgendwann damit beschäftigt. Herausgehoben sei hier nur Jean-Jacques Rousseau46, der den politischen Vertrag Hobbes‘ fortentwickelt hat zum „Gesellschaftsvertrag“. Rousseau setzt ein mit dem berühmten Satz: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“. Abhilfe sieht er in einer Gesellschaftsform, in der die Menschen die Staatsgewalt nicht einem Dritten, einem Herrscher übertragen, wie Hobbes das vorschlug, sondern diese Herrschaft selbst ausüben. Dazu müssen sich die Individuen in einem ursprünglichen konstitutiven Akt der Vergesellschaftung ihrer natürlichen Freiheit zugunsten des Gemeinwillens („volonté général“) entäußern. Dieser Gemeinwille ist von jeglichen Partikularinteressen des Einzelnen gelöst; als Summe der Einzelwillen hebt er die Gegensätze der Einzelwillen auf47. Mit dem Vertragsschluss erwerben die Menschen so jene „wahre Freiheit, die in der Bindung aller an dasjenige Gesetz besteht“, das sich alle Menschen selbst gegeben haben und vor dem sie alle jene höhere Form der Gleichheit gewinnen, zu deren Gunsten sie auf die natürliche Gleichheit verzichten mussten. Hobbes wie Rousseau (und andere) hingen dabei der Vorstellung an, es habe zu irgendeinem Zeitpunkt X einen realen, wenngleich stillschweigend abgeschlossenen Vertrag aller Lebenden gegeben (etwa in der Art einer Schweizer Eidgenossenschaft). Nachfolgende Generationen hätten ihm dann mit ihrer Ge-

___________ 45 Verallgemeinert man das Denken des staatsphilosophischen Kontraktualismus, setzt sich diese Argumentationsfigur immer aus drei, aufeinander aufbauenden Überlegungen zusammen: Herzstück ist jeweils die Beschreibung des Ausgangs- oder Naturzustandes. Dieser vorvertragliche Zustand zeigt die Problematik auf, die der Vertrag lösen soll. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Vertreter des Kontraktualismus zumeist in zwei Punkten: Erstens: Was macht die Konfliktsituation aus (Konfliktanalyse)? Und zweitens: Welches Menschenbild liegt der Argumentation zugrunde (Anthropologie)? Der nächste Schritt, derjenige der Vertragseinigung, ist stets durch zwei Merkmale charakterisiert. Einmal wird der Vertragsschluss als freiwillige Selbstbeschränkung der Individuen verstanden. Diese Selbstbeschränkung ist dabei für das Individuum vorteilhaft und steht dadurch in seinem eigenen Interesse. Sodann erfolgt der Vertragsschluss wechselseitig. Die jeweilige Partei verzichtet nur dann auf ihre natürliche Freiheit, wenn die Vertragspartner ebenso verfahren. Entscheidend für den Kontraktualismus sind schließlich seine Folgen (dritter Schritt): Es gilt nämlich: „Volenti non fit iniuria“. Anders gesagt: Wer zugestimmt hat, kann sich nicht gegen die Konsequenzen wehren, die sich aus der getroffenen Vereinbarung ergeben (vgl. Kersting [N 43], S. 15, 50, 55, 57). 46 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 1762 (s. bes. Erstes Buch, 6. Kap., Viertes Buch, 2. Kap.). Prägnante Beschreibung des Rousseau’schen Vertragsdenkens bei Reinhold Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 9. Aufl. 1994, S. 110 ff. 47 Vgl. dazu auch Peter Koller, Neue Theorie des Sozialkontrakts, 1987, S. 26.

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burt (in Ermangelung eines Widerspruchs) konkludent zugestimmt48. Doch ist die Theorie des Gesellschaftsvertrages über diese ältere Vorstellung mittlerweile hinweggegangen. Sie begreift den Gesellschaftsvertrag nicht als historisches Ereignis, sondern als bloße Hypothese, als ein Gedankenexperiment am Schreibtisch. Derart fiktional verstanden, läuft die Theorie auf folgenden Orientierungssatz hinaus: Eine (ethische) Norm oder ein Grundsatz ist dann legitim und verpflichtend für alle, wenn sich denken lässt, dass sie oder er aus einem Gesellschaftsvertrag hervorgegangen ist49. In Frageform gebracht: Könnte die Norm oder der Grundsatz vernünftigerweise Inhalt eines Gesellschaftsvertrages sein, wenn man in der Situation wäre, einen solchen Vertrag neu zu schließen? Der Vertragsgedanke besitzt hier einzig und allein Argument-Charakter. Folgt man dieser, wie gesagt, heute in der Staatsphilosophie wohl einhellig vertretenen Sichtweise, hat ein Gesellschaftsvertrag keine (unmittelbare) juristische Geltungskraft, also weder eine zivil- oder eine staats- und verfassungsrechtliche, sondern allein normativ-ethische Bedeutung.

b) Ein- und Zuordnung des Schreiberschen Generationenvertrages Auf den ersten Blick sieht der sozialversicherungsrechtliche Generationenvertrag aus wie eine Spezial- oder Unterform der Figur „Gesellschaftsvertrag“. Bei genauerem Hinsehen verhält es sich aber anders: Zunächst einmal geht es ihm inhaltlich nicht – wie dem (allgemeineren) Gesellschaftsvertrag – um die Legitimation und Limitierung politischer Herrschaft. Vielmehr bringt er den Gedanken des Vertrauenkönnens auf die dauerhafte Fortführung eines bestimmten Transferverfahrens für finanzielle Ressourcen der Gesellschaft auf den Punkt. Generationenvertrag hat zu tun mit Sicherheit, mit Einstehensgewähr, mit Verbürgung, mit Gewissheit, mit einer Garantie, dass das Umlageverfahren dauerhaft fortgesetzt wird. Hinge man – den älteren staatsphilosophischen Lehren folgend – immer noch der Vorstellung eines realen, stillschweigend abgeschlossenen Vertrages an, müsste man überdies konstatieren, dass in einem Staat wie dem unsrigen für einen Gesellschaftsvertrag und einen ihm strukturgleich nachgebildeten Generationenvertrag kein Platz besteht. Denn unter dem Grundgesetz wählt das Volk seine Abgeordneten, und diese handeln für das Volk. Dem Handeln dieser Repräsentanten vorgelagerte Entscheidungen des Volkes per Gesellschafts- oder Generationenvertrag sind in einem solchen demokratisch-repräsentativen System nicht vorstellbar. ___________ 48

Die Schwäche dieser Vorstellung eines permanenten konkludenten Einverständnisses liegt darin, dass die Zustimmung beliebig unterstellt werden kann. Knapper Überblick etwa bei Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2001, § 9, Rn. 23. 49 Vgl. Peter Stemmer, Moralischer Kontraktualismus, Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), S. 1 (14).

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Die Vorstellung eines Generationenvertrags ist deshalb aber nicht etwas Wertloses: Denn sie bringt – wie gezeigt – gleichwohl Wichtiges auf den begrifflichen Punkt, nämlich den Gedanken des Vertrauenkönnens in die Fortführung des Umlageverfahrens. Und die Theorie vom Gesellschaftsvertrag hilft, diesen Gedanken zu bewerten. Könnte das, was „Generationenvertrag“ umschreibt, so muss man fragen, vernünftigerweise Inhalt eines allgemeinen Gesellschaftsvertrages sein, unterstellt, man wäre in der Situation, einen solchen Vertrag zu schließen? Die Antwort fällt nicht schwer: Das würde man sicherlich tun. Wir handelten nur vernünftig, wenn wir die Einführung oder Weiterführung eines Umlageverfahrens wieder mit einer Garantie wie dem Generationenvertrag verkoppelten. Würden wir aber prinzipiell einen Gedanken, wie er in dem Begriff „Generationenvertrag“ zum Ausdruck kommt, zum Inhalt eines neuen allgemeinen Gesellschaftsvertrages machen, kann man diesem Gedanken zwar nicht (unmittelbare) juristische Geltungskraft, wohl aber normativ-ethische Bedeutung und damit einen wichtigen Argument-Charakter zubilligen.

c) Der Generationenvertrag von 1957: Zweigenerationenvertrag oder „hinkender“ Dreigenerationenvertrag? Doch wie passt die Rentenreform von 1957 mit dem Schreiber’schen bzw. v. Nell-Breuning’schen Generationenvertrag zusammen? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst einen Blick werfen auf die einfachrechtliche Ausgestaltung anlässlich der Neuregelung des Rentenrechts 1957. Diese Regelungen liefen und laufen – wie bereits erwähnt – darauf hinaus, dass die jeweilige Erwerbstätigengeneration an die ältere Generation leistet und „dafür“ Rentenzahlungen der nachfolgenden Generation im nächsten Zeitstadium fordert und erhält. Mehr ist nicht geregelt worden – entgegen dem Schreiber-Plan sind die Kinder und Jugendlichen nicht mit einer ebenfalls umlagefinanzierten Jugendrente „beglückt“ worden. Man wird nach den obigen Ausführungen somit sagen können: Dieses Regelungssystem „hinkt“, es steht augenscheinlich nicht sicher auf zwei Beinen, sondern nur auf einem50. Es ist nicht synallagmatisch, denn die jeweilige Erwerbstätigen-Generation muss zwar an die ältere Generation Rente leisten, hat zuvor aber von einem Teil dieser älteren Generation nichts erhalten – jedenfalls nicht aus der rentenrechtlichen Perspektive. Um volle Rentenansprüche zu erwerben, ist es nämlich nach geltendem Recht nicht erforderlich, Kinder zu haben und sich um sie zu kümmern: Erwerbstätige Alleinstehende und erwerbstätige kinderlose Paare, obwohl sie sich an der Zeugung, Versorgung und Erzie___________ 50 Görg Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, 1992, S. 323.

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hung der nachfolgenden Generation nicht beteiligen bzw. nicht beteiligen können, sind Erwerbstätigen mit Kindern rentenrechtlich (ebenso: kranken- und pflegeversicherungsrechtlich) gleichgestellt. Genau deswegen wird das bestehende Regelungssystem, das von der Reichsversicherungsordnung in § 153 Abs. 1 SGB VI, in § 220 Abs. 1 SGB V und §§ 54 Abs. 1, 62 ff. SGB XI übernommen worden ist, in der Literatur immer wieder als halbierter51 Generationenvertrag, als Zweigenerationenvertrag52 oder – etwas anders akzentuiert – als amputiertes Umlageverfahren53 charakterisiert. Dennoch kann man die Gesetzgebung des Jahres 1957 nicht als bloß halbierten Generationenvertrag betrachten. Im Zentrum des „Rentenkriegs“ von 1956 stand stets das Umlageverfahren. Es ist nicht ersichtlich, dass in der leidenschaftlichen Debatte um die Einführung des Umlageverfahrens irgendwann einmal von irgendjemandem bezweifelt worden ist, dass für das Funktionieren dieses Verfahrens die junge Generation und alle ihr nachfolgenden „virtuellen“ Generationen notwendig sind. Ein Gegenentwurf, der von dieser Prämisse – oder, wenn man so will: von dieser Geschäftsgrundlage – abgerückt wäre oder sie auch nur in Zweifel gezogen hätte, kann nicht ausgemacht werden. Deshalb wird man festhalten können: Gemeint war das Rentenrecht 1957 als Drei-Generationen-Lösung. Mit diesem Vorstellungshintergrund hat der Deutsche Bundestag das Umlageverfahren eingeführt. Adenauer hat damals auf den Punkt gebracht, was alle sowieso für selbstverständlich hielten: „Kinder kriegen die Leute sowieso“. Anders gewendet: Der Bundestag hat sich – was das Drei-Generationen-Modell angeht – nicht etwa gegen den Schreiber-Plan und für ein halbiertes Generationen-Modell entschieden, sondern für ihn war der Dreigenerationengedanke genauso Prämisse wie für Schreiber oder v. NellBreuning. Nur sah der Gesetzgeber keine Regelungsnotwendigkeit, weil man Selbstverständliches – „Kinder kriegen die Leute sowieso“ – nicht zu regeln braucht. So ist es gekommen, dass das geschriebene Sozialversicherungsrecht in diesem Punkt seinerzeit und später unvollkommen geblieben ist, wenngleich natürlich heute der stark ausgebaute steuerfinanzierte Familienleistungsausgleich das sozialversicherungsrechtliche Defizit zu kompensieren sucht. In Anlehnung an die aus der öffentlich-rechtlichen Vertragsrechtsdogmatik bekannte Figur des „unvollkommenen“ oder „hinkenden Austauschvertrags“54, ___________ 51

So z.B. Lothar F. Neumann/Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1998, S. 179. 52 Vgl. Müller/Burckhardt (N 35), SF 1983, S. 73 (74 – „2-Generationen-Solidarität“). Die Bezeichnung richtet sich nicht gegen Schreiber, der die Doppelverpflichtung der erwerbstätigen Generation (Kindererziehung und Rentenzahlung) genau gesehen hat. 53 Merk (N 8), S. 173. 54 Vgl. etwa BVerwGE 42, 331 (332 f.) – Folgekostenverträge im Baurecht; ferner: Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 14 Rn. 17.

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bei dem nur die eine Leistung festgeschrieben, gleichwohl aber – um das Synallagma zu wahren – die Gegenleistung stillschweigend vorausgesetzt und deshalb auch Vertragsinhalt wird, kann man also davon sprechen, dass dem Umlageverfahren in der Sozialversicherung sehr wohl die Vorstellung eines Dreigenerationenvertrages zugrunde liegt, den man als einen „hinkenden Dreigenerationenvertrag“ ansprechen könnte.

3. Zum Bewertungspotential des Generationenvertragsgedankens Erkennt man an, dass der Grundgedanke, der mit Generationenvertrag begrifflich auf den Punkt gebracht wird, zumindest einen wichtigen ArgumentCharakter im Hintergrund des Umlageverfahrens besitzt, können mit ihm durchaus einige grundlegende Wertungen getroffen werden55. So kann man angesichts der demographischen Zahlen und der demographischen Zukunftsperspektiven feststellen, dass seit den zwischen 1965 und 1970 geburtsfähig gewordenen Jahrgängen alle weiteren Jahrgänge insofern „vertragsbrüchig“ geworden sind, als dass sie aufgrund ihres veränderten generativen Verhaltens ihre zweite Verpflichtung aus dem Generationenvertrag, nämlich die Geburt, Erziehung und Ausbildung einer hinreichenden Kinderzahl von mindestens 2,1 Kindern pro Frau, vernachlässigt haben. Damit wird dieser Gruppe nicht etwa persönliche Schuld zugewiesen und auch nicht etwa eine Gesinnung – der Kinderwunsch – belohnt und eine andere bestraft, sondern es wird allein an die objektive Tatsache des Kinderhabens oder -nichthabens angeknüpft. Die Idee des Dreigenerationenvertrags führt hier zu der Wertung, dass die Mehrbelastung, die durch die zu geringe Kinderzahl bedingt ist, nicht der heutigen Kinder- und Jugendlichen- und zukünftigen Erwerbstätigengeneration (oder gar den noch nicht einmal geborenen Menschen) aufgebürdet werden darf, sondern dass sie von der derzeit erwerbstätigen Generation getragen werden muss56. Ob deshalb die Beiträge oder die Rentenleistungen nach der Kinderzahl gestaffelt werden sollten, wie es bereits mehrfach vorgeschlagen wurde57, ist eine zweite Frage. Zur Logik des Systems passen solche Vorschläge jedenfalls. Denn diejenigen, die durch Kinderhaben und Kindererziehung das generative System von gesetzlicher Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ___________ 55

S. dazu auch Schnapp/Kostorz (N 7), ZAR 2002, S. 163 (167, 169 f.). Setzen die heutigen Kinder und Jugendlichen das generative Verhalten fort, das seit etwa Mitte der 1960er Jahre zu beobachten ist (wovon alle Prognosen ausgehen!), sind sie an der Mehrbelastungskompensation natürlich ebenfalls zu beteiligen. 57 Etwa Manfred Hilzenbecher, Die Richtigstellung des Drei-Generationenvertrages in der gesetzlichen Rentenversicherung durch eine Beitragsstaffelung nach der Kinderzahl, SF 1985, S. 281 ff.; Müller/Burckhardt (N 35), SF 1983, S. 73 (76 f.); Hans-Werner Sinn, Führt die Kinderrente ein!, FAZ v. 8.6.2005 (Nr. 130), S. 41. 56

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insgesamt aufrechterhalten, sind wegen der Unterhaltslasten gegenüber ihren Kindern, die sie zusätzlich zu ihren Sozialversicherungsbeiträgen zu tragen haben, im Vergleich zu den Kinderlosen in ihrer Fähigkeit reduziert, Privatvermögen zu bilden. Darin liegt eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu den kinderlosen Erwerbstätigen, die durch die steuerliche Kinderförderung nach allgemeiner Ansicht nicht (voll) kompensiert wird, zumal Erwerbstätige mit Kindern an der Aufbringung dieser Steuermittel beteiligt werden. Mehrbelastungen, die mit der Alterung der Gesellschaft zu tun haben, liegen dagegen nicht allein in der „Verantwortungssphäre“ der jetzigen Erwerbstätigen-Generation. Insofern können nach dem Dreigenerationengedanken hier die jetzige Erwerbstätigen-Generation und die jetzige Rentner-Generation belastet werden. Diese Wertung, die etwa die Entscheidung für eine Rente mit 67 trägt, ist auch für die Kranken- und Pflegeversicherung wichtig, denn dort besteht die Besonderheit, dass bei älteren Versicherten die Ausgaben weit überproportional ansteigen. Obwohl etwa die Rentner-Generation nur ein Viertel der Mitglieder stellt und nur knapp ein Fünftel zum Beitragsaufkommen der Gesetzlichen Krankenversicherung beiträgt, nimmt sie fast die Hälfte aller Leistungsaufwendungen in Anspruch. Anders gewendet: Die von allen Rentnern geleisteten Krankenversicherungsbeiträge decken derzeit etwa nur noch 43 Prozent (1973: ca. 70 Prozent) der Leistungsaufwendungen ab, die die Krankenkassen für sie erbringen müssen58. Der Generationenvertragsgedanke ist hier sowohl für die Beitragserhebungsseite59 wie auch für Priorisierungs- und Posteriorisierungsüberlegungen im Leistungsbereich der GKV nicht ohne Bedeutung. Der Generationsvertragsgedanke hilft auch bei der Bewertung neuerer Ergänzungen des umlagefinanzierten Rentensystems um kapitalgedeckte Elemente (etwa Riester- und Rürup-Rente). Diese Vorsorgeformen belasten zwar ausschließlich die erwerbstätige Generation, doch ist das nach den Wertungen des Dreigenerationengedankens, die erweist, dass die ältere Generation der heute Erwerbstätigen, also der etwa 40- bis 65-Jährigen, „vertragsbrüchig“ geworden ist, konsequent. Um den parallel zum Aufbau dieses Kapitalstocks weiter zu entrichtenden Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht auch noch wegen der Alterung der Gesellschaft zu stark ansteigen zu lassen, ist es allerdings unabweisbar, dass auch die heutige Rentnergeneration finanzielle Einbußen hinzunehmen hat. Hier kommt allerdings limitierend der Vertrauensschutzge___________ 58

Vgl. BT-Drs. 15/1525, S. 140. Zu dieser generationenvertraglichen Sicht passt etwa, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats v. 28.2.2008 (1 BvR 2137/06) eine gegen § 248 S. 1 SGB V idF. des GMG 2003 gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen berechtigt, jüngere Krankenversicherte von der Finanzierung des höheren Aufwands für die Rentner zu entlasten und die Rentner entsprechend ihrem Einkommen verstärkt zur Finanzierung heranzuziehen (Rn. 38 f. des Beschlusses). 59

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danke ins Spiel, der ja zum Teil mit dem Generationenvertragsgedanken konveniert: Wenn Sozialversicherungsleistungen wesentlich verringert, zeitlich stärker begrenzt und weiter hinausgeschoben werden, kommt es wesentlich darauf an, ob die Betroffenen noch anders vorsorgen konnten oder ob keine Chance mehr bestand, sich auf den vom Gesetzgeber vorgenommenen Richtungswechsel einzustellen60. Ist letzteres der Fall, muss der Gesetzgeber schonend vorgehen, wenn ihm der Zugriff nicht sogar ganz verwehrt ist.

IV. Schlussbemerkung: „Generationenvertrag“ und das Gebot begrifflicher Klarheit Friedrich E. Schnapp hat das Gebot begrifflicher Klarheit immer sehr wichtig genommen. Einprägsam ist insofern sein Wort von der „Begriffshygiene“. „Um miteinander reden und diskutieren zu können, müssen“ – so findet man es in seiner „Logik für Juristen“ – „die wechselseitigen Standpunkte klar sein. Dazu gehört in erster Linie, dass die Kontrahenten sich vorab darüber verständigen, mit welchem Inhalt der eine und der andere einen mit demselben Wort bezeichneten Begriff verwendet. Geschieht das nicht, dann redet man aneinander vorbei und verfehlt die Sache“61. Die hier beschriebene Notwendigkeit einer Vorverständigung über den jeweils gemeinten Inhalt des Begriffs, über den man reden will, stellt sich mit besonderer Dringlichkeit, wenn dieser Begriff den engeren fachwissenschaftlichen Kommunikationszusammenhang verlassen hat und interdisziplinär geworden oder gar in die politische und öffentliche Alltagskommunikation vorgedrungen ist. Die Fachwissenschaft verliert dann nämlich die fachautonome Bestimmungsbefugnis über seinen Inhalt und seine Verwendung, und sie muss u.U. hinnehmen, dass „ihr“ Begriff durch neue und andersartige Assoziationen zusätzliche, andere und ggf. sogar – aus der Sicht der Fachwissenschaft geurteilt, die den Begriff eingeführt hat – fehlgehende Inhaltszuschreibungen erhält. „Generationenvertrag“ zeigt all dieses. Er gehört nicht einer Disziplin der Wissenschaften, er gehört sogar noch nicht einmal allein der Wissenschaft. Will man sich also nicht missverstehen, sollte man vorab sagen, was man unter ihm versteht. Dazu sollte man wiederum etwas über Generationenvertrag wissen, über seine Herkunft ebenso wie über seinen Sinngehalt. Die historischen Fakten ebenso wie die theoretischen Überlegungen haben dabei bestätigt, was auch der Jubilar stets betont hat: dass nämlich sowohl nach der historischen ___________ 60 Vgl. BVerfGE 103, 392 (404); zuletzt BVerfG (K), Beschluss v. 28.2.2008 (1 BvR 2137/06), Rn. 44. 61 Friedrich E. Schnapp, in: Egon Schneider/Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen. Die Grundlagen der Denklehre und der Rechtsanwendung, 6. Aufl. 2006, S. 27.

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Konzeption des Generationenvertrages wie nach der Rechtslage nur die Weiterpraktizierung des Umlageverfahrens von Generation zu Generation garantiert ist (zumindest aber eine Abkehr von demselben nicht ohne Beachtung der Vertrauensschutzinteressen aller Generationen), nicht aber das aktuell bestehende Leistungsniveau oder gar eine Dynamik nach oben62. Ein schutzwürdiges Vertrauen auf letzteres kann es im Umlageverfahren per se nicht geben. Und was es nicht geben kann, kann auch ein Generationenvertrag nicht garantieren. In den Worten des Jubilars: Der jetzige Beitragsaufwender zahlt „nicht für ‚sich‘“, sondern er erbringt nur „eine systemnützige ‚Vorleistung‘, die anderen zugute kommt“63. „In einem Umlageverfahren besteht zwischen den Beiträgen eines Versicherten und seiner Rente also kein rechtlicher, wirtschaftlicher oder zeitlicher Zusammenhang“64. Andere Inhaltzuweisungen an den Generationenvertrag, also solche, die über die Garantie des Fortbestehens des Umlageverfahrens hinausgehen, würde der Jubilar wohl in Latein und hier mit Julius Caesar zurückweisen: „Quae volumus, ea credimus libenter“.

___________ 62 In Erinnerung ist mir vor allem, wie eindringlich der Jubilar in Diskussionen an seinem Lehrstuhl einer Vorstellung entgegentreten ist, dass es ein im Generationenvergleich gleichheitswidriges Sonderopfer derjenigen Beitragszahler gebe, die heute über hohe Beiträge die Renten-, Kranken- und Pflegeleistungen der heute Alten finanzierten, in 30 Jahren aber womöglich viel geringere Leistungen erhielten. 63 Friedrich E. Schnapp, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, DVBl. 2004, S. 1053 (1060). 64 Schnapp (N 63), DVBl. 2004, S. 1053 (1059).

Konkurrentenrechtsschutz im Vertragsarztrecht Von Ruth Düring, Kassel

I. Einleitung Die Konkurrentenklage findet sich praktisch in allen Bereichen des besonderen Verwaltungsrechts, vom Wirtschaftsverwaltungsrecht über das Rundfunkrecht bis hin zum Beamtenrecht. Konkurrenzstreitigkeiten sind stets die Folge begrenzter Ressourcen und so verwundert es nicht, dass sie auch im vertragsärztlichen Bereich zunehmend eine Rolle spielen1. Dabei wird unterscheiden zwischen der offensiven Konkurrentenklage, bei der mehrere Bewerber um eine Berechtigung, etwa einen Vertragsarztsitz, streiten und der defensiven Konkurrentenklage gegen die Begünstigung eines anderen, der vom Markt ferngehalten werden soll2. Mit einer Kammerentscheidung aus August 2004 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Pflock eingeschlagen für den defensiven Rechtsschutz der Vertragsärzte gegen die Ermächtigung von Krankenhausärzten3. Bereits im Januar 2004 hatte das BVerfG in einer Kammerentscheidung für den Bereich der Krankenhausplanung entschieden, dass ein Krankenhaus, das nicht in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen wird, einem erheblichen Konkurrenznachteil ausgesetzt sei, der in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen einer Berufszulassungsbeschränkung nahe komme, und die besondere Grundrechtsbetroffenheit einen Anspruch auf zeitnahen Rechtsschutz im Wege der Drittanfechtung eröffne4. Beide Entscheidungen haben den Rechtsschutz ___________ 1

Vgl. Kingreen, Konkurrenzsschutz im vertragsärztlichen Zulassungsrecht, Die Verwaltung 2003, 33, 34; grundlegend Schnath, Bedarfsplanung und Konkurrenzsschutz im Vertragsarztrecht, 1992. 2 Zu den Typen von Konkurrentenklagen vgl. BSGE 91, 253, 255 = SozR 4-2500 § 103 Nr. 1 RdNr 8. 3 Beschluss vom 17.8.2004 – 1 BvR 378/00 –, SozR 4-1500 § 54 Nr. 4 = SGb 2005, 59 ff. mit kritischer Anmerkung Nix = MedR 2004, 680 mit Anmerkung Steinhilper = NZS 2005, 199 = NJW 2005, 273 = DVBl 2004, 431. 4 Beschluss vom 14. 1. 2004 - 1 BvR 506/03, NZS 2004, 199 = NVwZ 2004, 718 = GesR 2004, 85 mit Anmerkung Thomae = DVBl 2004, 431 mit Anmerkung Vollmöller.

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für Teilnehmer in einem staatlich regulierten Markt gestärkt. Im Vertragsarztrecht hat der Beschluss vom 14. August 2004 eine Diskussion über den Umfang des Konkurrentenrechtsschutzes weit über die konkret betroffene Konstellation Vertragsarzt versus ermächtigter Arzt hinaus angestoßen.

II. Ausgangslage Nach § 95 Abs. 1 Satz 1 SGB V nehmen an der vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Ärzte und zugelassene medizinische Versorgungszentren sowie ermächtigte Ärzte und ermächtigte ärztlich geleitete Einrichtungen teil. Die Zulassung der freiberuflich in eigener Praxis tätigen Vertragsärzten erfolgt nach § 95 SGB V iVm §§ 19 ff. der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (ÄrzteZV). Krankenhausärzte mit abgeschlossener Weiterbildung können gemäß § 116 Satz 1 SGB V, § 31 a Ärzte-ZV vom Zulassungsausschuss zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten ermächtigt werden,. Die Ermächtigung ist nach § 116 Satz 2 SGB V, § 31 a Abs. 1 Satz 2 Ärzte-ZV nur zu erteilen, soweit und solange eine ausreichende ärztliche Versorgung der Versicherten ohne die besonderen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden oder die Kenntnisse von Krankenhausärzten nicht sichergestellt ist. Sie ist gegenüber der Zulassung eine nachrangige Form der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung5. Das Bundessozialgericht (BSG) hat seit 1991 in ständiger Rechtsprechung eine Anfechtungsbefugnis bereits zugelassener Ärzte gegen Ermächtigungen Dritter nur ausnahmsweise bei Willkürentscheidungen der Zulassungsgremien angenommen6. Den Rechtsvorschriften, die der Erteilung der Ermächtigung zugrunde liegen, sei eine Schutzwirkung zugunsten des einzelnen niedergelassen Arztes nicht zu entnehmen. Sie seien nicht dazu bestimmt, eine wirtschaftlich ungefährdete kassenärztliche Tätigkeit zu sichern. Eine Schutzwirkung zugunsten des niedergelassenen Arztes entfalte auch der gesetzlich in § 116 Satz 2 SGB V und § 31a Abs. 1 Satz 2 Ärzte-ZV statuierte Vorrang der niedergelassenen Ärzte bei der ambulanten Versorgung der gesetzlich Versicherten nicht. Schließlich ergäben sich auch keine Abwehrrechte aus dem Mitgliedschaftsverhältnis des Vertragsarztes zu seiner Kassenärztlichen Vereinigung. Der Wertgehalt des Art. 12 Abs. 1 GG verlange aber eine Auslegung der Vorschriften der § 116 SGB V, § 31 a Ärzte-ZV dahin, dass die Zulassungsgremien auf schwere Beeinträchtigungen der niedergelassenen Vertragsärzte Rücksicht zu ___________ 5

Vgl BSG SozR 3-2500 § 116 Nr. 24. BSGE 68, 291 ff. = SozR 3-1500 § 54 Nr. 7; SozR 3-1500 § 54 Nr. 30; Nr. 40; BSGE 90, 207 = SozR 3-1500 § 54 Nr. 47; SozR 3-2500 § 101 Nr. 4; zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. Kingreen aaO S. 51 ff. 6

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nehmen hätten. Für den Fall willkürlicher Erteilung von Ermächtigungen sei daher eine Anfechtungsbefugnis niedergelassener Vertragsärzte anzuerkennen7.

III. Der Beschluss des BVerfG Diese Rechtsprechungspraxis hat das BVerfG im Beschluss vom 17.8.2004 verworfen, weil die Zulassung einer defensiven Konkurrentenklage nur im Fall besonders schwerer materieller Mängel der angefochtenen Entscheidung Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht gerecht werde. Dem in § 116 Satz 2 SGB V und § 31a Abs. 1 Satz 2 Ärzte-ZV gesetzlich angeordneten Vorrang der niedergelassenen Vertragsärzte komme im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG vor dem Hintergrund restriktiver Bedarfsplanung und limitierter Gesamtvergütungen auch drittschützende Wirkung zu. Die Versorgung der gesetzlich Versicherten als hohes Gut von öffentlichem Interesse legitimiere die Regulierung der vertragsärztlichen Versorgung mit den daraus resultierenden Beschränkungen der Berufsausübungsfreiheit der Leistungserbringer. Das Gemeinwohlinteresse überlagere aber nicht das Eigeninteresse der Berufsangehörigen. Die Vertragsärzte und sonstigen Leistungserbringer würden durch jede Öffnung ihres gesetzlich regulierten Marktes für Dritte belastet. Die Ermächtigung eines Krankenhausarztes derselben Fachrichtung und Qualifizierung greife in die Berufsausübungsfreiheit eines Vertragsarztes ein, der in demselben räumlichen Bereich die gleichen Leistungen anbiete, indem sie die Erwerbsmöglichkeiten über das dem Vertragsarztrecht immanente Maß hinaus einschränke. Der Vertragsarzt konkurriere dann nicht mehr nur mit anderen Vertragsärzten, mit denen er in freiem Wettbewerb stehe, sondern mit Krankenhausärzten, denen die Krankenhäuser die sachlichen Mittel zur Verfügung stellten und die ihren Lebensunterhalt aus einer abhängigen Beschäftigung bestreiten. Bei einem regulierten Marktzugang könnten auch Einzelentscheidungen, die das erzielbare Entgelt beeinflussen, die Freiheit der Berufsausübung beeinträchtigen. Ob sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhten und durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt seien, müsse wegen ihrer Grundrechtsrelevanz gerichtlicher Überprüfung unterliegen. Zwar gewähre Art. 12 Abs. 1 GG keinen Schutz vor Konkurrenz. Es bestehe auch kein Rechtsanspruch der Vertragsärzte auf die Sicherung einer wirtschaftlich ungefährdeten Tätigkeit. Eine Grundrechtsbeeinträchtigung könne aber vorliegen, wenn durch Einzelakte erhebliche Konkurrenznachteile im Zusammenhang mit staatlicher Planung und der Verteilung staatlicher Mittel entstünden. ___________ 7

SozR 3-1500 § 54 Nr. 40 S. 85.

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Die Berufsausübung des Vertragsarztes finde in einem staatlich regulierten Markt statt. Sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG werde im Interesse der Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung in vielfältiger Weise eingeschränkt. Zur Sicherung von Qualität und Wirtschaftlichkeit müsse er Einschränkungen seines Behandlungsspektrums ebenso hinnehmen wie Begrenzungen seiner Niederlassungsfreiheit, seiner Fallzahlen und seiner Vergütung. Komme es durch hoheitliche Maßnahmen zu Eingriffen, die nicht an dem Gemeinwohlbelang der Sicherstellung der Versorgung der gesetzlich Versicherten ausgerichtet seien und die zu einer Verwerfung der Konkurrenzverhältnisse führen könnte, könnten die im System eingebundenen Leistungserbringer in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt sein. Die Einbindung der Vertragsärzte in das System der gesetzlichen Krankenversicherung, das ihnen den Vorrang gegenüber anderen Ärzten garantiere, korreliere mit dem Anspruch auf Rechtsschutz bei Vernachlässigung der gesetzgeberischen Entscheidung durch die Zulassungsgremien. Der Grundrechtsschutz sei nicht etwa deshalb hinreichend abgesichert, weil die Zulassungsgremien paritätisch mit Vertretern der Krankenkassen und der Ärzte besetzt seien. Schließlich begegne die verfahrensrechtliche Absicherung der Vorrangstellung der Vertragsärzte unter dem Gesichtspunkt der Prozesspraktikabilität keinen Bedenken. Sofern eine Ermächtigung eine Vielzahl niedergelassener Ärzte berühre, bestehe nach § 75 Abs. 2 a SGG die Möglichkeit, in einem vereinfachten Verfahren über die Beiladung zu entscheiden. Im Hinblick auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sei auch nicht zu besorgen, dass die Möglichkeit der Drittanfechtung zu einer Beeinträchtigung der Versorgung der Versicherten führe.

IV. Rezeption des Beschlusses in der Rechtsprechung des BSG Das BSG hat in dem vom BVerfG entschiedenen Fall die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen8. In einer Entscheidung vom 7.2.2007 hat das BSG dann im Einzelnen dargelegt, welche Konsequenzen es für seine Rechtsprechung aus dem Beschluss des BVerfG zieht9. Bemerkenswert ist dabei zunächst die Betonung, dass sich eine Befugnis zur Abwehr eines Konkurrenten nur aus einschlägigen einfach-rechtlichen Regelungen ergeben könne. Die Frage, ob den einschlägigen Regelungen drittschützende Wirkung zukomme, ordnet das BSG sodann in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs, sondern ___________ 8

Urteil vom 28.9.2005, ZMGR 2005, 321. SozR 4-1500 § 54 Nr. 10; die Verfassungsbeschwerde hiergegen – 1 BvR 1514/07 – wurde nicht zur Entscheidung angenommen. 9

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der Begründetheit zu. Unzulässig sei ein Rechtsbehelf nur dann, wenn durch den angefochtenen Verwaltungsakt offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise Rechte des Klägers verletzt sein könnten. Das bedeutet in zweierlei Hinsicht eine Abkehr von der bisherigen Sichtweise, hat doch das BSG selbst in seiner früheren Rechtsprechung die Klagebefugnis im Fall einer willkürlichen Entscheidung aus dem Wertgehalt des Art. 12 GG hergeleitet. Auch der Beschluss des BVerfG verhält sich zur Klagebefugnis, die im konkreten Fall im Interesse der Absicherung des Grundrechtschutzes bejaht wurde. Die vom BSG vorgenommene Aufspaltung entlastet einerseits die Zulässigkeitsprüfung, der Schwerpunkt der Prüfung der Drittbetroffenheit wird in die Begründetheit verlagert. Andererseits wird die Zulässigkeit dadurch erheblich weiter gefasst, als wenn die Frage des Drittschutzes bereits in diesem frühen Stadium geklärt wird. Ob eine drittschützende Wirkung besteht, bleibt auch – zumindest teilweise –, nämlich unter dem Gesichtspunkt, ob sie „offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise“ gegeben ist, stets Teil der Zulässigkeitsprüfung. Im Rahmen der Begründetheit nimmt das BSG eine Anfechtungsberechtigung dann an, wenn – erstens – der Status des anfechtenden Vertragsarztes Vorrang vor demjenigen hat, der durch den Verwaltungsakt dem begünstigten Arzt eingeräumt wird bzw. eingeräumt werden soll und – zweitens – der Anfechtende im selben räumlichen Bereich die gleichen Leistungen wie der Begünstigte anbietet10. Den Hauptanwendungsfall für das erste Erfordernis sieht das BSG darin, dass Krankenhausärzten der Zugang zum System der vertragsärztlichen Versorgung nach § 116 Satz 2 SGB V nur nachrangig gewährt wird. Mit dem Erfordernis eines Vorrang-Nachrang-Verhältnisses sei zugleich klargestellt, dass für die Berechtigung zur Anfechtung weder die Verletzung nur wirtschaftlicher Interessen ausreiche noch die Verletzung von Rechtssätzen, die lediglich Reflexwirkung haben. Soweit das BVerfG auf die Schmälerung von Verdienstmöglichkeiten im vertragsärztlichen Vergütungssystem durch den Hinzutritt weiterer Ärzte hingewiesen habe, reiche dieser Gesichtspunkt für die Berechtigung zur Anfechtung nicht aus. Das BVerfG habe diesen weiten Rahmen dahin eingeschränkt, dass der betroffene Arzt die gleichen Leistungen im selben räumlichen Bereich anbieten müsse. In dem zur Entscheidung stehenden Fall hat das BSG eine Anfechtungsberechtigung verneint, weil die angegriffene Dialysegenehmigung nicht den Zugang zur vertragsärztlichen Versorgung betreffe, sondern dem Begünstigten nur einen qualifikationsabhängigen weiteren Leistungsbereich erschließe. Der Erteilung einer Dialysegenehmigung komme eine berufsregelnde Tendenz im Verhältnis zu bereits tätigen Vertragsärzten nicht zu. Das BSG räumt damit ___________ 10

SozR 4-1500 § 54 Nr. 10 RdNr 16.

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ausdrücklich nur Statusgewährungen Grundrechtsrelevanz ein. Eine Konkurrentenklage käme demnach z.B. bei einer bedarfsabhängig zu erteilenden Genehmigung zur Erbringung bestimmter Leistungen wie bei der Zulassung von Internisten ohne Schwerpunktbezeichnung zu fachärztlichen Leistungen nach § 73 Abs. 1a Satz 3 SGB V nicht in Betracht11. Mit einer weiteren Entscheidung vom 17.10.2007, in der es um die Ermächtigung einer Krankenhausärztin zur Erbringung strahlentherapeutischer Leistungen ging, hat das BSG „denselben räumlichen Bereich“, auf den im Beschluss des BVerfG abgestellt wird, dahin konkretisiert, dass der Drittschutz in räumlicher Hinsicht so weit reiche, wie in einem real existierenden Teilmarkt Anbieter gleichartiger Leistungen in wesentlichem Umfang um die Versorgung derselben Patienten konkurrieren und deshalb für den niedergelassenen Arzt im Wettbewerb bedeutsame Einkommenseinbußen infolge zusätzlich erteilter Ermächtigungen zu besorgen seien12. Das BSG beschränkt damit die drittschützende Wirkung nicht auf solche niedergelassenen Ärzte, die in demselben regionalen Planungsbereich wie der ermächtigte Krankenhausarzt tätig sind. Es verweist insofern darauf, dass das Bedarfsplanungsrecht nicht zur Abbildung der realen Wettbewerbsbeziehungen unter den Leistungserbringern, sondern zur Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Versicherten vorgegeben werde. Außerdem könne bereits deshalb nicht auf das Bedarfsplanungsrecht abgestellt werden, weil für etliche Facharztgruppen die Bedarfsplanung keine Anwendung finde. Dass die Feststellung einer solchen Wettbewerbssituation gesteigerte Anforderungen an die Ermittlungsarbeit der Zulassungsinstanzen13 wie der Gerichte stellt, zeigen die Ausführungen des BSG zur Zurückverweisung an das Sozialgericht im konkreten Fall. Für die Frage, ob eine reale Konkurrenzsituation von wesentlichem Umfang hinsichtlich gleicher Leistungen existiert, ist danach zu untersuchen, welchen räumlichen Einzugsbereich ein niedergelassener Vertragsarzt einerseits und ein zu ermächtigender Arzt andererseits abdeckt und ob tatsächlich relevante Einbußen aufgrund der Ermächtigung zu besorgen sind. Die Ermittlungen dürften sich besonders dort als schwierig erweisen, wo eine erstmals zu erteilende Ermächtigung im Streit und kein Rückgriff auf die Daten vergleichbarer Ermächtigungen möglich ist. Nach der Rechtsprechung des BSG ist dann auf der Grundlage einer Analyse der konkreten örtlichen Verhältnisse in wertender Betrachtung eine Prognose über den vom ermächtigten Arzt voraussichtlich realisierbaren Einzugsbereich zu treffen. Ein reales Konkurrenz___________ 11 Eine Anfechtungsberechtigung bejaht Beeretz, Konkurrenzschutz bei Zulassungen, ZMGR 2005, 311, 316. 12 BG KA 42/02 R, zur Veröffentlichung vorgesehen in BSGE u. SozR 4. 13 Vgl. hierzu Steinhilper, Die „defensive Konkurrentenklage“ im Vertragsarztrecht, MedR 2007, 469, 471.

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verhältnis nimmt das BSG dann an, wenn die durchschnittliche Zahl der vom ermächtigten Krankenhausarzt mutmaßlich mit den gleichen Leistungen behandelten Patienten aus dem Einzugsbereich der Vertragsarztpraxis 5 % der durchschnittlichen Gesamtfallzahl dieser Praxis überschreitet. Aus dem Beschluss des BVerfG vom 17.8.2004 folgert das BSG auch, dass die Zulassungsgremien ggfls eine Ermächtigung nach der örtlichen Herkunft der Patienten räumlich zu beschränken haben, um eine grundrechtsrelevante Einschränkung der vorrangig zur ambulanten Versorgung der Versicherten berufenen Vertragsärzte zu vermeiden.

V. Folgerungen für weitere Konstellationen Die Entscheidung des BVerfG betraf den „klassischen“ Fall des niedergelassenen Arztes gegenüber dem ermächtigten bzw. zu ermächtigenden Arzt. Eröffnet wurde damit aber auch die Diskussion über die Auswirkungen dieser Entscheidung auf andere Bereiche14. In einem obiter dictum bereits als parallel zu beurteilen hat das BSG den Fall der Sonderbedarfzulassung nach § 101 Abs. 1 Nr. 3 SGB V iVm § 24 Bedarfsplanungs-Richtlinie-Ärzte genannt, die bedarfsabhängig erteilt wird und damit als nachrangig gegenüber der Zulassung anzusehen ist15. Unschwer lässt sich auch eine vergleichbare Situation im Fall des § 116a SGB V – ambulante Behandlung durch Krankenhäuser bei Unterversorgung – erkennen16, der allerdings von geringer praktischer Bedeutung ist17. Auseinander gehen die Meinungen bei § 116b SGB V. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift können Krankenkassen mit zugelassenen Krankenhäusern Verträge für strukturierte Behandlungsprogramme nach § 137g SGB V schließen. Mangels Bedarfsabhängigkeit dieser Verträge wird ein Abwehrrecht des niedergelassenen Vertragsarztes allgemein verneint18. Durchaus unterschiedlich beur___________ 14

Zu den Reaktionen der Praxis vgl. Reiter, Rechtsprechungkompakt, GesR 2006, 16, der von wahrnehmbarer Verunsicherung der Zulassungsgremien nicht nur bei Entscheidungen über Ermächtigungsanträge spricht; vgl auch Steinhilper, MedR 2004, 682. 15 BSG SozR 4-1500 § 54 Nr. 10 RdNr. 24; vgl. auch Beeretz, ZMGR 2005, 311, 317; Steinhilper, MedR 2004, 682, 683; ders., MedR 2007, 469, 473; zur Sonderbedarfszulassung nach § 24 Satz 1 Buchst. e BedarfsplRL-Ä vgl. SG Marburg, GesR 2008, 157 ff.; zum Verhältnis Ermächtigung – Sonderbedarfszulassung vgl. auch SG München, Beschluss vom 13.3.2008 – S 43 KA 1015/07 ER. 16 So auch Steinhilper, MedR 2007, 469, 472. 17 Vgl. Wenner, Einbeziehung von Krankenhäusern in die ambulante ärztliche Versorgung, GesR 2007, 337, 339. 18 Vgl. Steinhilper, MedR 2007, 469,472; Wagener/Weddehage, Ausgewählte Rechtsfragen zur Zulassung von Krankenhäusern gem. § 116 b Abs. 2 SGB V, MedR 2007, 643, 648, ohne Differenzierung zwischen Absatz 1 und 2.

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teilt wird aber die Anfechtbarkeit von Entscheidungen nach § 116b Absatz 2 SGB V. Diese Vorschrift gibt den Krankenhäusern unmittelbaren Zugang zur ambulanten Versorgung im Hinblick auf die in dem Katalog nach Absatz 3 und 4 genannten hochspezialisierten Leistungen und besonderen Erkrankungen, wenn und soweit sie im Rahmen der Krankenhausplanung des Landes unter Berücksichtigung der vertragsärztlichen Versorgungssituation dazu bestimmt worden sind. Eine Bedarfsprüfung findet nach dem Willen des Gesetzgebers nicht statt19, einzige Voraussetzung ist nach § 116b Abs. 2 Satz 2 SGB V die Eignung des Krankenhauses20. Dennoch wird insofern die Auffassung vertreten, die „Bestimmung“ durch die zuständige Behörde könnten von solchen niedergelassenen Vertragsärzten angegriffen werden, die dieselben Leistungen für die „Katalogkrankheiten“ anbieten21. Ein einfach-rechtliches „Einfallstor“ für die Annahme einer Anfechtungsberechtigung könnte das im Gesetz verankerte Erfordernis der Berücksichtigung der vertragsärztlichen Versorgungssituation bieten. Nach der Rechtsprechung des BSG bedeutet „berücksichtigen“, dass Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden müssen und eine sachliche Auseinandersetzung mit ihnen zu erfolgen hat, aber nach pflichtgemäßer Abwägung davon abgewichen werden darf22. Das Berücksichtigungsgebot ist damit zwar weniger als der in einer Bedarfsabhängigkeit zum Ausdruck kommende Vorrang, macht aber dennoch deutlich, dass auch hier eine Rücksichtnahme auf die Interessen der bereits niedergelassenen Vertragsärzte zu erfolgen hat23. Zumindest die Klagebefugnis müsste bei konsequenter Umsetzung der vom BSG vorgenommenen Trennung zwischen Klagebefugnis und Anfechtungsberechtigung bejaht werden, weil eine Betroffen___________ 19

BT-Drucks 16/3100 S. 139. Vgl. dazu Stollmann, Zur Umsetzung des § 116b Abs. 2 SGB V nach Inkrafttreten des GKV-WSG, ZMGR 2007, 134 f. 21 Steinhilper, MedR 2007, 469, 472, der insoweit eine Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht für einschlägig hält; vgl. Barth/Hänlein Die Gefährdung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs.1 GG) niedergelassener Vertragsärzte durch Verträge nach § 116b Abs. 2 SGB V, Kurzgutachten im Auftrag des Berufsverbandes der niedergelassenen Hämatologen und internistischen Onkologen in Deutschland E.V., Stand: Mai 2005, S. 6, 7 zu § 116b SGB V a.F.; dies. in der Aktualisierung und Ergänzung des Kurzgutachtens, Stand August 2007, S. 19 ff.; Kurzgutachten und Aktualisierung abrufbar unter www.arztrechtplus.de. 22 BSGE 86, 126, 137 = SozR 3-2500 § 85 Nr. 37 S.298; BSGE 70, 285, 296 = SozR 3-2500 § 122 Nr. 3 S. 15. 23 Jaquet, Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Behandlung, Bayerisches Ärzteblatt 2008, 228, 229 folgert aus dem Berücksichtigungsgebot, dass zumindest bei erkennbarer Existenzgefährdung niedergelassener Vertragsärzte eine Berechtigung nicht erteilt werden könne. So auch Barth/Hänlein, Aktualisierung, S. 3 ff.; anders Stollmann, Anmerkung zum Urteil vom 7.2.2007, SGb 2008, 40, 42; ders., ZMGR 2007, 134, 135; zweifelnd Weimer/Multmeier, § 116 b II SGB V – Defensive Konkurrentenklage der Vertragsärzte?, AZR 2008, 31, 37. 20

Konkurrentenrechtsschutz im Vertragsarztrecht

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heit von Vertragsärzten in eigenen Rechten angesichts des Wortlauts und der in der Literatur vertretenen Auffassung jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen erscheint24. Der argumentative Ansatz, dass mit dem im Rahmen der Krankenhausplanung „bestimmten“ Krankenhaus einem Vertragsarzt eine Konkurrenz erwächst, die nicht den gleichen Wettbewerbsbedingungen unterliegt wie er selbst25, ist auch nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Die Vergütung der Leistungen des Krankenhauses hat zwar nach § 116b Abs. 5 SGB V der Vergütung vergleichbarer vertragsärztlicher Leistungen zu entsprechen. Die Kostenseite der wirtschaftlichen Tätigkeit ist indes von den Besonderheiten der Krankenhausfinanzierung geprägt. Im Unterschied zu der vom BVerfG am 17.8.2004 entschiedenen Konstellation hat der Gesetzgeber aber hier die Krankenhäuser grundsätzlich gleichberechtigt in die ambulante Versorgung einbezogen. Er hat einen weiteren Markt für die von ihm selbst näher bezeichneten Bereiche26 eröffnet. Dadurch, dass die Vergütung in den Fällen des § 116 b SGB V nicht aus der vertragsärztlichen Gesamtvergütung erfolgt und keine Bedarfsprüfung stattfindet, stehen die nach § 116b Abs. 2 SGB V bestimmten Krankenhäuser außerhalb des vertragsärztlichen Zulassungs- und Vergütungssystems27. Der Gesetzgeber hat quasi einen Parallelmarkt für bestimmte ambulante Leistungen geschaffen, der in Teilbereichen anderen Kautelen als denen des Vertragsarztrechtes unterliegt. Er hat durch die Einbeziehung des stationären Sektors in die ambulante Versorgung bewusst auch eine Konkurrenzsituation zwischen Bereichen mit unterschiedlichen Marktmechanismen geschaffen. Den Besonderheiten der gesetzlich durchstrukturierten Marktbedingungen, in denen der Vertragsarzt sich bewegt, hat der Gesetzgeber nur noch durch die „weiche“ Formulierung des Berücksichtigungsgebotes Rechnung getragen, wobei er selbst in der Begründung sich jedes Hinweises zum Verständnis dieser Formulierung enthält. Das BVerfG hat zwar auch im Beschluss vom 17.8.2004 betont, dass Art. 12 Abs. 1 GG den Vertragsarzt nicht vor einer Veränderung der Marktverhältnisse schützt. Eine Bestandsgarantie für die vertragsärztliche Versorgung in freiberuflich niedergelassener Form gibt es nicht. Art. 12 Abs. 1 GG ___________ 24

Vgl. Weimer/Multmeier, AZR 2008, 31, 33. Barth/Hänlein, Kurzgutachten, S. 6, 7. 26 Der allerdings sehr weit ist, vgl Wenner, GesR 2007, 337, 342: „konturenlos weit“; a.A. Weimer/Multmeier, 31, 37. 27 Vgl. Szabados, Wettbewerb auf regulierten Märkten: Konkurrentenklagen im Gesundheitsrecht, GesR 2007, 97, 102; Stollmann, SGb 2008, 40, 41; Vollmöller, Die Vereinbarkeit der Öffnung der Krankenhäuser für ambulante Leistungen (§ 116 b II SGB V) mit der Berufsfreiheit der niedergelassenen Vertragsärzte (Art. 2 I GG), NZS 2006, 572, 574. 25

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sichert die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen, vermittelt aber keinen Anspruch auf die Sicherung auch künftiger Erwerbsmöglichkeiten28. Allerdings ist die Frage berechtigt, bis zu welcher Grenze der Gesetzgeber einen Markt mit ungleichen Wettbewerbsbedingungen ausgestalten darf29. Es verstärken sich angesichts der Öffnung des ambulanten Sektors die Bedenken gegen die Legitimität restriktiver Regulierungen für die Tätigkeit der niedergelassenen ärztlichen Leistungserbringer30. Bei Fortbestand dieser Restriktionen erscheint die Forderung berechtigt, die damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen bei der Auslegung des § 116b Abs. 2 SGB V zu beachten. Ob Verfassungsbeschwerden niedergelassener Vertragsärzte unmittelbar gegen § 116b SGB V die Zulässigkeitshürde nehmen oder zumindest eine Klarstellung der Verfahrensrechte der Vertragsärzte herbeiführen wird, ist derzeit offen, darf aber eher bezweifelt werden.31 Vom Gesetzgeber gewollte Konkurrenz ist den Vertragsärzten außerdem erwachsen mit den medizinischen Versorgungszentren. Dabei handelt es sich nach § 95 Abs. 1 Satz 2 SGB V um fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen in das Arztregister eingetragene Ärzte als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind. Der Gesetzgeber wollte Wettbewerb zwischen verschiedenen Versorgungsformen ermöglichen mit dem Ziel, dass Patienten jeweils in der ihren Erfordernissen am besten entsprechenden Versorgungsform versorgt werden32. Den Krankenhausträgern ermöglicht der Gesetzgeber die optimale Nutzung ihrer personellen Ressourcen, indem ein Arzt gleichzeitig als angestellter Arzt im Krankenhaus und als angestellter Arzt des medizinischen Versorgungszentrums in Trägerschaft des Krankenhauses tätig werden kann33. Die Zulassung von Krankenhäusern als Gründer von medizinischen Versorgungszentren entspricht dem Willen des Gesetzgebers, den Markt der ambulanten ärztlichen Versorgung zunehmend für die Krankenhäuser zu öffnen. Die medizinischen Versorgungszentren sind von einer Reihe von Restriktionen freigestellt, von denen niedergelassene Vertragsärzte betroffen sind34. Auch hier wird das Gebot der Einräumung gleicher rechtlicher Chancen zur Teilnah___________ 28

BVerfGE 115, 205, 229; 106, 298, 304. Zum Gesichtspunkt der Wettbewerbsgleichheit als Bestandteil der Berufsfreiheit Schnapp, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl. 2006, S. 85 f. 30 So zieht Wenner, GesR 2007, 337, 342 die verfassungsrechtliche Legitimität der Bedarfsplanung in Zweifel. 31 Zu der Subsidiaritätsrechtsprechung des BVerfG vgl. Schnapp, NZS 2004, 449, 450. 32 BT-Drucks 15/1525 S. 74. 33 Vgl. BT-Drucks 16/2474 S. 29, dazu Wenner, GesR 2007, 337, 344 f. 34 Vgl. Schnapp, Handbuch des Vertragsarztrechts, S. 85; ders., NZS 2004, 449; Steinhilper, MedR 2004, 682, 684 spricht von „Platzvorteilen“. 29

Konkurrentenrechtsschutz im Vertragsarztrecht

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me am Wettbewerb infrage gestellt35. Gleichwohl wird eine Anfechtungsberechtigung niedergelassener Vertragsärzte überwiegend abgelehnt36. Gemessen an dem vom BSG aufgestellten Anforderungsprofil dürfte dies bereits deshalb zutreffend sein, weil das medizinische Versorgungszentrum nach der gesetzlichen Konzeption gegenüber dem Vertragsarzt nicht nachrangig ist37. Außerdem handelt es sich aber um ein Konstrukt, dessen sich auch bereits zugelassene Vertragsärzte bedienen können. Der Gesetzgeber hat insofern auch für sie eine neues Handlungsinstrument zur Verfügung gestellt, von dem die Vertragsärzte durchaus Gebrauch machen38. Im übrigen ist eine differenzierende Betrachtungsweise angezeigt. So dürfte etwa eine Sonderbedarfszulassung in einem MVZ ebenso anfechtbar sein wie außerhalb eines Versorgungszentrums.

VI. Ausblick Der Beschluss des BVerfG vom 17.8.2004 und die daran anknüpfende Rechtsprechung des BSG haben dem Thema Konkurrentenklage im Vertragsarztrecht neue Impulse gegeben. Die denkbaren Fallkonstellationen für eine Konkurrentenklage jenseits der „klassischen“ Konkurrenzlage von niedergelassenem Vertragsarzt und ermächtigtem Krankenhausarzt sind vielgestaltig, der Phantasie sind hier kaum Grenzen gesetzt39. Dabei zeigt die Diskussion den dünnen Grat zwischen dem durch Art. 12 Abs. 1 GG vermittelten Rechtsschutz im regulierten Markt einerseits und dem von Art. 12 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht vermittelten Schutz vor Konkurrenz andererseits. Nach jeder – der zahlreichen – Umformungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen stellt sich erneut die Frage, was den vom BVerfG aufgezeigten regulierten Markt tatsächlich ausmacht und wo die Legitimation für die Regulierung zu finden ist. Erst nach einer solchen Analyse kann dann beurteilt werden, wo eine zulässige Veränderung der allgemeinen Marktbedingungen stattfindet oder Art. 12 Abs. 1 GG die (verfahrensrechtliche) Absicherung gleicher Wettbewerbsbedingungen fordert. Sowohl das BSG als auch das BVerfG dürften in nächster Zeit gefor___________ 35

Vgl. Schnapp, Handbuch des Vertragsarztrechts, S. 85; ders., NZS 2004, 449, 450. Beeretz, ZMGR 2005, 311 317; Steinhilper, MedR 2007, 469, 473. 37 Vgl. Beeretz, ZMGR 2005, 311, 317, Steinhilper, MedR 2007, 469, 470. 38 Nach Erhebungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung waren am Ende des 3. Quartals 2005 71 % aller Gründer von medizinischen Versorgungszentren Vertragsärzte: MVZ-Survey 2005, 1. Quartal 2006, abrufbar unter www.kbv.de. 39 Instruktiv und erschöpfend zu allen Fallkonstellationen Clemens, in: DAI (Hrsg.), Öffentliches Gesundheitsrecht, Bochum 2007, S. 104 ff., aktualisiert auf den Stand 4.4.2008, Vortragspapier für ein Symposion des „Anwälte für Ärzte e.V.“ am 4./5.4.2008 in Köln. 36

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dert sein, die mit dem Beschluss vom 17.8.2004 eingeleitete Entwicklung fortzuführen. Angesichts der Dynamik des Vertragsarztrechts, insbesondere der zunehmenden Öffnung der ambulanten Versorgung für den Krankenhaussektor, darf die rechtliche Situation – mit einem Wort unseres hochverehrten Jubilars – als „entwicklungsoffen“40 bezeichnet werden.

___________ 40

Schnapp, NZS 2004, 449, 451.

Verzugs- und Prozesszinsen im Sozialrecht Von Ingwer Ebsen, Frankfurt

I. Die Ausgangslage: Divergenzen zwischen sozialund verwaltungsgerichtlicher Praxis Es war über Jahrzehnte ein – zwar nicht unbestrittener1, aber in der Praxis allgemein geltender – Grundsatz, dass Verzugs- und Prozesszinsen im Sozialrecht, soweit dieses prozessual in die Hände der Sozialgerichtsbarkeit gelegt war, nur insoweit in Betracht kamen, als es entweder eine entsprechende spezifische Anspruchsgrundlage2 oder eine atypische Ausnahmekonstellation3 gab. Diese – auch schon aus der Zeit vor Schaffung der Sozialgerichtsbarkeit stammende4 – Position vor allem sozialversicherungs- und entschädigungsrechtlicher Rechtsschutzpraxis hatte das BSG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1965 als Ergebnis gewohnheitsrechtlicher Verfestigung bezeichnet.5 ___________ 1

Siehe etwa Martens, NJW 1965, 1703 ff. Gesetzliche Anspruchsgrundlage für die Verzinsung von Sozialleistungsansprüchen ist seit 1978 insbesondere § 44 SGB I, eine Vorschrift, welche man als eine pauschale, einer Verzugszinsenregelung ähnliche Norm ansehen kann. Entsprechende allgemeine Bestimmungen enthalten § 27 SGB IV für die Rückforderung von Sozialversicherungsbeiträgen, § 50 Abs. 2a SGB X für die Rückforderung bestimmter Sozialleistungen und § 108 Abs. 2 SGB X für die Erstattungsansprüche von typischerweise nachrangig zuständigen Leistungsträgern. Weitere ähnlich Zinsregelungen finden sich im Fachrechts, so in § 28r SGB IV für Verzug und sonstige Verfehlungen im Zusammenhang mit dem Einzug von Beiträgen und der Prüfung bei den Arbeitgebern, in § 17 Abs. 1 BPflV, § 11 Abs. 1 KHEntgG und § 17a Abs. 5 KHG für Verzinsungsvorgaben an die Vertragsparteien der Krankenhausentgeltverträge und in § 30 Abs. 5 Renten-Service-VO für verspätet gezahlte Vorschüsse der Rentenversicherungsträger an den Renten Service der Post. Umgekehrt enthält etwa § 89f Abs. 2 SGB VIII einen expliziten Ausschluss von Verzugszinsen für den Kostenerstattungsanspruch des Leistungsträgers. 3 So etwa BSGE 64, 225 (230 ff.) für den Ausgleichsanspruch aus § 85 SVG. 4 Zur Rechtslage und zur Praxis aus der Zeit vor der Bundesrepublik siehe BSGE 22, 150 (151 ff.); dort auch zur Haltung des RVA, welches allerdings für Prozesszinsen mangels eigener Gerichtsqualität eine doppelte Analogie benötigt hätte. 5 BSGE 24, 118 (121 f.). 2

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Insbesondere lehnte es das BSG durchgehend ab, die Regelungen des BGB über Verzugs- und Prozesszinsen in §§ 288 und 291 BGB – im Wege der Analogie oder gar als Ausdruck allgemeiner, das Zivilrecht und das öffentliche Recht umfassender Rechtsgrundsätze anzuwenden. Diese Linie der Rechtsprechung des BSG setzt sich bis in die heutige Zeit fort.6 Eine andere Entwicklung nahm die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte.7 Nach einigem Hin und Her zwischen Senaten des BVerwG8 bildeten sich für das nicht spezifischer Fachgerichtsbarkeit überantwortete öffentliche Recht folgende Grundsätze heraus: Sofern nicht aufgrund spezifischer gesetzlicher Regelung oder spezifischer in einem Sachbereich gegebener Besonderheiten etwas anderes gilt, sind Verzugszinsen für öffentlich-rechtliche Geldforderungen ausgeschlossen.9 Hingegen sind auf Antrag Prozesszinsen gemäß § 291 BGB zuzusprechen, wobei diese Norm als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes anzusehen ist.10 Allerdings bedarf es nach dem BVerwG für Prozesszinsen einer Leistungsklage, wobei auch eine Verpflichtungsklage auf Bewilligung einer klar bestimmbaren Summe ausreicht11, während im umgekehrten Fall einer Anfechtungsklage gegen einen Leistungsbescheid Prozesszinsen abgelehnt werden12. Sogar für das Sozialrecht hatte das BVerwG seine hinsichtlich Prozesszinsen vertretene grundsätzliche Position bei in seine Zuständigkeit fallenden Rechtsstreitigkeiten umgesetzt13 und damit klargemacht, dass das So___________ 6

Siehe etwa BSGE 29, 44 (54 f.); 35, 195 (203); 49, 227 (228 f.); 56. 116 (118, 120 f.); 71, 72 (73 ff.); BSG v. 19.9.2007 – B 1 KR 39706 R – juris-RegNr. 28038 (Rz. 27 ff.) jeweils auch mit Nachweisen aus der Literatur. 7 Hier sei nur am Rande darauf hingewiesen, dass sich für die dritte öffentlichrechtliche Fachgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit, aufgrund expliziten Bestimmungen der §§ 233 bis 239 AO, insbesondere der Grundregel des § 233 S. 1, die Rechtslage einfacher darstellt. 8 Siehe etwa BVerwGE 15, 78 (84 f.), wo Prozesszinsen in Abgrenzung zu anderen Senaten des BVerwG abgelehnt werden. 9 Siehe BVerwGE 21, 44 f.; 37, 239 (241 f.); 48, 133 (136); 58, 316 (326); 71, 48 (53). 10 Siehe BVerwGE 7, 95 (97); 11, 314 (318); 14, 1 (3 f.); 15, 78 (84 f.); 38, 49 (50 f.); 51, 287 (288); 58, 316 (326); 99, 53 (54); 108, 364 (368 f.); 115, 274 (293); BVerwG v. 10.4.2008 – 7 C 47/07 Rz. 28. Besonders deutlich zeigt sich die Gefestigtheit der Rechtsprechung des BVerwG im Urteil des 2. Senats vom 17. 6. 2004 – 2 C 34/02, welches in der vollständigen Urteilsbegründung in Rz. 45 die Standarderklärung enthält, der Anspruch auf Prozesszinsen beruhe auf der entsprechenden Anwendung von §§ 291, 288 BGB, während diese Passage in der amtlichen Sammlung (BVerwGE 121, 91-103) einfach weggelassen wurde. 11 BVerwGE 11, 314 (318); 15, 78 (85); 99, 53 (55); BVerwG, NJW 1998, 3368 f. 12 Siehe BVerwGE 37, 239 (242). 13 BVerwG v. 18. 5. 2000 - BVerwG 5 C 27.99, Rz. 22; BVerwG, Buchholz 436.0 § 103 BSHG Nr. 2; BVerwGE 114, 57 (61) m. Anm. von Reyels, jurisPR-SozR 2/2007 Anm. 6.

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zialrecht als solches nach seiner Auffassung keine fachrechtlichen Spezifika enthalte, welche zu einer Abweichung vom Grundsatz der Zuerkennung von Prozesszinsen Anlass böten. Während somit Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit hinsichtlich der grundsätzlichen Ablehnung von Verzugszinsen übereinstimmen, gibt es hinsichtlich Prozesszinsen eine Divergenz, welche die beiden Obersten Bundesgerichte nicht zum Anlass genommen haben, dies nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG vor den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zu bringen. Da das BVerwG klar von dem Grundsatz ausgeht, dass Prozesszinsen zu gewähren sind, wenn sich nicht ausnahmsweise etwas anderes explizit oder implizit aus dem Gesetz ergibt, während die geschilderte Rechtsprechung des BSG das Regel-Ausnahme-Verhältnis genau umgekehrt sieht, ist eine Divergenz kaum zu bestreiten, ohne dass es darauf ankommt, dass die Gerichte jeweils verschieden Gesetze anwenden.14 Selbst wenn man aber äußerst restriktiv mit dem Tatbestandsmerkmal „abweichen“ im Sinne von § 2 Abs. 1 RsprEinhG umgeht15, bliebe doch die Divergenz hinsichtlich der Anwendung der unterschiedlichen Grundsätze auf die Erstattungsansprüche nach §§ 102 ff., wobei zu beachten ist, dass sich das BVerwG für das Zusprechen von Prozesszinsen nicht etwa auf § 108 Abs. 2 SGB X in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts vom 23.7.199616 gestützt hatte.

II. Ausdifferenzierungen innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit Inzwischen hat es eine Entwicklung innerhalb der Rechtsprechung des BSG gegeben, welche dort zu einer Auffächerung der Ansichten zu Prozess- und sogar zu Verzugszinsen geführt hat, wobei zwischen den Senaten des BSG immerhin versucht wird, durch Distinktion den Eindruck von Divergenzen und damit der Vorlagepflicht an den großen Senat (§ 41 SGG) zu vermeiden. Den Anfang machte eine Entscheidung des 3. Senats des BSG aus dem Jahre 2004 zu den Rechtsbeziehungen zwischen Krankenhaus und Krankenkasse.17 Das Krankenhaus hatte für eine von den Gerichten mangels Übernachtung als ambulant angesehene Behandlung keinen vertraglichen Vergütungsanspruch wegen ambulanten Operierens nach § 115b SGB V, da es keine Mitteilung nach § 115b Abs. 2 S. 2 SGB V abgegeben hatte. Allerdings hatte die beklagte Krankenkasse in prozesserledigender Weise einen Bereicherungsanspruch analog § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alternative BGB in der Höhe anerkannt, in welcher ___________ 14

Vgl. GemSenOGB, BSGE 35, 293 ff. Ein Beispiel dafür ist GemSenOGB, BVerwGE 77, 370 ff. 16 BGBl. I S. 1088. 17 BSGE 92, 223. 15

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der vertragliche Anspruch bestanden hätte. Für diesen Bereicherungsanspruch hat das BSG Prozesszinsen in analoger Anwendung von § 291 BGB zugesprochen und dabei argumentiert, wo für die vertraglichen Ansprüche das Gesetz sogar Verzugszinsen vorschreibe,18 gebe es keinen Grund, Prozesszinsen für den Bereicherungsanspruch zu verneinen. Sozialrechtliche Sonderregelungen, die der analogen Anwendung des § 291 BGB entgegenstünden, seien nämlich nicht ersichtlich. Abgesehen davon, dass der Bereicherungsanspruch, welchen das BSG zur Bejahung von Prozesszinsen auch selbst bejahen musste, durchaus konstruktive Anstrengungen zur Abgrenzung vom allgemeinen öffentlichrechtlichen Erstattungsanspruch und eine argumentative Auseinandersetzung mit dem Sinn und Zweck von § 115b Abs. 2 S. 2 SGB V verdient hätte, weicht der Senat insofern von der allgemeinen Rechtsprechung des BSG zu Prozesszinsen ab, als, wie oben dargelegt, nach dieser nicht besondere Gründe gegen eine analoge Anwendung des § 291 BGB nötig sind, sondern im Gegenteil bei Fehlen besonderer, nämlich gesetzlicher, Gründe für Prozesszinsen solche im Sozialrecht nicht in Betracht kommen. Der 6. Senat des BSG, der noch 1999 in völliger Übereinstimmung mit der allgemeinen Linie des Gerichts Prozesszinsen im Verhältnis zwischen einer Krankenkasse und einer Kassenzahnärztlichen Vereinigung abgelehnt hatte19, entschloss sich für die Rechtsbeziehungen zwischen Kassen und K(Z)Ven zu einer offenen und ausführlich begründeten Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung, welche nach dem Modell der Ankündigungsrechtsprechung20 für die Zukunft Geltung haben sollte, im vorliegenden Fall aber noch nicht zum Tragen kam. Für einen verspätet erfüllten Anspruch einer KV auf die Gesamtvergütung gegen eine Krankenkasse aus dem Gesamtvertrag nach §§ 83, 85 SGB V hat der Senat weiterhin Verzugszinsen mangels einer expliziten Anspruchsgrundlage und damit zugleich eine analoge Anwendung von § 288 BGB abgelehnt, jedoch grundsätzlich und mit Wirkung für die Zukunft Prozesszinsen für erfolgreiche Klagen auf die Gesamtvergütung bejaht. Für die Verneinung des Anspruchs auf Verzugszinsen musste sich der Senat mit der durch das GKVRefG 2000 v. 22.12.199921 eingefügten Regelung des § 69 S. 3 SGB V (inzwischen wegen des durch das GKV-WSG vom 26.3.200722 eingefügten neuen Satzes 2 Satz 4) auseinandersetzen, wonach für die Rechtsbeziehungen zwischen den Kassen und den Leistungserbringern die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches entsprechend gelten, soweit sie mit den Vorgaben des § 70 ___________ 18

Siehe dazu oben Fn. 2. BSG, SozR 3-2500 § 75 Nr. 11. 20 Dazu etwa Kanzler, Finanzrundschau 2008, 465 f.; grundsätzlicher zu dieser Technik Knödler/Daubner, BB 1992, 1861 ff. 21 BGBl. I S. 2626. 22 BGBl. I S. 378. 19

Verzugs- und Prozesszinsen im Sozialrecht

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SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten der Beteiligten nach dem Vierten Kapitel des SGB V vereinbar sind. Hierfür stützte sich der Senat im wesentlichen auf die bisherige Tradition und darauf, dass der Gesetzgeber des GKVRefG, dem diese Tradition bekannt gewesen sei, ganz andere Ziele mit der Änderung von § 69 SGB V verfolgt habe23 als die Einführung von Verzinsungen. Für Prozesszinsen war damit der Weg über § 69 S. 3 (inzwischen Satz 4) SGB V zu § 291 BGB ebenso abgeschnitten wie derjenige über § 61 S. 2 SGB X, welche Vorschrift bereits seit 1981 gilt, also auch schon in der Zeit der Ablehnung von Prozesszinsen im Sozialrecht. Es bedurfte also einer eigenständigen aus dem Sozialrecht selbst zu gewinnenden Begründung. Diese fand der Senat, der formal allerdings nun doch die Konstruktion der Analogie über § 61 S. 2 SGB V wählte24, in zwei selbständigen Argumentationen. Zum einen wird betont, dass die Ablehnung jeglicher nicht spezifisch gesetzlich oder vertraglich geregelter Zinsansprüche in sozialrechtlichen Beziehungen auch mit den die Leistungsträger einseitig belastenden Bestimmungen des SGG über Gerichtsgebühren und außergerichtlichen Kosten begründet worden sei, was nun aber in bestimmten Rechtsbeziehungen mit den Änderungen des SGG schon etwas durch das GSG, aber in vollem Umfang durch das 6. SGGÄndG v. 17. 8. 200125 entfallen sei. Nunmehr könne für die von § 197a Abs. 1 S. 1 SGG erfassten Streitigkeiten – also alle Streitigkeiten, in denen weder der Kläger noch der Beklagte als Versicherter, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderter Mensch oder als Sonderrechtsnachfolger dieser Personen beteiligt ist – die Ablehnung von Prozesszinsen nicht mehr auf die besonderen kostenrechtlichen Belastungen der Sozialleistungsträger gestützt werden. Im Gegenteil lege die Annäherung des Kostenrechts des SGG an dasjenige der VwGO für die davon erfassten Streitigkeiten auch eine Annäherung an die Rechtsprechung des BVerwG nahe. Zum andern – und das ist sicherlich die wichtigere, weil spezifischere Begründung – wird für die Honorarbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern auf die insbesondere durch die Wettbewerbsorientierung der GKV veränderte Interessen- und Wirtschaftslage hingewiesen. Es sei nicht mehr selbstverständlich, dass Zahlungszurückhaltungen und Rechtsstreite allein dem subjektiv wahrhaftigen Austragen von Meinungsverschiedenheiten dien___________ 23 Nämlich die „Klarstellung“ des öffentlich-rechtlichen Charakters aller Leistungserbringungsbeziehungen und damit zugleich der Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit für alle Rechtsstreitigkeiten in diesen Beziehungen. 24 Das ist genau genommen insofern problematisch, als der Anspruch der KÄV gegen die Kasse auf die Gesamtvergütung zwar aus dem Gesamtvertrag als Normsetzungsvertrag gegeben ist, aber dadurch nicht zu einem vertraglichen Anspruch wird. 25 BGBl. I S. 2144.

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ten. Auch wenn der Senat hier etwas vage bleibt, ist offenkundig, dass als Problem gesehen wird, Kassen könnten ohne Prozesszinsen in die Versuchung geraten, gewissermaßen „unternehmerisch“ zu kalkulieren, dass die Zahlungsverweigerung mit fadenscheinigen Argumenten ein „gutes Geschäft“ sein könne, während umgekehrt bei den KVen bzw. den von der Verteilung der Gesamtvergütung in ihrer Existenz abhängigen Vertragsärzten Kreditkosten anfielen. Angesichts dieser veränderten Konstellation – der Senat verweist auf „Auseinandersetzungen der letzten Jahre“ – sei eine Änderung der Position zu Prozesszinsen „von der Sache her geboten“. Mit einem anderen konstruktiven Ansatz setzt der 3. Senat des BSG seine eigene Rechtsprechung und diejenige des 6. Senats fort. In einer Serie von Entscheidungen zu den Beziehungen von Krankenkassen zu Rehabilitationseinrichtungen26, Apothekern27, häuslichen Kranken- und Altenpflegediensten28 sowie Erbringern von Heilmitteln29 entwickelt der Senat eine inzwischen gefestigte Rechtsprechung, wonach die Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern über jeweilige Leistungen zugunsten ihrer Versicherten30 zwar als nunmehr durchgängig öffentlich-rechtlich qualifiziert, aber über die Verweisungsnorm des § 69 S. 4 SGB V sowohl hinsichtlich der Qualifikation – also ist z.B. der Vertrag über die Abgabe von Arzneimitteln durch Apotheker an Versicherte ein öffentlich-rechtlicher Kaufvertrag nach § 433 BGB – als auch hinsichtlich Verzugs und Prozesszinsen in analoger Anwendung von Vorschriften des BGB behandelt werden.31 Ersichtlich geht der Senat davon aus, dass es ___________ 26

BSG v. 23.3.2006 – BSGE 96, 133; in diesem Fall waren allein Prozesszinsen strittig, so dass zu Verzugszinsen nichts zu sagen war; da die strittigen Ansprüche aus der Zeit vor Inkrafttreten des § 69 SGB V in der Fassung des GKVRefG 2000 (vgl. Fn. 20) stammten, stützte sich der Senat zur Begründung des Anspruchs auf Prozesszinsen im Wege der Analogie aus § 291 BGB nicht auf § 69 S. 3 (inzwischen Satz 4) SGB V, sondern auf § 61 S. 2 SGB X, ohne dass dies für den materiellen Kern der Argumentation relevant ist. 27 BSG v. 3.8.2006, SozR 4-2500 § 129 Nr. 3; hier wurden wegen verspäteter Erfüllung von Ansprüchen aus Arzneimittellieferungen Verzugszinsen in analoger Anwendung von § 288 S. 1 BGB aufgrund der Verweisungsvorschrift des § 69 S. 3 (inzwischen Satz 4) SGB V zugesprochen, so dass es auf Prozesszinsen nicht mehr ankam; es ist aber klar, dass der Senat im Prinzip auch den Anspruch aus § 291 BGB als gegeben ansah. 28 BSG v. 19.4.2007, Die Leistungen Beilage 2007, 252 ff (= jurisReg-Nr. 27872). 29 BSG v. 15.11.2007, jurisReg-Nr. 28163. 30 Dass solche Leistungen als auf jeweiligen konkreten Lieferungs- oder Dienstleistungsverträgen zwischen einer Krankenkasse und einem Leistungserbringer beruhend konstruiert werden, entsprach schon zuvor der gefestigten Rechtsprechung des Senats; siehe etwa ausführlich m.w.N. BSGE 79, 28. 31 Da diese Konstruktion ersichtlich auch für die Beziehungen zu Krankenhäusern gilt, sind die Vorschriften der §§ 17 Abs. 1 BPflV, 11 Abs. 1 KHEntgG und 17a Abs. 5 KHG mit ihren Verzinsungsvorgaben an die Vertragsparteien zwar nicht gänzlich obsolet, aber doch praktisch irrelevant geworden. Die betroffenen Leistungserbringer haben

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generell in den Leistungserbringungsbeziehungen keine spezifischen Gründe gibt, die in der Tat konstruktiv einfache und naheliegende Analogie über § 69 S. 4 SGB V abzulehnen. Innerhalb des BSG ist die – unterschiedliche – Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur Verzinsung von Geldforderungen nicht unangefochten. In dem eingangs schon erwähnten Urteil des 1. Senats von 200732 werden Verzugs- und Prozesszinsen außerhalb expliziter Rechtsnormen oder Vertragsregeln weiterhin strikt abgelehnt. Dabei bezieht sich der Senat auf die ständige Rechtsprechung des BSG und grenzt diese Position von derjenigen des 3. Senats33 und des 6. Senats34 mit dem schlichten Verweis darauf ab, dass „die spezifischen Gründe, die diesen Entscheidungen zu speziellen Regelungsbereichen zugrunde liegen, ... sich auf das Erstattungsverhältnis zwischen Sozialleistungsträgern nach §§ 102 ff. SGB X nicht übertragen“ ließen. Zur einschlägigen Rechtsprechung des BVerwG, welches Prozesszinsen in einem solchen Erstattungsstreit zugesprochen hatte35, wird unter Verweis auf die fehlende Auseinandersetzung des BVerwG mit der Rechtsprechung des BSG schlicht gesagt, diese Rechtsprechung sei „für den Bereich der Sozialversicherung ohne Belang“. Abgesehen von der nur schwer möglichen Distinktion gegenüber der Rechtsprechung des BVerwG36, lässt sich innerhalb des BSG eine Abgrenzung insofern vornehmen, als die jüngere Rechtsprechung des 3. und des 6. Senats konstruktiv jedenfalls auch auf § 61 S. 2 SGB X oder § 69 S. 3 (heute Satz 4) SGB V beruhte. Dies kann – zusammen mit den inhaltlichen Argumenten – als eine auf das Leistungserbringungsrecht der GKV bzw. auf Vertragsbeziehungen begrenzte Sonderregelung verstanden werden, welche den vom 1. Senat hochgehaltenen allgemeinen Grundsatz unberührt lässt. Insofern dürfte sich eine Pflicht zur Durchführung des Vorlageverfahrens an den Großen Senat nach § 41 SGG in der Tat verneinen lassen. Jedoch wird diese formale Sicht den in der Sache bestehenden Auffassungsunterschieden im BSG nicht gerecht. Jedenfalls was Prozesszinsen angeht, hat die Argumentation aus dem Wegfall der besonderen Last der Sozialleistungsträger, welcher nunmehr eine Sonderbehandlung derselben bei Prozesszinsen nicht mehr rechtfertige, nichts mit den Leistungserbringungsverhältnissen oder mit Vertragsbeziehungen als sol___________ keinen Grund, von §§ 288 und 291 BGB zu ihren Lasten abzuweichen, und es dürfte in etwaigen Schiedsverfahren auch schwerfallen, derartiges zu begründen. 32 BSG v. 19.9.2007 – B 1 KR 39706 R – juris-RegNr. 28038 (Rz. 27 ff.). 33 Eingegangen wird auf BSGE 92, 223; 96, 133 (= SozR 4-7610 zu § 291 Nr. 3) und auf BSG v. 19.4.2007 – B 3 KR 10/06 R, Die Leistungen Beilage 2007, 252 ff. 34 Eingegangen wird auf BSGE 95, 241. 35 BVerwGE 114, 57 (61); vgl. Fn. 13. 36 Siehe dazu schon bei Fn. 15.

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chen zu tun, sondern allenfalls mit der Besonderheit der Tatbestandsvoraussetzungen des § 197a SGG. Diese gelten aber auch in den Erstattungsverhältnissen der §§ 102 ff. SGB X. Im Übrigen hat die Betonung der belastenden Kostenregelungen, welche kompensatorisch das Privileg der Befreiung von Prozesszinsen rechtfertigen sollen, spätestens seit Einführung der Verzinsungspflicht aus § 44 SGB X die letzte Überzeugungskraft verloren. Gerade in den Rechtsbeziehungen, in denen die besondere kostenrechtliche Last ihren eigentlichen Grund hatte und in denen auch heute noch nach §§ 183, 184 SGG diese Rechtslage weiter gilt, hat der Gesetzgeber eine Zinsnorm als angemessen angesehen, welche Verzugszinsen ähnlicher ist als Prozesszinsen. Ähnliches lässt sich zu dem Argument sagen, welches – hier allerdings in der Tat beschränkt auf Krankenkassen als Schuldner – auf deren besondere Lage seit Einführung nahezu umfassenden Kassenwettbewerbs abstellt. Wenn man annimmt, Kassen würden unter den Bedingungen ihres Wettbewerbs untereinander ökonomisch kalkulieren, ob es finanziell günstiger ist, einen Prozess zu verlieren, als eine in Wahrheit unstrittige Forderung pünktlich zu begleichen, spielt es im Prinzip keine Rolle, ob es sich um Leistungserbringungsbeziehungen oder andere Rechtsverhältnisse wie z.B. Erstattungsansprüche handelt. Allenfalls die typische Höhe von Forderungen könnte insofern ein pragmatisches Argument für eine Konzentration auf Ansprüche von Leistungserbringern sein. Für die juristische Abgrenzung ist dies allerdings kaum überzeugend. Allein die Argumentationslinie des 3. Senats, der sich hinsichtlich Prozesszinsen dem 6. Senat anschließt37, zu Verzugszinsen ist ihrerseits auf Distinktion – und damit jedenfalls im Ergebnis – auch auf Abschottung gerichtet. Ausgehend davon, dass die Verträge, welche – anders als die Gesamtverträge im Vertrags(zahn)arztrecht – jeweils auf konkrete Lieferungen oder Dienste gerichtet sind, vor Einführung des § 69 S. 3 SGB V durch das GKVRefG 200038 überwiegend als privatrechtliche qualifiziert wurden, für welche die Verzugszinsenregelungen des BGB problemlos galten, leuchtet ein, dass es keinen plausiblen Grund gibt, hieran etwas zu ändern, und dass dann sinnvollerweise alle einschlägigen Verträge hinsichtlich der Verweisung des (heute) § 69 S. 4 SGB V auf das BGB einheitlich behandelt werden. Allerdings kann auch diese auf die Abgrenzung auch gegenüber der Rechtsprechung des 6. Senats des BSG zur Ablehnung von Verzugszinsen gerichtete Argumentation das Divergenzproblem nicht gänzlich ausräumen. Wie sollen etwa die neuen vertragswettbewerblichen Beziehungen zwischen Kassen und Leistungserbringern behandelt werden, welche – wie insbesondere im Falle der ___________ 37 38

Siehe BSGE 92, 223. Vgl. Fn. 21.

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integrierten Versorgung – quer zu den bisher vom 6. und vom 3. Senat zuständigkeitshalber „betreuten“ Rechtsverhältnissen stehen? Aber auch soweit es allein um Vertragsärzte geht wie z.B. bei Verträgen über hausarztzentrierte Versorgung nach § 73b SGB V oder über besondere ambulante ärztliche Versorgung nach § 73c SGB V, zeigt sich, dass die vordergründig an unterschiedlichen Rechtsbeziehungen, in Wahrheit aber an den Zuständigkeitsbereichen der Senate orientierten Distinktionen nicht wirklich tragen. Die vertragswettbewerblichen Rechtsbeziehungen zwischen Kassen und Ärzten wären in gleicher Weise den Konstruktionen des 3. Senats des BSG zugänglich wie diejenigen zwischen Kassen und Krankenhäusern, Apothekern oder Heilmittelerbringern. Nach dieser Konstruktion handelt es sich um öffentlich-rechtliche Dienstverträge im Sinne von § 611 BGB i.Vm. § 69 S. 4 SGB V. Für oder gegen die Anwendbarkeit der Vorschriften über Verzugs- und Prozesszinsen spricht so viel oder so wenig wie bei den unter § 69 SGB V fallenden Verträgen über nichtärztliche Leistungen.

III. Überlegungen zu einem System der Forderungsverzinsung im Sozialrecht

1. Ausgangslage aufgrund der gegebenen Gesetzeslage und Rechtsprechung Ausgehend von den wesentlichen gesetzlichen Vorschriften und der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wie sie sich aufgrund der geschilderten Urteile derzeit darstellt, gibt es im Sozialrecht die folgenden Verzinsungsstrukturen: Bereits bei den ausdrücklich für das Sozialrecht geltenden gesetzlichen Regelungen gibt es eine beachtliche, ein System nicht erkennen lassende Bandbreite der Verzinsungsregelungen. Im Leistungsrecht besteht wegen § 44 SGB I eine prinzipielle, Verzugszinsen ersetzende und gegenüber § 288 BGB tatbestandlich erheblich vereinfachte, gegenüber diesem inzwischen allerdings auch deutlich niedrigere39 allgemeine Verzinsungspflicht für Geldleistungen. Entsprechendes gilt nach § 28 Abs. 1 SGB IV für die Verzinsung des Anspruchs auf Erstattung zu Unrecht entrichteter Beiträge sowie nach § 108 Abs. 2 S. 1 SGB X für Erstattungsansprüche nach §§ 102 ff SGB X der Träger der Sozialhilfe, Kriegsopferfürsorge und Jugendhilfe gegen andere Sozialleistungsträger als diese, nicht aber für Erstattungsansprüche zwischen diesen Leistungsträ___________ 39 Vom 1.1. bis 30.6.2008 beträgt der Basiszinssatz nach § 247 BGB 3,22 %; damit beträgt der Zinssatz für Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 BGB 8,22 % (siehe Bundesanzeiger 2007, S. 8415), also mehr als das Doppelte des Zinssatzes nach § 44 SGB I.

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gern. In einigen Fällen sieht das Gesetz allerdings auch Zinsregelungen vor, die sich auf den Basiszinssatz nach § 247 BGB beziehen, so in § 50 Abs. 2a SGB X für bestimmte Ansprüche auf Erstattung von Förderleistungen sowie für Zeiten, in denen Förderleistungen nicht zweckentsprechend verwendet wurden, und § 28r Abs. 2 und 3 SGB IV für schuldhafte verspäteter Weiterleitung von Sozialversicherungsbeiträgen durch die Einzugsstelle oder vom Rentenversicherungsträger als Prüfbehörde nach § 28p SGB IV schuldhaft verursacht verspäteter Beitragseingänge. Für verspätete Entgeltzahlungen durch Krankenkassen an Krankenhäuser sieht das Gesetz, wie schon erwähnt, eine andere Variante vor, nämlich nach § 17 Abs. 1 BPflV und nach § 11 Abs 1 KHEntgG die Verpflichtung der Vertragsparteien nach § 18 Abs. 2 KHG, Regelungen über Verzugszinsen bei verspäteter Zahlung zu treffen. Sofern sich die Vertragsparteien nicht einigen, trifft diese Verpflichtung letztlich die Schiedsstelle nach § 18a KHG. Wegen des Normcharakters dieser Kollektivverträge für die einzelne Kasse und das einzelne Krankenhaus handelt es sich für diese um „gesetzliche“ Zinsregelungen. Außerhalb dieser expliziten zum Sozialrecht existierenden Zinsregelungen greifen die dargestellten, von den jeweiligen Senaten des BSG sorgfältig immer nur für den eigenen Kompetenzbereich aufgestellten Zinsregelungen der Rechtsprechung. Danach gibt es nach der Rechtsprechung des 3. Senates für die Forderungen nichtärztlicher Leistungserbringer aus jeweiligen konkreten Entgeltverträgen Verzugs- und Prozesszinsen in analoger Anwendung von §§ 288, 291 BGB über § 69 S. 4 SGB V. Im übrigen gibt es nach der Rechtsprechung des 6. Senats für Entgeltforderungen von KVen aus Gesamtverträgen Prozesszinsen aus § 291 BGB über § 61 S. 2 SGB X, während Verzugszinsen in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung abgelehnt werden. Entsprechend gibt es nach der Rechtsprechung des 3. Senats für „Bereicherungsansprüche von Krankenhäusern gegen Kassen aus Leistungskondiktion Prozess-, aber keine Verzugszinsen. Dies würde heute vermutlich über § 69 S. 4 SGB V konstruiert werden. Hingegen beharrt der 1. Senat für seinen Zuständigkeitsbereich, aber ersichtlich gemeint als Grundregel für das Sozialrecht, darauf, dass grundsätzlich, d.h. soweit weder gesetzliche Bestimmungen noch die Sondersituationen gemäß der Rechtsprechung des 3. und 6. Senats etwas anderes nahelegen, weder Verzugs- noch Prozesszinsen verlangt werden könnten.



2. Kritik und Ansätze für ein System der Verzinsung sozialrechtlicher Ansprüche Der durch die unterschiedlichen Positionen in der Rechtsprechung sowie – teilweise auch darauf reagierende – punktuelle gesetzliche Regelungen geschaffene Rechtszustand zur Verzinsung von Sozialleistungen ist kaum überzeugend.

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Warum z.B. soll die Verzinsung von Erstattungsansprüchen nach §§ 102 ff. SGB X davon abhängen, ob die Verwaltungs- oder die Sozialgerichte zuständig sind? Wäre bei inzwischen gegebenen Rechtswegen für Erstattungsstreitigkeiten nach § 114 SGB X für Prozesszinsen etwa relevant, ob ein Sozialhilfeträger aus § 105 SGB X gegen einen Träger der Kinder- und Jugendhilfe klagt (dann Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO) oder umgekehrt (dann Rechtsweg zu den Sozialgerichten nach § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG)?40 Ebensowenig passen die aus den punktuellen (oder jedenfalls immer abgrenzenden) Entscheidungen der Senate des BSG herauszulesenden allgemeineren Positionen zusammen. Dem 1. Senat des BSG ist anzumerken, dass ihm Verzinsungsregelungen in Analogie zu §§ 288 oder 291 BGB nicht „passen“. Der 3. Senat dürfte mit der Interpretation nicht missverstanden sein, dass er jedenfalls für Prozesszinsen von der Linie des BVerwG überzeugt ist und dass er in Entgeltbeziehungen auch keinen Grund sieht, nicht generell Verzugszinsen anzuerkennen. Irgendwie „dazwischen“ liegt die Grundposition des 6. Senats.

a) Forderungen aus subordinationsrechtlichen Rechtsbeziehungen Für eine systematische Würdigung dieser faktischen aktuellen Lage bedarf es einer für die Frage der Anerkennung von Zinsansprüchen bedeutsamen Unterscheidung von Anspruchskonstellationen, die sich löst von den bisher vor allem ausschlaggebenden Gerichtsbarkeits- und Senatszuständigkeiten. Dafür können die spezialgesetzlichen Regelungen außer Acht gelassen werden. Diese sind – jedenfalls teilweise auch als punktuelle Reaktionen auf eine vorgefundene Rechtsprechung– kaum geeignet für Ansätze zu einem System der Verzinsung sozialrechtlicher Forderungen. Eine zentrale Unterscheidung, welche in der bisherigen Rechtsprechung keine besondere Rolle gespielt hat, ist diejenige zwischen Ansprüchen von Hoheitsträgern gegen Privatpersonen und sonstigen Ansprüchen (also von Privatpersonen gegen Hoheitsträger und von Hoheitsträgern untereinander). Für erstere ist nämlich Grundrechtsschutz vor Eingriffen zu berücksichtigen. Das betroffene Grundrecht ist die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), in welche durch die Auferlegung von Zahlungspflichten eingegriffen wird. Das ist zwar hinsichtlich der materiellen Rechtfertigung bei der Auferlegung von Verzugs- und Prozesszinsen kein echtes Problem. Es sind aber die allgemeinen Anforderungen an Grundrechtseingriffe zu beachten. Hier geht es um das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit des Gesetzes. Dies wird typischer- und rich___________ 40 Zu den Rechtswegen in den Erstattungsstreitigkeiten nach §§ 102 ff. SGB X gemäß § 114 SGB X i.V.m. den jeweiligen Rechtswegzuweisungen für den ursprünglichen Leistungsanspruch siehe etwa Kater, in: Kass-Komm § 114 Rz. 4.

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tigerweise als Thema des Vorbehalts des Gesetzes, nämlich als Erfordernis einer hinreichend bestimmten Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseingriffe durch die Exekutive behandelt.41 Das ist auf den ersten Blick nicht einschlägig, wenn ein Hoheitsträger von einem Privaten Geld fordert, sich hierfür auf eine von ihm behauptete Anspruchsgrundlage beruft und den geforderten Betrag gegebenenfalls mit einer Leistungsklage erstreitet. Damit tut er nichts anderes als das, womit Privatpersonen untereinander massenhaft die Gerichte beschäftigen. Allerdings besteht insofern ein Zusammenhang, als die eigentliche Belastung in dieser Konstellation in der Schaffung der Anspruchsgrundlage liegt. Insofern muss auch die gesetzliche Begründung von Verhaltenspflichten Privater ihrerseits hinreichend bestimmt sein. Das gilt jedenfalls in den Beziehungen, in denen sich Hoheitsträger und Private als solche, d.h. in der jeweiligen Rechtsbeziehung als Grundrechtsadressaten und als Grundrechtsträger gegenüberstehen. Im Bewusstsein der Missverständlichkeit der Terminologie zum Verwaltungsvertrag nach § 54 S. 2 VwVfG oder § 53 Abs. 1 S. 2 SGB X sollen solche Rechtsbeziehungen als „subordinationsrechtlich“ bezeichnet werden.42 In diesen Beziehungen schützt das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit selbst in Grundrechte eingreifender Gesetze in gleicher Weise wie das Erfordernis der Bestimmtheit einer Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe durch die Exekutive. Das ist für die Frage einer Herleitung von Ansprüchen auf Verzugs- oder Prozesszinsen aus so vagen Verweisungsnormen wie etwa aus § 61 S. 2 SGB X oder aus § 69 S. 4 SGB V oder gar aus „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ relevant. Wie das BVerwG einmal zutreffend geurteilt hat, ist die Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus dem Zivilrecht in grundrechtsrelevante Beziehungen des öffentlichen Rechts heikel.43 Letztlich geht es insoweit um den Schutz grundrechtlicher Freiheit gegen die richterliche Erfindung von Ansprüchen des Staates im „Subordinationsverhältnis“ und darum, dass hier engere Grenzen gesetzt sind als im Bereich der Gleichordnung, insbesondere zwischen ___________ 41

Vgl. etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hg.), Grundgesetzkommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rz. 105 ff. 42 Dazu siehe etwa Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 6. Aufl 2001, § 54 Rz. 58. 43 Vgl. BVerwGE 101, 51 (54 f.); dort ging es um die Heranziehung zivilrechtlicher Haftungsregelungen für ein vom Berufungsgericht konstruiertes öffentlich-rechtliches „Auftragsverhältnis“. Das BVerwG hatte unmittelbar das Rechtsstaatsprinzip und das aus ihm herzuleitende Gebot hinreichender Bestimmtheit des Gesetzes auf die Besonderheiten des konkreten Sachbereichs zugespitzt. Bei der Begründung von Zahlungspflichten durch solche allgemeinen Grundsätze wäre aber eher auf den Schutz grundrechtlicher Freiheit vor nicht hinreichend bestimmten gesetzlichen Schranken abzustellen.

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Privaten.44 Fazit für die Frage von Prozesszinsen oder gar Verzugszinsen in solchen Rechtsbeziehungen ist, dass hier – die klassischen einschlägigen Felder im Sozialrecht sind das Sozialleistungsverhältnis und das Beitragsverhältnis – in der Tat die restriktive Haltung der Sozialgerichte berechtigt ist und die Begründung von Zinspflichten Privater ohne spezifische Anspruchsgrundlage nicht überzeugt.45 Insofern ist von vornherein klar, dass eine analoge Anwendung von § 291 oder § 288 BGB ohne explizite Verweisungsnorm für Forderungen des Staates als Hoheitsträger und damit auch für Forderungen der als Selbstverwaltungskörperschaften organisierten Sozialversicherungsträger gegen Private nicht in Betracht kommen. Dies gilt insofern insbesondere für die Ansprüche auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen aus § 50 Abs. 1 und Abs. 2 SGB X, und zwar unabhängig davon, ob die Leistung aufgrund eines Verwaltungsaktes, ohne Bewilligungsbescheid oder aufgrund eines Vertrages nach § 53 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 SGB X erbracht worden war.

b) Forderungen aus synallagmatischen öffentlich-rechtlichen Verträgen Am anderen Ende der Skala in Betracht kommender Unterscheidungsgesichtspunkte für die Anerkennung von Ansprüchen auf Verzugs- und/oder Prozesszinsen dürften die Ansprüche stehen, welche sich aus Austauschverträgen über Leistungen ergeben. Hierfür kann an die oben beschriebene Rechtsprechung des 3. Senats des BSG angeknüpft werden. Sofern solche Austauschverträge, wie sie insbesondere im Sachleistungssystem der GKV, aber auch in anderen vergleichbaren Rechtsbereichen46 vorkommen, als privatrechtlich zu qualifizieren sind, gelten §§ 288, 291 BGB ohnehin unmittelbar. Und in der Tat ist die These des 3. Senats des BSG überzeugend, dass auch bei Qualifizierung solcher Vertragsbeziehungen zwischen Leistungserbringer und Leistungsträger als öffentlich-rechtlich – sei es nun wegen ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung wie in § 69 S. 1 SGB V oder aufgrund allgemeinerer Überlegungen zur ___________ 44

Zu letzterem siehe BVerfGE 84, 212 (226). Insofern ist z.B. die Rechtsprechung zu kritisieren, welche aus subordinationsrechtlichen Verträgen und über § 62 S. 2 VwVfG eine Pflicht von Bürgern herleitet, dem Staat Prozesszinsen zu zahlen; vgl. etwa VG Hannover, NdsVBl 2002, 272 f.; VG Braunschweig, NJW 2005, 698 ff. 46 Siehe etwa insbesondere für den Bereich der Arbeitsmarktpolitik und die dort vorgesehenen Leistungen nach dem SGB III und dem SGB II: Bieback, Erbringung von Eingliederungsleistungen der Arbeitsmarktpolitik, in: Lange/Pfannkuche (Hg.), Verträgliche Vergaben – vergebliche Verträge? Vergabe und Steuerung von Eingliederungsleistungen der Arbeitsmarktpolitik in SGB II und SGB III (Loccumer Protokolle 67/06), 2007, S. 29 ff.; allgemein zum durch das Sachleistungsdreieck zwischen Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsempfänger geprägten „Sozialmarkt“: MichellAuli, Sozialer Fortschritt 2007, 45 ff. 45

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Qualifikation solcher Verträge aufgrund der geregelten Rechtsbeziehungen – die Ähnlichkeit zu den jeweils naheliegenden Schuldrechtstypen des BGB und zu der allgemeinen Interessenlage bei synallagmatischen Verträgen so groß ist, dass es nahe liegt, jedenfalls grundsätzlich die Regelungen des BGB, die ohnehin weitgehend dispositiv sind, als Ausdruck genereller gesetzlicher Würdigung der berührten Problem- und Interessenkonstellationen zu begreifen. Darum bietet sich in der Tat an, für solche Verträge – und dabei geht es in erster Linie um die Entgeltansprüche der Leistungserbringer, aber u.U. auch um Ansprüche aus Leistungsstörungen – das Regelwerk des BGB analog heranzuziehen, entweder über § 61 S. 2 SGB X oder für den Bereich der GKV-Sachleistungen über § 69 S. 4 SGB V als speziellere Norm. Ausgehend von diesem allgemeineren Grundansatz mögen die oben geschilderten plausiblen Erwägungen des 6. Senats des BSG zu der neuen Interessenlage von Krankenkassen unter dem Druck des Kassenwettbewerbs und der sich daraus ergebenden Versuchung zur Hinauszögerung von Zahlungen ein zusätzliches Argument sein. Jedoch sollte es darauf letztlich nicht ankommen. Auch die Sozialleistungsträger, die nicht unter diesem spezifischen Wettbewerbsdruck stehen, sind zunehmend eingespannt in Systeme der Prüfung und vergleichenden Bewertung von Kosteneffizienz und unterliegen insofern ebenfalls der Versuchung, Betriebsmittel zinsbringend anzulegen, statt sie früher als unbedingt nötig an Dritte auszuzahlen, bzw. – soweit das für diese in Betracht kommt – ihren Kontokorrentkredit so niedrig wie möglich zu halten. Und umgekehrt sind ihre Vertragspartner in einer entsprechenden Lage und müssen die Opportunitätskosten verspäteter Zahlungen einkalkulieren. Wegen der Notwendigkeit der Berücksichtigung und damit auch Einpreisung der Verspätungskosten ist bei typisierender und damit generalisierender Betrachtung sogar davon auszugehen, dass letztlich die pünktlich zahlenden Leistungsträger für den Zinsvorteil der Unpünktlichen mit erhöhten Leistungspreisen aufzukommen haben. Für die in die Zuständigkeit des 6. Senats des BSG fallenden Gesamtverträge nach § 83 SGB V mit den hierin zu vereinbarenden Vergütungsregelungen gilt letztlich nicht anderes. Für die einzelnen Kassen, welche nicht Vertragspartner sind, sofern sie nicht mit dem jeweiligen Landesverband zusammenfallen, ist die Pflicht zur Zahlung der Gesamtvergütung an die KV zwar bei genauer Betrachtung keine vertragliche Forderung, sondern eine „gesetzliche“ aus dem normativen Teil des Gesamtvertrages. Jedoch ändert diese den besonderen Bedingungen des Vertragsarztrechts geschuldete Konstruktion ebenso wenig am synallagmatischen Charakter des Leistungserbringungsverhältnisses wie der Umstand, dass die Gesamtvergütung der KV zu leisten ist und nicht den jeweiligen Leistungserbringern selbst. Vor diesem Hintergrund ist auch zu fragen, ob die vom 6. Senat des BSG gemachte Unterscheidung zwischen Verzugs- und Prozesszinsen wirklich trägt. Zum einen ist – insofern eher pragmatisch – auf

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das Risiko hinzuweisen, dass diese Unterscheidung einen Anreiz zu möglichst baldiger Klageerhebung darstellt und insofern auch nicht im Interesse der Krankenkassen liegen kann. Zum anderen gelten auch für die Verzugssituation, also bei immerhin schuldhafter Zahlungsverzögerung, im Prinzip dieselben Anreiz- und Kostenargumente, welche zur Bejahung von Prozesszinsen ins Feld zu führen sind. Zur Ausräumung von Unklarheiten darüber, wann Verzug anzunehmen ist, sind die Parteien der Gesamtverträge in gleicher Weise zu präzisierenden Vertragregelungen in der Lage wie dies § 17 Abs. 1 BPflV und § 11 Abs 1 KHEntgG für die Entgelte in der stationären Versorgung vorsehen. Für die hier angesprochenen synallagmatischen Rechtsbeziehungen lässt sich im übrigen gut vertreten, dass die oben (unter a)) begründeten grundrechtlichen Vorbehalte gegen die rechtsgrundsätzliche Übertragung zivilrechtlicher Grundsätze hier nicht gelten. Selbst soweit die Gesamtrechtsbeziehung wegen der berufsregelnden Effekte für die betroffenen Leistungserbringer grundrechtsgeprägt und darum im oben beschriebenen Sinne „subordinationsrechtlich“ ist, gilt doch für das spezifische Austauschverhältnis von Leistung und Entgelt letztlich nicht anderes als in sonstigen synallagmatischen Beziehungen. Insofern stünde der Gedanke des Grundrechtsschutzes und der spezifischen Bestimmtheitsanforderungen in subordinationsrechtlichen Rechtsbeziehungen einer analogen Anwendung der Zinsregelungen des BGB auch zugunsten von Sozialleistungsträgern und zu Lasten Privater nicht entgegen. Auch das BVerwG hat schon die spezifische Austauschsituation zwischen Leistung und Entgelt als Begründungselement verwendet, um entgegen seiner sonstigen Rechtsprechung nicht nur Prozesszinsen, sondern auch Verzugszinsen zuzusprechen – wenn auch in einem Rechtsverhältnis, in welchem auf beiden Seiten juristische Personen des öffentlichen Rechts beteiligt waren, nämlich die Bundesdruckerei und die für die Ausgabe von Personalausweisen zuständigen Kommunen.47

c) Sonstige sozialrechtliche Forderungen Zwischen den beiden bisher behandelten Polen liegen sonstige Ansprüche, für welche weder der zu einer restriktiven Position führende Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes noch die spezifische Parallelität zum Schuldrecht des BGB in synallagmatischen Rechtsbeziehungen gilt. Hauptbeispiel in der bisherigen Rechtsprechung sind sicherlich die Erstattungsansprüche der Sozialleistungsträger untereinander. Angesichts dessen, dass es auch außerhalb der unter b) behandelten Bereiche Anreize geben kann, aus wirtschaftlichen Gründen mit ___________ 47 BVerwGE 98, 18; das Gerichte hatte hier auch noch darauf abgestellt, dass die Bundesdruckerei ihren Betrieb nach kaufmännischen Grundsätzen so zu führen habe, dass die Erträge die Aufwendungen decken.

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Zahlungen zögerlich zu sein, gibt es eigentlich auch hier plausible Gründe für Verzugs- und Prozesszinsen, wobei die Abgrenzungsfragen, wann genau Verzug anzunehmen ist, sich sicherlich schnell durch die Rechtsprechung klären ließen. Insbesondere für juristische Personen der mittelbaren Staatsverwaltung, welche ein eigenes Betriebsmittelvermögen verwalten, also für die Sozialversicherungsträger, dürfte der Anreizaspekt eine gewisse Relevanz haben. Auf der anderen Seite könnte hier gerade bei Verzugszinsen auf die doch lästigen Probleme der Bestimmung des Verzugszeitpunkts ebenso hingewiesen werden wie auf die Gefahr, dass gegebenenfalls, nämlich bei Begleichung der Forderung nach Klärung strittiger Punkte, nur noch um die Zinsen gestritten würde. Aus diesem Grunde könnte hier der Gesichtspunkt der Beseitigung in der Sache nicht zu rechtfertigender Divergenzen pragmatisch für einen Kompromiss zwischen den gegenläufigen Gesichtspunkten auf der Linie der Verwaltungsgerichtsbarkeit sprechen. Dies alles zusammen ergäbe ein einigermaßen konsistentes System der Verzinsung verspätet beglichener Forderungen im Sozialrecht wie auch im sonstigen Verwaltungsrecht: x Vorrangige Orientierung an den expliziten Spezialvorschriften; im Übrigen x

Ausschluss von Verzugs- oder Prozesszinsen des Staates gegen Private in Subordinationsverhältnissen;

x

Anerkennung von Verzugs- und Prozesszinsen in synallagmatischen Rechtsbeziehungen, und zwar sowohl für beide Seiten eines Leistungsverhältnisses als auch für Forderungen wegen Leistungsstörungen im synallagmatischen Verhältnis;

x

Anerkennung von Prozesszinsen, aber nicht von Verzugszinsen im Übrigen.

Die Künstlersozialversicherung und die Kunst Von Eberhard Eichenhofer, Jena

I. Sozialpolitische, ökonomische und ästhetische Dimensionen der Künstlersozialversicherung 1. Künstlersozialversicherung Seit 1983 besteht die Künstlersozialversicherung. Diese wird im Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) geregelt. Sie bezog die selbständigen Künstler und Publizisten in die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung ein und schloss damit eine Lücke im System sozialen Schutzes. Im Gegensatz zu den Nachbarstaaten kennt Deutschland keine Erwerbstätigenversicherung. Vielmehr sind von der Sozialversicherung lediglich einzelne Gruppen von Selbständigen höchst differenziert erfasst. Die Künstlersozialversicherung1 nimmt im Rahmen sozialer Sicherung Selbständiger eine Sonderstellung ein. Sie umfasst – im Unterschied zur berufsständischen Versorgung der Ärzte, Rechtsanwälte und Architekten – eine höchst inhomogene Gruppe Selbständiger: Schriftsteller, Musiker, bildende wie darstellende Künstler und Publizisten. Anders als Landwirte und wie Handwerker (für die Sicherung für die Risiken Alter und Invalidität) werden Künstler im Rahmen der die Arbeitnehmerschaft er- und umfassenden allgemeinen Sozialversicherung, d.h. die Renten-, Pflege- und Krankenversicherung einbezogen. Im Gegensatz zur Alterssicherung der Landwirte und Handwerker bezweckt die Künstlersozialversicherung eine über die Grundsicherung hinausgehenden Schutz. Eine Binnendifferenzierung innerhalb der Künstlersozialversicherung geschieht im Hinblick auf die Künstlersozialabgabe.2 Diese wird zur Finanzierung der Künstlersozialversicherung von den Vermarktern künstlerischer Tätigkeiten ___________ 1 Hugo Finke, Künstlersozialversicherung, in: von Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch, Baden-Baden, 2003 (3. Aufl.), Tz. 20-2. 2 Ebd., Tz. 20-3.

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erhoben. Die Höhe der Beitragssätze für die Künstlersozialabgabe sind nach den unterschiedlichen Sparten künstlerischer Tätigkeit: Wort, bildende Kunst, Musik und darstellende Kunst jeweils höchst differenziert geregelt.

2. Adressatenkreis der Künstlersozialversicherung Die Künstlersozialversicherung schließt die „selbständigen Künstler und Publizisten“ (§ 1 KSVG) ein. Als jener gilt, „wer Musik, darstellende und bildende Kunst schafft, ausübt und lehrt“; dieser ist, „wer als Schriftsteller, Journalist oder in anderer Weise publizistisch tätig ist“ (§ 2 KSVG). Die in diesen beiden Umschreibungen vorkommenden Begriffe sind zwar solche des Rechts, jedoch anders als Rechtsbegriffe (z.B. Eigentum, Vertrag oder Verwaltungsakt) nicht nach ausschließlich rechtseigenen Maßstäben auszulegen. Sie verweisen vielmehr auf die Ästhetik, welche ihrerseits begrifflich unscharf und vor allem seines Gegenstandes nicht gewiss ist. Die Schwierigkeiten, bildende und darstellende Kunst, Musik und Schriftstellerei als ein von nichtkünstlerischen Aktivitäten unterscheidbares Geschehen begrifflich zu erfassen, erklärt auch die Schwierigkeiten, im Sozialversicherungsrecht Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden.

3. Künstlersozialversicherung zwischen Ästhetik, Sozialpolitik und Ökonomie Die Künstlersozialversicherung zeigt also, dass die Ästhetik rechtserheblich wird, weil von deren Sichtweisen rechtliche Folgen und Folgerungen abhängen. Es wäre zwar eine unzulässige Verkürzung, würde daraus geschlossen, sämtliche Rechtsfragen der Künstlersozialversicherung erschöpften sich in der Ästhetik. Ein erheblicher Auslegungsaufwand im Zusammenhang mit der Künstlersozialversicherung erklärt sich aus rechtseigenen, und das heißt im sozialrechtlichen Zusammenhang letztlich sozialpolitischen Erwägungen und Beweggründen. So fragt sich etwa, ob ein sich auf die Layout-Gestaltung einer Zeitschrift konzentrierender Redakteur publizistisch tätig sei.3 Dabei spielt gewiss auch die Frage eine Rolle, wie der Kreis der schutzbedürftigen Publizisten abzugrenzen sei – eine wahrlich sozialpolitische und keine ästhetische Frage. Andererseits wäre die Entscheidung nicht hinreichend begründet, würde in der Textgestaltung und -anordnung, namentlich der Bebilderung von Texten, nicht auch eine genuin publizistische Tätigkeit gesehen werden. Die Zeitschrift wird inso___________ 3

BSG SozR 5425, § 2 Nr. 1.

Die Künstlersozialversicherung und die Kunst

419

weit in ihrer Gestalt als text- und bildverknüpfende Einheit und damit als künstlerisches Gesamtwerk wahrgenommen. Bei Auslegung von Begriffen des Künstlersozialversicherungsrechts sind ferner ökonomische Dimensionen wichtig. § 24 KSVG zwingt dazu, den Kreis der abgabepflichtigen Vermarkter von Kunst zu bestimmen. Hier sind die Einsichten in Vertriebsformen und sozialpolitische Erwägungen, aber eben zugleich auch ästhetische Maßstäbe beachtlich. Über die Abgabepflicht wird durch Feststellungsbescheid4 entschieden. Dafür reicht eine potentielle Vermarktung aus, weshalb Gegenstand des Feststellungsbescheides die Abgabepflicht dem Grunde nach ist. Damit stellt die Künstlersozialkasse eine mögliche Abgabepflicht fest. Deren Konkretisierung geschieht dann aufgrund nachträglicher Beitragsbescheide – Verwaltungsakte. So ist es eine ökonomische Frage, ob der für den Kunsthandel typische Fremdvermarktung die genossenschaftliche Selbstvermarktung durch Künstlervereinigung gleichsteht5 und öffentliche Musikschulen,6 wiewohl dem Gemeinwohl verpflichtet, wegen ihres Angebots an Musikerziehung zum Kreis der Kunstvermarkter zählen. Eine ökonomische Frage ist es schließlich, ob eine über einem Theatergebäude verfügende Stadt zum Kreis abgabepflichtiger Vermarkter zählt, wenn sie weder über ein eigenes Ensemble verfügt, noch selbständig Künstler engagiert, sondern sich darauf beschränkt, ihre Räume an Tourneetheater zu vermieten. Zwar ist eine Abgabepflicht nicht begründet, falls die Stadt an die Künstler kein abgabepflichtiges Entgelt errichtet.7 Diese Deutung verkennt aber den ökonomischen Tatbestand von Kunstvermarktung. Diese bezieht sich nicht auf die Überlassung von Räumen, vielmehr bilden diese nur den äußeren Rahmen für den Theaterbetrieb. Andernfalls hätte auch der Vermieter von Konzertsälen, Galerien oder Theatern die Künstlersozialabgabe zu entrichten, wiewohl die Kunst von den Mietern oder Pächtern der Räume geboten wird.8

II. Das Künstlerische in der Künstlersozialversicherung Es gibt aber einige wichtige zentrale Rechtsfragen der Künstlersozialversicherung, welche im Kern ästhetische Grundfragen aufwerfen. Das BSG verweist in seiner Rechtsprechung in solchen Fällen auf die Sichtweise fachkundi___________ 4

BSGE 64, 221. BSGE SozR 5425 § 24 Nrn. 2, 3; BSG – 20.4.1994 – 3/12 RK 33/92. 6 BSG NZA 1992, 623. 7 BSG SozR 5425 § 24 Nr. 3. 8 Kritik auch schon bei Eberhard Eichenhofer, Jahrbuch Sozialrecht, Band 16 (1994), 315, 320. 5

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ger Kreise9 oder die kollegiale Anerkennung eines Künstlers.10 Diese Maxime ist gewiss zu beachten, um richterlicher Selbstgerechtigkeit zu entgehen. Freilich darf sich die Rechtsprechung dem Urteil der Fachleute auch nicht ausliefern. Denn das Gesetz erlegt dem Rechtsanwender in Verwaltung und Justiz auf, rechtsverbindlich zu bestimmen, was Kunst von Nichtkunst unterscheidet.11 Bei der Bestimmung der Kunst stellen sich der Rechtspraxis Zweifelsfragen insbesondere im Hinblick auf die künstlerische Avantgarde, trivialisierte Formen von Kunst und die Abgrenzung von Kunst und Seichtem bis Ordinärem.

1. Kunstbegriff der Sozialversicherung Die Rechtsprechung der Sozialgerichte sah sich immer wieder Fallgestaltungen gegenüber, welche eine Antwort auf die ästhetische Frage nach den Kriterien von Kunst erforderte. Ob Visagisten12 oder Models,13 Musikinstrumentenbauer,14 Karnevalisten15 oder Catcher wie Wrestler16 oder schließlich diplomierte japanische Teemeisterinnen17 als Künstlerin oder Künstler anzusehen seien, erforderte stets und regelmäßig die Entfaltung eines sinnfälligen Verständnisses von und für Kunst. Die sozialgerichtliche Rechtsprechung bedient sich bei dieser Bestimmung von Kunst eines typisierenden und typologischen Ansatzes.18 Es kam damit dem sich aus der Gesetzesbindung allen rechtlichen und richterlichen Handelns folgendem Gebot zur Normenklarheit nach. Daraus folgt, dass einerseits die nähere Bestimmung der Kunst nicht in das Belieben des die Kunst ausübenden Einzelnen gestellt ist;19 andererseits wird durch den typologischen Ansatz der Selbstdefinitionsbefugnis und -macht von Kunst und Künstlern hinreichend Raum gegeben und belassen. Als zentrale Be___________ 9

BSG SGb 1998, 133. BSGE 82, 164. 11 Vgl. zu dieser Problematik Michael Ruppelt, Künstler ohne Kunst, in FS für Peter Krause, 2006, 153 ff.; Andreas Schriever, Der Begriff der Kunst im Künstlersozialversicherungsrecht, in 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, 709; Friedrich E. Schnapp, Anm. BSG SGb 2006, 44. 12 BSG – 12.5.2005 – B 3 KR 39/04 R = SGb 2006, 44 mit Anm. Friedrich E. Schnapp. 13 BSGE 77, 21 = BSG SGb 1996, 444 mit Anm. Eberhard Eichenhofer. 14 BSGE 80, 136. 15 BSGE 80, 141. 16 BSGE 83, 160. 17 BSG SGb 2005, 402. 18 So auch Friedrich E. Schnapp, SGb 2006, 47 ff. 19 Ebd., 47 f. 10

Die Künstlersozialversicherung und die Kunst

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stimmungselemente des sozialgerichtlichen Kunstbegriffs erscheinen dabei das Moment eigenschöpferischer Leistungen20 einerseits und die Anerkennung der Tätigkeit durch die Fachgenossenschaft der Künstler andererseits.21 Das Gericht stützt sich bei dieser Beschreibung einerseits auf die Momente künstlerischer Kreativität, Genialität und Intuition; andererseits orientiert sie sich an den beruflichen Konventionen, welche den anerkannten Künstlern die Befugnis zuerkennen, Maßstäbe für künstlerisches Handeln selbst zu setzen. Insoweit kommt dem einschlägigen Verkehrskreisen die Befugnis zu, das eigene Selbstverständnis zum Maßstab der Zugehörigkeit zur Kunst für andere zu erheben. Ist danach die Originalität und die Nähe zu anerkannter künstlerischer Aktivität hoch, ist der die einzelne Aktivität ausübende Einzelner als Künstler anerkannt und anzuerkennen, z.B. folgt aus der Nähe des Webdesigns zum Layout22 und der Karnevalisten zur Kleinkunst23 auch deren Künstlereigenschaft. Dominiert dagegen das routiniert Handwerkliche – so beim Musikinstrumentenbauer,24 Feintäschner,25 Textil-26 und Möbelrestaurator27 oder Stuckateur28 – einer Tätigkeit oder fehlt es an der geforderten Nähe zu einer anerkannten künstlerischen Sparte – so bei Catchern und Wrestlern29 oder japanischer Teemeister30 (wobei für diese Nähe das inländische Verständnis von Kunst zählt)31 oder bei Visagisten gegenüber Maskenbildnern („gehobene Kosmetik“)32 mangelt es am Künstlerischen. Fotografen können Künstler und (Bild-)Journalisten33, aber auch bloße Handwerker sein.34 Lehrer von Kunst sind auch die Meister des Afro-Caribbean-Dance,35 der Ergonomie36 oder der Sprachgestaltung.37 Vor diesem Hintergrund begegnet die Einordnung von Mo___________ 20 21

BSG SGb 2006, 44; BSGE 80, 136, 138; BSG SGb 2005, 402. BSGE 80, 136, 139; 141, 143 f.; 83, 160, 163; BSG SGb 2006, 44 ff., 2005, 402,

522. 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37

BSG SGb 2005, 552. BSGE 80, 141. BSGE 80, 134. BSGE 82, 164. BayLSG EzS 130/511. LSG Stuttgart E-LSG KR-165. BayLSG EzS 130/174. BSGE 83, 160. BSG SGb 2005, 402. So zu Recht Friedrich E. Schnapp, SGb 2006, 49. Friedrich E. Schnapp, SGb 2006, 49. BSGE 78, 118. BSG SozR 3-5425 § 25 Nr. 11. BSG SozR 3-5425 § 2 Nr. 1. BSG SozR 3-5425 § 2 Nr. 3. BSG SozR 3-5425 § 2 Nr. 10.

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dels in Dessous-Shows – vom BSG wahrlich altväterlich, jedenfalls wenig connaisseurhaft „Damenunterwäschevorführerinnen“38 bezeichnet – als künstlerische Betätigung elementaren Bedenken, weil die zu entfaltende Kunstschönheit der Models hinter deren Naturschönheit deutlich zurückbleibt und die Beschäftigungsgruppe gemessen an den professionellen Anforderungen an Tänzerinnen und Balletteusen deutlich abfällt.

2. Kunst und Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) Die in der BSG-Rechtsprechung zum Begriff der Kunst vorherrschenden Bestimmungselemente finden sich auch in der Rechtsprechung des BVerfG. Auch sie wird von einem typologischen Verständnis geleitet, weil sich der Begriff der Kunst „in einer für alle Kunstgattungen gleichermaßen gültigen Weise nicht erschöpfend darstellen“39 lasse. Die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) solle die Eigengesetzlichkeit der Kunst und der sie bestimmenden Ästhetik von staatlicher Beeinflussung sichern.40 Die Kunstfreiheit soll dem Künstler Raum für eigenes Schaffen eröffnen, weshalb sie verbietet, „diesen spezifischen Bereich künstlerischen Ermessens durch verbindliche Regeln oder Wertungen zu beschränken“.41 Von der Freiheit der Kunst wird gleichermaßen der „Werk-“ und „Wirkbereich“ der Kunst erfasst. Ersterer umschreibt die Herstellung, letzterer die Verbreitung eines Kunstwerkes.42 Die Kunst sei freie schöpferische Gestaltung, befasse sich mit bewussten und unbewussten Vorgängen, der rationalen Auflösung sei sie oftmals nicht zugänglich und beruhe auf Intuition, Phantasie und Kreativität.43 Herstellung und Verbreitung eines Kunstwerkes, dessen Werk- und Wirkbereich würden gemeinsam von der Kunstfreiheit er- und umfasst,44 seien sie doch weder klar voneinander zu trennen, noch gebühre dem einen gegenüber dem anderen der Vorzug. Die Kunstfreiheit sei ein zwar unbeschränktes Grundrecht, werde aber durch andere verfassungsrechtliche Belange begrenzt, z.B. den Jugendschutz.45 Dabei sei die fallbezogene Abwendung zwischen den konkurrierenden Belangen zu suchen.46

___________ 38 39 40 41 42 43 44 45 46

BSGE 77, 21; kritisch dazu Eberhard Eichenhofer, SGb 1996, 444. BVerfGE 30, 173, 190. Ebd. Ebd. Ebd., 189. BVerfGE 67, 213, 226. BVerfGE 77, 240, 253 f. BVerfGE 83, 130, 140. BVerfGE 81, 278, 292; 83, 130, 138 f., 143.

Die Künstlersozialversicherung und die Kunst

423

3. Was Sozial- und Verfassungsrecht verbindet und trennt Die Rechtsprechung von Sozialgerichten und Verfassungsgericht stimmen also darin überein, die Kunst als primär schöpferische Betätigung zu verstehen. Beide verstehen als Kunst, was in der ästhetischen Tradition Deutschlands stehend als künstlerische Betätigung allgemein anerkannt ist. Weder die Qualität, noch Ausrichtung noch schließlich die Aussage des Kunstwerks gelten als geeignete Kriterien, um Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden. Von diesem Verständnis wird sowohl die avantgardistische als auch triviale sowie die seichte Kunst umfasst. Allerdings ist die Grenzziehung jeweils schwierig.

III. Maßstäbe des Ästhetischen Der Begriff der Kunst unterliegt einem kulturellen Wandel und zwar nicht nur, weil Kunstrichtungen und -stile einander ablösen und rivalisierende Konzepte von Kunst miteinander in Widerstreit liegen. Als Teil dieses Wandlungsprozesses lässt sich auch die Veränderung dessen, was Kunst letztlich will und ausmacht, begreifen.

1. Begriff der Kunst Die Rechtsanwendung von Verwaltung und Justiz (sämtliche Instanzen) benötigt eine begrifflich nachvollziehbare Vorstellung von Kunst. Damit wird die Rechtswissenschaft auf die Kunsttheorie und -philosophie47 verwiesen. Diese zeigt zahlreiche, seit Jahrhunderten währende Bemühungen um die begriffliche Erfassung von Kunst. Aristoteles verband mit ihr die Idee des Herstellens (poiesis) und eine auf Regelbildung beruhende Exaktheit. Für Platon ist das Kunstwerk die Darstellung des Schönen. Im mittelalterlichen Denken steht Kunst für Maß, Zahl, Ordnung, Erscheinung und Zusammenhang. Der RenaissanceDenker Leon Battista verband mit Kunst Proportion, Perspektive, Gesamtheit und Ingenium. Anthony Ashley Cooper sah in der Naturschönheit das Maß und Ziel auch des Kunstschönen, das seinerseits wesentlich durch Charakter und Persönlichkeit ausgezeichnet werde. Denis Diderot begriff die Kunst als Nachahmung der Natur und bezeichnete Leichtigkeit und Eleganz der Darstellung als deren bestimmende Eigenheiten. Kant enthüllte die Eigenständigkeit des ästhetischen Urteils, die sich aus der Subjektivität und dem Genius des Künstlers erkläre. Das Kunstschöne schaffe gegenüber dem Naturschönen eine ___________ 47

2005.

Vgl. zum folgenden Stefan Majetschak (Hg.), Klassiker der Kunstphilosophie,

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zweite Natur. Hegel rückt die Kunst nebst der Philosophie und Religion in die höchste Sphäre des Geistes und begreift sie als Ausdruck des „lebendigen Geistes“. Mit der Heraufkunft des Industriezeitalters wird dieses idealistische Kunstverständnis entzaubert und entleert. Für Konrad Fiedler wird das Kunstwerk durch seine Gestalt und Formgebung bestimmt: „Der Inhalt des Kunstwerkes ist nichts anderes als die Gestaltung selbst“. Es erlangt gegenüber dem Dargestellten eine eigene Berechtigung und wird damit zu einem Objekt mit eigener Aussage. Friedrich Nietzsche wendet sich gegen eine museale Beschränkung der Kunst. Er sieht in ihr eine metaphysische Tätigkeit, die letztlich auf Erlösung von der Last des Daseins ziele. Kunst wird damit zur Darstellung des Religiösen. Für Adorno wie Merleau-Ponty ist die Kunst Vermittlung zwischen Bild und Zeichen, Natur und Geist, Objekt und Subjekt. Sie wird zur Chiffre des Möglichen, indes noch nicht Seienden. Die Kunst verweist auf immanente Maßstäbe, getreu der klassischen Beobachtung von Karl Kraus: „Ein gut gemalter Rinnstein taugt mehr als ein schlecht gemalter Palast“.48 Kunst wird der Moderne zum eigenen Reflektionsraum. Schließlich betont die Postmoderne (Lyotard, Derrida) in der Nachfolge der negativen Dialektik (Adorno), dass die Frage nach der Differenz wichtiger sei als die Frage nach der Identität. Kunst verfolge keine Zwecke und keinen Sinn, sondern erschöpfte sich im Ungleichmachen (der Dissimulation). Aus der tradierten Ästhetik des Erhabenen werde die Ästhetik des Unnennbaren. Kunst suche das Nichtdarstellbare darzustellen, das Augenblickliche dem wahrnehmenden Subjekt als Ereignis sichtbar zu machen.

2. Folgerungen für das Recht Die dargestellten Veränderungen im Selbstverständnis von Kunst erklären, dass sich die Umschreibung der Kunst durch die Rechtsprechung nicht kanonisieren lässt, sondern sich immer wieder durch Neues herausgefordert sieht. Das überkommene und auch die Rechtsprechung letztlich leitende Kunstverständnis changiert zwischen dem klass(izist)ischen, das Schöne und Erhabene betonende und dem formellen Kunstverständnis, das künstlerische Schaffen durch äußerliche Gestaltungsmerkmale im Sinne der Ästhetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts bestimmt. Die Postmoderne hat die Juristen noch nicht erreicht. Juristen sind eben konservativ – nicht avantgardistisch. Auf dem Boden der hergebrachten Auffassung von Kunst fällt es schwer, ob und wie sich neue Ausdrucksformen in ihrem Kunstcharakter erfassen lassen. ___________ 48

Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 7, 224.

Die Künstlersozialversicherung und die Kunst

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Happening, Licht- und Klanginstallationen, sprachexperimentelle Lyrik, sich selbst bewegende funktionslose Apparate lassen sich nur schwerlich formal als Kunst begreifen, weil sie als Hybride vorangegangener etablierter Kunstgattungen den Rahmen des Bisherigen zu sprengen suchen und bezwecken. Ihre Einbeziehung in das zeitgenössische Kulturverständnis gelingt auf der Basis einer postmodernen Kunsttheorie, welche in der Kunst die vermittelnde Relation zwischen Bezeichnetem und Zeichen erkennt. Die Übertragung der modernen Kunsttheorie auf das Recht hilft die Avantgarde zu erfassen, also die zeitgenössische, um Grenzüberschreitung traditioneller Bilder bemühte Kunst begrifflich festzuhalten, wogegen das kunstphilosophisch Triviale – etwa Volksmusik, Volkstanz oder Groschenheft – bis hin zum Kitsch ebenso wenig in den Horizont zeitgenössischer Kunsttheorie tritt wie die Darstellung des alltäglich Ordinären in Gestalt von Reality-TV. Kunstsoziologisch betrachtet zählen jedoch solche Phänomene ebenfalls zur Ästhetik der Gegenwart (weil das Ordinäre in avantgardistischer Kunst zu Hause ist), jedenfalls stellt sich für derartige Aktivitäten die Rechtsfrage, inwieweit ihnen die Kunstfreiheit zukommt und für die sich solcher Aktivitäten Widmenden sozialversicherungsrechtlich der Schutz durch die Künstlersozialversicherung gewährleistet ist.

3. Folgerungen für die Künstlersozialversicherung Für die Künstlersozialversicherung führt die Beobachtung zu der Folgerung, dass der Kunstbegriff nicht auf die Avantgarde zu beschränken ist, wiewohl auch deren Leistungen zu erfassen sind. Für die Künstlersozialversicherung sind auch die Produktionen von geringer Darstellungshöhe – in der Sprache von Adorno und Horkheimer also die Hervorbringung der Kulturindustrie49 und der alltägliche Kunstkommerz – auf ihren Kunstgehalt zu befragen: „Die Kulturindustrie kann sich rühmen, die vielfach unbeholfene Transposition der Kunst in die Konsumsphäre energisch durchgeführt, zum Prinzip erhoben, das Amusement seiner aufdringlichen Naivitäten entkleidet und die Machart der Waren verbessert zu haben“.50 Dazu gehört ein das Handwerkliche übersteigende Design,51 ähnlich auch das Webdesign52, ebenso wie die Volkskunst, die Brauchtumspflege (Karneval), mag dadurch auch der albernste Büttenredner, dessen ___________ 49

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in dies., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1971, 108 ff. 50 Ebd., S. 121. 51 BSG SGb 2002, 111, 114 mit Anm. Eberhard Eichenhofer. 52 BSG SGb 2005, 552.

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Reden selten büttenpapiertauglich sind, in den Genuss des einst großen, ja erhabenen Attributs der Kunst gelangen. Ob zur Kunst neben dem Trivialen auch das Ordinäre zählt, welches von „großer erhabener Kunst“ weit, sehr weit entfernt ist, das ist die eigentliche Frage. Wenn Damenunterwäschevorführerinnen als Künstlerinnen angesehen werden, so fragt sich ja gleich, was für Damen gilt, die sich ihrer Unterwäsche öffentlich kunstvoll entledigen? Wenn Illusionskünstler, die im Varieté auftreten, Künstler sind, weshalb sind dann nicht auch Catcher und Wrestler Künstler, bedienen sie doch – ebenso wie der Illusionskünstler - des schönen Scheins. Es fehlt allem gewiss das Erhabene. Aber nicht nur das avantgardistische Kunstverständnis, sondern auch die triviale und ordinäre Alltagsästhetik hat sich jenseits der Kultur des Erhabenen entwickelt. Es ist vor diesem Hintergrund löblich, wenn sich das BSG in seiner in der jüngeren Zeit unter Rückgriff auf ein klass(izist)isches, gewisse ästhetische Grundansprüche aufrechterhaltenes Kunstverständnis – um der Ehrenrettung des Wahren, Guten und Schönen – zumindest bemüht. Aber es ist schwer – siehe „Damenunterwäschevorführerin“ – dies auf Dauer durchzuhalten, denn auch die Inszenierung des Niveaulosen muss um der Ermöglichung von Kunst willen möglich sein, und kann daher schwerlich als Nichtkunst gebrandmarkt werden.

IV. Fazit Die Kunst von der Nicht-Kunst zu unterscheiden, fällt Juristen schwer; aber sie müssen sich der Aufgabe stellen. Die Aufgabe ähnelt einer Gratwanderung zwischen Klassik, Avantgarde, Trivialität und Seichtem. Gekünstelte Unterscheidungen drohen, ganz ebenso wie kunstvolle Volten möglich sind. Der Kunst gerecht zu werden, war schon immer nicht einfach, sondern eben eine hohe Kunst...

Konsequenzen der hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V für das Verhältnis zwischen den vertragsärztlichen Leistungserbringern und dem Versicherten Von Wolfgang Gitter, Bayreuth unter Mitarbeit von Thomas Schulteis, Bayreuth

Friedrich E. Schnapp habe ich an der Ruhr-Universität Bochum kennen gelernt. Nach meiner Berufung nach Bochum im Jahre 1971 hatten wir in dem von Wilhelm Wertenbruch, dem akademischen Lehrer von Friedrich E. Schnapp, gegründeten Institut für Sozialrecht engen persönlichen und wissenschaftlichen Kontakt. Wir haben beide am Bochumer Kommentar zum Sozialgesetzbuch-Allgemeiner Teil 1979 mitgearbeitet, bei dem erstmals eine interdisziplinäre Gesetzeskommentierung durch Sozialwissenschaftler, Mediziner und Juristen mehrerer Teilrechtsgebiete erfolgte. Dabei haben interessante Diskussionen stattgefunden, deren Gegenstand auch die Leistungserbringung im Krankenversicherungsrecht war. Mit einer neuen Form der Leistungserbringung befasst sich der folgende Beitrag.

I. Gesetzliche Verankerung der hausarztzentrierten Versorgung Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass die Nachfrage der Versicherten nach ärztlichen Leistungen weitestgehend – sieht man beispielsweise von der sog. Praxisgebühr1 nach §§ 28 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. 43b Abs. 2 Satz 1 SGB V ab – nicht durch Preise gehemmt wird. Vielmehr können die Versicherten, soweit sie nicht durch Wahltarife einen Anspruch auf Prämienrückzahlung nach § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB V vereinbaren, möglichst viele Leistungen nachfragen2 und eine „Freifah___________ 1

Vgl. hierzu Rixen, SGb 2004, S. 2ff.; Weimar/Elsner, GesR 2004, S. 120 ff. Vgl. Isensee, in: Gedächtnisschrift für Heinze, München 2005, S. 417 (418); Oberender/Hebborn/Zerth, Wachstumsmarkt Gesundheit, Stuttgart 2002, S. 54 f.; Manssen, ZfSH/SGB 1994, S. 1 (5). 2

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Wolfgang Gitter

rermentalität3“ entwickeln, da für sie kein unmittelbarer Anreiz für ein kostenbewusstes Verhalten besteht4. Da gleichzeitig die gesetzliche Krankenversicherung darauf angewiesen ist, ihre Kosten durch Beitragseinnahmen zu decken, die Beitragssätze aber nur bis zur wirtschaftlichen Grenze der Belastbarkeit der Versicherten erhöht werden können5, ist der Gesetzgeber gehalten, neue Versorgungsformen zu entwickeln und anzubieten, um den umfassenden Versorgungsauftrag der gesetzlichen Krankenversicherung unter Wahrung ihrer finanziellen Stabilität und damit ihrer Funktionsfähigkeit erfüllen zu können6. Eine dieser neuen Versorgungsformen ist die hausarztzentrierte Versorgung, die seit dem Inkrafttreten des GMG7 zum 1. Januar 20048 in § 73b SGB V gesetzlich verankert ist. Sie sah zunächst vor, dass Krankenkassen mit besonders qualifizierten Hausärzten sowie medizinischen Versorgungszentren, die an der hausärztlichen Versorgung teilnehmen, separate Verträge abschließen, um ihren Versicherten eine besonders hochrangige hausärztliche Versorgung anzubieten9. Die Versicherten konnten sich gegenüber ihrer Krankenkasse freiwillig für die Dauer von mindestens einem Jahr verpflichten, ambulante fachärztliche Leistungen nur auf Überweisung des von ihnen gewählten, an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmenden Hausarztes zu empfangen. Nachdem vereinzelte Krankenkassen erste Modelle einer hausarztzentrierten Versorgung ab der Mitte des Jahres 2004 entwickelt hatten10, wurde § 73b SGB V durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG11 zum 1. April 200712 modifiziert mit den Zielen, die inhaltlichen Mindestanforderun___________ 3

Vgl. Gitter/Oberender, Möglichkeiten und Grenzen des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Baden-Baden 1987, S. 17. 4 Vgl. Oberender/Ulrich et al., Bayreuther Versichertenmodell, Bayreuth 2006, S. 14; Muckel, Sozialrecht, 2. Aufl., München 2007, § 8, Rn. 67. 5 Vgl. Axer, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV, 3. Aufl., Heidelberg 2006, § 95, Rn. 6; Isensee (o. Fn. 2), S. 417 (419). 6 Vgl. Axer, in: Isensee/Kirchhof (o. Fn. 5), § 95, Rn. 46. 7 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 14. November 2003, BGBl. I. S. 2190. 8 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Orlowski, MedR 2004, S. 202ff.; Butzer, MedR 2004, S. 177ff.; Hiddemann/Muckel, NJW 2004, S. 7 ff. 9 BT-Drucks. 15/1525, S. 97. Vgl. auch Quaas/Zuck, Medizinrecht, München 2005, § 19, Rn. 10; Knieps, in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl., München 2006, § 12, Rn. 29. 10 Vgl. von Schwanenflügel, NZS 2006, S. 285 (286). 11 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26. März 2007, BGBl. I S. 378. 12 Zur Entstehung des GKV-WSG vgl. Wille/Koch, Die Gesundheitsreform 2007, München 2007, Rn. 25ff.; Sodan, NJW 2007, S. 1313ff.; zur schrittweisen Einführung der Regelungen des GKV-WSG vgl. die Übersicht von Richter, DStR 2007, S. 810.

Konsequenzen der hausarztzentrierten Versorgung

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gen an die hausarztzentrierte Versorgung nunmehr gesetzlich auszugestalten und den Abschluss von Einzelverträgen mit Leistungserbringern weiter zu fördern13. Mit der Stärkung der Einzelverträge eröffnet sich den Krankenkassen die Möglichkeit, mit einer Vielzahl hausärztlicher Leistungserbringer in einen Vertragswettbewerb zu starten14. Für das im vorliegenden Beitrag betrachtete Verhältnis zwischen Leistungserbringern und Versicherten setzt die hausarztzentrierte Versorgung nach wie vor voraus, dass der Versicherte sich durch freiwillige Teilnahmeerklärung verpflichtet, fachärztliche Behandlungen nur noch auf Überweisung des von ihm ausgewählten Hausarztes zu beanspruchen15. Der Versicherte ist an diese Teilnahme grundsätzlich für die Dauer eines Jahres gebunden; nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes darf er den ausgewählten Hausarzt wechseln16. Die Krankenkassen können in ihren Satzungen weitere Einzelheiten zur Durchführung der Teilnahme des Versicherten bestimmen, wie z.B. Folgen von Pflichtverletzungen des Versicherten sowie Ausnahmen von dem Überweisungsgebot17. Eine abermalige Änderung von § 73b SGB V durch den in den Bundesrat eingebrachten Gesetzesantrag vom 8. August 2007 des Freistaates Bayern18 wurde einstweilen zurückgestellt19.

II. Versicherungsschutz durch ärztliche Leistungserbringer im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung 1. Motive für eine Teilnahme Damit die Versicherten und Hausärzte das Angebot einer Krankenkasse, an der hausarztzentrierten Versorgung teilzunehmen, annehmen und damit den ___________ 13 Vgl. hierzu bereits die Begründung zum ersten Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen vom 24. Oktober 2006, BT-Drucks. 16/3100, S. 14, 111. 14 Vgl. Becker, ZMGR 2007, S. 101 (107); Pitschas, GesR 2008, S. 64 (75 f.); Pfeiffer, ZMGR 2007, S. 119 (121). 15 Vgl. § 73b Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 SGB V. 16 Vgl. § 73b Abs. 3 Satz 3, 2. Halbsatz SGB V. 17 Vgl. § 73b Abs. 3 Satz 4 SGB V. 18 BR-Drucks. 527/07, S. 1ff. Der als „Gesetz zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Hausarztstärkungsgesetz – HStG)“ bezeichnete Entwurf sah u.a. eine Streichung von § 73b Abs. 4 Satz 2 Ziffer 4 SGB V vor mit der Folge, dass die Krankenkassen generell keine Verträge zur flächendeckenden Sicherstellung der hausarztzentrierten Versorgung mit Kassenärztlichen Vereinigungen hätten abschließen dürfen. 19 Vgl. Beschl. des Bundesrates vom 12.10.2007 auf Empfehlung des Gesundheitsausschusses (BR-Drucks. 527/1/07).

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Änderungen in der bisherigen ambulanten Gesundheitsversorgung20 zustimmen, sind Anreize für eine Teilnahme erforderlich. Dabei unterscheiden sich die Teilnahmemotive für die Versicherten grundlegend von denen der Hausärzte.

a) Perspektive der Versicherten Aus der Perspektive der Versicherten kann zwischen medizinischen und wirtschaftlichen Teilnahmeanreizen differenziert werden. Der gesetzlich Krankenversicherte hat ohne Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung einen Anspruch aus § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V auf Krankenbehandlung als Sachleistung21, sofern diese notwendig ist, um seine Krankheit zu erkennen, zu heilen, zu lindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Begründet er durch die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung freiwillig für sich die Einschränkung in Gestalt einer hausärztlichen Bindung, so wird er im Gegenzug einen medizinischen Mehrwert in Gestalt einer qualitativ besseren oder auch zeitnaheren hausärztlichen Betreuung verlangen. Erkennt der Versicherte in der hausarztzentrierten Versorgung für sich keinen oder nur einen unzureichenden medizinischen Mehrwert, wird er zumindest einen wirtschaftlichen Anreiz erwarten, um sich für eine Teilnahme zu entscheiden. In Betracht kommen Prämienzahlungen, Zuzahlungsreduzierungen oder -befreiungen22.

b) Perspektive der ärztlichen Leistungserbringer Auch bei den hausärztlichen Leistungserbringern ist zwischen medizinischen und wirtschaftlichen Anreizen für eine Teilnahme zu unterscheiden. So kann auch der Hausarzt persönlich wie auch aufgrund seines Berufsethos interessiert sein, im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung über die herkömmliche Regelversorgung hinausgehende Leistungen anbieten zu können, um die Heilungsverläufe seiner Patienten zu optimieren. Gleichzeitig könnte die Teilnah___________ 20

Vgl. hierzu im Folgenden unter II, 3. Vgl. Schulin, in: Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, Krankenversicherungsrecht, München 1994, § 6, Rn. 106ff.; Gitter/Schmitt, Sozialrecht, 5. Aufl., München 2001, § 9, Rn. 11; Schmidbauer, in: Schnapp/Wigge (o. Fn. 9), § 3, Rn. 1ff.; Ebsen/Knieps, in: von Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (SRH), 3. Aufl., BadenBaden 2003, § 14, Rn. 71; Muckel (o. Fn. 4), § 8, Rn. 65 ff.; BSG, Urt. v. 04.04.2006 – B 1 KR 5/05 R, NZS 2007, 84 (86); BSG, Urt. v. 07.08.1991 – 1 RR 7/88, BSGE 69, 170 (173). 22 Vgl. Kamps, ZMGR 2004, S. 91 (95). 21

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me an der hausarztzentrierten Versorgung für den Arzt Fortbildungspflichten begründen, kraft derer er in der Lage ist, bei seinen Behandlungen neueste medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Mindestens in gleichem Maße wie medizinische Anreize dürften indes wirtschaftliche Anreize für eine Teilnahme ausschlaggebend sein. So wird auch der Hausarzt gemeinhin ein Interesse haben, durch seine ärztlichen Leistungen seinen wirtschaftlichen Praxiserfolg zu maximieren23. Neben der Erwartung von Mehrerlösen wird der Hausarzt interessiert sein, trotz einzelvertraglicher Bindungen an die Kostenträger etwaige Mehrvergütungen ohne umfassenden administrativen Mehraufwand und somit kostengünstig, z.B. über die Kassenärztliche Vereinigung oder eine Hausärztegemeinschaft, abzurechnen24. Da die fachärztlichen Leistungserbringer an der hausärztlichen Versorgung nicht unmittelbar mitwirken, sondern grundsätzlich nur nach hausärztlicher Überweisung Leistungen erbringen, sind für den Erfolg und die Akzeptanz der hausarztzentrierten Versorgung die Motive und Anreize für die fachärztlichen Leistungserbringer allenfalls sekundär.

2. Begründung der Teilnahme des Versicherten an der hausarztzentrierten Versorgung a) Angebot der Krankenkasse § 73b Abs. 1 SGB V begründet die Verpflichtung der Krankenkassen, eine hausarztzentrierte Versorgung für ihre Versicherten anzubieten. Die flächendeckende Erfüllung dieser Pflicht dürfte insbesondere für kleinere Krankenkassen nur mit erheblichem, insbesondere administrativem Aufwand verbunden sein25. Gleichzeitig darf aber nicht übersehen werden, dass bereits nach dem Wortlaut von § 73b Abs. 2 Satz 1 SGB V a.F. wie auch nach der Gesetzesbegründung26 zum GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 200327 eine Verpflichtung zum Angebot einer hausarztzentrierten Versorgung bestand28.

___________ 23 Vgl. Schulteis, Hausarztzentrierte Versorgung, Baden-Baden 2007, S. 204 f.; Rehborn, VSSR 2004, S. 157 (159). 24 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 208ff.; Rehborn, VSSR 2004, S. 157 (159). 25 Vgl. Wille/Koch (o. Fn. 12), Rn. 593. 26 BT-Drucks. 15/1525, S. 74, 97. 27 BGBl. I. S. 2190. 28 Vgl. Wille/Koch (o. Fn. 12), Rn. 593.

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b) Auswahl eines Hausarztes Die Pflicht der Krankenkasse zum flächendeckenden Angebot einer hausarztzentrierten Versorgung impliziert jedoch nicht, dass jeder Hausarzt an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen kann. Vielmehr stellt § 73b Abs. 4 Satz 3 SGB V ausdrücklich klar, dass ein Anspruch des Hausarztes auf eine Teilnahme nicht besteht. Der an der hausarztzentrierten Versorgung interessierte Versicherte kann also nicht darauf vertrauen, über seinen bisherigen Hausarzt an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen zu können. Vielmehr kann der Versicherte für seine Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung nur solche Hausärzte innerhalb seines Umfeldes auswählen, die entweder selbst29 oder über einen Hausarztverband30 oder über die Kassenärztliche Vereinigung31 mit seiner Krankenkasse einen Vertrag nach § 73b Abs. 4 Satz 1 SGB V abgeschlossen haben32. In letzter Konsequenz kann dies für den Versicherten bedeuten, dass er für eine Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung einen neuen Hausarzt auswählen muss33.

c) Teilnahmeerklärung des Versicherten Die Teilnahmeerklärung des Versicherten hat freiwillig und schriftlich zu erfolgen34. Obwohl die Teilnahme die Erklärung des Versicherten gegenüber der Krankenkasse voraussetzt, so entscheiden sich die Krankenkassen in der Regel, dem teilnehmenden Hausarzt einen Vordruck für die Teilnahmeerklärung zu überlassen, die der Versicherte sodann ausfüllt und dem Hausarzt zur Weiterleitung an die Krankenkasse überreicht. Der Hausarzt verpflichtet sich bei seiner Teilnahme zur unverzüglichen Weiterleitung der Teilnahmeerklärung des Versicherten an seine Krankenkasse, an die Kassenärztliche Vereinigung oder an einen Hausärzteverband, die dann ihrerseits die Teilnahmeerklärung an die Krankenkasse weiterleiten35. Der Hausarzt nimmt dadurch bei der Begründung der Teilnahme des Versicherten an der hausarztzentrierten Versorgung eine ___________ 29

Vgl. § 73b Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB V. Vgl. § 73b Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 SGB V. 31 Vgl. § 73b Abs. 4 Satz 2 Nr. 4 SGB V. 32 Vgl. von Schwanenflügel, NZS 2006, S. 285 (286); Rehborn, VSSR 2004, S. 157 (166). 33 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 61; Limpinsel, in: Jahn/Freudenberg, Sozialgesetzbuch für die Praxis, Freiburg 2007, § 73b SGB V, Rn. 2a. 34 Vgl. § 73b Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB V. 35 Vgl. z.B. § 6 Satz 1, 2. Spiegelstrich des Vertrages zwischen dem Hausärzteverband Hessen e.V., dem BKK Landesverband Hessen und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 22.08.2007. 30

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Stellung ein, die mit der eines Empfangsboten auf Seiten der Krankenkasse verglichen werden kann36. Eine derartige Beteiligung des Hausarztes bei der Übermittlung der Verpflichtungserklärung an die Krankenkasse erscheint zudem sachgerecht, da der Hausarzt den Versicherten gleichzeitig umfassend über die mit der Teilnahme verbundenen Rechte und Pflichten informieren kann.

3. Leistungserbringung im Rahmen der hausarztzentrierten Versorgung a) Leistungserbringung durch Hausärzte aa) Voraussetzungen zur Sicherstellung einer hochrangigen hausärztlichen Versorgung Mit der Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung wird der gesetzliche Anspruch des Versicherten auf ambulante Krankenbehandlung durch Vertragsärzte gemäß § 27 SGB V i. V. m. § 73 Abs. 2 Nr. 1 SGB V nicht unmittelbar erweitert. Eine Steigerung der Qualität in der ambulanten hausärztlichen Versorgung soll jedoch dadurch erreicht werden, dass eine Teilnahme des Hausarztes an der hausärztlichen Versorgung an die Erfüllung von Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft ist, die über die vom Gemeinsamen Bundesausschuss und in den Bundesmantelverträgen geregelten Anforderungen an die hausärztliche Versorgung hinausgehen37. Hierbei handelt es sich um38 –

die Teilnahme der Hausärzte an strukturierten Qualitätszirkeln zur Arzneimitteltherapie unter der Leitung geschulter Moderatoren,



die Behandlung nach für die hausärztliche Versorgung entwickelten, evidenzbasierten und praxiserprobten Leitlinien,



die Erfüllung der Fortbildungspflicht nach § 95d SGB V durch die Teilnahme an Fortbildungen, die sich auf hausarzttypische Behand-

___________ 36

Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 60. Keine hausarztzentrierte Versorgung im Sinne von § 73b SGB V ist hingegen die hausärztliche Versorgung auf der Basis des „Vertrags zur Integrierten Versorgung durch Hausärzte und Hausapotheken – Integrationsversorgung“ vom 03.12.2004 zwischen der Barmer Ersatzkasse, der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft e.G. und der MGDAMarketinggesellschaft Deutscher Apotheker mbH, vgl. LSG Thüringen, Urt. v. 24.01.2007 – L 4 KA 362/06, GesR 2007, 373 (379), (anders noch die Vorinstanz, SG Gotha, Urt. v. 08.03.2006 – S 7 KA 2784/05, GesR 2006, 257 [260], das hierin eine hausarztzentrierte Versorgung erkannte). Die Revision gegen das Urteil des LSG Thüringen, wonach der Vertrag auch keine integrierte Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V beinhaltet, wurde zurückgewiesen (vgl. BSG, Urt. v. 06.02.2008 – B 6 KA 27/07 R, Terminsbericht Nr. 6/08 vom 07.02.2008). 38 Vgl. § 73b Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB V. 37

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lungsprobleme konzentrieren, wie patientenzentrierte Gesprächsführung, psychosomatische Grundversorgung, Palliativmedizin, allgemeine Schmerztherapie und Geriatrie, –

die Einrichtung eines auf die besonderen Bedingungen einer Hausarztpraxis zugeschnittenen, indikatorengestützten und wissenschaftlich anerkannten Qualitätsmanagements.

Auch wenn § 73b Abs. 2 SGB V nunmehr ausdrücklich die persönlichfachlichen Teilnahmevoraussetzungen des Hausarztes normiert, darf nicht übersehen werden, dass diese bereits exemplarisch in der Gesetzesbegründung zum GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003 als Teilnahmevoraussetzungen zur hausarztzentrierten Versorgung aufgeführt waren39; dies hatte zur Folge, dass zahlreiche Krankenkassen diese Voraussetzungen bereits vor dem Inkrafttreten der Änderungen von § 73b SGB V durch das GKV-WSG in ihren Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung aufgenommen hatten40. In der seit dem 1. April 2007 geltenden Fassung von § 73b SGB V findet sich hingegen kein Hinweis mehr, dass an der hausarztzentrierten Versorgung ausschließlich besonders qualifizierte41 Hausärzte teilnehmen können42. Den Krankenkassen können indes, wie § 73b Abs. 5 Satz 1 SGB V klarstellt, in ihren Verträgen mit den Hausärzten bzw. Hausarztverbänden oder Kassenärztlichen Vereinigungen nach § 73b Abs. 4 SGB V weitere fachliche Teilnahmevoraussetzungen bestimmen, um die medizinisch-fachliche Qualität des teilnehmenden Hausarztes zu wahren oder zu steigern. So setzen einige der Verträge eine Teilnahme des Hausarztes als koordinierender Arzt an mindestens einem „Disease-Management-Programm“ (=DMP) voraus43.

___________ 39

Vgl. BT-Drucks. 15/1525, S. 97; vgl. auch Hess, in: Kasseler Kommentar zur Sozialversicherung, München 2007, § 73b SGB V, Rn. 19; von Schwanenflügel, NZS 2006, S 285 (286). 40 Vgl. bspw. § 4 Abs. 1 des Vertrages zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe und der VdAK-Landesbereichsvertretung Westfalen-Lippe vom 16.06.2005. 41 Kritisch zur daraus resultierenden Differenzierungsproblematik, was einen besonders qualifizierten Hausarzt im Vergleich zu einem herkömmlichen Hausarzt auszeichnet, Quaas/Zuck (o. Fn. 9), § 19, Rn. 10; Scholz, GesR 2003, S. 369 (370). 42 So noch § 73b Abs. 2 Satz 1 SGB V in der seit dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes. 43 Vgl. z.B. § 5 Absatz 1, 1. Spiegelstrich des Vertrages zwischen dem Hausärzteverband Hessen e.V., dem BKK Landesverband Hessen und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 22.08.2007.

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bb) Hausarzt als Lotse Bei der Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung wird der Hausarzt für den Versicherten zum ersten Ansprechpartner, sieht man von Notfällen ab. Infolge seiner zentralen Stellung in der ambulanten Versorgung soll der Hausarzt wie ein „Lotse“44 oder „gatekeeper“45 die vertragsärztliche Betreuung koordinieren46. Aufgrund seiner Stellung als erster Ansprechpartner im Krankheitsfall ist der Hausarzt zum einen über die Behandlungen anderweitiger fachärztlicher Leistungserbringer informiert und kann – gegebenenfalls nach weiterer Abstimmung mit diesen – die Erkenntnisse aus deren Behandlungen berücksichtigen. Zum anderen führt der Hausarzt aufgrund seiner zentralen Stellung und des damit verbundenen häufigeren direkten Kontakts mit dem Versicherten intensivere Gespräche und erlangt damit mehr Informationen über den Versicherten, z.B. über sein familiäres, soziales und berufliches Umfeld47. Unter Berücksichtigung dieser Informationen kann der Hausarzt seine Behandlung besser auf die Person des Versicherten abstimmen und dabei auch seine vergleichsweise umfangreichen Kenntnisse von früheren Erkrankungen des Versicherten beachten. Im Idealfall entwickelt sodann der Versicherte infolge abnehmender Anonymität ein noch stärkeres Vertrauen gegenüber dem Hausarzt bei gleichzeitiger Verringerung der Hemmschwelle, auch persönliche Sorgen und Ängste zu schildern, die der Hausarzt für eine zielgenauere Diagnose und Behandlung berücksichtigen kann48. Gleichzeitig begründet die zentrale Stellung des Hausarztes als Lotse allerdings auch Risiken. Freilich kann der Hausarzt den Facharzt nicht vollumfänglich ersetzen. Der Hausarzt dürfte auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht gewillt sein, die den fachärztlichen Leistungserbringern vorbehaltenen Leistungen selbst zu erbringen, da er grundsätzlich ohnehin nur hausärztliche Leistungen und keine Leistungen der fachärztlichen Versorgung abrechnen kann49. Da allerdings der Versicherte den fachärztlichen Leistungserbringer nur nach haus___________ 44

Vgl. bereits BT-Drucks. 15/1170, S. 143. Ehrlinghagen/Pihl, Der Hausarzt als Lotse im System der ambulanten Gesundheitsversorgung?, Bochum 2004, S. 6; Wasem/Greß/Kessel, Hausarztmodelle in der GKV – Effekte und Perspektiven vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Erfahrungen, Essen 2003, S. 21. 46 Vgl. Walzik, Hausarztzentrierte Versorgung aus der Sicht der deutschen Bundesregierung, in: 9. Münsterische Sozialrechtstagung, Hausärztliche Versorgungssysteme in Europa – Modelle für eine zukunftsorientierte Patientenversorgung, Karlsruhe 2004, S. 1 (2); von Schwanenflügel, NZS 2006, S. 285 (286). 47 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 65. 48 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 65 f. 49 Vgl. BSG, Urt. v. 27.06.2007 – B 6 KA 24/06 R, GesR 2008, 22 (23); BSG, Urt. v. 31.05.2006 – B 6 KA 74/04 R, GesR 2006, 496 (497). 45

– –

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ärztlicher Überweisung aufsuchen darf, wird ihm der Zugang zu einem weiteren Arzt, der – getreu dem „Vier-Augen-Prinzip“ – vom Hausarzt bislang nicht diagnostizierte Krankheitsursachen erkennen kann, erschwert. Im schlimmsten Fall können hieraus eine Verzögerung oder gar eine Vereitelung des Heilungsprozesses resultieren.

cc) Freiwillige Modifizierung des Versicherungsschutzes § 73b Abs. 5 Satz 1 SGB V gewährt den Krankenkassen einen Spielraum, die Inhalte der hausarztzentrierten Versorgung über die gesetzlichen Vorgaben hinaus in ihren Verträgen mit den Hausärzten bzw. anderweitigen Vertragspartnern gemäß § 73b Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 bis Nr. 4 SGB V weiter auszugestalten. Erklärt ein Versicherter nunmehr seine Teilnahme zur hausarztzentrierten Versorgung, so wirkt er damit auf seine Ansprüche gegenüber seiner Krankenkasse auf Krankenbehandlung durch ärztliche Leistungserbringer gestalterisch ein. Unabhängig von den wirtschaftlichen Konsequenzen, die hieraus für die Beziehung zwischen dem Versicherten und der Krankenkasse folgen können50, führt die Teilnahme insbesondere zu medizinischen und strukturellen Konsequenzen für die Beziehung zwischen dem Versicherten und seinem ausgewählten Hausarzt, worüber ihn die Krankenkasse informieren muss51. (a) In medizinischer Hinsicht verpflichten einige Krankenkassen ihre teilnehmenden Hausärzte, bei erforderlichen Operationen unter Berücksichtigung der örtlichen vorhandenen Versorgungsstrukturen zu prüfen, ob eine ambulante Operation möglich ist52. Auf den ersten Blick erscheint eine derartige Verpflichtung für den Leistungsanspruch des Versicherten unerheblich zu sein. Denn der Versicherte hat einen Anspruch auf eine stationäre Behandlung und somit auf eine stationäre Operation ohnehin erst, wenn eine ambulante Behand___________ 50 Einige Krankenkassen übersenden ihren Versicherten bei Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung bspw. eine Befreiungskarte, bei dessen Vorlage der Hausarzt auf die Praxisgebühr verzichtet. Wieder andere Krankenkassen erstatten ihren teilnehmenden Versicherten die Praxisgebühren, sofern sie eine Quittung über die erfolgte Zahlung der Praxisgebühr bei ihren Krankenkassen einreichen. Kritisch zu wirtschaftlichen Vorteilen, die wie ein Verzicht auf die Praxisgebühr nur dadurch von dem Patienten erzielt werden können, indem er Krankenkassenleistungen konsumiert: Schulteis (o. Fn. 23), S. 142, 154. 51 Vgl. § 73b Abs. 6 SGB V. Hingegen übertragen die Krankenkassen diese Informationspflicht zumeist in ihren Verträgen auf die teilnehmenden Hausärzte (vgl. § 6, 1. Spiegelstrich des Vertrages zwischen dem Hausärzteverband Hessen e.V., dem BKK Landesverband Hessen und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 22.08.2007). 52 So z.B. § 6, 12. Spiegelstrich des Vertrages zwischen dem Hausärzteverband Hessen e.V., dem BKK Landesverband Hessen und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 22.08.2007.

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lung und somit auch eine ambulante Operation das Behandlungsziel nicht erreichen können53. Jedoch wird anzunehmen sein, dass die Hausärzte aufgrund ihrer Vertragspflicht zur Prüfung von ambulanten Behandlungsmöglichkeiten ihre Patienten restriktiver zur stationären Behandlung überweisen werden; darin liegt gleichzeitig die Gefahr, dass ambulante Behandlungspotentiale irrtümlich auch dann noch bejaht werden, selbst wenn ausschließlich eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit bestand. Des weiteren kommt eine Pflicht für die Hausärzte in Betracht, die an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmenden Patienten verstärkt auf Teilnahmemöglichkeiten an „Disease-Management-Programmen“ oder an Präventionsuntersuchungen hinzuweisen. Neben den eigens erbrachten medizinischen Leistungen kann die Teilnahme für den Versicherten zu Konsequenzen für seine medikamentöse Versorgung führen. So verpflichten einige Krankenkassen die teilnehmenden Hausärzte, bei der Verordnung von Medikamenten auf bestehende Rabattverträge sowie auf die Verwendung von preisgünstigen Generika sowie bei einer unvermeidbaren Auswahl aus Originalpräparaten auf die preisgünstigsten Präparate zu achten54. Als positiv wird der Versicherte ärztliche Serviceleistungen ansehen, die er bei Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung beanspruchen kann, wie z.B. eine Begrenzung der Wartezeit bei vorab vereinbarten Terminen auf 30 Minuten, sofern nicht Notfälle bevorzugt zu behandeln sind55. (b) In struktureller Hinsicht berührt die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung das in § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V einfachgesetzlich verankerte Recht des Versicherten auf freie Arztwahl56. Gleichzeitig darf jedoch nicht verkannt werden, dass das Angebot einer hausarztzentrierten Versorgung nicht zwingend die Einführung eines sog. Primärarztsystems, wie es in beispielsweise aus England bekannt ist57, bedeutet. Zum einen beruht die Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung und die damit einhergehende Bindung an den Hausarzt als „Lotsen“ oder „gatekeeper“ auf der freiwilligen Entscheidung des Versicherten; der Versicherte hat also die Wahl, ob er seine vertragsärztliche Versorgung nach Maßgabe der hausarztzentrierten Versorgung modifizieren möchte oder nicht. Entscheidet sich der Versicherte für eine Teilnahme, so ver___________ 53 Vgl. Gitter/Schmitt (o. Fn. 21), § 9, Rn. 53; vgl. noch unlängst BSG, Beschl. v. 25.09.2007 – GS 1/06; BSG, Urt. v. 09.06.1998 – B 1 KR 18/96 R, BSGE 82, 158 (161 f.). 54 Vgl. bspw. § 5, 6. Spiegelstrich des Vertrages zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen und der VdAK/AEV-Landesvertretung Hessen vom 26.04.2005. 55 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 69ff. m.w.N. 56 Vgl. zum Recht auf freie Arztwahl Wigge, VSSR 1996, S. 399 (410). 57 Vgl. Tesic, VSSR 1996, S. 389 (392); Hoppe, VSSR 1996, S. 369 (372).

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bleibt ihm zunächst ein Wahlrecht dergestalt, dass er einen der teilnehmenden Hausärzte auswählen kann. Weiter verfügt der Versicherte über eine freie Arztwahl, wenn er für fachärztliche Behandlungen nach hausärztlicher Überweisung sich für einen Facharzt entscheiden kann. Schließlich steht dem Versicherten das Recht zu, nach Ablauf der einjährigen Mindestbindung seine Teilnahme zu beenden, um wieder vollumfänglich nach seiner Wahl hausärztliche oder fachärztliche Behandlungen zu empfangen. Zudem kann der Versicherte aus wichtigem Grund während der einjährigen Mindestteilnahmedauer seine Teilnahme kündigen und sodann wieder frei unter den Vertragsärzten auswählen58. Da der Versicherte somit seine freie Arztwahl nicht aufgibt, sondern sie kraft freien Willens auf eine Restarztwahlfreiheit reduziert, ist die Modifizierung des Rechts auf freie Arztwahl als zulässig anzusehen59. Aufgrund der mindestens einjährigen Bindung kann der vom Versicherten ausgewählte Hausarzt grundsätzlich davon ausgehen, für mindestens ein Jahr dessen erster ambulanter ärztlicher Ansprechpartner zu sein. Er verfügt insoweit für einen längeren Zeitraum über einen „sicheren“ Patienten und damit auch über eine größere wirtschaftliche Sicherheit. Gleichwohl sollte der Hausarzt trotz dieser unabhängig von der Qualität seiner Leistung erzeugten zeitlichen Bindung sich mit gleicher Sorgfalt und Akribie dem Versicherten widmen, als wenn er durch jede seiner Behandlungen neu das Patientenvertrauen gewinnen müsste, um so letztlich eine optimierte Versorgung zu gewährleisten60.

b) Leistungserbringung durch fachärztliche Leistungserbringer aa) Grundsatz der Bindung an die hausärztliche Überweisung Mit der Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung verpflichtet sich der Versicherte, ambulante fachärztliche Behandlungen nur auf Überweisung des von ihm ausgewählten Hausarztes zu empfangen. Der Terminus fachärztliche Behandlung darf dabei nicht gleichgesetzt werden mit Behandlung durch einen Facharzt. Denn auch Leistungserbringer, die an der hausärztlichen Versorgung teilnehmen, können durchaus über eine abgeschlossene Facharztausbildung verfügen, wie beispielsweise die Fachärzte für Allgemeinmedizin oder Internisten ohne Schwerpunktbezeichnung, die die Teilnahme an der hausärzt___________ 58

Vgl.§ 73b Abs. 3 Satz 3, 2. Halbsatz SGB V; vgl. auch im Folgenden unter III,

4, a. 59 Vgl. Sproll, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, München 2007, § 73b SGB V, Abs. 14; Schulteis (o. Fn. 23), S. 135 ff. 60 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 80.

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lichen Versorgung gewählt haben61. Angesichts der gesetzlich verankerten62 Trennung zwischen hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung ist daher die ambulante fachärztliche Behandlung gemäß § 73b Abs. 3 Satz 2 SGB V nicht als Behandlung durch einen Facharzt zu verstehen, sondern als Empfang von Leistungen im Rahmen der fachärztlichen Versorgung, die erbracht wird durch Vertragsärzte mit einer Fachgebietsbezeichnung mit Ausnahme der Ärzte für Allgemeinmedizin, Internisten und Kinderärzte ohne Teilgebietsbezeichnung, die an der hausärztlichen Versorgung teilnehmen63. Im Gegensatz zur hausärztlichen Versorgung, die sich durch eine intensivierte Betreuung des Patienten in seinem sozialen Umfeld und durch weitergehende Koordinierungs- und Dokumentationsaufgaben auszeichnet64, werden in der fachärztlichen Versorgung insbesondere spezialistische diagnostische und therapeutische Maßnahmen erbracht65. Als Ausnahmen von dem Grundsatz der Überweisung sieht § 73b Abs. 3 Satz 2 SGB V allein die fachärztliche Behandlung durch Augenärzte und Frauenärzte vor. Gleichzeitig gewährt der Gesetzgeber den Krankenkassen die Freiheit, in ihren Satzungen weitere Befreiungen von dem Überweisungsgebot zu verankern66. Für den Verzicht auf eine Überweisung für Behandlungen durch Augen- und Frauenärzte führt der Gesetzgeber die Begründung an, diese Ärzte nähmen Funktionen der Grundversorgung wahr67. Darüber hinaus erweist sich diese Ausnahmeregelung auch aus anderen Gründen als sachgerecht. So kann ein Hausarzt eine augenärztliche Untersuchung bereits deshalb nicht vornehmen oder gar ersetzen, weil er in der Regel nicht über die hierzu erforderliche apparative Ausstattung verfügt. Müsste sich der Versicherte bei einer Augenerkrankung trotzdem zunächst an seinen Hausarzt wenden, um dort eine Überweisung abzuholen, würde dies nicht nur den administrativen Aufwand des Hausarztes erhöhen, vielmehr könnte der damit einhergehende zusätzliche Zeitaufwand für den Versicherten ein Kriterium sein, nicht an der hausarztzentrierten Versorgung teilzunehmen68. Der Grundsatz der erforderlichen Überweisung für den Empfang fachärztlicher Behandlungen ist zwingend notwendig, um die mit der hausarztzentrierten Versorgung verfolgten Ziele einer Stärkung des Hausarztes im Sinne eines ers___________ 61

Vgl. § 73 Abs. 1a Nr. 1, Nr. 3 SGB V. Vgl. § 73 Abs. 1 Satz 1 SGB V. 63 Vgl. Heinze, MedR 1996, S. 252 (256). 64 § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB V. 65 BSG, Urt. v. 18.06.1997 – 6 RKa 58/96, BSGE 80, 256 (258). 66 Vgl. § 73b Abs. 3 Satz 4 SGB V. 67 BT-Drucks. 16/4247, S. 36. 68 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 95. 62

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ten Ansprechpartners im Krankheitsfall und der Vermeidung von Doppeluntersuchungen in Verbindung mit nicht aufeinander abgestimmten Behandlungen der fachärztlichen Leistungserbringer zu erreichen. Für den Patienten, der es gewohnt war, bei einer Erkältung direkt den Facharzt für Hals-NasenOhrenheilkunde aufzusuchen, wird dies sicherlich eine Umstellung bedeuten. Gleichzeitig wird davon auszugehen sein, dass mit einem Erfolg der hausarztzentrierten Versorgung die Anzahl der Facharztbesuche sinken und sich damit langfristig der Anteil der Hausärzte unter den Vertragsärzten wieder erhöhen wird69. Erste statistische Auswertungen zeigen allerdings, dass die Anzahl der Facharztkonsultationen durch Versicherte, die an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen, bislang nahezu gleich geblieben ist70. Mit der Einschränkung des Zugangs zu fachärztlichen Behandlungen durch das Überweisungsgebot gewinnt gleichzeitig der Anspruch des Versicherten auf eine Überweisung an Bedeutung. So hat der Hausarzt als Vertragsarzt die Durchführung der diagnostischen und therapeutischen Leistungen durch einen anderen Vertragsarzt durch Überweisung zu veranlassen, sofern diese erforderlich sind71. Realisiert der Hausarzt nun eine allgemein anerkannte Überlegenheit einer speziellen fachärztlichen Therapie gegenüber der von ihm verfolgten Therapie und sieht er trotzdem von einer Überweisung ab, überschreitet er seine fachliche Kompetenz und begeht einen Behandlungsfehler, indem er die Überweisung unterlässt72.

bb) Facharztbesuch ohne Überweisung Da der Versicherte bei Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung seinen Anspruch auf eine fachärztliche Behandlung auf die Fälle einschränkt, in denen er eine hausärztliche Überweisung vorlegen kann, stellt sich die Frage, ob dem Versicherten ohne Vorlage einer Überweisung überhaupt noch ein Leistungsanspruch gegenüber dem fachärztlichen Leistungserbringer zusteht. So könnte man einerseits argumentieren, allein mit der Teilnahmeerklärung zur hausarztzentrierten Versorgung möchte der Versicherte grundsätzlich noch nicht den Ausschluss anderer Ansprüche auf ambulante vertragsärztliche Be___________ 69 Zur in den vergangenen Jahren gegenläufigen Tendenz einer Zunahme spezieller fachärztlicher Leistungen vgl. Hoppe, VSSR 1996, S. 369 (370); BayLSG, Urt. v. 24.11.2004 – L 12 KA 269/04, Breithaupt 2005, 184 (186). 70 Vgl. S. 2 der Presseerklärung vom 11.01.2008 des AQUA-Instituts für angewandte Qualitätsforschung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH. 71 Vgl. § 24 Abs. 1 Satz 1 BMV-Ä. 72 Vgl. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 99, Rn. 12; OLG München, Urt. v. 14.07.1994 – 24 U 571/92, NJW-RR 1995, 85 (87).

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handlungen herbeiführen73. Andererseits ist es gerade der hausarztzentrierten Versorgung wesensimmanent, dass der Versicherte seine aus seinem Status als Versicherter folgenden Ansprüche auf andere, nicht hausärztliche ambulante Behandlungen freiwillig an die Voraussetzung knüpft, eine hausärztliche Überweisung vorzulegen. Erfüllt der Versicherte diese Voraussetzung nicht, hat er grundsätzlich74 auch keinen Anspruch gegenüber seiner Krankenkasse auf eine fachärztliche Behandlung mit der Konsequenz, dass ein ohne hausärztliche Überweisung aufgesuchter Vertragsarzt die Behandlung ablehnen kann75. Ist dem fachärztlichen Leistungserbringer die Teilnahme des Versicherten an der hausarztzentrierten Versorgung bekannt und behandelt er ihn ohne Vorlage der hausärztlichen Überweisung, riskiert er damit gleichzeitig, diese Behandlung nicht abrechnen zu können, da er eine Leistung erbringt, auf die der Versicherte keinen Anspruch hat76.

c) Leistungsempfang außerhalb des Wohnorts und bei Notfällen Besondere praktische Bedeutung hat für den Versicherten die Frage, wie er ambulante vertragsärztliche Leistungen erlangen kann, wenn er seinen ausgewählten Hausarzt nicht aufsuchen kann. Diese Frage stellt sich beispielsweise, wenn der Hausarzt vorübergehend aufgrund von Urlaubsabwesenheit nicht am Wohnort des Versicherten weilt. Da § 73b SGB V auf eine derartige Konstellation nicht eingeht, empfiehlt es sich für die Krankenkassen, gemäß § 73b Abs. 3 Satz 4 SGB V diesbezügliche Vorgaben in ihren Satzungen zu normieren bzw. in ihren Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung zu vereinbaren. So befreien einige Krankenkassen ihre Versicherten von der Bindung an den ausgewählten Hausarzt als ersten Ansprechpartner, wenn dieser urlaubsabwe-

___________ 73

So Sproll, in: Krauskopf (o. Fn. 59), § 73b SGB V, Rn. 20. Zu denkbaren Ausnahmekonstellationen, in denen auch ohne hausärztliche Überweisung ein Anspruch auf fachärztliche Behandlung bestehen kann, vgl. im Folgenden unter II, 3, c. 75 Hess, in: Kasseler Kommentar (o. Fn. 39), § 73b SGB V, Rn. 7; Schulteis (o. Fn. 23), S. 102. 76 Anders ist zu entscheiden, wenn dem fachärztlichen Leistungserbringer die Teilnahme des Versicherten nicht bekannt ist und die Einschränkung der Behandlungsberechtigung sich auch nicht aus anderen Anhaltspunkten (z.B. aus den in der Versichertenkarte gespeicherten Daten) ergibt. In derartigen Konstellationen begründet der Versicherte zumindest den Anschein eines Behandlungsanspruchs, so dass der fachärztliche Leistungserbringer die im Vertrauen auf den bestehenden Anspruch erbrachte Behandlung abrechnen darf; vgl. Hess, in Kasseler Kommentar (o. Fn. 39), § 73b SGB V, Rn. 7. 74

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send ist77; dies könnte nach den Vorstellungen der Vertragsparteien auch dazu führen, dass der Versicherte einen anderen Hausarzt seiner Wahl, aber auch einen fachärztlichen Leistungserbringer aufsuchen dürfte. Um letzteres zu vermeiden, wäre an eine Bestimmung in den Satzungen bzw. in den Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung zu denken, wonach sich der Versicherte bei Urlaubsabwesenheit des Hausarztes primär an den Vertreter seines Hausarztes zu wenden hat78. Eine vergleichbare Konstellation liegt vor, wenn der Versicherte während seines eigenen Urlaubs eine ambulante vertragsärztliche Behandlung benötigt. Wiederum empfiehlt es sich, auch diese Konstellation in den Satzungen bzw. in den Verträgen zur hausarztzentrierten Versorgung zu berücksichtigen, z. B. durch eine Verpflichtung des Versicherten, nach Möglichkeit am Urlaubsort einen Hausarzt aufzusuchen, der ebenfalls an der hausarztzentrierten Versorgung teilnimmt. Alternativ kann die Satzung für derartige Ausnahmefälle dem Versicherten auch das Recht gewähren, Regelleistungen bei anderen Vertragsärzten am Urlaubsort zu empfangen und anschließend gegenüber der Krankenkasse einen Anspruch auf Ersatz der angefallenen Kosten geltend zu machen79. Schließlich ist der Versicherte von der Bindung an den ausgewählten Hausarzt zu befreien, wenn er diesen nicht in der gebotenen Eile aufsuchen kann, z.B. aufgrund eines Notfalls als einer Situation, in der aufgrund einer derart bedrohlichen Erkrankung aus medizinischen Gründen eine umgehende ärztliche Behandlung notwendig ist80. Grundsätzlich wird dem Versicherten im Notfall das Recht zuzusprechen sein, auch einen fachärztlichen Leistungserbringer direkt zu kontaktieren. Denn auch bei Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung darf der Versicherte in Notfällen grundsätzlich gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V sogar Ärzte, die nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen sind, aufsuchen. Erst recht muss es daher dem Versicherten gestattet sein, sich in Notfällen – nötigenfalls im Rahmen der Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V81 – von Vertragsärzten, die an der fachärztlichen ___________ 77

Vgl. die Teilnahmeerklärung des Versicherten gemäß Anlage 9 zum Vertrag zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen und der VdAK/AEV-Landesvertretung Hessen vom 26.04.2005. 78 So bspw. die Vorgabe in § 7 Abs. 5 Sätze 3 und 4 des Vertrages zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen und der VdAK/AEV Landesvertretung Niedersachsen vom 01.07.2005. 79 Vgl. Kamps, ZMGR 2004, S. 91 (94). 80 Zur Definition des Notfalls vgl. BSG, Urt. v. 01.02.1995 – 6 RKa 9/94, SozR 32500 § 76 Nr. 2; BSG, Urt. v. 31.07.1963 – 3 RK 92/59, BSGE 19, 270 (272). 81 Zur Gewährleistung einer vertragsärztlichen Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten (Notdienst) gemäß § 75 Abs. 1 Satz 2 SGB V für die an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmenden Versicherten sind nicht mehr die Kassenärztlichen Vereinigungen, sondern seit dem 1. April 2007 die Krankenkassen verpflichtet; allerdings

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Versorgung teilnehmen, behandeln zu lassen82. Wiederum kommt aber eine Modifizierung durch die Krankenkassen dergestalt in Betracht, wonach auch in Notfällen sich die Versicherten nach Möglichkeit an Hausärzte wenden sollen83.

4. Beendigung der Teilnahme an der hausarztzentrierten Versorgung a) Beendigung durch den Versicherten Der Versicherte nimmt grundsätzlich für die Mindestdauer von einem Jahr an der hausarztzentrierten Versorgung teil84. Es empfiehlt sich, bereits in den Satzungen sowie in der Teilnahmeerklärung klarzustellen, ob entweder der Versicherte im Anschluss an die Mindestdauer die Fortsetzung seiner Teilnahme ausdrücklich zu erklären hat, oder ob die Teilnahme auch im Anschluss an die Mindestdauer bis auf Weiteres fortbesteht, sofern sie nicht vom Patienten beispielsweise unter Einhaltung einer Kündigungsfrist zum Quartalsende gekündigt wird85. Ein außerordentliches Kündigungsrecht steht dem Versicherten bei Vorliegen eines wichtigen Grundes zu86, so bei einer starken Störung des Vertrauensverhältnisses zum Hausarzt oder einem Wohnortwechsel des Versicherten87.

b) Beendigung der Teilnahme des Hausarztes Die Teilnahme des Hausarztes an der vertragsärztlichen Versorgung kann durch Kündigung des Hausarztes wie auch durch Kündigung der Krankenkasse gegenüber dem Hausarzt erfolgen, weil der Hausarzt nicht mehr die sachlichen ___________ können die Krankenkassen den Notdienst durch die Kassenärztlichen Vereinigungen gegen Aufwendungsersatz sicherstellen lassen (vgl. § 73b Abs. 4 Satz 5 und Satz 6 SGB V). 82 Vgl. Schulteis (o. Fn. 23), S. 97 f. 83 Vgl. § 7 Abs. 5 Sätze 3 und 4 des Vertrages zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen und der VdAK/AEV Landesvertretung Niedersachsen vom 01.07.2005. 84 Vgl. § 73b Abs. 3 Satz 3 SGB V. 85 So z.B. § 13 Abs. 1 des Vertrages zwischen dem Hausärzteverband Hessen e.V., dem BKK Landesverband Hessen und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 22.08.2007. 86 Vgl. § 73b Abs. 3 Satz 3, 2. Halbsatz SGB V. 87 Vgl. von Schwanenflügel, NZS 2006, S. 285 (286); Sproll, in: Krauskopf (o. Fn. 59), § 73b SGB V, Rn. 17; Hess, in: Kasseler Kommentar (o. Fn. 39), § 73b SGB V, Rn. 5.

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Teilnahmevoraussetzungen erfüllt oder sonstige wesentliche Pflichten im Rahmen seiner Teilnahme verletzt hat88. Mit dem Ende der Teilnahme des Hausarztes endet zugleich die Teilnahme der Versicherten, die bis dato durch Auswahl dieses Hausarztes an der hausarztzentrierten Versorgung teilnahmen. Alternativ können die Krankenkassen in einer derartigen Konstellation den Versicherten das Recht gewähren, einen anderen an der hausarztzentrierten Versorgung teilnehmenden Hausarzt auszuwählen89.

c) Beendigung aufgrund krankenkassenspezifischer Gründe Die Teilnahme des Hausarztes und des Versicherten endet – gegebenenfalls gegen ihren Willen – auch dann, wenn die Krankenkassen den zur Sicherstellung der hausarztzentrierten Versorgung geschlossenen Vertrag mit einem Hausärzteverband90, dem der bislang teilnehmende Hausarzt angehört, kündigen. Ferner kann eine Krankenkasse in ihrer Satzung ein Recht zur Kündigung gegenüber dem einzelnen Versicherten begründen, wenn dieser wiederholt gegen seine Teilnahmepflichten dergestalt verstieß, dass er fachärztliche Behandlungen ohne Überweisung beanspruchte. Letztlich kann eine Beendigung auch infolge eines Zusammenschlusses einer bislang teilnehmenden Krankenkasse mit einer Krankenkasse, die nicht am gleichen Vertrag zur hausarztzentrierten Versorgung beteiligt ist, erfolgen91.

III. Ausblick Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich noch keine umfassende Beurteilung vornehmen, ob und inwieweit die hausarztzentrierte Versorgung geeignet ist, die ambulante Versorgung für die Versicherten in medizinischer Hinsicht und für die Krankenkassen in wirtschaftlicher Hinsicht zu optimieren. Bereits vor___________ 88 Vgl. § 11 des Vertrages zwischen dem Hausärzteverband Hessen e.V., dem BKK Landesverband Hessen und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 22.08.2007. 89 Vgl. § 12 Abs. 14 des Vertrages zwischen dem Hausärzteverband Hessen e.V., dem BKK Landesverband Hessen und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 22.08.2007. 90 Vgl. § 73b Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 SGB V. 91 So ist bspw. die KEH – Krankenkasse Eintracht Heusenstamm seit der Fusion mit der BKK Mobil Oil zum 1. Januar 2008 keine Ersatzkrankenkasse mehr und somit nicht mehr an den Vertrag zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen und der VdAK/AEV-Landesvertretung Hessen vom 26.04.2005 gebunden; vgl. Pressemitteilung der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 30.01.2008.

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liegende kritische Untersuchungen92 sollten sorgfältig überprüft werden. Es erscheint auch angezeigt, dass die Krankenkassen weitere Modelle zur hausarztzentrierten Versorgung entwickeln und auf diese Weise Teilnahmeanreize für ein gesundheitsbewusstes und eigenverantwortliches Verhalten des Versicherten schaffen. Im Hinblick darauf erscheint eine gesetzgeberische Zurückhaltung geboten93. Im Rahmen der weiteren Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung wird der Gesetzgeber allerdings über die Fortführung der hausarztzentrierten Versorgung zu entscheiden haben. Dabei wird der Frage, ob weiterreichende gesetzliche Anreize für den Versicherten, an der hausarztzentrierten Versorgung teilzunehmen, geschaffen werden sollen, maßgebliche Bedeutung zukommen.

___________ 92 Vgl. Medical Tribune vom 18.01.2008, S. 18, wonach unter Berufung auf eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung die Hausarztmodelle nicht die erwünschte Wirkung erbracht hätten. 93 Schulteis (o. Fn. 23), S. 248.

Die Rabatte der pharmazeutischen Unternehmer nach § 130a SGB V Preisregulierung durch Sozialversicherungsrecht als verfassungsrechtliches Problem

Von Friedhelm Hase, Siegen

I. Sozialversicherung als „Sonderbereich“ in der Wettbewerbsgesellschaft In der erwerbswirtschaftlichen Ordnung wird durch Sozialversicherungsrecht ein Sonderbereich konstituiert, in dem aus Gründen des sozialen Schutzes die Regeln des Wettbewerbs weithin außer Kraft gesetzt sind. Die „Arbeiterversicherung“ war im Kaiserreich errichtet worden, weil in der Sphäre der Arbeitnehmer Sicherungsprobleme aufgebrochen waren, die in der „Privatrechtsgesellschaft“1 – mit den Mitteln, über die der einzelne verfügt – nicht bewältigt werden konnten2. Mit staatlichem Rechtszwang wurde die Sorge für Risiken existenziellen Gewichts auf öffentlich-rechtliche Regelungsmuster umgestellt und eine „Sicherheitsproduktion“ eröffnet, die den Zuteilungs- und Belastungskriterien des Marktes nicht unterliegt3. An diesem Regelungsansatz hat das ___________ 1 Der Begriff stammt von Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, Ordo 17 (1966), 75 ff.; gemeint ist eine Gesellschaft, in der keine umfassende staatliche Verantwortung für alle gesellschaftlich relevanten Fragen anerkannt ist, in der vielmehr „sozial überaus wesentliche Verhältnisse und öffentlich-allgemein bedeutsame Angelegenheiten der Ordnung durch dezentralisiert-gesellschaftliche Vorgänge und damit dem Privatrecht überantwortet bleiben“, Franz Bydlinski, Das Privatrecht im Rechtssystem einer „Privatrechtsgesellschaft“, 1994, S. 63. 2 Richard Weyl hatte die Sozialgesetzgebung Bismarcks in einem „Bankerott des Privatrechts“ begründet gesehen, in dessen „Unvermögen ... zur Heilung der socialen Schäden, welche in der fast völligen Schutzlosigkeit der Arbeiter gegen die wirtschaftlichen Nachteile von Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter verborgen sind“, Lehrbuch des Privatrechts, 1894, S. 5 ff., 920; im selben Sinne Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 3, 5.Aufl. 1913 (Neudruck 1964), S. 286 ff., 289. 3 Zur Begründung der Sozialversicherung aus einem „Versagen“ des Marktes und den Begrenzungen privatrechtsimmanenter Absicherungsmöglichkeiten vgl. nur Joseph

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Recht festgehalten, während die sozialen Vorsorgesysteme, endgültig in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, zu gesellschaftsprägenden, auf erhebliche Teile des volkswirtschaftlichen Gesamteinkommens ausgreifenden Einrichtungen aufgestiegen sind. So bietet die gesetzliche Krankenversicherung heute rund 90 % der Bevölkerung in Deutschland eine umfassende medizinischgesundheitliche Versorgung, deren wirtschaftlicher Wert in den Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Versicherten nirgendwo abgebildet wird. Was der einzelne aus der Versicherung erhält, richtet sich nach seinem gesundheitlichen Bedarf und den medizinischen Möglichkeiten (nicht nach der Zahlungskraft), die Beitragsbelastung hängt von der Höhe der Arbeitseinkünfte (nicht von betriebswirtschaftlichen Kalkulationen oder vom Umfang der in Anspruch genommenen Leistungen) ab4. Die Leistungserbringer, die zur Verwirklichung der Behandlungsansprüche der Versicherten in das Leistungsgeschehen der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen sind (§§ 69 – 140h SGB V), partizipieren demnach an einem System, in dessen Struktur die Informationsund Steuerungsfunktion des Preises ausgeschaltet ist. Trotz dieser spezifischen Anlage des Rechts soll dieses System im Ergebnis aber doch „wirtschaftlich“ operieren, geradezu beschwörend wird im SGB V von allen Seiten immer wieder die strikte Beachtung des „Wirtschaftlichkeitsgebots“ gefordert5. Damit aber werden im Gesetz Erwartungen formuliert, die an sich bei der Ausrichtung des Krankenversicherungsrechts gar nicht einlösbar sind: Woraus soll sich „Wirtschaftlichkeit“ in einem Versorgungssystem ergeben, in dem entsprechende Anreize fehlen, die wichtigsten Akteure von eigener Kostenverantwortung nahezu vollständig freigestellt sind und zwischen den Leistungserbringern ein offener Wettbewerb durchweg ausgeschlossen ist? Solange solche Vorgaben wirksam sind, ist das Gebot eines sparsamen Umgangs mit knappen Mitteln offenbar nur auf einem Wege zur Geltung zu bringen: Den durch Sozialrecht zunächst ausgeblendeten, damit aber nicht verschwindenden ökonomischen Zwängen kann nur, auf einer zweiten, kompensatorischen Regelungsschicht, durch administrative Kontroll-, Begrenzungs- und Auffangmechanismen Rechnung getragen werden. Die Gesetzgebung der letzten drei Jahrzehnte hat sich bekanntlich mit immer neuen Kostendämpfungsprogrammen

___________ E. Stiglitz/Bruno Schönfelder, Finanzwissenschaft, 2. Aufl. 1989, S. 336 ff.; Bydlinski (Fn. 1), S. 34 f.; Friedrich E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, 101 (103 ff.). 4 Bei versicherungspflichtigen Rentnern oder den Beziehern von Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld oder Kurzarbeitergeld wird der Beitrag im Wesentlichen nach den jeweiligen Entgeltersatzleistungen bemessen, §§ 232a, 237 SGB V. 5 Vgl. nur § 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, § 12 Abs. 1, §§ 70 Abs. 1 Satz 2, 71 Abs. 1 Satz 1, 72 Abs. 2 SGB V.

Die Rabatte der pharmazeutischen Unternehmer

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fortlaufend selbst überboten6, mit denen aber bei der Persistenz der überkommenen – Kostenkontrollen geradezu abweisenden – Systemstruktur durchweg nur partielle oder vorübergehende Erfolge erzielt worden sind. Durch diese eigenartige Dialektik von anti-ökonomischer rechtlicher Struktur und nachgelagerten Sparsamkeitsgeboten und -kontrollen wird in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Druck aufgebaut, der sich zunehmend in rabiaten Kürzungsmaßnahmen entlädt, deren sachliche Begründung zweifelhaft bleibt. Sozialversicherungssysteme stehen, wenn es in ihrem Bereich um Leistungseinschränkungen oder um die Absenkung von Vergütungen geht, unter Rechtfertigungszwang. In jedem Fall sind nämlich Rechtsverhältnisse berührt, aufgrund derer den Versicherungsträgern gegenüber rechtlich gesicherte Erwartungen bestehen. Die Krankenversicherten haben nach bislang geltendem Recht Anspruch auf eine Versorgung, die grundsätzlich das medizinisch Erforderliche in seiner ganzen Breite umfasst, den Leistungserbringern steht eine angemessene Vergütung der regelgerecht für die Kassen durchgeführten Maßnahmen zu. Deshalb sind Einschnitte den Versicherten wie den Leistungserbringern gegenüber nicht einfach mit der Haushaltslage der Versicherungsträger – der Knappheit der Mittel oder der Notwendigkeit einer Ausgabenreduktion – zu begründen, es bedarf vielmehr einer Erklärung aufgrund der spezifischen Regeln und Rationalitätsmaßstäbe des sozialrechtlichen Systems, die für die jeweiligen Rechtsverhältnisse maßgebend sind: Kostenbegrenzungsprogramme müssen „immanent“, vor den Kriterien des Leistungs- und Leistungserbringungsrechts, zu rechtfertigen sein! Deshalb sind auch allein damit, dass die Kosten der Versorgung und die entsprechenden Ausgaben der Kassen – insgesamt oder sektoral – angestiegen sind, keine Kürzungen zu legitimieren. Es kann schließlich in den Rechtsbeziehungen zu den Versicherten oder den Leistungserbringern Gründe geben, mit denen die Ausgabenerhöhungen im Lichte des Sozialrechts schlüssig zu erklären sind. Kostenbegrenzung ist somit im Sozialversicherungsbereich grundsätzlich nur insoweit legitim, als mit ihr in den betroffenen Rechtsverhältnissen eindeu___________ 6 Genannt seien nur das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz vom 27. Juni 1977 (BGBl. I, S. 1069), das Gesetz zur Ergänzung und zur Verbesserung kostendämpfender Maßnahmen in der Krankenversicherung vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I, S. 1578), das Gesundheitsreformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I, S. 2477), das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I, S. 2266), das Beitragsentlastungsgesetz vom 1. November 1996 (BGBl. I, S. 1631), die beiden GKV-Neuordnungsgesetze vom 23. Juni 1997 (BGBl. I, S. 1518 und S. 1520), das Gesundheitsreformgesetz 2000 vom 22. Dezember 1999 (BGBl. I, S. 2626), das Beitragssatzsicherungsgesetz vom 23. September 2002 (BGBl. I, S. 4637), das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003 (BGBl. I, S. 2190) und das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26. März 2007 (BGBl. I, S. 378); speziell zum Pharmabereich Horst Bartels/Dorothee Brakmann, Kostendämpfung und -kontrolle in der Arzneimittelversorgung, Gesundheitsrecht 2007, S. 145 ff.

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tige, aus den Regeln des jeweiligen Systems hergeleitete Unterscheidungen zwischen (für die Versorgung der Versicherten) notwendigen und nicht notwendigen (deshalb zu vermeidenden) Leistungsaufwendungen zur Geltung gebracht werden. Die neuere Gesetzgebung wird diesem Anspruch, wie schon erwähnt, zum Teil nicht gerecht. Insoweit sind die Regelungen über die Pharmarabatte, wie sie jetzt in § 130a SGB V enthalten sind, ganz besonders aufschlussreich.

II. Die Rabattregelungen in § 130a SGB V Die Pharmarabatte gehen auf das Beitragssatzsicherungsgesetz vom 23. Dezember 2002 zurück7, durch die spätere Gesetzgebung sind die Regelungen ausgeweitet und sehr stark verändert worden. Zum Verständnis der Vorschriften bedarf es eines kurzen Blicks auf die Mechanismen der Preisbildung auf dem deutschen Pharmamarkt8.

1. Zur Preisbildung für pharmazeutische Erzeugnisse Dieser Markt ist insgesamt stark durch öffentliches Recht reglementiert, die Abgabepreise (von Fertigarzneimitteln) werden jedoch grundsätzlich von den Pharmaherstellern bestimmt: Sie legen den Preis fest, den sie für angemessen halten9, erst auf dem Vertriebsweg setzen – relativ starre – rechtliche Bindungen ein. Nach der Arzneimittelpreisverordnung, die auf § 78 AMG beruht10, darf der Großhandel nur einen (als Prozentsatz) festgelegten Aufschlag auf den Einkaufspreis erheben, die Apotheken schließlich rechnen einen weiteren (teils prozentualen, teils fixen) Aufschlag hinzu11. Aufgrund dieser rechtlichen Bin___________ 7 Näher zu dem Gesetz Ulrich Becker, Arzneimittelrabatte und Verfassungsrecht – zur Zulässigkeit der Preisabschläge nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz, NZS 2003, 561 ff.; Helge Sodan, Das Beitragssatzsicherungsgesetz auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, NJW 2003, 1761 ff., jeweils mit Nachw. 8 Grundlegend dazu Arend Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006 (Diss. Bremen 2003), insbes. S. 323 ff., 326 ff.; ferner Robert Francke, Die regulatorischen Strukturen der Arzneimittelversorgung nach dem SGB V, MedR 2006, 683 ff.; Ulrich Vorderwühlbecke, Darstellung der Steuerungsinstrumente der Arzneimittelversorgung aus der Sicht der pharmazeutischen Industrie, MedR 2006, 693 ff. 9 Vgl. dazu nur BVerfGE 114, 196 (199 f.); Francke (Fn. 8), S. 683. 10 Verordnung vom 14. November 1980 (BGBl. I, S. 2147), zuletzt geändert durch Art. 32 und 33 des Gesetzes vom 26. März 2007 (BGBl. I, S. 378). 11 Der prozentuale Aufschlag der Apotheken liegt bei Fertigarzneimitteln z. Z. bei 3 %, der Fixbetrag bei 8,10 € (zuzüglich Umsatzsteuer).

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dung des Vertriebs („der zweiten Hand“) sind die Preise für verschreibungspflichtige Medikamente in den Apotheken in Deutschland grundsätzlich gleich. „Endabnehmer“ der Arzneimittel sind aber ganz überwiegend die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung, und aus dem Zusammenspiel der arzneimittelrechtlichen Vertriebsreglementierung mit dem Versorgungssystem des Krankenversicherungsrechts ergibt sich für die Pharmaproduzenten eine geradezu phantastische Ausgangssituation: Autonom festgesetzte Preise werden über einen gebundenen Vertriebsweg zu den Kassen „transportiert“, die nach Maßgabe des SGB V grundsätzlich alles finanziell aufzufangen haben, was von den Vertragsärzten zu ihren Lasten verordnet wird. Insoweit wäre also – zugunsten der Hersteller – eine einzigartige Kombination von unternehmerischer Freiheit, Preisbindung und öffentlich-rechtlicher Abnahme- und Vergütungsgarantie realisiert.

2. Steuerungsmechanismen des Krankenversicherungsrechts im Bereich der pharmazeutischen Versorgung Weil ein solches Regelungsarrangement (bei dem die Unternehmer frei und alle übrigen Akteure rechtlich gebunden sind, jeder Preiswettbewerb deshalb im Ansatz ausgeschlossen ist) offenbar nicht funktionieren kann, hat das Krankenversicherungsrecht im Pharmabereich ein ganzes Bündel von Steuerungsmechanismen etabliert, die auf eine Kostenkontrolle und -begrenzung gerichtet sind. Das Grundprinzip dieser Steuerungsansätze kann man darin sehen, dass das öffentlich-rechtliche Versorgungssystem ökonomische Effekte, die bei offenen Märkten und funktionierendem Wettbewerb erwartet werden könnten, mit seinen Mitteln gleichsam substituiert oder künstlich erzeugt. Hier sind nur die allerwichtigsten Steuerungselemente zu benennen:  An erster Stelle stehen natürlich die Festbeträge nach § 35 SGB V, mit denen die Leistungspflicht der Krankenkassen grundsätzlich auf Medikamente des „unteren Preisdrittels“ begrenzt wird. Insoweit kann das Krankenversicherungsrecht auf das Verhalten des (rationalen) Marktteilnehmers rekurrieren, der vor dem Kauf die Preise vergleicht und sich im Allgemeinen für eines der günstigeren Angebote entscheiden wird12.  Dann sind die Arzneimittelvereinbarungen und Richtgrößen nach § 84 SGB V anzuführen, mit denen – im Rahmen des Normenvertragssys___________ 12

Das Bundesverfassungsgericht hat die Festbetragsregelung in der Entscheidung vom 17. Dezember 2002 für verfassungskonform erklärt, BVerfGE 106, 275 (297 ff.); zur Vereinbarkeit mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht Urteil des EuGH vom 16. März 2004, Slg. 2004, I – 2493.

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tems der „gemeinsamen Selbstverwaltung“ – das Verordnungsverhalten der Vertragsärzte i. S. einer Begrenzung der Ausgaben der Kassen gesteuert werden soll.  Schließlich ist etwa auf die Preisvergleichsliste hinzuweisen, die der Gemeinsame Bundesausschuss nach § 92 Abs. 2 SGB V als Bestandteil der Arzneimittelrichtlinie aufzustellen hat. Hier geht es darum, die „Markttransparenz“ zu erhöhen und als Steuerungsressource zu nutzen.

3. Die Rabattgesetzgebung a) Zum Regelungsanlass Trotz dieser und vieler weiterer Regulierungsansätze sind die Ausgaben der Kassen für Medikamente bislang immer wieder gestiegen, besonders stark offenbar in den Jahren 2000 und 2001. Dies wiederum war der Anlass für die Einführung der Rabatte der Pharmahersteller (und der pharmazeutischen Großhändler), wobei in der Gesetzgebung mehr oder weniger deutlich geltend gemacht wurde, die bisherige Ausgabensteuerung der gesetzlichen Krankenversicherung habe im Arzneimittelsektor nicht oder allenfalls sehr unvollkommen funktioniert, vor allem was die Vereinbarungen der gemeinsamen Selbstverwaltung betrifft13. Mit solchen Einschätzungen werden jedoch schwierige Grundsatzfragen aufgeworfen:  Woran ist überhaupt zu erkennen, dass die Ausgaben für bestimmte ärztlich verordnete medizinische Leistungen – hier: für Arzneimittel – „zu hoch“, dass sie „überproportional angestiegen“ sind? Welche Maßstäbe und Kriterien stehen in dieser Hinsicht in einem System zu Gebote, in dem das Leistungsgeschehen grundsätzlich, wie gezeigt, nicht durch den Preis gesteuert wird?  Insoweit kann man die Leistungsaufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherung – i. S. des Prinzips der Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) – auf die Lohn- und Gehaltsentwicklung in der Bundesrepublik (und den entsprechenden Anstieg der Beitragseinkünfte der Kassen) beziehen, doch dem steht entgegen, dass eine gleichzeitige und gleichmäßige Veränderung der Arzneimittelausgaben der Kassen und der Arbeitseinkünfte der Versicherten außerordentlich unwahrscheinlich ist und im Grunde allenfalls zufällig eintreten kann. Krankheitsepidemien etwa ___________ 13 Vgl. nur BT-Drs. 15/28, S. 11 f.: Bei den Arzneimittelausgaben seien „überproportionale Ausgabenzuwächse“ zu verzeichnen, die im Rahmen der Selbstverwaltung vereinbarten Ziele habe man verfehlt.

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richten sich nicht nach den Tarifrunden auf dem deutschen Arbeitsmarkt, und Entsprechendes gilt vor allem auch für medizinischtherapeutische Innovationen, die gerade im Arzneimittelbereich zu neuen und „überproportional“ steigenden, medizinisch aber doch absolut notwendigen (also keineswegs durch administrative Begrenzungsmechanismen zu vermeidenden) Ausgaben führen können.  Alternativ kann man die Ausgaben für Medikamente an den früheren Aufwendungen in derselben Sparte oder an den übrigen Leistungsaufwendungen der Kassen (für ärztliche Behandlung, Krankenhausbehandlung, Hilfsmittel usw.) messen, doch auch in dieser Perspektive ist aus einem signifikanten Anstieg der Arzneimittelausgaben nicht – zuverlässig – abzulesen, dass Mittel unökonomisch verwendet werden und insofern Einsparpotenziale bestehen. Es wären leicht Beispiele dafür zu finden, dass durch die Einführung wirksamer – wenn auch teurer – medikamentöser Therapien wesentlich aufwendigere Behandlungsmaßnahmen (wie operative Eingriffe) – und damit nicht zuletzt menschliches Leiden – vermieden werden können. Insgesamt dürfte ein „überproportionaler Anstieg“ der Arzneimittelausgaben zu den übergreifenden Entwicklungstrends moderner Gesundheitsversorgungssysteme gehören, die letztlich in der Sache selbst begründet sind14.

b) Die Regelungen in § 130a SGB V aa) Beitragssatzsicherungsgesetz vom 21. Dezember 2002 Darauf wird sogleich zurückzukommen sein, zunächst aber zu den Rabattregelungen selbst! Mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz ist vor allem der Herstellerrabatt nach § 130a Abs. 1 und 2 SGB V eingeführt worden, der den Kassen – zusätzlich zum überkommenen Apothekenrabatt nach § 130 SGB V – von den Apotheken zu gewähren ist, diesen aber von den Herstellern erstattet wird (§ 130a Abs. 1 Satz 2 SGB V). Der Rabatt war zunächst in der Höhe gestaffelt (6% des Abgabepreises bei preiswerten, 10 % bei teureren Medikamenten; für sehr teure Mittel galt eine spezielle Bemessungsvorschrift), heute liegt er einheitlich bei 6 %. Festbetragsarzneimittel waren und sind von diesem Preisabschlag nicht betroffen (im geltenden Recht § 130a Abs. 3 SGB V). Mit dem Rabatt war für die Jahre 2003 und 2004 ein Preismoratorium – zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung – verbunden: Preiserhöhungen führten in dieser Zeit, wie sich aus § 130a Abs. 2 SGB V ergibt, automatisch zu einer ent___________ 14 Zur Entwicklung der Arzneimittelversorgung näher Rolf Rosenbrock/Thomas Gerlinger, Gesundheitspolitik, 2004, S. 163 ff.

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sprechenden Erhöhung des Abschlags und waren demnach aus der Sicht der Hersteller sinnlos. Von allen Einzelheiten und vom – außerhalb des SGB V geregelten – Großhandelsrabatt, der mit dem Gesetz vom 21. Dezember 2002 ebenfalls eingeführt worden ist, muss hier abgesehen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen gegen die skizzierten Rabattregelungen zurückgewiesen15, der Zweite Senat hat die Vorschriften dann durch Beschluss vom 13. September 2005 – mit zum Teil eher kursorischer Begründung – als verfassungskonform eingestuft16.

bb) GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003 Durch das GKV-Modernisierungsgesetz17 wurde Abs. 1a in § 130a SGB V eingefügt und damit der Herstellerrabatt für das Jahr 2004 pauschal auf 16 % des Abgabepreises heraufgesetzt. Damit sollte die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Jahr um rund eine Milliarde Euro entlastet werden18. 2005 galten dann wieder die niedrigeren Rabattsätze, so dass fast schon damit ein weiterer „überproportionaler Kostenanstieg“ vorprogrammiert war.

cc) Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung vom 26. April 2006 Der nächste gesetzliche Eingriff ließ denn auch nicht lange auf sich warten, mit dem Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittel-

___________ 15

Entscheidung des Ersten Senats vom 26. März 2003, BVerfGE 108, 45 ff. BVerfGE 114, 196 ff.; zu der Entscheidung Christofer Lenz, Die Umgehung des Bundesrats bei der Verordnungsänderung durch Bundesgesetz, NVwZ 2006, 296 ff.; Maximilian Wallerath, Preisdirigismen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 2006, 505 ff.; Heinz-Uwe Dettling, GKV, Grundrechte und Verhältnismäßigkeitsprüfung – zugleich Besprechung des Beschlusses des BVerfG zum Beitragssatzsicherungsgesetz, MedR 2006, 81 ff. 17 BGBl. I, S. 2190; zu dem Gesetz Till-Christian Hiddemann/Stefan Muckel, Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, NJW 2004, 7 ff.; Winfried Kluth, Ärztliche Berufsfreiheit unter Wirtschaftlichkeitsvorbehalt?, MedR 2005, 65 ff. 18 Vgl. BT-Drs. 15/1525, S. 71, 75; Klaus Limpinsel, in: Jahn, SGB (Losebl.), § 130a SGB V Rn. 1. 16

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versorgung19 wurde § 130a SGB V vor allem um die Absätze 3a und 3b ergänzt:  Durch die Einfügung des Abs. 3a wurde, angelehnt an die Regelung in Abs. 2, für die Zeit vom 1. April 2006 bis zum 31. März 2008 ein weiteres Preismoratorium zugunsten der Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung festgelegt.  Abs. 3b hingegen hat einen ganz neuartigen Preisabschlag, den „Generikarabatt“, zum Gegenstand. Für festbetragsfähige (und inzwischen auch weithin von Festbetragsregelungen erfasste) Medikamente erhalten die Kassen ab dem 1. April 2006 einen Abschlag von 10 % des Abgabepreises, sofern letzterer den Festbetrag um mindestens 30 % unterschreitet, entfällt der Rabatt. Gerechtfertigt wurde der „Generikarabatt“ mit einer Neuregelung im Heilmittelwerbegesetz, die zum 1. Mai 2006 wirksam geworden ist20. Hersteller und Großhändler dürfen den Apotheken seitdem keine Zuwendungen für apothekenpflichtige Arzneimittel mehr gewähren, wie dies vorher weithin üblich gewesen war: Naturalrabatte (durch Abgabe von Arzneimittelpackungen ohne Berechnung), Bonuszahlungen, Rückvergütungen, Werbezuschüsse und dergleichen sind also ausgeschlossen, die entsprechenden Einsparungen der Pharmaunternehmer sollen aber – durch die Anordnung des neuen Rabatts – den Krankenkassen, nicht den Herstellern oder dem Großhandel zugute kommen21.

dd) Rabattverträge nach § 130a Abs. 8 SGB V Weitere Neuerungen hat das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26. März 2007 gebracht22, vor allem wurde die Attraktivität der Rabattverträge zwischen den Kassen und den pharmazeutischen Unternehmern, die bereits seit Anfang 2003 in § 130a Abs. 8 SGB V vorgesehen sind, wesentlich erhöht23. Nachdem bei solchen Verträgen zunächst zahlreiche, vor allem auch praktische ___________ 19 BGBl. I, S. 984; zu dem Gesetz Kay Peter Purnhagen, Rabattgewährung für apothekenpflichtige Arzneimittel nach dem Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung (AVWG), MedR 2006, 315 ff. 20 Art. 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung. 21 Näher dazu Limpinsel (Fn. 18), § 130a SGB V Rn. 8. 22 BGBl. I, S. 378; zu dem Gesetz Melanie Bitter, Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) im Überblick, GesR 2007, 152 ff. 23 Zu den Verträgen jetzt Jörg Karenfort/Christiane Stopp, KrankenkassenRabattverträge und Kartellvergaberecht: Kompetenzkonflikt ohne Ende?, NZBau 2008, 232 ff.; aus der Rechtsprechung OLG Düsseldorf NZBau 2008, 194 ff.

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Schwierigkeiten aufgetreten waren24, ist nun eine rasante, für die Zukunft möglicherweise vielversprechende Entwicklung festzustellen.

c) Zum Regelungsansatz des § 130a SGB V Stellt man die seit 2003 durch das Gesetz angeordneten Herstellerrabatte den wesentlich früher eingeführten Ausgabenbegrenzungsmechanismen des Krankenversicherungsrechts (wie Festbeträgen, Arzneimittelvereinbarungen und Richtgrößen) gegenüber, so stechen drei strukturelle Unterschiede hervor:  Erstens folgen die Preisabschlagsvorschriften nicht mehr dem vertrauten Prinzip, in der Sozialversicherung gezielt ausgeschaltete Marktfunktionen und -effekte durch besondere Vorkehrungen des öffentlichen Rechts zu kompensieren oder zu ersetzen, die Regelungen präsentieren sich eher als autoritative, dirigistische Interventionen des staatlichen Rechts.  Zweitens ist in den Rabattvorschriften – mit den abrupten Schwankungen der Abschlagssätze, den verschiedenen Befristungen und nicht zuletzt dem eigenartigen Änderungs- und Aufhebungsvorbehalt in § 130a Abs. 4 SGB V25 – ein stabiles Regelungsmuster nicht zu erkennen, insgesamt sind die Bestimmungen situativ-diskretionär angelegt.  Drittens und vor allem wird in den Rabattregelungen in keiner Hinsicht zwischen medizinisch notwendigen (sinnvollen, unvermeidbaren) und ungerechtfertigten (oder unerwünschten) Ausgaben für die pharmazeutische Versorgung unterschieden, die Abschläge sind grundsätzlich für alle zu Lasten der Krankenkassen abgegebenen Medikamente gleich, sie treffen gleichsam Sünder und Gerechte in derselben Weise. All dies bedürfte einer Präzisierung, die hier aber nicht geleistet werden kann. Im Folgenden sollen vielmehr Fragen der verfassungsrechtlichen Bewertung der Pharmarabatte umrissen werden, wobei Besonderheiten des „Generikaabschlags“ nach § 130a Abs. 3b SGB V allerdings weithin auszusparen sind.

___________ 24 Dazu Limpinsel (Fn. 18), § 130a SGB V Rn. 12; Karl-Heinz Schönbach, Zentralisierung oder mehr Wettbewerb im Arzneimittelbereich, Gesundheits- und Sozialpolitik 2006, 39 (43 ff.). 25 Das Bundesministerium für Gesundheit hat die Abschläge nach europarechtlichen Vorgaben zu überprüfen, unter Umständen soll es sie – wobei auf „die gesamtwirtschaftliche Lage“ abzustellen ist – aufheben oder verringern.

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III. Die Rabattvorschriften in der verfassungsrechtlichen Bewertung 1. Herstellerrabatt als Sonderabgabe oder Steuer? In der öffentlich-rechtlichen Literatur werden die Rabatte nach § 130a SGB V zum Teil als Sonderabgaben oder sogar als Verkehrssteuern eingestuft und damit, weil die einschlägigen Legitimationsvoraussetzungen offenbar nicht gegeben sind, ohne weiteres als verfassungsrechtswidrig qualifiziert26. Diese Auffassung wird letztlich auf das – aus grundsätzlichen methodischen Gesichtspunkten – zurückzuweisende Argument gestützt, die Rabatte seien ihrer wirtschaftlichen Funktion nach der Belastung mit einer öffentlichen Abgabe gleichzustellen. Entscheidend sind hier aber, wie auch das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 13. September 2005 anerkannt hat, die Bestimmungen der juristischen Form27, und danach sind gesetzliche Preisabschläge wie die erörterten von der Heranziehung zu öffentlichen Abgaben im Ansatz zu unterscheiden28.

2. Art. 12 Abs. 1 GG a) Grundrechtseingriff Dass mit den Rabattregelungen i. S. des § 130a SGB V in die Berufsfreiheit der Hersteller eingegriffen wird, bedarf kaum einer weiteren Begründung29. Betroffen ist die Freiheit der Berufsausübung, es handelt sich demnach um einen ___________ 26 Vgl. Friedrich E. Schnapp, Der Apothekenrabatt – eine Sonderabgabe sui generis?, VSSR 2003, 343 ff.; Hanno Kube/Ulrich Palm/Christian Seiler, Finanzierungsverantwortung für Gemeinwohlbelange – zu den finanzverfassungsrechtlichen Maßstäben quersubventionierter Preisinterventionen, NJW 2003, 927 (929 ff.); ähnlich Gerd Morgenthaler, Die Zwangsrabatte der Apotheken, Großhändler und Pharmaunternehmen nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz, in: Marburger Gespräche zum Pharmarecht, Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 16 (22 ff., 24): „sonderabgabenähnliche Finanzierungspflicht“. 27 BVerfGE 114, 196 (249 f.). 28 Vgl. Becker (Fn. 7), S. 564: „Es geht ... gerade nicht um die Erzielung von Einnahmen, sondern ausschließlich um die Reduzierung von Ausgaben“. 29 Vgl. BVerfGE 114, 196 (242 ff., insbes. 244). Bei den Rabattregelungen ist eine andere Ausgangssituation als bei der Festbetragsfestsetzung gegeben, in deren Auswirkungen auf die berufliche Betätigung der Leistungserbringer das Bundesverfassungsgericht einen „bloßen Reflex der auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung bezogenen Regelung“, aber keine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit gesehen hatte, BVerfGE 106, 275 (298 f.).

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Eingriff auf der untersten Stufe i. S. der geläufigen Dogmatik des Art. 12 GG30. Die Probleme und Zweifelsfragen betreffen die Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigung. b) Rechtfertigung des Eingriffs aa) Kritik der Abwägung Gesetzliche Beschränkungen der Berufsausübungsfreiheit sind bekanntlich gerechtfertigt, soweit sie zur Verfolgung verfassungslegitimer öffentlicher Zwecke – geeignet, – erforderlich und darüber hinaus – zumutbar (d. h. nicht unverhältnismäßig im engeren Sinn) sind31. Im Beschluss vom 13. September 2005 – zu den Herstellerrabatten nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – rekurriert das Bundesverfassungsgericht insoweit auf eine Güterabwägung, in der den grundrechtlich geschützten Belangen der Pharmahersteller die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als ein „überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ – gleichsam als Wert der Werte – gegenübergestellt wird32. Abwägungen, in die auf der einen Seite derart allgemeine, geradezu hyperkomplexe Größen (wie die „Finanzierbarkeit der Sozialversicherung“) eingebracht werden, sind aber aus mindestens zwei Gründen nicht akzeptabel:  Erstens wird der Grundrechtsschutz mit solchen Abwägungen in ein Abhängigkeitsverhältnis zur wirtschaftlich-finanziellen Gesamtsituation öffentlicher Einrichtungen gestellt. Wenn die aktuelle Finanzlage des jeweiligen Systems (hier: der gesetzlichen Krankenversicherung) dies erlaubt, mag der einzelne (hier: der Pharmahersteller) sich erfolgreich auf die Grundrechtsgewährleistung berufen, sobald die Situation kritisch wird, nimmt der Grundrechtsschutz ab, je schlechter sich die Finanzlage darstellt, desto mehr tritt die Freiheit zurück. Grundrechtsgarantien sind aber in ihrem Gehalt prinzipiell nicht nach dem Problemdruck in den öffentlichen Kassen zu bestimmen. Im Übrigen kann der Grundrechtsberechtigte in der Abwägung mit „Hyperwerten“ (wie der finanziellen Stabilität eines sozialen Sicherungssystems) immer nur verlieren, denn wenn der Fortbestand des großen Ganzen in Frage steht, haben individu___________ 30

Vgl. nur Hans D. Jarass/Bodo Pieroth, GG, 8. Aufl. 2006, Art. 12 Rn. 24 ff. Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 377 (397 ff.). 32 BVerfGE 114, 196 (248). 31

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elle Belange (aus logischen, ethischen und rechtlichen Gründen) immer zurückzustehen!  Zweitens ist zu bestreiten, dass bei sozialen Vorsorgesystemen und zumal bei der Krankenversicherung in einer pauschalen Einsparung von Mitteln überhaupt ein legitimes öffentliches Regelungsziel gesehen werden darf. Das Sparziel muss, vor allem auch in der verfassungsrechtlichen Perspektive, ausdifferenziert und verfeinert werden: Das legitime öffentliche Interesse ist von vornherein nicht unterschiedslos und abstrakt auf Ausgabenreduzierung, sondern nur auf die Vermeidung überflüssiger, in der Sache nicht gerechtfertigter Aufwendungen gerichtet. Um nochmals die oben angeführten Beispiele heranzuziehen: Bei Epidemien können Ausgabenerhöhungen in der Krankenversicherung vollauf gerechtfertigt sein, und Entsprechendes gilt etwa, wenn durch die Einführung teurer Medikamente andere, belastendere medizinische Maßnahmen zu vermeiden sind.

bb) Das Legitimationsproblem bei den Rabatten nach § 130a SGB V Erst wenn die Rabatte nach § 130a SGB V in der verfassungsrechtlichen Bewertung auf ein derart präzisiertes öffentliches Regelungsziel bezogen werden, tritt das durch dieses Kostenbegrenzungsinstrument aufgeworfene Legitimationsproblem deutlich hervor. In den Rabattvorschriften werden, wie gezeigt, anders als in der überkommenen Ausgabensteuerung (etwa durch Festbeträge oder durch Arzneimittelvereinbarungen der gemeinsamen Selbstverwaltung), grundsätzlich keine Unterscheidungen zwischen – im Lichte des Sozialversicherungsrechts – notwendigen und tunlichst zu vermeidenden Aufwendungen und Kosten getroffen. In dieser Hinsicht sind die Regelungen sozusagen blind, die gesetzlich angeordneten Abschläge treffen alle zu Lasten der Kassen abgegebenen Arzneimittel in derselben Weise. Verfassungsrechtlich dürften pauschale Grundrechtsbeeinträchtigungen dieser Art von vornherein nicht als Regelungen auf Dauer, sondern allenfalls als kurzfristige Notbehelfe zu rechtfertigen sein: als brachiale Interventionen, mit denen in einer kritischen finanziellen Situation Spielräume für eine strukturelle Weiterentwicklung des Krankenversicherungsrechts eröffnet werden sollen. Diese wären aber auch gezielt zur Ausarbeitung differenzierter und effizienter Steuerungsansätze zu nutzen, mit denen den Bedingungen grundrechtlicher Freiheit in der gesundheitlichen Versorgung stärker Rechnung getragen wird. Entsprechende Perspektiven sind aber in der Sozialgesetzgebung bislang kaum deutlich geworden.

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3. Art. 14 GG Die Eigentumsgarantie wird gegenüber den Rabattregelungen des Krankenversicherungsrechts letztlich kaum erfolgreich ins Feld zu führen sein. Die Pharmahersteller können sich auf das Recht am Gewerbebetrieb berufen, doch ob und wieweit dieses in Art. 14 GG verankert ist, gilt weiterhin als nicht recht geklärt33. In jedem Fall dürfte hier ein Eingriff in eine entsprechende Rechtsposition zu verneinen sein.

4. Art. 3 Abs. 1 GG Relevante Probleme betreffen allerdings das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG, das in der Verfassungsgerichtsentscheidung vom 13. September 2005 nicht einmal erwähnt worden ist. Durch gesetzlich angeordnete Preisabschläge zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung entsteht eine Schieflage gegenüber der privaten Krankenversicherung und deren Versicherten, für die es vor dem allgemeinen Gleichheitssatz einer stichhaltigen Begründung bedarf34. Pauschale Verweise auf den sozialen Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherung dürften insoweit nicht weiterhelfen, zumal auch die private Krankenversicherung in der Verfassungsordnung anerkannte Aufgaben zu erfüllen hat.

IV. Europarechtliche Fragen Auf die europarechtliche Dimension der Pharmarabatte kann hier nur mit zwei Bemerkungen hingewiesen werden.

1. Die Wettbewerbsregeln des Gemeinschaftsrechts (Art. 81 – 89 EG) Fragen nach der Vereinbarkeit der Rabattvorschriften des § 130a SGB V mit den Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags sind insofern entschärft, als der EuGH in der Entscheidung zu den Festbeträgen des deutschen Krankenversicherungsrechts – m. E. ganz zu Recht – erkannt hat, dass die Krankenkassen keine Unternehmen i. S. des Wettbewerbsrechts sind35. Schon deshalb – aber auch aus

___________ 33

Dazu BVerfGE 68, 193 (222 f.); 77, 84 (118); 81, 208 (227 f.); 96, 375 (397); 105, 252 (278); BVerwGE 118, 226 (241). 34 Näher Wallerath (Fn. 16), S. 510 ff., insbes. 512 f. 35 EuGH Slg. 2004, I – 2493.

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weiteren Gründen – sind die Herstellerrabatte auch nicht als staatliche Beihilfen nach Art. 87 EG zu qualifizieren.

2. Die Pharmarabatte im Lichte der Warenverkehrsfreiheit (Art. 23 – 31 EG) Die zentralen europarechtlichen Fragen, die durch die Preisabschläge nach § 130a SGB V aufgeworfen werden, betreffen die Warenverkehrsfreiheit i. S. der Art. 23 – 31 EG36. Soweit Medikamente als „Gemeinschaftswaren“ aus einem anderen Mitgliedstaat der EG in die Bundesrepublik eingeführt werden, ist der Schutzbereich der Grundfreiheit eröffnet. Fraglich ist, ob die Freiheit beeinträchtigt wird. Die Rabatte sind zwar weder Zölle oder zollgleiche Abgaben (Art. 25 EG) noch mengenmäßige Beschränkungen i. S. des Art. 28 EG, allerdings kommt nach der Dassonville-Formel37 eine Einstufung als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung in Betracht. Dann wäre die weitere Frage nach der Rechtfertigung des Eingriffs zu stellen, und sie führt letzten Endes zu Problemen, die bereits bei Art. 12 GG angesprochen worden sind. Die in Art. 30 EG festgelegten Eingriffsrechtfertigungsgründe dürften hier nicht einschlägig sein, vor allem ist der Regelungsvorbehalt zum „Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen“ nicht für Pharmapreisabschläge zugunsten der deutschen Krankenkassen in Anspruch zu nehmen. Somit kommt es darauf an, ob die Rabatte auf einen vertragsimmanenten, ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund i. S. der Cassis de Dijon-Rechtsprechung38 gestützt werden können: Ob die Regelungen also durch ein zwingendes, seitens der Bundesrepublik geltend zu machendes Gemeinwohlerfordernis gerechtfertigt sind. Ein solches „zwingendes Erfordernis“ könnte aber grundsätzlich wiederum nur in der Vermeidung sachlich nicht gerechtfertigter, unerwünschter Aufwendungen und Ausgaben der Krankenkassen zu sehen sein, doch weil die Preisabschläge unterschiedslos alle zu Lasten der Kassen verordneten Medikamente betreffen, ergibt sich auch hier ein grundlegendes, kaum zu lösendes Legitimationsproblem.

___________ 36 Vgl. Elmar Mand, Zwangsrabatte nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – Europarechtliche Bewertung, in: Marburger Gespräche zum Pharmarecht (Fn. 26), S. 56 (58 ff.). 37 Urteil des EuGH vom 11. Juli 1974, Slg. 1974, 837: „Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen“. 38 Urteil des EuGH vom 20. Februar 1979, Slg. 1979, 649.

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V. Resümee und Ausblick Die Preisabschläge, wie sie in § 130a SGB V geregelt sind, müssen als Symptom einer Krise der Steuerungsmechanismen des Krankenversicherungsrechts im Bereich der pharmazeutischen Versorgung gesehen werden. Die Vorschriften zeigen an, dass die Kostenbegrenzung durch Festbeträge oder Vereinbarungen der Selbstverwaltung an Grenzen gestoßen ist, doch die Abschläge selbst dürften in keiner Hinsicht Ansätze für eine strukturelle Weiterentwicklung des Krankenversicherungsrechts bieten. Daher sind sie allenfalls – für begrenzte Zeit – als ein Instrument zu legitimieren, mit dessen Hilfe der Gesetzgebung Möglichkeiten zu einer Effektivierung des Rechts eröffnet werden sollen. Perspektivisch könnten sich in diesem Zusammenhang die Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmaherstellern, wie sie in § 130a Abs. 8 SGB V vorgesehen und jetzt auch in einem relevanten Umfang zustande gekommen sind, als ein wichtiges weiterführendes Steuerungselement erweisen. Mit solchen Verträgen werden Elemente des Wettbewerbs und des Aushandelns von Preisen in das bislang sehr starre öffentlich-rechtliche System der Gesundheitsversorgung eingebracht. Die gesetzliche Krankenversicherung wird künftig, unter den Bedingungen der Globalisierung und eines grundlegenden demographischen Wandels, vor beträchtliche Herausforderungen gestellt sein. Sie kann nur gewinnen, wenn es gelingt, Marktstrukturen und Wettbewerbsmechanismen für ihre Zwecke zu nutzen, auch wenn damit Felder eröffnet werden, die einer direkten Kontrolle durch öffentliche Akteure entzogen sind.

Posteriorisierung der Gesundheitspolitik? Opportunitätskosten in der Rechtsdogmatik des Sozialstaats Von Stefan Huster, Bochum

Kaum jemand hat das System der gesetzlichen Krankenversicherung derartig intensiv und subtil analysiert, wie Friedrich E. Schnapp dies in einer Vielzahl von Publikationen getan hat.1 Dabei hat der Jubilar das Krankenversicherungsund das gesamte Sozialrecht auch immer wieder in der Architektonik des sozialen Verfassungsstaates verortet.2 Diese Beiträge sind heute umso wertvoller, als die öffentliche Gesundheitsversorgung angesichts der demographischen Entwicklung und des medizinisch-technischen Fortschritts vor enormen Herausforderungen steht,3 deren juristische Bewältigung erst beginnt. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob und in welcher Weise zukünftig auch Leistungsbeschränkungen innerhalb dieses Versorgungssystems vorgenommen werden können und müssen. In der gesundheitspolitischen Diskussion ist dies ein besonders heikler Punkt; die einschlägigen Stellungnahmen trauen sich nur sehr ___________

Der vorliegende Beitrag ist ein Ergebnis eines Forschungsaufenthalts am Kennedy Institute of Ethics an der Georgetown University (Washington, DC), der von der DFG gefördert wurde. 1 Erwähnt seien nur: F. E. Schnapp, Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung, in: B. Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, S. 1179 ff.; ders., Muß ein Vertragsarzt demokratisch legitimiert sein?, NZS 2001, S. 337 ff.; ders., Untergesetzliche Rechtsquellen im Vertragsarztrecht am Beispiel der Richtlinien, in: FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 497 ff.; ders., Konkurrenzschutz für niedergelassene Ärzte gegen medizinische Versorgungszentren?, NZS 2004, S. 449 ff.; ders./P. Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl. 2006. 2 Vgl. nur F. E. Schnapp, Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, VSSR 1995, S. 101 ff.; ders., Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, JuS 1998, S. 873 ff.; ders., Die Sozialstaatsklausel – Beschwörungsformel oder Rechtsprinzip?, SGb 2000, S. 341 ff.; ders., Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, DVBl. 2004, S. 1053 ff.; ders./M. Kaltenborn, Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, 2001. 3 Vgl. nur T. Kopetsch, Zur Rationierung medizinischer Leistungen im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2001, S. 19 ff.

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vorsichtig an eine „Priorisierung“ und die entsprechende „Posteriorisierung“ medizinischer Leistungen heran.4 Für diese Zurückhaltung gibt es nachvollziehbare Gründe, die mit dem besonderen Charakter des Gutes der Gesundheit und der darauf bezogenen medizinischen Versorgung zusammenhängen (I.). Vielleicht führt es aber zu einer gewissen Entspannung der Diskussion, wenn man bedenkt, dass die medizinische Versorgung sowohl für den Gesundheitszustand der Bevölkerung als auch für die soziale Gesundheitsverteilung von begrenzter Bedeutung ist (II.). Diese Erkenntnis lenkt den Blick auf die Opportunitätskosten des Versorgungssystems und deren rechtspolitische und -dogmatische Relevanz (III.): Möglicherweise sollte unter diesem Aspekt die Gesundheitspolitik selbst „posteriorisiert“ werden (IV.).

I. Der existentielle und transzendentale Charakter der Gesundheit und seine Konsequenz für die Reformdiskussion Gesundheit ist in zweierlei Hinsicht in besonderes Gut. Zum einen haben gesundheitliche Beeinträchtigungen eine existentielle Dimension, die andere soziale Defizite nicht in der gleichen Weise besitzen: So schlimm es sein mag, etwa keine Arbeit zu haben oder sein Leben mit sehr begrenztem Einkommen fristen zu müssen, so unvergleichbar intensiver ist die Erfahrung einer schweren, vielleicht sogar lebensbedrohenden Krankheit und der damit verbundenen Schmerzen und psychischen Belastungen. Zum anderen ist Gesundheit ein – im kantischen Sinne des Wortes – transzendentales Gut, weil es die Voraussetzung für viele andere Lebensvollzüge darstellt.5 Der Volksmund weiß: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Gegen eine Einschränkung der Lebensführung durch gesundheitliche Probleme angehen zu können, soweit dies medizinisch möglich ist, ist gerade in einer Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft von zentraler Bedeutung, weil dadurch eine Chancen- oder Startgleichheit hergestellt wird, die die differenzierten Ergebnisse dieses Wettbewerbsprozesses erst legitimiert.6 Es gibt daher gute Gründe, den Sozialstaat auch und sogar vorrangig auf die Erhaltung der Gesundheit seiner Bürger zu verpflichten. Dementsprechend fin___________ 4 Zur Sache und zur Begrifflichkeit vgl. zuletzt Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2007. 5 Vgl. W. Kersting, Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, 2000, S. 467, 477 ff.: Gesundheit als „transzendentales Gut“ mit „Ermöglichungscharakter“. 6 Vgl. dazu grundlegend N. Daniels, Just Health Care, 1985, S. 36 ff.

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den wir in allen Industrienationen – mit der wichtigen Ausnahme der USA – öffentliche Systeme der medizinischen Versorgung, die die gesamten oder zumindest maßgeblichen Teile der Bevölkerung erfassen. Auch dürfte der existentielle und transzendentale Charakter der Gesundheit erklären, warum – ähnlich wie im Bereich der Bildung – gegen soziale Zugangsbarrieren zur medizinischen Versorgung („Zwei-Klassen-Medizin“) massive Vorbehalte bestehen. Allerdings macht es diese Diskussionslage nicht einfacher, das Versorgungssystem auf die zukünftigen Herausforderungen vorzubereiten. Die Gesundheitspolitik hat dies in Deutschland bisher vor allem durch die Einführung wettbewerblicher Elemente zur Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung getan, schreckt aber vor Änderungen auf der Leistungsseite zurück. Dass über die Priorisierung und Posteriorisierung oder gar Rationierung medizinischer Leistungen nicht einmal nachgedacht werden soll, ist vor dem geschilderten Hintergrund verständlich, aber auf Dauer schwerlich zielführend: Die durch die Budgetierungen und Kostendeckelungen verursachte, bereits feststellbare implizite Rationierung ist in rechtsstaatlicher, sozialstaatlicher und demokratischer Hinsicht sehr viel bedenklicher als eine transparente Leistungsbeschränkung, auf die sich die Bürger einstellen können.7 Leistungsbeschränkungen von vornherein als gesundheits- und sozialpolitischen Skandal zu betrachten und daher aus allen Reformüberlegungen auszuschließen, wie es in den gelegentlich reichlich hysterischen und schlagwortartig verkürzten öffentlichen Debatten nicht selten geschieht, ist daher eine nicht ganz ehrliche Haltung.

II. Die begrenzte Bedeutung des Versorgungssystems Vielleicht gelangt man in den Reformdiskussionen zu etwas mehr Gelassenheit und Rationalität, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das System der medizinischen Versorgung weder für die Gesundheit der Bevölkerung – traditionell formuliert: die Volksgesundheit8 – noch für die soziale Verteilung von Gesundheit – die „Gesundheitsgerechtigkeit“ – von zentraler Bedeutung ist. Darauf weisen tatsächlich zahlreiche Untersuchungen hin.

___________ 7 Vgl. dazu S. Huster u.a., Implizite Rationierung als Rechtsproblem. Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie zur Situation in deutschen Krankenhäusern, MedR 2007, S. 703 ff. mwN. 8 Die gegen diesen Begriff immer wieder geltend gemachten Vorbehalte (vgl. zuletzt E. M. Frenzel, Die „Volksgesundheit“ in der Grundrechtsdogmatik, DÖV 2007, S. 243 ff.) gehen jedenfalls dann ins Leere, wenn sie zur Bezeichnung der im Folgenden dargestellten Zusammenhänge keine alternative Begrifflichkeit präsentieren.

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1. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung Es ist inzwischen weithin anerkannt, dass die medizinische Versorgung für den Gesundheitszustand einer Population nicht von zentraler Bedeutung ist. So gehen historische Untersuchungen davon aus, dass der Zuwachs der Lebenserwartung in Höhe von 30 Jahren, der in den letzten 100 Jahren in den hochentwickelten Industriegesellschaften erreicht werden konnte, sich nur zu einem relativ kleinen Teil – die Einschätzungen liegen zwischen unter fünf bis zu höchstens zehn Jahren9 – dem medizinischen Fortschritt verdankt.10 Bestätigung findet diese Ansicht in einer vergleichenden Betrachtung.11 Während die durchschnittliche Lebenserwartung mit dem Anstieg des Wohlstandes einer Gesellschaft zunächst rasant zunimmt, flacht sich diese Kurve ab einem gewissen Niveau – ca. 5.000 $ Pro-Kopf-BIP – ebenso rapide ab. Innerhalb der Staaten, die oberhalb dieses Schwellenwertes liegen und in denen nicht mehr die Infektionskrankheiten, sondern nichtübertragbare Krankheiten die Haupttodesursache darstellen, zeigt sich ein recht uneinheitliches Bild: Die durchschnittliche Lebenserwartung steht weder mit der Höhe des Bruttosozialprodukts noch mit der Höhe der Gesundheitsausgaben in einer Beziehung. Ihre Erklärung findet diese sehr bescheidene Rolle der medizinischen Versorgung darin, dass es aus epidemiologischer Sicht nicht entscheidend ist, wie gut eine Krankheit behandelt wird, sondern dass sie möglichst selten und spät auftritt. Für die Volksgesundheit ist also die – im weitesten Sinne – Prävention ein viel wichtigerer Aspekt als die kurative medizinische Behandlung. Ob und in welchem Umfang Krankheiten auftreten, ist aber eben weithin von anderen Faktoren als dem Zustand des Gesundheitssystems abhängig.

2. Die soziale Verteilung von Gesundheit Viel Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren die Beobachtung gefunden, dass die Verteilung von Gesundheit in den Industriegesellschaften erstaunlich ___________ 9 Vgl. J. P. Bunker u.a., Improving Health: Measuring Effects of Medical Care, Milbank Quarterly 72 (1994), S. 225 ff. 10 Vgl. grundlegend T. McKeown, The Role of Medicine, 1976; und im Anschluß daran J. B. McKinlay/S. M. McKinlay, The Questionable Contribution of Medical Measures to the Decline of Mortality in the United States in the Twentieth Century, Milbank Memorial Fund Quarterly 55 (1977), S. 405 ff. Einen Überblick bietet J. Vögele, Zur Entwicklung der Gesundheitsverhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert, in: S. Schulz u.a. (Hrsg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, 2006, S. 165 ff. 11 Vgl. dazu nur O. Rauprich, Gleiche Gesundheit und soziale Gerechtigkeit, in: B. Schöne-Seifert/A. M. Buyx/J. S. Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 51 ff.

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ungleich ist und sozialen Differenzierungen folgt.12 Eigenartigerweise findet sich dieser Zusammenhang von sozioökonomischem Status – gemessen anhand des Einkommens, der Bildung oder der beruflichen Position – und Gesundheitszustand auch in politische Ordnungen, die für die gesamte Bevölkerung die medizinische Versorgung sicherstellen.13 Obwohl ab einem gewissen Schwellengewicht das Wohlstandsniveau im internationalen Vergleich keine maßgebliche Rolle mehr spielt, kehrt es auf der nationalen Ebene in Form eines sozioökonomischen Gesundheitsgradienten umso eindrucksvoller als Differenzierungskriterium zurück. In Deutschland ist die soziale Differenzierung von Gesundheit – anders als etwa in Großbritannien, wo die besonders egalitäre Ausgestaltung des National Health Service identitätsbildende Bedeutung besitzt und die einschlägigen Erkenntnisse einen Schock auslösten – erst seit kurzem Gegenstand der politischen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit.14 Soweit bereits empirische Untersuchungen vorliegen, bestätigen sie den Tatbestand der sozialen Differenzierung. So gelangt die Expertise des Robert Koch-Instituts zum 2. Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zum Ergebnis, dass auch in der Bundesrepublik deutliche Zusammenhänge zwischen Einkommen, Bildung sowie beruflicher Stellung und Gesundheit sowie Gesundheitsverhalten bestehen:15 So haben etwa Männer im oberen Einkommensbereich eine um mehr als zehn Jahre höhere Lebenserwartung als Männer mit niedrigem Einkommen; bei Frauen beträgt der Unterschied sieben Jahre.16 Der Kinder- und Jugendgesundheitssur___________ 12 Vgl. dazu etwa G. Budrys, Unequal Health, 2003; J. Siegrist/M. Marmot (Hrsg.), Social Inequalities in Health, 2006; M. Whitehead/G. Dahlgren, Levelling up: a discussion paper on European strategies for tackling social inequieties in health, 2 Teile, 2006. 13 Zur gesundheitlichen Ungleichheit in den europäischen Staaten vgl. K. Judge u.a., Health Inequalities: a Challenge for Europe, 2006; J. Mackenbach, Health Inequalities: Europe in Profile, 2006; ders./M. Bakker (Hrsg.), Reducing Inequalities in Health. A European Perspective, 2002. 14 Übersichten dazu bei: Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Gutachten 2005: Koordination und Qualität im Gesundheitswesen, BT-Drks. 15/5670, S. 61 ff.; T. Lampert u.a., Soziale Ungleichheit der Lebenserwartung in Deutschland, APuZ 42/2007, S. 11 ff.; A. Mielck, Soziale Ungleichheit und Gesundheit in Deutschland, 2000; ders./U. Helmert, Soziale Ungleichheit und Gesundheit, in: K. Hurrelmann/U. Laaser/O. Razum (Hg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, 4. Aufl. 2006, S. 603 ff.; M. Richter/K. Hurrelmann (Hrsg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, 2006; S. Weyers u.a., Strategien zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland, Bundesgesundheitsbl. 2007, S. 484 ff. Vgl. auch die Beiträge in U. Helmert u.a. (Hrsg.), Müssen Arme früher sterben?, 2000. 15 T. Lampert u.a., Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit. Expertise des Robert Koch-Instituts zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005. 16 Vgl. die Angaben bei Lampert u.a., APuZ 42/2007 (Fn. 14), S. 17. Für die gesetzliche Rentenversicherung hat dies übrigens eine intrikate Konsequenz: Die höhere Lebenserwartung und Rentenbezugsdauer der Besserverdienenden führen bei einer ein-

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vey 2003 – 2006 weist nun nach, dass diese soziale Differenzierung des Gesundheitszustandes in vielerlei Hinsicht bereits im Kindes- und Jugendalter beginnt.17 Auch wenn manche Daten und Zusammenhänge umstritten geblieben sind, wird auch für Deutschland die Existenz eines sozioökonomischen Gesundheitsgradienten nicht mehr grundsätzlich bestritten.

3. Gesundheitsrelevante Faktoren und ihre schichtenspezifische Ausprägung Die gesundheitsbezogenen Unterschiede sowohl zwischen verschiedenen Gesellschaften als auch innerhalb dieser Gesellschaften können nicht allein und nicht einmal zu einem maßgeblichen Teil durch die unterschiedlichen Ausgestaltungen der medizinischen Versorgungssysteme und deren Zugangsvoraussetzungen erklärt werden. Vielmehr ist der Gesundheitszustand der Bevölkerung von einer Vielzahl weiterer Faktoren abhängig. Üblicherweise werden in der einschlägigen Forschung insoweit fünf Faktorengruppen unterschieden.18 (1) Die Qualität und Verfügbarkeit der medizinischen Versorgung ist der offensichtlichste, aber – bei allen Schwierigkeiten einer Quantifizierung der verschiedenen Determinanten – auch ein Einflussfaktor mit eher geringem Gewicht, sobald ein gewisses Versorgungsniveau erreicht ist. (2) Zu berücksichtigen ist sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene die genetische Disposition, die auf vielerlei Weise mit den im Folgenden darzustellenden Einflussfaktoren interagiert. (3) Dazu gehören zunächst die Umweltbedingungen sowohl im Wohnumfeld als auch am Arbeitsplatz. ___________ kommensgruppenbezogenen Betrachtung zu einer massiven Umverteilung von den Schlechter- zu den Besserverdienenden. Vgl. dazu K. Lauterbach u.a., Zum Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung. Studien zu Gesundheit, Medizin und Gesellschaft, Ausgabe 1/2006. Allerdings ist die Rentenversicherung aufgrund ihrer Indifferenz gegenüber dem individuellen Risiko kaum der geeignete Ort, insoweit einen Ausgleich zu schaffen; vgl. dazu A. Reil-Held, Verteilungsaspekte der Altersgrenzenanhebung, DRV 2008, S. 134 ff. 17 Vgl. dazu die Beiträge in Heft 5/6 des Bundesgesundheitsbl. 2007, S. 529 ff. 18 Vgl. etwa J. M. McGinnis u.a., The Case For More Active Policy Attention To Health Promotion, Health Affairs 21 (2002), No. 2, S. 78, 79 ff. Aus der unübersehbaren Literatur zu den Gesundheitsfaktoren vgl. Soziale Determinanten von Gesundheit: Die Fakten. Redaktion R. Wilkinson/M. Marmot, 2. Aufl. 2004; M. Marmot/R. G. Wilkinson (Hrsg.), Social Determinants of Health, 2. Aufl. 2006; A. Mielck/K. Bloomfield (Hrsg.), Sozial-Epidemologie, 2001; G. Steinkamp, Soziale Ungleichheit in Mortalität und Morbidität, in: W. Schlicht/H. H. Dickhuth (Hrsg.), Gesundheit für alle – Fiktion oder Realität?, 1999, S. 101 ff.

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(4) Von maßgeblicher Bedeutung für den Gesundheitszustand ist ferner die individuelle Lebensführung. Zu nennen sind hier insbesondere: das Rauchverhalten, der Umgang mit Alkohol, die gesamte Ernährungsweise, das Sexualverhalten und die Bereitschaft zu regelmäßiger körperlicher Bewegung. (5) Für den Einfluss sozialer Faktoren ist es am schwierigsten, die Kausalverhältnisse im Einzelnen zu bestimmen; klar scheint aber zu sein, dass es Korrelationen zwischen dem Gesundheitszustand und bestimmten gesellschaftlichen Strukturen gibt. Dies betrifft nicht nur die Einkommenssituation, deren Beitrag zum Gesundheitszustand man durch die (fehlende) Möglichkeit, zusätzliche Gesundheitsleistungen einzukaufen oder sich einen gesünderen Lebensstil (von gesunden Lebensmitteln bis zum Erholungsurlaub) zu leisten, noch relativ einfach erklären kann. Auch andere, eher „weiche“ Faktoren wie das Ausmaß der Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung sowie die Einbindung in ein soziales Netzwerk bzw. das „Sozialkapital“ einer Gesellschaft scheinen für den Gesundheitszustand wichtig zu sein.19 Unabhängig davon, ob man die Schichtzugehörigkeit an Einkommen, Bildung oder beruflicher Stellung festmacht, lässt sich nachweisen, dass die gesundheitsrelevanten Faktoren zu einem erheblichen Teil schichtenspezifisch ausgeprägt sind: Angehörige der unteren sozialen Schichten sind – wie die einschlägigen Studien zeigen – häufiger einem gesundheitlich belastenden Arbeitsumfeld ausgesetzt und leiden auch in ihrem Wohnumfeld häufiger unter belastenden Faktoren wie Lärm und Luftverschmutzung; sie ernähren sich ungesünder, neigen stärker zu Nikotin- und übermäßigem Alkoholkonsum und vernachlässigen die körperliche Bewegung; sie leiden sowohl in ihrem Privatund Arbeitsleben als auch in der (politischen) Öffentlichkeit an geringen Kontroll- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten; und schließlich können für sie sowohl kulturelle als auch finanzielle Barrieren für den Zugang zu (zusätzlichen) Leistungen der medizinischen Versorgung existieren. Dabei handelt es sich nicht um ein reines Deprivationsphänomen; dies wird daran deutlich, dass dieser soziale Gesundheitsgradient zwar in Bezug auf die untersten sozialen Schichten besonders ausgeprägt ist, sich aber durch alle gesellschaftlichen Schichten fortsetzt – und zwar auch in diejenigen Schichten, bei denen von Armut oder gar Verelendung keine Rede sein kann.20 ___________ 19

Zur vieldiskutierten, weil mit sozialpolitischer Sprengkraft versehenen Frage, ob auch die gesellschaftliche Ungleichheit als solche gesundheitsrelevante Auswirkungen entfaltet, vgl. nur N. Daniels u.a., Is Inequality Bad for Our Health?, 2000. 20 Diese Erkenntnis der Bedeutung sog. relativer Deprivation für die Gesundheitsverteilung verdankt sich insbesondere den berühmten Whitehall-Studien; vgl. M. Marmot u.a., Enployment grade and coronary heart diesease in British civil servants, J. Epide-

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Nun liegt der Verdacht nahe, dass hier auch eine umgekehrte Kausalität existieren könnte: Ein schlechter Gesundheitszustand und seine Folgen – wie etwa der Verlust des Arbeitsplatzes – könnten die Ursache dafür sein, dass sich Personen in der Unterschicht befinden. Tatsächlich sind gesundheitliche Probleme vermutlich eine wichtige Ursache für Prozesse des sozialen Abstiegs; nach den vorliegenden Untersuchungen kann durch eine derartige „Gesundheitsselektion“ jedoch nur ein sehr geringer Teil des Zusammenhangs von Schichtzugehörigkeit und Gesundheitszustand erklärt werden.21

III. Normative Konsequenzen 1. Normative Konsequenzen in Medizinethik und Gesundheitspolitik Die Frage, welche normativen Konsequenzen aus den dargestellten Erkenntnissen zu ziehen sind, wird bereits intensiv diskutiert. Neben der Epidemiologie und den anderen Sozialwissenschaften, denen wir diese Erkenntnisse verdanken, hat diese Frage insbesondere die Medizinethik aufgenommen: Beschäftigte sie sich früher mit konkreten Behandlungen und der gerechten Allokation medizinischer Güter, hat sie nun ihren Fokus auch auf die Public HealthDimension von Gesundheit und Gesundheitsverteilung ausgerichtet und damit den Weg von „Just Health Care“ zu „Just Health“ beschritten.22 ___________ miology Community Health 32 (1978), S. 244 ff.; ders. u.a., Health inequalities among British civil servants: the Whitehall II study, Lancet 337 (1991), S. 1387 ff. 21 Vgl. dazu Mackenbach (Fn. 13), S. 30 f.; M. Marmot, Social Causes of Social Inequalities in Health, in: S. Anand/F. Peter/A. Sen (Hrsg.), Public Health, Ethics, and Equity, 2004, S. 37, 44 ff.; G. Steinkamp, Soziale Ungleichheit in Mortalität und Morbidität, in: Schlicht/Dickhuth (Fn. 18), Gesundheit für alle – Fiktion oder Realität?, 1999, S. 101, 118 ff. So ist auf Grundlage der „health selection“-These insbesondere nicht erklärbar, warum Bildung und Gesundheitszustand so stark korrelieren, obwohl die Bildungskarriere sich in einem Alter abspielt, in dem die großen Volkskrankheiten noch keine besondere Rolle spielen (vgl. Marmot, aaO., S. 55). Zur Bedeutung genetischer Faktoren für die Erklärung sozial differenzierter Gesundheitszustände vgl. A. Mielck/ W. Rogowski, Bedeutung der Genetik beim Thema „soziale Ungleichheit und Gesundheit“, Bundesgesundheitsbl. 2007, S. 181, 182 ff. 22 Paradigmatisch der Übergang von N. Daniels, Just Health Care, 1985, zu ders., Just Health, 2008. Vgl. ferner Anand/Peter/Sen (Fn. 21); R. Bayer u.a. (Hrsg.), Public Health Ethics, 2007; D. W. Brock, Broadening the Bioethics Agenda, Kennedy Institute of Ethics Journal 10 (2000), S. 21 ff.; M. Powers/R. Faden, Social Justice. The Moral Foundations of Public Health and Health Policy, 2006. Aus der deutschsprachigen Diskussion vgl. P. Dabrock, Zur Eigenart von Public-Health-Ethik und Ethik des Gesundheitswesens gegenüber biomedizinischer Ethik, in: A. Brand u.a. (Hrsg.), Individuelle Gesundheit versus Public Health?, 2002, S. 79 ff.; G. Marckmann, Public Health und

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Auch politische Institutionen beschäftigen sich inzwischen intensiv mit den sozialen Gesundheitsfaktoren. Insbesondere die Programme der WHO im Anschluss an die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 sind hier zu nennen.23 Daneben hat die Europäische Union aus ihrer gesundheitspolitischen Kompetenznot eine Tugend gemacht und sich nicht auf die Reform der mitgliedstaatlichen Versorgungssysteme kapriziert, sondern auf der Grundlage des Art. 152 EGV zahlreiche Public Health-Initiativen ergriffen.24 Die nationale Gesundheitspolitik führt die Diskussion dagegen nach wie vor sehr eng und konzentriert sich auf die medizinische Versorgung im engeren Sinne; soweit die Public Health-Frage überhaupt thematisiert wird, steht in wohl problemverkürzender Weise die lebensstilbezogene Primärprävention ganz im Vordergrund.25 Dass dabei nicht einmal der Erlass eines Präventionsgesetzes gelungen ist, stellt der deutschen Gesundheitspolitik in ihrer sektoralen und föderalen Zersplitterung ein Armutszeugnis aus. Es dürfte kein Zufall, sondern kennzeichnendes Merkmal einer defizitären Wahrnehmung in den öffentlichen Diskussionen nationaler Politik sein, dass Institutionen wie die WHO und die EU, die nicht in gleicher Weise im Licht der demokratischen Öffent___________ Ethik, in: Schulz u.a. (Fn. 10), S. 209 ff.; P. Schröder, Public-Health-Ethik in Abgrenzung zur Medizinethik, Bundesgesundheitsbl. 2007/, S. 103 ff. 23 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der berühmt-berüchtigte weite Gesundheitsbegriff in der Verfassung der WHO, der Gesundheit als einen „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ definiert, im Kontext dieses umfassenden Verständnisses von Gesundheit und ihren Determinanten steht: Es ging gerade darum zu betonen, dass Gesundheit primär von sozialen Entwicklungen und nicht nur von der medizinischen Versorgung abhängt (vgl. I. Kickbusch, Der Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation, in: H. Häfner [Hrsg.], Gesundheit – unser höchstes Gut?, 1999, S. 275 ff.). Nun mag man dennoch der Ansicht sein, dass diese Definition darunter leidet, dass sie, nimmt man sie beim Wort, nahezu jedes soziale Problem als eines der Gesundheit und der Gesundheitspolitik auffassen muss (so Powers/Faden [Fn. 22], S. 17 und S. 83). Unfair wäre es aber, diese Definition unter Hinweis auf ihre absurden Konsequenzen für das System der medizinischen Versorgung zu kritisieren: Denn diesen Zusammenhang wollte sie gerade überschreiten. 24 Vgl. dazu W. Berg, Gesundheitsschutz als Aufgabe der EU, 1997; H. Hanika, Europäische Gesundheitspolitik, MedR 1998, S. 193 ff.; G. Haverkate/S. Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, S. 457 ff.; M. Kment, Die europäische Gesundheitspolitik und ihre Funktion als Querschnittsaufgabe, EuR 2007, S. 275 ff.; W. Mäder, Integrationsund Gesundheitspolitik in der EG, 1994; B. Schmidt am Busch, Die Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, 2007; M. v. Schwanenflügel, Die Entwicklung der Kompetenzen der Europäischen Union im Gesundheitswesen, 1996; ders., Gesundheit in Europa, EuR 1998, S. 210 ff. 25 Zur Primärprävention vgl. nur Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Gutachten 2007: Kooperation und Verantwortung, Tz. 782 ff. In § 20 Abs. 1 S. 2 SGB V ist nun immerhin bestimmt, dass die Primärprävention auch einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen leisten soll.

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lichkeit agieren und denen man einen eher technokratischen Politikstil zuschreiben kann, sich mit potentiellem Rationalitätsgewinn den wirkungsmächtigen Gesundheitsfaktoren verschrieben haben, während sich die nationale Gesundheitspolitik in immer neuen „Gesundheitsreformen“ und in den Verteilungskämpfen eines neo-korporatistischen Versorgungssystems aufreibt.26

2. Normative Konsequenzen für das Verfassungsrecht? Die Public health-Dimension von Gesundheit und Gesundheitsverteilung ist in der deutschen (Verfassungs-)Rechtswissenschaft bisher noch kaum wahrgenommen worden.27 Im Gegenteil: Die neuere Verfassungsrechtsprechung hat mit dem sog. Nikolaus-Beschluss die verfassungsrechtliche Aufmerksamkeit sogar wieder ganz und gar auf die medizinische Versorgung gelenkt. Bis zu diesem Beschluss hatte das Bundesverfassungsgericht sehr zurückhaltend entschieden, dass sich aus den Grundrechten und dem Sozialstaatsprinzip kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung spezieller Gesundheitsleistungen ergibt; die objektivrechtliche Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu stellen, sei unter Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit der zuständigen staatlichen Stellen lediglich darauf gerichtet, dass die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz des Grundrechts trifft, die nicht völlig ungeeignet oder unzulänglich sind.28 Neuere Entscheidungen verschärften allerdings bereits die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Leistungsausschlüsse in der GKV.29 Diese Verschärfung hat der Nikolaus-Beschluss nun fortgeführt und in gewisser Weise auf die Spitze getrieben, wenn aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip sowie aus Art. 2 Abs. 2 GG ein Leistungsanspruch des Versicherten auf Kostenerstattung für eine bisher nicht anerkannte Therapie mit – zurückhaltend formuliert – ungewissem Nutzen abgeleitet wird, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, soweit ___________ 26 Aus dieser Beobachtung könnten sich interessante Konsequenzen für eine kluge Aufteilung der Kompetenzen in einem sozialpolitischen Mehrebenensystem ergeben; vgl. dazu S. Huster, Die soziale Dimension Europas, in: D. Tsatsos u.a. (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung. Handbuch zur Europäischen Verfassung, 2008 (i.E.). 27 Vgl. aber I. Ebsen, Armut und Gesundheit, in: SDSRV 56 (2007), S. 133 ff. 28 BVerfG NJW 1997, 3085; NJW 1998, 1775 (1776). 29 So hat das Verfassungsgericht in zwei Kammerbeschlüssen unter Berufung auf Art. 19 Abs. 4 i.Vm. Art. 2 Abs. 2 GG die Sozialgerichte verpflichtet, bereits im vorläufigen Rechtschutzverfahren die ablehnenden Entscheidungen einer Krankenkasse bzw. des Bundesausschusses intensiver zu überprüfen; vgl. BVerfG NJW 2003, S. 1236 f.; NJW 2004, S. 3100 f.

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eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die von ihm gewählte, ärztlich angewandte Behandlungsmethode besteht.30 Gegen diese Rechtsprechung sind bereits alle Einwände geltend gemacht worden,31 die mit guten Gründen schon immer gegen die Ableitung verfassungsunmittelbarer sozialer Leistungsansprüche aus den Grundrechten erhoben worden sind.32 Die dargestellten Erkenntnisse über die begrenzte Bedeutung der medizinischen Versorgung für Volksgesundheit und Gesundheitsverteilung lassen nun aber noch einen weiteren Grund deutlich werden, wie im Folgenden zu erläutern ist: die Opportunitätskosten des Versorgungssystems. Die Sorge um die Gesundheit seiner Bürger gehört zu den zentralen Aufgaben eines Sozialstaats; und auch eine soziale Spaltung hinsichtlich der Gesundheit sollte – soweit dies in einer freiheitlichen Ordnung möglich ist – vermieden werden.33 Maßnahmen, die einer effektiven und umfassenden Gesundheitserhaltung und -förderung dienen, muss daher auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive eine hohe Priorität zukommen. Die Frage ist nur, welche Maßnahmen das denn sind. Wenn nun ein (ehemaliger) Bundesverfassungsrichter, der an dem Nikolaus-Beschluss maßgeblich beteiligt war, ganz unbefangen davon ausgeht, dass „der Arzt (…) der wichtigste Garant für die Volksgesundheit“ ist,34 so liegt allerdings die Folgerung nahe, dass es das Versorgungssystem und die medizinische Behandlung sind, die diese Priorität genießen – mit der Konsequenz, dass angesichts von Gesundheit und Leben als „Höchstwerten“35 kaum noch Grenzen zu ziehen sind, wenn entsprechende Leistungsansprüche geltend gemacht werden. Nur hat diese Prämisse mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Der Arzt ist mitnichten der wichtigste Garant für die Volksgesundheit, sondern in dem komplexen Gefüge von Sozialstruktur, Umweltbedingungen, Lebensführung, genetischer Disposition und medizinischer Versorgung eine eher marginale Größe: ein Rettungsschwimmer am Fluss, der (manchmal) ein ___________ 30

BVerfGE 115, 25 ff. Vgl. nur H. M. Heinig, Hüter der Wohltaten?, NVwZ 2006, S. 771 ff.; S. Huster, Anmerkung, JZ 2006, S. 466 ff. Zu den sozialgerichtlichen Folgeentscheidungen, die ersichtlich bemüht sind, den Flurschaden zu begrenzen, findet sich eine fortlaufend aktualisierte Übersicht auf der Homepage des Instituts für Sozialrecht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (http://www.ruhr-uni-bochum.de/ifs/forschung_ projekte/ar.htm). 32 Vgl. F. E. Schnapp, Soziale Grundrechte aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: B. v. Maydell (Hrsg.), Soziale Rechte in der EG – Bausteine einer künftigen europäischen Sozialunion, 1990, S. 5 ff. 33 Vgl. oben I. 34 So U. Steiner, Das Bundesverfassungsgericht und die Volksgesundheit, MedR 2003, S. 1, 6 f. 35 Zum Leben als „Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung“ vgl. BVerfGE 115, 25, 45. 31

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Menschenleben rettet, wobei es aber für die Reduzierung der Gesamtzahl der Ertrinkenden ungleich wichtiger wäre, die morsche Brücke zu reparieren, die überhaupt erst dazu führt, dass so viele Menschen in den Fluss hineinfallen. Eine Rechtsprechung, die uns unter Berufung auf die Grundrechte zwingt, immer mehr Ressourcen in das Versorgungssystem zu leiten, hat daher vermutlich irrationale Effekte: Selbst wenn man nur die Gesundheit selbst blickt und angesichts ihrer hohen Bedeutung außer acht lässt, dass das Gemeinwesen und seine Bürger auch noch andere Bedürfnisse haben, könnten diese Ressourcen in anderen Bereichen – etwa im Bildungssystem, in der Sozialpolitik oder im Umweltschutz – vermutlich sehr viel mehr für die Gesundheit bewirken. Mit einem hilfreichen Begriff aus der Ökonomik formuliert, der für alle menschlichen Wahlentscheidungen unter Knappheitsbedingungen bedeutsam ist, aber in der Rechtsdogmatik erstaunlicherweise bisher kaum vorkommt:36 Diese Rechtsprechung berücksichtigt nicht die (gesundheitsrelevanten) Opportunitätskosten der medizinischen Versorgung – das Gute, das man für die Gesundheit stattdessen tun könnte.

IV. „Hier finden wir zwar nichts, aber wir sehen wenigstens etwas…“ Die nahezu ausschließliche Konzentration des Nachdenkens über Gesundheit auf die medizinische Versorgung und die Vernachlässigung ihrer Opportunitätskosten sind ein Irrweg. Sie sind zwar unter dem Aspekt verständlich, dass sich im Versorgungssystem relativ deutlich Handlungsoptionen benennen und Handlungswirkungen beobachten lassen, während die sozialen Determinanten der Gesundheit und ihrer Verteilung diffus bleiben. Auch neigen wir dazu, dem konkreten Leben Vorrang vor „nur“ statistischen Leben zu geben,37 wobei hier offen bleiben darf, ob es sich dabei um eine normativ sinnvolle Differenzierung oder lediglich um ein Wahrnehmungsdefizit handelt. Jedenfalls kann damit keine Engführung auf das Versorgungssystem begründet werden. Dies hieße nämlich, der verqueren Logik des Autofahrers zu folgen, der in einer dunklen Parkhausecke seinen Autoschlüssel verliert, dann aber an einer anderen, beleuchteten Stelle mit der Begründung sucht, hier werde er zwar höchstwahrscheinlich seinen Schlüssel nicht finden, aber wenigstens sehe er etwas. In den Diskussionen über eine Priorisierung, Posteriorisierung und Rationierung medizinischer Leistungen ist daher auch die Frage zu berücksichtigen, ___________ 36 Vgl. dazu S. Huster/H. Kliemt, Opportunitätskosten in Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, ARSP (i.E.). 37 Vgl. grundlegend T. C. Schelling, The life you save may be your own, in: S. B. Chase, Jr. (Hrsg.), Problems in publicexpenditure analysis, 1968, S. 127 ff.

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welche Bedeutung die medizinische Versorgung für Volksgesundheit und Gesundheitsgerechtigkeit überhaupt besitzt. Gelangt man zum Ergebnis, dass diese Bedeutung begrenzt ist, kann dies auch in verfassungsrechtlichen Zusammenhängen mit Blick auf die Opportunitätskosten zu einer Posteriorisierung der Gesundheitspolitik gegenüber anderen Politikbereichen mit (größerer) Gesundheitsrelevanz führen. Eine Ableitung verfassungsunmittelbarer individueller Ansprüche auf konkrete medizinische Leistungen, selbst wenn diese nur einen sehr zweifelhaften Nutzen oder ein sehr schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis haben, ist vor diesem Hintergrund eher abwegig. Dabei ist nicht zu leugnen, dass die Einsicht in die sozialen Gesundheitsdeterminanten einen Prozess befördert, der generell für die neuere aktivierende und sozialinvestive Ausrichtung des Sozialstaats38 prägend ist: Die Relativierung individueller Rechte und Leistungsansprüche zugunsten der Pflege öffentlicher Güter.39 Wenn gegen Leistungsbeschränkungen im System der öffentlichen Gesundheitsversorgung der politisch wirkungsmächtige Einwand der sozialen Ungerechtigkeit erhoben wird, so ist das auf der einen Seite nachvollziehbar, weil insoweit tatsächlich ein Selektionseffekt zu Lasten der schlechten gesundheitlichen Risiken und der wirtschaftlich Schwachen eintreten kann. Da dies aber ohnehin die benachteiligten sozialen Gruppen sind, ist es politisch durchaus plausibel, alle Veränderungen im System der Gesundheitsversorgung abzulehnen, die diese Gruppen zusätzlich belasten und dadurch den Zusammenhang von niedrigem sozioökonomischem Status und Krankheit weiter zu verstärken drohen.40 ___________ 38

Vgl. dazu aus juristischer Sicht T. Kingreen, Rechtliche Gehalte sozialpolitischer Schlüsselbegriffe: Vom daseinsvorsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat, SDSRV 52 (2004), S. 7 ff. 39 Vgl. dazu I. Ebsen, Der Arbeitslose als Sozialbürger und Klient – Der Betroffene im Konzept des aktivierenden Sozialstaates, in: FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 725 ff. 40 Zu einem Vorschlag, wie Leistungsbeschränkungen vorgenommen werden könnten, ohne eine soziale Spaltung hinsichtlich der medizinischen Versorgung zu befördern, vgl. S. Huster, Grundversorgung und soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berichte und Abhandlungen, Bd. 10, 2006, S. 361 ff. (geringfügig überarbeitet auch in: O. Rauprich/ G. Marckmann/J. Vollmann [Hrsg.], Gleichheit und Gerechtigkeit in der modernen Medizin, 2005, S. 187 ff., sowie in: B. Schöne-Seifert/A. M. Buyx/J. S. Ach [Fn. 11], S. 121 ff.). Vgl. auch ders., Medizinische Versorgung im Sozialstaat: Zur Bedeutung des Sozialhilferechts für die Bestimmung einer medizinischen Mindestsicherung, in: N. Mazouz/M. H. Werner/U. Wiesing (Hrsg.), Krankheitsbegriff und Mittelverteilung, 2004, S. 157 ff.; ders., Soziale Sicherung als Zukunftsbewältigung und -gestaltung, in: SDSRV 55 (2007), S. 15, 24 ff.; ders., Die Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: Deutscher Sozialgerichtstag e.V. (Hrsg.), 1. Deutscher Sozialgerichtstag: Plan B – Solidarität neu denken, 2008, S. 49, 55 ff. Aufgenommen wird dieser Vorschlag bei E. Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 30 f.; kritisch dagegen V. Neumann, Das medizinische Exi-

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Auf der anderen Seite zeigen die empirischen Untersuchungen, dass das System der Gesundheitsversorgung nur in einem sehr begrenzten Ausmaß für den sozialen Gesundheitsgradienten verantwortlich ist und daher auch gewiss nicht den primären Ansatzpunkt darstellen kann, wenn man den Zusammenhang von Krankheit und sozioökonomischem Status durchbrechen oder zumindest abmildern will. Im Gegenteil könnte es gerade so sein, dass uns die Weigerung, über Leistungsbeschränkungen im Gesundheitswesen nachzudenken, zu Investitionen in die medizinische Versorgung zwingt, die gerade unter dem Aspekt der Gesundheit und Gesundheitsgerechtigkeit sehr viel ineffizienter sind, als wenn diese Mittel für andere Politikbereiche zur Verfügung ständen. Und da die Mittel begrenzt sind, ist ein derartiger Vergleich des Grenznutzens unterschiedlicher Maßnahmen in- und außerhalb des Gesundheitswesens letztlich unausweichlich. Eine wohlmeinende Sozialpolitik, die diesen Vergleich und eine Berücksichtigung der Opportunitätskosten der medizinischen Versorgung scheut, weil sie sich ausschließlich auf die Gesundheitsversorgung als den nächstliegenden und offensichtlichsten Politikbereich mit gesundheitsrelevanten Auswirkungen fokussiert, könnte auf diese Weise ihre eigenen Bemühungen um Gesundheitsgerechtigkeit konterkarieren. Anders gesagt: Über Kostenbegrenzungen im Gesundheitswesen nachzudenken, ist nicht trotz, sondern gerade wegen der Gesundheitsgerechtigkeit geboten. Das Verfassungsrecht sollte uns daran nicht hindern.

___________ stenzminimum, NZS 2006, S. 393, 395 f. Vgl. auch den Kommentar von P. Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit als Kriterium zur Beurteilung von Grundversorgungsmodellen im Gesundheitswesen, in: Rauprich/Marckmann/Vollmann (Hrsg.), aaO., S. 213 ff.

Wechselwirkungen zwischen Aufsicht und Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung Von Otto Ernst Krasney, Kassel

Der Jubilar hat, wie die Liste seiner Veröffentlichungen zeigt, schon sehr früh in seinem „wissenschaftlich jugendlichen Alter“ sich auch mit Fragen der Selbstverwaltung und Aufsicht in der Sozialversicherung befasst. Sie fallen in eine Zeit, in welcher der Jubilar und der Verfasser sich an der Ruhr-Universität in Bochum mit dem Sozialrecht befasst haben. An die Diskussionen erinnert sich der Verfasser weiterhin dankbar.

I. Verbindung zwischen Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und der Aufsicht Wechselwirkungen ergeben sich bereits aus der Existenz der hier gegenübergestellten Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung (im Folgenden: Körperschaft) und der Aufsicht. Körperschaftliche Selbstverwaltung und staatliche Aufsicht sind auf allen Rechtsgebieten untrennbar verbunden, und zwar dergestalt, dass die Aufsicht nicht nur eine Begleiterscheinung, sondern ein wesensnotwendiges Begriffsmerkmal in der Selbstverwaltung ist.1 Ohne Aufsicht ist eine Körperschaft als Trägerin mittelbarer Staatsverwaltung nicht zulässig. Aber ohne Körperschaft mit Selbstverwaltung wirkt die Aufsichtsbehörde nur als eine nachgeordnete Behörde, die der Weisungsbefugnis der übergeordneten Behörde uneingeschränkt untergeordnet ist, sodass dann eigentlich überhaupt kein Bedürfnis für eine selbständige Aufsichtsbehörde besteht. ___________ 1 S. u.a. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl., Stand August 1980, S. 223; Schnapp, Die vorgreifliche Anordnung der Aufsichtsbehörde, BKK 1969, S. 97, 102; Graeff in: Hauck/Noftz, SGB IV, § 87 RdNr. 1.

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II. Wechselwirkungen in der Beratung 1. Aufsicht Wohl schon aus der eingeschränkten Betrachtung der Aufsicht als unmittelbare Ausübung von Staatsgewalt als auch der Notwendigkeit einer Staatsaufsicht über Körperschaften hatte zunächst die Auffassung vorgeherrscht, Aufgabe der Aufsicht sei ihr Eingreifen bei Rechtsverletzung. Selbst § 89 SGB IV beschränkt noch die gesetzliche Aufzählung der Aufsichtsmittel auf das Eingreifen der Aufsichtsbehörde nach einer Rechtsverletzung. Die Regelungen der Aufsicht in den §§ 87 bis 90a SGB IV führen die präventive Beratung überhaupt nicht auf. Nur für den Fall einer bereits eingetretenen Rechtsverletzung wird die vorangehende Beratung in § 89 Abs. 1 Satz 1 SGB IV als Maßnahme vor der Aufsichtsanordnung erwähnt. Dem entspricht es auch, dass es sich um eine engere, auf die Behebung der Rechtsverletzung „hinwirkende“ Beratung handelt, die vom Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 18. Juli 20062 als „aufsichtsrechtliche Beratung“ bezeichnet wird. Dagegen entspricht es schon seit langem dem Verständnis und der Praxis der Aufsicht, durch die Beratung in erster Linie präventiv und nicht erst korrektiv tätig zu werden. Zutreffend weisen Gleitze/Schneider3 darauf hin, dass das Bundesversicherungsamt (BVA) „in der praktischen Arbeit aus seinem Selbstverständnis als primärdialogisches Beratungsorgan“ handelt. Nicht im „hinwirkenden“ Schriftwechsel, sondern regelmäßig im Wesentlichen in mündlichem Dialog wird nicht nur das gegenseitige Verständnis gefördert, sondern werden vor allem die Argumente besser angenommen, verstanden, abgewogen und dann bewertet. Das BSG4 sieht in der „aufsichtsbehördlichen Beratung“ den „Ausdruck des Bemühens um eine partnerschaftliche Kooperation“. Die partnerschaftliche Kooperation setzt den Dialog voraus, und zwar schon den präventiven informierenden Dialog. Partnerschaft ist nicht von Dauer, wenn sie erst dann gepflegt wird, wenn die Rechtsverletzung eingetreten und nunmehr zu beheben ist. Partnerschaft verlangt den Dialog zu möglichst weitgehender Vermeidung von Rechtsverletzungen. Die Beratung erfolgt nicht nur auf Wunsch der Körperschaft, sondern kann auch von Amts wegen von der Aufsicht selbst geschehen, wenn z.B. ein bestimmtes Verhalten der Körperschaft oder Erkenntnisse aus Beratungsgesprächen mit anderen Körperschaften Anlass dafür gibt. Der Erfahrungsaustausch unter den Körperschaften bringt einerseits der Aufsicht häufig wertvolle Informationen aus einer mehr internen ___________ 2

BSGE 94, 221, 225; BSG SozR 4-2400 § 80 Nr. 1. Aufsicht und Rechtsprechung, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg), Entwicklung des Sozialrechts Aufgabe der Rechtsprechung, 1984, Seite 609. 4 BSGE 61, 254, 257; BSG SozR 3-5868 § 85 Nr. 1, SozR 4-2400 § 89 Nr. 2. 3

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Diskussion, er ist aber andererseits nicht immer so intensiv, als dass für die Körperschaft Erfahrungen und Erkenntnisse der Aufsicht mit den anderen Körperschaften und mit den anderen Aufsichtsbehörden nicht doch noch zusätzliche Informationen enthalten könnten. Die Beratung von Amts wegen ist vor allem zweckvoll, wenn wegen einer neuen Gesetzeslage Überlegungen für eine Auslegung der neuen Vorschriften erforderlich sind. Es mag sich im Einzelfall um koordinierende, schlichtende, schützende, vergleichende, Recht auslegende oder fachliche Beratung handeln. Der Gedankenaustausch in partnerschaftlichem Dialog in seinen verschiedensten Möglichkeiten zwingt die Aufsicht auch nicht in die Grenzen vor allem der Rechtsaufsicht. Zweckmäßigkeitserwägungen können daher für die sachliche Entscheidung mit in den Dialog einfließen – wenn auch ggf. in einer besonders behutsamen Sprache. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geht in seiner Entscheidung vom 9. April 1975 allerdings nicht von dem Begriff der fachlichen Beratung, sondern von dem der „fachlich belehrenden“ Beratung aus. Jedoch sollte der Ausdruck „belehrend“ in diesem Zusammenhang nicht gebraucht werden. Bei einem Austausch in einer „partnerschaftlichen Kooperation“ geht es um einen für beide Seiten jedenfalls noch offenen Gedanken- und Erfahrungsaustausch. Weder nach der Form noch nach dem Inhalt soll dieser Austausch von beiden Seiten ein vornehmlich als belehrend empfindendes Element enthalten.

2. Körperschaft Aus der Sicht der Selbstverwaltung hat sich ebenfalls seit langem eine Änderung der Grundeinstellung gegenüber der Aufsicht ergeben. Dies ist sicherlich auch ein Erfolg vor allem der präventiven Beratungsbereitschaft der Aufsicht. Die Aufsicht wird eben nicht mehr als eine nur die Rechte der Selbstverwaltung einschränkende, die Arbeitsabläufe störende und drohende Behörde oder als Widerpart5 der Selbstverwaltung angesehen. Vielmehr ist erkannt, dass das Androhen oder gar das Anordnen einer Verpflichtung zwar schon aus der Natur der Aufsicht ein legitimes Aufsichtsmittel ist, aber eben in der Regel auch das letzte Aufsichtsmittel sein sollte. Die Freiheit der Selbstverwaltung wird nicht von vornherein eingeschränkt, sondern ihre Ausübung wird in den in Betracht kommenden Fällen zunächst beratend begleitet. Nicht Besserwisserei ist dabei das zentrale Motiv, sondern der Gedankenaustausch aufgrund der regelmäßig vielfältigen Erfahrungen der Aufsicht, die sie aus ihren Beratungen mit anderen ___________ 5 Friauf, Selbstverwaltung und Aufsicht, DRV 1982, 113; s. zur Änderung der gegenseitigen Einschätzung u.a. Gleitze/Schneider – aaO – Fußn. 3 – hier Seite 613.

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Körperschaften gewonnen hat und auffrischt. Die Bedeutung der diskutierten Weitergabe von Erfahrungen wird durch die Kontakte zwischen den Körperschaften dadurch nicht gemindert. Sie betreffen im Verhältnis zur Aufsicht vornehmlich konkrete Einzelfragen. Dagegen erlangt die Aufsicht aber durch ihre breiter angelegten Gespräche Informationen, die weit über das aus Kontakten zwischen den einzelnen Sozialversicherungsträgern Erfahrene hinausgehen. Sie kann ihre dadurch erworbenen Erkenntnisse und Erfahrungen weitergeben, welche die einzelne Körperschaft sonst von einer anderen Körperschaft nicht erlangt, weil es letztlich doch auch konkurrierende Körperschaften sind, was z. B. vornehmlich bei den Krankenkassen direkt, indirekt aber auch im Hinblick auf die qualitativen Einstufungen zwischen den anderen Sozialversicherungsträgern der Fall ist. Es ist letztlich keine unbedeutende Aufgabe der Aufsicht, ggf. – und das ist gar nicht so selten – Unstimmigkeiten oder sogar Streitigkeiten zwischen den Körperschaften zu schlichten. Man denke nur – um lediglich ein Beispiel zu nennen – an die einst unterschiedlichen Differenzen hinsichtlich der Namensgebung von Krankenkassen, nachdem sie in einem stärkeren Wettbewerb eingeführt waren. Somit wird regelmäßig der Arbeitsablauf durch die präventive Beratung nicht gestört. Allenfalls tritt eine kurze Überlegungspause ein. In ihr können jedoch in der Regel neue Überlegungen dazu führen, dass gegenüber dem reinen Zeitverlust das inhaltliche Ergebnis sich positiv auswirkt. Letzten Endes sollte nicht übersehen werden, dass die präventive Beratung nicht nur Haftungsfällen begegnen soll, sondern dass später bei einer Prüfung, ob ein Haftungsfall vorliegt, die umfassende präventive Beratung durch die Aufsicht und die darauf beruhenden Entscheidungen der Körperschaft dazu führen kann, dass der Haftungsfall nicht eintritt. Wechselwirkung einer von Amts wegen eingeleiteten Beratung in dem unter 1. aufgeführten Sinne kann es sein, dass die Körperschaft verstärkt das Beratungsgespräch von sich aus sucht. Das vermag wiederum zwei Auswirkungen haben: Es gestattet der Aufsicht eine von Amts wegen bereits angezeigte Beratung zunächst zeitlich etwas zurückfahren, um die psychologisch günstigere Beratungsanfrage der Körperschaft abzuwarten. Zugleich – und das ist kein Widerspruch zum vorstehend Ausgeführten – darf die Aufsicht sich darauf verlassen, dass in anderen Fällen ein von ihr von Amts wegen für erforderlich gehaltenes und zeitlich etwas drängendes Beratungsgespräch nicht stets als erster Schritt eines Eingreifens missverstanden wird.

III. Miteinander bei Aufsichtsmitteln im Sinne des § 89 SGB IV Das auch durch Wechselwirkungen geprägte Miteinander von Körperschaften und Aufsicht zeigt sich auch im Verhältnis der Aufsichtsmittel insgesamt.

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Die in den §§ 87 ff. SGB IV nicht erwähnten, aber der Aufsicht immanenten präventiven Beratungen führen bereits zielgemäß dazu, dass weniger Aufsichtsmittel iS des § 89 SGB IV eingesetzt werden müssen. Verstärkt wird dies durch die „aufsichtsrechtliche Beratung“, die das BSG6 als Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Verpflichtungsanordnung ansieht. Darüber hinaus zeigt die Präventivberatung, dass soweit wie möglich die Selbstverwaltung der Körperschaft respektiert werden kann. Grundsätzlich obliegt es den Sozialversicherungsträgern als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung, die Durchführung ihrer Aufgaben selbst zu gestalten. Schirmer/Kater/Schneider7 weisen in Bezug auf die Entscheidung des BVerfG vom 9. April 19758 darauf hin, dass nach geltendem Recht wesentlicher Teil des Kompetenzbereichs der Selbstverwaltung der eigenverantwortliche Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung sei. In seinen Entscheidungen vom 22. März 20059 und 18. Juli 200610 hat das BSG noch einmal den Grundsatz der maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht hervorgehoben, der es gebietet, der beaufsichtigten Behörde einen gewissen Bewertungsspielraum zu überlassen. Das entspricht der schon erwähnten gegenseitigen Abhängigkeit, den Wechselwirkungen und dem Miteinander von Aufsicht und Selbstverwaltungskörperschaft. Diese Entscheidung hat im Schrifttum und auch auf dem Symposion anlässlich des 50jährigen Bestehens des BVA eine lebhafte Diskussion entfacht. Dabei hätte jedenfalls der vom BSG angeführte Grundsatz der maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht keine Überraschung bewirken dürfen. Er war schon in dem Urteil vom 11. August 199211 aufgezeigt worden. Gerade in der Diskussion auf diesem Symposion wurde der Auffassung des BSG entgegengehalten, im Gesetzeswortlaut stehe der Grundsatz der maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht nicht. Dies trifft zwar zu, ist aber allein schon deshalb nicht entscheidend, weil in der Regel der Inhalt und die Tragweite einer Vorschrift nicht allein nach ihrem Wortlaut, sondern durch Auslegung unter Beachtung ihres Sinnzusammenhanges mit den maßgebenden anderen Vorschriften – hier der Gestaltung der Sozialversicherungsträger als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung – zu ermitteln sind. So wird z. B. sowohl von den Aufsichtsbehörden

___________ 6

SozR 4-2400 § 89 Nr. 2. Aufsicht in der Sozialversicherung, Kennzahl 100 Seite 7. 8 BVerfGE 39, 302, 313 ff. 9 BSGE 94, 221, 229. 10 BSG SozR 4-2400 § 80 Nr. 1. 11 BSGE 71, 108, 110. 7

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als auch im Schrifttum12 für die Ausübung der Aufsicht u.a. der Grundsatz der Opportunität zugrunde gelegt, obgleich er im Gesetzeswortlaut ebenfalls nicht aufgeführt ist. Gemeint war deshalb von der Kritik im Ergebnis nicht zu sehr der Ausdruck der maßvollen Ausübung der Aufsicht. Vielmehr gaben besonderen Anlass zur Diskussion die weitergehenden Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 22. März 2005:13 Verwende der Gesetzgeber einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mehrere Auslegungen zulasse und dessen Auslegung die Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt habe, bedürfe ein aufsichtsrechtliches Einschreiten regelmäßig einer besonderen Rechtfertigung. Der Bewertungsspielraum des Beaufsichtigten ende allerdings, wenn er gegen allgemeine Bewertungsmaßstäbe verstoße, die diesen Spielraum einengen oder ausschließen. Erst eine entsprechende Grenzüberschreitung stelle eine Rechtsverletzung iS des § 89 SGB IV dar. Bewege sich dagegen das Handeln oder Unterlassen des Sozialversicherungsträgers im Bereich des rechtlich noch Vertretbaren, seien förmliche Aufsichtsmaßnahmen, die dies beanstanden, rechtswidrig. Das BSG hat dies in seinem Urteil vom 18. Juli 2006 auch für den Bereich der Sach- und Vermögensverwaltung, die dem Finanzsektor zuzurechnen seien, bestätigt. Die rechtliche Beanstandung sei bei Verstoß gegen allgemeine Maßstäbe gerechtfertigt und geboten.14 Diese Ausführungen beruhen, wie den Rechtsprechungs- und Schrifttumszitaten in diesem Urteil zu entnehmen ist, ebenfalls auf einer seit mehr als zwei Jahrzehnten ständigen Rechtsprechung des BSG. Sie ergibt sich letztlich aus § 87 Abs. 1 Satz 2 SGB IV. Danach erstreckt sich die Aufsicht „auf die Beachtung von Gesetz und sonstigem Recht“. Nicht „beachtet“ werden Gesetz und sonstiges Recht nicht schon dann, wenn bei mehreren rechtlich vertretbaren Auslegungen ohne Verstoß gegen allgemeine Bewertungsmaßstäbe und ohne die vom BSG erwähnten Grenzüberschreitung bei nach ausstehender höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht die Auslegung durch die Aufsicht angewendet wird. Auch das Schrifttum15 geht davon aus, gelange die Aufsichtsbehörde zu dem Ergebnis, dass das Handeln oder Unterlassen des Versicherungsträgers ___________ 12

S. u.a. Schnapp aaO – Fußn. 1 – Seite 103; Brackmann aaO – Fußn. 1 – Seite 225a; Schirmer/Kater/Schneider aaO – Fußn. 7 – Kennzahl 230 Seite 7; Marschner in: Wannagat, SGB IV, § 87 RdNr. 18; Graeff aaO § 89 RdNr. 4a; Szotowski in: Jahn, SGB I/IV, § 87 SGB IV RdNr. 4; Engelhard in: Schlegel, juris Praxiskommentar SGB IV, 2006, § 87 RdNr. 28; Breitkrenz in: Winkler, SGB IV, 2007, § 89 RdNr. 5. 13 BSGE 94, 221, 229. 14 BSG SozR 4-2400 § 80 Nr. 1. 15 Schirmer/Kater/Schneider aaO – Fußn. 7 – Kennzahl 350, Seite 2.

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rechtlich vertretbar sei, blieben förmliche Aufsichtsmaßnahmen außer Betracht.16 Bei noch nicht bestehender höchstrichterlicher Rechtsprechung wird es wohl nicht selten unterschiedliche Auffassungen unter den Sozialversicherungsträgern über die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffes geben. Ist es dann nicht – so könnte man gegen die vorstehend vertretene Auffassung anführen – auch die Aufgabe des BVA oder anderer Aufsichtsbehörden, sich um eine einheitliche Rechtsanwendung zu wesentlichen Rechtsbegriffen zu bemühen? Man wird diese Frage mit ja beantworten dürfen und müssen, wenn man die Betonung auf „bemühen“ setzt. Die vordringliche Aufgabe und hiernach geübte Aufsichtspraxis gegenüber den Trägern der Selbstverwaltung, diese im Wege und im Rahmen der Rechtsaufsicht zu beraten, ermächtigt nicht nur, sondern verpflichtet die Rechtsaufsicht und vornehmlich das BVA, sich um eine einheitliche Rechtsanwendung zu bemühen. In der hier wiederum so wichtigen partnerschaftlichen Beratung darf und muss die Rechtsaufsicht ihre Rechtsauffassung und ihre Bewertung der tatsächlichen Umstände darlegen. In der Beratung sind der Rechtsaufsicht noch nicht die Grenzen gesetzt, die für eine Verpflichtungsanordnung gegeben wären. Bleibt das Bemühen erfolglos und lässt das Gesetz eine abweichende Auslegung zu, ohne dass der darauf beruhende Meinungsstreit bereits durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung entschieden ist, so hat die Aufsichtsbehörde nach der Rechtsprechung des BSG die Rechtsauffassung der Sozialversicherungsträger unter den aufgezeigten Voraussetzungen und nicht gegebener Grenzüberschreitungen von einer Verpflichtungsordnung abzusehen. Das bewirkt jedoch keine dauerhafte Rechtsunsicherheit. Sind die Sozialversicherungsträger unterschiedliche Auffassung, so werden jedenfalls einige von ihnen die Ansicht vertreten, die sich zu Ungunsten der Versicherten auswirkt. Dann werden die Versicherten im Rechtswege dagegen vorgehen und eine höchstrichterliche Entscheidung herbeiführen. Gleiches gilt erst recht, wenn alle Sozialversicherungsträger einheitlich eine für die Versicherten ungünstige Gesetzesauslegung praktizieren. Lägen – was allerdings äußerst selten der Fall sein dürfte – alle Sozialversicherungsträger eine von der Aufsicht abweichende Rechtsauffassung zugrunde und wirkt die sich ausschließlich zu Gunsten der Versicherten aus, so wird es insoweit keine Kläger und damit auch keine Richter geben. Auch dann muss die Aufsicht die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit der Sozialversicherungsträger respektieren. Sie kann allerdings das für sie zuständige Ministerium entsprechend informieren und ggf. Vorschläge für Gesetzes- oder Verordnungsänderungen unterbreiten. ___________ 16

BSGE 94, 221, 229.

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Eine Starrheit der Rechtsprechung – um auf diese spezielle Frage des Verhältnisses Rechtsprechung und Aufsicht zurückzukommen – wird auch schon deshalb vermieden, weil die auch in der Aufsicht nicht vermeidbare Kasuistik die Rechtsprechung zu differenzierten Entscheidungen zwingt, die in nicht wenigen Fällen von dem jeweils unterliegenden Beteiligten als Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung bewertet werden und dann regelmäßig Anlass zu einem neuen Musterverfahren geben. So hat z. B. das BSG in seiner Entscheidung vom 11. August 199217 ausgeführt, jedenfalls im Bereich der Sach- und Vermögensverwaltung seien wirtschaftlich vertretbare Entscheidungen der Versicherungsträger aufsichtsrechtlich hinzunehmen, wenn dem Recht auf Selbstverwaltung, das im Wesentlichen nur noch in den Bereichen der inneren Organisation und der Finanzverwaltung zur Geltung komme, nicht jede Rechtsqualität abgesprochen und die Selbstverwaltung zu einem inhaltsleeren Begriff werden solle. In dieser Entscheidung wurde der Aufsichtsbehörde das Recht versagt, einem Sozialversicherungsträger die Fortführung von Haftpflichtversicherungsverträgen mit der Begründung zu versagen, dass derartige Verträge gegen den Selbstdeckungsgrundsatz verstoßen würden. In seinem Urteil vom 18. Juli 200618 hat das BSG dargelegt, dass auch im Bereich der Sach- und Vermögensverwaltung den Sozialversicherungsträgern Grenzen gesetzt sind, bei deren Überschreitung die Aufsicht nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, Rechtsverstöße zu beanstanden. Die Aufsicht hatte eine Krankenkasse verpflichtet, das Deckungskapital für von ihr zu erfüllende Leistungszusagen aus der betrieblichen Altersversorgung nicht in einen Wertpapier-Spezialfond mit Aktienanteilen anzulegen, für den keine besondere Einlagensicherung besteht. Zutreffend hat das BSG insoweit auf § 80 Abs. 1 SGB IV hingewiesen. Nach dieser Regelung sind die Mittel des Versicherungsträgers so anzulegen und zu verwalten, „dass ein Verlust ausgeschlossen erscheint, ein angemessener Ertrag erzielt wird und eine ausreichende Liquidierung gewährleistet ist“. Aus § 80 Abs. 1 SGB IV ist nach der Auffassung des BSG herzuleiten, dass im Rahmen der Verwaltung der Mittel dem Gebot, einen Verlust soweit wie möglich auszuschließen, der Vorrang vor dem Gesichtspunkt der Ertragserzielung zukommen muss. Dabei konnte sich das BSG auf das ganz überwiegende Schrifttum beziehen. Allerdings lässt sich die Frage nicht unterdrücken, weshalb das BSG, nachdem es dem Grundsatz des möglichst weitgehenden Ausschlusses eines Verlustes den Vorrang vor einem anzustrebenden höheren Ertrag gegeben hat, noch längere Ausführungen darüber macht, dass die von dem Sozialversicherungsträger erzielten Renditen er___________ 17 18

BSGE 71, 108, 110. SozR 4-2400 § 80 Nr. 1.

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heblich unter den durchschnittlichen Umlaufrenditen für festverzinsliche Wertpapiere inländischer Emittenten lagen. Allerdings soll hier auch nicht unerwähnt bleiben, dass die in den vergangenen Jahren wiederholt von der Aufsicht beanstandete Festsetzung der Höhe der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung durch die jeweilige Krankenkasse die Frage aufkommen ließ, ob hier die bis dahin vom Gesetzgeber den Körperschaften übertragene Festlegung der Beitragssätze auch unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlich vertretbaren Entscheidungen doch zu einem dann fast „inhaltsleeren Begriff“ der Beitragsgestaltung durch die Krankenkassen führte. Man wird es nicht als Aufgabe der Aufsicht ansehen dürfen, allein von dem zuständigen Bundesministerium oder auch selbst von der Bundesregierung als politische Zielsetzung programmierte möglichst zu vermeidenden Beitragserhöhungen zu unterbinden. Darauf wird unter IV noch einmal eingegangen. Der Beitragsstabilität, wie sie im Gesetz festgelegt war, wird man keinen von der Aufsicht zu beachtenden Vorrang einräumen dürfen gegenüber der Verantwortung der Selbstverwaltung, durch ihre Beiträge die finanzielle Grundlage zu sichern. Im Rahmen ihrer Entscheidungsfreiheit wird man davon ausgehen dürfen, dass es insoweit noch in der Entscheidungsfreiheit der Selbstverwaltung liegt, durch eine Beitragserhöhung die wirtschaftliche Grundlage zu erhalten oder aber im Rahmen einer Beitragssenkung neue Mitglieder zu erwarten, die durch ihre Beiträge dann auch bei einem niedrigeren Beitragssatz die wirtschaftliche Stabilität gewährleisten.

IV. Wechselwirkungen Aufsichtsbehörde – Ministerium Die vom BSG aufgezeigten Grenzen der Aufsicht durch eine maßvolle Wahrnehmung dieser Aufgaben wirken sich auch zu Gunsten der Aufsichtsbehörden aus. Das Ministerium hat bei allgemeinen Weisungen nach § 94 Abs. 2 Satz 2 SGB IV gegenüber der Aufsichtsbehörde zu berücksichtigen, dass sie nur solche Weisungen geben darf, die von der Aufsicht rechtlich umgesetzt werden können. Deshalb sind die Maßstäbe, welche die Rechtsprechung für die maßvolle Durchführung der Aufsicht aufgestellt hat, von dem Ministerium ebenfalls zu beachten. Es dürfen nur allgemeine Weisungen erteilt werden und nicht solche, die wesentlich allein auf einen speziellen Einzelfall gerichtet sind. Die Aufsichtsbehörde hat in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die allgemeinen Weisungen anwendbar sind.19 Darüber hinaus wird man daraus ableiten dürfen, dass die Stellung der Aufsichtsbehörden nicht stets vollkommen gleichzusetzen ist mit anderen den Ministerien direkt untergeordneten Behörden. ___________ 19

Marschner aaO – Fußn. 12 – § 94 RdNr. 9.

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Es wurde eingangs erwähnt, dass die Aufsicht nicht nur eine Begleiterscheinung, sondern ein wesensnotwendiges Begriffsmerkmal der Selbstverwaltung ist. Die Selbstverwaltung wiederum hebt sie von anderen Körperschaften oder Behörden ab. Gleiches gilt damit notwendigerweise für Aufsichtsbehörden, die nicht nur die Dienstaufsicht über untergeordnete Behörden ausüben. Sie haben kraft Gesetzes eine besondere Gestaltung der Aufsicht wahrzunehmen, was auch ihnen gegenüber einen Bewertungsfreiraum in der Wahrnehmung der Aufsicht sichert. Zu beachten ist dabei zugleich die Bindung der Aufsicht an die Rechtsprechung des BSG. Es wäre deshalb unzulässig, der Aufsicht allgemeine Weisungen zu erteilen, die dieser Rechtsprechung widersprechen. Es ist grundsätzlich Aufgabe und Verantwortung der Aufsicht, die ihr übertragenen Aufgaben eigenverantwortlich unter Beachtung der sich aus der (hier sogar paritätischen) Selbstverwaltung ergebenden Bewertungsräume zu erfüllen. Verletzt die Aufsichtsbehörde diese Pflicht, dann hat das zuständige Ministerium im Rahmen seiner Dienstaufsicht einzugreifen. Es ist aber nicht zulässig, die nach dem Gesetz der Aufsicht übertragenen Aufgaben anstelle der Aufsicht durch allgemeine Weisungen wahrzunehmen.

V. Wechselwirkungen Aufsicht – Rechnungshöfe Die Prüfung der Körperschaft durch die Aufsicht umfasst insbesondere die Aufstellung des nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erstellten Haushaltsplans (§§ 69, 70 Abs. 2 SGB IV) und die Geschäfts- und Rechnungsführung (§ 88 SGB IV). Im Zusammenhang mit den Mitwirkungsrechten (§§ 34, 85, 86 SGB IV) erstreckt sich die Aufsicht auf alle Gebiete, die außerhalb der von der Aufsicht nach dem SGB IV der Prüfung der Rechnungshöfe unterliegen. In der Durchführung wirken einerseits Aufsicht und Mitwirkung wesentlich stärker als die Prüfungen durch die Rechnungshöfe, da sie nur den trotz allem insoweit abgrenzbaren und damit von der Aufsicht rechtlich und tatsächlich wesentlich besser erfassten Bereich der Sozialversicherung betreffen. Aufsicht und Mitwirkung werden deshalb durch ihre Kontrolldichte und Spezialisierung auch in der Qualität gestärkt. Die Stärke der Aufsicht gründet sich u.a. auf die II. und III. aufgeführte partnerschaftliche Kooperation, die auch der Aufsicht wertvolle Entscheidungshilfen gibt. Die besondere Nähe der Aufsicht zum materiellen Sozialversicherungsrecht ist ebenfalls eine Qualitätsgarantie, wie insbesondere die dem Urteil des BSG vom 18. Juli 200620 zugrunde liegende Sach- und Rechtslage zeigen. Andererseits beachten Aufsicht und Mitwirkung ohne Qualitätsverlust in der partnerschaftlichen Kooperation stärker die Besonderheiten einer Körperschaft mit ___________ 20

BSG SozR 4-2400 § 80 Nr. 1.

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Selbstverwaltung im Wesentlichen durch sie auch finanziell tragende Personenkreise. Deshalb erschien es rechtspolitisch mehr als sinnvoll, die Regelung des § 112 Abs. 1 BHO entfallen zu lassen.21 Nach dieser Vorschrift ist § 111 BHO anzuwenden, „und zwar nur dann, wenn“ die bundesunmittelbaren Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung der Landwirte „aufgrund eines Bundesgesetzes vom Bundes Zuschüsse erhalten oder eine Garantieverpflichtung des Bundes gesetzlich begründet ist“. Der Gesetzgeber ist der Konzentration auf die Aufsicht jedoch bisher nicht nur nicht gefolgt, sondern hat durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26. März 2007 in § 274 SGB V folgenden Abs. 4 angefügt: „Der Bundesrechnungshof prüft die Haushalts- und Wirtschaftsführung der gesetzlichen Krankenkassen, ihrer Verbände und Arbeitsgemeinschaften“. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift geht das Prüfungsrecht des BRH dem Grunde und Umfang nach weiter als nach § 112 Abs. 1 BHO, da es nicht beschränkt ist auf die Fälle, in denen aufgrund eines Bundesgesetzes vom Bund Zuschüsse gewährt werden. Auch Sinn und Zweck dieser Vorschrift müssten eigentlich für diese weitergehende Auslegung sprechen, da § 274 Abs. 4 SGB V überflüssig wäre, wenn er nichts anderes als § 112 Abs. 1 BHO regeln sollte – ein Argument, das allerdings allgemein immer mehr an Bedeutung verliert. Auch der Bundesrat forderte in seiner Stellungnahme zu dem Entwurf des GKV-WSG eine Streichung dieser Regelung.22 In der Gesetzesbegründung heißt es zwar u. a.: „Die Regelung stellt im Interesse einer unabhängigen, umfassenden und wirksamen Finanzkontrolle klar, dass der Bundesrechnungshof die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung der bundesunmittelbaren und landesunmittelbaren Krankenkassen sowie ihrer Verbände und Arbeitsgemeinschaften prüfen kann, wenn diese gesetzlich begründete Zahlungen des Bundes erhalten“. Im Gesetzeswortlaut hat die Übernahme der Begrenzung der Prüfung auf die in § 112 Abs. 1 BHO aufgeführten beiden Fallgestaltungen jedoch kei___________ 21 S. auch Graeff aaO – Fußn. 1 – § 87 RdNr. 1b: § 112 BHO rechtspolitisch fraglich; s. zu § 112 BHO u.a. BVerwG Beschluss vom 18. 9. 1995 – 7 B 205/95; Bayer. VGH NVwZ 1996, 1130; BSGE 52, 294; Kirchhof, Die Prüf- und Mitwirkungskompetenzen des Bundesrechnungshofes bei Aufstellung und Abnahme der Jahresrechnung von Rentenversicherungsträgern, DRV 1992, S. 369; Baumhauer/Michalak, Prüfungsrechte des Bundesrechnungshofes gegenüber den Krankenkassen auf Grund von § 221 Abs. 1 SGB V, NZS 2006, S. 467; Steiner, Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofes bei den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufgrund der Beteiligung des Bundes an den Aufwendungen für versicherungsfremde Leistungen, nach § 221 SGB V, Kompass/KBS 2006, Nr. 1/2 Seite 3. 22 S. BR-Drucks. 755/06 = BT-Drucks. 16/3950 Anl. 2; BT-Drucks. 16/4020.

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nen Niederschlag gefunden. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung in der Begründung zum Entwurf des Gesetzes von „Zahlungen“ ausgeht, während § 112 Abs. 1 Satz 1 BHO „Zuschüsse“ voraussetzt. Diese Vorschrift betrifft, wofür auch die Gesetzesbegründung angeführt werden kann, als Spezialvorschrift für den BRH die näheren Voraussetzungen für die Voraussetzungen für die Prüftätigkeit des BRH. Aber selbst wenn man von einer weiterhin bestehenden und durch § 274 Abs. 4 SGB V bestätigten Begrenzung des Prüfrechts des BRH ausgeht, erscheint diese Regelung weiterhin nicht gerechtfertigt. § 111 BHO, auf den § 112 Abs. 1 Satz 1 BHO Bezug nimmt, verweist auf die Regelungen der §§ 89 bis 100 und 102, 103 BHO. Die beiden zuletzt angeführten Vorschriften betreffen jedoch nicht die Haushalts- und Wirtschaftsführung. Die Prüfung der ordnungsgemäßen und den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der Verwaltung entsprechenden Zuschüsse des Bundes kann deshalb die Aufsicht mit ihren Mitwirkungsrechten konkreter und spezialisierter, dadurch aber auch wesentlich umfassender laufend informiert sowie mit der jeweiligen Rechtsmaterie eingehend vertraut vornehmen. Vor allem die präventive Beratung und die Beratung vor Aufsichtsmitteln sichern einerseits eine zeitnahe und umfassende Prüfung und beachten andererseits die erforderliche Eigenständigkeit der Verwaltungsführung durch die Selbstverwaltung der Körperschaft, die – das sei wiederholt – von den Kreisen wahrgenommen wird, die im Wesentlichen die Finanzierung tragen. Der Bundesrat hat mit Recht darauf hingewiesen, divergierende Auffassungen seien zu vermeiden. Sie können schon fast als unausweichlich bezeichnen werden und vermögen insoweit insbesondere nicht nur das Verhältnis zwischen Aufsicht und Körperschaft stören, sondern vor allem das Vertrauen der Versicherten in die Leistungspraxis schmälern. Der Gesetzgeber hat es sich – wieder einmal – wohl zu leicht gemacht, einerseits selbst höchstwahrscheinliche Schwierigkeiten in der Gesetzesanwendung nicht von vornherein auszuschließen, andererseits die Verwaltungspraxis aufzufordern, die zu erwartenden Schwierigkeiten möglichst in irgendeiner Weise nicht eintreten zu lassen. Wie sollen – um nur ein Beispiel aufzuzeigen – divergierende Entscheidungen vermieden werden, wenn die aufgrund des Gesetzes auf einer Rechtsaufsicht beschränkte Aufsicht keine Einwendungen gegen eine Verwaltungspraxis erhebt, der BRH jedoch später im Rahmen der Zweckmäßigkeitskontrolle (vgl. § 91 Abs. 2 Satz 2 BHO ) entsprechende Beanstandungen ausspricht. Schließlich ist die Prüfung durch den BRH auch nicht ausreichend wirkungsvoll, um die vorstehend aufgezeigten und aus den Ausführungen unter I. bis III. erkennbar verbundenen Nachteilen der Durchbrechung der Spezialität der Aufsicht über Körperschaften in Kauf zu nehmen. Der BRH hat keine Möglichkeit, seine Rechtsauffassung gegenüber den Sozialversicherungsträgern

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durchzusetzen.23 Die Körperschaft braucht sich nicht einmal zu rechtfertigen, dass sie den Beanstandungen des BRH nicht nachgekommen ist,24 was insbesondere für den das Prüfungsrecht des BRH mit umfassenden Ermessensbereich25 von Bedeutung ist. Danach liegt es eigentlich auch nicht im Interesse des BRH, eine vor allem im Vergleich mit der in laufender Verbindung mit den Körperschaften stehenden und mit wesentlich stärkeren Aufsichtsmitteln betrauten Aufsicht so wenig wirkungsvolle Prüfung durchzuführen.

___________ 23

Engelhard aaO – Fußn. 12 – § 88 RdNr. 39; Szotowski aaO – Fußn. 12 – § 87 SGB IV RdNr. 1. 24 BSGE 52, 294, 299; Engelhard aaO – Fußn. 12 – § 87 RdNr. 1b. 25 BSGE 52, 294, 298.

„Soziale“ Daseinsvorsorge und „Dienste von allgemeinem Interesse“ Von Joh.-Christian Pielow, Bochum

I. Problemaufriss Die Karawane zieht weiter: Anfänglich waren es neben den öffentlichrechtlichen Sparkassen1 vor allem die sog. „Netzwirtschaften“ (neben der Postund Telekommunikations- insbesondere die Energieversorgung, zunehmend auch der „ÖPNV“ und die Wasserwirtschaft), die im Zentrum europapolitischer und -rechtlicher Debatten um das Schicksal der „öffentlichen Daseinsvorsorge“ standen. Inzwischen geht es unter dieser Chiffre auch und gerade um „soziale“ sowie um Gesundheitsdienstleistungen im Spannungsfeld zwischen dem (Binnen-) Markt- und Wettbewerbsdruck des EG-Vertrages einerseits und der Aufrechterhaltung staatlicher Einflusszonen und nationaler Sonderrechtsregime andererseits.2 Deutlich kommt dies in der letzten Mitteilung der Europäischen Kommission vom 20. November 2007 zum EU-rechtlichen Pendant der deutschen „Daseinsvorsorge“, den „Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (DawI), zum Ausdruck, wenn diese Dienste schon dem Titel nach „un___________ 1

S. zum anfänglichen Streit um Finanzgarantien (Anstaltslast; Gewährträgerhaftung) für öffentlich-rechtliche Sparkassen und Landesbanken die inzwischen erfolgte Einigung der EU-Kommission mit der Bundesregierung vom 17.07.2001, Presseerklärung der Kommission Nr. IP/01/1007. Eingehend dazu von Danwitz, NWVBl. 2002, S. 132 ff.; Kluth, in: 39. Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002/I, S. 111 ff.; Kruse, NVwZ 2000, S. 721 ff.; Oebbecke, VerwArch 2002, S. 278 ff. 2 Vgl. aus der schon jetzt kaum mehr zu überblickenden Literatur frühzeitig etwa (warnend) K. Ipsen, Soziale Dienstleistungen und EG-Recht 1997, S. 77 ff., und (wohlwollend) Haverkate/Huster, Europäisches Sozialrecht, 1999, Rn. 571 ff. – S. ferner z.B. Hatzopoulos/Killing, CMLR 2002, S. 683 ff.; Möller, VSSR 2001, S. 25; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im Europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 459 ff.; ders., ZESAR 2003, S. 199 ff.; Storr, ZESAR 2003, S. 249 ff.; Schulz-Weidner, ZESAR 2003, S. 58 ff.; Penner, NZS 2003, S. 234 ff.; Koenig/Beer, ZESAR 2002, S. 54 ff.; SchulzNieswandt, ZögU 2005, S. 19 ff. – Begonnen hat diese Entwicklung freilich schon in den frühen 90er Jahren, nachdem der EuGH das Vermittlungsmonopol für Führungskräfte der früheren Bundesanstalt für Arbeit als Verstoß gegen den heutigen Art. 81 EG gewertet hatte, vgl. EuGH v. 23.4.1991, Rs. C-41/90 – Höfner u. Elser, Slg. 1991, I1979.

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ter Einschluss von Sozialdienstleistungen“ begriffen werden.3 Die damit erzeugte Spannung wird auch darin sichtbar, dass es in den begleitenden Kommissions-Dokumenten vom selben Tage gesondert zum Einen um die weitere Markt- und Wettbewerbsstrategie der Union4 und zum Anderen um die „Vision“ bezüglich der „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität“ im Europa des 21. Jahrhunderts (u.a. mit Ankündigung einer neuen „EU-Sozialagenda“) geht.5 Welche rechtspraktischen Auswirkungen diese Entwicklung inzwischen nach sich zieht, manifestiert sich zudem in einem unlängst von der Generaldirektion Wettbewerb entschiedenen praktischen Fall: Es ging um die 2004 von einem privaten Hotelier auf der Ferieninsel Rügen (Ostseebad Baabe) erhobene Beschwerde gegen die Förderung des Familienferiendorfs Rerik der gemeinnützigen AWO Sano gGmbH mit einem Investitionskostenzuschuss in Höhe von knapp 2 Mio. Euro (entsprechend knapp 30 % der Investitionskosten) durch den Bund und das Land Mecklenburg-Vorpommern.6 Darauf wird zurückzukommen sein. Die angedeuteten Entwicklungen geben Anlass, an dieser Stelle einigen grundlegenden Fragen zur Stellung „sozialer“ Dienstleistungen im Binnenmarktsystem des EG-Vertrages im Allgemeinen und ihrer Einordnung als „Diensten von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse“ im Besonderen nachzuspüren. Anhand dieser ausgewählten Problemzone wird sich zeigen, dass die Dogmatik eines europäischen Sozialrechts, deren stringente Beachtung nach wiederholter Mahnung durch Friedrich E. Schnapp schon im nationalen Recht mitunter zu wünschen übrig lässt, auch auf der EU-Ebene noch alles andere als ausgegoren ist und sich damit ein bereites Feld für weiterführende rechts-, aber auch politik- und wirtschaftswissenschaftliche bzw. interdisziplinäre Forschung auftut. Zugleich dienen diese Zeilen dem aufrichtigen Dank des Verfassers an den Staats-, Verwaltungs- und Sozialrechtslehrer Schnapp für vielerlei fachlich wie persönlich anregende Begegnungen während der gemeinsamen Zeit an der Juristischen Fakultät bzw. der Nachbarschaft der Institute für Sozialrecht und für Berg- und Energierecht im Gebäude „NA“ der Ruhr-Universität.7 ___________ 3

Vgl. Mitteilung der Kommission „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“, KOM(2007) 725 endg. 4 S. Mitteilung „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“ v. 20.11.2007, KOM(2007) 724 endg., dort insbes. S. 11 f. 5 S. Mitteilung „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität: Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts“ v. 20.11.2007, KOM(2007) 726 endg., insbes. S. 9, 11 ff. 6 S. Entscheidung 2008/133 v. 20.2.2008 betr. Staatsbeihilfen CP 65/2004. 7 Noch zu diskutieren wäre unter uns und angesichts des Sprach- und Stilsachverstandes des Geehrten, was man davon zu halten hat, dass im geltenden EU-Recht über-

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II. Paradigmenwechsel öffentlicher Daseinsvorsorge Die Debatten um die Stellung von Leistungen der „öffentlichen Daseinsvorsorge“ im Gefüge des europäischen Rechts hat, wie angedeutet, ihren Ursprung in dem sukzessiven Ausgreifen der Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik der Europäischen Gemeinschaft auf Wirtschaftsbereiche, die bis dahin und allerorten entweder als staatliche oder regionale/kommunale „Verwaltungsmonopole“ (wie z.B. die frühere Bundesbahn und -post nach Art. 87 Abs. 1 GG a.F.) ausgestaltet waren oder mehrheitlich in Händen „öffentlicher“, zuweilen auch „gemischt-wirtschaftlicher“ oder rein privater Unternehmen lagen, welche jedoch über ansehnliche Vorzugsrechte, etwa Monopolrechte oder sonstige staatliche Förderungen, verfügten. Indes ist der europäische Wettbewerbs- resp. Liberalisierungsdruck keineswegs monokausal für den seit den 80er Jahren zu beobachtenden erheblichen Paradigmenwechsel auf diesem Gebiet. Mindestens ebenso ursächlich wirkt, neben völkerrechtlichen Entwicklungen unter dem Dach der WTO8, der „hausgemachte“ Mainstream in der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie er durch den massiven Rückzug des Staates aus vielen Bereichen unmittelbarer Leistungs- und Erfüllungsverantwortung und seines Wandels hin zum immer mehr „privatisierenden“ bzw. „liberalisierenden“ resp. „Gewährleistungsstaat“ gekennzeichnet ist.9 Ausgelöst wurde diese parallele Entwicklung wiederum durch ständig knapper werdende Finanzressourcen (Stichworte: „Ökonomisierung“, „schlanke Verwaltung“, New Public Management)10, aber auch die zunehmende Komplexität vielfach neuer Verwaltungsaufgaben (etwa im Umwelt- und Technikrecht). Sichtbar wird sie in ___________ wiegend und im Doppeldativ von „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (s. z.B. Art. 16, 86 Abs. 2 EG), zuweilen aber auch (z.B. in Art. 36 EUGrundrechtecharta) von „allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ die Rede ist, s.a. Pielow, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EU-Grundrechtecharta, 2006, Art. 36 Rn. 14 sowie Sick, Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod, 2004. Nach Auskunft namhafter Germanisten sollen (inzwischen) beide Wendungen möglich sein (!?). 8 Hinzuweisen ist auf die sukzessive Fortentwicklung v.a. des Allgemeinen Übereinkommen über den internationalen Dienstleistungshandel (GATS, BGBl. 1994 II S. 1645). Dazu näher etwa Barth, EuZW 1994, S. 455 ff., sowie Ohler, in: Bungenberg/Danz u.a. (Hrsg.), Recht und Ökonomik, 2004, S. 309 ff. S. ferner die Hinweise im Grünbuch der Kommission zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse v. 21.05.2003 (KOM 270 endg.), S. 35 f. 9 Eingehend dazu: Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 406 ff., 898 ff.; siehe ferner: Voßkuhle und Heintzen, VVDStRL 62 (2002), S. 220 ff., 266 ff.; SchmidtAßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 172 ff.; Butzer, Sicherstellungsauftrag, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb. des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 74, insbes. Rn. 10 ff.; Franzius, Der Staat 2003, S. 493 ff.; Weiß, DVBl. 2002, S. 1167 ff.; kritisch aus kommunaler Sicht etwa Britz, DV 2004, S. 145 ff. 10 S. dazu etwa die Beiträge in: Butzer (Hrsg.), Wirtschaftlichkeit durch Organisations- und Verfahrensrecht, 2004, sowie in: Bungenberg/Danz u.a. (Hrsg.), Recht und Ökonomik, 2004.

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der (Teil-) Entäußerung öffentlicher Versorgungsunternehmen, der Öffnung ehemaliger „Verwaltungsmonopole“ (z.B. Abfallentsorgung) für die privatwirtschaftliche Betätigung (materielle Privatisierung) wie auch in der verstärkten Einbindung Privater in die „kooperative“ Erledigung verbleibender Verwaltungsaufgaben (funktionale Privatisierung), namentlich durch Bildung schlagwortartig so bezeichneter Public Private Partnerships.11 „Öffentliche“ Daseinsvorsorge besteht infolgedessen nicht mehr in der vornehmlich staatlich bewirkten Leistung gegenüber der Öffentlichkeit, wie sie noch der Begründer dieser Figur, Ernst Forsthoff, im Auge hatte.12 Sie gerät vielmehr zur „veröffentlichten“, nämlich vielfach an gesellschaftliche Kräfte (rück-)überantworteten Aufgabenerfüllung bei der Bereitstellung „öffentlicher Infrastrukturen“13 oder schlicht der „öffentlichen Versorgung“14. Im Sozialsektor ist dies, betrachtet man das binäre System aus staatlichen und vor allem gemeinnützigen Trägern („3. Sektor“), freilich verbreitet seit jeher der Fall, wenngleich auch hier Wandlungen in Richtung eines pluralistischeren „Wohlfahrtmixes“ (Welfare Mix) – augenfällig z.B. in der häuslichen Kranken- und Altenpflege sowie in der (Klein-) Kinderbetreuung – zu beobachten sind. Die Veränderungen des staatlichen Verantwortungs- und Aufgabenspektrums – Stichworte: Steuern statt rudern; (Re-) Regulierung zwecks allgemein zugänglicher Versorgung mit quantitativ wie qualitativ angemessenen (Universal-) Dienstleistungen; erforderlichenfalls residuale Einstandspflichten des Staates – sind jeweils dieselben.

___________ 11 Zu den letzteren: Tettinger, NWVBl. 2005, S. 1 ff. m.zahlr.N. Zum Verhältnis von „Liberalisierung“ und „Privatisierung“: Bauer, VVDStRL 54 (1994), S. 243 ff.; zum Ganzen auch Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 71 ff.; ders., Privatisierung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb. des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 75; Pielow, Grundstrukturen öffentlicher Versorgung, 2001, S. 27 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, insbes. S. 16 ff. 12 Grundlegend: Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938; auszugsw. auch in ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 22 ff.; s.a. D. Scheidemann, Der Begriff Daseinsvorsorge, 1991, S. 17 ff.; Ronellenfitsch, in: Blümel (Hrsg.), Ernst Forsthoff, 2003, S. 53 (58 ff., 61 ff.); Pielow (o. Fn. 11), S. 353 ff.; instruktiv zu den zeitgeschichtlichen Überlagerungen des Konzepts auch W. Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, 1989, S. 110 ff. 13 Zu diesem vielfach synonym zur „Daseinsvorsorge“ verwandten Begriff etwa Stober, Allg. Wirtschaftsverwaltungsrecht, 15. Aufl. 2006, § 28; Pielow (o. Fn. 11), S. 21 ff. 14 So, angesichts der „etatistischen Schlagseite“ des Begriffs „Daseinsvorsorge“, Pielow (o. Fn. 11), S. 400.

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III. Das europäische Konzept der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Die Stellung der öffentlichen resp. „republizierten“ Daseinsvorsorge im Gefüge des europäischen Binnenmarkt- und Wettbewerbsrechts im Allgemeinen lässt sich wie folgt knapp umreißen: Zwar wird es mit dem (zu erwartenden) Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf französische Initiative nicht zur Verankerung des Unionsziels „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“15 als eines „Selbstzwecks“ (N. Sarkozy) im EG-Vertrag, künftig: Vertrag über die Arbeitsweise der EU, kommen. Neben dem an seiner Stelle aus dem Verfassungsvertrag übernommenen Passus einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ bleibt indes das Bekenntnis zum – eigentlich gegenläufigen – „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (wenn auch künftig unter „ferner liefen“ in Art. 119 AEUV) erhalten. Auch bleibt der Austausch aller Waren und Dienstleistungen weiterhin den an die Staaten adressierten Grundfreiheiten im Binnenmarkt (künftig: Art. 28 ff. AEUV) sowie den primär unternehmensbezogenen und ebenfalls unmittelbar anwendbaren Wettbewerbsregeln (künftig: Art. 101 ff. AEUV) unterworfen. Dies gilt auch dann, wenn die betreffenden Leistungen von „öffentlichen Unternehmen“16 oder Unternehmen, denen die Mitgliedstaaten „besondere oder ausschließliche Rechte“ gewähren, erbracht werden (Art. 86 Abs. 1 EG = 106 Abs. 1 AEUV). Der Vertrag befleißigt sich insoweit, schon weil der „Staatssektor“ in der Wirtschaft von Land zu Land recht unterschiedlich ausgeprägt ist, eines „funktionalen“ resp. „trägerneutralen“, d.h. an die binnenmarktrelevante „wirtschaftliche“ Betätigung als solche und nicht an konkrete Rechts- und Organisationsformen anknüpfenden Ansatzes.17 Wenn andererseits diese Grundprinzipien erst rund 30 Jahre nach Inkrafttreten der Römischen Verträge auch auf dem Gebiet der öffentlichen Daseinsvorsorge praktisch Platz zu greifen begannen18 ___________ 15

Siehe so noch Art. I-3 Abs. 2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Darunter versteht das EG-Recht Unternehmen, auf die die öffentliche Hand aufgrund Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstiger (z.B. Stimmrechts-) Bestimmungen, die die Tätigkeit des Unternehmens regeln, unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben kann, vgl. nur Koenig/Kühling, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 86 Rn. 15 f. m.entspr.Nachw. 17 Instruktiv hierzu auch Ex-Wettbewerbskommissar van Miert, Öffentliche Unternehmen – Mit EU-Recht vereinbar und zeitgerecht?, ZögU 2004, S. 312 ff. 18 Einen Meilenstein bildete das „Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat zur Vollendung des Binnenmarktes“ aus dem Jahre 1985 (KOM/85/0310 endg.), das mit 270 Einzelmaßnahmen die Schaffung eines „günstigeren Umfelds für die Förderung der Unternehmen, des Wettbewerbs und des Handels“ durch Beseitigung möglichst aller materiellen, technischen und steuerlichen Marktschranken bis zum Jahr 1993 anstrebte. 16

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– vor allem aufgrund –

sektorspezifischen Sekundärrechts, zum Beispiel in Form der (Binnenmarkt-) Richtlinien für den Post-, Telekommunikations-, Energieund Eisenbahnsektor,



sektorübergreifenden Sekundärrechts wie namentlich den Vorgaben zur Transparenz der Finanzbeziehungen zwischen öffentlichen Unternehmen und ihren staatlichen bzw. kommunalen Trägern19 sowie zur Vergabe öffentlicher Aufträge, und schließlich



der unmittelbaren Anwendung der allgemeinen Wettbewerbsregeln und allen voran des Beihilfeverbots nach Art. 87 EG – ,

unterstreicht dies die erheblichen Beharrungskräfte und Widerstände, die dieser Entwicklung seitens der auf ihre Souveränitäts- bzw. Gemeinwohl-, Versorgungs- oder Infrastrukturinteressen pochenden Mitgliedstaaten entgegen gestellt wurden – und weiterhin werden. Hinzu kommt, dass die flächendeckende, kostengünstige und qualitativ angemessene Versorgung der Allgemeinheit – etwa mit Strom „bis zur letzten Lampe“, ferner mit Briefkästen, Telefonzellen, Linienbusdiensten und Geldautomaten bis „ins letzte Dorf“ und eben auch mit „sozialen“ Dienstleistungen – kostendeckend oftmals nur durch Gewährung von Monopol- oder anderen Sonderrechten (z.B. Gewährung von Finanzzuschüssen; „Quersubventionen“ zwischen lukrativen und defizitären Geschäftssparten) zu realisieren ist.20 Zur Legitimation von Wettbewerbsdurchbrechungen zugunsten öffentlicher Daseinsvorsorge werden zudem immer wieder auch die von diesen Einrichtungen neben dem eigentlichen Versorgungszweck verfolgten Sekundäranliegen, namentlich sozialpolitische (z.B.: Unterstützung von Familien, Rentnern und Arbeitslosen) sowie arbeitsmarkt- oder umweltpolitische Ziele und solche der Wirtschafts-, z.B. Mittelstandsförderung, ins Feld geführt.21 Derlei schwer wiegende Belange haben inzwischen durchaus zu ansehnlichen „Sensibilisierungen“ auf der Ebene des primären und des sekundären EURechts wie in der Rechtsprechung des EuGH und der Politik der EUKommission geführt. Ihrem bis dahin geführten Schattendasein entrückt sah sich vor allem die zentrale Ausnahmenorm in Art. 86 Abs. 2 EG: Sie ordnet die Durchbrechung des Markt- und Wettbewerbsprinzips für solche Unternehmen an, „die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind“, soweit die Anwendung der Vertragsregeln „nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert“. ___________ 19 20

21

Vgl. RL 2000/52/EG v. 26.7.2000, ABl. Nr. L 193/75. Deutlich etwa auch EuGH, Slg. 2003, I-6993 – Chronopost, Rn. 33 f.

Dazu etwa Burgi, NZBau 2006, S. 606 ff.

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Mit den „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ ist zugleich der auf europäischer Ebene allein maßgebliche Rechtsbegriff benannt, der hier denn auch an die Stelle nationaler Konzepte wie „öffentliche Daseinsvorsorge“, „Service public“, „Public utilities“, „Servicio público“ oder „Servizio pubblico“ sowie damit einhergehender – mitunter höchst unterschiedlicher – Rechtsüberzeugungen in den Mitgliedstaaten tritt.22 Zu nennen ist ferner die Aufnahme des jetzigen Artikels 16 innerhalb der „Grundsätze“ des EGVertrages im Zuge der „Amsterdamer“ Vertragsrevision23 und später des Artikels 36 in die EU-Grundrechtecharta24, wo sich die Union zur Anerkennung und Achtung des Zugangs zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse bekennt.25 Ob und inwieweit diesen zuletzt, auf massiven diplomatischen Druck vor allem Frankreichs26 hin aufgenommenen Bestimmungen konkrete Direktiven für eine nachhaltige Durchbrechung des Markt- und Wettbewerbsprinzips zugunsten öffentlicher Daseinsvorsorge zu entnehmen sind, ist angesichts der in ihnen enthaltenen „Formelkompromisse“ und ausdrücklichen Vorbehalte zugunsten des übrigen Primärrechts sehr zweifelhaft.27 Immerhin wird man von einer positiven Schutz-, vielleicht auch „Optimierungspflicht“28 bzw. Abwägungsdirektive für die Union und auch die Mitgliedstaaten sprechen können. Wiewohl Ausdruck eines sich konsolidierenden „sozialen Gewissens Europas“29, ist damit das im EG-Vertrag allgemein und in Artikel 86 Abs. 2 EG im Besonderen ___________ 22 S. zum Vergleich insbes. des französischen Service public mit der deutschen „Daseinsvorsorge“ eingehend Pielow (o. Fn. 11), S. 111 ff.; ders., in: Hrbek/Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2002, S. 155 ff.; ferner: Löwenberg, Service public und öffentliche Dienstleistungen in Europa, 2001; zum dt.-österr.-franz. Vergleich Holubek, VVDStRL 60 (2001), S. 513 ff. 23 Vertrag von Amsterdam v. 2.10.1997 (BGBl. II S. 386). 24 Vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 7.12.2000 (ABl. Nr. C 364/1). 25 Dazu eingehend etwa Pielow (o. Fn. 7), Art. 36, insbes. Rn. 19 ff. 26 Siehe zur Genese des Art. 16 EG Pielow (o. Fn. 11), S. 96 ff. m.w.N.; zu Art. 36 EU-GRCh ders. (Fn. 7), Rn. 8 ff. 27 Siehe auch Kluth, in: Henneke (Hrsg.), Kommunale Perspektiven im zusammenwachsenden Europa, 2002, S. 68 (70 ff., 80); Koenig, EuZW 2001, S. 481; R. Schmidt, Der Staat 2003, S. 225 (239); Frenz, EuR 2000, S. 901 ff.; a.A. – neben zahlr. französischen Autoren – insbes. Schwarze, EuZW 2001, S. 334 (339) – Pflicht zur Herstellung „praktischer Konkordanz“; dem folgend von Danwitz, NWVBl. 2002, S. 132 (138). – Ergänzt wird Art. 16 EG immerhin durch Präzisierungen zu einzelnen Dienstleistungen von allg. wirtsch. Interessen im Protokoll Nr. 9 („öffentlich-rechtlicher Rundfunk“) und der Erklärung Nr. 37 („öffentlich-rechtliche Kreditinstitute“) zur Schlussakte von Amsterdam. 28 So etwa Wernicke, EuZW 2003, S. 481; s.a. Koenig/Kühling in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 16 EGV Rn. 2. 29 So Kämmerer, NVwZ 2002, S. 1041.

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angelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Wettbewerb und Wettbewerbsausnahme weder aufgehoben noch gar umgekehrt.30 Immerhin zieht der EuGH in inzwischen ständiger Rechtsprechung den Anwendungsbereich des – als Ausnahmenorm eigentlich eng auszulegenden – Art. 86 Abs. 2 EG im Ansatz recht weit, wenn er –

die Identifizierung der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ weitgehend der Gestaltungsfreiheit („Definitionshoheit“) der Mitgliedstaaten überlässt,



bezüglich der formellen „Betrauung“ mit diesen Diensten auch andere als öffentlich-rechtliche (Verwaltungs-) Akte genügen lässt, und



(eigentlich entgegen dem Normtext) für Ausnahmen von den Vertragsund insbesondere von den Wettbewerbsregeln keine (völlige) „Ver“hinderung sondern lediglich eine spürbare „Be-“hinderung der Aufgabenerfüllung fordert.

Relativiert sieht sich dieser extensive Ansatz sodann freilich durch die nach ständiger Spruchpraxis ebenfalls gebotene Prüfung gerade der „Erforderlichkeit“ wettbewerbsfeindlicher Sonderrechte für die betreffenden Unternehmen. Recht mathematisierend verfährt der EuGH hier bislang nach einer strengen Kosten-Nutzen-Analyse („Nettomehrkostenprinzip“) und dem Vergleich mit dem theoretischen Verhalten privater Investoren (private investor test). Im Hinblick speziell auf das Beihilfeverbot in Art. 87 EG führte diese Rechtsprechung (Altmark Trans) freilich auch dazu, dass nach diesen Kriterien zwingend „erforderliche“ Kompensationen für mit der Erbringung von Diensten im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse einhergehende Sonderlasten (z.B. der Betrieb eines Linienbusdienstes „rund um die Uhr“) keine Vorteile gewähren, deshalb nicht als staatliche Beihilfe anzusehen sind und auch nicht die Pflicht zur Notifizierung nach Art. 88 Abs. 3 EG auslösen.31

___________ 30 Vgl. Kluth (o. Fn. 27), S. 71; R. Schmidt (o. Fn. 27), S. 226, 238 f.; a.A. Ronellenfitsch (o. Fn. 12), S. 90, 94, im Anschluss an Schwarze (o. Fn. 27); auch wohl von Danwitz (o. Fn. 27), S. 136. 31 Vgl. EuGH, Slg. 2003, I-7747 – Altmark Trans. Allerdings hat der Gerichtshof einen strengen Kriterienkatalog für derartige Ausgleichsleistungen aufgestellt. Gefordert werden in Anlehnung an die Rspr. zu Art. 86 Abs. 2 EG neben der ausdrücklichen „Betrauung“ die klare und transparente Regelung der Parameter für die Berechnung des Ausgleichs, eine strenge Erforderlichkeitsprüfung anhand des „Nettomehrkostenprinzips“ (zzgl. angemessener Rendite) und des Private Investor-Kriteriums – es sei denn, die betreffende Dienstleistung ist zuvor öffentlich ausgeschrieben und das „betraute“ Unternehmen in diesem Verfahren als der kostengünstigste Anbieter ermittelt worden, vgl. ebda., Rn. 88 ff.

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Die Europäische Kommission begleitete diese Entwicklung mit einem breit angelegten Konsultationsprozess32, dessen Ergebnisse schließlich in das „Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ vom 12. Mai 200433 sowie in spätere Stellungnahmen wie zuletzt die schon genannte Mitteilung vom 20. November 200734 eingingen. In enger Orientierung an der Rechtsprechung des EuGH werden darin neben begrifflichen Klärungen insbesondere unterschiedliche Optionen zur Entwicklung sekundärrechtlicher Ausnahmezonen für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse entwickelt. Von zwischenzeitlichen und wiederum von französischer Seite angeregten Überlegungen in Richtung einer – sektorübergreifenden – „Rahmenrichtlinie“ für Dienste von allgemeinem Interesse, für die die mit dem Vertrag von Lissabon vorgesehene Erweiterung des Art. 16 EG auch eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage böte35, ist die Kommission inzwischen freilich wieder abgerückt, wenn sie neuerdings eher einem sektor-, problem- bzw. einzelfallbezogenen Vorgehen das Wort redet. Dem ist beizupflichten, denn es ist sehr fraglich, welchen eigenständigen Aussagegehalt eine notwendig abstrakt zu haltende Rahmenrichtlinie angesichts der unterschiedlich gelagerten Dienste von allgemeinem Interesse und der hoch divergenten Ordnungsstrukturen in den Mitgliedsstaaten haben sollte.36 Auch wäre angesichts potenter pressure groups auf diplomatischem Parkett die Gefahr der Zementierung ganz bestimmter Rechtsüberzeugungen (z.B. zum Service public) und daraus folgender erneuter Wettbewerbsverzerrungen nicht von der Hand zu weisen. Infolge des Vorgehens der EU-Kommission ist es inzwischen zu einer ganzen Reihe sekundärrechtlicher Verbürgungen zugunsten der mit Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verbundenen spezifischen Versorgungsinteressen gekommen. Hinzuweisen ist auf Ausnahmeregelungen im sektorbezogenen37 ebenso wie im sektorübergreifenden Richtlinienrecht.38 Im An___________ 32 Vgl. im Einzelnen die Mitteilungen „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ in ABl. Nr. C 281/3 v. 26.09.1996 und v. 20.09.2000 (ABl. Nr. C 17/4) sowie den Bericht der Kommission für den Europäischen Rat von Laeken v. 17.10.2001 (KOM 598 endg.); s.a. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Nizza v. 8.12.2000 (Nr. 400/1/00), Tz. 45 mit Anhang II („Erklärung zu den gemeinwirtschaftlichen Diensten“). Sodann: „Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ v. 21.5.2003 (o. Fn. 8). 33 KOM (2004) 374 endg.). 34 S.o. Fn. 3. 35 Vgl. Art. 14 Satz 2 AEUV; die Kompetenz für eine „Rahmenrichtlinie“ war zuvor insbes. seitens der dt. Bundesländer in Frage gestellt worden. 36 S. a. Weißbuch der Kommission (o. Fn. 33), S. 15; näher etwa Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 339 ff. 37 Siehe z.B. jew. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2003/54/EG über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt bzw. für den Erdgasbinnenmarkt v. 26.06.2003; für den Verkehrsbereich: Verordnung Nr. 1191/69/EWG v. 26.06.1969 über

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schluss an die erwähnte „Altmark“-Rechtsprechung und zur Präzisierung der Anwendbarkeit des Art. 87 EG auf Finanzhilfen für Dienste i.S.d. Art. 86 Abs. 2 EG ist am 28. November 2005 insbesondere das sog. „Monti-Paket“ verabschiedet worden: Es beinhaltet einerseits Lockerungen wie die Gruppenfreistellung im einzelnen bezeichneter und „erforderlicher“ Ausgleichszahlungen von Beihilfeverbot und Notifizierungspflicht39, andererseits indes auch Anspannungen wie die Verallgemeinerung der Pflicht zur getrennten Buchführung für Unternehmen, die mit „DawI“ betraut sind40, sowie die Anforderungen an diese „Betrauung“ und an die Darlegung der „Erforderlichkeit“ von Ausgleichsleistungen. Schließlich ist auf breite – und keinesfalls unumstrittene – Ausnahmezonen für Dienste von allgemeinem Interesse in der „Dienstleistungsrichtlinie“ vom 12. Dezember 2006 hinzuweisen.41

IV. Sozialdienstleistungen im Besonderen Geht es nun um die Stellung speziell der „sozialen“ Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in diesem Regelungsgefüge, ist zunächst eine begriffliche Eingrenzung geboten. Schließlich impliziert eine Dienstleistung von „allgemeinem Interesse“ ja eigentlich immer deren „sozialen“ Charakter und bestehen auch im nationalen Recht durchaus Unsicherheiten zur Ein- und Abgrenzung etwa zwischen der „Daseinsvorsorge“ und den „Sozialleistungen“ bzw. dem Recht der sozialen Sicherheit.42 Nahe liegender Weise orientiert sich dieser Beitrag insofern am EU-rechtlich vorgeprägten Begriffsverständnis – ___________ das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs i.d.F. der Verordnung Nr. 1893/91/EWG v. 20.06.1991 (ABl. Nr. L 169/1). – Freilich stehen diese Regelungen resp. Sonderrechte unter dem Vorbehalt der einschlägigen Vorschriften des EG-Vertrages und insbesondere des Artikels 86, namentlich in punkto Transparenz und Nichtdiskriminierung. 38 Entsprechende Ermächtigungen existieren, über die Exklusivkompetenz der Kommission in Art. 86 III EG hinaus, in den Artikeln 45, 46 Abs. 2 (eventuell i.V.m. Art. 55) oder aber in Art. 81 Abs. 3, 83 (insbes. Abs. 2 lit. c) und Art. 87 Abs. 3 EG. 39 S. Entscheidung der Kommission 2005/842/EG v. 28.11.2005, ABl. 2005 Nr. L 312/67, und ferner den „Gemeinschaftsrahmen“ für derartige Beihilfen v. 29.11.2005, ABl. 2005 Nr. C 297/4. 40 Vgl. Art. 1 der Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 80/723/EWG über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter Unternehmen v. 28.11.2005, ABl. 2005 Nr. L 312/17. 41 S. insbes. Erwägungsgründe 8, 17 sowie Art. 1 Abs. 2, 2 Abs. 2 und 17 RL 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. 2006 Nr. L 376/36. 42 S. nur Rüfner, Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit, in: Hdb. des Staatsrechts, 3. Aufl. 2006, § 96 Rn. 12 ff.

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ohne dass dieses freilich erschöpfende Erkenntnis lieferte: Aufgrund der höchst unterschiedlichen Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten sind hier bislang nur annäherungsweise Umschreibungen verfügbar. Dies gilt etwa für die „Leistungen der sozialen Sicherheit“ i.S.d. Art. 137 Abs. 1 lit. c) EG sowie der „sozialen Dienste“, „sozialen Vergünstigungen“ und ferner der „sozialen Unterstützung“ i.S.d. Art. 34 EU-Grundrechtecharta. Grosso modo erfasst der Begriff der „sozialen Sicherheit“ die auf Vorsorgeleistungen beruhenden, speziell dem Schutz der Arbeitnehmer dienenden (Ver-) Sicherungssysteme. Wegen „sozialer Unterstützung“ wird auf Art. 13 der Europäischen Sozialcharta („Recht auf Fürsorge“) und wegen des Begriffs „soziale Vergünstigung“ auf Art. 7 Abs. 2 der Verordnung 1612/68/EWG über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer („soziale und steuerliche Vergünstigungen inländischer Arbeitnehmer“) verwiesen. Ferner spielen die Zweckrichtung der Leistungen und die Bedingungen, unter denen sie zuerkannt werden (z.B. individuelle Bedürftigkeit) eine Rolle.43 Eindeutig abzugrenzen sind „soziale“ Dienstleistungen, wie schon aus dem Nebeneinander von Art. 34 und Art. 35 EU-GRCh sowie der Art. 136 ff. und 152 EG folgt, jedenfalls von den Gesundheitsdienstleistungen44; diese werden auch von der EU-Kommission in ihren Mitteilungen zu den Diensten von allgemeinem Interesse getrennt von den „Sozialleistungen“ behandelt. Letztere finden sich indes nur hinsichtlich spezifischer gemeinsamer Ziele und Grundsätze recht abstrakt umschrieben; Bestimmungskriterien bilden die Individualbezogenheit, die Präventivfunktion, die besondere Nähebeziehung zwischen Diensteerbingern und -empfängern, ferner das Beruhen auf dem Grundsatz der Solidarität und schließlich die „wichtige Rolle gemeinnütziger Einrichtungen und ehrenamtlicher Helfer“.45 Am Ende bedarf es freilich auch keiner weiteren Eingrenzung. Denn in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip und der Rechtsprechung des EuGH (s.o. III) können „die Mitgliedstaaten eigenständig definieren, was sie unter Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse oder insbesondere unter Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse verstehen“ – sofern sie bei der Festlegung der Organisations- und Verfahrensmodalitäten für ___________ 43

S. näher nur Nußberger, in: Tettinger/Stern (o. Fn. 7), Art. 43 Rn. 80 ff., 82 m.w.N. Dazu nur Nußberger, wie vor, Art. 35 Rn. 44 f.; allgemein zur Systematik des Europäischen Sozialrechts s. z.B. Waltermann, Sozialrecht, 7. Aufl. 2008, Rn. 72 ff.; Eichenhofer, Sozialrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 86; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Einführung, Rn. 5 ff. 45 Vgl. Mitteilung v. 20.11.2007 (o. Fn. 3), S. 8. Siehe auch – mit freilich abweichender Reihung und Betonung u.a. der „persönlichen“ Dienstleistung sowie unter Nennung von Beispielen – die vorangegangene Mitteilung (Konsultationspapier) „Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der EU“ v. 26.4.2006, KOM (2006) 177 endg., S. 4 f. 44

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die von ihnen definierten Ziele und Grundsätze das Gemeinschaftsrecht beachten.46 Genau an diesem Punkt setzen freilich die spezifisch den „Sozialsektor“ betreffenden erheblichen und teilweise neuartigen Problemstellungen an, wenn es beispielsweise darum geht, die konkreten Auswirkungen des europäischen Beihilfen- und Vergaberechts etwa –

auf alteingeführte Vertragskonstellationen („Dreiecksverhältnisse“) zwischen öffentlichen Stellen, Leistungserbringern sowie Leistungsempfängern,



auf die Berücksichtigungsfähigkeit „sozialer“ Kriterien, wie arbeits- und tarifvertraglicher Standards, und die (Markt-) Stellung kleinerer, aber qualitativ hochwertiger Anbieter, oder



auf Gutschein- und Budgetierungssysteme oder staatliche Bürgschaften

zu bewältigen. Unterdessen sind mit dem oben (III.) skizzierten Konfliktlösungsinstrumentarium auch für „soziale“ und Gesundheitsdienstleistungen immerhin erste Klarstellungen erfolgt. So bestehen namentlich im Rahmen des erwähnten „Monti-Pakets“ Lockerungen –

für de minimis-Unternehmen (< 100 Mio. EUR Jahresumsatz) mit Ausgleichszahlungen von weniger als 30 Mio. EUR (s. Art. 2 Abs. 1 lit. a, Art. 3 der „Beihilfe“-Entscheidung 2005/842/EG), sowie



für Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser und im sozialen Wohnungsbau tätige Unternehmen (s. ebda., Art. 2 Abs. 1 lit. a, Art. 3).

Die nachfolgende, in den Mitgliedstaaten freilich erst noch umzusetzende „Dienstleistungsrichtlinie“ 2006/123/EG postuliert des Weiteren breite Ausnahmezonen namentlich – und einstweilen – für –

das nationale Arbeitsrecht einschließlich des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit am Arbeitsplatz sowie Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit (Art. 1 Abs. 6) und das nationale Steuerrecht (Art. 2 Abs. 3),



Finanzdienstleistungen im Zusammenhang u.a. mit der betrieblichen und individuellen Altersversorgung (Art. 2 Abs. 2 lit. b),



Gesundheitsdienstleistungen (Art. 2 Abs. 2 lit. f), sowie für



(bestimmte) soziale Dienstleistungen im Zusammenhang mit Sozialwohnungen, Kinderbetreuung, Unterstützung von Familien sowie hilfsbedürftigen Personen (Art. 2 Abs. 2 lit. j). ___________ 46

Mitteilung v. 26.4.2006 (o. Fn. 45), S. 3 f.

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Zugleich wird im Einklang mit dem EU-Primärrecht bzw. der Rechtsprechung unterstrichen, dass die Richtlinie weder die Liberalisierung noch die Privatisierung von Dienstleistungen bzw. Einrichtungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und die Abschaffung von Dienstleistungsmonopolen betreffe (Art. 1 Abs. 2 u. 3). Ferner berühre sie nicht die Definitions- und Organisationshoheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf „DawI“ sowie deren Recht, die Finanzierung dieser Dienste und ihre spezifischen (Gemeinwohl-) Verpflichtungen zu regeln.

V. „Wirtschaftliche“ oder „nicht wirtschaftliche“ Sozialdienstleistung? Wenn nach Art. 2 Abs. 2 lit. a) des Weiteren „nicht-wirtschaftliche“ vom Anwendungsbereich der „Dienstleistungsrichtlinie“ ausgenommen sind, ist damit auf eine weitere und – neben der für die Anwendung des EG-Rechts stets vorrangig zu prüfenden (grenzüberschreitenden) „Binnenmarktrelevanz“47 – namentlich „soziale“ Dienste betreffende Grundsatzfrage hingewiesen. Schon die Aussagen in Art. 16 und 86 Abs. 2 EG beziehen sich explizit nur auf Dienste von „wirtschaftlichem“ Interesse, so dass „nicht wirtschaftliche“ Dienstleistungen nicht betroffen sind.48 Gleiches folgt im Anwendungsbereich der Art. 81 ff., 87 EG aus dem Erfordernis eines „unternehmerischen“ Handelns; darunter fällt „jede wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“.49 Die Gretchenfrage lautet indes: Wie sind „wirtschaftliche“ von „nicht wirtschaftlichen“ Dienstleistungen, zumal im vielfach durch Gemeinnützigkeit geprägten Sozialsektor50, zu unterscheiden?

___________ 47

Diesbezüglich gehen Kommission und EuGH inzwischen – und entgegen anfänglichen Vorstellungen etwa der deutschen Bundesländern und Kommunen, vgl. noch BRDrs. 992/01, Tz. 3 – durchweg davon aus, dass die Anwendung der Vertragsregeln nicht vom örtlichen oder regionalen Charakter des betreffenden Dienstes oder der Größe des Tätigkeitsgebietes abhänge, vgl. EuGH – Altmark Trans (o. Fn. 31), Rn. 77 ff., 82. Schließlich ist es EU-ausländischen Dienstleistungsunternehmen ohne Weiteres möglich, mit Daseinsvorsorge-Diensten auch in entlegensten Winkeln anderer EU-Staaten in Konkurrenz zu treten. S.a. die AWO Sano-Entscheidung (o. Fn. 5), S. 3 – unter Hinweis auf konkurrierende Ferienheime z.B. an der polnischen Ostseeküste. 48 Die Kommission unterschied anfänglich zwischen „marktbezogenen“ und „nicht marktbezogenen“ Diensten von allgemeinem Interesse, vgl. Weißbuch der Kommission (o. Fn. 33), Anhang 1, S. 27. 49 St. Rspr. seit EuGH, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21 – Höfner u. Elser. 50 Schließlich sprach auch die Mitteilung der Kommission v. 26.4.2006 (o. Fn. 45) noch von „Sozialdienstleistungen von [lediglich] allgemeinem Interesse“.

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Als „nicht wirtschaftlich“ auszugrenzen sind jedenfalls klassische, mit der Ausübung von Zwangsbefugnissen einhergehende Hoheits-, wie z.B. (gesundheits-) polizeiliche Tätigkeiten.51 Breitere Ausnahmezonen zeichnen sich zudem auf kulturellem (Bildungswesen!), ausschließlich karitativem und eben „sozialem“ Gebiet ab, ohne dass insoweit freilich konturenscharfe Abgrenzungen existieren. Allein eine „fehlende Gewinnabsicht“ lässt die „Wirtschaftlichkeit“ jedenfalls nicht entfallen.52 Dieses Kriterium ist nach gefestigter Rechtsprechung weder für die Anwendung der Art. 81 ff. EG noch der Grundfreiheiten von ausschlaggebendem Belang.53 Somit gelten die Wettbewerbsregeln grundsätzlich auch für nur auf Kostendeckung angelegte bzw. rein gemeinnützige Tätigkeiten.54 Für „soziale“ Dienstleistungen – namentlich von Sozialversicherungsträgern – verneint der Gerichtshof aber die „Wirtschaftlichkeit“ etwas tautologisch, wenn es sich um ausschließlich sozialen Zwecken dienende Tätigkeiten handelt, die keinen Bezug zum Wirtschaftsleben haben.55 Ob dies der Fall ist, beurteilt er nach selbst gewählten Kriterien, etwa danach, ob Art und Umfang der Leistungen und die Höhe des Entgelts bzw. der (Versicherungs-) Beiträge staatlicher Regulierung und Kontrolle unterliegen, ob die Leistungen von der Höhe der Beiträge abhängen und ob sie nach dem Grundsatz der Solidarität, etwa mittels Pflichtmitgliedschaft zur Sicherung des finanziellen Gleichgewichts, konzipiert sind.56 In kumulativer Anwendung dieser Kriterien sowie (dann doch und als zusätzlichem Indiz) des Aspekts der fehlenden Gewinnabsicht hat der EuGH schließlich auch den Akteuren der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland die „Nichtwirtschaftlichkeit“ attestiert – und selbst die gesetzliche Einführung eines „Wettbewerbselements“, nämlich eines Spielraums bei der ___________ 51 Vgl. Koenig/Kühling (o. Fn. 28), Art. 86 EGV Rn. 8 m.w.N. zur Rspr.; insoweit liegen Parallelen zu den Art. 39 IV, 45 und 55 EGV nahe, s.a. Jennert, WuW 2004, S. 37 (43 ff.). 52 So aber noch BR-Drs. 992/01, Ziff. 3; dagegen zu Recht Magiera, in: Festschr. f. Rauschning, 2001, S. 269 (286). 53 Für die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit lässt der EuGH Leistungen genügen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Nicht verlangt ist, dass die Dienstleistungen von demjenigen bezahlt wird, dem sie zugute kommen, vgl. EuGH, Slg. 1988, 2085 – Bond van Adverteerders, Rn. 16. 54 Vgl. etwa EuGH, Slg. 1980, 3125 – van Landewyck/Kommission, Rn. 88, und Slg. 1995, I-4022 – FFSA u.a., Rn. 21, bestätigt durch EuGH, Slg. 1998, I-1303. 55 Nußberger (o. Fn. 43), Art. 34 Rn. 34 m.w.N. 56 Vgl. EuGH, EuZW 2002, 146 - INAIL; zuvor bereits EuGH, Slg. 1993, I-637 – Poucet u. Pistre, Rn. 15 u. 18; Slg. 2002, I-691 – Cisal, Rn 42 ff.; Slg. 2001, I-8089 – Ambulanz Glöckner/Landkreis Südwestpfalz; die genannten Kriterien im konkreten Fall ganz oder teilweise verneinend: z.B. EuGH, Slg. 1995, I-4013 – FFSA u.a., Rn. 22; Slg. 1999, I-5751 – Albany, Rn. 84 ff.

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Festlegung der Beitragssätze zwecks effizienter und kostengünstiger Leistungserbringung, für unschädlich erachtet.57 Allerdings sei stets zu prüfen, ob die Leistungserbringer oder auch die sie vertretenden Verbände außerhalb ihrer Aufgaben rein sozialer Art, etwa bei der Verwaltung des Systems, nicht doch Geschäftstätigkeiten mit wirtschaftlichem Zweck ausübten.58 Beizupflichten ist der gegen diese Spruchpraxis formulierten Kritik insofern, als damit durchaus ein Anreiz für die nationalen Gesetzgeber besteht, durch rigide staatliche Regulierungen sozialer (Versicherungs-) Dienste diese vor dem Zugriff des EGKartellrechts zu schützen – und damit neue Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt zu provozieren.59 Zu vermuten steht, dass der EuGH hier mehr aus „Staatsräson“ bzw. mit Rücksicht auf die nationalen Souveränitätsinteressen im besonders sensiblen Bereich der Sozialpolitik und die Primärzuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme entschied. Außerhalb der Sozialversicherung ist mit dieser feinziselierten Kasuistik für die Abgrenzung von „wirtschaftlichen“ und „nicht wirtschaftlichen“ sozialen Dienstleistungen nicht viel gewonnen. Dementsprechend resümiert auch die EU-Kommission leicht resignierend und trotz im „Weißbuch“ von 2004 versprochener Klärungen, dass die Probleme nicht völlig aus der Welt geschaffen sind.60 Allgemein hat man sich im Übrigen zu vergegenwärtigen, dass auch soziale und karitative Dienstleistungen dem technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel unterliegen, so dass einmal als „nicht wirtschaftlich“ erkannte Dienstleistungen diese Eigenschaft nicht immer behalten müssen. Am Ende dürfte der Kommission in ihrer anfänglichen Einschätzung zu folgen sein, dass „ein endgültiges a-priori-Verzeichnis sämtlicher Dienstleistungen …, die als ‚nichtwirtschaftlich’ anzusehen sind,“ nicht möglich ist.61

VI. Die „AWO Sano“-Entscheidung der Kommission – und weitere Konsequenzen Die Entscheidung der EU-Kommission, welche nach knapp vierjährigen Untersuchungen auf die eingangs skizzierte Beschwerde über Investitionskostenzuschüsse für das Ferienheim der AWO Sano gGmbH am 20. Januar 2008 er___________ 57

Vgl. EuGH, Slg. 2004, I-2493 – AOK Bundesverband, Rn. 51 ff., 56. Ebda., Rn. 58 ff. – für die Tätigkeiten der dt. Kassenverbände im Erg. ebenfalls verneint. 59 Vgl. etwa Schenke, VersR 2004, S. 1360 (1365 f.) – m.E. zu Recht unter Hinweis auf das abweichende Votum von GA Jacobs, der die Anwendung der Art. 81 ff. EG bejahte und eine Lösung über Art. 86 Abs. 2 EG vorschlug. 60 Mitteilung v. 16.4.2006 (o. 45), S. 3; zuvor: Weißbuch (o. Fn. 33), Tz. 4.4. 61 Vgl. Grünbuch (o. Fn. 8), Tz. 45. 58

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ging62, sei jedem empfohlen, dem an einer „falltechnischen“ Rekapitulation der vorstehenden Darlegungen im Sinne eines Praxistests gelegen ist. Minutiös werden die Tatbestandsvoraussetzungen eines möglichen Verstoßes gegen Art. 87 Abs. 1 EG bzw. möglicher Ausnahmen unter dem Aspekt der Dienstleistung von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse abgeprüft63: Im Ergebnis wird zwar eine „Beihilfe“ im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG, jedoch deren Rechtfertigung über Art. 86 Abs. 2 EG in Verbindung mit der Entscheidung 2005/842/EG angenommen: Der Zuschuss in Höhe von 1.919.436,76 EUR blieb weit unter der de minimis-Schwelle von 30 Mio. EUR/Jahr. Bejaht wird ferner, was man freilich diskutieren könnte, eine formal einwandfreie „Betrauung“ der AWO Sano gGmbH durch § 16 SGB VIII (Ferienheim als „Förderung der Erziehung in der Familie“64) vor. Und schließlich war die Ausgleichszahlung – unter ausdrücklicher Einberechnung zusätzlicher Steuervorteile – nach freilich nur knapp begründeter Auffassung der Kommission auch erforderlich, um die mit der Erfüllung der Gemeinwohlverpflichtung verursachten Kosten unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und einer angemessenen Rendite zu decken. Alles in allem hat man, wie schon bei der AOK-Entscheidung des EuGH, nicht den Eindruck, als lege die Kommission bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf soziale Dienstleistungen (bislang) einen allzu strengen Maßstab an. In diese Richtung weisen auch die moderat klingenden Schlussfolgerungen im jüngsten Mitteilungspaket vom 20.11. 2007: Künftig geht es danach weniger um rigide und unmittelbare Anwendungen des EG-Primärrechts als zunächst um koordinierende bis kooperative Maßnahmen der Evaluierung, des Benchmarking sowie der gegenseitigen Information und Überwachung bezüglich der effizienten Erbringung von „DawI“ in den Mitgliedstaaten, ferner um die Klärung bestehender Rechtsfragen und um problem- und sektorbezogene Fortschreibungen des einschlägigen Sekundärrechts. Im Detail wie auch in der rechtsdogmatischen Konsistenz ist gewiss noch Einiges – etwa bezüglich der Stellung des „dritten“, gemeinnützigen Sektors im seinerseits „binär“ auf das Verhältnis zwischen Staaten und (Privat-) Unternehmen konzentrierten EU-Recht65 – aufzuarbeiten. Vieles hängt im Übrigen davon ab, wie sich die einschlägigen neuen Verlautbarungen im Vertrag von ___________ 62

S.o. Fn. 5. Nicht eingegangen wird, da im Fall eines Ferienheims wie bei vielen anderen Sozialdienstleistungen offensichtlich, auf die „Wirtschaftlichkeit“ der in Frage stehenden Dienstleistung. 64 Fraglich erscheint, ob eine pauschale Förderpflicht wie in § 16 SGB VIII genügt und ob gerade auch die AWO gGmbH im Sinne der Altmark-Kriterien (s.o. Fn. 31) hinreichend transparent „betraut“ ist. 65 Dazu etwa Schulz-Nieswandt (o. Fn. 2), S. 28 f. 63

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Lissabon auswirken. Neben der schon erwähnten Ergänzung des bisherigen Art. 16 EG (künftig: Art. 14 AEUV) um weit gesteckte Rechtsetzungsbefugnisse ist vor allem auf das dem Vertrag beigefügte „Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse“ zu verweisen.66 Zu beobachten haben wird man ferner und angesichts der auch von der Kommission betonten Prägung von Sozialdienstleistungen durch örtliche Gegebenheiten resp. deren „Wurzeln … in kulturellen Traditionen vor Ort“67 die weitere Auslegung und Anwendung der Gewährleistung der „jeweiligen nationalen Identität der Mitgliedstaaten“, die künftig auch den Hinweis auf die „regionale und lokale Selbstverwaltung“ (vgl. Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 3 EUV i.d.F. des Vertrags von Lissabon) umfasst. Die weitere Entwicklung wird zeigen, ob und inwieweit es mit der bislang gewohnten Methode der lediglich „offenen Koordinierung“ der ansonsten „autarken“ Sozialrechtsordnungen in den Mitgliedstaaten weiterhin sein Bewenden haben wird. Vorerst scheint, u.a. dank des „Monti-Pakets“ und insgesamt (noch) zurückhaltender Aktionen der Kommission und des EuGH, jedenfalls ein abruptes „Überschwappen“ der Markt- und Wettbewerbswelle auf den Sozialsektor eher unwahrscheinlich. Mit der Thematisierung von Sozialdienstleistungen als „Diensten von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse“ spricht indes Einiges dafür, dass, wie zuvor in anderen Bereichen der „öffentlichen Daseinsvorsorge“, vermehrt einseitig-europäische Vorgaben zur Leistungsevaluierung und Regulierung sozialer Dienstleistungen sowie zur Rechtfertigung etwaiger Sonderrechte um sich greifen werden. Dies wird in vielen Bereichen der Sozialwirtschaft Umdenkungs- und Umbauprozesse auslösen, aber durchaus auch Entwicklungschancen eröffnen. Fest steht derzeit nur: Die Karawane zieht weiter!

___________ 66 Es unterstreicht in Art. 1 allgemein den „weiten Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage, wie [DawI] auf eine dem Bedürfnis der Nutzer so gut wie möglich entsprechende Weise zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind“. In Art. 2 wird demgegenüber die (wohl: ausschließliche) Zuständigkeit der Mitgliedstaaten betont, „nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.“ Fraglich dürfte insbes. sein, ob und inwieweit den Staaten eine Einschätzungsprärogative auch bei der Unterscheidung von „wirtschaftlichen“ und „nicht wirtschaftlichen“ Diensten zukommt. S. zum Protokoll auch schon EU-Kommission, Mitteilung v. 20.11.2007, S. 10 ff. 67 Vgl. Mitteilung v. 20.11.2007 (o. Fn. 3).

Familiale Gemeinschaften im Sozialrecht Von Oliver Ricken, Bochum

Die klassische Familie mit Mann, Frau und Kindern ist längst nicht mehr die einzige Lebensgemeinschaft, in der sich Menschen zur Realisierung ihrer Lebensentwürfe zusammenfinden. In der Realität haben neue Lebensformen neben dieser klassischen Familie stark an Bedeutung zugenommen. Nicht zuletzt das Lebenspartnerschaftsgesetz ist Beleg dafür, dass auch der Gesetzgeber gezwungen war, Rahmenbedingungen für andere Formen von Lebensgemeinschaften zu schaffen. Aber auch das Sozialrecht steht vor der Herausforderung, diese neuen Lebensformen rechtlich erfassen zu müssen. Hier geht es einerseits darum, solchen Personen, die sich in neuen Lebensformen zusammengefunden haben, den notwendigen sozialen Schutz zu gewähren. Andererseits darf die Entstehung alternativer Formen des Zusammenlebens nicht dazu führen, dass die Familie, als die traditionelle Form des Zusammenlebens, gegenüber diesen neuen Lebensformen benachteiligt wird. Wie sich aber die Familie und ihre alternativen Lebensformen in der sozialrechtlichen Normenvielfalt wiederfinden, kann nicht einheitlich für alle Sozialleistungssysteme beantwortet werden, sondern kann nur bereichsspezifisch betrachtet werden.

I. Die Familienversicherung 1. Im Bereich des Sozialversicherungsrechts stellt die Familienversicherung der Kranken- und Pflegeversicherung den augenfälligsten Zusammenhang von Sozialrecht und Familie her.1 Für die Krankenversicherung in § 10 SGB V geregelt, verschafft die Familienversicherung Familienangehörigen einen Zugang zum Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung, ohne allerdings für diesen Personenkreis eine Mitgliedschaft zu einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zu begründen2. Anders als noch zu Zeiten der Reichsversicherungsordnung, wo lediglich das versicherte Mitglied einen Anspruch auf ___________ 1 Zur geschichtlichen Entwicklung der Familienversicherung: Kruse/Kruse, Soz. Fortschritt 2000, S. 192, 193 f. 2 Abgesehen von der nachrangigen Mitgliedschaft kraft ausdrücklicher Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 2a und Nr. 9 SGB V.

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Familienhilfe hatte,3 und folglich der Familienangehörige nicht nur nicht Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung war, sondern auch keinen unmittelbaren Leistungsanspruch gegen die GKV hatte, begründet die Neuregelung im SGB V eine eigenständige Versicherung der Familienangehörigen, die diesen unmittelbare Ansprüche gegen den Träger der GKV vermittelt. Da die Familienversicherung beitragsfrei geführt wird, und nur für die Familienangehörigen in Betracht kommen soll, die des Schutzes durch die Familienversicherung bedürfen, hat der Gesetzgeber einen umfangreichen Abgrenzungsmechanismus geschaffen. 2. Betrachtet man aber den Personenkreis, der grundsätzlich unter eine Familienversicherung fällt, so findet sich in § 10 Abs. 1 SGB V eine Aufzählung der Berechtigten, wonach der Ehegatte, der Lebenspartner und die Kinder von Mitgliedern sowie die Kinder von familienversicherten Kindern potentiell über die Familienversicherung versichert sein können. Die Abgrenzung des Personenkreises erfolgt also, sieht man von den Lebenspartnern ab, unter dem Blickwinkel des traditionellen Familienbegriffs. Dass mittlerweile auch der Lebenspartner unter den berechtigten Personenkreis zählt, beruht auf Art. 3 § 52 Nr. 4 des Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16. 2. 2001.4 Die Entwurfsbegründung zu diesem Gesetz legt auch den tragenden Gesichtspunkt für die Abgrenzung des potentiell berechtigten Personenkreises offen. So heißt es hier wörtlich: „Maßgebender Gesichtspunkt für die Abgrenzung des in der Familienversicherung einbezogenen Personenkreises ist das Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht. Zum Unterhalt gehört auch die Sicherstellung eines angemessenen Schutzes im Krankheitsfall. Durch den Einbezug in die beitragsfreie Familienversicherung wird dem Unterhaltsverpflichteten die Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht insofern erleichtert, als er für den Krankenversicherungsschutz seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen keine erhöhten Beiträge aufbringen muss“.5 Genau dieser Zusammenhang von Unterhaltsverpflichtung und Berechtigung zur Familienversicherung war es bisher, der das BSG davon abhielt, den Kreis der berechtigten Personen zur Familienversicherung auch auf Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft auszuweiten. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1990 stellte der 12. Senat des BSG entscheidend darauf ab, dass es bei einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft an einer Unterhaltsberechtigung der Partner untereinander fehle.6 Aus den gleichen Gründen lehnte es das

___________ 3

Krauskopf/Baier, § 10 SGB V Rn. 2. BGBl. I, S 266. 5 BT-Drucks. 14/3751, S. 69. 6 BSG, Urt. v. 10.05.1990 – 12/3 RK 23/88, SozR 3 - 2200 § 205 Nr. 1. 4

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BSG ab, Personen deshalb in die Familienversicherung mit einzubeziehen, weil diese verlobt sind.7 3. Sicherlich entspricht die Polygamie nicht den hiesigen Anschauungen über das Zusammenleben von Frau und Mann. Dennoch ist die Vielehe in einigen Staaten der Erde erlaubt8 und es stellt sich die Frage, wie die Familienversicherung auf dieses Phänomen reagiert. Soweit es sich um Vielehen handelt, die im Heimatland eines Stammversicherten rechtsgültig geschlossen wurden, wurden derartige Ehen für die Begründung einer Familienversicherung als wirksam erachtet, so dass auch etwa die Zweitfrau eines Stammversicherten über die Regelung des § 10 SGB V einen Anspruch auf Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung hatte.9 Dies wurde mit der Unterhaltsberechtigung der Zweitfrau begründet, und so u. a. im Jahr 2004 in einer Stellungnahme des Gesundheitsministeriums für den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vertreten.10 Im Anschluss an die darauf einsetzende Diskussion verständigten sich die Spitzenverbände der Krankenkassen mit dem Bundesgesundheitsministerium allerdings auf eine restriktive Anwendung der Vorschrift.11 Gestützt auf § 34 Abs. 1 SGB I, wonach ein familienrechtliches Rechtsverhältnis, das gem. internationalem Privatrecht dem Recht eines anderen Staates unterliegt und nach diesem Recht besteht, nur dann Rechte und Pflichten nach dem SGB begründen kann, wenn es dem Rechtsverhältnis im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs entspricht, falle die Vielehe nicht unter § 10 SGB V. Nach dieser Rechtsauffassung beschränkt sich die Familienversicherung auf diejenige Ehefrau, mit der die Ehe zuerst geschlossen wurde, so dass Zweitfrauen nicht familienversichert werden. Das gilt selbst dann, wenn sich die Erstfrau dauerhaft im Ausland aufhält und die Zweitfrau ihren Wohnsitz im Inland hat.12 Ob allerdings dieser von der Praxis vollzogene Rechtsauffassungswechsel in Bezug auf derartige Vielehen vor dem Bundessozialgericht Bestand haben würde, muss bezweifelt werden. Der 5. Senat hatte in einer Entscheidung aus dem Jahr 2000 schließlich gerade unter Berufung auf § 34 SGB I in Bezug auf die Gewährung von Witwenrente ausdrücklich erklärt, dass polygame Ehen, wenn sie nach dem Recht eines ausländischen Staates wirksam zu___________ 7

BSG, Urt. v. 10.05.1990 – 12/3 RK 23/88, BSGE 67, 46, 47. Vgl. die Aufzählung bei: BSG, Urt. v. 07.07.1998, B 5 RJ 58/97 R, Soz-R 3-1300, § 45 Nr. 38. 9 So schon für den damaligen Familienhilfeanspruch gem. § 205 RVO: Behn, Die Rentenversicherung, 1987, 1, 3; vgl. auch Eichenhofer, SGb 1986, 137,142. 10 Der Spiegel v. 18. 10. 2004 „Harem ist mitversichert“, S. 19; vgl. auch BT-Drucks. 15/4459, S. 46. 11 Der Spiegel v. 10. 01. 2005 „Harem nicht versichert“, S. 16; Kahlweit, Humanitäre Geste; Polygamie ist in Deutschland verboten - dennoch wird zähneknirschend akzeptiert, dass manche Familien so leben, Süddeutsche Zeitung v. 18.11.2005, S. 2. 12 Gerlach, in Hauck/Noftz, § 10 SGB V, Rn. 15 b. 8

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stande gekommen waren, Ehen i. S. des Eherechts der Bundesrepublik Deutschland entsprechen, so dass etwa im Fall einer Witwenrente, diese unter den jeweiligen Ehefrauen aufzuteilen sei. Hierzu konnte der Senat sich auf § 34 Abs. 2 SGB I und § 91 S. 3 SGB VI berufen. Schließlich sind beide Vorschriften gerade vor dem Hintergrund der besonderen Probleme der Witwenrente bei Vielehen geschaffen worden.13 Wenn also eine Vielehe im Rentenversicherungsrecht einer Ehe i. S. des Eherechts der Bundesrepublik Deutschland gleichgestellt wird und hierfür u.a. eine Regelung über die Aufteilung der Witwenrente in § 34 Abs. 2 SGB I vorgehalten wird, läßt sich kaum begründen, dass gerade der § 34 Abs. 1 SGB I dazu führt, dass für die Familienversicherung die Vielehe nicht geeignet sein soll, ein Versicherungsverhältnis zu begründen.14 4. Besondere Bedeutung erlangt allerdings die Familienversicherung für die Absicherung der Kinder. Zum versicherten Personenkreis zählen hier nicht nur die leiblichen oder Adoptivkinder, sondern auch Stiefkinder und Enkel, sofern letztere überwiegend durch den Stammversicherten unterhalten werden. Auch Pflegekinder gehören zum Kreis der versicherten Personen, wie auch seit dem 30. 3. 2005 Kinder familienversicherter Kinder, so dass also eine Familienversicherung zugunsten des Enkels aufgrund einer Stammversicherung eines Großelternteils in der GKV entstehen kann.15 Zwar sieht das Gesetz in § 10 Abs. 4 S. 1 SGB V eine Familienversicherung zugunsten des Enkels des Stammversicherten vor, sofern der Enkel von dem Stammversicherten überwiegend unterhalten wird. Dies alleine reichte allerdings dann nicht aus, wenn etwa der andere Elternteil des Enkels überwiegend den Unterhalt des Kindes trägt, aber seinerseits nicht krankenversichert ist.16 Insofern war es sozialpolitisch folgerichtig, generell und ohne Rücksicht auf Unterhaltsleistungen Kinder von familienversicherten Kindern in die Familienversicherung mit einzubeziehen. Generell wird aber gerade bei der Gruppe der Kinder deutlich, dass die Regelung zur Familienversicherung sich allein durch eine unterhaltsbezogene Sichtweise erklärt. Nicht etwa das Zusammenleben als Familie begründet die Familienversicherung, sondern die jeweilige Unterhaltsverpflichtung oder Unterhaltsleistung. Demzufolge kommt es bei Stiefkindern und Enkeln nach richtiger Auffassung nicht darauf an, ob sie in den Haushalt des Stammversicherten aufgenommen worden sind. Maßgebend ist vielmehr allein die tatsächliche ___________ 13 Kreikebom/Löns, § 91 SGB VI Rn. 8, Kasseler Kommentar/Gürtner § 91 SGB VI Rn. 2; im Ergebnis auch Krauskopf/Baier, § 20 SG V, Rn. 21. 14 Gerlach, in Hauck/Noftz, § 10 SGB V Rn. 15b; so auch: Behn, Die Rentenversicherung, 1987, 1, 3. 15 Eingefügt durch das Gesetz zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht (Verwaltungsvereinfachungsgesetz) v. 21.3.2005, BGBl. I 818. 16 Vgl. zur Begründung: BT-Drucks. 15/4751, S.15.

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Gewährung von Unterhalt, ohne dass es auf die Unterhaltsberechtigung oder Unterhaltsverpflichtung in irgendeiner Weise ankommt.17 Ein Kindschaftsverhältnis i. S. von § 10 SGB V führt aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zu einer unbegrenzten Begründung einer Familienversicherung. Das Gesetz sieht hier eine komplizierte Staffelung vor, die sich vom 18. bis zum 25. Lebensjahr erstreckt, und die eine typisierte Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes unterstellt. So besteht die Familienversicherung nur grundsätzlich bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Sind Kinder nicht erwerbstätig, so reicht die Familienversicherung bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres. Etwa in Fällen einer Schul- oder Berufsausbildung verlängert sich die Familienversicherung darüber hinaus bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres. Lediglich im Fall behinderter Menschen, die außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, gilt keine Altersgrenze, sofern die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem der behinderte Mensch nach den übrigen Voraussetzungen des § 10 SGB V familienversichert war. Zwar wird, wie oben gezeigt, die nichteheliche Lebensgemeinschaft durch § 10 SGB V nicht privilegiert, so dass also ein Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht aufgrund der Stammversicherung des anderen Partners familienversichert sein kann. Allerdings führt die nichteheliche Lebensgemeinschaft bisweilen zu einer Bevorzugung, nämlich dann, wenn der mit dem Kind verwandte Partner nicht Mitglied einer Krankenkasse ist und sein Gesamteinkommen regelmäßig im Monat ein Zwölftel der Jahresarbeitsentgeltgrenze18 übersteigt und regelmäßig höher als das Gesamteinkommen des Mitglieds ist. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen beide Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft berufstätig sind, und der Partner, der weniger verdient, Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist, während der Partner, der mehr verdient, nicht gesetzlich krankenversichert ist, etwa weil er in einem Beamtenverhältnis steht oder sich privat versichert hat. In diesem Fall würde bei Ehepartnern die Regelung des § 10 Abs. 3 SGB V greifen, die bezogen auf das Kind zum Ausschluss der Familienversicherung führt.19 Mit dieser Vorschrift wollte der Gesetzgeber ursprünglich sicherstellen, dass die Kinder dem besser verdienenden und in der Regel privat krankenversicherten Elternteil zugewiesen werden, so dass diese Vorschrift auch als Teil der Systemabgrenzung zwischen GKV und PKV zu verstehen ist.20 Dass dieser Ausschlusstatbestand ___________ 17 Kasseler Kommentar/Peters, § 10 SGB V, Rn. 29; dagegen ist der Regierungsentwurf zum GRG noch davon ausgegangen, dass ebenso wie bei Pflegekindern, auch Stiefkinder und Enkel in den Haushalt des Stammversicherten aufgenommen werden müssen. 18 2007: 47.700 € (monatlich: 3975 €). 19 Ulmer, in: BeckOK § 10 SGB V, Rn. 28 ff. 20 BSG, Urt. v. 25. 1. 2001 – B 12 KR 8/00 R, SozR 3-2500 § 10 Nr. 21.

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allerdings nicht für Mitglieder einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gilt, ist zwar verfassungskonform.21 Auch wenn zugegebenermaßen die Partner anders als Ehepartner einander nicht familienunterhaltspflichtig sind, bleiben Bedenken, wenn es um das gemeinsame Kind der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft geht.22

II. Familiale Gemeinschaften und künstliche Befruchtung Ein weiteres Feld, auf dem sich das Sozialrecht um die Abgrenzung des traditionellen Familienbildes von sonstigen familialen Gemeinschaften bemüht, ist ebenfalls im Bereich des Krankenversicherungsrechts angesiedelt. Angesprochen sind hierbei die Regelungen zur künstlichen Befruchtung. Die entsprechende Vorschrift, § 27a SGB V, ist 1990 durch das Gesetz über die 19. Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften (KOV-Anpassungsgesetz 1990)23 in das Gesetz gelangt. Die Regelung definiert, unter welchen Voraussetzungen Versi___________ 21

„Eine punktuelle gesetzliche Benachteiligung ist allerdings hinzunehmen, wenn die allgemeine Tendenz des Gesetzes auf Ausgleich familiärer Belastungen abzielt, dabei Eheleute teilweise begünstigt und teilweise benachteiligt, die gesetzliche Regelung im Ganzen betrachtet aber keine Schlechterstellung von Eheleuten bewirkt.“ (BVerfG, Urt. v. 12.02.2003– 1 BvR 624/01, SozR 4-2500 § 10 Nr 1), zustimmend: Kasseler Kommentar/Peters, § 10 SGB V, Rn. 35 b (Stand 1.9.2007); vgl. auch: Axer, in: Steuern im Sozialstaat, hrsg. v. Rudolf Mellinghoff, 2006, S. 175, 199 f. 22 Sehr deutlich hier: Felix, NZS 2003, 624, 628 f.; dagegen: BVerfG, Urt. v. 12.02.2003– 1 BvR 624/01, SozR 4-2500 § 10 Nr 1: „Zwar stellt das geltende Unterhaltsrecht eheliche und nichteheliche Kinder inzwischen grundsätzlich gleich (§§ 1601 ff. BGB). Auch der Unterhaltsanspruch des nichtehelichen Kindes umfasst die Kosten für einen angemessenen Krankenversicherungsschutz. Jedoch schulden die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft einander, anders als Eheleute, keinen gesetzlichen Unterhalt. Eine Verpflichtung zum Familienunterhalt kennt das geltende Recht nur unter Ehegatten (§ 1360 BGB). Dieser Unterhalt wird zwar dem anderen Ehegatten geschuldet, ist aber auch auf die Bedürfnisse der gemeinsamen unterhaltsberechtigten Kinder ausgerichtet. Er begünstigt auch sie und bestimmt maßgeblich ihre wirtschaftliche und soziale Situation, gerade auch bei der Vorsorge vor Krankheit. Der Anspruch aus § 1615 l BGB auf Betreuungsunterhalt, der auch dem Kind zugute kommt, kann bei nicht miteinander verheirateten Eltern nicht ausgleichen, dass ihnen ein Anspruch auf Familienunterhalt nicht zusteht. Der Betreuungsunterhalt ist zeitlich begrenzt. Zu erbringen ist er der Mutter grundsätzlich nur für den Zeitraum von sechs Wochen vor bis acht Wochen nach der Geburt des Kindes gegen dessen Vater (§ 1615 l Abs. 1 BGB). Soweit § 1615 l Abs. 2 BGB der Mutter einen Unterhaltsanspruch darüber hinaus bis zu drei Jahren und bei grober Unbilligkeit einer solchen Befristung auch über diesen Zeitraum hinaus gegen den Vater des Kindes zuerkennt, ist dies an die Voraussetzungen geknüpft, dass die Mutter aus bestimmten Gründen nicht in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, oder dies von ihr nicht erwartet werden kann. Das Unterhaltsmaß richtet sich nach der Lebensstellung allein der Mutter (§ 1610 Abs. 1 BGB).“ 23 BGBl. I, S. 1211.

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cherte der gesetzlichen Krankenversicherung einen Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung als Sachleistung besitzen.24 Der Gesetzgeber wollte hier eine im Hinblick auf den gesetzlich nicht definierten Krankheitsbegriff erforderliche Klarstellung treffen und hat deshalb die genannten Maßnahmen der Krankenbehandlung zugeordnet.25 Soweit aber bereits Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach anderen Vorschriften des SGB V als Krankenbehandlungen anzusehen sind, wie dies etwa bei chirurgischen Eingriffen oder Verordnungen von Medikamenten der Fall sein kann, findet die Vorschrift des § 27a SGB V keine Anwendung.26 Im Hinblick auf die Frage, wie sich das Sozialrecht zu familialen Gemeinschaften stellt, sind es zwei Aspekte, die näher beleuchtet werden müssen. Dies betrifft einmal die Abgrenzung der Ehe von sonstigen familialen Verhältnissen sowie zum Zweiten das der Regelung des § 27a SGB V zugrunde liegende Familienbild. Nach dem Wortlaut der Regelung stehen Ansprüche auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung nur Ehegatten zu. § 27a Abs. 1 Nr. 3 SGB V formuliert ausdrücklich, dass Personen, die Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung in Anspruch nehmen wollen, miteinander verheiratet sein müssen. Darüber hinaus stellt § 27a Abs. 1 Nr. 4 SGB V das Erfordernis auf, dass auch nur Ei- und Samenzellen der Eheleute verwendet werden dürfen. Damit haben Personen, die in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft leben, keinen Anspruch auf die entsprechenden Sachleistungen gem. § 27a SGB V. Ausgeschlossen sind aber auch Lebenspartner nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz.27 Fragt man nach den Motiven für eine derartige Beschränkung, so findet sich in der Gesetzesbegründung nur der Verweis darauf, dass sich eine derartige Beschränkung verfassungsrechtlich durch die Pflicht des Staates zur Förderung der Ehe und Familie rechtfertige.28 Mittlerweile ist in vielen Verfahren die Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung bestätigt worden.29 Letztlich wird der Gesetzgeber für berechtigt gehalten, durch die Beschränkung auf verheiratete Paare das Kindeswohl besonders sicher zu stellen.30 Hierbei wird insbesondere das Interesse ___________ 24 Von der Vorschrift erfasst werden alle Maßnahmen der künstlichen Befruchtung, insbesondere Inseminationsbehandlungen, In-Vitro-Fertilisation mit Embryotransfer etc. 25 Kritisch zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung: Sodan, Künstliche Befruchtung und gesetzliche Krankenversicherung, 2006. 26 BSG, Urt. v. 19.09.2007 – B 1 KR 6/07 R, SGb 2007, 670 f. 27 Kasseler Kommentar/Peters, § 27a SGB V, Rn. 16 (Stand 01.09.2007). 28 BT-Drucks. 11/6760, S. 15. 29 BVerfG, Urt. v. 28.02.2007– 1 BvL 5/03, NJW 2007, 1343-1345; LSG Berlin, Urt. v. 15.09.2004– L 9 KR 94/04, Bay. LSG, Urt. v. 17.06.2004 – L 4 KR 111/03; LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 09.12.2003 – L 4 KR 20/03, GesR 2004, 206. 30 BVerfG, Urt. v. 28.02.2007– 1 BvL 5/03, NJW 2007, 1343, 1344.

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des Kindes an einer intakten Familie hervorgehoben. Wenn der Gesetzgeber dieses Interesse berücksichtigen wollte, so sei es insbesondere nicht gleichheitswidrig, wenn er andere Formen des Zusammenlebens von entsprechenden Sachleistungsansprüchen ausnehme. Als entscheidender Gesichtspunkt wird hierbei hervorgehoben, dass die Ehe aufgrund ihrer rechtlichen Ausgestaltung am besten gewährleiste, dass ein Kind dauerhaft in einer festen Lebensbeziehung aufwachse. Es wird zwar zugestanden, dass ein Kind auch in einer festen nichtehelichen Lebensgemeinschaft ebenso ein intaktes Elternhaus haben kann, wie in einer Familie, bzw. dass in einer Familie eben nicht die Verhältnisse vorliegen, die dem Wohl des Kindes dienen.31 Ausschlaggebend sei allerdings, dass eine Krankenkasse als Träger der Entscheidung nicht prüfen könne, ob die jeweilige Lebensgemeinschaft hinreichend beständig ist, um das Kindeswohl zu gewährleisten. Hier wird es deshalb als zulässig angesehen, dass, wie durch § 27a SGB V geschehen, der Gesetzgeber eine typisierende Entscheidung trifft.32 Damit liegt dem § 27a SGB V die Hypothese zugrunde, dass der Ehe als Lebensgemeinschaft gegenüber allen anderen Formen des Zusammenlebens, sei es in Form einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, sei es in Form einer Lebenspartnerschaft, unter typisierenden Blickwinkeln die größte Beständigkeit zukommt, und dies unter dem Gesichtspunkt Kindeswohl die Abgrenzung gegenüber allen anderen Formen des Zusammenlebens rechtfertigt. Aber selbst wenn Verheiratete einen Anspruch nach § 27a SGB V geltend machen, sind nach Auffassung der Rechtsprechung, Leistungen zur künstlichen Befruchtung zu versagen, wenn eine heterologische Befruchtung durchgeführt wird, also nicht die Samenzellen des Ehepartners, sondern von Samenspendern verwandt werden. Für den Fall einer künstlichen Befruchtung einer Fremdeizelle hatte bereits das BSG schon im Jahr 200133 unter Bezugnahme auf § 1 Abs. 1 Nr. 2 Embryonenschutzgesetz entschieden, dass eine derartige künstliche Befruchtung keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung darstelle.34 Das BSG hatte damals den Ausschluss derartiger Leistungen damit begründet, dass der Gesetzgeber bei einer Eispende zulässigerweise davon habe ausgehen können, dass das Risiko der daraus möglicherweise erwachsenen Konflikte und negativen Auswirkungen auf die seelische Entwicklung des Kindes nicht in Kauf genommen werden könne. Diese Gefahr für die Beeinträchtigung des Kindeswohles könne auch dann vom Gesetzgeber zulässigerweise unterstellt werden, wenn die künstliche Befruchtung mit Hilfe einer Samenspende erfolgen soll.35 Schließlich, so die sozialgerichtliche Rechtsprechung, trage die Frau, bei der ___________ 31

Bay. LSG, Urt. v. 17.06.2004 – L 4 KR 111/03. BVerfG, Urt. v. 28.02.2007– 1 BvL 5/03, NJW 2007, 1343, 1344. 33 BSG, Urt. v. 09.10.2001 – B 1 KR 33/00 R, SozR 3-2500 § 27a Nr. 4. 34 Gerlach, in: Hauck/Noftz, § 27a SGB V, Rn. 17. 35 BSG, Urt. v. 09.10.2001 – B 1 KR 33/00 R, SozR 3 - 2500 § 27a Nr. 4. 32

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eine heterologische Befruchtung durchgeführt wird, ein Kind von nicht miteinander verheirateten Partnern aus, das biologisch nicht von beiden Ehepartnern abstamme.36 Es soll also das durch die gespaltene Mutter- bzw. Vaterschaft hervorgerufene Risiko für die seelische Entwicklung des Kindes sein, welches eine Differenzierung zwischen homologer und hetereologer Insemination rechtfertigt.37 Insbesondere das Kindeswohl, das für die Anspruchsvoraussetzung „Ehe“ als Begründung genannt wird, soll auf der anderen Seite den Ausschluss von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Lebenspartnerschaften rechtfertigen. Selbst wenn diese auf Dauer angelegt seien und bereits lange Zeit bestehen, würden derartige Lebensgemeinschaften weder in persönlicher noch in wirtschaftlicher Beziehung eine Rechtsgemeinschaft begründen.38 Diese Sichtweise hat mittlerweile das Bundesverfassungsgericht bestätigt und ebenfalls hervorgehoben, dass eheliche Bindungen einem Kind grundsätzlich mehr rechtliche Sicherheit bieten, von beiden Elternteilen betreut zu werden.39 Demgegenüber können nichteheliche Partnerschaften jederzeit beendet werden. In diesem Fall beschränke sich die Pflicht etwa zur Unterhaltszahlung auf den Betreuungsunterhalt, den derjenige Elternteil für begrenzte Zeit beanspruchen könne, der das Kind alleine betreut.40 Auch wenn also hier unterhaltsrechtliche Erwägungen mit eine Rolle spielen, ist es doch im Hinblick auf den Ausschluss sonstiger familialer Gemeinschaften im Rahmen des § 27a SGB V das Kindeswohl, welches als Differenzierungskriterium herangezogen wird. Das bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber nicht eine anderweitige Regelung hätte treffen können.41 Insofern scheint es nicht unproblematisch zu sein, dass die Sozialgerichtsbarkeit einschließlich des Bundesverfassungsgerichts hier dem Gesetzgeber einen derart weiten Typisierungsspielraum gegeben hat. Schließlich ist der Kinderwunsch nichtverheirateter Personen oder auch der Partner einer eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft anzuerkennen.42 Berücksichtigt man ferner, dass § 27a SGB V von seiner Funktion her lediglich die Frage der Finanzierung von künstlichen Befruchtungsmaßnahmen regelt, so stellt sich schon die Frage, ob der Rückgriff auf das Kindeswohl es rechtfertigt, Ehepartnern Leistungen der Solidargemeinschaft zu gewähren, während allen anderen ___________ 36

LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 09.12.2003 – L 4 KR 20/03, GesR 2004, 206 f. Krauskopf/Wagner, § 27a SGB V, Rn. 8. 38 Schmidt, in: Peters, KV, § 27a SGB V, Rn. 112. 39 BVerfG, Urt. v. 28.02.2007– 1 BvL 5/03, NJW 2007, 1343,1344. 40 BVerfG, Urt. v. 28.02.2007– 1 BvL 5/03, NJW 2007, 1343 ff. („Die Ehe ist nach wie vor die rechtlich verfasste Paarbeziehung von Mann und Frau, in der die gegenseitige Solidarität nicht nur faktisch gelebt wird, solange es gefällt, sondern rechtlich eingefordert werden kann“). Hier verweist das BVerfG auf: Schwab, FamRZ 2007, S. 1, 3. 41 Krauskopf/Wagner, § 27a SGB V Rn. 8. 42 Kritisch auch Wenner, SozSich 2007, 155, 157. 37

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Personen entsprechende Leistungen vorenthalten werden. Schließlich ist es den ausgeschlossenen Personen unbenommen, sich derartige Leistungen eigenfinanziert zu beschaffen. Insofern stellt sich die Frage, ob die Regelung des § 27a SGB V, insbesondere die Beschränkung auf Ehepartner, überhaupt für den ins Auge gefassten Zweck geeignet ist. Folgt man aber der Sichtweise der Rechtsprechung, dass eine künstliche Befruchtung in einer nichtehelichen Partnerschaft ein höheres Risiko im Hinblick auf die Beeinträchtigung des Kindeswohls begründet, als eine künstliche Befruchtung im Rahmen einer Ehe, so kann es nicht von der finanziellen Situation der nichtehelichen Lebenspartner abhängen, ob sie sich ihren Kinderwunsch erfüllen oder nicht. Man gewinnt insofern eher den Eindruck, dass durch Gestaltung der Kostentragung versucht wird, traditionelle Formen des Zusammenlebens einseitig zu bevorzugen. Dies lässt sich auch nicht vor dem Hintergrund des Art. 6 GG begründen, denn der Ausschluss der nichtehelichen Lebensgemeinschaft aus dem Kreis der Berechtigten nach § 27a SGB V trägt nichts dazu bei, Ehe und Familie besonders zu fördern. Aber auch ein zweiter Gesichtspunkt im Rahmen des § 27a SGB V ist hervorzuheben, wenn es um die Frage geht, inwieweit der Sozialgesetzgeber versucht, auf Familie und familiale Gemeinschaften Einfluss zu nehmen. Gem. § 27a SGB V besteht der Anspruch auf künstliche Befruchtung nicht für weibliche Versicherte, die das vierzigste und für männliche Versicherte, die das fünfzigste Lebensjahr vollendet haben. Nicht zuletzt hierdurch konkretisiert der Gesetzgeber das Bild, wie er sich die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern vorstellt. Sowohl die untere Altersgrenze (25 Jahre43) wie auch die obere Altersgrenze (40 bzw. 50 Jahre) ist zum 1. 1. 2004 durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung Bestandteil der gesetzlichen Regelung geworden. Mit der Festsetzung der Höchstaltersgrenze für Frauen auf 40 Jahre wollte der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung dem Gesichtspunkt Rechnung tragen, dass bereits jenseits des 30. Lebensjahres das natürliche Konzeptionsoptimum überschritten ist und die Konzeptionswahrscheinlichkeit nach dem vierzigsten Lebensjahr sehr gering ist.44 I. ü. betont die Gesetzesbegründung, dass die oberen Altersbegrenzungen einer starken Gewichtung des künftigen Wohls des erhofften Kindes zu dienen bestimmt sind.45 Damit stellt der Gesetzgeber einerseits auf die Erfolgsaussichten einer künstlichen Befruchtungsmaßnahme ab. Darüber hinaus bringt er einmal mehr den Gesichtspunkt des Kindeswohls ins Spiel. ___________ 43

Zur Verfassungsmäßigkeit der unteren Altersgrenze: LSG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 06.09.2007 – L 5 KR 240/06. 44 So: BT-Drucks. 15/1525, S.83. 45 A.a.O.

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Das Abstellen auf eine potentielle Erfolgswahrscheinlichkeit einer Behandlungsmaßnahme stellt eine im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung systemkonforme Anknüpfung dar. Schließlich dürfen nur solche Leistungen erbracht werden, die wirtschaftlich und notwendig sind (§ 12 Abs. 1 SGB V). Leistungen, bei denen die Erfolgswahrscheinlichkeit dagegen minimal ist, fallen nicht unter den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Gerade für die Frage, wann Maßnahmen der künstlichen Befruchtung eine hinreichende Erfolgswahrscheinlichkeit aufweisen, hat nicht die sozialgerichtliche Rechtsprechung, sondern im Jahr 2005 die zivilrechtliche Rechtsprechung Maßstäbe gesetzt. So sei bei einer IVF-Behandlung von einer ausreichenden Erfolgsaussicht nicht mehr auszugehen, wenn die Wahrscheinlichkeit einer durch die Behandlung herbeigeführten Schwangerschaft signifikant absinkt und eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 15 % nicht mehr erreicht wird.46 Ein Überschreiten dieser Grenze nahm der BGH damals aufgrund der damaligen Erkenntnisse bei Frauen nach Vollendung des vierzigsten Lebensjahres an. Dabei hat der Bundesgerichtshof insbesondere die wissenschaftlichen Ergebnisse des Deutschen IVF-Registers zugrunde gelegt. Betrachtet man allerdings die neuesten publizierten Ergebnisse des Deutschen IVF-Registers, so zeigt sich, wie wandelbar derartige Grenzwerte sein können. Nach dem neuesten publizierten Bericht des IVF-Registers sinkt für Frauen die Erfolgswahrscheinlichkeit einer IVF-Behandlung erst nach Vollendung des 42. Lebensjahres unter die besagte 15 %-Grenze.47 Insofern wird mit stetigem medizinischen Fortschritt die Obergrenze für künstliche Befruchtungsmaßnahmen im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung fragwürdig. Dies ist aber kein spezifisches Problem der künstlichen Befruchtungsmaßnahmen, sondern betrifft im Grunde alle Festsetzungen von Grenzwerten in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der andere tragende Gesichtspunkt für die Einführung einer Höchstgrenze in § 27a Abs. 3 SGB V war der Gesichtspunkt des Kindeswohls. Hier hat sich der Gesetzgeber von der Vorstellung leiten lassen, dass es typischerweise dem Kindeswohl entspreche, wenn ihm seine Eltern bis in die Phase des Erwachsenseins erhalten bleiben und durch eigene Erwerbstätigkeit zu den Kosten der Erziehung und Ausbildung beitragen können.48 Im Mai diesen Jahres hatte sich das Bundessozialgericht mit diesen Altersgrenzen zu befassen. Dabei ging es um ein kinderloses Ehepaar. Während die Ehefrau zum geplanten Behandlungszeitpunkt 35 Jahre alt war, hatte der Ehemann zum betreffenden Zeitpunkt das 57. Lebensjahr vollendet. Es ging also um die obere Altersgrenze für Män___________ 46

BGH, Urt. v. 21.09.2005 – IV ZR 113/04, NJW 2005, 3783, 3785. Jahresbericht 2006 des Deutschen IVF-Registers, S. 14 (http://www.deutsches-ivfregister.de/). Zur Erläuterung: Das Deutsche IVF-Register ist eine Einrichtung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG e.V.). 48 Schmidt, in: Peters, KV, § 27a SGB V, Rn. 93. 47

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ner. Auch hierbei billigte die Rechtsprechung dem Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative zu. Dabei habe er davon ausgehen dürfen, dass mit der 50-Jahres-Grenze jedenfalls bis zum regelmäßigen Abschluss der Berufsausbildung des Kindes die Ehe als eine Lebensbasis für das Kind bestehe, die den Kindeswohlbelangen besser Rechnung trage, als die Erziehung und Versorgung nur durch einen Ehegatten. In seiner Argumentation griff der 1. Senat hierzu u.a. auf die Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes zurück, aus der sich zum Entscheidungszeitpunkt ergab, dass die durchschnittliche Lebenserwartung 50jähriger Männer bei 28,32 Jahren liege. Da der Gesetzgeber bei vielen sozialrechtlichen Regelungen, wie etwa bei besagter Familienversicherung oder etwa im Kindergeldrecht, von einer Schul- und Berufsausbildungszeit bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ausgeht, habe sich der Gesetzgeber mit der Festsetzung des 50. Lebensjahres für einen männlichen Elternteil im Rahmen der Einschätzungsprärogative gehalten.49 Ob allerdings die Altersgrenzen mit dieser Argumentation gerechtfertigt werden können, scheint indes fraglich. Sicherlich ist es systemkonform, auf die Erfolgsaussichten einer Behandlungsmaßnahme abzustellen. Wenn diese Erfolgsaussichten mit zunehmendem Alter schwinden, so ist davon auszugehen, dass ab irgendeinem Zeitpunkt die jeweilige Maßnahme unwirtschaftlich wird und daher nicht mehr durch die gesetzliche Krankenversicherung erbracht werden darf. Wann dieses aber im Einzelfall ist, lässt sich in Anbetracht des medizinischen Fortschrittes nicht an fixen gesetzlichen Altersangaben festmachen. Soweit die Altersgrenzen mit Belangen des Kindeswohls gerechtfertigt werden sollen, ist einmal mehr daran zu erinnern, dass § 27a SGB V lediglich die Frage regelt, wer die jeweiligen künstlichen Befruchtungsmaßnahmen zu finanzieren hat. Hier stellt sich dann die Frage, ob der Gesetzgeber Anreize zur Wahl bestimmter Familienmodelle setzen darf.50 Dies gilt erst Recht, wenn der Staat als Anreizfunktion den Wunsch nach Kindern instrumentalisiert. Denn konsequent zu Ende gedacht, verlangt er von älteren Ehegatten und von Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, sich die Leistungen für die künstlichen Befruchtungsmaßnahmen privat zu beschaffen und diese zu finanzieren mit der Folge, dass angesichts der Kostenintensität derartiger Maßnahmen damit etwa für viele nichteheliche Lebensgemeinschaften eine langfristige Schmälerung ihrer finanziellen Ressourcen verbunden ist, die im Falle einer erfolgreichen künstlichen Befruchtungsmaßnahme über die Geburt des Kindes weiterwirkt. Ob dieses noch dem Verfassungsauftrag in Art. 6 Abs. 5 GG gerecht wird, wonach den unehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen sind, wie den ehelichen, dürfte m. E. zu bezweifeln sein. ___________ 49 50

BSG, Urt. v. 24.05.2007 – B 1 KR 10/06 R, SozR 4-2500 § 27a Nr. 4. Helms/Wanitzek, FamRZ 2007, 685, 691.

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Es greift an dieser Stelle zu kurz, wenn etwa das Landessozialgericht BerlinBrandenburg behauptet, dass die Zeugung unehelicher Kinder nicht vom Schutzzweck des Art. 6 Abs. 5 GG erfasst sei und der Gesetzgeber folglich nicht verpflichtet wäre, die Zeugung unehelicher Kinder ebenso zu fördern, wie die von ehelichen.51 Schließlich werden sich in vielen Fällen nichteheliche Paare nicht davon abbringen lassen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen Schließlich ist die Entscheidung für ein gemeinsames Kind unmittelbare Ausübung des eigenen Selbstbestimmungsrechts und entzieht sich jeder rechtlichen Nachprüfung.52 Die finanziellen Folgen einer solchen Entscheidung dürfen aber die jeweilige familiale Gemeinschaft nicht in unterschiedlicher Weise treffen. Insoweit ist dem Präsidenten der Bundesärztekammer zuzustimmen, wonach etwa eine IVF-Behandlung gerade kein Instrument der Familienpolitik ist, sondern eine auf die individuelle Situation anzuwendende medizinische Maßnahme.53 Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn der 3. Senat des Bundesfinanzhofs im Mai 2007 die Aufwendungen einer nicht verheirateten, empfängnisunfähigen Frau für Maßnahmen zur Sterilitätsbehandlung durch sog. InVitro-Fertilisation als steuerlich zu berücksichtigende, außergewöhnliche Belastungen anerkannt hat.54 Der Senat führt hierzu aus: „Dem Kindeswohl entspricht es zwar am besten, wenn seine Eltern miteinander verheiratet sind, da die besonders intensiven rechtlichen Verpflichtungen zwischen Ehepartnern dem Kind eine größere rechtliche Stabilität und mehr rechtliche Sicherheit geben… Dieser rechtliche Vorteil ehelich geborener Kinder wiegt aber nicht so schwer, dass er die Zwangslage einer empfängnisunfähigen unverheirateten Frau entfallen ließe; der Vorteil wird tatsächlich zudem dadurch eingeschränkt, dass im Jahr 2004 den ca. 396 000 Eheschließungen etwa 214 000 Scheidungen gegenüberstanden.….. Der Nachteil, nichtehelich geboren zu werden, wird auch dadurch relativiert, dass gegenwärtig in Deutschland 29 % aller Kinder nichtehelich geboren werden … und nichteheliche Kinder ehelichen rechtlich weitgehend gleichgestellt sind.“

Zwar betreffen diese Ausführungen steuerrechtliche Erwägungen. Angesichts der dort genannten Zahlen wird aber fraglich, ob die auf die klassische Familie bezogene Sichtweise der Regelung des § 27a SGB V noch funktionsgerecht und zeitgemäß ist.

___________ 51

LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 09.12.2003 – L 4 KR 20/03, GesR 2004, 206 f. BGH, Urt. v. 21.09.2005- IV ZR 113/04, NJW 2005, 3783, 3784. 53 Zitiert bei Siegmund-Schultze, Deutsches Ärzteblatt 2007, A 612, 613. 54 BFH, Urt. v. 10. 5. 2007 – III R 47/05 DStR 2007, 1623 ff. 52

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III. Familiale Gemeinschaften im Arbeitsförderungsrecht Aber auch im Arbeitsförderungsrecht stellt sich die Frage, wie das Sozialrecht mit der Vielfalt familialer Gemeinschaften umgeht. Hier taucht verschiedentlich die Frage nach der Schutzbedürftigkeit bestimmter Formen des menschlichen Zusammenlebens auf. Dies betrifft insbesondere die Sperrzeitvorschrift des § 144 SGB III. Diese Vorschrift ordnet ein Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld an, falls sich der Arbeitnehmer in bestimmter Weise versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Dabei darf die Vorschrift des § 144 SGB III nicht als eine Vertragsstrafe verstanden werden, sondern ist vielmehr Ausdruck des Versicherungsprinzips und umschreibt die Grenzen des versicherten Risikos.55 1. Von einem derartigen versicherungswidrigen Verhalten wird man im Allgemeinen dann immer auszugehen haben, wenn der Beschäftigte sein Beschäftigungsverhältnis durch Eigenkündigung beendet, ohne eine rechtlich gesicherte Aussicht auf eine Anschlussbeschäftigung zu haben. In Bezug auf die sozialrechtliche Erfassung familialer Gemeinschaften ergeben sich in der Praxis immer wieder Fallgestaltungen, bei denen ein Beschäftigter zur Begründung oder Aufrechterhaltung einer familialen Gemeinschaft sein Beschäftigungsverhältnis beendet und daraufhin arbeitslos wird. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob für die Herbeiführung der Arbeitslosigkeit dem Betroffenen ein die Sperrzeit ausschließender wichtiger Grund zugute kommt.56 Noch im Jahr 1964 hatte das BSG selbst bei einer ehelichen Gemeinschaft den Zuzug von Ehegatten nicht als einen wichtigen Grund angesehen.57 Erst in den 70-er Jahren ist die Rechtsprechung von dieser Ansicht unter Rückgriff auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung in Art. 6 Abs. 1 GG abgerückt.58 Seitdem war es allerdings ständige Rechtsprechung und Praxis, dass die Herstellung oder Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft dazu führt, dass die dem zugrunde liegenden persönlichen Interessen die Interessen der Versicherungsgemeinschaft verdrängen, und folglich für die Aufgabe des Beschäftigungsverhältnisses zur Herstellung oder Wiederherstellung der ehelichen

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Ricken, in: Thüsing/Laux/Lemke, § 144 SGB III Rn. 1. Einen solchen wichtigen Grund verneint Rechtsprechung und Literatur allerdings immer dann, wenn der Arbeitslose nicht zunächst alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, den Versicherungsfall der Arbeitslosigkeit zu vermeiden, etwa indem er sich rechtzeitig um einen Anschlussarbeitsplatz bemüht hat (BSG, Urt. v. 26. 3. 1998 – B 11 AL 49/97 R; BSG, Urt. v. 29. 4. 1998 – B 7 AL 56/97 R; SozR 3-4100 § 119 Nr. 15). 57 BSG, Urt. v. 17.07.1964 – 7 RAr 4/64, BSGE 21, 205, 207 f. 58 BSG, Urt. v. 20.04.1977 - 7 RAr 112/75, SozR 4100 § 119 Nr. 2. 56

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Lebensgemeinschaft ein wichtiger Grund besteht.59 Diese Rechtsprechung wird von der Praxis der Arbeitsagenturen auch auf eingetragene Lebenspartnerschaften übertragen.60 Erfolgt die Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses schon vor der Heirat, so kann sich der Beschäftigte nur dann auf einen wichtigen Grund berufen, wenn der Heiratstermin in die Kündigungsfrist fällt,61 oder kurz danach angesetzt ist. Mit anderen Worten: Die Eheschließung muss absehbar sein, was angenommen wurde, wenn die Eheschließung zeitnah – innerhalb von 6 Monaten nach der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses – erfolgt.62 2. Dagegen hat es die Rechtsprechung lange Zeit abgelehnt, den Wunsch nach Aufrechterhaltung einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft als wichtigen Grund anzuerkennen.63 Zur Begründung bezog sie sich u. a. darauf, dass die nichteheliche Lebensgemeinschaft zumindest nach damaligen Vorstellungen nicht durch Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützt sei.64 Daher sei es vor diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen, die persönlichen Bedürfnisse und Wünsche gegenüber den Interessen der Versichertengemeinschaft vorrangig zu behandeln. Dies galt selbst bei langjährigen eheähnlichen Gemeinschaften.65 Erst mit seiner Entscheidung vom 29. 4. 1998 hat das BSG seine Rechtsprechung in Bezug auf eheähnliche Gemeinschaften vorsichtig der gesellschaftlichen Entwicklung angepasst und unter bestimmten Voraussetzungen im Nachzug zu dem Partner einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft einen wichtigen Grund für die Aufgabe einer Beschäftigung anerkannt. So verlangte der 7. Senat, dass der Umzug vom arbeitsplatznahen Wohnort nach dem Ort der gemeinsamen Wohnung dem Zweck dienen muss, ein engeres Zusammenleben mit dem Partner zu ermöglichen, mit dem bereits eine eheähnliche Gemeinschaft besteht. Dabei verstand das BSG nur solche Gemeinschaften als eheähnliche Gemeinschaften, die in der Verbindung zweier Partner unterschiedlichen ___________ 59

BSG, Urt. v. 20.04.1977 – 7 RAr 112/75, SozR 4100 § 119 Nr. 2; BSG, Urt. v. 29.11.1988 – 11/7 RAr 91/87, SozR 4100 § 119 Nr. 34; BSG, Urt. v. 12.11.1981 – 7 RAr 21/81, SozR 4100 § 119 Nr. 17; BSG, Urt. v. 29.04.1998 – B 7 AL 56/97 R, SozR 3 – 4100 § 119 Nr. 15. 60 Durchführungsanweisung der Bundesagentur für Arbeit (DA) 144.84 a (07/2007); Für die Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft: Niesel, SGB III, 4. Aufl., § 144 SGB III, Rn. 139. 61 BSG, Urt. v. 20. 04. 1977 – 7 Rar 112/75, SozR 4100 § 119 Nr. 2; BSG, Urt. v. 17.10.2007 – B 11a/7a AL 52/06 R. 62 BSG, Urt. v. 17.11.2005, B 11a/11 AL 49/04 R, SozR 4 – 4300 § 144 Nr. 10; SG Leipzig, Urt. v. 06.06.2007 – S 14 AL 601/04. 63 BSG, Urt. v. 12.11.1981 – 7 Rar 21/81, SozR 4100 § 119 Nr. 17; BSG, Urt. v. 27.09.1989 – 11 RAr 127/88, FamRZ 1990, 876 f. 64 Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, 4. Aufl., Art. 6 GG, Rn. 43 m.w.N., Robbers, in: v.Mangoldt/Klein/Starck I, Art.6 GG, 5. Aufl., Rn. 44. 65 BSG, Urt. v. 29.11.1988 – 11/7 RAr 91/87, SozR 4100 § 119 Nr. 34, BSG, Urt. v. 27.09.1989 – 11 RAr 127/88, FamRZ 1990, 876 f.

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Geschlechts bestehen, die auf Dauer angelegt ist, keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Beziehung einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen. Hierzu konnte sich die BSG-Rechtsprechung auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützen.66 Als Kriterien für die Ernsthaftigkeit einer Beziehung nannte das BSG u. a. deren Dauerhaftigkeit und Kontinuität, eine gemeinsame Wohnung, eine bestehende Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft und die gemeinsame Versorgung von Angehörigen, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft nicht die Feststellung voraussetze, dass zwischen den Partnern geschlechtliche Beziehungen bestehen. Unter Rückgriff auf die Vorschriften des zivilrechtlichen Scheidungsrechts orientierte sich das BSG dabei im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit an einer 3-JahresGrenze, wonach erst eine 3-jährige Dauer der Beziehung eine genügende Ernsthaftigkeit und Kontinuität bezeuge.67 Diese Rechtsprechung wurde durch zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2002 weiter fortentwickelt. Tragende Erwägung war hier einmal, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld eine durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition sei und dies bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Wichtiger Grund“ zu berücksichtigen sei. Ohne hier allerdings von der bereits im Jahr 1998 grob skizzierten Entscheidungslinie abzuweichen, konkretisierte der 7. Senat in beiden Entscheidungen die Kriterien, wann von einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft auszugehen sei. Insbesondere wies das Gericht hier darauf hin, dass zwar die Dauer des Zusammenlebens ein wesentliches Indiz für die Ernsthaftigkeit der Beziehung sei, allerdings sei auch die in der Entscheidung aus dem Jahr 1998 kreierte 3-Jahres-Grenze nicht als absolut anzusehen. Vielmehr könne eine eheähnliche Gemeinschaft ebenso anerkannt werden, wenn diese noch keine 3 Jahre besteht.68 Entscheidender weiterer Ansatzpunkt für diesen Wandel der Rechtsprechung war der Gedanke, dass im Rahmen der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen den Veränderungen in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen Rechnung getragen werden müssen.69 Indes betrifft diese Rechtsprechung nur die Fälle, in denen eine eheähnliche Gemeinschaft schon besteht und die Aufgabe des Arbeitsplatzes dazu dient, diese eheähnliche Gemeinschaft weiterhin aufrecht zu erhalten. Kein wichtiger Grund ist es allerdings nach der Recht___________ 66

BSG, Urt. v. 29.04.1998 – B 7 AL 56/97 R, SozR 3 – 4100 § 119 Nr. 15 m.w.N. BSG, a.a.O. 68 BSG, Urt. v. 17.10.2002 – B 7 AL 72/00 R, SozR 3 – 4300 § 144 Nr. 10; BSG, Urt. v. 17. 10. 2002 – B 7 AL 96/00 R, SozR 3 - 4100 § 119 Nr. 26; Winkler, in: Gagel, § 144 SGB III, Rn. 114. 69 BSG, Urt. v. 17.10.2002 – B 7 AL 96/00 R, SozR 3-4100 § 119 Nr. 26. 67

Familiale Gemeinschaften im Sozialrecht

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sprechung, wenn die Kündigung und der Umzug erst der Herstellung einer eheähnlichen Gemeinschaft dienen soll und es nicht von den Partnern der eheähnlichen Gemeinschaft beabsichtigt ist, relativ zeitnah eine eheliche Lebensgemeinschaft durch Heirat zu begründen.70 Ob diese Grundsätze jedoch ebenso auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften übertragen werden können, bei denen die Voraussetzungen einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft nicht vorliegen, ist offen.71 3. Nach ganz anderen Spielregeln verfährt im Fall einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft die Rechtsprechung jedoch dann, wenn Kinder mit im Spiel sind. Bisher hat es zwar die Rechtsprechung offen gelassen, ob allein die beabsichtigte Herstellung oder Aufrechterhaltung einer Erziehungsgemeinschaft für sich allein einen wichtigen Grund für die Aufgabe einer Beschäftigung darstellt.72 Wenn aber konkrete Belange des Kindeswohls betroffen sind, besteht für die Begründung sowie die Fortsetzung einer Lebensgemeinschaft ein wichtiger Grund für die Aufgabe einer Beschäftigung, unabhängig, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung einer eheähnlichen Gemeinschaft nach der Rechtsprechung des BSG vorgelegen haben.73 Hierbei ging es etwa um Fälle, bei denen durch einen vorgezogenen Ortswechsel dem schulpflichtigen Kind ein Schulwechsel gerade zum Schuljahresbeginn ermöglicht werden sollte. Dementsprechend sehen die Durchführungsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit ausdrücklich vor, dass ein wichtiger Grund vorliegen kann, wenn ein Arbeitnehmer sein Beschäftigungsverhältnis löst, um mit seinem Partner und dem gemeinsamen Kind die Erziehungsgemeinschaft (wieder-) herzustellen und dies zu dem konkreten Zeitpunkt im Interesse des Kindes liegt.74 Diese Formulierung kann allerdings, da sie sich nur auf gemeinsame Kinder bezieht, nicht als abschließend gewertet werden. Vielmehr hat die Rechtsprechung in den zitierten Entscheidungen ebenfalls das Kindeswohl von den Kindern bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals ___________ 70

BSG, Urt. v. 17.10.2002 – B 7 AL 96/00 R, SozR 3-4100 § 119 Nr. 26; SG Leipzig, Urt. v. 06.06.2007 – S 14 AL 601/04; BSG, Urt. v. 17.10.2007 – B 11a/7a AL 52/06 R; Benkel, in: PK-SGB III, 2. Aufl. § 144 SGB III, Rn. 100. 71 Offengelassen so ausdrücklich: LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.09.2002 – L 13 AL 1098/01, E LSG AL-258; zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes: SG Detmold, Urt. v. 17.07.1996 – S. 12 Ar 181/95, info also 1997, S. 7 ff. 72 BSG, Urt. v. 17.12.2002, B 7 AL 72/00 R, SozR 3-4300 § 144 Nr. 10; BSG, Urt. v. 17.11.2005 – B 11a/11 AL 49/04 R, SozR 4-4300 § 144 Nr. 10. 73 BSG, Urt. v. 17.11.2005 – B 11a/11AL 49/04 R, SozR 4 - 4300 § 144 Nr. 10; Winkler, in: Gagel, § 144 SGB III Rn. 116; LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 22. 05. 2006 – L 19 AL 193/05, Breithaupt 2006, 898 f.; Niesel, SGB III, 4. Aufl., § 144 SGB III, Rn. 139. 74 Durchführungsanweisung der Bundesagentur für Arbeit (DA) 144.88 (07/2007).

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„wichtiger Grund“ berücksichtigt, auch wenn es sich gerade nicht um gemeinsame Kinder handelt. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Partner auch der leibliche Elternteil ist.75 4. Letztlich ist aber auch hier festzustellen, dass sich die Rechtsprechung bemüht, die Form des Zusammenlebens von Menschen rechtlich zu erfassen. Dies geschieht bei § 144 SGB III, indem auf das dauerhafte gegenseitige Einstehen der Partner einer Lebensgemeinschaft abgestellt wird oder aber das Kindeswohl dazu führt, dass das Zusammenleben mehrerer Personen rechtlich privilegiert wird. Dieser rechtliche Zugriff auf Zusammenlebensformen mag Bedenken hervorrufen. Bei der Frage der Sperrzeit zeigt sich allerdings, dass – wenn man nicht das versicherte Risiko der Arbeitslosenversicherung grenzenlos ausweiten will – zur Vermeidung von Missbräuchen eine rechtliche Kategorisierung der Zusammenlebensformen erfolgen muss, um einerseits den berechtigten Interessen der Menschen in ihrer jeweiligen Form des Zusammenlebens gerecht zu werden und andererseits das versicherte Risiko in der Arbeitslosenversicherung angemessen zu begrenzen.

IV. Resümee Allein schon diese exemplarische Betrachtungsweise führt zu der ernüchternden Feststellung, dass eine einheitliche Behandlung familialer Gemeinschaften bei der Einbeziehung der unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens nicht erkennbar wird. Dies ist allerdings angesichts der Unterschiede der jeweiligen Sozialleistungsbereiche aber auch nicht sonderlich verwunderlich. Wichtig erscheint mir indes, dass die Sozialrechtssysteme in ihrer Anknüpfung an die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens entwicklungsfähig bleiben, um so gesellschaftliche Veränderungen aufgreifen zu können. Das kann nicht bedeuten, – aus welchen Gründen auch immer – jede x-beliebige Form des Zusammenlebens den familialen Gemeinschaften gleichzustellen. Eine derartige Entwicklung sprengt nicht nur die Verzahnung des Sozialrechts mit den anderen Rechtsdisziplinen, sondern weist in Richtung einer Beliebigkeit des Zusammenlebens, bei der staatliche Transfersysteme das gegenseitige Einstehen füreinander übernehmen. Das ist aber genau der Punkt, den Friedrich E. Schnapp in seinem umfangreichen Werk immer wieder aufgegriffen hat, in dem er die zunehmende Aushöhlung privater Solidarität als eines der wesentlichen Probleme unseres Sozialsystems kenntlich machte.76 ___________ 75

BSG, Urt. v. 17.10.2007 – B 11a/7a AL 52/06 R. Schnapp, GSP 2006, Nr. 9/10, S. 52 ff.; ders., VSSR 2006, S. 191 ff.; ders., DVBl. 2004, S. 1053 ff.; speziell für die GKV: Schnapp, ZM 2005, Nr. 20, S. 34 ff.: „GKV: Metamorphose vom Leviathan zur Milchkuh“. 76

Die Rechtsfähigkeit im öffentlichen Recht als Problem der gesetzlichen Krankenversicherung Von Stephan Rixen, Kassel

I. Das Organisationsrecht als ein Kristallisationspunkt des wissenschaftlichen Werks von Friedrich E. Schnapp

1. Organisationsrecht als Referenzgebiet grundlagentheoretisch informierter Dogmatik Friedrich E. Schnapp hat sich früh, in seiner grundlegenden Schrift „Amtsrecht und Beamtenrecht“, Zentralfragen des öffentlichen Organisationsrechts zugewandt. Ganz zu Recht identifizierte er hier ein vernachlässigtes Gebiet dogmatischen Nachdenkens,1 das endlich die „Erbschaft des Konstitutionalismus“2 hinter sich lassen müsse. Mit der Entscheidung, das Organisationsrecht zu seinem Thema zu machen,3 hat Friedrich E. Schnapp ein Erkenntnisinteresse seiner wissenschaftlichen Arbeit definiert, das bis in die Gegenwart hinein sein Werk bestimmt.4 Seine Schriften, die vor allem das Verwaltungsorganisations___________ 1

Schnapp, Amtsrecht und Beamtenrecht. Eine Untersuchung über normative Strukturen des staatlichen Innenbereichs, 1977, S. 85: „Vernachlässigung des Organisationsrechts“. Das Organisationsrecht ist, wie Schnapp dargelegt hat, nicht die einzige dogmatisch „vergessene“ Rechtsmaterie, sondern fügt sich in eine Tradition der Nicht- oder Fehlwahrnehmung der Verwaltung ein, s. Schnapp, VVDStRL 43 (1985), 172 (176) zur vollziehenden Gewalt als „vergessener Funktion“. 2 Schnapp (Fußn. 1), S. 85; zum dogmen- und disziplingeschichtlichen Hintergrund s. ebd. auch S. 285 (sub Nr. 2). 3 Hierzu gehören auch die früheren Arbeiten zu kommunalrechtlichen Themen: Schnapp, Die Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht, 1972; ders., Zuständigkeitsverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden, 1973; s. auch Schnapp, VerwArch 78 (1987), 407 ff. 4 Aus dem GKV-Recht etwa Schnapp, DVBl 2000, 247 (248) zur Neubildung von Körperschaften des öffentlichen Rechts (konkret: Krankenkassen); ders., NZS 2004, 113 ff. (zur Rechtsstellung geöffneter und „virtueller“ Krankenkassen); s. auch Schnapp, SGb 1985, 89 ff. (zum Behördencharakter von kassenärztlichen Institutionen); zu verfassungsrechtlichen Vorgaben für Organisationsstrukturen ders., in: Schnapp/Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl. 2006, § 4 Rn. 17 ff.

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recht als Referenzgebiet grundlagentheoretisch informierter Dogmatik profilieren, haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Dogmatik des Organisationsrechts im Staat des Grundgesetzes angekommen ist.

2. (Verwaltungs-)Organisationsrecht als „Rechtsverwirklichungsrecht“ In jüngerer Zeit hat die sog. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft mit ihrer theoriespezifischen Steuerungsperspektive dem Organisationsrecht nochmals besondere Aufmerksamkeit beschert.5 Sie konnte sich hierbei auf die von Schnapp vorgelegten Analysen von Organisation und Organisationsrecht stützen, die in Kenntnis sozialwissenschaftlicher Debatten, aber ohne ihnen kritiklos zu verfallen, schon früh begriffsjuristische Engführungen des Organisations(rechts)verständnisses hinter sich gelassen und damit denkerischen Freiraum für spätere Generationen der Rechtswissenschaftszunft geschaffen haben.6 Ungeachtet dieser neuerlichen dogmatischen Renaissance des Organisationsrechts unter der Flagge des schillernden Leitbegriffs vom „Gewährleistungsstaat“7 wird man gleichwohl nicht sagen können, dass das fachöffentliche Interesse am Organisationsrecht kaum noch zu bremsen ist. Dafür dürfte das unverändert hartnäckige Vorurteil verantwortlich sein, Organisationsrecht sei bloß formelles, sehr technisches, also scheinbar nur nachrangig beachtenswertes Recht.8 Dieses Vorurteil teilt das öffentliche Organisationsrecht mit dem öffentlichen Finanzrecht, das ungeachtet seiner großen praktischen Bedeutung vielen als juristische Materie gilt, die, wenn überhaupt, nur auf den zweiten Blick denkerisch attraktiv erscheint.9 Aber so wie sich ohne Finanzen kein Staat machen lässt, so wenig ist dies ohne Organisationsformen möglich, in denen der durch das Recht fundierte und an es gebundene Staat Form annimmt. Das Finanzrecht widmet sich, wie schon die Antike wusste, den „Nerven des Staa-

___________ 5

Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I: Methoden, Maßstäbe, Aufgaben, Organisation, 2006; zur „Steuerungsebene Organisation“ s. auch Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 544 ff. 6 Schnapp (Fußn. 1), S. 103 ff. 7 Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (363 f., 366); Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 20 ff., S. 242 f. 8 Schnapp (Fußn. 1), S. 85 ff.; ders., SGb 1979, 200 (203). Dass Organisationsrecht auch „materielles“ Recht ist, weil es das Verhalten von Organwaltern steuert, erläutert Schnapp, RTh 1978, 275 (295). 9 Dazu Rixen, VSSR 2004, 241 (243 f.); ders., VSSR 2005, 403 (405); ders., SGb 2008, 31 (34); ders., in: Becker/Kingreen (Hrsg.), SGB V, Kommentar, 2008, § 220 Rn. 2.

Die Rechtsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen

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tes“10, und das Organisationsrecht vor allem der „Anatomie der Verwaltung“11, wie Friedrich E. Schnapp in gewiss nicht zufälliger Anlehnung an das antike Vorbild biologisch-medikalisierender Metaphorik formuliert hat.12 Bezogen auf das materielle Recht sind organisationsrechtliche Normen „Rechtsverwirklichungsnormen“13, ohne die gelebtes, effektiv implementiertes, wirkliches Recht nicht denkbar ist.14

3. Organisationsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung als Probierstein für die Plausibilität öffentlich-rechtlicher Dogmatik Die dogmatische Zentralstellung des Organisationsrechts soll nachfolgend anhand neuerer Entwicklungen erläutert werden, die in unterschiedlicher Weise auf die Rechtsfähigkeit, den Zentralbegriff juristischer Organisationsrechtsdogmatik, referieren; immer wieder hat Friedrich E. Schnapp sich der Rechtsfähigkeit zugewandt.15 Der Blick richtet sich auf das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als einer Kernmaterie des Sozialrechts. Das drängt sich nachgerade auf, weil Friedrich E. Schnapp das Organisationsrecht vor allem aus dem Blickwinkel des Sozialrechts dogmatisch sichtet und systematisiert, nicht weil ihm so sehr an den Quisquilien des Sozialrechts gelegen ist, die er, z.B. aus schiedsamtlicher Praxis,16 wie kaum ein anderer kennt, sondern weil er das Sozialrecht, namentlich das Recht der GKV mit seinen nicht endenden Reform- und Innovationsschüben, als prominenten Probierstein für ___________ 10 Hierzu Stolleis, Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, 1983; s. hierzu auch (im Kontext des Staatsschuldenrechts) Höfling/Rixen, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 115 Rn. 47 (Stand der Kommentierung: Juli 2003). 11 Schnapp, Jura 1980, 293 (293). 12 Die Verwurzelung im humanistischen Bildungsverständnis ist bei Schnapp ubiquitär, s. beispielhaft Schnapp, in: Butzer (Hrsg.), Wirtschaftlichkeit durch Organisationsund Verfahrensrecht. Vorträge beim Symposium anlässlich des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Friedrich E. Schnapp in Bochum, 2004, S. 106 ff. 13 Schnapp (Fußn. 1), S. 107; s. hierzu auch S. 114, S. 288; außerdem S. 115 mit dem Hinweis, dass „materielles und formelles Recht nicht losgelöst voneinander betrachtet werden sollten, sondern gleichgewichtige Bestandteile von Rechtsordnungen darstellen.“ 14 Bezogen auf das Staatsorganisationsrecht als wichtige Teilmaterie des öffentlichen Organisationsrechts lässt sich daher sagen: „Staatsorganisationsrecht erweist sich (…) als institutioneller Flankenschutz der Grundrechte. (…) Staatsorganisationsrecht (…) ist Grundrechtsschutzrecht“ (Rixen, VSSR 2007, 213 [215 f.]). 15 S. insb. Schnapp (Fußn. 1), S. 80 ff.; ders., RTh 1978, 275 ff.; ders., RTh, Beih. 5 (1984), 381 (399 ff.).; ders., Artikel „Grundrechtsträger“, Lexikon des Rechts, 5/360, S. 6. 16 Schnapp, NZS 2007, 561 (561): „Wissenschaftler, die ihr Wissen nur aus Büchern haben, gehören selbst ins Regal.“

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die Plausibilität öffentlich-rechtlicher Dogmatik begreift.17 Gerade weil es „das Sozialrecht mit der praktisch so bedeutsamen Materie des sozialen Krankenversicherungsrechts (ist), das durch die Zeit hindurch bis heute hin besonders deutlich ihren Puls fühlt“18, lässt sich die aktuelle Gestalt öffentlich-rechtlicher Dogmatik einschließlich ihrer (Organisationsrechts-)Probleme am Leitfaden des Sozialrechts besonders gewinnbringend rekonstruieren. Das Vorbild, das Friedrich E. Schnapp gibt, zeigt zudem, dass Organisationsrechtsdogmatik, soll sie erkenntnisträchtig sein, zum Kristallisationspunkt ineinandergreifender Gesichtspunkte werden muss, an dem „Dogmatik im Kontext“19 entsteht: rechtstheoretische20 Sensibilität muss wie selbstverständlich in die Systematisierung praxisrelevanter21 und innovativer Referenzmaterien (Sozialrecht) einfließen, womit zugleich gesteigertes Wissen über die Basisstrukturen des allgemeinen öffentlichen Rechts entsteht.22 Bereichsspezifische Sozialrechtsdogmatik erweist sich damit gerade nicht als denkerischer Sonder- oder gar Holzweg, sondern als Impulsgeber, Korrektiv und Richtungsanzeige für die Dogmatik des öffentlichen Rechts insgesamt.23

___________ 17

Warnend Schnapp, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 497 (499): Der „‚Sozialrechtler in Reinkultur‘, der in erster Linie an dem ‚Funktionieren‘ des sozialversicherungsrechtlichen Instrumentariums interessiert ist, (wird) von sich aus kein sonderliches Gespür für verfassungsrechtliche Fragestellungen und Problemlagen entwickeln.“ 18 Rixen (Fußn. 7), S. 14. 19 Hierzu (aus europarechtlicher Perspektive) Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext, 2005, S. 6 ff.; zur Gültigkeit dieses Ansatzes auch für andere rechtswissenschaftliche Problemfelder s. Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (360). 20 Dazu die Nachweise oben Fußn. 15. 21 Was auch bedeutet: Praxisprobleme ernst zu nehmen, auch als Prüfstein dogmatisch-konstruktiver Arbeit, dazu Schnapp (Fußn. 1), S. 102 (Hervorhebung hinzugefügt): „Rechtsdogmatische Konstruktionen erweisen ihre Relevanz im konkreten Rechtsanwendungsprozeß, d. h. bei der Beantwortung einer Rechtsfrage mit Hilfe eines abgeschlossenen Komplexes von Rechtssätzen.“ 22 Folgerichtig verweist Schnapp, SDSRV Bd. 47 (2000), 117 (129), auf einen Satz des früheren Präsidenten des BSG, Wannagat, in der FS für Horst Schieckel, 1978, S. 347 (355): „Ein Verwaltungsrecht, das nicht angereichert und konkretisiert wird an Beispielen und Problemen aus dem Sozialrecht und das diese Materie vernachlässigt, kann nicht den Anspruch erheben, das Verwaltungsrecht unseres sozialen Rechtsstaates zu sein.“ S. auch Schnapp, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 497 (498): „Wer sich nur mit den Standard-Materien des öffentlichen Rechts befasst, nimmt in aller Regel schon die unorthodoxen Erscheinungen des Sozialversicherungsrechts nicht zur Kenntnis, kann sie daher auch nicht mit Standards des Verfassungs- oder des allgemeinen Verwaltungsrechts abrastern.“ 23 Und dies impliziert, je nach Fragestellung, dass „herkömmliche Konstruktionen“ (Schnapp, SGb 2005, 1 [8]) aufgebrochen und aufgegeben werden müssen, ohne sich in „Dogmatisierungshülsen“ (Schnapp, SGb 2000, 341 [341]) zu flüchten, die alternative dogmatische Problemzugriffe eher suggerieren als tatsächlich eröffnen.

Die Rechtsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen

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Dies ist mit Blick auf drei Felder zu illustrieren, in denen der Topos der Rechtsfähigkeit, jeweils in anderer Perspektive, eine wesentliche Rolle spielt. Zunächst ist die Kreditaufnahmebefugnis der Krankenkassen als Aspekt ihrer Rechtsfähigkeit in den Blick zu nehmen (nachfolgend II.). Sodann sollen die Dienstleistungsgesellschaften gemäß § 77a SGB V thematisiert werden, wobei vor allem die Frage interessiert, inwieweit die Rechtsfähigkeit der Gründungskörperschaften, also der Kassenärztlichen (Bundes-)Vereinigungen, die privatrechtliche Rechtsfähigkeit der Dienstleistungsgesellschaften dirigiert und limitiert (nachfolgend III.). Anschließend ist die mit dem Thema der Rechtsfähigkeit eng verbundene Rechtsnatur des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) zu bestimmen, wobei es in erster Linie um die Frage geht, ob der G-BA in das Prokrustesbett der begriffsjuristischen Trias von Körperschaft, Anstalt und Stiftung gezwängt werden darf oder gar muss (nachfolgend IV.).

II. Kreditaufnahme von Krankenkassen als Aspekt ihrer Rechtsfähigkeit

1. Was ist „Rechtsfähigkeit“? Rechtsfähigkeit ist „nicht die a-priorische Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, mithin nicht Voraussetzung für die, sondern Folge der Zuordnung subjektiver Rechte und/oder Pflichten durch die Rechtsordnung.“24 Es gibt „keine der Rechtsordnung vorgegebene Rechtsfähigkeit“25, sie wird „allein durch die Rechtsordnung konstitutiert“26. Rechtsfähigkeit hängt damit ab von der „rechtssatzmäßigen Zuordnung von Rechten und/oder Pflichten“27, so dass sich die „Zuerkennung der Attribute ‚Rechtssubjektivität‘, ‚Rechtspersönlichkeit‘ und ‚Juristische Person‘ nur durch die Häufigkeit der rechtssatzmäßigen Zuordnung, d. h. aber lediglich quantitativ unterscheidet. Das bedeutet weiter, dass diese Begriffe rechtsdogmatisch ineinander fallen; mit der Konsequenz, dass die Relativität der Rechtsfähigkeit in die Relativität der Juristischen Person überhaupt mündet.“28 Rechtsfähigkeit ist demnach kein Alles-oder-NichtsBegriff, sondern eine skalierbare Größe des Mehr oder Weniger. Rechtsfähig___________ 24

Schnapp (Fußn. 1), S. 81. Schnapp (Fußn. 1), S. 80. 26 Schnapp (Fußn. 1), S. 81. 27 Schnapp (Fußn. 1), S. 81. 28 Schnapp (Fußn. 1), S. 81. – Der Hoheitsakt, der die juristische Person des öffentlichen Rechts begründet, bestimmt zugleich den Umfang der Rechtsfähigkeit, Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, 2003, S. 219. 25

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keit bzw. Rechtssubjektivität sind also keine der Rechtsordnung vorgegebenen „Anknüpfungspunkte für Rechtssätze (…), sondern Folgebegriffe“29 – sie folgen der durch Rechtssatz getroffenen Definition. Wenn Rechtsfähigkeit aber an Rechtsätze gebunden ist („rechtssatzmäßige Zuordnung“), dann ist sie an Rechtsnormtexte und deren semantisches Unschärfepotential gebunden und unterliegt damit den Unschärfeminimierungsbedingungen juristischer Auslegungsmethodik.30

2. Kreditaufnahme der Krankenkassen im Spiegel eines Rechtsstreits Dies vor Augen, lässt sich nachvollziehen, wieso die Kreditaufnahmebefugnis der Krankenkassen ein Thema ihrer Rechtsfähigkeit ist. Friedrich E. Schnapp und der Verfasser dieser Zeilen haben sich der Fragestellung bereits gemeinsam gewidmet, diese Überlegungen sollen hier aufgenommen werden.31 Krankenkassen können die – insbesondere im Außenverhältnis zu Banken wirksame – Kompetenz zur Aufnahme von Krediten nur haben, wenn sich Rechtssätzen des positiven Rechts eine entsprechende Befugnis entnehmen lässt. Da jede Krankenkasse Körperschaft des öffentlichen Rechts ist (§ 4 Abs. 1 SGB V), muss sich anhand der einschlägigen Normsätze ein Rechtssatz gewinnen lassen, der der Körperschaft diese Befugnis gewährt. Angesichts der mit Einführung des sog. Gesundheitsfonds angestrebten Entschuldung der Krankenkassen32 und der geplanten Einführung der Insolvenzfähigkeit von Krankenkassen33 geht es um eine gesundheitspolitisch brisante Fragestellung, die juristisch lange Zeit bagatellisiert wurde.34 Ein Rechtsstreit hat die juristische Brisanz des Themas in Erinnerung gerufen. In einer zivilrechtlichen Streitigkeit forderte eine Krankenkasse, nachdem sie faktisch überschuldet war, von der Bank Schadenersatz wegen Kreditgewährung, weil der Kredit unter (vermeintlichem) Verstoß gegen ein im GKVRecht normiertes Kreditaufnahmeverbot ausgereicht worden sei.35 Im Kern ging es um die Frage, wie sich die einschlägigen Normtexte des SGB V, na___________ 29

Schnapp (Fußn. 1), S. 82. Hierzu Schnapp, JZ 2004, 473 (473 ff.), u.a. auch (S. 473) zu Verständnisproblemen, die sich auf den Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechts beziehen. 31 Schnapp/Rixen, BKR (Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht) 2006, 360 ff. 32 § 271 SGB V i.d.F. des GKV-WSG v. 26. 3. 2007 (BGBl. I S. 378 [429 f.]); dazu BT-Drucks. 16/3100, 170. 33 § 171b SGB V i.d.F. des GKV-WSG v. 26. 3. 2007 (BGBl. I S. 378 [417]); dazu BT-Drucks. 16/4247, S. 50 i.V.m. BT-Drucks. 16/3100, S. 156 f. 34 Eingehend Rixen, VSSR 2004, 241 ff. 35 LG Düsseldorf, Urt. v. 2. 5. 2006 – 9 O 618/04 –, BKR 2006, 491 = WM 2006, 2000; OLG Düsseldorf, Urt. v. 20. 9. 2007 – I-6 U 122/06 –, juris. 30

Die Rechtsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen

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mentlich § 222 SGB V, verstehen lassen: als grundsätzliche Negation einer entsprechenden Kreditaufnahmebefugnis oder als deren grundsätzliche Anerkennung.36

3. Rechtsfähigkeitswirrwarr ohne Sinn für das Sozialrecht als öffentliches Recht Die – zu diesem Thema freilich bislang sehr übersichtliche – Rechtsprechung lässt sich auf das öffentlich-rechtliche „Design“ der Befugnisse der Krankenkassen im Detail nicht ein, zeichnet also die positivrechtlichen Konturen der Rechtsfähigkeit der Krankenkassen in finanzieller Hinsicht nicht akkurat nach. Daher kommt sie zu einer gleichsam von Anfang an der Krankenkasse mitgegebenen „grundsätzlichen Kompetenz zur Kreditaufnahme“37. Wie weit sich die Rechtsprechung hierbei vom positiven Recht entfernt, zeigt bereits das Argument, für Krankenkassen wären auch sonst „zulässige Kreditaufnahmen nach Sondervorschriften (z. B. § 85 Abs. 1 SGB IV)“38 vorgesehen. § 85 Abs. 1 SGB IV, der zum allgemeinen Finanzrecht der Sozialversicherungsträger gehört und auch für die Krankenkassen gilt (§ 1 Abs. 1 S. 1 SGB IV), regelt aber gerade nicht die Aufnahme von Krediten, sondern die Gewährung von „Darlehen für gemeinnützige Zwecke“ (§ 85 Abs. 1 S. 1 SGB IV) durch den Sozialversicherungsträger, etwa eine Krankenkasse. Das Finanzrecht der Krankenkassen lässt solche Darlehensgewährungen zu, soweit sie Anlagen zur Sicherung der Rücklage der Krankenkasse (§ 82 SGB IV i.V.m. § 261 SGB V) sind (§ 83 Abs. 1 Nr. 7 SGB IV). Aus Darlehen, die die Krankenkasse danach zulässigerweise gewährt, resultieren Forderungen der Krankenkasse aus den gewährten Darlehen,39 nicht aber Pflichten zur Darlehensrückzahlung. M.a.W.: § 85 SGB IV hat mit der Zulässigkeit von Kreditaufnahmen (und den daraus resultierenden Pflichten zur Darlehensrückzahlung) nichts zu tun. Auch der Verweis auf „darlehensähnliche Finanzierungselemente (z.B. Leasing)“40, die gesetzlich geregelt seien, verkennt, dass das Gesetz (§ 85 Abs. 1 S. 2, S. 4, Abs. 2 SGB IV) hier eine besondere Form des sog. Mietkaufs regelt, die in der Tat der Sache nach darlehensähnliche Züge hat, aber gleichwohl rechtlich kein Darlehen darstellt. Im Übrigen wird selbst diese bloß darlehensähnliche Form der Finanzierung von Anschaffungen der Sozialversicherungs___________ 36

Zusf. OLG Düsseldorf (Fußn. 35), Rn. 71. OLG Düsseldorf (Fußn. 35), Rn. 71. 38 OLG Düsseldorf (Fußn. 35), Rn. 71. 39 Zu einem anderen Fall von „Forderungen aus Darlehen“ s. § 83 Abs. 1 Nr. 4 SGB IV. 40 OLG Düsseldorf (Fußn. 35), Rn. 71. 37

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träger spezialgesetzlich geregelt, so dass sich die Frage stellt, was sich daraus für eine allgemeine Zulässigkeit von Kreditaufnahmen herleiten lässt. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die Rechtsprechung die Gesetzesmaterialien fehlinterpretiert und den Charakter einer befristeten Ausnahme, die § 222 SGB V bereits im amtlichen Titel zu erkennen gibt, in eine Bestätigung der grundsätzlichen Zulässigkeit von Kreditaufnahmen umdeutet, und zwar mit dem Argument, die Nennung des Stichtages in § 222 Abs. 5 SGB V „wäre überflüssig gewesen, wenn die Darlehensaufnahmen aus früherer Zeit wegen mangelnder Rechtsfähigkeit als unwirksam angesehen worden wären.“41 Dagegen ist folgendes festzuhalten:

4. Zum öffentlich-rechtlichen (sozialrechtlichen) Profil der Kreditaufnahmekompetenz Eine eingehende Analyse des Finanzrechts der Krankenkassen ergibt, dass die Krankenkassen – allen praktizierten Usancen zum Trotz – nach geltendem Recht unter keinem Aspekt eine Kreditaufnahmebefugnis beanspruchen können, und zwar auch nicht, soweit es um sog. Kassen(verstärkungs)kredite geht, die die zeitweilige Liquidität sichern sollen, aber nicht die reguläre haushaltsmäßige Ausgabendeckung bezwecken.42 Gleichwohl agieren, soweit bekannt, alle Krankenkassen anders, hierbei auch nicht behelligt von der jeweils zuständigen Rechtsaufsicht.43 Es gilt der Grundsatz der beitragszentierten und antikreditären Finanzierung der GKV (s. insb. § 3 i.V.m § 220 Abs. 1 S. 1 SGB V).44 Von ihm muss spezialgesetzlich abgewichen werden, wenn er durchbrochen werden soll. Ansonsten handeln juristische Personen des öffentlichen Rechts ultra vires, also außerhalb des gesetzlich oder satzungsmäßig festgelegten Aufgabenkreises und damit, auch soweit es um privatrechtliche Geschäfte in Vollzug der öffentlich-rechtlichen Aufgaben geht, rechtsunwirksam. Bereits das Reichsgericht45, später auch der Bundesgerichtshof46 haben dies betont. Dass die ultra-vires-Doktrin nur für juristische Personen des öffentlichen Rechts, nicht aber für juristische Personen des Zivilrechts gelten soll,47 mag ___________ 41

OLG Düsseldorf (Fußn. 35), Rn. 72. Rixen, VSSR 2004, 241 (267 ff.). 43 Rixen, VSSR 2004, 241 (246). 44 Rixen, VSSR 2004, 241 (248 ff.); s. auch Rixen (Fußn. 7), S. 73 ff. 45 RG, Urt. v. 5. 11. 1934 – VI 180/34 –, RGZ 145, 311 (314). – Friedrich E. Schnapp hat mich mit E-Mail v. 24. 3. 2007 auf die Entscheidung des RG hingewiesen. 46 BGH, Urt. v. 28. 2. 1956 – I ZR 84/54 –, BGHZ 20, 119 (124) = NJW 1956, 746 (748); BGH, Beschl. v. 15. 7. 1969 – NotZ 3/69 –, BGHZ 52, 283 (286) = NJW 1969, 2198 (2199); s. hierzu auch Koenig, WM 1995, 317 (324). 47 Weick, GS für Heinze, 2005, S. 1051 (1051). 42

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zumindest ein (Hinter-)Grund sein, der erklärt, wieso das OLG Düsseldorf (oben 3.) als zivilrechtlichem Denken verpflichtetes ordentliches Gericht das Handeln der Krankenkassen anders qualifiziert hat. In der Tat gibt es eng umrissene Ausnahmen vom Grundsatz der antikreditären Finanzierung der GKV, die die Folgen von in der Vergangenheit durch Krankenkassen unstreitig illegal aufgenommenen Krediten regeln (vgl. im Einzelnen § 222 SGB V; amtlicher Titel: „Befristete Ausnahme vom Verbot der Finanzierung durch Aufnahme von Darlehen“). Insbesondere geht es um § 222 Abs. 5 Halbs. 2 SGB V, der lautet: „Darlehensaufnahmen nach dem 31. Dezember 2003 sind nicht zulässig.“ Dieser Halbsatz darf nicht isoliert betrachtet werden.48 Das geschähe, wenn man im Umkehrschluss folgerte, jedwede Kreditaufnahme vor dem 31. 12. 2003 sei zulässig gewesen. Der Halbsatz will nur klarstellen, dass die Krankenkassen, die in rechtswidriger Weise bis zum 31. 12. 2003 Kredite aufgenommen haben, die Sanierung nicht mit neuen Kreditaufnahmen betreiben dürfen.49 D. h., sie dürfen erst recht nach dem 31. 12. 2003 keine Kredite mehr aufnehmen. Dass der Halbsatz nur das grundsätzliche Kreditaufnahmeverbot akzentuiert, bestätigt der Blick auf § 222 Abs. 4 SGB V, an den sich § 222 Abs. 5 SGB V konstruktiv anlehnt: § 222 Abs. 4 SGB V bezweckt nur eine GKV-rechtsspezifische (sozialrechtsspezifische) Folgenregulierung der ursprünglich GKV-rechtswidrigen (sozialrechtswidrigen) Kreditaufnahmen, ohne indes auf die etwaige zivilrechtliche Unwirksamkeit einwirken zu wollen.50 Eine andere Betrachtungsweise würde der Bank ggf. rückwirkend einen Vertragspartner aufzwingen, ohne dass sie darauf noch irgendeinen Einfluss hätte, ganz abgesehen davon, dass das Genehmigungserfordernis sich nur auf das Sanierungs- und Entschuldungskonzept im Verhältnis Aufsichtsbehörde/Krankenkasse bezieht.51 Wie bei § 222 Abs. 4 SGB V fehlt auch bei § 222 Abs. 5 SGB V jeder Hinweis in Gesetzestext oder Gesetzesbegründung, der für eine derart weit reichende Wirkung möglicherweise auch gegen die (ökonomischen) Interessen der Bank sprechen würde. Vor diesem Hintergrund bestätigt § 222 Abs. 5 Halbs. 2 SGB V die in § 220 Abs. 1 SGB V zum Ausdruck gelangende Finanzierungsgrundregel der GKV: Kreditaufnahmen sind im System der GKV grundsätzlich ein Fremdkörper und gerade keine zulässige Finanzierungsopti-

___________ 48

Zum Folgenden bereits Schnapp/Rixen, BKR 2006, 360 (364). Schnapp/Rixen, BKR 2006, 360 (364). 50 Schnapp/Rixen, BKR 2006, 360 (363). 51 Vgl. hierzu Koenig, WM 1995, 317 (325); s. auch Schnapp/Rixen, BKR 2006, 360 (363). 49

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on. § 222 Abs. 5 SGB V bekräftigt das grundsätzliche Kreditaufnahmeverbot, das für die Finanzierungsordnung der GKV zentral ist.52 Eine Argumentation, die sich über die Struktur der Rechtsfähigkeit als Konglomerat von befugnis- oder pflichtbegrenzenden Rechtssätzen im Klaren gewesen wäre und insbesondere den systematischen Ausgangspunkt zutreffend markiert hätte – die grundsätzliche Kreditfeindlichkeit der GKV-Finanzierungsordnung, die in der Gesetzesbegründung zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) nochmals unterstrichen wurde –53, hätte den insbesondere um § 222 Abs. 5 SGB V zentrierten Prozess der Normtextauslegung anders strukturiert und das zutreffende Auslegungsziel erreichen können. Das ist der Rechtsprechung bisher nicht gelungen. Aus „der“ Rechtsfähigkeit der Krankenkassen jedenfalls lässt sich für ihre Kreditaufnahmebefugnis nichts herleiten.

III. Dienstleistungsgesellschaften (§ 77a SGB V) als Problem der Rechtsfähigkeit von Kassenärztlichen Vereinigungen

1. § 77a SGB V als gesundheitspolitisches Kompensationsgeschäft Mit dem GKV-WSG wurde § 77a SGB V in das SGB V eingefügt.54 Er gestattet den Kassen(zahn)ärztlichen55 (Bundes-)Vereinigungen die Gründung sog. Dienstleistungsgesellschaften (so der amtliche Titel von § 77a SGB V). Gesundheitspolitisch handelt es sich um eine Art Kompensationsgeschäft, das den Akteuren des kollektivvertraglichen Vertragsarztsystems den Umgang mit den durch das GKV-WSG verstärkt eingeführten einzelvertraglichen Elementen erleichtern soll.56 Die Kassenärztlichen Vereinigungen werden so, vermittelt

___________ 52 Schnapp/Rixen, BKR 2006, 360 (364); Rixen, VSSR 2004, 241 (258 f.); ders., in: Becker/Kingreen (Fußn. 9), § 222 Rn. 10 ff. 53 Gesetzesbegr. zum GKV-WSG v. 26. 3. 2007 (BGBl. I S. 378), BT-Drucks. 16/3100, S. 165, wo hinsichtlich einer ggf. erforderlich werdenden Erhöhung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags (§ 242 SGB V n.F.) betont wird: „Darlehensaufnahmen sind unzulässig.“ 54 Art. 49 GKV-WSG v. 26. 3. 2007 (BGBl. I S. 378 [393]), in Kraft seit 1. 4. 2007 (Art. 46 Abs. 1 GKV-WSG). 55 Für die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen findet § 77a SGB V gemäß § 72 Abs. 1 S. 2 SGB V ensprechende Anwendung, dazu die Begr. zum GKV-WSG, BT-Drucks. 16/3100, S. 117. 56 Die amtl. Begr. zum GKV-WSG spricht, etwas verschleiernd, von der „Flexibilisierung der Vertragsstrukturen“ (BT-Drucks. 16/3100, S. 117).

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über von ihnen beherrschte privatrechtliche57 Trabanten,58 zu Serviceeinheiten, die ein verbessertes Zurechtfinden der KV-Mitglieder auf dem neuen, zunehmend „entkollektivierten“ GKV-Markt ermöglichen sollen. Unter dem Aspekt der Rechtsfähigkeit, d.h. der damit implizierten Rechte und Pflichten, sollen die Gründung der Dienstleistungsgesellschaft (nachfolgend 2.), die Mitgliederbezogenheit des Aufgabenspektrums (nachfolgend 3.) sowie die (insbesondere durch gerichtlichen Rechtsschutz aktualisierbaren) Grenzen des Aufgabenspektrums der Dienstleistungsgesellschaft (nachfolgend 4.) interessieren.

2. Gründung der Dienstleistungsgesellschaft: öffentlich-rechtliche Determinanten Wenn § 77a Abs. 1 SGB V von der Gründung von „Gesellschaften“ spricht, ist dies als Verweis auf alle verfügbaren gesellschaftsrechtlichen Gestaltungen und deren Gründungsvoraussetzungen und -implikationen (z.B. Vorgesellschaft) zu verstehen. Diese Gründungsbefugnis wird auch ausschließlich der jeweiligen Kassen(zahn)ärztlichen (Bundes-)Vereinigung zugeordnet, was heißt, dass die gegründete Gesellschaft eine 100%ige Tochter ihrer „Mutterorganisation“59 sein muss; anderes lässt sich dem Rechtssatz des § 77a Abs. 1 SGB V nicht entnehmen, so dass diese rechtssatzmäßige Zuordnung die Rechtsfähigkeit (den Kreis der Rechte und Pflichten der KV als Körperschaft des öffentlichen Rechts, § 77 Abs. 5 SGB V) definiert. Wie viele Dienstleistungsgesellschaften eine K(B)V gründen darf, ist in § 77a SGB V nicht geregelt. Der in Abs. 1 und Abs. 2 verwandte Plural („Gesellschaften“) scheint darauf hinzudeuten, dass keine zahlenmäßige Begrenzung vorgesehen ist. Andererseits ist zu bedenken, dass der Plural nur redaktionelle Gründe haben könnte, weil eine ___________ 57 Das Wort „Gesellschaften“ in § 77a Abs. 1 SGB V ist mangels gegenteiliger Anhaltspunkte im Sinne des privatrechtlichen Gesellschaftsrechts gemeint; auch die amtl. Begr. geht von der „privatrechtlichen Dienstleistungsgesellschaft“ aus (BT-Drucks. 16/3100, S. 117). Denkbar sind zwar auch öffentlich-rechtliche Gesellschaften (dazu allg. Mann, Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002). Allerdings würde deren Gründung entsprechende öffentlich-rechtliche Ermächtigungsnormen voraussetzen, die für die KVn nicht bestehen; auch die entsprechend geltenden Normen des Organisationsbzw. Haushaltsrechts (§ 78 Abs. 3 SGB V) enthalten solche Regelungen nicht. 58 Beispielhaft: KV Managementgesellschaft mbH (KV Sachsen-Anhalt), Gediselect GmbH & Co. KG aA (KV Bayern), KV COMM Consult- und Management Gesellschaft mbH (KV Brandenburg), Dienstleistungsgesellschaft für Ärzte-Psychotherapeuten Niedersachsen mbH (KV Niedersachsen), KV Nordrhein Consult als Geschäftsbereich der KV Nordrhein Notdienst und Bürgerberatungs GmbH (KV Nordrhein). 59 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks. 16/4020, S. 4.

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alle Kassenärztlichen Vereinigungen erfassende Regelung formuliert werden sollte. Der Sinn des § 77a SGB V, Beratungs- und Unterstützungsleistungen anzubieten, spricht aber dafür, die pluralische Fassung des Normtextes beim Wort zu nehmen: Es kann z.B. zweckmäßig sein, eine spezielle IT- bzw. EDV-Beratungsgesellschaft zu gründen (vgl. § 77a Abs. 2 Nr. 2 SGB V), andere Aspekte hingegen von anderen Gesellschaften realisieren zu lassen. Dafür, dass § 77a solchen Zweckmäßigkeitsüberlegungen eine Grenze dadurch setzen wollte, dass nur jeweils eine Dienstleistungsgesellschaft pro K(B)V gegründet werden darf, ist nichts ersichtlich. Zur Gründung einer Dienstleistungsgesellschaft gehören auch die finanziellen Mittel, die zur Gründung der Gesellschaft erforderlich sind.60 Dementsprechend bezieht sich § 77a Abs. 3 S. 1 SGB V nur auf bereits gegründete Gesellschaften, die ausschließlich gegen Kostenersatz tätig werden dürfen.61 Das an die jeweilige KV adressierte Finanzierungsverbot des § 77a Abs. 3 S. 2 SGB V bezieht sich demgemäß auf das Tätigwerden nach erfolgter Gründung. Welches Organ der KV die Gründung beschließt, ist in § 77a SGB V nicht geregelt. Es gelten die allgemeinen Regeln über die Organzuständigkeiten in der KV. Danach ist zwischen Vertreterversammlung und hauptamtlichem Vorstand zu unterscheiden (§ 79 Abs. 1 SGB V). Die Vertreterversammlung hat u.a. alle Entscheidungen zu treffen, die für die Körperschaft von grundsätzlicher Bedeutung sind (§ 79 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB V). Das ist der Fall, wenn es um Strukturentscheidungen geht, die bspw. die bisherige Organisation der KV nicht nur fortentwickeln, sondern um (ggf. rechtlich verselbständigte) Organisationseinheiten erweitern; Gleiches gilt, wenn der Aufgabenkreis bestehender Organisationseinheiten über ihr bisher definiertes Profil ausgeweitet wird.62 Hinzu kommt, dass im Haushaltsplan die Verwendung von KV-Mitteln für die Gründung der Dienstleistungsgesellschaft festgesetzt werden muss, und dazu ist nur die Vertreterversammlung befugt (§ 79 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB V). Danach ist ein (vom Haushaltsplan gedeckter) Beschluss der Vertreterversammlung notwendige Voraussetzung für die Gründung einer Dienstleistungsgesellschaft. Der Beschluss ist allerdings nicht auch hinreichende Vorausset___________ 60

Bundesregierung, BT-Drucks. 16/4020, S. 4. Bundesregierung, BT-Drucks. 16/4020, S. 4. 62 S. beispielhaft die Kompetenz des KV-Vorstands – nur – für die Organisationsentwicklung (§ 7 Nr. 8 S. 4 Satzung der KV Nordrhein, www.kvno.de), nicht für die Organisationserweiterung. Andererseits ist die Vertreterversammlung zuständig u.a. für die Errichtung neuer Verwaltungsstellen sowie die Beschlussfassung über die Organisationsordnung der KV (§ 6 Nr. 9 Buchst. e KV-Satzung Nordrhein). Da die Kompetenzen der Vertreterversammlung nicht abschließend aufgelistet sind (vgl. § 79 Abs. 3 SGB V und exemplarisch § 6 Nr. 9 KV-Satzung Nordrhein), wird man im Wege des Ähnlichkeitsvergleichs der organisatorischen Entscheidung, eine Dienstleistungsgesellschaft zu errichten, eine vergleichbare Bedeutung zumessen müssen. 61

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zung der Gründung, weil im Außenverhältnis grundsätzlich nur der Vorstand alleinvertretungsbefugt ist (§ 79 Abs. 5 S. 1 Halbs. 1 SGB V); denkbare Ausnahmen (§ 79 Abs. 5 S. 1 Halbs. 2 SGB V) bestehen bezüglich der Gründung einer Dienstleistungsgesellschaft, soweit ersichtlich auch in den KV-Satzungen, nicht. Demnach muss der Vorstand63 den Gründungsbeschluss der Vertreterversammlung vollziehen (z.B. eine registerrechtliche Eintragung veranlassen). Eine auf einen rechtsfehlerhaften Gründungsbeschluss gestützte Gründung ist GKV-rechtlich rechtswidrig und muss, ggf. nach Intervention der Rechtsaufsicht,64 entweder die Abwicklung der Dienstleistungsgesellschaft oder deren (Neu-)Gründung durch einen korrekten Gründungsbeschluss der Vertreterversammlung zur Folge haben.

3. Mitgliederbezogenheit der Aufgaben der Dienstleistungsgesellschaft Die Aufgaben der Dienstleistungsgesellschaft betreffen betriebswirtschaftlich relevante Aspekte der Unternehmen von „vertragsärztlichen Leistungserbringern“ (§ 77a Abs. 2 SGB V), womit in erster Linie alle niedergelassenen Vertragsärzte gemeint sind.65 Allerdings ist der Wortlaut vom Gesetzgeber mit Bedacht gewählt worden: die Dienstleistungsgesellschaft will für „alle“66 vertragsärztlichen Leistungserbringer Ansprechpartner sein, „z.B. auch für ein medizinisches Versorgungszentrum“67. Das ist plausibel, weil z.B. auch die in einem Medizinischen Versorgungszentrum tätigen angestellten Ärzte Mitglieder der jeweils zuständigen KV sind (§ 77 Abs. 3 S. 1 SGB V). Insofern könnte man „vertragsärztliche Leistungserbringer“ als Synonym für alle KV-Mitglieder im Sinne des § 77 Abs. 3 S. 1 SGB V begreifen, zu denen auch die angestellten Ärzte nach § 95 Abs. 9 und 9a SGB V und die ermächtigten Krankenhausärzte (§ 116 SGB V) gehören. Allerdings spricht § 77a Abs. 2 SGB V nicht von „Mitgliedern“, sondern von „vertragsärztlichen Leistungserbringern“, so dass zu erwägen ist, ob damit jeder Leistungserbringer gemeint ist – und zwar unabhängig von seiner Mitgliedschaft in einer KV –, der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt. Zu denken ist an ermächtigte ärztliche Einrichtungen (§ 95 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 SGB V i.V.m. §§ 117 – 119 SGB V) sowie an die Einbindung von Krankenhäusern in die ambulante ärztliche Versorgung

___________ 63

Oder ggf. einzelne dazu ermächtigte Mitglieder des Vorstands (§ 79 Abs. 5 S. 2 SGB V). 64 § 78 Abs. 1, Abs. 3 S. 2 SGB V i.V.m. §§ 88, 89 SGB IV. 65 BT-Drucks. 16/3100, S. 117, wo die „Vertragsärzte“ ausdrücklich erwähnt sind. 66 BT-Drucks. 16/3100, S. 117. 67 BT-Drucks. 16/3100, S. 117.

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(s. insb. die Ermächtigung des Krankenhauses zur ambulanten Behandlung bei Unterversorgung, § 116a SGB V). Das Aufgabenspektrum und damit die Befugnis der K(B)V zur aufgabenakzessorischen Gründung und zum aufgabenakzessorischen Betreiben einer Dienstleistungsgesellschaft hängen vom Charakter der KV als eines mitgliedschaftlich organisierten Verbandes ab. Dessen Aufgaben beziehen sich auf die Mitglieder,68 die vom Gesetz auch zusammenfassend „Vertragsärzte“ (§ 77 Abs. 1 S. 1 SGB V) genannt werden. Die Beratung von Nicht-Mitgliedern liegt außerhalb der grundlegenden Zielsetzung der KV als eines mitgliedernützigen Verbands. Dagegen könnte man freilich auf die Regelung des Kostenersatzes verweisen, wonach ein beratenes Nicht-KV-Mitglied die ihm zuteil werdende Leistung vergüten muss (§ 77a Abs. 3 S. 1 SGB V). Damit wäre das Nicht-Mitglied aber nicht schlechter oder besser gestellt als ein KV-Mitglied, das die Beratungsleistungen ebenfalls vergüten muss. Will man die Mitgliederzentriertheit der KV auch dann wahren, wenn die KV vermittels der Dienstleistungsgesellschaft handelt, die sie zur Gänze beherrscht (die also eine sog. publizistische Privatrechtsgesellschaft ist)69, dann muss das Aufgabenspektrum im Lichte des § 77 Abs. 3 S. 1 SGB V auf die Mitglieder beschränkt sein, die demnach die vertragsärztlichen Leistungserbringer sind, die § 77a Abs. 2 SGB V vor Augen hat.

4. Grenzen des Aufgabenspektrums, insb. Rechtsschutz Überschreitet die Dienstleistungsgesellschaft ihre Aufgaben, dann ist (von Interventionen der Rechtsaufsicht abgesehen) die KV als Gründungskörperschaft der Dienstleistungsgesellschaft in der Pflicht. Zum einen kann die KV, insbesondere durch ihre Vertreterversammlung, im Rahmen der von SGB V und KV-Satzungsrecht vorgesehenen Wege darauf dringen, dass die Gesellschaft ihr aufgabeninkongruentes Verhalten abstelle. Die Rechtsbindung der K(B)V als Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 20 Abs. 3 GG) erstreckt sich auf eine Pflicht zur Gewährleistung der effektiven Rechtsbindung privatrechtlicher Ausgründungen.70 Deshalb müssen die Vertreter der KV auch, zum ___________ 68

Zur Mitgliedschaft Schiller, in: Schnapp/Wigge (Fußn. 4), § 5/A Rn. 57 ff. Allg. hierzu Ebsen, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 7 Rn. 41 ff., sowie Ruland, NZS 2007, 337 (340), jeweils im Anschluss an Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 9; s. auch Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 33 f.; außerdem (am Beispiel des IQWiG) Rixen, MedR 2008, 24 (26). 70 Hierzu – unter dem Aspekt, die ultra-vires-Lehre auf privatrechtlich organisierte Unternehmen öffentlich-rechtlicher Körperschaften (konkret: von Kommunen) zu erstrecken – Morlin, NVwZ 2007, 1159 (1161 f.). 69

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anderen, unmittelbar im Rahmen der Gesellschaft selbst, also auf gesellschaftsrechtlichem Wege, darauf dringen, dass die öffentlich-rechtlichen Grenzen des Aufgabenspektrums der Dienstleistungsgesellschaft eingehalten werden. Aufgabenüberschreitungen können z.B. darin liegen, dass Nicht-Mitglieder beraten werden (dazu oben sub 3.) oder in DV-Fragen nicht nur beraten (§ 77a Abs. 2 Nr. 2 SGB V), sondern Software-Programme oder Rechenzentrumsdienste entwickelt, d. h. Aufgaben erfüllt werden, die der Gesetzgeber den Dienstleistungsgesellschaften „aus ordnungspolitischen Gründen“ bzw. zur Vermeidung von „Wettbewerbsnachteilen für andere Marktteilnehmer“ nicht zugeordnet hat.71 Gerichtlicher Rechtsschutz gegen aufgabeninkongruente Tätigkeiten der Dienstleistungsgesellschaft besteht für das Mitglied gegenüber der KV, wobei sich der gegen die KV gerichtete öffentlich-rechtliche (sozialrechtliche) Anspruch auf Unterlassung aufgabenfremder Tätigkeiten (angesichts der Einschaltung einer privatrechtlich vollständig beherrschten KV-Tochter) in einen gegen die KV gerichteten Einwirkungsanspruch zulasten der Dienstleistungsgesellschaft transformieren kann.72 Wettbewerber von aufgabeninkongruent tätigen Dienstleistungsgesellschaften können auf wettbewerbsrechtlichem Wege eine Unterlassung erzwingen, denn man wird § 77a Abs. 2 SGB V, schon angesichts der ordnungspolitischen Intentionen des Gesetzgebers, als Marktverhaltensnorm im Sinne des § 4 Nr. 11 UWG qualifizieren müssen.73

___________ 71

Beide Zitate – gegen anderslautende (und nicht Gesetz gewordene) Vorschläge des Bundesrates (BT-Drucks. 16/3950, S. 18) – Bundesregierung, BT-Drucks. 16/4020, S. 4. 72 Zum Unterlassungsanspruch allg. etwa LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 24. 7. 2001 – L 5 KA 5097/00 ER-B –, MedR 2002, 212; LSG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 26. 6. 2000 – L 6 B 61/00 KA ER –, Breith 2000, 995; außerdem Kluth, in: Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 3, 5. Aufl. 2004, § 87 Rn. 63, § 98 Rn. 11 ff. m.w.N. Zum Einwirkungsanspruch s. als Anhaltspunkt die Rspr. zum Einwirkungsbzw. Verschaffungsanspruch bei privatrechtlich organisierten kommunalen öffentlichen Einrichtungen, dazu etwa Sodan, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, Kommentar, 2. Aufl. 2006, § 40 Rn. 346; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 15. Aufl. 2007, § 40 Rn. 16 – jew. m.w.N. 73 Näher zu den Kriterien für eine Marktverhaltensnorm Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, 26. Aufl. 2008, § 4 Rn. 11.33 ff.

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IV. Die Rechtsfähigkeit des G-BA: Rechte und Pflichten einer juristischen Person des öffentlichen Rechts sui generis Der Gesetzgeber hat grundsätzlich74 einen breiten Spielraum dahingehend, rechtsfähige Verbände zu konstituieren, und zwar differenziert nach dem Organisationsgrad und dem Ausmaß der Rechtsfähigkeit, also der Fähigkeit, Zurechnungsendsubjekt von Rechten und Pflichten zu sein. Das geltende (Verfassungs-)Recht kennt keinen numerus clausus der Organisationsformen, ebensowenig wie es einen numerus clausus der Normsetzungsformen gibt.75 In den weiten Grenzen, die die Verfassung zieht, besteht vielmehr ein Organisationserfindungsrecht des zuständigen Normgebers,76 m.a.W. eine organisationsbezogene „Dispositionsfreiheit des Rechtsetzers“77 (Friedrich E. Schnapp). Der Gesetzgeber kann sich dabei an den traditionellen Typen des Verwaltungsorganisationsrechts orientieren (Körperschaft, Anstalt, Stiftung), er muss dies aber nicht tun, sondern kann von diesem idealtypischen Schema abweichen, Konstruktionselemente variieren, kombinieren und fortbilden oder auch ganz neuartige Organisationen schaffen, die mit den traditionellen Vorstellungsbildern von einer Körperschaft, Anstalt oder Stiftung nur noch wenig gemein haben. Es steht ihm mithin frei, „gleichsam einer Mischform aus bekannten Rechtsformen oder aber auch einer völligen Neukreation Gestalt zu geben“78. Bildhaft gesprochen: Körperschaft, Anstalt und Stiftung sind weite Gewänder, die gleichsam einem dynamischen, auf Variation, Modifikation und Fortbildung angelegten Schnittmuster folgen, also nicht auf herkömmlich bekannte Organisationsmoden fixiert sind. Friedrich E. Schnapp spricht dementsprechend vom „Sammelbegriff der juristischen Person“79, hinter dem sich je ___________ 74

Ausnahme sind die Vorgaben für die Organisationsform sozialer Versicherungsträger gem. Art. 87 Abs. 2 GG und die Kommunen im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG; zum Folgenden auch Rixen, VSSR 2004, 241 (260 ff.). 75 Schnapp, AöR 128 (2003), 488 (490) unter Verweis insb. auf Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000; s. auch BVerfG, Beschl. v. 2. 3. 1999 – 2 BvF 1/94 –, BVerfGE 100, 249 (258) = NVwZ 1999, 977: „Das Grundgesetz stellt der vollziehenden Gewalt weder einen abschließenden Katalog bestimmter Handlungsformen zur Verfügung noch werden ausdrücklich erwähnte Handlungsformen inhaltlich im einzelnen definiert.“ 76 Hierzu Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 72: der Staat kann „für einzelne Zwekke (…) nach Belieben neue, spezifische Gestaltungsformen erfinden“, insb. eine jenseits der bislang üblichen Formen angesiedelte „öffentlich-rechtliche Entität neuen Typs“. 77 Schnapp, RTh, Beih. 5 (1984), 381 (384) – zur Relativität der Rechtsbegriffe. Damit steht es dem Normgeber allerdings auch frei, der von ihm geschaffenen Organisation bspw. kein Aufgabenerfindungsrecht zu gewähren, so (für die Sozialversicherungsträger unter Verweis auf § 30 SGB IV) Schnapp, VSSR 2006, 191 (194). 78 Mann (Fußn. 57), S. 340. 79 Formulierung bei Schnapp (Fußn. 1), S. 106.

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nach positivrechtlicher Ausgestaltung ganz Eigenes und Neues verbergen bzw. „versammeln“ kann. Ein jüngeres Beispiel dafür aus dem Bereich der GKV ist der sog. Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der gem. § 91 SGB V i.d.F. des GKV-Modernisierungsgesetzes mit Wirkung vom 1. Januar 2004 an die Stelle der früheren Bundesausschüsse der (Zahn-)Ärzte bzw. Psychotherapeuten80 und Krankenkassen getreten ist und auch Rechtsnachfolger der früheren Ausschüsse nach § 137c (Ausschuss Krankenhaus) und § 137e SGB V (Koordinierungsausschuss) geworden ist (Art. 35 § 6 Abs. 1 S. 2 GMG).81 Während der Rechtsstatus der Bundesausschüsse umstritten war, woran auch der zweifelhafte Versuch des BSG nichts änderte, die früheren Bundesausschüsse als teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts zu qualifizieren,82 hat der Gesetzgeber des GMG von einer Einordnung in die traditionellen Organisationstypen Körperschaft, Anstalt und Stiftung abgesehen und stattdessen nur die Rechtsfähigkeit des Gemeinsamen Bundesausschusses ausgesprochen (§ 91 Abs. 1 S. 2 SGB V i.d.F. GMG: „Der Gemeinsame Bundesausschuss ist rechtsfähig.“)83. Der Gemeinsame Bundesrechtsausschuss ist danach „rechtsfähig als Einrichtung sui generis“84. Angesichts der Einbindung in ein spezifisch öffentlich-rechtliches Geflecht von Normen liegt es weiter nahe, den G-BA als öffentlich-rechtliche Organisation zu qualifizieren.85 Die Geschäftsordnung des G-BA fasst die gesetzlich vorgezeichnete Rechtslage treffend zusammen, wenn sie den G-BA als „juristische Person des öffentlichen Rechts“ definiert.86 Damit ist die Rechtsform nor___________ 80 Dazu § 91 Abs. 2a S. 1 SGB V a.F., nunmehr § 91 Abs. 5 S. 2 SGB V i.d.F. des GMG v. 14. 11. 2003, BGBl. I S. 2190 (2211). 81 GMG v. 14. 11. 2003, BGBl. I S. 2190 (2210 f.); s. auch BT-Drucks. 15/1525, S. 70. 82 BSG, Urt. v. 20. 3. 1996 – 6 RKa 62/94 –, BSGE 78, 70 (80 f.) = MedR 1997, 123; krit. Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, 2001, S. 334 ff., 389 ff. 83 BT-Drucks. 15/1525, S. 24, S. 106 (Begr.), s. auch die Überleitungsbestimmung des Art. 35 § 6, BT-Drucks. 15/1525, S. 70, S. 168 f. (Begr.). – Die Begr. geht nicht auf das Problem ein, dass der Gesetzgeber auf eine Zuordnung zu den traditionellen Organisationstypen verzichtet. 84 So zu Recht der frühere Hauptgeschäftsführer der KBV und spätere Vorsitzende des G-BA Hess in der öffentlichen Anhörung zum GMG, Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung des Deutschen Bundestages, Ausschuss-Prot. 15/36 v. 22. 9. 2003, S. 30; s. auch Hess, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherung, § 91 SGB V Rn. 7 (Stand der Kommentierung: 55. Lfg. 2007): „rechtsfähige öffentlichrechtliche Einrichtung sui generis“. 85 Seeringer, Der Gemeinsame Bundesausschuss nach dem SGB V, 2006, S. 57. 86 § 1 Abs. 2 Geschäftsordnung des G-BA v. 13. 1. 2004 (BAnz. S. 7246), zuletzt geändert am 18. 4. 2006 (BAnz. S. 5361), abrufbar unter www.g-ba.de.

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mativ, wenn auch nicht schon parlamentsgesetzlich eindeutig,87 sachlich korrekt festgelegt, und Untersuchungen dazu, ob der G-BA eher einer Körperschaft oder einer Anstalt und keiner Stiftung ähnelt,88 haben allenfalls systemästhetische Bedeutung, ohne positivrechtlich relevant zu sein.89 Die Rechtsfähigkeit des Gemeinsamen Bundesausschusses, die in der Rede von der „juristischen Person“ dem Grunde nach angelegt ist, erschließt sich sodann im Detail aus der Analyse der einzelnen ihn berechtigenden und verpflichtenden Rechtssätze, wobei immer auch zu prüfen ist, ob bzw. inwieweit der jeweilige Rechtssatz, der öffentlich-rechtlich berechtigt bzw. verpflichtet, zugleich die Kompetenz mitgewährt, im Vollzug der öffentlich-rechtlichen Rechts- oder Pflichtenstellung privatrechtlich zu handeln.90

V. Friedrich E. Schnapp als „Publizist des Sozialrechts“ – Resümee Der exemplarische Blick auf einige aktuelle Fragestellungen des GKVRechts, die sich anhand des Topos der Rechtsfähigkeit thematisieren lassen, zeigt, dass es sich lohnt, Grundbegriffe des (öffentlichen) Rechts in dichter Nähe zum Bundesgesetzblatt durch Normtextauslegung zu lösen und nicht in gesetzestextferner Meditation begriffsjuristischer Idiosynkrasien. Ganz im Sinne der Aufhellung der Struktur der Rechtsfähigkeit, die Friedrich E. Schnapp vorgelegt hat, bestätigt sich dann die Einsicht, dass die Rede von „der“ Rechtsfähigkeit nur eine façon de parler ist, die die Gesamtheit der einer Organisationseinheit rechtssatzmäßig zugeordneten Rechte und Pflichten bezeichnet. „Die“ sich von selbst verstehende Rechtsfähigkeit einer juristischen Person gibt es im positiven Recht nicht.91 ___________ 87

Tendenziell anders Seeringer (Fußn. 85), S. 56. Seeringer (Fußn. 85), S. 57 ff., 73f.; s. auch Hess (Fußn. 84), § 91 SGB V Rn. 5 f. 89 Rixen (Fußn. 7), S. 346 f.; so i. Erg. auch Seeringer (Fußn. 85), S. 75: „Eine klare Antwort (…) erscheint (…) nicht erforderlich.“ Außerdem ebd. S. 74: „der Gemeinsame Bundesausschuss (…) (muss) nicht zwingend einer rechtlichen Form zugeordnet werden“. Richtig wäre: Der G-BA muss nicht zwingend einem dogmatischen Begriff zugeordnet werden, der Objekt, nicht Maßstab positiv-rechtlicher (Organisations-)Formgebung ist. 90 Vgl. Rixen, VSSR 2004, 241 (265). 91 Schnapp (Fußn. 1), S. 80, weist zu Recht darauf hin, dass die gegenteilige Auffassung einer „anthropomorphen Betrachtungsweise“ geschuldet ist, die den Menschen als vollrechtsfähig modelliert und die juristische Person zum Abbild dieser Vollrechtsfähigkeit macht. Im offenbar suggestiven Überschwang dieser Betrachtungsweise wird geflissentlich übersehen, dass auch der Mensch – ungeachtet seiner grund- bzw. menschenrechtlichen Anerkennung als Rechtsperson (dazu Rixen, in Heselhaus/Nowak [Hrsg.], Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 9 Rn. 9 f. [S. 346 f.]) – durchaus nicht in jeder Hinsicht rechtsfähig ist (s. Rixen, VSSR 2004, 241 [263 f.]). 88

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Das Sozialrecht mag ein „verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Spätentwickler“92 gewesen sein, doch dieser Entwicklungsverlangsamung ist Friedrich E. Schnapp auch und gerade im Bereich des Organisationsrechts mit der nötigen dogmatischen Beschleunigung hartnäckig begegnet. Man staunt, wie langlebig nicht zuletzt die Irrtümer im Umgang mit „der“ Rechtsfähigkeit sind,93 aber bekanntlich ist der Wahrheit nichts schädlicher als ein alter Irrtum.94 Für Friedrich E. Schnapp ist das aristotelische thaumazein, das Staunen, wohl auch das Staunen über hartnäckige Irrtümer, ein wichtiger Antrieb für die wissenschaftliche Denkarbeit.95 Dies, gepaart mit Wissbegierde,96 lässt ihn das Organisationsrecht in der Fülle seiner Einzelprobleme und Grundfragen so entdecken, dass, vermittelt durch das Sozialrecht, ihm und dem Publikum verlässlich das Ganze des öffentlichen Rechts in den Blick gerät. Er agiert sozusagen als Publizist des Sozialrechts,97 der das gesamte Sozialrecht als einzigen großen Anwendungsfall des öffentlichen Rechts begreift und damit die Sicherung der Öffentlichrechtlichkeit des Sozialrechts als Daueraufgabe dogmatischen Nachdenkens ins Bewusstsein hebt. Ihm, der in Anlehnung an einen Satz Friedrich des Großen betont, er liebe die Jurisprudenz und bemühe sich, gelehrt zu werden, sei aber nicht so dünkelhaft und verblendet, sich für einen Gelehrten zu halten,98 sei deshalb, anlässlich seines 70. Geburtstages, Dank gesagt für die Gelehrtheit, die seine aus der Fülle des Konkreten lebenden Ausführungen zum Organisationsrecht zu wirklicher iurisprudentia machen, zur Rechtsklugheit, die den Tag überdauert. ___________ 92

Schnapp, MedR 1996, 418 (418), der hier die Formulierung seines akademischen Lehrers Wertenbruch, DÖV 1969, 593 (593) übernimmt, der seinerseits die Formulierung „verfassungsrechtlicher Spätentwickler“ von Haug, NJW 1966, 379 (379) übernommen hatte. 93 Wenn mit Blick auf das privatrechtliche Gesellschaftsrecht von „Grundlagenungewissheit“ (Beuthien, NJW 2005, 855 [855]) die Rede ist, so kann man für die öffentlich-rechtliche Debatte zur Rechtsfähigkeit von einer „Grundlagenvergessenheit“ sprechen. 94 Vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1821), Reclam-Ausg. 1982/1989, S. 512 („Aus Makariens Archiv“): „Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum.“ Neu ist die hier interessierende Wahrheit freilich nur für jene, die dem alten Irrtum verhaftet bleiben. 95 Schnapp (Fußn. 13), S. 108. 96 Schnapp (Fußn. 13), S. 108. 97 Wobei „Publizist“ hier die überkommene, heute nicht mehr ganz so übliche, aber umso ehrwürdigere Bezeichnung für einen im öffentlichen Recht (ius publicum) bzw. der Dogmatik des öffentlichen Rechts (Publizistik) bewanderten Rechtswissenschaftler meint. Friedrich E. Schnapp fügt sich damit in die Reihe der Protagonisten ein, die für das Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin prägend sind, vgl. (für die Gründungsphase seit Heinrich Rosin bis zur Weimarer Zeit) Mikesiþ, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin, 2002, S. 40 ff. 98 Schnapp (Fußn. 13), S. 108.

Berufsrechtliche Restriktionen fachärztlicher Tätigkeit durch Bürgerliches Recht? Von Otfried Seewald, Passau

I. Einführung Dass zwischen den Facharztgruppen nicht nur Friede und Harmonie herrscht, ist kein Geheimnis. Ärztliche Tätigkeit dient in der Regel auch dem Lebensunterhalt; und diese ökonomische Orientierung der Berufstätigkeit führt mit einer gewissen Folgerichtigkeit zu Wettbewerb in einem medizinischen Versorgungssystem, in dem die ärztliche Inanspruchnahme nicht durch ein regional, institutionell und personell im Einzelnen vorgegebenes System festgelegt ist.

1. Freiheit und Regulierung im Gesundheitswesen Im Medizinbereich, auch soweit er durch die gesetzliche Krankenversicherung beeinflusst wird, sind – trotz vergleichbarer Zielsetzungen – die staatlichen Vorgaben typischerweise anders als beispielsweise im Schulwesen: Hier verfolgt der Staat seit langem das Ziel einer allgemeinen Schulbildung; dieses Ziel wird durch eine Kombination von staatlichen Maßnahmen erreicht: Erstens – eine Vielzahl von Einrichtungen1 werden geschaffen und zur „Benutzung“ vorgehalten; zweitens – der Besuch dieser Anstalten ist nicht freiwillig, sondern verpflichtend.2 Und dies alles ist derart durchorganisiert, dass z.B. für einen Schüler der Grundschule aus einem bestimmten Stadtteil bestimmt ist, welcher Lehrer ihn im 3. Schuljahr im Fach Musik unterrichtet und in welchem Umfang, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort dieser Unterricht stattfindet. Drittens – die Finanzierung der Bildungsmaßnahmen wird durch Steuereinnahmen bewerkstelligt, so dass der durch das Steuerrecht bewirkte Zugriff auf das Vermögen entsprechend dem in diesem Gebiet traditionell geltenden ___________ 1 2

Insbesondere Grund-, Haupt-, Real-, Berufs-, Fachoberschulen, Gymnasien. Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, vgl. z. B. Art. 35 ff. BayEUG.

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Grundsatz der so genannten Leistungsfähigkeit3 im Endeffekt für den einzelnen Schulbesucher bzw. dessen Financier4 einen Umverteilungseffekt erzeugt, der bildungspolitisch erwünscht ist und sicherlich als „sozial“ bewertet werden kann. Im Gesundheitswesen ist die staatliche Zielsetzung – wie bereits angedeutet – nicht unähnlich: Es soll im Prinzip jedem Bürger eine Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen, deren Inanspruchnahme traditionell und in erster Linie bei Krankheit vorgesehen ist.5 Ein Zwang, z. B. einen Arzt im Fall einer Krankheit aufzusuchen, besteht nicht entsprechend der Vorstellung einer allgemeinen Kurierfreiheit im Sinn eines „Rechts auf Krankheit“;6 die speziellen seuchenrechtlichen Regelungen für bestimmte Berufs- und Fallgruppen sollen an dieser Stelle außer Betracht bleiben.7 Allerdings finanziert der Staat auch im Wesentlichen nicht die Selbsthilfe des Kranken;8 und die Erfüllung des Anspruchs auf Hilfe bei Krankheit erfordert notwendigerweise die Mitwirkung des Kranken, was im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung rechtskonstruktiv durch diesbezügliche Obliegenheiten normiert ist.9 Welchen Arzt ein Patient aufsucht, steht weitgehend in seinem Belieben. Bei näherer Betrachtung zeigen sich freilich gewisse Einschränkungen: Während der Privatpatient diesbezüglich die volle rechtliche Freiheit hat, ist der Kassenpatient auf die Vertragsärzte10 beschränkt, zwischen denen er jedoch die „Freie Arztwahl‘“ hat;11 auch die Teilnahme an der „hausarztzentrierten Versorgung“ und die damit bewirkte Einschränkung ist freiwillig;12 Gleiches gilt für die Teilnahme von Versicherten an „strukturierten Behand___________ 3

Vgl. für alle Tipke/Lang, Steuerrecht, 18. Aufl. 2005, § 4 Rdnr. 16 ff., 81 ff. In der Regel die Eltern; zu deren Verpflichtung, für den ordnungsgemäßen Schulbesuch Sorge zu tragen, vgl. z. B. Art. 34 Abs. 4, Art. 64 ff., 74 ff. BayEUG. 5 Deshalb die zutreffende Bezeichnung als Krankenversicherung, auch wenn öffentlich-rechtliche „Gesundheitskassen“ diese Aufgabe wahrnehmen. 6 Die verfassungsrechtliche Grundlage dürfte diesbezüglich Art. 2 Abs. 1 sowie Abs. 2 S. 1 GG sein. 7 Vgl. Seewald, Lexikon der Bioethik (Hrsg. Korff/Beck/Mikat): Seuchenbekämpfung, rechtliche, sowie das (Bundes-)Infektionsschutzgesetz vom 20.7.2000, BGBl. I, S. 1045, das die bisherigen Regelungen des BSeuchenG sowie des GeschlechtskrankheitenG abgelöst hat. 8 Als diesbezügliche System-Ausnahme kann § 20c SGB V betrachtet werden, der allerdings nur mittelbar-individuell wirkt. 9 Dazu Seewald, Kass-Komm §§ 60 – 66 SGB I. 10 S. §§ 73 ff. SGB V; vormals: Kassenärzte; dieser Begriff findet sich noch in deren Institutionen, den Kassenärztlichen Vereinigungen, sowie der Bundeskassenärztlichen Vereinigung, vgl. §§ 77 – 81a SGB V. 11 § 76 SGB V. 12 § 73b Abs. 3 S. 1 SGB V. 4

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lungsprogrammen bei chronischen Krankheiten“13 sowie an der „Integrierten Versorgung“.14 Der aus dem Beitragsaufkommen für die ambulante ärztliche Versorgung „reservierte“ Anteil an Vergütung15 erreicht den einzelnen Arzt somit auch aufgrund von Entscheidungen „seiner“ Patienten;16 somit ist es verständlich, dass die Konkurrenzsituation insbesondere auch zwischen den ambulant tätigen Vertragsärzten nicht nur eine Frage des täglichen operativen „Geschäfts“ ist, sondern dass die diesbezüglichen gruppenspezifischen Interessen auch in der Rechtsordnung ihren Niederschlag gefunden haben.

2. Ärztliches Berufsrecht. Neuordnung im Weiterbildungsrecht Damit ist das Berufsrecht der Ärzte angesprochen, das kompetenzrechtlich auf landesrechtlicher Grundlage,17 tatsächlich jedoch aufgrund entsprechender Abmachungen auf Bundesebene im Wesentlichen bundeseinheitlich gilt. Das hierzu gehörende Recht der ärztlichen Weiterbildung wird durch Satzungen der Landes-Ärztekammern ausgestaltet.18 Diese ärztliche Weiterbildung führt zunächst zum Facharzt; darauf aufbauend ist eine Spezialisierung in einem „Schwerpunkt“ möglich; weiterhin ist eine „Zusatz-Weiterbildung“ möglich, die zusätzlich zu der Facharztweiterbildung und (allerdings nicht stets) auch zur Schwerpunktweiterbildung abzuleisten ist.19

___________ 13

S. § 137 f., insb. Abs. 3 S. 1 SGB V. § 140a, insb. Abs. 2 S. 1 SGB V. 15 Im Jahr 2006 entfielen von den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung auf diesen Bereich ca. 15,1 %, nominal ca. 22,2 Mrd. €; Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (vorläufige Rechnungsergebnisse). 16 Das bekannte Problem der „angebotsinduzierten Nachfrage“ soll an dieser Stelle gedanklich ausgeklammert bleiben. 17 Die Zuständigkeit des Bundes ist gem. Art. 74 Abs. 1 S. 1 Nr. 19 GG auf die Zulassung zum (allgemeinen) ärztlichen Beruf beschränkt. 18 Dazu wird im jeweiligen „Kammer-Gesetz“ ermächtigt, vgl. z. B. Art. 20, 35, 45 (Bay) Heilberufe-Kammergesetz (HKaG). 19 So das geltende Weiterbildungssystem entsprechend der (Muster-)Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer (der „Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Ärztekammern“), die vom 106. Deutschen Ärztetag im Jahr 2003 beschlossen worden ist und inzwischen von allen (Landes-)Ärztekammern im Wesentlichen inhaltsgleich umgesetzt worden ist, s. www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=1.128.129.3798 &all=true; im Folgenden Muster-WBO 2003. 14

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Die berufsrechtlichen Konsequenzen für einen Facharzt bestehen in Folgendem: Macht dieser Arzt von der diesbezüglichen Anerkennung20 Gebrauch, so ist er bei der Ausübung der fachärztlichen Tätigkeit grundsätzlich auf dieses Gebiet beschränkt;21 das bedeutet, dass er grundsätzlich ärztliche Tätigkeiten, die er fachlich und persönlich durchaus einwandfrei-qualitätsvoll beherrscht, gleichwohl nicht vornehmen darf, wenn diese Verrichtungen definitiv nicht in sein Gebiet, sondern in ein anderes fachärztliches Gebiet fallen. Ein solches berufsrechtliches Verbot „gebietsfremder“ Tätigkeit dient generell sowohl der „Sicherung der Qualität der ärztlichen Berufsausübung“22 als auch der ökonomischen Sicherung der Angehörigen der jeweiligen Facharztgruppe;23 im Einzelfall ist diese Grenzziehung u. U. nicht berechtigt und hat zu entsprechenden (Rechts-)Streitigkeiten geführt. Die diesbezüglichen Entscheidungen vor allem der Sozialgerichte sind insoweit zumindest rechtstechnisch sicher, als z. B. Kinderärzte keine erwachsenen Patienten und Frauenärzte keine Männer behandeln dürfen.24 Als problematischer wurde die Frage gesehen, ob bestimmte Fachärzte der in ihrem Rechtsgebiet selbstverständlich enthaltenen Pflicht und Befugnis zur Diagnose deshalb und dann nicht nachkommen dürfen, weil hierzu ein Gerät verwendet wird, dessen Bedienung einer anderen Facharztgruppe gebietlich zugeordnet und deshalb im Prinzip exklusiv vorbehalten ist. Vor allem zwischen Orthopäden und Radiologen schwelt dieser Konflikt und ist wiederholt Gegenstand (höchst-)richterlicher Entscheidungen gewesen.25 Aus Sicht der Radiologen sind Orthopäden nicht zur Diagnostik mit Geräten befugt, „deren Wirkungsweise“ (weil auf „radiologischer“ Technik basierend) den Radiologie-Fachärzten vorbehalten ist. Aus Sicht der Orthopäden konnte dagegen eingewendet werden, dass viele Orthopäden mit der radiologisch fundierten Diagnostik in Bezug auf ihr orthopädisch-gegenständlich beschriebenes Gebiet26 in gleicher Weise vertraut sind wie Radiologen; zusätzlich kann in ___________ 20

Vgl. §§ 12 – 16 Muster-WBO 2003. § 2 Abs. 2 S. 2 Muster-WBO 2003. 22 So § 1 S. 2 Muster-WBO 2003. 23 Das BVerfG hat auch diesen Gesichtspunkt als Rechtfertigungsgrund für die mit den fachärztlichen Gebietsgrenzen bewirkte Beeinträchtigung der Berufsfreiheit anerkannt, so bereits in BVerfGE 33, S. 125, 167; bestätigt in BVerfG SozR 4-2500 § 135 Nr. 2. 24 Eingehend BSG SozR 3-2500 § 95 Nr. 9 S. 34 ff. 25 Vgl. BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 16; BVerfG SozR 4-2500 § 135 Nr. 2 sowie unlängst auch LG Mannheim NJW-RR 2007, S. 1426. 26 Stütz- und Bewegungsorgane, vgl. Muster-WBO 2003 Abschnitt B Nr. 6.5. 21

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jüngerer Zeit darauf verwiesen werden, dass mittlerweile kleinere Geräte mit deutlich geringerer Feldstärke27 zur Verfügung stehen, die sich in besonderem Maße für die orthopädische Diagnostik eignen. Die diesbezüglichen Streitfragen haben sich durch die Neuordnung des Weiterbildungsrechts zu einem großen Teil erledigt. Das ärztliche Weiterbildungsrecht ist dahingehend geändert worden, dass z. B. Orthopäden nunmehr keinen gerätespezifischen Beschränkungen bei ihrer im Übrigen selbstverständlich gebietsbezogenen und insoweit gebietsbeschränkenden Diagnostik unterliegen.28 Insbesondere ist seither für die Befugnis zur Vornahme diagnostischer Tätigkeiten keine (formale) „Kompetenz“ erforderlich, die nur nach Absolvierung einer „Zusatz-Weiterbildung“29 zuerkannt wird. Die bisherige Rechtsprechung, die bei der Frage nach der „Gebietsfremdheit“ im Zweifel auf das jeweils konkrete Ausbildungsprogramm der fachärztlichen Weiterbildung und die dabei vorgeschriebenen Tätigkeiten abgestellt hat, ist insoweit also nicht mehr maßgebend; denn „die in der Facharztkompetenz vorgeschriebenen Weiterbildungsinhalte beschränken nicht die Ausübung der fachärztlichen Tätigkeit im Gebiet“.30 Die (berufs-)politische Auseinandersetzung scheint damit gleichwohl nicht beendet zu sein. Nicht ausgeschlossen erscheint, dass dabei nach wie vor zwei Argumente ins Feld geführt werden, die auch in der bisherigen Diskussion vorgebracht worden sind und mit denen möglicherweise auch künftig die Befugnis z.B. von Orthopäden zur MRT-gestützten Diagnostik bestritten wird: In derartigen Konfliktfällen wurde aus der Sicht des Bürgerlichen Rechts § 134 BGB ins Feld geführt; und im Hinblick auf die privatärztliche Tätigkeit von Orthopäden31 wurde die Unzulässigkeit derartiger Diagnostik im Rahmen der privatärztlichen Tätigkeit mit Hinweis auf § 1 Abs. 2 S. 1 GOÄ behauptet. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit diesen Argumenten aus der Sicht des Bürgerlichen Rechts das neue (Berufs-)Weiterbildungsrechts entgegensteht.

___________ 27

Und entsprechend geringer Belastung für die Patienten. Vgl. dazu ausführlich Seewald, Auswirkungen des neuen Weiterbildungsrechts auf die Beurteilung der Fachfremdheit ärztlicher Leistungen, VSSR 2008 (im Druck). 29 Einschlägig wäre insoweit die Zusatz-Weiterbildung „Magnetresonanztomographie – fachgebunden –“, s. Muster-WBO 2003 Abschnitt C. 30 § 2 Abs. 2 S. 3 Muster-WBO 2003. 31 Z. B. LG Mannheim, a. a. O. (Fußn. 25). 28

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II. WBO als Verbotsgesetz 1. Vorbemerkungen Bei der Diskussion über die Befugnis von Orthopäden zur Vornahme von MRT-gestützten Diagnosen im Bereich der privatrechtlich geregelten ärztlichen Versorgung wird u. a. die Überlegung angestellt, dass ein Behandlungsvertrag dann nichtig sei, wenn ein Orthopäde darin eine Leistung vereinbare, die Gegenstand der Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – sei, ohne dass der betreffende Arzt diese Qualifikation in Form einer diesbezüglichen Anerkennung erlangt habe. Zunächst sei hierzu Folgendes bemerkt: Ein Vertrag zwischen Patient und Orthopäden wird sich regelmäßig nicht allein auf eine diagnostische Maßnahme beziehen; diese wird wohl stets im Rahmen eines komplexen Patientenvertrages ausdrücklich oder konkludent vereinbart, wenn der Orthopäde dies anbietet und der Patient auch insoweit zustimmt. Sollte eine Vereinbarung wirklich nichtig (wegen § 134 BGB) sein, weil der Orthopäde für diese Tätigkeit nicht zusätzlich formal „teilradiologisch“ qualifiziert ist, dann müsste der Patient die Unwirksamkeit geltend machen; damit wäre regelmäßig jedoch nur die Feststellung der Teilnichtigkeit des Vertrages zu erzielen.32 Der Patient müsste die Leistung des Arztes gleichwohl honorieren wegen des Anspruchs auf Zahlung des diesbezüglichen Honorars nach den zwingenden Regeln der „Geschäftsführung ohne Auftrag“.33 Gleiches gilt in den Fällen, in denen ein Behandlungsvertrag insgesamt nichtig ist. Somit gilt im Hinblick auf die wirtschaftlichen Aspekte im Zusammenhang mit einer solchen Behandlung: Der Aufwand des Orthopäden ist zu honorieren. Gleichwohl soll der in der Behauptung steckenden Rechtsfrage, in derartigen Fällen verstoße der Orthopäde gegen ein Verbotsgesetz, nachgegangen werden.

___________ 32

Vgl. § 139 BGB sowie Palandt-Heinrichs, § 139 Rdnr. 12 m.w.N. – zur Teilbarkeit von Leistungen. 33 Unter den Voraussetzungen des § 683 BGB, so z.B. Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 46 Rdnr. 19 m.w.N., sowie BGH (in std. Rspr.): auch bei Unwirksamkeit des Behandlungsvertrages Anspruch auf ein angemessenes Honorar für erbrachte Behandlungsleistungen aus §§ 683, 670 i.V.m. 1835 Abs. 3 BGB analog, vgl. Münchner-Kommentar-Seiler, § 683 Rdnr. 24 m.w.N.

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2. Problemstellung Ob die (Muster-)WBO ein „Verbotsgesetz“ ist oder in einzelnen Regelungen Merkmale eines „Verbotsgesetzes“ enthält und demnach die zuweilen behaupteten Rechtswirkungen auf Rechtsgeschäfte, also insbesondere auch auf Verträge entfaltet, hängt vom Wesen eines Verbotsgesetzes ab.

a) Verbot durch ein „Gesetz“ Der Begriff des Gesetzes i. S. d. § 134 BGB deckt sich mit dem des Art. 2 EGBGB34. Die Rechtsprechung hat berufsständische Satzungen als „Gesetz“ in diesem Sinn bewertet;35 im Schrifttum wird dies verschiedentlich bezweifelt, wobei eine überwiegende oder gar herrschende Meinung nicht auszumachen ist.36

b) Muster-WBO als „Verbots“gesetz Entscheidend ist, ob sich in der Muster-WBO Merkmale finden lassen, die für das „Verbots“gesetz i. S. d. § 134 BGB konstitutiv sind. Ein solches Gesetz muss drei Voraussetzungen erfüllen. Erstens – es muss Sachverhalte, also bestimmte Verhaltensweisen tatbestandlich erfassen; zweitens – es muss erkennbar sein, dass dieses Verhalten „verboten“ ist, wobei diese Rechtsfolge nicht unbedingt ausdrücklich ausgesprochen sein muss, sondern sich auch aus dem Zusammenhang des Gesetzes ergeben kann;37 drittens – einem solchen Verbot muss eine spezifische Wirkung dahingehend zuerkannt werden, dass bürgerlich-rechtliche Vereinbarungen, die mit diesem Verbot kollidieren, keine Wirksamkeit entfalten können. Diese Verbote und die zugehörigen Rechtsnormen müssen also keinesfalls solche des Bürgerlichen Rechts sein; ihre Wirkung erstreckt sich gleichwohl (auch) auf dieses Rechtsgebiet und wirkt als zwingendes Recht, das die Privatautonomie insoweit überlagert, man kann auch sagen: beseitigt. ___________ 34 Unstreitig, vgl. für alle: Taupitz, Berufsständische Satzungen als Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB, JZ 1994, S. 221. 35 BGH NJW 1992, S. 1159, 1160 – Berufsordnung einer Ärztekammer als Verbotsgesetze; ähnlich bereits BGHZ 97, S. 243, 250 = NJW 1986, S. 2361 – staatliche (im Verordnungsweg erlassene) Berufsordnung; BayObLG 00, 301/08. 36 Zahlreiche Nachweise bei Taupitz, a. a. O., S. 222 - 224, der die Eigenschaft von berufsständischen Satzungen als „Gesetze“ i. S. d. § 134 BGB mit guten Gründen bejaht. 37 BGHZ 51, S. 262.

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Diese Wirkung sei an einem Beispiel erläutert: Im Strafgesetzbuch (StGB) ist u. a. die Vorschrift enthalten, derzufolge im Falle eines Diebstahls38 der Dieb bestraft wird; auch der Versuch ist strafbar. Dies ist eine Vorschrift des Strafrechts, nicht des Bürgerlichen Rechts – und ausdrücklich sind Wirkungen dieser Norm auf privatrechtliche Geschäfte nicht normiert. Gleichwohl ist unstreitig, dass in dieser Regelung auch das Verbot enthalten ist, einen Diebstahl zu begehen. Und weiterhin besteht kein Zweifel daran, dass dieses Verbot die rechtsgeschäftliche Gestaltungs- und Verfügungsmacht von Vertragspartnern i. S. d. § 134 BGB „einschränkt“, die z. B. verabredet haben, gemeinsam und „arbeitsteilig“ Diebstähle zu begehen und die Beute nach einer ebenfalls vereinbarten Quote unter sich aufzuteilen. In diesem Fall wären im Übrigen beide Parteien dieses Rechtsgeschäftes von dem Verbot betroffen,39 da die Wirkung des § 242 StGB in diesem Fall beide Vertragsparteien betrifft.40 Ein in diesem Sinne einseitiges Verbot liegt z. B. auch dann vor und führt zur Nichtigkeit einer Vereinbarung, wenn die Abtretung von Honoraransprüchen auf einer der Schweigepflicht unterliegenden Tätigkeit beruht.41

3. Abgrenzung zum Recht der („verbotenen“) Leistungsstörungen Eine weitere Abgrenzung ist vorzunehmen. Es ist selbstverständlich, dass nicht jede Pflichtverletzung im rechtsgeschäftlichen Verkehr zur Nichtigkeit einer diesbezüglichen Vereinbarung führt. Das Bürgerliche Recht enthält zahlreiche Vorschriften, in denen vertragswidriges Verhalten42 oder sonstige Pflichtverletzungen, insbesondere die allgemeine „Pflichtverletzung“ des § 280 BGB, mit der die bisherigen Fälle der „positiven Vertragsverletzung“ und der zu vertretenden Unmöglichkeit abgelöst worden sind,43 zu spezifischen Rechtsfolgen führen. Auch die verschiedenen Fallgestaltungen der „Unmöglichkeit“ sind im Bürgerlichen Recht mit solchen Rechtsfolgen versehen worden.44 In allen genannten Fällen setzt sich eine Vertragspartei letztlich in Widerspruch zu einer Vereinbarung oder einer gesetzlichen Pflicht; man könnte auch ___________ 38 Die einzelnen Voraussetzungen dieses Tatbestandes sind in § 242 Abs. 1 StGB geregelt. 39 Es handelt sich demnach um ein so genanntes beiderseitiges Verbot, vgl. PalandtHeinrichs, § 134 Rdnr. 8. 40 Vgl. BGHZ 37, S. 365; 53, S. 157. 41 So bei Ärzten, vgl. BGHZ 111, S. 127; NJW 1996, S. 775; Zahnärzten, vgl. OLG Karlsruhe NJW 1998, S. 831; Rechtsanwälten, vgl. BGH NJW 1996, S. 2087. 42 Entgegen ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen. 43 Palandt-Heinrichs, § 280 Rdnr. 2: Zentrale Kategorie des Leistungsstörungsrechts. 44 Vgl. Palandt-Heinrichs, § 275 Rdnrn. 1, 2.

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sagen, dass die diesbezüglichen Regelungen, die bestimmte Rechtsfolgen an ein gesetzwidriges Fehlverhalten knüpfen, im Grunde genommen davon ausgehen, dass solches Fehlverhalten im weitesten Sinn „gesetzlich verboten“ ist. Gleichwohl greift in derartigen Fällen nicht § 134 BGB ein; sondern maßgeblich sind zur Klärung und Abwicklung der Rechtslage die jeweils einschlägigen Normen, die sich mit derartigen Fehlerfolgen befassen. Demnach würde man nicht ernsthaft auf den Gedanken kommen, ein Verhalten, das den bindenden Vorschriften des Dienstvertragsrechts und diesbezüglichen kollektiven oder individuellen Vereinbarungen widerspricht,45 deshalb als Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot i. S. d. § 134 BGB zu bewerten, weil das Dienstvertragsrecht dem Grunde nach gesetzes- und vertragswidrige Verhaltensweisen missbilligt. Ein Arzt z. B., der seinen Patienten fehlerhaft behandelt, unterlässt damit in pflichtwidriger Weise die rechtlich gebotene fehlerfreie Ausübung des zu Grunde liegenden Dienstvertrages; es kann aber keine Rede davon sein, dass aus diesem Grunde der Vertrag nichtig i. S. d. § 134 BGB ist.46

4. Verbote in der Muster-WBO Auf der Grundlage der soeben dargelegten Überlegungen ist demnach zunächst zu prüfen, ob – und ggf. an welcher Stelle – die Muster-WBO ausdrücklich oder der Sache nach Verbote enthält, die sich als solche des § 134 BGB erweisen könnten und somit die Nichtigkeit der privatrechtlichen Vereinbarung zwischen Arzt und (Privat-)Patient herbeiführen.

a) Gebote/Verbote im Hinblick auf die fachärztlichen Gebietsgrenzen In Rechtsprechung und Schrifttum ist gelegentlich ein rechtlicher Zusammenhang fachärztlicher Befugnisse und § 134 BGB hergestellt worden.47 Dabei standen Fallgestaltungen in Frage, bei denen „fachfremde“, „gebietsfremde“ ___________ 45

Vgl. z. B. die Hauptpflicht zur einwandfreien Erbringung der vertraglich geschuldeten Leistung, vgl. dazu für alle: Palandt-Heinrichs, § 611, Rdnr. 24 ff. 46 Zum „ärztlichen Behandlungsfehler“ und seiner Abwicklung vgl. Laufs/Uhlenbruck, a. a. O., § 99 Rdnr. 5 ff.; zur Behandlung in der Orthopädie und dem dabei geschuldeten Leistungsstandard Steinbeck/Fenger, Orthopädie und Recht, 2004, S. 45 ff. 47 Auch die Fälle, in denen nicht-approbierte „Ärzte“ sowie unbefugte „Heilpraktiker“ tätig geworden sind, werden von Teilen der Literatur unter § 134 BGB subsumiert, z. B. Münchner-Kommentar-Armbrüster, § 134 Rdnr. 89; diese Sachverhalte sind offensichtlich völlig anders gelagert und interessieren deshalb hier nicht.

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Leistungen erbracht worden waren; dies sei dem Arzt grundsätzlich nicht gestattet – und würde deshalb gegen ein Verbotsgesetz verstoßen, so dass entgegenstehende Verträge nichtig seien.48 Der Rechtsprechung des BGH zufolge bedarf es allerdings einer solchen (zusätzlichen) Nichtigkeitssanktion des § 134 BGB nicht, wenn dem Verbotszweck durch verwaltungs-, straf- oder berufsrechtliche Sanktionen in ausreichendem Maße Nachdruck verliehen werden könne.49

b) Konkrete Problemstellung nach dem geltenden Berufsrecht Diesen Problemen braucht hier aus folgenden Gründen nicht weiter nachgegangen werden. Erstens – die Muster-WBO enthält keine Aussagen zur Gebietsbindung;50 das wäre auch überflüssig, da eine diesbezügliche Regelung bereits im Gesetzesrecht enthalten ist, dort im Übrigen zutreffenderweise, weil es sich dabei um eine Frage des ärztlichen Status handelt; dass sich der Facharzt in seiner beruflichen Tätigkeit auf sein Gebiet beschränken muss, wenn auch nur „grundsätzlich“, ist ausdrücklich normiert.51 Zweitens – hierin wird man ein, wenn auch nur „grundsätzliches“, Verbot sehen können, „gebietsfremd“ tätig zu werden. Zweifelhaft ist jedoch – und insoweit wäre die bisherige Diskussion fortzuführen –, ob dieses Verbot die Merkmale des § 134 BGB erfüllt, insbesondere welchen praktischen Sinn ein derartiges Rechtsverständnis machen würde. Vieles spricht für die Auffassung des BGH, das Berufsrecht nicht in dieser Weise § 134 BGB-bezogen „aufzuladen“. Für die hier interessierende Konstellation, nämlich für die Frage der Befugnis von Orthopäden zur MRT-gestützten Diagnostik, ist die bisherige Diskussion mittlerweile irrelevant geworden. Wie oben dargelegt besteht diese Befugnis nach dem derzeitigen Berufsrecht, und zwar auch ohne die Absolvierung eines fachbezogenen Zusatz-Weiterbildungsganges MRT für Orthopäden. Somit wird diese MRT-gestützte Diagnostik von dem Verbot, Gebietsgrenzen grundsätzlich nicht zu überschreiten, ohnehin nicht (mehr) erfasst; damit erübrigt sich auch eine weitere Erörterung der Frage, ob dieses Verbot an den Wirkungen des § 134 BGB teilhat. ___________ 48

So LG Mannheim, a. a. O., Rdnrn. 25, 26 (Fußn. 25). Nachweise bei Münchner-Kommentar-Sack, § 134 Rdnr. 79. 50 § 2 Abs. 1 S. 2 Muster-WBO 2003 hat lediglich deklaratorisch-definierende Wirkung. 51 Z. B. Art. 34 Abs. 1 BayHKaG. 49

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Drittens – schließlich könnte man noch daran denken, dass die Einführung und Existenz der Zusatz-Weiterbildung MRT52 – fachbezogen – etwas an dieser Beurteilung ändert. Ausdrücklich besagt die Muster-WBO zu diesem Problemfeld, dass die Gebietsgrenzen fachärztlicher Tätigkeiten durch Zusatz-Weiterbildungen nicht erweitert werden.53 Daraus gleichsam im Umkehrschluss die Schlussfolgerung zu ziehen, dass dort und insoweit, als die Möglichkeit von Zusatz-Weiterbildungen eröffnet wird, Fachärzte in den jeweiligen „Zusatz-Bereichen“ nicht tätig werden dürfen, führt zu äußerst merkwürdigen Ergebnissen; diese Schlussfolgerung ist in dieser Allgemeinheit auch – soweit ersichtlich – ausdrücklich nie gezogen worden; sie stände auch im Widerspruch zum Regelungswerk des Weiterbildungsrechts im Gesetz sowie in der Muster-WBO. Sowohl das bisherige, aber insbesondere auch das neue Facharztrecht geht nicht davon aus, dass mit der Facharztanerkennung eine Qualifikation für das gesamte Gebiet erreicht ist, die nicht mehr verbesserungs-, erweiterungs- und vertiefungsfähig sei; insbesondere im Hinblick auf Änderungen in den fachärztlichen Standards und unter Berücksichtigung der ständigen Aufgabe der Qualitätssicherung ist eine ständige Aktualisierung der (fachärztlichen) Fähigkeiten erforderlich; das wird nicht ernsthaft bezweifelt, auch nicht im Hinblick auf die Entwicklung in den Geräten, die der Medizin zur Verfügung gestellt werden. Diesem Ziel dient im Übrigen auch die berufliche Fortbildung.54 Zudem muss man bedenken, dass nicht nur eine einzige Spezialisierung durch eine Zusatz-Weiterbildung zulässig ist. Es kann somit nicht ernsthaft die Meinung vertreten werden, dass allein die Option einer Zusatz-Weiterbildung, die allgemein durch das Gesetz, im Einzelnen durch die Muster-WBO gestaltet wird, insoweit und solange die Befugnis zur beruflichen Betätigung im eigenen Fachgebiet sperrt, wie von dieser Möglichkeit zur fachgebundenen Weiterbildung kein Gebrauch gemacht wird. Dieses Verständnis verstieße im Übrigen auch gegen die Berufsausübungsfreiheit, so wie sie im Grundgesetz garantiert ist, sowie gegen den im Rechtsstaatsprinzip fundierten „Vorrang des Gesetzes“ vor untergesetzlichen Maßnahmen der Verwaltung – und dazu gehört auch die Weiterbildungsordnung einer Ärztekammer.

___________ 52

Vgl. Muster-WBO 2003, Abschnitt C. § 2 Abs. 4 Satz 4 Muster-WBO. 54 Vgl. dazu Art. 18 Abs. 1 Nr. 1 BayHKaG sowie (für die Vertragsärzte der GKV) § 95d SGB V. 53

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Somit lässt sich in der Muster-WBO keine Regelung finden, die bereits tatbestandsmäßig ein Verbot gegenüber Orthopäden enthält, angesichts der alleinigen Möglichkeit einer Weiterbildung55 die ihnen ausdrücklich eingeräumte fachärztliche Befugnis zur Vornahme MRT-gestützter Diagnostik auszuüben.

III. Regeln der ärztlichen Kunst / Zusatz-Weiterbildung MRT / Wirksamkeit des (privatrechtlichen) Behandlungsvertrages 1. Problemstellung Die Diskussion über die MRT-gestützte Diagnostik von Orthopäden ohne formell anerkannte Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – wird auch unter einem weiteren Gesichtspunkt auf Sachverhalte erstreckt, in denen privat Versicherte behandelt werden. In diesen Fällen sind zwei Rechtsverhältnisse betroffen. Zum einen geht es um die Rechtsbeziehungen zwischen dem Patienten und seiner (Privat-) Versicherung und dabei um die Frage, ob unter dieser Voraussetzung der an sich gegebene, weil versicherungsvertraglich vereinbarte Anspruch auf Erstattung trotz einer erbrachten Leistung des Orthopäden und der diesbezüglichen Honorierung seitens des Patienten gleichwohl entfällt; zum anderen geht es um die in gewisser Weise vorangehende Frage, ob unter diesen Voraussetzungen generell ein Anspruch des Arztes nicht entsteht, weil der Behandlungsvertrag56 unwirksam ist angesichts eines dabei gleichsam „automatischen“ Verstoßes gegen die GOÄ. Diesem Problem wird im Folgenden nachgegangen. Auch in diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass selbst unter der (letztlich unzutreffenden) Annahme, dass ein Behandlungsvertrag unwirksam ist, Leistungen gleichwohl zu honorieren sind; insoweit kann angesichts der höchstrichterlichen Rechtsprechung von einer gesicherten Rechtslage ausgegangen werden.

2. § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ – „Regeln der ärztlichen Kunst“ Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ darf der Arzt „Vergütungen … nur für Leistungen berechnen, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst … erforderlich sind“. Daraus wird man folgern dürfen, dass Leistungen, bei deren Erbringung ___________ 55

Gemäß Abschnitt C der Muster-WBO. Zumindest insoweit, hinsichtlich der Diagnose-Leistung; vgl. zur Möglichkeit der Teil-Nichtigkeit § 139 BGB. 56

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diese „Regeln der ärztlichen Kunst“ nicht beachtet worden sind, nicht in Rechnung gestellt werden dürfen. Damit hat der Verordnungsgeber ein Tatbestandsmerkmal normiert, bei dessen Fehlen der vertragliche Vergütungsanspruch nicht entsteht. Diese Situation ist also dann gegeben, wenn die Leistung entgegen den Regeln der „ärztlichen Kunst“ erbracht worden ist. Damit scheint die GOÄ der Sache nach den Begriff des so genannten Kunstfehlers57 zu verwenden. Das würde also bedeuten, dass in den Fällen, in denen einem Arzt ein „Kunstfehler“ unterlaufen ist, dafür eine Vergütung nicht verlangt werden kann.

a) „Kunstfehler“ und Vergütungsanspruch Um einen Zusammenhang zwischen einem Verstoß gegen die „Regeln der ärztlichen Kunst“ und der MRT-gestützten Diagnose eines Orthopäden herzustellen, muss man sich auf gedankliche Wege von beachtlicher Abwegigkeit begeben; dies ist im Schrifttum versucht worden.58 Ausgangspunkt derartiger Überlegungen ist die Feststellung, dass die Vorschriften des Berufsrechts die Qualität der ärztlichen Tätigkeit sichern sollen; das ist zutreffend. Gleiches gilt für die weitere Erkenntnis, dass die Aufteilung des gesamten ärztlichen Berufsfeldes in (Facharzt-)Gebiete auch der Qualitätssicherung dient.59 Unzutreffend ist jedoch die Schlussfolgerung, derzufolge zu den Regeln der ärztlichen Kunst „angesichts des hohen Stellenwertes des Facharztstandes in der Privatversicherung ohne Zweifel vor allem die Einhaltung der Fachgebietsgrenzen und der Sonderqualifikationen und der Weiterbildungsordnung“ gehören.60 Die geistigen Urheber haben ausdrücklich keine Zweifel an ihrer „Erkenntnis“; gleichwohl ist dieses Ergebnis aus mehreren Gründen fehlerhaft. Erstens – diese Auffassung verkennt die Wirkung des ärztlichen Berufsrechts auf die privatrechtlichen Beziehungen zwischen Patient und Arzt und zwar insofern, als es um Qualifikationen auf Grund von Weiterbildung geht. Was die fachärztliche Gebietsbindung angeht, so könnte ein Überschreiten einer solchen Grenze nur dann generell als „Kunstfehler“ angesehen werden, wenn dem diesbezüglichen Weiterbildungsrecht eine absolute Verbotswirkung beigemessen werden könnte dergestalt, dass bei „Zuwiderhandlungen“ Ansprüche auf Vergütung nicht entstehen. Das bedeutet also, dass nach dieser Auffassung der (grundsätzlichen) Beschränkung des Facharztes auf sein Gebiet die ___________ 57

Dazu Laufs/Uhlenbruck, a. a. O., § 99 Rdnr. 5. Vgl. Cramer/Henkel, MedR 04, S. 593, 596. 59 So z.B. auch § 1 S. 1 Muster-WBO 2003. 60 Cramer/Henkel, a. a. O. 58

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Wirkung des gesetzlichen Verbotes zuerkannt wird. Diese Auffassung ist unzutreffend. Abgesehen von der generell unzutreffenden Bewertung der Wirkung des ärztlichen Weiterbildungsrechts ist hinsichtlich der zu begutachtenden Problematik daran zu erinnern, dass Orthopäden nach dem derzeit geltenden Weiterbildungsrecht berufsrechtlich befugt sind (auch) zu MRT-unterstützter Diagnostik, so dass bereits auch aus diesem Grunde die Argumentation fehlgeht. Auch soweit die „Einhaltung … der Sonderqualifikationen nach der Weiterbildungsordnung“ zur Begründung herangezogen werden, ergibt sich nichts anderes. Mit dieser Gleichsetzung von „Fachgebietsgrenzen“ und „Sonderqualifikationen“ wird Unzutreffendes mitgeteilt. „Sonderqualifikationen“, und damit dürfte die teilradiologische Zusatzqualifikation von Orthopäden gemeint sein,61 sind rechtlich nicht mit einer „Einhaltung“ verknüpft: Wer eine solche Qualifikation besitzt, erhält damit nicht zugleich eine dem Facharzt vergleichbare Beschränkung seiner Berufstätigkeit62 – dieser Teil der Aussage muss angesichts der insoweit eindeutigen Rechtslage als eindeutig verfehlt bewertet werden. Und wer diese Sonderqualifikation nicht besitzt, kann sie ja wohl schon logischerweise nicht „einhalten“; auch insoweit ist die hier kritisierte Aussage offensichtlich ohne Sinn und entbehrt einer rechtlichen Begründung. Die Weiterbildungsordnung verpflichtet nicht zur Erlangung von Sonderqualifikationen;63 der Orthopäde darf berufsrechtlich MRT-unterstützte Diagnose betreiben, also entsprechende Geräte „eigenhändig“ in der Praxis verwenden; dies ist Teil seines berufsrechtlichen Status. Einschränkungen dieser Befugnis sind denkbar, z. B. auf der Grundlage des Vertragsarztrechts;64 dazu bedarf es jedoch entsprechender ausdrücklicher (einschränkender) Bestimmungen. Ein Widerspruch zur ärztlichen Kunst, der die den Orthopäden eingeräumte berufsrechtliche Befugnis einschränkt, ist über den Vorwurf eines Verstoßes gegen Regeln der ärztlichen Kunst nicht konstruierbar. Zweitens – mit dieser Argumentation wird die Bedeutung von Kunst- bzw. Behandlungsfehlern verkannt. Dieser Begriff stammt aus dem zivilrechtlichen sowie strafrechtlichen Haftungsrecht. ___________ 61

Vgl. Muster-WBO 2003, Abschnitt C (Zusatz-Weiterbildungen), Magnetresonanztomographie – fachgebunden. 62 § 2 Abs. 4 S. 4 Muster-WBO 2003 sagt hierzu: „Die Gebietsgrenzen werden durch Zusatz-Weiterbildungen nicht erweitert“. 63 Etwas anderes gilt für die Fortbildung, die verpflichtend, wenn auch weniger formalisiert ist; vgl. z.B. Art. 18 Abs. 1 Nr. 1 BayHKaG, § 4 (Muster-)Berufsordnung 1997/2000 sowie auch § 95d SGB V. 64 Vgl. dazu die Rechtsprechung zur – durchaus auch berufsrechtlichen – Wirkung der Kernspinvereinbarung, z.B. BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 16, BVerfG SozR 4-2500 § 135 Nr. 2.

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b) Grundlagen und Ziele des Bürgerlichen (Haftungs-)Rechts Im Bürgerlichen Recht hat sich die Arzthaftung65 zu einem in vielfacher Hinsicht selbständigen Rechtsgebiet entwickelt. Die Haftung wegen eines Behandlungsfehlers kann sich aus der Verletzung einer vertraglich übernommenen Pflicht oder aus unerlaubter Handlung, also auf deliktischer Grundlage, ergeben. Die praktischen Unterschiede zwischen diesen Haftungsgrundlagen sind seit den Änderungen des Bürgerlichen Rechts durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz sowie das 2. SchadÄndG66 geringer geworden; sie liegen vor allem in der unterschiedlichen Beweislastverteilung hinsichtlich des Verschuldens67 und der Gehilfenhaftung.68 Letztlich geht es um das Einstehenmüssen des Arztes für eine vertragliche oder deliktische Pflichtverletzung, wobei sich die Pflichten auf die Diagnose, Beratung und therapeutische Aufklärung, Behandlung, auch den Einsatz medizinischer Geräte und seine ordnungsgemäße Organisation erstrecken.69 Wesentlich ist die rechtsdogmatische Konstruktion dieses Haftungssystems: Der Arzt haftet im Ergebnis für die Schäden, die er bei seiner beruflichen Tätigkeit bei einem Patienten angerichtet hat, und zwar für solche Schäden, die sich aus einem Unterschreiten des (vertraglich oder deliktisch) geschuldeten Qualitätsstandards ergeben, der sich aus den „Regeln der ärztlichen Kunst“ ergibt. Dabei ist es die individuelle Situation, in der sich die generell geschuldeten Pflichten konkretisieren und zu entsprechenden konkret-individuellen Anforderungen im Hinblick auf die Behandlung des Patienten führen. Wird der Arzt diesen Anforderungen nicht gerecht und entsteht daraus ein Schaden, der dem Arzt zuzurechnen ist,70 dann muss der Arzt diesen Schaden ausgleichen.71

___________ 65 Dazu umfassend Katzenmeier, Arzthaftung, 2002; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 9. Aufl. 2002. 66 Dazu Katzenmeier, VersR 2002, S. 1066; Spindler/Rieckers, Jus 2004, S. 272. 67 Vgl. Palandt-Heinrichs, § 280 Rdnr. 164. 68 Vgl. einerseits § 278, andererseits § 831 BGB; dazu Palandt-Heinrichs, § 278 Rdnr. 29; Palandt-Sprau, § 831 Rdnr. 7. 69 Zahlreiche Nachweise zur einschlägigen Rechtsprechung und Literatur bei Palandt-Sprau, § 823 Rdnrn. 135 – 148. 70 Weil er den Schaden im Rechtssinne verursacht hat und dabei schuldhaft, zumindest fahrlässig gehandelt hat. 71 Gem. §§ 249 ff. BGB.

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c) Ziele und Grenzen des Schadensersatzrechts Das Schadensersatzrecht gebietet also einen Schadensausgleich und regelt das in den einschlägigen Normen. Eine weitergehende Rechtswirkung kommt diesen Vorschriften nicht zu. Zwar gehört zu den Zielvorstellungen des Haftungsrechts auch der Gedanke der Prävention und somit der Schadensverhütung;72 die Existenz dieses Haftungssystems und die daraus im Einzelfall u. U. resultierenden Schadensersatzansprüche mögen durchaus auch eine in diesem Sinne abschreckende Wirkung entfalten. Der Schutzzweck der einschlägigen Normen, die inhaltlich im Wesentlichen durch die Regeln der ärztlichen Kunst und die damit in Bezug genommenen medizinischen Standards ausgefüllt werden, beschränkt sich jedoch auf den Schadensausgleich.73 Diese Rechtsnormen entfalten somit keine darüber hinausgehende Wirkung. Insbesondere wird ein Behandlungsvertrag nicht dadurch unwirksam-nichtig, dass im Verlauf seiner Erfüllung dem Arzt ein Fehler unterläuft, der einen konkreten Schadensersatzanspruch auslöst. Schäden verantwortlich zu erzeugen, stellt eine Pflichtverletzung dar; damit werden die einschlägigen Rechtsvorschriften jedoch nicht zu Verbotsgesetzen i. S. d. §§ 134, 138 BGB.74 Erst recht lassen sich die „Regeln der ärztlichen Kunst“, die über das normierte Haftungsrecht gleichsam im „Huckepackverfahren“ in das Bürgerliche (Haftungs-)Recht hineinwirken, nicht als allgemeine Verbotsgesetze deuten. Somit berührt ein Behandlungsfehler die Wirksamkeit eines Behandlungsvertrages nicht. Das bedeutet für die hier zu erörternde Problematik Folgendes: Selbst wenn man einmal unterstellt, dass eine MRT-gestützte Diagnose seitens eines Orthopäden ohne eine förmlich anerkannte Zusatz-Weiterbildung in jedem Fall als ein ärztlicher Kunstfehler zu bewerten ist, dann bleibt der Arztvertrag wirksam; und auch die erbrachte Leistung ist zu vergüten. Allerdings zeigen die vorangegangenen Überlegungen auch, dass in dem Rechtsverhältnis zwischen Arzt und Patienten ein Schadensersatzanspruch nur dann entsteht, wenn (kausal und verschuldet) ein Schaden verursacht wurde. Das ist jedoch nicht gleichsam automatisch der Fall, wenn MRT-gestützt diagnostiziert wird. Das Bürgerliche Recht stellt eindeutig und unzweifelhaft auf den konkreten Schaden im Einzelfall und eine dann – und nur dann – daraus resultierende Pflicht zum Schadensausgleich ab. Somit lässt sich selbst für Fälle, ___________ 72

Dazu Palandt-Heinrichs, vor § 249 Rdnr. 3. Vgl. dazu auch Palandt-Sprau, vor § 249 Rdnrn. 2, 62 ff. 74 Vgl. dazu auch bereits oben II. 3. 73

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in denen – konkret – ein Kunstfehler vorliegt, kein generelles Verbot gegenüber Orthopäden konstruieren, ohne förmliche Anerkennung MRT-gestützt zu diagnostizieren. Etwas Weiteres ist hinzuzufügen. Die vorangegangenen Überlegungen zur Brauchbarkeit der „Kunstfehler-Argumentation“ im Hinblick auf „teilradiologisch“ diagnostizierende Orthopäden haben gezeigt, dass dieses Rechtsgebiet Teil des Haftungsrechts ist und somit Ansprüche auf Schadensersatz nur dann entstehen, wenn ein Schaden auf pflichtwidriges Verhalten zurückzuführen ist. Wie dargelegt wurde, ist entscheidend für eine Pflichtverletzung75 das konkrete Geschehen.

d) Zwischenergebnis Es kommt somit darauf an, dass z.B. bei einer MRT-gestützten Diagnostik den Anforderungen an diese Methode genügt worden ist. Entscheidend ist also, ob der Arzt im konkreten Fall alles das beachtet hat, was als medizinischer Standard Bestandteil der ärztlichen Kunst geworden ist; nicht ausschlaggebend ist, ob ein „Vollradiologe“ oder ein orthopädischer „Teilradiologe“ oder ein Orthopäde ohne formell anerkannte Zusatz-Qualifikation tätig geworden ist.

e) Unbrauchbarkeit der Entscheidung des AG Winsen Mit diesen Überlegungen erweist sich auch eine Entscheidung des AG Winsen76 als irrelevant und unhaltbar. Das Gericht hat den Vergütungsanspruch eines Orthopäden für eine MRT-Untersuchung versagt mit der Begründung, der Orthopäde habe gebietsfremd gehandelt; deshalb verstoße der Behandlungsvertrag gegen § 1 Abs. 2 GOÄ und sei gem. § 134 BGB nichtig; dabei hat das Gericht kurzerhand die Qualifikationsanforderungen der Kernspin-Vereinbarung auf § 1 Abs. 2 GOÄ übertragen.77 Die Begründung dieser Entscheidung ist vage; nicht nachgewiesen wird z. B. die Wirkung des § 1 Abs. 2 GOÄ als Verbotsgesetz; unklar bleibt auch, auf welchem gedanklichen Wege die Kernspin-Vereinbarung in die GOÄ gelangen soll. Trotz dieser Begründungsdefizite lässt sich feststellen, dass dieses Urteil unzutreffende Hinweise auf die geltende Rechtslage enthält. ___________ 75 Die durchaus durch einen Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst indiziert sein kann. 76 AZ: 16 C 1779/02, Juris = GesR 2004, S. 532. 77 AG Winsen, a. a. O., Juris Rdnr. 9, unter Berufung auf BSG v. 31.01.2001, AZ: B 6 KA 24/00, SozR 3-2500 § 135 Nr. 16.

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Unzutreffend ist eine Grundannahme des Gerichts, derzufolge ein Orthopäde sich in solchen Fällen „gebietsfremd“ betätigt. Diese Annahme ist zumindest nach dem geltenden Recht nicht mehr zutreffend. Nach früherem Recht war streitig, ob und inwieweit die – an sich nur für das Vertragsarztrecht geltende – „Kernspin-Vereinbarung“78 in ihren Wirkungen auch auf das allgemeine, also für die Ärzte geltende Berufsrecht erstreckt werden kann. Jedenfalls kann dem Urteil des AG Winsen nicht die Erkenntnis unterstellt werden, auch nach Änderung des allgemeinen Weiterbildungsrechts und der Neuordnung des Facharztgebiets für Orthopäden79 enthalte die Kernspin-Vereinbarung eine rechtsverbindliche Interpretation der „ärztlichen Kunst“ hinsichtlich teilradiologischer Leistungen von Orthopäden. Es ist nicht erkennbar, dass das AG Winsen eine derartige Ausdehnung der normativen Wirkung der Kernspin-Vereinbarung hat feststellen wollen. Somit kann diese Entscheidung nicht zur Frage nach einem denkmöglichen Ausschluss eines Vergütungsanspruchs gem. § 1 Abs. 2 GOÄ herangezogen werden.

f) Reichweite/Normzweck des § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ Gegen die Auffassung, dass ein Orthopäde ohne die fachgebundene MRTZusatz-Weiterbildung MRT-gestützte Leistungen angesichts des § 1 Abs. 2 GOÄ nicht abrechnen darf, sprechen auch Sinn und Zweck dieser Regelung. Ein derartiger Ausschluss einer Vergütung kann sich entweder darauf stützen, dass unter solchen Voraussetzungen keine „medizinisch notwendige ärztliche Versorgung“ vorliegt oder darauf, dass in einem solchen Fall die Versorgung nicht „erforderlich“ ist.80

aa) Zur medizinischen „Notwendigkeit“ Auf den letztlich wohl abwegigen Gedanken, die medizinische Notwendigkeit einer Leistung könne irgendetwas mit der Qualifikation des behandelnden Arztes zu tun haben, ist das VG Würzburg gekommen.81 Das Gericht hat in einem Beihilfestreit argumentiert, „notwendig“ könne eine Leistung nur sein, wenn ihre Geeignetheit nicht in Zweifel stehe. Bei Behandlungen, die ein Arzt ___________ 78 Vereinbarung von Qualifikationsvoraussetzungen gemäß § 135 Abs. 2 SGB V zur Durchführung von Untersuchungen in der Kernspintomographie v. 10.2.1993 i. d. F. v. 17.9.2001 (Anlagen zum BMV-Ä [3] und EKV [3]). 79 Dazu im Einzelnen oben I. 2. 80 Dass unter diesen Voraussetzungen nicht generell entgegen den Regeln der ärztlichen Kunst gehandelt wird, wurde bereits dargelegt, vgl. oben III. 2. a) – e). 81 VG Würzburg, AZ: W 1 01.785, Juris.

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außerhalb seiner Facharztbindung vornimmt, seien solche Zweifel veranlasst. Das Gericht begründet das folgendermaßen: Da sich ein Facharzt nur dann ausreichend fortbilden könne, wenn er sich auf sein Fachgebiet beschränke, könnten Leistungen außerhalb seines Gebietes nicht den „Qualitätsgewinn“ aufweisen, der mit der Facharzt-Spezialisierung regelmäßig verbunden sei.82 Diese Entscheidung ist bereits insoweit für Orthopäden ohne förmliche teilradiologische Weiterbildung ohne Bedeutung, als das geltende Weiterbildungsrecht die Befugnis zur MRT-unterstützten Diagnostik einräumt.83 Der Hauptmangel dieses Urteils liegt in der Verkennung der Wirkungsweise des § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ. Wenn man sich Gedanken über die „Notwendigkeit“ einer Leistung macht, dann muss man zunächst nach dem normativen Gesichtspunkt dieser Regelung suchen. Dies ist eindeutig der Gesundheitszustand eines (Privat-)Patienten, der seinen Arzt zum Zwecke der Behandlung aufsucht. Was angesichts des Zustandes dieses Patienten an Leistungen, zumindest vor allen diagnostischen Tätigkeiten, „notwendig“ ist, kann der Patient in den meisten Fällen nicht selbst beurteilen. Eine Vorschrift wie § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ geht offenbar davon aus, dass – erstens – der Arzt über Art und Umfang der Leistungen und ihrer Notwendigkeit entscheiden muss und dass – zweitens – die Versuchung besteht, Leistungen zu erbringen, die angesichts des konkreten Gesundheitszustandes nicht notwendig sind. Die GOÄ ist insgesamt ein preisrechtliches Regelungsgefüge; deswegen enthält sie kein – als berufsrechtliche Regelung zu qualifizierendes – Gebot, nicht-notwendige Leistungen zu unterlassen. Vielmehr beschränkt sich die Vorschrift auf die preisrechtliche Konsequenz in Fällen, in denen Nicht-Notwendiges (also nach medizinisch-ärztlichen Maßstäben „Überflüssiges“) geleistet worden ist, indem insoweit das Entfallen eines Vergütungsanspruchs angeordnet wird. Die medizinische „Notwendigkeit“ der ärztlichen Versorgung ist somit keine Frage der ärztlichen Qualifikation; eine Behandlung ist und bleibt unabhängig von der Qualifikation des angegangenen Arztes medizinisch notwendig; § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ trägt lediglich den Gedanken Rechnung, dass nicht-notwendige Leistungen nicht honoriert werden sollten. Zur Frage der Qualifikation des behandelnden Arztes enthält diese Vorschrift keinerlei Aussage. Diese Ansicht wird im Übrigen durch eine Entscheidung des BSG bestätigt, bei der es um die Verabreichung eines Medikaments ging.84 Das BSG hat dabei festgestellt, dass es zwischen der (medizinischen) Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit einer Behandlungsmethode und der Frage, ob der behandelnde Arzt ___________ 82

VG Würzburg, a. a. O., Juris Rdnr. 39f. Vgl. oben I. 2. 84 BSGE 70, S. 24 = SozR 3-2500 § 12 Nr. 2 = Juris. 83

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sich im Rahmen seines berufsrechtlich definierten (Facharzt-)Gebietes bewege, keinen Zusammenhang gebe: „Ist ein Mittel … als zweckmäßig und notwendig anzusehen, so kann es diese Rechtsqualität nicht dadurch verlieren, dass es vom fachgebietsmäßig nicht zuständigen Kassenarzt verabreicht worden ist“.85

bb) Zur „Erforderlichkeit“ der Versorgung Die Frage, ob eine ärztliche Leistung „erforderlich“ ist i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ, steht im engen Zusammenhang mit der Problematik der medizinisch-ärztlichen „Notwendigkeit“. „Nicht-erforderlich“ ist etwas, was bestimmten Anforderungen nicht entspricht; diese ergeben sich aus dem konkreten Krankheitsbild oder –verdacht. Wenn klar geworden ist, was im jeweils nächsten Schritt einer Behandlung zu tun ist, dann stehen damit auch die aus dem konkreten Gesundheitszustand resultierenden Anforderungen fest. In der Regel wird also das, was „nicht-notwendig“ ist, auch im konkreten Fall „nichterforderlich“ sein. Somit sind auch hinsichtlich dieses Merkmals die gleichen Überlegungen anzustellen; auch die „Erforderlichkeit“ ist keine Frage des Weiterbildungsstatus des behandelnden Arztes und einer damit eventuell verbundenen Befugnis.86

cc) Bedeutung des § 1 Abs. 2 Satz 2 GOÄ Dieses Ergebnis wird bestätigt durch § 1 Abs. 2 Satz 2 GOÄ. Dort wird die Möglichkeit eröffnet, auch für „nicht-notwendige“, also in der Regel auch „nicht-erforderliche“ Leistungen gleichwohl eine Vergütung zu erzielen. Allerdings setzt ein solcher Anspruch ein „Verlangen des Zahlungspflichtigen“ voraus. Somit müssen Arzt und Patient sich diesbezüglich ausdrücklich oder konkludent einigen. Abgesehen von dieser Binnenstruktur des § 1 Abs. 2 Satz 2 GOÄ zeigt auch diese Regelung, um was es eigentlich in § 1 Abs. 2 GOÄ insgesamt geht. Tatbestandsmäßig erfasst sind von dieser Vorschrift offensichtlich nur solche Leistungen, die angesichts des Gesundheitszustandes eines Patienten den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen, somit aller Erfahrung nach keinen Schaden anrichten, allerdings auch aus medizinischen Gründen überflüssig sind. Man wird diese Regelung in der Nähe des Verbraucherschutzes sehen können: Im ___________ 85

BSG, a. a. O., Juris Rdnr. 21. Die nicht deckungsgleich mit einer tatsächlichen fachärztlichen Qualifikation für das gesamte Gebiet sein muss, vgl. § 2 Abs. 3 S. 3 sowie Abs. 4 S. 4 Muster-WBO 2003. 86

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Zentrum steht der Patient in einer Situation, in der er die notwendigen/erforderlichen medizinisch-ärztlichen Interventionen nicht beurteilen kann. § 1 Abs. 2 GOÄ regelt lediglich, dass überflüssige Leistungen nicht abgerechnet werden dürfen; die Vorschrift befasst sich also weder mit der Frage, über welche berufsrechtlichen Befugnisse der jeweils behandelnde Arzt verfügt noch mit der Frage, welche Rechtsfolgen an ein im Einzelfall schädigendes Ereignis im Verlauf einer medizinisch-ärztlichen Behandlung zu knüpfen sind.

3. Die Bedeutung des § 4 Abs. 2 GOÄ Diese Regelung ist das gebührenrechtliche Gegenstück zu dem berufsrechtlichen Grundsatz, demzufolge der Arzt seine Leistungen persönlich erbringen muss.87 Im Übrigen ist dieser Grundsatz ausdrücklich auch für die Ärzte normiert, die in das Leistungsgeschehen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen sind.88 Im Schrifttum wird § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ zuweilen für die Ansicht herangezogen, dass gebietsfremde Leistungen nicht privatärztlich abgerechnet werden dürfen.89 Dabei wird folgendermaßen argumentiert: Ein gebietsfremd handelnder Arzt kann mangels Sachkompetenz keine Aufsicht mittels entsprechenden fachlichen Weisungen führen; wenn er unter dieser Voraussetzung eine gleichwohl vorgenommene Behandlung mittels Delegation nicht abrechnen dürfe, dann fehle ihm die fachliche Qualifikation auch in den Fällen, in denen er die Leistungen „eigenhändig“ erbringe. An diesem Gedankengang ist insofern etwas Zutreffendes, als die Zurechnung einer Fremdleistung und die Bewertung wie eine eigene Leistung, die der behandelnde Arzt „selbst erbracht hat“, nicht nur von einer fachlich fundierten Aufsicht abhängt,90 sondern dass der behandelnde Arzt durch die Delegation von Tätigkeiten nicht die für ihn geltenden berufsrechtlich festgelegten Gebietsgrenzen erweitern kann. Allerdings sind Orthopäden nach dem mittlerweile allgemein geltenden Berufsrecht auch ohne die Zusatz-Weiterbildung MRT – fachgebunden – zur MRT-gestützten Diagnostik befugt, so dass die für die frühere Rechtslage möglicherweise vertretbare Rechtsauffassung jedenfalls nunmehr nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

___________ 87

Vgl. z. B. § 19 Satz 1 (Muster-)Berufsordnung für Ärzte und Ärztinnen 1997/2000. Vgl. § 15 Abs. 1 SGB V; dazu KassKomm-Höfler, SGB V § 15 Rdnr. 3 ff. 89 Vgl. Cramer/Henkel, MedR 2004, S. 593, 596; Wigge, NZS 2005, S. 176, 180 m. w. N. 90 Vgl. dazu für das Vertragsarztrecht § 28 Abs. 1 S. 2 SGB V. 88

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Abgesehen davon ist die oben dargestellte Schlussfolgerung aus § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ jedoch auch bereits von Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht erfasst. Diese Regelung dient ausdrücklich allein der Feststellung dessen, was „eigene Leistungen“ eines privat abrechnenden Arztes sind. Werden im Falle einer Delegation fachliche Weisungen nicht erteilt und liegt demnach eine Aufsicht nicht vor, dann handelt es sich nicht um eine eigene Leistung des Arztes, sondern um eine Leistung der tätig gewordenen Person.91 Denkbar ist, dass ein Arzt trotz fehlender fachlicher Qualifikation Leistungen erbringt. Auch hierzu enthält § 4 Abs. 2 GOÄ eine klare Aussage: Solche Leistungen hat der Arzt selbst erbracht und darf sie als selbständige ärztliche Leistungen berechnen.92 Eine darüber hinausgehende normative Wirkung hat § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ nicht; es handelt sich dabei weder um eine Ergänzung des (landesrechtlichen) Weiterbildungsrechts (die insoweit aus bundesrechtlicher Sicht stattfände) mit restriktiven Modifikationen des Facharzt-Status93 noch um eine Ergänzung des Rechts der Leistungsstörungen beim Arztvertrag94 mit spezifisch präventiver Wirkung: In § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ würde eine unwiderlegliche Vermutung hineingelesen dergestalt, dass Orthopäden ohne die fachgebundene MRT-Zusatz-Weiterbildung generell ihrer vertraglich vereinbarten Leistungspflicht nicht nachkommen können und deshalb stets und auch in jedem Einzelfall unausweichlich Schaden anrichten, der von den Patienten ferngehalten werden muss. Diese Rechtswirkung ist in § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ offensichtlich nicht angelegt. Die hier kritisierte Meinung kommt somit zu Ergebnissen, die im deutlichen Widerspruch zum derzeitigen ärztlichen Berufsrecht sowie zum geltenden Haftungsrecht stehen. Gegen dieses Ergebnis spricht im Übrigen auch nicht die amtliche Begründung zur dritten ÄnderungsVO zur GOÄ; dort heißt es: „Als nach ‚fachlicher‘ Weisung des Arztes erbracht können Leistungen nicht angesehen werden, die der Arzt selbst mangels entsprechender Ausbildung nicht fachgerecht durchfüh___________ 91 Die dann u. U. selbständig abrechnen kann, möglicherweise auch nach den Vorschriften über die GoA, §§ 677 ff. BGB, oder nach den Regelungen zur ungerechtfertigten Bereicherung, §§ 812 ff. BGB. 92 Dieser Sachverhalt fällt in den „Grundfall“ des Gebührenanspruchs (§ 4 Abs. 2 Satz 1 – 1. Alternative – GOÄ). 93 Würde man der hier verworfenen Argumentation folgen, müsste man in § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ der Sache nach die Kernspin-Vereinbarung hineinlesen – ein offensichtlich unhaltbares juristisches Schelmenstück. 94 Pflichtverletzungen im Rahmen eines Dienstvertrages sind in vielfältiger Weise denkbar, insbesondere auch in der Alternative der „Schlecht-Leistung“; zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen, die im Bürgerlichen Recht geregelt sind, vgl. für alle: Palandt-Weidenkaff, § 611 Rdnrn. 14–18; derartige „Vertragsverletzungen“ berühren jedoch den Vertrag selbst nicht, vgl. Palandt-Weidenkaff, § 611 Rdnrn. 20–23; zu den ärztlichen Behandlungsfehlern auch Laufs/Uhlenbruck, a. a. O., § 99 (Die medizinischen Standards. Behandlungsfehler), § 100 (Fahrlässigkeiten – zur Kasuistik), jeweils passim.

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ren kann …“95. Die Reichweite dieser Bemerkung ist etwas unklar, zumal ausdrücklich von „Ausbildung“ – und weder von „Fortbildung“ noch von „Weiterbildung“ – die Rede ist. Eine verständige Bewertung dieser Begründung wird darin die Feststellung sehen, dass im Wege der Delegation die berufsrechtlich gezogenen Grenzen nicht überschritten werden können.96 Eine Schlussfolgerung dergestalt, dass mit dieser Aussage auf eine Modifizierung des Berufsund Haftungsrechts durch § 4 Abs. 2 GOÄ hingewiesen werden soll, ist nicht vertretbar.

4. Erstattungsanspruch des Patienten bei fehlender Zusatz-Weiterbildung des behandelnden Arztes Die private Krankenversicherung ist eine Krankheitskostenversicherung; bei dieser Versicherung „haftet der Versicherer im vereinbarten Umfang für die medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen und für sonstige vereinbarte Leistungen …“;97 dies ist die Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruchs des (privat) Versicherten gegenüber seiner (privaten) Versicherung. Rechtsbeziehungen zwischen dem (privaten) Versicherer und dem behandelnden Arzt bestehen nicht. Somit berührt eine nicht vorhandene, für eine Heilbehandlung allerdings „einschlägige“ Zusatz-Weiterbildung das Verhältnis des Patienten zu seinem Versicherer und den in dieser Beziehung gegebenen Erstattungsanspruch nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Ausweislich der normierten Anspruchsvoraussetzungen kann dieser Erstattungsanspruch allerdings dann entfallen, wenn eine solche Tätigkeit98 entweder vom „vereinbarten Umfang“ abweicht, oder wenn in diesen Fällen eine medizinisch „nicht notwendige“ Heilbehandlung vorliegt.

a) Vereinbarter Umfang. Abweichende Vereinbarungen Der Umfang der Verpflichtungen aus dem Versicherungsvertrag wird üblicherweise durch Allgemeine „Versicherungsbedingungen“ konkretisiert, wenn ___________ 95

Drucks. 118/88, S. 47. Dazu wäre „Ausbildung“ in einem weiten Sinne unter Einschließung der Fort- und Weiterbildung zu verstehen. 97 § 178b Gesetz über den Versicherungsvertrag (VVG) a.F. (Haftung des Versicherers); im neuen VVG findet sich diese Regelung in § 192. 98 Z. B. die MRT-gestützte Diagnose eines Orthopäden. 96

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und soweit diese Bestandteil des Vertrages geworden sind.99 Diese Bedingungen entsprechen im Wesentlichen den Musterbedingungen für die Krankenkostenversicherung; 100 danach ist dem Patienten die Wahl unter allen approbierten Ärzten ohne Einschränkung im Hinblick auf eine im Einzelfall wirklich vorhandene „vollständige“ Qualifikation des behandelnden Arztes101 eingeräumt. In diesem Zusammenhang sind auch die Muster-Tarifbedingungen für den sog. Standardtarif102 zu erwähnen. Nach den diesbezüglichen Versicherungsbedingungen werden Einschränkungen ausdrücklich vereinbart, nämlich im Hinblick auf die freie Arztwahl – diese ist hinsichtlich psychologischer Behandlung auf die „zuständigen“ Fachärzte sowie auf Ärzte eingeschränkt, die im Bereich Psychologie/Psychiatrie eine (Zusatz-)Weiterbildung absolviert haben.103 Aus dieser Rechtslage104 lässt sich im Umkehrschluss entnehmen, dass keine Obliegenheit des privat versicherten Patienten besteht, sich nur von Ärzten behandeln zu lassen, die hinsichtlich der jeweiligen Heilmaßnahme die berufsrechtlich zur Verfügung stehende (Zusatz-)Weiterbildung absolviert und dafür eine formelle Anerkennung erhalten haben. Rechtstechnisch nicht ausgeschlossen ist es, dass die Versicherungsbedingungen in ähnlicher Weise, wie dies für den Standardtarif geschehen ist, geändert werden; man könnte also auch daran denken, den (privat) versicherten Patienten die (Obliegenheits-)Pflicht aufzugeben, MRT-gestützte Diagnoseleistungen im orthopädischen Gebiet ausschließlich von Radiologen oder Orthopäden mit fachgebundener Zusatz-Weiterbildung vornehmen zu lassen.105 Allerdings müsste eine solche Pflicht (und damit eine daraus u. U. resultierende Einschränkung der Haftung des Versicherers/des Erstattungsanspruchs des Patienten) vertraglich-rechtswirksam vereinbart worden sein. Bislang ist dies nicht der Fall. ___________ 99

Zur wirksamen Einbeziehung von Versicherungsbedingungen vgl. § 5a VVG a.F.; vgl. nunmehr § 7 VVG n.F. 100 Musterbedingungen 1994 Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung (MB/KK 94). 101 Die ein Patient in der Regel ohnehin nicht beurteilen kann. 102 Ein Basistarif, dessen Prämie die durchschnittliche Höchstprämie der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übersteigen darf, vgl. § 257 Abs. 2 a SGB V. 103 Vgl. dazu Muster-WBO Abschnitt C, Psychoanalyse, Psychotherapie – fachgebunden. 104 Die aus der Zusammenschau von Gesetz (§ 178b Abs. 1 VVG a.F.; vgl. nunmehr § 192 VVG n.F.), Allgemeinen Versicherungsbedingungen und Muster-Tarifbedingungen für den „Standardtarif“ zu gewinnen ist. 105 Entsprechend den Regelungen für die Vertragsärzte in der Kernspin-Vereinbarung, s. o. Fußn. 76.

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Somit kann ein (privater) Versicherer mangels einer derartigen Vereinbarung keine Obliegenheitsverletzung geltend machen, so dass eine „Haftung“ bzw. der Erstattungsanspruch des versicherten Patienten nicht eingeschränkt ist.

b) Materiell-rechtliche Bedenken im Hinblick auf einen Leistungsausschluss In diesem Zusammenhang ist – ergänzend – Folgendes zu bemerken. Es wurde erwähnt, dass ein Leistungsausschluss für MRT-gestützte Diagnostik vereinbart werden müsste; weiterhin wurde dargelegt, wie eine solche Vereinbarung rechtstechnisch in das privatrechtliche Vertragsverhältnis einbezogen werden könnte. Damit ist freilich nicht gesagt, dass ein derartiger Leistungsausschluss auch materiell-rechtlich zulässig wäre, also letztlich rechtswirksam vereinbart werden könnte. Die (Allgemeinen) Versicherungsbedingungen sind „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ (AGB) i. S. d. §§ 305 ff. BGB.106 In diesen Vorschriften werden strengere inhaltliche Schranken normiert im Vergleich mit den allgemeinen Grenzen, die für die Vertragsfreiheit gelten.107 Diese Regelungen beruhen auf der Überlegung des Gesetzgebers, dass der Verwender solcher Geschäftsbedingungen für die darin vorformulierten Regelungen allein die Freiheit inhaltlicher Gestaltung in Anspruch nimmt.108 Die §§ 307 ff. BGB bestehen aus einer Generalklausel (§ 307 BGB) sowie einem Katalog verbotener Klauseln (§§ 308, 309 BGB); diese Vorschriften sehen eine richterliche Inhaltskontrolle vor. Nach § 307 Abs. 1 BGB sind Bestimmungen in AGB unwirksam, wenn sie den Vertragspartner (hier: den privat Versicherten) des Verwenders (das ist hier der private Versicherer) „entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.“ Im Hinblick auf die Situation, in der ein Patient einen Arzt – z. B. einen Orthopäden – aufsucht und sich dort in Behandlung begibt, wird man Folgendes zu bedenken haben: Wenn vom Patienten verlangt wird, jeweils zu erkennen, ob sein Arzt für eine Methode fachlich formell qualifiziert ist, wird ihn das regelmäßig überfordern, zumal die Abgrenzung der Fachgebiete oft aus berufs-

___________ 106

Palandt-Heinrichs, § 307 Rdnr. 156, mit zahlreichen Beispielen. Und die sich vor allem aus §§ 134, 138 BGB ergeben. 108 Vgl. Palandt-Heinrichs, vor § 305, Rdnr. 7. 107

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und standespolitischen Gründen streitig und dem Laien nicht ohne weiteres erkennbar ist.109 Anders als bei psychotherapeutischen Leistungen können fachfremde physiologische Behandlungsleistungen im Annex zu anderen Behandlungsleistungen vom Facharzt in zulässiger Weise erbracht werden, ohne dass der Laie notwendigerweise merken muss, dass hier die Fachgebietsgrenzen überschritten werden. Somit ist die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zutreffend insoweit, als das Gebot zur Einhaltung der fachärztlichen Grenzen sich lediglich an den Arzt richtet.110 Entsprechendes gilt für die Tätigkeiten, in denen der Facharzt eine Weiterbildung – fachgebunden – absolvieren kann, dies aber nicht tun muss.111 Man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, dass derartige Vereinbarungen in AGB/Versicherungsbedingungen erheblichen Zweifeln im Hinblick auf ihre rechtliche Wirksamkeit ausgesetzt wären. Aus diesen Überlegungen ist im Übrigen noch eine weitere Schlussfolgerung zu ziehen: Wenn man davon ausgehen muss, dass der hier diskutierte, rechtstechnisch mögliche Ausschluss von Erstattungsansprüchen im Wege der Gestaltung entsprechender Versicherungsbedingungen materiell-rechtlich unzulässig ist, zumindest erheblichen rechtlichen Bedenken begegnet, dann kann dasselbe Ergebnis erst recht nicht im Wege einer Auslegung allein des § 178b Abs. 1 VVG a.F. bzw. § 192 VVG n.F. erreicht werden.

c) Medizinisch (nicht) notwendige Heilbehandlung Keine „Haftung“ des Versicherers und somit kein Erstattungsanspruch des Versicherten besteht im Hinblick auf Maßnahmen der Heilbehandlung, die medizinisch nicht notwendig sind. Die Sinnhaftigkeit dieser Regelung liegt auf der Hand: Jede Versicherung, auch die private Krankheitskostenversicherung beruht auf dem Solidargedanken dergestalt, dass Versicherungsleistungen nur im Falle einer Krankheit und nur insoweit erbracht werden sollen, als sie zweckdienlich, tauglich, geeignet und erforderlich sind, um eine Krankheit zu heilen. Die Inanspruchnahme überflüssiger oder untauglicher Leistungen würde den solidarischen Beitrag der Gesunden zugunsten der Kranken (innerhalb einer Versicherungsgemeinschaft) in einer nicht zu rechtfertigenden Weise erhöhen.

___________ 109

Vgl. BSGE 70, S. 24 = SozR 3-2500 § 12 Nr. 2 = Juris Rdnr. 21. BSG, a. a. O., Juris Rdnr. 20. 111 Zurzeit sind 46 derartige Zusatz-Qualifikationen möglich, vgl. Muster-WBO 2003 Abschnitt C. 110

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Ein gedanklicher Zusammenhang zum Gebührenrecht112 besteht insoweit, als dem Arzt generell untersagt ist, Vergütungen für überflüssige Leistungen zu berechnen.113 Diese Vorschrift gilt unabhängig davon, ob der Patient seine Krankheitskosten gegenüber einer Versicherung geltend machen kann. Es gibt keinen Grund, den Begriff des „medizinisch Notwendigen“ in § 1 Abs. 2 GOÄ und § 178b VVG a.F. (§ 192 VVG n.F.) in unterschiedlichem Sinn zu verstehen. Das bedeutet im Übrigen, dass ein Patient Leistungen, die ihm auf sein Verlangen hin und über das Maß des medizinisch Notwendigen hinaus erbracht werden, zwar dem Arzt gegenüber vergüten muss, nicht jedoch von seiner Krankenkasse erstattet bekommt. Wie bei § 1 Abs. 2 GOÄ ist auch bei § 178b VVG a.F. (§ 192 VVG n.F.) die „Notwendigkeit“ vom interpretatorischen Ansatz her patienten- bzw. krankheitsbezogen zu verstehen. Die diesbezüglichen Feststellungen, die zu den preisrechtlichen Voraussetzungen des Vergütungsanspruches gemacht worden sind, gelten somit auch für den Umfang der Aufwendungen, für die der (private) Krankenversicherer einzustehen hat. Damit führen auch die Überlegungen, die ihren normativen Ausgangspunkt im VVG haben, zu dem gleichen Ergebnis: Die private Versicherung haftet auch für Leistungen eines Orthopäden, der MRT-gestützte Diagnostik ohne eine entsprechende formell anerkannte (Zusatz-)Qualifikation betreibt. Auch in dieser Beziehung werden denkbare Pflichtverletzungen im Verhältnis zwischen Arzt und Patient114 zwischen diesen Beteiligten abgewickelt und zwar nach Maßgabe des Dienstvertragsrechts des ggf. dabei zu berücksichtigenden Rechts der Leistungsstörungen.115

IV. Zusammenfassung Die (Muster-)WBO 2003 ist kein Verbotsgesetz i. S. d. § 134 BGB. Die Nichtbeachtung der fachärztlichen Gebietsbegrenzung beispielsweise führt nicht zur Unwirksamkeit eines Behandlungsvertrages. Das geltende (Facharzt-)Weiterbildungsrecht gestattet Orthopäden, von der ihnen berufsrechtlich eingeräumten Befugnis zur Vornahme MRT-gestützter Diagnostik auch ohne formelle Zusatz-Weiterbildung Gebrauch zu machen. Die „Regeln der ärztlichen Kunst“ sind nicht verletzt, wenn ein Orthopäde ohne eine formelle Zusatz-Weiterbildung MRT-gestützte Diagnostik betreibt. Damit entfällt schon tatbestandsmäßig die Voraussetzung des § 1 Abs. 2 Satz 1 ___________ 112

Vgl. die Ausführungen zu § 1 Abs. 2 GOÄ III. 2. f). Ausnahme: Der Zahlungspflichtige, also der Patient, verlangt das ausdrücklich. 114 Z. B. bei Schadenszufügung oder unzulänglicher Leistung wegen konkret fehlender fachlicher Fähigkeiten. 115 Vgl. Palandt-Weidenkaff, § 611 Rdnrn. 14 -18, 33. 113

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GOÄ, wonach ein Vergütungsanspruch (unter den dort genannten Voraussetzungen) entfallen kann. Pflichtverletzungen und mangelhafte (Dienst-)Leistungen sind in ihren Rechtsfolgen umfassend im BGB geregelt. Das Gebühren-(preis)recht der GOÄ kann nicht als „general-präventives“ Instrument zur Verhinderung vermeintlicher Gefahren und Schadensfälle missbraucht werden. Eine MRT-gestützte Diagnose eines Orthopäden (ohne formelle Zusatz-Weiterbildung) steht auch in keiner Weise der medizinisch-ärztlichen „Notwendigkeit“ oder „Erforderlichkeit“ einer Behandlung generell entgegen. Dies wird in einer Entscheidung des VG Würzburg anders gesehen; das Gericht hat dabei allerdings die Reichweite und den Normzweck des § 1 Abs. 2 Satz 1 GOÄ verkannt und der Sache nach nichts anderes getan, als die vertragsarztrechtliche (!) Regelung der KernspinVereinbarung in das (privatarztrechtliche) Gebührenrecht „hineinzuinterpretieren“. § 1 Abs. 2 Satz 2 GOÄ deutet darauf hin, dass mit § 1 Abs. 2 GOÄ nichts anderes geregelt werden soll als das Entfallen eines Anspruchs bei Leistungen, die – gemessen an den Regeln der ärztlichen Kunst – überflüssig sind. § 4 Abs. 2 GOÄ bietet keine normative Grundlage für die Auffassung, dass ein Orthopäde (ohne formelle Zusatz-Weiterbildung) keine MRT-Diagnostik vornehmen darf. § 4 Abs. 2 GOÄ enthält weder ausdrücklich noch nach Sinn und Zweck (dieser Vorschrift) spezielles Leistungsstörungsrecht, das an die Stelle der Vorschriften des BGB treten soll. Weiterhin kann in § 4 Abs. 2 GOÄ nicht das Ziel des Verordnungsgebers hineingelesen werden dergestalt, dass damit berufsrechtliche Befugnisse beseitigt werden sollen. Die „Haftung“ der „privaten“ Krankheitskostenversicherung – und korrespondierend damit: der Erstattungsanspruch des (privat) Versicherten – ergeben sich aus dem „Gesetz über den Versicherungsvertrag“ (VVG) und den Versicherungsbedingungen, mit denen Inhalt und Umfang der Haftung/der Erstattung vereinbart werden. Nach geltendem Recht ist ein Haftungsausschluss für MRT-gestützte Diagnoseleistungen von nicht formell „zusatz-weitergebildeten“ Orthopäden nicht ausdrücklich vereinbart worden. Auch im Wege der Interpretation des Begriffs der „medizinisch notwendigen Heilbehandlung“ (vgl. § 178b Abs. 2 VVG a.F., § 192 VVG n.F.) ist ein derartiger Haftungsausschluss/das Entfallen eines derartigen Erstattungsanspruchs nicht juristisch konstruierbar. Es bestehen im Übrigen ernsthafte Zweifel, ob ein solcher Ausschluss (er entspräche etwa der Implementierung der Kernspin-Verordnung in das private Krankenversicherungsrecht) wirksam hergestellt werden könnte: Bei den Versicherungsbedingungen handelt es sich um allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinn des BGB; diese müssen den §§ 305–310 BGB genügen; eine Festlegung von Haftungsausschlüssen nach dem Muster der Kernspin-Verordnung ist

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wahrscheinlich nicht vereinbar mit dem Verbot „unangemessener Benachteiligungen“, das als zwingendes Recht (vgl. § 307 Abs. 1 BGB) entsprechenden privatrechtlichen Vereinbarungen entgegensteht.

Zur Dogmatik der Aufhebung und Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII Von Volker Wahrendorf, Essen

Der Jubilar und seine damalige Mitarbeiterin haben in dem Beitrag „Wann ist ein Verwaltungsakt fehlerhaft?“1 eine gründliche Analyse zur Fehlerhaftigkeit von Verwaltungsakten vorgelegt. Als Folgeproblem erwächst daraus die Aufhebung von (bestandskräftigen) Verwaltungsakten. Dazu gibt es im Allgemeinen und in den verschiedenen Rechtsgebieten reichlich Judikatur und Rechtsprechung. Anders sieht es für die neuen Gesetze des SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) und XII (Sozialhilfe) aus, die seit dem 1.1.2005 in Kraft sind. In der Kommentierung zum SGB X finden sich vorzugsweise Ausführungen zum außer Kraft getretenen Bundessozialhilfegesetz (BSHG).2 Es soll deshalb im Nachfolgenden untersucht werden, welche Anwendungsbesonderheiten sich aus dem SGB II und dem SGB XII mit Blick auf die Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X ergeben. Des Weiteren soll die bisher von den Verwaltungsgerichten verantwortete Rechtsprechung zur Aufhebung von Leistungsbescheiden des Bundessozialhilfegesetzes einer Überprüfung unterzogen und nachgegangen werden, welche Rechtsprechungstendenzen sich in der Sozialgerichtsbarkeit diesbezüglich für Leistungen nach dem SGB XII abzeichnen.

I. Einführung Gegenüber Urteilen haben Verwaltungsakte naturgemäß eine geringere Beständigkeit. Das ist auf die bestehenden Unterschiede zwischen einem Verwaltungsverfahren und einem Gerichtsverfahren zurückzuführen. Dem gerichtlichen Verfahren wird eine höhere Richtigkeitsgewähr zugeordnet, die Funktion der endgültigen Befriedigung und Streitentscheidung ist im gerichtlichen Verfahren eine qualitativ andere als in einem Verwaltungsverfahren3. Die Verwal___________ 1

Schnapp/Henkenötter, JuS 1998, S. 524 und S. 624. Vgl. z. B. Vogelsang, Hauck/Haines, SGB X, 2007, § 44 Rn. 40; Wahrendorf, Giese/Wahrendorf, SGB X, 2006, § 44 Rn. 5.1. 3 Vgl. Erichsen, Erichsen/Ehlers, Allg. Verfahrensrecht, 12. Aufl., 2002, § 16 Rn. 2. 2

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tungsverfahrensordnungen, sowohl das VwVfG als auch das SGB X, regeln näher, unter welchen Voraussetzungen die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes durchbrochen werden kann, das SGB X mit den §§ 44 f. in einer den Bedürfnissen des Sozialrechts angepassten ausdifferenzierteren Weise als das VwVfG in § 48 f. Im Kern ist den gesetzlichen Vorschriften, die die Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten regeln, in den Fällen eines begünstigenden Entscheidung gemeinsam, dass sie als materiell-rechtliche Ermächtigungsgrundlagen die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung eines gesetzmäßigen Zustandes4 und den privaten Interessen am Fortbestand einer ( auch rechtswidrig gewährten) Begünstigung ausbalancieren. Beide Grundsätze gehen auf das Rechtsstaatsprinzip zurück.5 Der Abwägungsvorgang zwischen Legalität und Bestandskraft ist für das bisher geltende BSHG durch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte geprägt worden, für die Arbeitslosenhilfe als Vorgängerregelung zum SGB II durch die Rechtsprechung der Sozialgerichte.

II. Überblick zur sozialhilferechtlichen Rechtsprechung 1. Die Aufhebungsentscheidung ist immer das Spiegelbild der Leistungsbeziehung. Daraus haben sich im BSHG besondere Probleme bei an eine Bedarfsgemeinschaft gerichtete Leistungen ergeben. Die Bedarfsgemeinschaft6 oder Einstandsgemeinschaft als solche ist nicht Anspruchsinhaberin sozialhilferechtlicher Leistungen gewesen.7 Die bescheidmäßige Zusammenfassung von mehreren in einem Familienverband lebenden Hilfebedürftigen zu einer Einstandsgemeinschaft, auch wenn in dieser wirtschaftlich die gewährten Hilfeleistungen gebündelt werden, bewirkt nicht, dass der jeweilige individuelle Hilfeanspruch in der Gemeinschaft aufgeht. Jeder Hilfeberechtigte ist Anspruchsinhaber des sozialhilferechtlichen Leistungsanspruchs geblieben. Die Aufhebung eines Bescheides nach den Vorschriften der §§ 45 f SGB X war gegenüber jedem Leistungsempfänger zu verfügen8. Das galt selbst für den Fall, dass Sozialhilfeleistungen für ein minderjähriges Kind durch Täuschungshandlun___________ 4 S. dazu besonders BVerwG, NDV 2004, 75 speziell zu § 44 SGB X; dem zustimmend Vogelsang,( Fn.3), a. a. O.; Wahrendorf, (Fn.2), a. a. O. 5 Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2007, § 48 Rn. 2. 6 Richtiger ist es, von einer Einstandsgemeinschaft zu sprechen, nicht nur, weil das BSHG, ebenso wie das SGB XII, diesen Begriff nicht verwendet, sondern auch, weil damit der Vorschrift des § 11 Abs. 1 BSHG = § 19 Abs. 1 SGB XII besser Rechnung getragen wird; vgl. zu dieser Problematik auch Schoch, NDV 2002,8; Grieger in Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, S. 532. 7 BVerwGE 55, 48; 89, 198; OVG NRW, NWVBl 1998, 357. 8 S. auch OVG Lüneburg, FEVS 55, 10; Grieger (Fn. 6), a. a. O.

Aufhebung und Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II, XII

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gen des Sorgeberechtigten erwirkt wurden.9 Diese rechtsdogmatischen Überlegungen fanden ihren sachlichen Grund im Individualisierungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 BSHG. Danach richtete sich Art, Form und Maß der Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der Art seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen.10 2. Dass die Uhren unter der Rechtsprechungsverantwortung des BVerwG im Sozialhilferecht anders gegangen sind,11 trifft vor allem auf die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bevorzugte Auffassung zu, dass § 44 SGB X auf Sozialhilfeleistungen nicht anzuwenden sei.12 Seine in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung erklärte das BVerwG damit, dass sich Abweichungen nicht nur in Gestalt ausdrücklicher gesetzlicher Vorschriften der besonderen Teile des Sozialrechts ergeben können (§ 37 SGB I), sondern auch aus geltenden Strukturprinzipien einer Sozialleistungsbeziehung. Zu diesen Strukturprinzipien zählte das BVerwG den Grundsatz „Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit“ und untermauerte seine Auffassung damit, dass es sei mit Rücksicht auf den Charakter der Sozialhilfe als Hilfe zur Beseitigung gegenwärtiger Notlagen denkgesetzlich nicht möglich sei, im Nachhinein über § 44 SGB X Leistungen zu gewähren. Da der Umgang mit dieser Vorschrift bei den Sozialgerichten auf einem anderen Vorverständnis als bei den Sozialgerichten beruht, wundert es nicht, dass es seitens der Wissenschaft zu dem früh formulierten Wunsch an die Sozialgerichte kam, die Vorschrift des § 44 SGB X auf Sozialhilfebescheide anzuwenden.13 Die von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vertretene Auffassung zur eingeschränkten Anwendung des § 44 SGB X bedarf bereits für das BSHG einer kritischen Überprüfung. Sie überzeugt14 schon im Ansatz nicht und verstellt den Blick für eine Anwendung im SGB XII. Dabei handelt es sich nicht nur um ein theoretisches Problem, weil nach dem Inkrafttreten des SGB XII über nach dem BSHG in der Vergangenheit zu Unrecht versagte Leistungen auch heute noch entschieden werden muss.

___________ 9 S. BVerwG, NDV 1992, 341; OVG NRW, FEVS 43, 25; OVG Hamburg, FEVS 44, 429; Fleischmann, NDV 1994, 87. Zur Beachtung bei der Rückforderung von Minderjährigen, s. auch die nachdenkenswerte Rechtsprechung des BVerfG, NJW 1998, 3558. 10 Näheres zum Individualisierungsgrundsatz, Rothkegel, Die Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, 2000, S. 41. 11 Vgl. Rothkegel, ZfSH/SGB 2002, 8. 12 Grundlegend dazu BVerwGE 68, 285; s. auch BVerwGE 99, 114, 118; anders jedoch zum BaföG, BVerwG, NVwZ 1985, 655. 13 So vor allem Münder, SGb 2006, 191 14 Ebenso Armbrost/Conradis, Lehr- und Praxiskommentar, 7.Aufl. 2005, Anhang Rn. 55.

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Von der denkgesetzlichen Logik her, die als wesentliche Begründung für die Nichtanwendung des § 44 SGB X im Sozialhilferecht angeführt wird, kann ein sozialhilferechtlich in der Vergangenheit nicht durch staatliche Leistungen gedeckter Bedarf durchaus fortbestehen. Für das logische Argument streitet lediglich das Dogma des „in präteritum non vivitur“.15 Sachliche und rechtssystematische Gründe sprechen jedoch dafür, sich von diesem Dogma zu befreien. Dass selbst das BVerwG in der Bandbreite seiner Entscheidungen seinen rechtsdogmatischen Ansatz nicht strikt durchhält, zeigt seine Rechtsprechung zur Nachbewilligung von Sozialhilfe.16 Es sind die normativen Gesichtspunkte der Effektivität der gesetzlichen Gewährung des Rechtsanspruchs des Hilfebedürftigen auf Fürsorgeleistungen und die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes in der Sozialhilfe, die den Hilfebedürftigen davor schützen, die aus der Zeitgebundenheit und der daraus resultierenden Existenzschwäche der Sozialhilfe einen Sozialhilfeanspruch zu verlieren.17 Die unerledigte Bedarfsdeckung, sei über sie vom Leistungsträger nicht beschieden oder seien Leistungen zu Unrecht abgelehnt worden, lässt sich auch nachträglich erfüllen, so dass es unverständlich bleibt, einen in der Vergangenheit rechtswidrig abgelehnter Hilfeanspruch selbst dann nicht über § 44 SGB X zu „korrigieren“, wenn sich der Hilfebedürftige infolge der Nichtgewährung der Hilfe verschulden musste.18 Geradezu lebensfremd wird argumentiert, dass in den Fällen des § 44 Abs. 1 SGB X, also bei durch Verwaltungsakt versagter rechtswidriger Leistung, kein Bedarf aus der Vergangenheit normativ existiere, der nachträglich erbracht werden müsste. Überhaupt nicht einleuchtend wird die Argumentation vor allem dann, wenn es sich um Geldleistungen (§ 8 Abs.1 BSHG) handelt, die an sich nachgeholt werden können.19 Schon wegen der der Sozialhilfe an sich anhaftenden Existenzschwäche, im Bedarfsfall die erforderlichen Sach- oder an deren Stelle entsprechende Geldleistungen zur Verfügung zu stellen, ist es geradezu eine Frage der materiellen Gerechtigkeit, vom Ansatz her die Prüfung des § 44 SGB X zuzulassen.20 Ob der Betreffende seinen Anspruch gleichwohl verloren hat, weil er seinen Bedarf anderweitig als durch die ihm versagte Leistung des Sozialleistungsträgers gedeckt, ist in einer weiteren Stufe zu prüfen.

___________ 15

Vgl. Rothkegel (Fn. 11), a. a. O. S. die Beispiele bei Grube, NVwZ 2002, 1460. 17 S. BVerwGE 96, 18, 19; Rothkegel/Grieger, Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, S. 674; Grube, NVwZ 2002, 1459. 18 So etwa Rothkegel/Grieger, (Fn. 17), S. 675. 19 A. A. Rothkegel, Die Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, 2000, S. 17. 20 Ebenso Armbrost/Conradis, (Fn.14), Anhang Rn. 55. 16

Aufhebung und Rückforderung von Leistungen nach dem SGB II, XII

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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang immerhin, dass mit der Vorschrift des § 9 Abs. 3 AsylblG in einem dem BSHG nahen Gesetz, die Vorschrift des § 44 SGB X zur Anwendung vorgesehen war und ist und auch bei der Grundsicherung im Alter und Erwerbsminderung (GSiG) an dem Dogma „Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit“ nicht festgehalten wurde.21 Schon für pauschalierende Regelungen, die auch das BSHG z. B. in der Mehrbedarfsregelung des § 23 BSHG kannte, vermochte der Hinweis auf eine nachträglich nicht mehr zu beseitigende, aktuelle Notsituation nicht zu überzeugen. 3. Für das SGB XII stellen sich die im BSHG umstrittenen Fragen einer Anwendung des § 44 SGB X nicht mehr in der vom namentlich dem BVerwG vertretenen und ohne Ausnahme zulassenden Stringenz, und so wird dessen Standpunkt gerade nach der Sozialhilfereform 2005 zukünftig nicht mehr aufrecht zu halten sein.22 Hing der Grundsatz „Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit“ auch damit zusammen, dass Sozialhilfe keine rentengleiche Dauerleistung ist und der Bedarf auf die aktuelle Hilfesituation bezogen war, haben sich die Strukturen des SGB XII grundlegend gewandelt, weil wesentliche Leistungen schon von Gesetzes wegen, durch die individuelle Entscheidung des Hilfeträgers oder ihrer Art nach (dauernde Pflegeleistungen) rechtsdogmatisch Dauerverwaltungsakte sind und damit einer Anwendung des § 44 SGB X auch im SGB XII keine normativen Bedenken entgegen stehen. So wird die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung grundsätzlich für zwölf Monate gewährt (§ 44 SGB XII),23 bei anderen Leistungen des Fünften bis Neunten Buches kommt es jeweils auf den vom Leistungsträger verlautbarten Regelungsdauer an. Selbst bei den in der Praxis im Gegensatz zum BSHG unbedeutend gewordenen Regelleistungen24 ist dem im SGB XII gesetzgeberisch vorgenommenen Paradigmenwechsel25 mit seinen Pauschalierungen und dem damit erzwungenen Ansparverhalten bei einmaligen Bedarfen Rechnung zu tragen. So ist es bereits normativ begründet, dass eine rechtswidrig versagte Regelleistung im Nachhinein korrigiert wird, weil der Hilfe Nachfragende beispielsweise in der Vergangenheit nicht in der Lage war, die erforderlichen Ansparungen für einmalige Anschaffungen vorzunehmen und die vorhandene Lücke aus Gerechtigkeits- und Legalitätserwägungen über § 44

___________ 21

Kunkel, ZFSH/SGB 2004, 331. So resignierend: Rothkegel/Grieger, (Fn. 17), S. 675. 23 Zur Anwendung des § 44 SGB XII: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl., 2008, § 44 Rn. 1 m. w. N. 24 Durch die in § 7 SGB II geregelte Bedarfsgemeinschaft ist der Anwendungsbereich der Regelleistung nach dem BSHG deutlich eingeschränkt worden. 25 Vgl. Grube/Wahrendorf, (Fn.23), Einl Rn. 32; s. auch Spellbrink, JZ 2007, 28. 22

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SGB X geschlossen werden kann.26 Soweit sich in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung Zustimmung zu der vom BVerwG bevorzugten Auffassung finden,27 wird diese unkritisch übernommen.

III. Zur Anwendung des § 48 SGB X 1. Verändern sich die Lebensumstände eines im Sozialhilfebezug stehenden Sozialhilfeempfängers, haben sie zumeist unmittelbare Auswirkungen auf den Sozialhilfeanspruch. Unter der Geltung des BSHG wurde die für eine derartige Situation thematisch einschlägige Vorschrift des § 48 SGB X nicht angewendet, wenn es sich nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelte28. Bei der Hilfe in Besonderen Lebenslagen, z. B. der Gewährung von Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege, erließen die Leistungsträger erkennbar Leistungsbescheide über einen längeren Zeitraum, so dass sich bei veränderten Umständen die Frage der Nichtanwendung des § 48 SGB X nicht stellte.29 Es bestand ein selbstverständliches verfahrensrechtliches Bedürfnis, auf Veränderungen in einem Bewilligungszeitraum zu reagieren, wobei der § 48 SGB X typischerweise die verfahrensrechtliche Grundlage dafür zur Verfügung stellt. Da die Hilfe zum Lebensunterhalt nicht als rentengleiche Dauerleistung angesehen wurde, die sich gleichsam Tag für Tag verwirklichen konnte,30 stand die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung einer Anwendung des § 48 SGB X eher ablehnend gegenüber. Eine derartige Auffassung hat schon nicht zur Kenntnis genommen, dass die Regelleistung, die im Übrigen in der zugehörigen Regelsatzverordnung nicht tageweise, sondern monatsweise ausgewiesen war, schon aus praktischen Gründen nicht kalendertäglich bewilligt wurde. Abgesehen davon fanden sich in den sozialhilferechtlichen Bewilligungsbescheiden der zu gewährenden Regelleistung die Formulierungen „bis auf Weiteres“ oder die Leistungen wurden für bestimmte Zeiträume zugesprochen. Diesen Bescheiden war auch nach damaligem Verständnis eine Dauerwirkung nicht abzusprechen.31

___________ 26 So eindeutig für das Grundsicherungsgesetz im Alter und bei Erwerbsminderung, BSG, Urt. v. 16.10.2007, B 8/9b SO 8/06 R. 27 Vgl. z. B. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 1.2.2007, L 7 SO 1676/06; LSG Hamburg, B. v. 7.9.2007, L 4 B 355/07. 28 Vgl. z. B. OVG Hamburg, FEVS 47,538; zum Meinungsstand s. auch Löcher, ZFSH/SGB 2001, 397. 29 S. auch Löcher, a. a. O., S.398. 30 Vgl. BVerwGE 66,342; Rothkegel, Strukturprinzipien, S. 85 m. w. N. 31 So z. B. Löscher, (Fn.28 ) S. 401.

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2. Die in der Sozialhilfe unter der Geltung des BSHG zu § 48 SGB X diskutierten Probleme stellen sich im SGB II und dem SGB XII so nicht mehr. Nach § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II werden die Leistungen jeweils für sechs Monate im voraus gewährt. Damit werden laufende Leistungen als Dauerverwaltungsakt bewilligt32 und § 48 SGB X ist grundsätzlich bei nachträglichen Veränderungen anzuwenden.33 Für die Regelleistung nach dem SGB XII gilt, dass es sich bei einer solchen nach § 41 SGB XII, die Hilfen im Alter und bei Erwerbsminderung betrifft, um Dauerleistungen handelt, weil sie gemäß § 44 S. 1 SGB XII in der Regel für ein Jahr bewilligt werden. Damit gilt das bereits Gesagte, dass § 48 SGB X grundsätzlich anwendbar ist.34 Auch für die monatsweise Bewilligung von Regelbedarf gemäß § 28 SGB XII kann nichts anderes gelten.35

IV. Unterschiede zwischen der Aufhebung und Rücknahme von Leistungsbescheiden des SGB XII und des SGB II Mit der Ablösung des BSHG durch das SGB XII und der Arbeitslosenhilfe nach dem SGB III durch das SGB II sollten nach den Vorstellungen des Gesetzgebers diese beiden durch Steuern finanzierte Leistungsbereiche strukturell angenähert werden. Dass sich dieses Zielsetzung nicht verwirklicht hat, machen Vergleiche beider Gesetzes allzu offenkundig. Gerade bei der Rücknahme rechtswidrig erlangter Leistungen treten bestehenden Strukturunterschiede der jeweiligen Gesetze augenfällig zu Tage. 1. Unter Geltung des BSHG ist der in der Praxis verwendete Begriff der Bedarfsgemeinschaft wegen des fehlenden Bezugs zum positiven Recht auf Skepsis gestoßen und durch den Begriff der Einstandsgemeinschaft ersetzt worden.36 Als sozialhilfeberechtigt war nicht das Konstrukt „Bedarfsgemeinschaft“ anzusehen, sondern jedes Mitglied einer Familie, für die §§ 11 Abs. 1 und 28 BSHG die rechtlichen Maßstäbe dafür aufstellten, wer für sich selbst und für andere der Familiengemeinschaft mit seinem Einkommen und Vermögen einzustehen ___________ 32

Eicher, Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 41 Rn. 6. Zu beachten ist allerdings, dass die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X den § 48 SGB X verdrängen kann, s. Udsching/Link, SGb 2007, 518, die auch zu einzelnen Fallgruppen Lösungen entwickeln, denen hier aus Platzgründen nicht nachgegangen werden kann. 34 Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl., 2008, Einl. Rn. 84; vgl. auch BSG FEVS 58, 337; LSG BW, B. v. 18.10.2006, L 7 SO 3313/06 ER-B. 35 So schon für das Recht der Sozialhilfe: Grieger, ZFSH/SGB 2002, 454. 36 S. dazu insbesondere Schoch, NDV 2002,8; Rothkegel/Grieger, (Fn. 17), S. 678; Grube in Grube/Wahrendorf (Fn. 34), Einl. Rn. 42; BSG, FEVS 58, 259. 33

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hatte. Für jeden Hilfeempfänger war daraus ein eigenes Sozialleistungsverhältnis abzuleiten, was sich dogmatisch darin ausdrückte, dass jedes Mitglied einer Einstandsgemeinschaft als Adressat der Leistung anzusehen war.37 Die Aufhebung und Rückforderung von Leistungen wurde durch das Verständnis von der jeweiligen individuellen Leistungsbeziehung erleichtert. Nach sozialhilferechtlichen Verständnis ist kein Zweifel daran aufgekommen, dass im familiären und partnerschaftlichen Verbund der actus contrarius nur jedes Mitglied38 treffen konnte und kein irgendwie geartetes Gesamtschuldverhältnis, insbesondere bei der Rückabwicklung überzahlter Leistungen, bestanden hat.39 2. Für das SGB XII gibt es zum bisherigen BSHG keine strukturellen, eine andere Sichtweise herausfordernden Unterschiede. Der Individualisierungsgrundsatz ist ebenfalls ein wesentliches Merkmal des Leistungsrechts nach dem SGB XII.40 Denn auch die Leistungen des SGB XII sollen sich nach der Besonderheit des Einzelfalles richten (§ 9 Abs. 1 SGB XII). Soweit Sozialgerichte über die Aufhebung und Rückforderung von Sozialhilfeleistungen zu entscheiden hatten, sind sie der bisherigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte gefolgt.41 3. Das SGB II regelt im eigentlichen Sinn die Einstandsgemeinschaft zwar in § 9 Abs. 1 und 2, wo festgelegt wird, wer im familiären oder partnerschaftlichen Verbund im Hilfefall einzustehen hat. In der Vorschrift selbst wird statt des Begriffs Einstandsgemeinschaft der der Bedarfsgemeinschaft verwendet. § 9 Abs. 2 SGB II betrifft die Hilfebedürftigkeit in einer Bedarfsgemeinschaft,42 die in § 7 Abs. 2 SGB II definiert wird. Damit werden vom Anwendungsbereich des SGB II auch nicht erwerbsfähige Personen erfasst, die mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zusammenleben, bei eigener Hilfsbedürftigkeit. Der Bruch in der systematischen Ausrichtung des SGB II besteht darin, dass die gesetzgeberische Konzeption der Bedarfsgemeinschaft mit dem Individualanspruch des Gesetzes an sich nicht in Einklang zu bringen ist. ___________ 37

In der Praxis war der Blick für die Einstandsgemeinschaft verstellt, weil nicht einzelne Bescheide verschickt wurden, sondern ein einheitlicher, zumeist an den Haushaltsvorstand adressierter Bescheid übermittelt wurde. Erst aus der Begründung des Bescheides wurde dann eine Differenzierung nach den einzelnen Leistungsberechtigten vorgenommen. 38 Zur Wirksamkeit der Zustellung: BVerwGE 50, 73. 39 BVerwGE 50, 73; FEVS 43, 268 = NJW 1993, 2884; OVG NRW, FEVS 48, 552; NWVBl 1998, 356 = FEVS 49, 6. 40 Vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, (Fn.34), § 9 Rn. 2. 41 S. z. B. LSG NRW, Breith. 2007, 349; LSG Baden-Württemberg, 18.10.2007, L 7 SO 2899/06. 42 Zur Kritik an dem Begriff der Bedarfsgemeinschaft: BSG, FEVS 58, 347; 58, 289; 58, 259; Spellbrink, NZS 2007, 121; s. auch Udsching/Link, SGb 2007, 514.

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Aus dem Individualanspruch der Sozialhilfe wurde im BSHG und wird im SGB XII eine individuumzentrierte Anrechnung von Einkommen und Vermögen abgeleitet, was dazu führen kann, dass bei einem zusammenlebenden Ehepaar, bei dem ein Partner über ein seinen Bedarf übersteigendes Einkommen verfügt, aus dem Sozialleistungsverhältnis herausfällt (vertikale Berechtung). Anders hingegen verläuft der im SGB II eingeschlagene Weg. Nach § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig. Dies führt dazu, dass der, der an sich seinen Bedarf durch seinen Einkommens- und Vermögenseinsatz decken könnte, das Vorhandene für die gesamte Bedarfsgemeinschaft nicht ausreicht, als hilfebedürftig gilt (horizontale Berechnung). Damit ist der an sich nach dem sozialhilferechtlichen Verständnis Nichthilfebedürftige Leistungsadressat und sein Einkommen und Vermögen kein schlichter Rechnungsposten.43 Für die Aufhebung und Rückforderung kann er logischerweise Adressat des actus contrarius sein, soweit sich in seiner Person die Voraussetzungen einer zu Unrecht erhaltenen Leistung verwirklicht haben.44 Die im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II von Spellbrink45 vermuteten kognitiven Probleme von „Sozialhilferechtlern“ finden eine Erklärung in einer ganz anderen Weise. § 19 S. 3 SGB II teilt das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen auf. Es mindert zu allererst die Geldleistungen der Agentur für Arbeit; soweit Einkommen und Vermögen darüber hinaus zu berücksichtigen sind, mindert es die Geldleistungen der kommunalen Träger. Da bei einem zu verteilenden Einkommen, die zu gewährenden Kosten der Unterkunft, für die die Kommunen Leistungsträger sind (§ 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II), geringer sein können, wird eine vertikale Berechnung beim Einkommens- und Vermögenseinsatz von ihnen präferiert.

V. Anordnung der sofortigen Vollziehung Bei der Aufhebung und Rückforderung zu Unrecht bezogener Leistungen nach dem SGB XII haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 S. 1 SGG). Will der Leistungsträger, seine von ihm erlassenen Rückabwicklungsbescheide zeitnah und ohne die Bestandskraft abzuwarten, durchsetzen, ist er gehalten, die sofortige Vollziehung gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG anzuordnen.46 Die erforderliche Begründung der Anordnung ___________ 43

So grundlegend BSG, SGb 2007, 308. Spellbrink, NZS 2007, 124; Udsching/Link, SGb 2007, 515. 45 NZS 2007, 122. 46 Zum Streit um die Vollziehbarkeit oder Wirksamkeit bei angeordneter sofortiger Vollziehung, s. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 80 Rn. 22; Bücken-Thielmeyer/ 44

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der sofortigen Vollziehung darf nach allgemeinem Verständnis nicht formelhaft sein.47 Es geht um eine auf den Einzelfall abgestellte Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses, das den sofortigen Vollzug der Rückabwicklung rechtfertigt. Es reicht nicht aus, den Wortlaut der Ermächtigungsnorm wiederzugeben oder sich auf die Rechtmäßigkeit der getroffenen Entscheidung zu beziehen48 Das öffentliche und das private Interesse sind dabei abzuwägen, wobei als Folge des Rechtsstaatsprinzips der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Mögliche Zinsnachteile der öffentlichen Hand können ebenso wenig wie das Interesse an einer geordneten Haushaltsführung die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigen.49 Denn allein die mögliche Rechtmäßigkeit der getroffenen Entscheidung vermag ein besonderes öffentliches Interesse an einem Sofortvollzug nicht begründen. Fiskalische Interessen reichen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung in gravierenden Fällen des Leistungsmissbrauchs aus.50 Für das SGB XII ergeben sich zur aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage keine Zweifelsfragen. Ganz anders ist die Situation im SGB II. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte, die Leistungen nach dem SGB II entscheiden, keine aufschiebende Wirkung. Bisher haben es weder Literatur noch Rechtsprechung seit Inkrafttreten des SGB II geschafft, die mit der Aufhebung und Rückforderung von Leistungen zusammenhängenden Probleme einverständlich zu lösen.51 Hierbei geht es um den Begriff der Leistungen. Damit kann sowohl der Aufhebungsbescheid als auch der gemäß § 50 SGB X zu erlassende Erstattungsbescheid gemeint sein. Mit dem Argument, dass der Aufhebungsbescheid das Spiegelbild des Leistungsbescheides ist, lässt sich gut vertreten, dass bei diesem Widerspruch und Anfechtungsklage von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung haben.52 Für den Erstattungsbescheid ist der Wortlaut der Vor___________ Kröninger in: Fehling/Kastner/Wahrendorf, VwVfG-VwGO, 2006, § 80 Rn. 14; die Vollziehbarkeitsanordnung selbst ist kein VA, s. auch Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Rn. 133. 47 Zu den Rechtsfolgen einer fehlenden oder fehlerhaften Begründung: Putler, Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl 2006, § 80 Rn. 154. 48 Terwiesche, NWVBl 1996, 462. 49 Bücken-Thielmeyer/Kröninger,(Fn. 46), § 80 Rn. 37. 50 Vgl. LSG Hamburg, B. v. 29.5.2006, L 5 B 77/06 ER AS. 51 So zu Recht die Kritik von G. Wagner, jurisPK-SGB II, § 39 Rn. 13. 52 Vgl. dazu LSG Niedersachsen – Bremen, B. v. 23.3.2006, L 9 AS 127/06 ER; LSG Rheinland-Pfalz, B. v. 17.1.2006, L 3 ER 128/05 AS; LSG NRW, B. v. 29.11.2007, L 9 B 101/07 AS ER; Conradis, LPK-SGB II, 2. Aufl. § 39 Rn. 7; Pilz, Gagel, Sozialgesetzbuch III, § 39 SGB II Rn. 9; a. A. Adolph, Linhart/Adolph, SGB II, SGB XII u. a., 2008, § 39 Rn. 2; Bayerisches LSG, B. v. 31.8.2005, L 7 B 389/05 AS ER ; LSG NRW,

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schrift nicht eindeutig. Systematische Gründe sprechen gegen eine Anwendung des § 39 Nr. 1 SGB II auf den Erstattungsbescheid, weil er anders als der Aufhebungsbescheid ein aliud zur Leistung ist. Wollte der Gesetzgeber den Rechtsschutz in gravierender Weise einschränken, hätte es einer deutlicheren gesetzlichen Regelung bedurft,53 zumal dann, wenn man der Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II unterstellen will, dass sie auf die Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs ausgerichtet sein soll. Eine Absage ist der Auffassung zu erteilen, die § 31 Nr. 1 SGB II nur auf eine in die Zukunft gerichtete Aufhebung oder Kürzung der Leistung anwendet,54 weil damit die Konnexität zwischen Leistung und Aufhebung in ihrem systematischen Verbund als actus contrarius außer acht gelassen wird.

VI. Vertreterhandeln 1. Wegen des individualzentrierten Leistungsverhältnisses, und das gilt sowohl für das SGB XII wie für das SGB II, müssen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide eindeutig erkennen lassen, welches Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu Unrecht Leistungen erhalten hat und welcher Betrag von welcher Person zurückzufordern ist.55 Diese an die Bescheide zu stellenden Erfordernisse ergeben sich schon aus § 33 Abs. 1 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt bestimmt sein muss. Für die Aufhebung eines Bescheides nach dem SGB II oder dem SGB XII ist dieser genau zu bezeichnen. Betrifft die Aufhebung einen längeren Zeitraum, müssen nicht zwingend die einzelnen Bescheide aufgeführt werden, sondern es kann durch Zeitangaben umschrieben werden, für welchen Zeitraum die Bewilligungsbescheide aufzuheben sind.56 2. Unsicherheiten ergeben sich im SGB II durch die Vertretungsfiktion des § 38 Abs. 1 SGB II. Diese Vorschrift enthält eine Bevollmächtigungsfiktion für die Antragstellung und die Entgegennahme von Leistungen. Keineswegs kann diese Vertretungsfiktion so gedeutet werden, dass sich der eigentliche Leistungsempfänger das Verschulden (§§ 40 Abs. 1 SGB II, 330 SGB III, 45 Abs. 2 S. 3 SGB X) eines derart Bevollmächtigten zurechnen lassen muss.57 Es ist ___________ B. v. 18.12.2006, L 20 B 270/06 AS ER; zum Meinungsstand s. Eicher, Eicher/ Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, Rn. 16. 53 S. dazu LSG Hamburg (Fn. 35). 54 So wohl LSG NRW, B. v. 29.11.2007, L 9 B 101/07 AS ER. 55 S. auch LSG BW, Urt. v. 18.10.2007, L 7 SO 2899/06; Spellbrink, NZS 2007, 124. 56 Es ist im Übrigen unverzichtbar, dass sich aus dem Bescheid nicht nur die zurückgeforderte Summe, sondern auch eine detaillierte Auflistung der zugeflossenen Leistungen ergibt, vgl. Schoenfeld, Grube/Wahrendorf, 2. Aufl., 2008, § 102 Rn. 25; OVG Lüneburg, FEVS 55, 10. 57 S. auch Spellbrink, a. a. O.

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jeweils der individuelle Schuldvorwurf des Leistungsempfängers oder seines gesetzlichen oder gewillkürten Vertreters, der ihm zugerechnet wird, zu prüfen. Während sich der Rückforderungsbescheid wegen zu Unrecht bezogener Leistungen nicht an den Vertreter richten kann, schließt § 34 Abs. 1 S.1 Nr. 1 SGB II eine „Gerechtigkeitslücke“. Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für seine oder die Hilfebedürftigkeit von Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, oder nach Nr. 2 die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an sich oder Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. § 103 Abs. 1 SGB XII als Parallelvorschrift zu § 34 SGB II erweitert den Adressatenkreis der Ersatzpflichtigen, indem auf das Erfordernis der Bedarfsgemeinschaft resp. im SGB XII der Einstandsgemeinschaft verzichtet wird. Zum Kostenersatz ist auch derjenige verpflichtet, der für andere die Leistungsvoraussetzungen vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat. Ergänzend formuliert § 103 Abs. 1 S. 2 SGB XII, dass zum Kostenersatz auch verpflichtet ist, wer als leistungsberechtigte Person oder als deren Vertreter die Rechtswidrigkeit des der Leistung zugrunde liegenden Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Während Erstattungsvoraussetzung des § 103 Abs. 1 SGB XII die Rechtmäßigkeit der Leistung und ein von der Solidargemeinschaft zu missbilligendes Verhalten voraussetzt58 und sich dadurch wesentlich von den Regelungen der §§ 45 und 50 SGB X unterscheidet, durchbricht § 104 SGB XII den strikten, an sich maßgeblichen Individualisierungsgrundsatz. Zum Ersatz der Kosten für zu Unrecht erbrachte Leistungen der Sozialhilfe ist in entsprechender Anwendung des § 103 verpflichtet, wer die Leistungen durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt hat (§ 104 S. 1 SGB XII). Satz 2 der Vorschrift erweitert im Fall des Kostenersatzes bei schuldhaftem Verhalten § 50 SGB X, indem ein Gesamtschuldverhältnis zwischen dem nach Satz 1 Verpflichteten und dem nach § 50 SGB X Ersatzpflichtigen angeordnet wird. 3. Weniger plausibel als die §§ 103, 104 SGB XII ist § 34 SGB II. Wie auch die Vorschriften des SGB XII lehnt sich § 34 SGB II an das Sozialhilferecht an.59 Wörtlich heißt es in der Gesetzesbegründung: „Zum Ersatz der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist verpflichtet, wer als Volljähriger vorsätzlich oder grob fahrlässig und ohne wichtigen Grund seine Hilfebedürftigkeit oder diejenige der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft verursacht.“ Damit lässt sich aus dem Wortlaut und der sparsamen Begründung der Vorschrift kein zuverlässiger Hinweis darauf entnehmen, dass die Vorschrift des § 34 SGB II eine ___________ 58 59

Schoenfeld (Fn.56) § 103 Rn. 4 f. BT-Drs. 15/1516, S. 62.

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Erstattungspflicht sowohl für rechtmäßige als auch rechtswidrig gewährte Leistungen beinhalten soll.60 Da dem Gesetzgeber das Vorbild des § 92 a BSHG vorschwebte, ist aus dem Tatbestandsmerkmal des wichtigen Grundes hineinzulesen, dass damit auch und nicht nur rechtmäßige Zahlungen- in Nr. 2 wird nicht das Wort Leistung verwendet- gemeint sein sollen, um die Gerechtigkeitslücke zu schließen, die sich auftun würde, falls vom Erstattungsanspruch des § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II nicht auch der gesetzliche oder gewillkürte Vertreter neben dem durch zu Unrecht Bevorteilte zum Ersatz herangezogen wird.61 Zwischen der Anwendung der §§ 104, 103 SGB XII besteht der wesentliche Verständnisunterschied darin, dass § 104 S. 1 SGB XII ein zweistufiges Verfahren erfordert. Zunächst muss der Leistungsträger die Sozialhilfebescheide aufheben, um dann in einer zweiten Stufe Ersatzansprüche geltend machen zu können62. Damit wird ein quasi deliktischer Anspruch systemwidrig mit den Vorschriften der §§ 45 und 50 SGB X verwoben, was auch in der praktischen Handhabung zu Effizenzverlusten führen wird. Vergleichbares findet sich in § 34 SGB II nicht, der systematisch ein eigenständiger Ersatzanspruch ist.

VII. Zusammenfassung Der Auffassung des BVerwG zur Nichtanwendung des § 44 SGB X im Sozialhilferecht lässt sich nicht halten. Mit dem Übergang der Rechtsprechungsverantwortung von den Verwaltungsgerichten zu den Sozialgerichten sollte die Chance einer Neujustierung genutzt werden. Bei Veränderungen während der Dauer des Leistungsbezuges nach dem SGB II oder dem SGB XII ist prinzipiell § 48 SGB X anzuwenden. Bei der Aufhebung und Rückforderung wirken sich die strukturellen Unterschiede zwischen dem SGB XII und dem SGB II namentlich bei der Beteiligung von Bedarfs- bzw. Einstandsgemeinschaften aus. Für das SGB XII zeichnet sich in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung eine erkennbare Tendenz ab, sich der entsprechenden Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte anzuschließen. ___________ 60 Schoenfeld (Fn. 56) § 34 Rn. 5; Conradis, LPK-SGB II, § 34 Rn.3; vgl. allerdings ohne Bedenken: Luthe/Dittmar, Fürsorgerecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 457; Link, Eicher/ Spellbrink, SGB II, 2005, § 34 Rn. 14. 61 So im Ergebnis auch Luthe/Dittmar, a. a. O; Link, a. a. O.; viel spricht dafür, dass sich § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 im Verhältnis zur Nr. 1 nur auf Geldleistungen beziehen soll, vgl. Schoenfeld, (Fn. 56) § 34 Rn. 5. 62 Schoenfeld, (Fn. 52) § 104 Rn. 4; Grieger in Rohtkegel (Fn.17), S. 534; zum bisherigen Recht, BVerwGE 105, 375.

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Beim Vollzug von Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden, die das SGB XII betreffen, ist die sofortige Vollziehung anzuordnen. Im SGB II hat es die Rechtsprechung bisher nicht geschafft, ein gemeinsames Verständnis für den Begriff der Leistung i. S. des § 39 Nr. 1 SGB II zu entwickeln. Um die damit verbundene Rechtsunsicherheit im administrativen Vollzug zu beseitigen, bedarf es einer gesetzlichen Klarstellung. Die §§ 44 SGB X ff unterscheiden sich grundlegend von den Vorschriften der §§ 103,104 SGB XII und § 34 SGB II, weil sie zum Kostenersatz denjenigen verpflichten, der für andere die Leistungsvoraussetzungen vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat.

Dritter Teil: Verwaltungsrecht und Prozessrecht

Kommunale Mandate als schadensgeneigte Tätigkeit? Von Christoph Brüning, Kiel Wer sich im kommunalen Gemeinwesen zur Wahl stellt, muss damit rechnen, gewählt zu werden. Und wer gewählt wird, übertritt die Schwelle vom privaten bzw. gesellschaftlichen Bereich in den staatlichen Sektor, mit der Folge, dass zusätzlich zur Verantwortung für sich selbst die für das Gemeinwohl tritt. Nun mag dieses Risiko für diejenigen, die ein Amt hauptberuflich als Beamte übernehmen, überschaubarer sein als für diejenigen, die ehrenamtlich als Laien ein Mandat annehmen. Doch zum einen sind die Anforderungen an die verschiedenen Funktionsträger unterschiedlich hoch und zum anderen wird nicht jeder Gewählte zuerst die Schadensgeneigtheit seiner Tätigkeit ausloten, sondern sich den Gestaltungsmöglichkeiten zuwenden. Und deshalb gilt für alle Amts- und Mandatsträger gleichermaßen: Wer sich in Gefahr begibt, kann darin umkommen. – Doch wie groß ist die Gefahr für Gemeinde-, Stadt- und Kreisräte?

I. Verantwortung in der Kommune Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet den Gemeinden das Recht, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln“. Satz 2 erkennt auch den Gemeindeverbänden „im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung“ zu. Diese sog. kommunale Selbstverwaltung findet ihre innere Rechtfertigung einerseits in den Zielen der Dezentralisation und der Staatsentlastung und andererseits in den Zielen der Vernetzung der Verwaltung mit der Gesellschaft und der demokratischen Teilhabe. Organisatorisch umgesetzt wird diese Idee, indem die wahlberechtigten Einwohner aufgerufen sind, eine Bürgervertretung zu wählen1. Die Ratsmitglieder, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen ___________ 1 Zur Frage, ob die Bürgerschaft selbst ein Organ ist, siehe Fügemann, DVBl. 2004, 343 ff.

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Wahlen hervorgehen (vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG), bilden das sog. Kommunalparlament2. Dieser Begriff ist insofern irreführend, als es sich bei der Gemeinde insgesamt um einen Teil der Landesverwaltung und damit beim Gemeinderat um ein Verwaltungsorgan handelt, und nicht – wie bei Parlamenten auf Bundes- und Landesebene – um ein Gesetzgebungsorgan3. Dennoch macht die Bezeichnung deutlich, dass die Gemeinde nicht ein weisungsgebundenes Element der hierarchisch aufgebauten Landesverwaltung ist, sondern eine selbständige Rechtsperson mit einer unmittelbar demokratisch legitimierten Vertretungskörperschaft darstellt. Dieses als Stadt- oder Gemeinderat und auf Kreisebene als Kreistag bezeichnete Kollegialorgan ist die politische Vertretung der Bürgerschaft; die ehrenamtlichen Mitglieder sind – ähnlich wie Parlamentarier – verpflichtet, in ihrer Tätigkeit ausschließlich nach dem Gesetz und ihrer freien, nur durch Rücksicht auf das öffentliche Wohl bestimmten Überzeugung zu handeln. Sie besitzen – mit Blick auf Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG und das Prinzip der repräsentativen Demokratie – ein freies, nicht ein imperatives Mandat4. Die Verpflichtung eines Gemeinderates, die ihm übertragenen Geschäfte uneigennützig und verantwortungsbewusst zu führen, schränkt sein Recht, (auch) in Angelegenheiten der Gemeinde bei einer öffentlichen Versammlung seine Meinung frei zu äußern, nicht ein, und zwar auch dann nicht, wenn er gerade wegen seiner Eigenschaft als Gemeinderat oder Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat zu einer öffentlichen Veranstaltung eingeladen worden ist5. An Verpflichtungen und Aufträge, auch solche aus den eigenen Parteien, sind sie nicht gebunden. Fraktionszwang ist unzulässig6. Gemeinderatsmitglieder haben damit ein kommunalrechtliches Mandat eigener Prägung7. Mit dem Rat bzw. seinen Mitgliedern steht der erste Akteur auf der kommunalen Bühne fest. Daneben tritt ein – inzwischen in allen Bundesländern – di___________ 2 Zu den unterschiedlichen Kommunalwahlsystemen in den einzelnen Bundesländern siehe Gern, Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl. 2003, Rn. 324 ff. 3 BVerfG, NVwZ 1989, 46; BVerwG, NJW 1993, 411 (412); kritisch Nolte, DVBl. 2005, 870 (872 ff.), der den Gemeindevertretungen eine parlamentsähnliche Funktion zuerkennt. 4 Siehe § 32 Abs. 3 GO BW; § 37 Abs. 1 BbgGO; § 35 Abs. 1 HessGO; § 23 Abs. 3 KV MV; § 39 Abs. 1 NdsGO; § 43 Abs. 1 GO NRW; § 30 Abs. 1 GO RP; § 30 Abs. 1 SaarlKSVG; § 35 Abs. 3 SächsGO; § 41 Abs. 1 GO SachsAnh; § 32 Abs. 1 GO SH; § 24 Abs. 1 ThürKO. Nur in Bayern fehlt es an einer ausdrücklichen Regelung des freien Mandats; die Rechtsprechung hat jedoch das freie Mandat der Gemeindevertretungsmitglieder auch für Bayern bejaht, BayVerfGH, BayVBl. 1984, 621 f. 5 VGH BW, NVwZ-RR 2001, 262. 6 Vgl. BVerfGE 11, 266 (273); BVerwG, DÖV 1992, 832 f. 7 Zur Rechtsstellung der einzelnen Ratsmitglieder siehe Wolff/Bachof/Stober, Bd. 3, 5. Aufl. 2004, § 95 II 2 d); ausführlich Nolte, DVBl. 2005, 870 (874 ff.).

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rekt vom Volk gewählter und dementsprechend unmittelbar demokratisch legitimierter Bürgermeister. Die Wahl erfolgt teilweise zeitgleich mit den Wahlen zur Gemeindevertretung, teilweise unabhängig davon; die Wahlperiode des Rates ist nicht notwendig mit Amtsdauer des Bürgermeisters identisch. Dieser sog. Hauptverwaltungsbeamte ist stets Chef der Gemeindeverwaltung und je nach geltender Kommunalverfassung auch Vorsitzender des Gemeinderates8, dessen Sitzungen er zu leiten und dessen Beschlüsse er vorzubereiten und auszuführen hat. Der Bürgermeister vertritt die Gemeinde nach außen. Er ist – ab einer gesetzlich näher bestimmten Ortsgröße – hauptamtlicher Beamter auf Zeit, anderenfalls Ehrenbeamter9. Schließlich können beziehungsweise müssen in größeren Gemeinden als Stellvertreter des Bürgermeisters ein oder mehrere Beigeordnete beziehungsweise Dezernenten bestellt werden. Sie sind im Außenverhältnis allgemeine (sog. Erster Beigeordneter) oder beschränkte Organvertreter des Bürgermeisters und im Innenverhältnis als Verwaltungsbedienstete eigenverantwortliche Leiter von Geschäftskreisen. Wahl und Stellung der Beigeordneten sind in den Gemeindeordnungen unterschiedlich geregelt10. In der Regel werden sie vom Gemeinderat für eine gesetzlich bestimmte Anzahl von Jahren gewählt; zu unterscheiden sind haupt- und ehrenamtliche Beigeordnete. Die Wahl zum hauptamtlichen Beigeordneten wird durch Ernennung zum Beamten auf Zeit vollzogen11. Damit sind die von Wahlakten betroffenen Organe beziehungsweise Amtsträger aufgezählt und die politischen Entscheidungsträger in der Kommune benannt12. Die kommunalen Betätigungsfelder sind unterschiedlich dicht gesetzlich ausgestaltet. Dementsprechend viel oder wenig Spielraum bleibt für (politisch motivierte) Entscheidungen der Gemeindeorgane. Dabei ist der Gemeinderat grundsätzlich für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zuständig. Während für ihn eine Vermutung der Zuständigkeit gilt, ist der Bürgermeister nur dann zuständig, wenn das Gesetz seine Zuständigkeit konkret begründet oder der Gemeinderat ihm bestimmte Angelegenheiten überträgt. Geschäfte der laufenden Verwaltung gelten insofern per se als dem Bürgermeister übertragen. Im Rahmen der Zuständigkeiten des Bürgermeisters sind die Beigeordneten seine allgemeinen oder auf ihren Geschäftsbereich beschränkten Organvertre___________ 8

Siehe dazu Gern, Rn. 354; Burgi, Kommunalrecht, 2006, § 12 Rn. 7. Siehe zu Wahl und Rechtsstatus des Bürgermeisters Burgi, § 13 Rn. 4 ff.; Gern, Rn. 357 ff. 10 Siehe die Zusammenstellung bei Gern, Rn. 389 ff. 11 Zur Rolle der kommunalen Beigeordneten zwischen fachlicher Verwaltung und politischer Willensbildung Jaeckel, VerwArch. 92 (2006), 220 ff. 12 Besonderheiten bestehen in den sog. Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg, dazu Burgi, § 1 Rn. 2 f. 9

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ter. Unabhängig davon kommt dem Bürgermeister allerdings aus seiner Gesamtverantwortung als Verwaltungsleiter ein geschäftskreisübergreifendes Recht zur Ausübung einzelner Befugnisse auch im Dezernat des Beigeordneten oder mit Ausstrahlungswirkung auf dieses zu. Dieses sog. Selbsteintrittsrecht besteht insbesondere dann, wenn die Einheitlichkeit der Verwaltungsführung und der Verwaltungsverantwortung gewährleistet werden soll. Damit sind auch die Zuständigkeiten beschrieben, in deren Wahrnehmung Ratsmitglieder, Bürgermeister und Beigeordnete kommunalpolitische Entscheidungen beeinflussen13. In der Praxis gehören Bürgermeister und Beigeordnete regelmäßig einer politischen Partei oder Wählergemeinschaft an, nehmen an Sitzungen der entsprechenden Ratsfraktionen bzw. -gruppen teil und beraten und unterstützen sie bei ihrer politischen Arbeit. Darüber hinaus engagieren sich häufig weitere Mitarbeiter der Kommunalverwaltungen in den politischen Parteien oder Wählervereinigungen und arbeiten – mehr oder weniger offen14 – eng mit den jeweiligen Fraktionen und Gruppen im Gemeinderat zusammen. Der offenen oder verdeckten Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse durch die kommunalen Wahlbeamten und weitere Bedienstete der Verwaltung15 steht die politische Verantwortung von Gemeinderat, Bürgermeister und – in abgeschwächter Form – Beigeordneten gegenüber. (Partei-)politische Verantwortlichkeit folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten: Die „Richter“ sind zunächst die Mitglieder derjenigen Partei oder Wählervereinigung, der die kommunalen Funktions- und Amtsträger jeweils angehören, und letztlich die Wähler. Doch die Gemeindebürger entscheiden – mit Ausnahme der Wahl des Hauptverwaltungsbeamten – nicht über Personen, sondern allenfalls personenbezogen, und die ausschlaggebenden Wahlgründe müssen nicht zwangsläufig in kommunalen Themen und Kandidaten wurzeln; vielmehr sind die Ursachen für Wahlverhalten und -ausgang vielschichtig. Und wenn ein Akteur selbst „die politischen Konsequenzen zieht“, begleicht beziehungsweise begrenzt er nur den politischen Schaden. Politische Verantwortung ist nicht drittschützend, das heißt, sie nutzt demjenigen nichts, der durch fehlerhaftes Verhalten der Kommunalverwaltung oder falsche Entscheidungen des Gemeinderates einen Nachteil erlitten hat. Schließlich unterliegt die politische „Sanktion“ weder in ihrem Inhalt und Ergebnis noch in ihren Folgen einer weiteren Sachprüfung. Überprüfbar ist allein die Einhaltung der für ihre Durchführung ___________ 13

Allgemein jüngst zu Orientierungsverlusten bezüglich wesentlicher Fragen der Verantwortungsteilung in der Kommune Lange, DÖV 2007, 820 ff. 14 Zur landesrechtlich statuierten Unvereinbarkeit vom Amt in der Gemeindeverwaltung mit einem Mandat in der Gemeindevertretung siehe BVerwG, NVwZ 2003, 90 ff. 15 Zu amtlichen Äußerungen im Bürgermeisterwahlkampf siehe Oebbecke, NVwZ 2007, 30 ff.

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bestehenden verfahrensrechtlichen Normen. In der Sache vollzieht sich politische Verantwortlichkeit daher im rechtsfreien Raum16. Der Staat ignoriert diese politische Seite des Zusammenlebens zwar nicht. In Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG heißt es: „Die Parteien wirken bei der demokratischen Willensbildung des Volkes mit.“ Er selbst funktioniert indes nach anderen Regeln: Der mit dem Gewaltmonopol ausgestattete Verfassungsstaat hat das Recht zum allein maßgeblichen Ordnungsfaktor erhoben und sanktioniert Verhalten folglich ausschließlich in den Formen und Bahnen von Gesetz und Recht (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Weil also die politische Verantwortlichkeit auch nur politische Konsequenzen haben kann, Rechtsfolgen aber an normative Tatbestände anknüpfen, soll es hier im folgenden weder um politische noch um ethische Verantwortlichkeit gehen. In Rede steht allein die rechtliche Haftung der Kommunalpolitiker.

II. Strukturen des Haftungsrechts Wer im kommunalen Bereich agiert, muss sich in einem Dickicht aus verschiedenen kommunalpolitischen Vorstellungen und Einflusskanälen, mitunter komplizierten Sachgegebenheiten, knappen finanziellen Ressourcen, zahlreichen rechtlichen Reglementierungen sowie differierenden und divergierenden persönlichen Interessen und individuellen Fähigkeiten zurechtfinden. Lässt sich deshalb fast jede Handlung bei rückschauender Betrachtung auch als Folge anlage- und umweltbedingter Faktoren erklären, so ist doch die Fähigkeit der Akteure unbestritten, diese Bestimmungskräfte zu kontrollieren und die Entscheidungen nach sozialethisch verpflichtenden Normen und Wertvorstellungen auszurichten17. Aufgrund dieser prinzipiellen Entscheidungsfreiheit des Menschen bildet das Prinzip der Verantwortung eine unumstößliche Realität seiner sozialen Existenz. Mit der Verantwortung für das eigene Verhalten geht einher, für dessen Folgen einstehen, haften zu müssen, eben verantwortlich zu sein. „Haftung“ heißt danach Verpflichtetsein aufgrund selbst verantworteten Geschehens. Voraussetzung ist mithin nicht allein die objektive Pflichtwidrigkeit, sondern darüber hinaus die persönliche Vorwerfbarkeit der Fehlleistung. Verantwortung und Schuld sind so miteinander verbunden.

___________ 16

Michaelis, DVBl. 1978, 125 (127). Zur Willensfreiheit als Vorbedingung des Strafrechts Fischer, Strafgesetzbuch, Kommentar, 55. Aufl. 2008, Vor § 13 Rn. 8 ff. m.w.N. 17

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1. Zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit Maßstab sittlicher Verantwortung ist das Gewissen; sie ist daher jeder Kontrolle und Sanktion entzogen. Jenseits aller ethischen oder politischen Bindungen gibt im Rechtsstaat ausschließlich die Rechtsordnung den verhaltensleitenden Maßstab vor. Kommunale Funktions- beziehungsweise Amtsträger können daher auch nur für Entscheidungen beziehungsweise Entscheidungsfolgen haftbar gemacht werden, die in ihrer jeweiligen Zuständigkeit und unter Verstoß gegen sie verpflichtende Rechtssätze zustande gekommen sind. Haftungsrechtliche Verantwortlichkeit ist demnach zu verstehen als Realisierung einer konkreten, fehlerhaften, da normwidrigen Wahrnehmung und Ausübung öffentlichrechtlicher Kompetenzen. Umgekehrt bedeutet das: Gemeindeverwaltung und Gemeindevertretung sind an Gesetz und Recht gebunden. Es dürfen keine Beschlüsse gefasst werden, die zwar den politischen Überzeugungen der Mitglieder der Mehrheit des Gemeinderates entsprechen, den gesetzlichen Aufgaben und Vorgaben aber zuwider laufen. Ein derart falsches Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung führte unweigerlich in die Haftung. Das Recht knüpft an solche (Rechts-)Pflichtverletzungen zwei grundsätzlich verschiedene Haftungsregime: Hat jemand aufgrund solchen Verhaltens eine Einbuße an seinen Rechtspositionen erlitten, so kommt ein Ausgleich des entstandenen Nachteils in Betracht. Das ist der tragende Gedanke des (zivilen) Schadensersatzrechts18. Diese Verpflichtung zum Schadensausgleich bietet aber nicht immer einen ausreichenden Rechtsgüterschutz. Dem Interesse der staatlichen Gemeinschaft an der Erhaltung ihrer Grundwerte und an der Bewahrung des Rechtsfriedens innerhalb der Gesellschaft kann deshalb zusätzlich dadurch Rechnung getragen werden, dass die Rechtsordnung bestimmte sozialschädliche Verhaltensweisen verbietet und Übertretungen mit Strafen sanktioniert19. Während diese doppelte Verantwortlichkeit normalerweise jedermann für sich trägt, ist bei Gemeinderäten, Hauptverwaltungsbeamten und Beigeordneten zu berücksichtigen, dass ihr Tun oder Unterlassen im kommunalen Zusammenhang, das heißt: mit Bezug auf Stadt, Gemeinde oder Kreis und deren Unternehmungen erfolgt. Diese Verwaltungsträger sind zwar von sich aus rechtsfähig, aber nicht handlungsfähig. Wollen und Handeln können nur Menschen. Juristische Personen brauchen daher Organe, die mit Menschen besetzt werden, die für sie tätig werden und sie somit handlungsfähig machen. Bei Mandatsoder Amtsträgern ist deshalb danach zu fragen, ob sie eine Zuständigkeit des kommunalen Verwaltungsträgers als Organ für diesen wahrnehmen oder als ___________ 18 Michaelis, DVBl. 1978, 125 (127), erkennt in der Schadensersatzpflicht den notwendigen Ausfluss des Gerechtigkeitsprinzips. 19 Siehe zur Aufgabe des Strafrechts Fischer, § 46 Rn. 2 ff. m.w.N.

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Privatperson handeln. Das rechtlich relevante Verhalten der Organwalter wird seinem Organ und damit dessen Verwaltungsträger zugerechnet20. Kommt es im Rahmen der tatsächlichen Ausfüllung der Organzuständigkeiten zu rechtsrelevanten Pflichtverletzungen, haftet Dritten anstelle der handelnden natürlichen Personen diejenige juristische Person, in deren Funktion die Gemeinderäte und Wahlbeamten eingeschaltet sind21. Dieser Austausch des Haftungssubjekts gilt aber nur für den Ausgleich von materiellen und immateriellen Schäden: Wenn die Gemeinderäte, Hauptverwaltungsbeamten und Beigeordneten als Organe auftreten, haftet grundsätzlich die Gemeinde für die dabei entstehenden Nachteile Dritter. Nur ausnahmsweise wird das Verhalten des Organwalters nicht der juristischen Person zugerechnet, etwa wenn er erkennbar seine Zuständigkeiten überschreitet. Nie verlagert oder gar aufgehoben werden kann die strafrechtliche Verantwortlichkeit; sie besteht unabhängig davon, in welcher Eigenschaft der Mensch agiert! Juristische Personen sind nicht straffähig.

2. Außen- und Innenverhältnis Unabhängig davon, ob der Verwaltungsträger im Außenverhältnis öffentlich- oder privatrechtlich für einen Nachteilsausgleich verantwortlich ist, ist mit einer Haftungsverlagerung noch nicht gesagt, dass der betreffende Organwalter insofern von der Verantwortlichkeit für sein Verhalten und dessen Folgen freigestellt ist. Vielmehr ist damit das Problem des Rückgriffs im Innenverhältnis zwischen der Kommune und ihren einzelnen Funktions- und Amtsträgern aufgeworfen. Dieser hängt maßgeblich von der Art der zwischen der natürlichen und der juristischen Person bestehenden Rechtsbeziehung ab: Für Beamte greifen die Bestimmungen über das öffentlich-rechtliche, durch die Beamtengesetze geregelte Dienst- und Treueverhältnis, die sowohl Schadensersatzverpflichtungen als auch disziplinarische Sanktionen vorsehen. Bei den Hauptverwaltungsbeamten und Beigeordneten handelt es sich um kommunale Wahlbeamte, auf die grundsätzlich die Regelungen des jeweiligen Landesbeamtengesetzes Anwendung finden. Soweit keine Sonderbestimmungen bestehen, sind sie also „normale“ (Verwaltungs-)Beamte. Ganz anderer Art ist die Rechtsbeziehung der Mitglieder der Gemeindevertretung zur Kommune: Ihnen wird kein beamtenrechtlicher Status, sondern ein ___________ 20 Instruktiv zu den Grundstrukturen des Verwaltungsorganisationsrechts Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, § 21 (hier insbes. Rn. 19 f.); zur inneren Kommunalverfassung siehe Michaelis, DVBl. 1978, 125 (128). 21 Diese Staatshaftung ist nach Michaelis, DVBl. 1978, 125 (127), die konsequente Folge der verfassungsrechtlich vorgegebenen Schadensersatzpflicht bei fehlerhafter Ausübung öffentlich-rechtlicher Verantwortung.

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ehrenamtliches Mandat eigener Art verliehen, das durch die Vorschriften der jeweiligen Gemeindeordnung ausgefüllt wird22. Dieser Unterschied findet seinen Niederschlag auch und gerade in einer abgeschwächteren rechtlichen Schadensverantwortlichkeit.

3. Rechtsgrundlagen Damit sind die wesentlichen Weichenstellungen des Haftungssystems vorgenommen: Da es vorliegend um Verhalten der Gemeinderäte als Mandatsträger geht, steht – wie auch bei den Hauptverwaltungsbeamten und Beigeordneten – im Schadensfall gegenüber Dritten grundsätzlich die Kommune ein. Das Haftungsregime richtet sich danach, ob der Rechtsträger öffentlichrechtlich oder privatrechtlich aufgetreten ist. Haftungsbegründend für die (öffentlich-rechtliche) Amtshaftung ist die Ausübung eines öffentlichen Amtes (vgl. Art. 34 Satz 1 GG). Infolgedessen ist zwischen einer Haftung der Kommune für Pflichtverletzungen ihrer Organe im hoheitlichen und im privatrechtlichen Bereich zu differenzieren. Daran schließt sich die Frage einer Eigenhaftung beziehungsweise eines Regresses an, deren Beantwortung maßgeblich von der Rechtsstellung des betroffenen Organwalters zur Kommune, das heißt davon abhängt, ob Beamte oder Ratsmitglieder haftbar gemacht werden. Zwar fehlen auf kommunaler Ebene für die Mitglieder der Gemeinderäte Vorschriften zur Immunität und Indemnität23. Letztere schützte die Volksvertreter ggf. vor strafrechtlicher, zivilrechtlicher, disziplinarrechtlicher und ehrengerichtlicher Verfolgung beziehungsweise Inanspruchnahme. Obwohl also prinzipiell zulässig, besteht für die Gemeinderäte dennoch kein entsprechendes Haftungs- und Disziplinarregime; dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht hauptamtlich im Staatsdienst stehen, sondern ein nur rudimentär kommunalrechtlich ausgestaltetes ehrenamtliches Mandat inne haben. Folgerichtig enthält die Mehrzahl der Gemeindeordnungen auch für den Fall, dass der Gemeinde etwa durch einen Ratsbeschluss ein Schaden entsteht, keine speziellen Haftungsnormen. Lediglich Art. 20 Abs. 4 BayGO, § 39 BbgGO, § 39 Abs. 4 NdsGO und § 43 Abs. 4 GO NRW statuieren Ersatzansprüche der Gemeinde. Unabhängig von dieser mittelbaren persönlichen Verantwortlichkeit zu beurteilen ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit eine jeden einzelnen Akteurs24. Hierbei handelt es sich immer um persönliches und unmittelbares Einstehen___________ 22 Vgl. Gern, Rn. 348; Schmidt-Aßmann, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, 1. Kap. Rn. 59. 23 Dazu Nolte, DVBl. 2005, 870 (876 f.); Henneke, Jura 1992, 125 (126 f.); Gärtner, VR 1992, 433 (434 f.); Rombach, VR 1989, 398 (400 f.). 24 Vgl. Art. 51 Abs. 2 Satz 2 BayGO; auch BGH, NJW 1991, 990 ff.

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müssen. Es wird – je nach Funktion des Akteurs – flankiert von disziplinarischen oder kommunalrechtlichen Sanktionen. Insgesamt betrachtet dienen Haftungs-, Straf- und sonstiges Sanktionsrecht unmittelbar der Rechtmäßigkeit dienstlichen Handelns, mittelbar zugleich der Gesetzbindung der Verwaltung im Vorfeld staatlichen Agierens.

III. Haftung der Gemeinderäte gegenüber der Kommune Verletzen Mitglieder des Gemeinderates ihre Amtspflichten und haftet die Gemeinde deshalb nach Art. 34 GG25, so ist ein Rückgriff der Gemeinde gegen die Gemeinderäte im Innenverhältnis nur beschränkt möglich. Die beamtenrechtlichen Regressregeln der Landesbeamtengesetze sind nicht anzuwenden. Zwar sind Gemeinderäte Beamte in Sinne des Amtshaftungsrechts; sie sind jedoch keine Beamten im statusrechtlichen Sinne. Die Gemeinderäte üben eine ehrenamtliche Tätigkeit eigener Art aus. Sie sind Träger eines öffentlichen Amtes26, jedoch keine Ehrenbeamte, so dass eine entsprechende Anwendung allgemeiner beamtenrechtlicher Regressvorschriften ausscheidet. Spezielle kommunalrechtliche Anspruchsgrundlagen sind – wie erwähnt – nur in einigen Bundesländern vorhanden.

1. Anwendungsbereich der Rückgriffsregelungen Für Bayern normiert Art. 20 Abs. 4 Satz 2 BayGO allgemein die Haftung ehrenamtlich tätiger Gemeindebürger gegenüber der Gemeinde als Regresshaftung für grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz. Die Haftungsbeschränkung auf bestimmte Verschuldensgrade gilt nicht nur im hoheitlichen, sondern auch im fiskalischen (privatrechtlichen) Bereich. Folgerichtig bestimmt Art. 20 Abs. 4 Satz 3 BayGO, dass die Gemeinde die ehrenamtlich tätigen Gemeindebürger intern von vornherein von der Haftung freistellt, wenn diese von Dritten unmittelbar in Anspruch genommen werden, sofern sie nicht grob fahrlässig gehandelt haben. Allerdings bewirkt Art. 51 Abs. 2 BayGO im amtshaftungsrechtlichen Innenverhältnis eine Haftungsfreistellung des Gemeinderates für sein Abstimmungsverhalten von Gesetzes wegen. Denn Art. 51 Abs. 2 Satz 1 BayGO bestimmt, dass kein Mitglied des Gemeinderates zu irgendeiner Zeit wegen seiner Abstimmung gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Gemeinderates zur Verantwortung gezogen werden darf. Zwar wird dadurch ___________ 25 Dazu Mader, BayVBl. 1999, 168 ff.; Henneke, Jura 1992, 125 (127 ff.); Rombach, VR 1989, 398 f. 26 BVerfG, NVwZ 1994, 56 (57).

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das amtshaftungsrechtliche Außenverhältnis zwischen Gemeinde und Bürger nicht berührt; jedoch kann die Gemeinde gegenüber den Gemeinderatsmitgliedern keinen Rückgriff nehmen, soweit der Schaden auf dem Abstimmungsverhalten beruht und dies keine vorsätzliche Pflichtverletzung darstellt. Insofern geht Art. 51 Abs. 2 BayGO dem Art. 20 Abs. 4 BayGO vor. Dies ist auch mit Art. 34 Satz 2 GG vereinbar, weil diese Bestimmung den Rückgriff nicht anordnet, sondern ihn lediglich ermöglicht. Demgegenüber statuiert § 39 Abs. 4 NdsGO eine Haftung der Ratsfrauen und Ratsherren, sofern sie ihren Pflichten (Amtsverschwiegenheit, Mitwirkungsverbot, Treuepflicht) vorsätzlich oder grob fahrlässig zuwider handeln27. § 39 BbgGO, § 43 Abs. 4 GO NRW beschränken die Ersatzpflicht der Ratsmitglieder auf schadenstiftende Beschlüsse der Gemeindevertretung. Wo einschlägige Vorschriften ganz fehlen oder nicht selbständige Einzelhandlungen von Ratsmitgliedern, sondern nur die Mitwirkung an schädigenden Ratsbeschlüssen erfassen, führt schadensherbeiführendes Verhalten grundsätzlich nicht zur Innenhaftung. Dieser Konsequenz kann nicht dadurch entgangen werden, dass das Rechtsverhältnis des Organwalters zur Körperschaft als öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis aufgefasst wird, mit der Folge, dass das Gemeinderatsmitglied entsprechend den allgemeinen Grundsätzen einer positiven Forderungsverletzung auf Schadensersatz haftet, wenn es rechtswidrig und schuldhaft gegen die ihm obliegenden Pflichten verstößt28. Ausnahmsweise kann sich schließlich im Einzelfall ein Rückgriffsanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB ergeben, wenn die Gemeinderäte gegen ein Schutzgesetz zugunsten der Gemeinde verstoßen haben und hierdurch der Schaden verursacht worden ist. Schutzgesetze in diesem Sinne sind die Normen über Ausschließungsgründe und die Verschwiegenheitspflicht. Zum einen ist insoweit jedoch zu erwägen, ob der Haftungsmaßstab entsprechend den ggf. vorhandenen kommunalrechtlichen Anspruchsgrundlagen auf eine vorsätzliche und grob fahrlässige Pflichtverletzung beschränkt ist. Zum anderen steht dem Ratsmitglied gegen seine Gemeinde ein Haftungsfreistellungsanspruch zu, wenn es unmittelbar vom Geschädigten oder aufgrund übergegangenen Rechts von der Gemeinde in Anspruch genommen wird, es sei denn, Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit fallen ihm zur Last. Dies muss auch dort gelten, wo es an einer ausdrücklichen Regelung fehlt; denn ansonsten würde die kommunalrechtliche Haftungsbegrenzung ausgehebelt29. ___________ 27 Zum Anwendungsbereich dieser Norm Gärtner, VR 1992, 433 ff., der einer einengenden Interpretation dahin, sie bei schadenverursachenden Ratsbeschlüssen nicht anzuwenden, eine Absage erteilt; ebenso Henneke, Jura 1992, 125 (132). 28 So aber Hüttenbrink, DVBl. 1981, 989 (991 ff). 29 Instruktiv zur Sperrwirkung Rombach, VR 1989, 398 (402 f.).

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2. Mitwirkung an schadenstiftendem Ratsbeschluss Für den Fall, dass Ratsmitglieder an einem Ratsbeschluss mitwirken, infolge dessen die Gemeinde einen Schaden erleidet, statuieren § 39 BbgGO und § 43 Abs. 4 GO NRW Ersatzansprüche der Gemeinde gegen die einzelnen Ratsmitglieder.

a) Voraussetzungen Tatbestandlich wird in der Variante des § 39 lit. a BbgGO, § 43 Abs. 4 lit. a GO NRW über eine Pflichtverletzung hinaus ein vorsätzliches (BbgGO) oder grob fahrlässiges (GO NRW) Fehlverhalten eines Ratsmitglieds vorausgesetzt. Das ist so zu verstehen, dass das Ratsmitglied bei der Beschlussfassung in diesem Maße schuldhaft seine Pflichten verletzt haben muss. Ein zur Haftung führendes „Mitwirken“ bei einem Ratsbeschluss wird teilweise auch darin gesehen, dass Ratsmitglieder durch ihre Teilnahme an einer Ratssitzung die Beschlussfähigkeit der Versammlung bewusst herbeiführen oder durch Fernbleiben, Stimmenthaltung oder Abgabe einer ungültigen Stimme bewusst oder mit bedingtem Vorsatz zu dem schadenstiftenden Beschluss beitragen30. Dagegen streitet, dass keine Rechtsgrundlage für eine besondere Garantenpflicht besteht, derzufolge vom einzelnen Ratsmitglied eine besondere Aktivität gegen einen rechtswidrigen Beschluss erwartet werden könnte. Anknüpfungspunkt für die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit muss deshalb die aktive Zustimmung zu einem pflichtwidrigen Ratsbeschluss sein. Eine Pflichtverletzung ist daher nicht anzunehmen, wenn ein Ratsmitglied der betreffenden Sitzung ferngeblieben ist oder zwar teilgenommen und gegen den schädigenden Beschluss gestimmt, zugleich aber unterlassen hat, die anderen Ratsmitglieder von ihm bekannten Tatsachen zu unterrichten, die den Rat bei Kenntnis veranlasst hätten, den Beschluss nicht oder nur zu den für die Gemeinde günstigeren Bedingungen zu fassen31. Denn in diesem Fall fehlt es an der Kausalität, da das Ratsmitglied an dem fraglichen Beschluss gerade nicht mitgewirkt hat. Ebenso wenig hat ein Gemeinderat an einem schädigenden Beschluss mitgewirkt, wenn er zwar zur Beschlussfähigkeit des Rates beigetragen hat und dadurch mittelbar am Zustandekommen des Beschlusses beteiligt war, diesen aber inhaltlich nicht mitgetragen hat32. ___________ 30 Rehn/Cronauge/von Lennep, Gemeindeordnung für das Land NordrheinWestfalen, Loseblatt-Kommentar, Stand Oktober 2004, § 43 GO NRW Anm. III.2. 31 Michaelis, DVBl. 1978, 125 (130); anders offenbar Henneke, Jura 1992, 125 (133). 32 Rombach, VR 1989, 398 (402).

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Die Haftungsvariante nach § 39 lit. b BbgGO, § 43 Abs. 4 lit. b GO NRW verlangt ein Mitwirken an der Beschlussfassung, obwohl die Ratsmitglieder nach dem Gesetz hiervon ausgeschlossen waren und ihnen der Ausschließungsgrund bekannt war. Eine bloß fahrlässige oder auch grob fahrlässige Verkennung des Vorliegens eines Ausschließungsgrundes genügt nach der ausdrücklichen Regelung nicht. Daher ist lit. a auf die Verletzung der Befangenheitsvorschriften nicht (subsidiär) anwendbar. § 39 lit. c BbgGO, § 43 Abs. 4 lit. c GO NRW knüpfen daran an, dass Ratsmitglieder der Bewilligung von Ausgaben zugestimmt haben, für die das Gesetz oder die Haushaltssatzung eine Ermächtigung nicht vorsieht, wenn nicht gleichzeitig die erforderlichen Deckungsmittel bereitgestellt werden. Auch hier muss die Zustimmung also in Kenntnis der Tatsache erfolgt sein, dass eine entsprechende Ermächtigung nicht besteht. Lediglich fahrlässige Unkenntnis reicht nicht aus.

b) Verschuldensmaßstab Im Rahmen der Innenhaftung von Gemeinderäten ist den Besonderheiten des ehrenamtlichen Mandates als Ratsmitglied Rechnung zu tragen. Ein Ratsmitglied ist nicht – wie zum Beispiel ein Beamter – aufgrund eines besonderen Auswahlverfahrens in sein Amt eingeführt worden. Seine Eignung und Befähigung werden nicht überprüft, so dass von einem Ratsmitglied lediglich verlangt werden kann, dass es sich mit den wesentlichen Vorschriften kommunalen Handelns vertraut macht. Infolgedessen kann ein für die Innenhaftung vorausgesetztes Verschulden des Ratsmitglieds erst angenommen werden, sofern eine Schädigung der Gemeinde offensichtlich gewesen ist. Das wird regelmäßig dann nicht der Fall sein, wenn sich der kommunale Mandatsträger auf die Vorbereitungsarbeit durch die hauptamtliche Verwaltung verlässt, wie sie insbesondere in der Verwaltungsvorlage und in den mündlichen Erläuterungen der Verwaltung in der Gremiensitzung zum Ausdruck kommt. Da insoweit der Regress der Gemeinde beim einzelnen Ratsmitglied in Rede steht, geht mit der Reduzierung der Sorgfaltsanforderungen keine Risikoverlagerung auf den geschädigten Bürger einher33. c) Verfahrens- und Beweisfragen Das Gesetz sagt nichts darüber, wer Schadensersatzansprüche gegen Ratsmitglieder geltend zu machen und in welchem Verfahren dies zu geschehen hat. ___________ 33 Gärtner, VR 1992, 433 (436 f.); Henneke, Jura 1992, 125 (133); Rombach, VR 1989, 398 (402).

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Analog der in § 43 Abs. 2 Nr. 2, 4 u. 5 GO NRW getroffenen Zuständigkeitsregelung kann die Geltendmachung eines solchen Anspruchs nur aufgrund eines entsprechenden Ratsbeschlusses erfolgen. Dieser Ratsbeschluss ist dann nach allgemeinen Grundsätzen vom Bürgermeister auszuführen. Eine eigene Zuständigkeit des Bürgermeisters zur Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen ein Ratsmitglied ist nicht gegeben. Lehnt der Rat es ab, einen entsprechenden Beschluss zu fassen, obwohl die Voraussetzungen erfüllt sind, so hat der Bürgermeister allerdings das Recht und die Pflicht, den ablehnenden Beschluss zu beanstanden. Ggf. hat die Aufsichtsbehörde dafür zu sorgen, dass bestehende Ersatzansprüche auch durchgesetzt werden34. Wenn der Bürgermeister schon bei einem schadenstiftenden Ratsbeschluss erkennt, dass dieser das Wohl der Gemeinde gefährdet, kann er hiergegen Widerspruch erheben35. Dies wird insbesondere bei Beschlüssen in Sinne von § 43 Abs. 4 lit. a GO NRW relevant sein. Verletzt der Beschluss das geltende Recht, was insbesondere bei Beschlüssen in Sinne von § 43 Abs. 4 lit. b od. c GO NRW vorliegen kann, so hat der Bürgermeister zu beanstanden. Regelmäßig wird der Nachweis der vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Pflichtverletzung eines konkreten Ratsmitglieds, wie er für die Durchsetzung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit nach § 39 BbgGO und § 43 Abs. 4 GO NRW notwendig ist, nur schwer zu führen sein. Erging der Beschluss nicht einstimmig, führen besonders die üblicherweise fehlende Namensprotokollierung bei nicht namentlicher Abstimmung und geheime Abstimmungen zu Beweisschwierigkeiten. Für ein Ratsmitglied kann es im Einzelfall ratsam sein, seine abweichende Meinung und Stimmabgabe namentlich in das Sitzungsprotokoll aufnehmen zu lassen. Wenn allerdings überhaupt kein Stimmverhalten der Gemeinderäte in die Sitzungsniederschrift aufgenommen wird, sind Schadensersatzansprüche der Gemeinde wegen der Unmöglichkeit der Individualisierung der Haftungsadressaten ohnehin nicht realisierbar. Schließlich scheidet aus, bei geheimer Abstimmung immerhin diejenigen Ratsmitglieder haften zu lassen, die eine geheime Abstimmung als solche ermöglicht haben, weil es an einer direkten Einflussnahme auf die schadenstiftende Beschlussfassung durch die Veranlassung einer geheimen Abstimmung fehlt. Eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Pflichtverletzung kann in dem Beschluss über die geheime Abstimmung kaum gesehen werden; die Mitglieder der Gemeindevertretungen unterliegen deshalb im Ergebnis keiner relevanten haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit36. ___________ 34

Rombach, VR 1989, 398 (404). Zum Widerspruch des Bürgermeisters gegen Gemeinderatsbeschlüsse Ditteney/Clemens, VBlBW 1988, 457 ff. 36 Rombach, VR 1989, 398 (403 f.); auch Henneke, Jura 1992, 125 (133); Michaelis, DVBl. 1978, 125 (129 ff.), der deshalb eine Rechtsänderung dahin fordert, dass der 35

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3. Haftung als Vertreter der Gemeinde Teilweise bestehen zugunsten kommunaler Vertreter in den Leitungs- und Kontrollorganen von Kapitalgesellschaften, an denen die Gemeinde beteiligt ist, kommunalrechtliche Regelungen, die unter Umständen einen Ersatz- beziehungsweise Freistellungsanspruch des Gemeindevertreters für dessen Haftung gegenüber der privatrechtlichen Gesellschaft vorsehen. So bestimmt § 113 Abs. 6 Satz 1 GO NRW: Wird ein Vertreter der Gemeinde aus seiner Tätigkeit in einem Organ einer juristischen Person oder Personenvereinigung, an der die Gemeinde beteiligt ist, haftbar gemacht, so hat ihm die Gemeinde den Schaden zu ersetzen, es sei denn, dass er ihn vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat. Auch in diesem Fall ist die Gemeinde schadensersatzpflichtig, wenn ihr Vertreter nach Weisung des Rates oder eines Ausschusses gehandelt hat (Satz 2). Die Gemeinde selbst haftet grundsätzlich nur für die sorgfältige Auswahl ihrer Vertreter gemäß § 831 BGB und, soweit es sich um einen „verfassungsmäßig berufenen Vertreter“ (also zum Beispiel den Bürgermeister) handelt, gemäß §§ 31, 89 BGB. Der Vertreter selbst haftet nach allgemeinen Grundsätzen, das heißt aus Vertrag, Geschäftsführung ohne Auftrag, aus unerlaubter Handlung. Es entspricht der Billigkeit, dass in Fällen, in denen die von der Gemeinde bestellten oder vorgeschlagenen Personen (vgl. § 113 Abs. 2 bis 4 GO NRW) aus ihrer Tätigkeit in Anspruch genommen werden, die Gemeinde ihrerseits verpflichtet ist, diesen Personen den Schaden zu ersetzen. Mit § 113 Abs. 6 GO NRW gewährt das Gesetz den gemeindlichen Vertretern einen Ersatz- beziehungsweise Freistellungsanspruch, der unabhängig davon greift, ob es sich bei dem Vertreter um ein Rats- oder Ausschussmitglied, um einen Bediensteten der Gemeinde oder aber einen außenstehenden Dritten handelt, der von der Gemeinde auf vertraglicher Grundlage bestellt worden ist. Vorsätzliches Handeln liegt – entsprechend dem oben Ausgeführten – dann vor, wenn der Vertreter den Eintritt des schadenstiftenden Ereignisses bewusst und gewollt herbeigeführt hat. Vorsätzliches Handeln ist auch dann gegeben, wenn der Vertreter das schadenstiftende Ereignis billigend in Kauf genommen hat, ohne es gewollt zu haben. Grobe Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn der Handelnde die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die Regresspflicht der Gemeinde ist trotz eines vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Handelns auch dann gegeben, wenn der Vertreter entsprechend einer ausdrücklichen Weisung des Rates oder seiner Ausschüsse gehandelt hat (§ 113 Abs. 6 Satz 2 GO NRW). Denn in diesem Fall trägt nicht der ___________ Hauptverwaltungsbeamte zu berechtigen und zu verpflichten sei, namentliche Abstimmung zu verlangen, falls er begründeten Anlass zu der Annahme hat, ein beabsichtigter Beschluss der Gemeindevertretung könnte Schaden für die Gemeinde verursachen; eine geheime Abstimmung sei für diesen Fall auszuschließen. In der Sitzungsniederschrift sei dann zu vermerken, wie jeder einzelne Gemeindevertreter abgestimmt habe.

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Vertreter, sondern die Gemeinde die Verantwortung für den Eintritt des Schadens. Neben diesem gemeinderechtlichen Freistellungsanspruch können sich darüber hinaus aus speziellen gesetzlichen Grundlagen weitere gegen die Gemeinde gerichtete Schadensersatzforderungen ergeben (vgl. zum Beispiel § 117 Abs. 1 AktG für den Fall des Vorstandes oder Aufsichtsrates einer Aktiengesellschaft).

IV. Kommunalrechtliche Sanktionen gegen Gemeinderatsmitglieder Ratsmitglieder sind politische Repräsentanten der Bürgerschaft; sie üben weder ein Ehrenamt noch eine ehrenamtliche Tätigkeit im eigentlichen Sinne aus37. Daraus folgt, dass kein Bürger verpflichtet ist, eine Wahl in den Rat anzunehmen. Die für Inhaber eines Ehrenamtes und für ehrenamtlich Tätige geltenden Vorschriften über die Verschwiegenheitspflicht, über die Ausschließungsgründe und über die Verletzung der Treuepflicht finden aber – unter Umständen mit bestimmten Maßgaben – auch auf Gemeinderatsmitglieder entsprechende Anwendung38 (vgl. § 43 Abs. 2 u. 3 GO NRW). Mit diesen Pflichten versuchen die Gemeindeordnungen das für die Selbstverwaltung erwünschte, aber auch prekäre Element eines Entscheidens in geringer Distanz zum Sachvorgang rechtsstaatlich auszubalancieren.

1. Teilnahmepflicht Gewählte Gemeinderats- und Kreistagsmitglieder sind verpflichtet, an den (ordnungsgemäß) einberufenen Sitzungen der Vertretungskörperschaft teilzunehmen. Unabhängig von der ausdrücklichen Regelung dieser Pflicht in einigen Kommunalverfassungsgesetzen handelt es sich dabei um eine Folge des Mandates. Bleiben sie wiederholt unentschuldigt fern, kann dies kommunalrechtliche Sanktionen zur Konsequenz haben. Entschuldigungsgründe können etwa Krankheit, zwingende berufliche und gewichtige private Pflichten o.ä. sein. Typische kommunalrechtliche Sanktion ist die Möglichkeit der Verhängung eines Ordnungsgeldes (vgl. §§ 34 Abs. 3, 17 Abs. 4, 16 Abs. 3 GO BW, Art. 48 BayGO; § 38 Abs. 1 BbgGO, § 60 Abs. 1 HessGO, § 23 Abs. 3 KV MV, § 24 Abs. 2 NdsGO, § 29 Abs. 3 GO NRW, § 19 Abs. 3 GO RP, § 33 Abs. 1 SaarlKSVG, § 35 Abs. 4 SächsGO, § 52 Abs. 1 GO SachsAnh, § 32 Abs. 2 GO ___________ 37 Vgl. dazu §§ 15 f. GO BW; Art. 19 BayGO; § 26 BbgGO; §§ 21, 23 HessGO; § 19 KV MV; §§ 23 ff. NdsGO; § 28 GO NRW; §§ 18 f. GO RP; §§ 24 f. SaarlKSVG; §§ 17 f. SächsGO; §§ 28 f. GO SachsAnh; §§ 19 f. GO SH; § 12 ThürKO. 38 Nolte, DVBl. 2005, 870 (877 ff.).

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SH, § 37 ThürKO). So sieht zum Beispiel Art. 48 BayGO vor, dass gegen diejenigen Gemeinderatsmitglieder, die ihrer Teilnahmepflicht an den Sitzungen und Abstimmungen nicht Rechnung tragen und ohne genügende Entschuldigung fernbleiben, ein Ordnungsgeld bis zu 250 Euro verhängt werden kann (Abs. 2); entzieht sich ein ehrenamtliches Gemeinderatsmitglied nach zwei wegen Versäumnis erkannten Ordnungsgeldern innerhalb von sechs Monaten weiterhin seiner Pflicht, an den Gemeinderatssitzungen teilzunehmen, so kann der Gemeinderat sogar den Verlust des Amtes aussprechen (Abs. 3). Die Verhängung eines Ordnungsgeldes ist ein Verwaltungsakt. Nicht geregelt ist die Frage, ob ein gewählter Mandatsträger vorübergehend von seiner Pflicht zur Teilnahme und Mitarbeit in der Vertretungskörperschaft beurlaubt werden kann, wenn dies durch einen wichtigen Grund, zum Beispiel beruflich bedingte längere Abwesenheit, besondere vorübergehende familiäre Belastung, gerechtfertigt ist. Maßgebliches Kriterium ist insoweit die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Vertretungskörperschaft. Ist diese nicht gewährleistet, so steht als Alternative der Mandatsverzicht zur Verfügung.

2. Mitwirkungsverbote Im kommunalen Alltag besonders bedeutsam sind die Vorschriften der Gemeindeordnungen über den Ausschluss befangener Ratsmitglieder. Sie haben einen ähnlichen Aufbau wie § 20 VwVfG, betreffen aber andere Vorgänge und Adressaten. Die im Einzelnen recht kompliziert ausgestalteten kommunalrechtlichen Mitwirkungsverbote (vgl. § 18 GO BW, Art. 49 BayGO, § 28 i.V.m. § 38 Abs. 2 BbgGO, § 25 HessGO, § 24 KV MV, § 26 NdsGO, §§ 31 i.V.m. 43 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 GO NRW, § 22 GO RP, § 27 SaarlKSVG, § 20 SächsGO, § 31 GO SachsAnh, § 22 i.V.m. § 32 Abs. 3 GO SH, § 38 ThürKO) sind Ausfluss der Güterabwägung zwischen einer möglichst vollständigen Teilnahme aller die Bürgerschaft vertretenden Ratsmitglieder und der Wahrung der All ge meininteressen durch die Ratsmitglieder unter Hintanstellung aller Individualinteressen. Die Befangenheitsvorschriften knüpfen hiernach an äußere Tatbestandsmerkmale an und unterstellen eine daraus folgende Interessenkollision. Es kommt also nicht darauf an, ob tatsächlich eine solche Interessenkollision gegeben ist; es genügt ihre konkrete und hinreichend wahrscheinliche Möglichkeit. Zweck der Befangenheitsvorschriften ist es, nicht erst die tatsächliche Interessenkollision, sondern schon den bösen Schein zu vermeiden39. ___________ 39 VGH BW, NVwZ-RR 1998, 325; auch VGH BW, VBlBW 1989, 458 (459); VG Frankfurt/Main, NVwZ-RR 2002, 868 f.

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Das Mitwirkungsverbot erstreckt sich sowohl auf die Abstimmung als auch auf die Entscheidungsvorbereitung. Es zwingt dazu, die Beratung zu verlassen. Bei öffentlicher Sitzung ist regelmäßig ein Verweilen im Zuschauerraum zulässig; bei einer nichtöffentlichen Sitzung muss der Betroffene dagegen den Saal verlassen. Die Mitwirkung eines an sich ausgeschlossenen Ratsmitgliedes macht den Beschluss ohne Rücksicht auf das Stimmenverhältnis rechtswidrig (abstrakte Kausalität), ohne dass allerdings in allen Gemeindeordnungen die Folge der Unwirksamkeit statuiert wäre. Da sich Verstöße gegen das Mitwirkungsverbot zu einer Dauerkrankheit von Ratsbeschlüssen entwickelt haben, erklären die meisten Gemeindeordnungen sie heute ausdrücklich nur für einen gewissen Zeitraum für rechtsrelevant und danach, sofern es nicht zu einer besonderen Rüge gekommen ist, für unbeachtlich40.

3. Verschwiegenheitspflicht Die Gemeindeordnungen aller Bundesländer sehen eine Verschwiegenheitspflicht vor, wonach es dem ehrenamtlich Tätigen auferlegt ist, über die ihm bei seiner Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten Verschwiegenheit zu wahren (§§ 17 Abs. 2, 35 Abs. 2 GO BW, Art. 20 BayGO; §§ 27, 38 Abs. 2 BbgGO, §§ 24, 35 Abs. 2 HessGO, §§ 19 Abs. 4, 23 Abs. 6 KV MV, §§ 39 Abs. 3, 25 NdsGO, §§ 30 Abs. 1, 43 Abs. 2 GO NRW, § 20 GO RP, § 26 Abs. 3 SaarlKSVG, § 37 Abs. 2 SächsGO, § 50 Abs. 3 GO SachsAnh, §§ 32 Abs. 3, 21 Abs. 2 bis 5 GO SH, § 12 Abs. 3 ThürKO). Ihrer Natur nach geheim sind Angelegenheiten immer dann, wenn ihre Offenbarung gegenüber Dritten gegen das Gemeinwohl oder das Wohl der Gemeinde oder die berechtigten Interessen Einzelner verstieße. Dazu rechnen insbesondere Personalangelegenheiten wegen des Persönlichkeitsschutzes des Betroffenen, zumal bei diesbezüglichen Beratungen in der Regel eine Leistungs- und Persönlichkeitsbewertung erfolgt. Ebenfalls hierzu gehören Planungsabsichten, vor allem grundstücksrelevante Planungsfragen sowie Grundstücksgeschäfte von besonderer Bedeutung, weil gerade in diesem Bereich bei vorzeitigem Bekanntwerden Manipulationsund Spekulationsmöglichkeiten für Dritte bestehen. Die Verschwiegenheitspflicht umfasst auch das Verbot, die Kenntnis vertraulicher Angelegenheiten unbefugt zu verwerten. Gegen dieses Verwertungsverbot verstieße beispielsweise ein Ratsmitglied, das in Kenntnis einer nichtöffentlich beratenen Planungsabsicht der Gemeinde ein Grundstück erwirbt, um dann selbst von dessen Wertsteigerung aufgrund der Planungsrealisierung zu profitieren. ___________ 40 Siehe zu den unterschiedlichen Regelungen der Gemeindeordnungen SchmidtAßmann, in: ders., 1. Kap. Rn. 61.

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Zur Begründung der Verschwiegenheitspflicht reicht es aus, dass die Angelegenheit der Geheimhaltung unterliegt. Unerheblich ist, ob das Rats- oder Ausschussmitglied in einer Sitzung seines Ausschusses davon erfahren hat. Ist eine Angelegenheit, die der Verschwiegenheitspflicht unterliegt, durch Indiskretion bekannt geworden, so beseitigt dieser Umstand indes das Fortbestehen der Schweigepflicht. Die Pflicht zur Verschwiegenheit besteht beispielsweise nicht mehr, wenn über den geheimzuhaltenden Ratsbeschluss eine am Ort erscheinende verlässliche Tageszeitung berichtet hat41. Die Gemeinderäte sind nach allen Gemeindeordnungen zur Verschwiegenheit über alle in nichtöffentlicher Sitzung behandelten Angelegenheiten solange verpflichtet, bis sie von dem zuständigen Organ von der Schweigepflicht entbunden sind oder die behandelten Angelegenheiten durch die Gemeinde bekannt gemacht wurden oder die Geheimhaltung ihrer Natur nach nicht (mehr) erforderlich ist. Die Mitnahme persönlicher Notizen über nichtöffentliche Sitzungen des Gemeinderates verstößt nicht gegen das Gebot der Verschwiegenheit. Zweck der Verschwiegenheitsvorschriften ist es, die Geheimnisse nichtöffentlicher Sitzungen im öffentlichen oder privaten Interesse zu bewahren. Die Mitnahme persönlicher Notizen gefährdet diesen Zweck für sich allein gesehen noch nicht. In der Praxis wird gegen die Verschwiegenheitspflicht sehr häufig bei den Fraktionssitzungen verstoßen, an denen auch Nichtratsmitglieder, zum Beispiel Mitglieder des entsprechenden örtlichen Parteivorstandes, teilnehmen. Eine Verletzung der Verschwiegenheitspflicht wird in fast allen Gemeindeordnungen mit der Festsetzung eines Ordnungsgeldes zwischen 250 und 500 Euro belegt (siehe zum Beispiel §§ 30 Abs. 6 i.V.m. 29 Abs. 3 GO NRW). Die Auferlegung des Ordnungsgeldes ist ein Verwaltungsakt.

4. Treuepflicht und Vertretungsverbot Daneben und darüber hinaus stellt etwa § 32 GO NRW eine allgemeine Treuepflicht des Ratsmitglieds gegenüber der Gemeinde auf. Deshalb darf ein Ratsmitglied regelmäßig Ansprüche und Interessen eines anderen gegen die Gemeinde nicht geltend machen, soweit er nicht als gesetzlicher Vertreter handelt (§ 17 Abs. 3 GO BW, Art. 50 BayGO; § 29 Abs. 1 BbgGO, §§ 26, 35 Abs. 2 HessGO, § 26 KV MV, §§ 27 Abs. 1 NdsGO, §§ 32 Abs. 1, 43 Abs. 2 GO NRW, § 21 Abs. 1 GO RP, § 26 Abs. 2 SaarlKSVG, § 19 Abs. 3 SächsGO, § 30 Abs. 3 GO SachsAnh, § 23 Satz 3 GO SH). Voraussetzung dieses sog. kommunales Vertretungsverbotes ist, dass die vertretenen Ansprüche oder Interessen mit der ehrenamtlichen Tätigkeit in Zusammenhang stehen. ___________ 41

OVG NRW, DÖV 1966, 504 f.

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Das kommunalrechtliche Vertretungsverbot bezweckt, die Gemeindeverwaltung von allen Einflüssen frei zu halten, die eine objektive, unparteiische und einwandfreie Führung der Gemeindegeschäfte gefährden können. Es soll verhindern, dass Mitglieder von Gemeindevertretungen (und sonstige ehrenamtlich Tätige) ihren politischen Einfluss in der Gemeindeverwaltung zugunsten der von ihnen vertretenen Personen ausnutzen und ihre berufliche Tätigkeit in Widerstreit mit den von ihnen wahrzunehmenden öffentlichen Interessen gerät. Es kommt daher für das Vertretungsverbot nicht auf die Möglichkeit eines Interessenwiderstreits mit eigenen Interessen der Gemeinde als Rechtssubjekt an, sondern auf die Gefahr einer Beeinflussung der Gemeindeverwaltung im genannten Sinne in einer Angelegenheit, für die die Gemeinde zuständig ist. Diese Gefahr besteht in Anbetracht der rechtlichen und politischen Abhängigkeiten der Gemeindeverwaltung vom Gemeinderat bei jeder Geltendmachung von Interessen Dritter durch ein Ratsmitglied gegenüber der Gemeinde im Rahmen ihres Wirkungskreises, unabhängig davon, ob ein Anspruch zugrunde liegt und ob eigene Ansprüche oder Interessen der Gemeinde dagegen stehen42. Das Vertretungsverbot erstreckt sich auf alle Ansprüche und Interessen Dritter, sowohl privat- als auch öffentlich-rechtlicher Art. Ob die Voraussetzungen des Verbots erfüllt sind, entscheidet bei Ratsmitgliedern der Gemeinderat. Die Entscheidung darüber ist ein Verwaltungsakt. Rechtshandlungen bleiben auch bei Verstoß gegen das Vertretungsverbot wirksam.

V. Fazit Dass Ratsmitglieder an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind, bedeutet zwar eine den Parlamentariern vergleichbare Schutzwirkung gegenüber Wähler- und Parteieinflüssen, indiziert aber keine Gleichstellung gegenüber staatlichen Einflussnahmen auf Inhalt und Gegenstand der Mandatstätigkeit. Im Gegenteil ist die Haftung der Mitglieder kommunaler Vertretungskörperschaften als ein funktionsgerechtes Korrelat zu ihren weitgehenden Entscheidungsbefugnissen bei der kommunalen Verwaltungstätigkeit anzusehen und dahingehend zu untermauern, dass sich Verantwortung und Verantwortlichkeit decken sollen43. Im Übrigen haften die Hauptverwaltungsbeamten bei materiell gleichartiger und gleichwertiger organschaft___________ 42 Dazu BVerfGE 41, 231 (241 ff.); 52, 42 (53 ff.); 56, 99 (107 ff.); 61, 68 (72 ff.); BVerwG, NJW 1988, 1994. 43 Henneke, Jura 1992, 125 (126); kritisch wegen der Funktion als Mitglied eines demokratisch legitimierten Repräsentativorgans Nolte, DVBl. 2005, 870 (880).

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licher Wahrnehmung und Ausübung von Verwaltungsverantwortung auch44. Soweit die Theorie, angesichts der Rechtspraxis könnte deshalb zu bedauern sein, dass Ratsmitglieder für Schädigungen der Gemeinde durch ihr Verhalten als Mandatsträger tatsächlich nicht haften45. Vielleicht findet dieses Ergebnis aber seine Rechtfertigung darin, dass schon das Bewusstsein um die Haftungsgefahr, das bei jedem Ratsmitglied vorauszusetzen sein dürfte, dazu beiträgt, rechtswidrige Ratsbeschlüsse zu vermeiden. In dieser Funktion, nämlich auf eine Versachlichung der Ratsarbeit hinzuwirken, fänden die Haftungsnormen dann ihre Bedeutung und Existenzberechtigung46.

___________ 44

Michaelis, DVBl. 1978, 125 (130). So Michaelis, DVBl. 1978, 125 (130), der eine vollständige Freistellung von persönlicher Verantwortlichkeit bei der Verletzung der den Amtswaltern von den Bürgern und für die Bürger anvertrauten staatlichen Verantwortung als mit dem Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaats schlechterdings unvereinbar ansieht. 46 I.d.S. auch Rombach, VR 1989, 398 (404). 45

Die Landschaftsverbände NRW und die Reform der Verwaltungsstruktur Von Hans-Uwe Erichsen, Münster

I. Einleitung Die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat sich eine umfassende Verwaltungsmodernisierung zum Ziel gesetzt, die im Wesentlichen aus einem Bürokratieabbau, einer Binnenmodernisierung der Verwaltung und einer Verwaltungsstrukturreform, die die Neuordnung der Mittelinstanzen vorsieht, bestehen soll. In der Koalitionsvereinbarung von CDU und FDP vom 20. Juni 2005 findet sich im Abschnitt „Weniger Staat – mehr Selbstbestimmung“ der Plan, bis zur Mitte der nächsten Legislaturperiode die im Rahmen der Durchführung der Verwaltungsstrukturreform „auf der mittleren Verwaltungsebene verbliebenen Aufgaben von drei Regionalpräsidien für das Rheinland, das Ruhrgebiet und für Westfalen“ wahrnehmen zu lassen1. Diese Regionalpräsidien sollen staatliche und kommunale Aufgaben wahrnehmen. Ihnen soll ein von der Regionalversammlung gewählter und von der Landesregierung bestätigter Regionalpräsident vorstehen, der sowohl Organ der Selbstverwaltungskörperschaft als auch Leiter der staatlichen Abteilung der Regionalversammlung sein soll.2 Bisher werden die Aufgaben der mittleren Verwaltungsebene einerseits von den Bezirksregierungen, andererseits von den mitgliedschaftlich von den Kreisen und kreisfreien Städten gebildeten, körperschaftlich verfassten Land___________ 1 Vgl. Koalitionsvereinbarung von CDU und FDP zur Bildung einer neuen Landesregierung Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 2005, S. 10 der Vereinbarung; vgl. auch Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NRW, Information 14/114 vom 02.08.2005, S. 29 f.; vlg. auch schon den Beschluss des CDU-Landesparteitages vom 05.04.2003 und den Vorschlag der CDU-Fraktion zum Regionalverwaltungsmodell vom 11.03.1996 – Landtags-Drucksache 12/783; im übrigen Schnoor, Eildienst LKT NRW 2004, S. 198 ff. 2 Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NRW, Information 14/114 vom 02.08.2005, S. 30.

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schaftsverbänden, verschiedenen Sonderbehörden3, dem Kommunalverband Ruhrgebiet und diversen Zweckverbänden wahrgenommen. Die Pläne zielen auf eine Fusion der staatlichen Mittelbehörden und der mit dem Recht Selbstverwaltung ausgestatteten Landschaftsverbände Rheinland und WestfalenLippe. Die Kompetenzausstattung der Landschaftsverbände war bereits im Zusammenhang mit der kommunalen Neugliederung und Funktionalreform in Nordrhein-Westfalen, die zu einigen Änderungen geführt hat, Gegenstand der Diskussion.4 So verloren die Landschaftsverbände aufgrund des 1975 erlassenen Landschaftsgesetzes ihre Mitwirkungsbefugnisse im Bereich des Naturschutzes sowie durch das dritte Funktionalreformgesetz aus dem Jahr 1984 die Trägerschaft der Tierseuchenkassen. Zu einem empfindlichen Kompetenzverlust kam es im Bereich von Landes- und Regionalplanung. Durch die 1975 erfolgte Neufassung des Landesplanungsgesetzes wurden die Landesplanungsgemeinschaften aufgelöst. Damit wurden den Landschaftsverbänden die ihnen als Mitgliedern derselben zustehenden Befugnisse in bezug auf Landes- und Regionalplanung genommen. Weitere Kompetenzeinbußen fanden im kommunalwirtschaftlichen Bereich statt,5 vornehmlich aufgrund der 1969 erfolgten Fusion der Landesbank in Westfalen und der rheinischen Girozentrale zur Westdeutschen Landesbank.6 Ein weiteres Reformmodell, das als Modell der „erweiterten Regionalisierung“ bezeichnet werden könnte7, sieht die Abschaffung der Bezirksregierungen sowie der Landschaftsverbände vor, die dann zu einer Bündelungsbehörde mit einer Regionalversammlung und einer staatlichen/kommunalen Doppelspitze zusammengefasst werden sollen.8 Mit der Übertragung der den Bezirksregierungen zugewiesenen staatlichen Aufgaben und die von den Landschaftsverbänden wahrgenommenen kommunalen Aufgaben auf die Bündelungsbehörde, würde diese somit Trägerin kommunal-staatlicher Verwaltung sein. Sie würde „alle Aufgaben wahrnehmen, die nicht an die obersten Landesbehörden sowie an die Kommunen delegiert bzw. privatisiert werden können oder sollen“.9 ___________ 3 Ausführlich hierzu Pagenkopf, VR 1992, S. 232 ff.; Mecking, die Regionalebene in Deutschland, 1995, S. 53 ff. 4 Vgl. Becker, DÖV 1986, S. 779, 780 ff. 5 Vgl. dazu im Einzelnen, Hartlieb von Wallthor in: W. Kohl, Westfälische Geschichte, 1983, Bd. 2, S. 205 f. 6 Vgl. Erichsen, NWVBl 1995, S. 1, 4. 7 Vgl. Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NRW, Information 14/114 vom 02.08.2005, S. 5. 8 Vgl. Dreier, in: ders., Grundgesetz, Bd. II, 2006, Art. 28 Rdn. 90. 9 Vgl. Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NRW, Information 14/114 vom 02.08.2005, S. 6.

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Beide Modelle werfen verfassungsrechtliche Fragen auf, denen hier – auch wenn seit Ende 2007 die Zurückhaltung, diese Pläne zu realisieren, unverkennbar größer geworden ist – nachgegangen werden soll.

II. Geschichtliche Entwicklung der regionalen Selbstverwaltung und der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen Die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe gehen auf die preußischen Provinzialverbände von 1816 zurück, die seinerzeit bereits überörtliche kommunale Aufgaben in den Bereichen Armenwesen, Fürsorge, Straßenbau, Förderung von Kunst und Denkmalschutz wahrgenommen haben.10 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die provinziale Selbstverwaltung faktisch beseitigt.11 Die Provinzialverbände wurden durch das „Oberpräsidentengesetz“12 in die staatliche Verwaltung eingegliedert. Die Provinziallandtage und Provinzialausschüsse wurden aufgelöst und ihre Kompetenzen als auch die des Landeshauptmannes auf den Oberpräsidenten übertragen, in dessen Auftrag der Landeshauptmann die laufenden Geschäfte wahrnehmen sollte.13 Nach der Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahre 1946 nahmen die Provinzialverwaltungen ihre Tätigkeiten zunächst vorläufig wieder auf, bis schließlich am 1. Oktober 1953 die Landschaftsverbandsordnung in Kraft trat. Die in der Landschaftsverbandsordnung festgelegte, in mancher Hinsicht atypische14 Organisation der Landschaftsverbände entspricht im wesentlichen der der früheren Provinzialverbände. Auch die Kompetenzen, die die Landschaftsverbandsordnung in ihrer am 01.10.1953 in Kraft getretenen Fassung den Landschaftsverbänden zuwies, entsprachen im Wesentlichen denen der ehemaligen Provinzialverbände.15 Allerdings sind in Teilbereichen den Landschaftsverbänden zusätzliche Aufgaben übertragen worden.16 ___________ 10

s. hierzu ausführliche Schilderungen bei Erichsen, NWVBl. 1995, S. 1 ff. Vgl. Erichsen, NWVBl. 1995, S. 1, 2; vgl. auch v. Waltthor in: W. Kohl, Westfälische Geschichte, Bd. 2, 1983, S. 195 ff. 12 Gesetz über die Erweiterung der Befugnisse des Oberpräsidenten v. 15.12.1933, pr. GS, S. 477. 13 Vgl. Erichsen, NWVBl. 1995, S. 1, 2. 14 Dazu Grawert, in: Texte aus dem Landeshaus, Heft 18, 1993, 1. Erbdrostenhofgespräch. Entstehung und Geschichte der Landschaftsverbände 199, S. 11, 16 f. 15 Erichsen, NWVBl. 1995, S. 1, 3. 16 Dies ist näher dokumentiert bei Burgi/Ruhland, Regionale Selbstverwaltung durch die Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur 2003, S. 51. 11

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III. Die Aufgaben der Landschaftsverbände Den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe werden durch § 5 LVerbO enumerativ die von ihnen wahrzunehmenden Aufgaben zugewiesen. So finden sich Aufgaben, deren sachangemessene Erfüllung das Gebiet einer Mitgliedskörperschaft übergreift, die also ihre Natur nach einer Regelung und Erledigung durch Kreise bzw. kreisfreie Städte nicht zugänglich sind.17 Zu diesen Aufgaben gehört etwa die Unterhaltung von Landesmuseen18 sowie die Aufgaben der allgemeinen landschaftlichen Kultur19 und Denkmalpflege.20 Daneben stehen die ergänzenden Aufgaben, deren Erfüllung die Verwaltungskraft der Kreise und kreisfreien Städte übersteigen würde.21 Zu diesen komplementären Aufgaben22 gehören z. B. die den Landschaftsverbänden zugewiesene Trägerschaft der überörtlichen Sozialhilfe23 als auch bestimmter Fachkrankenhäuser.24 Eine weitere Kategorie bilden die von den Landschaftsverbänden wahrgenommenen Teilaufgaben kommunaler Wirtschaft, etwa der Gewährträgerschaft bei der Landesbank NRW25 und den Provinzialversicherungen.26 Mit dem sog. Zweiten Modernisierungsgesetz vom 09.05.200427 wurden die bis dahin von den Landschaftsverbänden wahrgenommenen Aufgaben im Bereich der Straßenbauverwaltung in die Zuständigkeit des Landes übergeleitet. Auf die hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerden der beiden Landschaftsverbände entschied der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen, dass die Übertragung der Verwaltung und Unterhaltung der Landesstraßen von den Landschaftsverbänden auf das Land verfassungsgemäß sei.28 Durch Art. 1, Abschnitt I, §§ 1 und 2 des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.200729 wurden die elf Versorgungsämter aufgelöst und die Wahrnehmung ihrer Aufgaben den Krei___________ 17

Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1997, § 12 C 2. a) aa). 18 Vgl. § 5 Abs. 1 b Nr. 4 LVerbO. 19 Vgl. § 5 Abs. 1 b Nr. 1 LVerbO. 20 Vgl. § 5 Abs. 1 b Nr. 2 LVerbO. 21 Erichsen (Fn. 17), § 12 C 2. a) aa). 22 So Roland Kirchhof, Kreisordnung für das Land NW, 2. Aufl. 1989, § 2 Erl. 12. 23 Vgl. § 5 Abs. 1 a Nr. 1 LVerbO. 24 Vgl. § 5 Abs. 1 a Nr. 4 LVerbO. 25 Vgl. § 5 Abs. 1 c Nr. 1 LVerbO. 26 Vgl. § 5 Abs. 1 c Nr. 2 LVerbO. 27 GVBl. S. 462. 28 VerfGH NRW, NWBl. 2001, S. 340. 29 Vgl. GV NRW S. 482.

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sen und kreisfreien Städten, den Landschaftsverbänden und den Bezirksregierungen übertragen. Die durchgeführte Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung wurde im Aufgabenbereich des Schwerbehindertenrechts bereits durch Urteil des Landessozialgerichts NW vom 12.02.200830 abgesegnet. Allerdings erwägen die beiden Landschaftsverbände wie auch verschiedene Kommunen aufgrund der nicht ausreichenden Mittelzuweisung eine Kommunalverfassungsbeschwerde gegen das Land NRW.

IV. Die rechtliche Stellung der Landschaftsverbände Die LVerbO begründet in § 1 eine Zwangsmitgliedschaft aller Kreise und kreisfreien Städte NRW in den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe. Diese sind gem. § 2 LVerbO öffentlich-rechtliche Körperschaften mit dem Recht der Selbstverwaltung durch ihre gewählten Organe. Die in dem Koalitionsvertrag formulierte Absicht, drei Regionalpräsidien zu bilden, wirft ebenso wie das Konzept einer „Bündelungsbehörde“ zunächst die Frage nach der verfassungsrechtlichen Absicherung der Landschaftsverbände auf. In Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG wird Gemeindeverbänden „im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung“ garantiert. Diese im Abschnitt „Der Bund und die Länder“ enthaltene Regelung richtet sich zum einen an die Länder und verpflichtet sie, eine dieser Vorgabe entsprechende Organisation der öffentlichen Verwaltung zu konstituieren31. Es muss daher in den Ländern Gemeindeverbände, d.h. mit Rechtssubjektivität ausgestattete nichtstaatliche Träger öffentlicher Verwaltung geben. Diesen Verfassungsauftrag hat der Verfassungsgeber NRW in Art. 78 VerfNRW erfüllt, in dem es in Abs. 1 und 2 heißt: „(1) Die Gemeinden und Gemeindeverbände sind Gebietskörperschaften mit dem Recht der Selbstverwaltung durch ihre gewählten Organe. (2) Die Gemeinden und Gemeindeverbände sind in ihrem Gebiet die alleinigen Träger der öffentlichen Verwaltung, soweit die Gesetze nichts anderes vorschreiben.“ Es stellt sich die Frage, ob die Landschaftsverbände „Gemeindeverbände“ i.S. dieser Vorschrift sind. Der VerfGH NRW qualifiziert in seinem Urteil vom 26.06.200132 die nordrhein-westfälischen Landschaftsverbände, als Gemeindeverbände i. S. d. Art. 78 Abs. 1 VerfNRW. Als Begründung verweist er u. a. auf den Wortlaut, dass ein „Gemeindeverband“ ein „Verbund von Gemeinden“ sei. Aus dem Verfassungszusammenhang und mit „Blick auf den Regelungs___________ 30

Vgl. Urteil des Landessozialgerichts NW vom 12.02.2008, AZ: L 6 SB 101 / 06. Vgl. BVerfGE 91, 228, 240; BVerfG NVWZ 1987, S. 123. 32 Vgl. VerfGH NRW, NWBl. 2001, S. 340. 31

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zweck“ ergebe sich, dass nur solche Körperschaften des öffentlichen Rechts Gemeindeverbände i.S.d. Landesverfassung sein könnten, die in „größerem Umfang kommunale Aufgaben von einigem Gewicht als Selbstverwaltungsaufgaben wahrnehmen“. Gegen die Qualifizierung der Landschaftsverbände als „Gemeindeverbände“ wird u. a. geltend gemacht, dass zu den notwendigen Bestandteilen der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie die institutionelle Rechtssubjektsgarantie33 gehöre, die den Landschaftsverbänden nicht zustehe, so dass ihnen „die Qualität von verfassungsrechtlich geschützten Gemeindeverbänden und Gebietskörperschaften abzusprechen“ sei.34 Die institutionelle Rechtssubjektgarantie richtet sich darauf, die Gemeindeverbände in ihrer tradierten Gestalt als mit Rechtsfähigkeit und der Befugnis zur Selbstorganisation ausgestattete körperschaftlich verfasste gebietsbezogene Organisationseinheiten zu gewährleisten. Institutionelle Garantien beziehen sich auf die Gewährleistung eines Normengefüges, hier der Verwaltungsebene Gemeindeverbände. Die Entfaltung dieses Normgefüges und damit auch die Bestimmung des Wirkungsbereichs der verfassungsrechtlichen Gewährleistung liegt beim Gesetzgeber. Dieser hat diese Möglichkeit durch LVerbO vom 1.10.1953 genutzt und zur Perpetuierung der Provinzialverwaltung die Landschaftsverbände konstituiert.35 Es stellt sich die Frage, was die Einbeziehung der Landschaftsverbände in die Garantie der Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 78 Abs. 1 VerfNRW36 bedeutet, insbesondere, ob ein Schutz gegen den Entzug einzelner Kompetenzen bzw. der Bestand des einzelnen Landschaftsverbandes gewährleistet37 oder jedenfalls die Organisationsform gerade der Landschaftsverbände gegen ihre Beseitigung geschützt ist. Der durch das Zweite Modernisierungsgesetz vom 09.05.200038 bewirkte Entzug der Aufgaben des Straßenbaus bewirkte die Sorge der Landschaftsverbände, weitere Kompetenzen zugunsten des Landes zu verlieren. Sie haben daher gegen dieses Gesetz Verfassungsbeschwerde beim VerfGH NRW erhoben. ___________ 33 Vgl. dazu Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1997, § 16 B1, S. 362; m. w. N. 34 Vgl. Ehlers, DVBl. 2001, S. 160, 162; m. w. N.; Görisch, NWVBl. 2002, S. 418. 35 Vgl. auch Burgi, NNVBl. 2001. 36 VerfGH NW, NWVBl. 2001, S. 340, 347.; anders noch Erichsen, Kommunalrecht NRW, 2. Auflage 1997, § 12B, S. 301; kritisch hierzu u. a. Görisch, NWVBl. 2002, S. 418, 420. 37 Vgl. K. Stern, in: BK, 131 Lfg. 2007, Art. 28, Zweitbearbeitung, 1964, Rdnr. 78. 38 GV NRW S. 462.

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Der VerfGH NRW hat in seinem Urteil vom 26. Juni 200139 ausdrücklich „offen“ gelassen, ob „die Landschaftsverbände durch Art. 78 VerfNRW überhaupt gegen einen Aufgabenentzug geschützt sind“. Nach Auffassung des VerfGH NRW „bezieht sich ein etwa durch Art. 78 VerfNRW – wie auch immer – geschützter Aufgabenbereich nach Herkommen und Intention der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nur auf kommunale Angelegenheiten“.40 Diese werden vom VerfGH NRW mit Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG als solche Aufgaben definiert, „die in den örtlichen Gemeinschaften wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben und den Einwohnern der Gemeinden, Städte und Kreise als solchen gemeinsam sind“.41 Bei der Einschätzung einer Aufgabe als kommunale Angelegenheit räumt der VerfGH NRW dem Gesetzgeber einen Spielraum ein42, während er selbst „im Streitfall nur prüft, ob die gesetzgeberische Einschätzung der örtlichen Wurzeln und Bezüge einer Aufgabe vertretbar ist.“43 Ausgehend von dieser Vertretbarkeitsprüfung wurde die Aufgabe der Verwaltung und Unterhaltung der Landesstraßen als Aufgabe des Landes qualifiziert und nicht als notwendige kommunale Aufgabe und damit nicht als Angelegenheit der Landschaftsverbände angesehen.44 Art. 78 VerfNRW ebenso wie Art. 28 Abs. 2 GG schützen Gemeinden und Gemeindeverbände institutionell. Eine Auflösung der Landschaftsverbände würde nicht dazu führen, dass Gemeindeverbände als mit dem Recht der Selbstverwaltung ausgestattete Träger öffentlicher Verwaltung nicht mehr existieren. Die Kreise als Gemeindeverbände blieben erhalten. Kann sich also ein Landschaftsverband auf eine aus Art. 78 VerfNRW bzw. Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG abgeleiteten individuellen Bestandsgarantie ebenso wenig berufen wie auf einen absoluten Bestandsschutz der Organisationsform Landschaftsverbände45, so setzt gleichwohl die Einbeziehung der Landschaftsverbände in die institutionelle Garantie von Gemeindeverbänden dem Gesetzgeber – im Verfahren der Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 75 Nr. 4 VerfNRW; §§ 12 Nr. 8, 52 VGHG NRW überprüfbare – Grenzen.46 Danach ist ihre Auflösung und Be___________ 39

VerfGH NW, NWVBl. 2001, S. 340. VerfGH NW, NWVBl. 2001, S. 340, 345 m w. N. 41 VerfGH NW, NWVBl. 2001, S. 340, 345 mit Verweis auf BVerfGE 52, S. 95, 120; 79, S. 127, 151 f.; VerfGH in OVGE 42, S. 270, 272 f. 42 VerfGH NW, NWBl. 2001, S. 340, 345; vgl. auch Erichsen/Büdenbender, NWVBl. 2001, S. 161, 163 f. 43 VerfGH NW, NWBl. 2001, S. 340, 345. 44 VerfGH NW, NWBl. 2001, S. 340, 345. 45 Vgl. Erichsen, NWVBl. 1995, S. 1, 3. 46 Burgi, NVWBl. 2004, S. 131, 133.; Ehlers, DVBl 2001, S. 1601, 1603; Erichsen, NWVBl. 1995, S. 1, 3. 40

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seitigung sowie der Entzug von Selbstverwaltungsaufgaben verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar, wenn die Erfüllung der diesen Organisationseinheiten in Grundgesetz und Landesverfassung zugedachten Aufgaben in Form der Selbstverwaltung nicht mehr effektiv erfolgen kann und damit die Verwirklichung des mit dieser Einrichtung verbundenen Konzepts einer dezentralen, durch Selbstverwaltung bestimmten Gestaltung des Gemeindewesens notleidend wird.47 Die Frage ist daher insoweit, ob durch eine Auflösung der Landschaftsverbände in NRW den verfassungsrechtlichen Vorgaben einer dezentralen, durch Selbstverwaltung bestimmten öffentlichen Verwaltung widersprechende Defizite der Aufgabenwahrnehmung entstehen. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die sich aus der verfassungsrechtlich institutionellen Garantie Gemeindeverbände ergebende Geltung des Übermaßverbots48 missachtet wird. Das Übermaßverbot führt dazu, dass gesetzliche Regelungen, die die Existenz und den Aufgabenbestand bestehender Gemeindeverbände einschränken, dem öffentlichen Wohl dienen und den Grundsätzen der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit genügen müssen.49 Die Regelung darf demnach das durch Selbstverwaltung bestimmte System dezentraler öffentlicher Verwaltung nur im öffentlichen Interesse beschränken, sie muss ferner geeignet und erforderlich sein, um den angestrebten Zweck zu erreichen und schließlich muss bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs in die Selbstverwaltung und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt sein. Je empfindlicher der Landschaftsverband in seinem Selbstverwaltungsrecht beeinträchtigt wird, desto gewichtiger müssen die Interessen des landesbezogen definierten Gemeinwohls sein.50

V. Die Zulässigkeit von Mischverwaltung Der „Regionalverwaltung“ als Mittelinstanz neuen Typs sollen die bislang im Wesentlichen von den höheren Kommunalverbänden wahrgenommenen ___________ 47

Vgl. Erichsen, Kommunalrecht in Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1997, § 16 B1, S. 362. Vgl. auch Bull, DVBl 2008, S. 1, 4. 48 Vgl. dazu Erichsen/Weiß, Kommunale Selbstverwaltung und staatliche Organisationsvorgaben, 1995, S. 47 ff. 49 Dazu im Einzelnen Erichsen, NWVBl. 1995, S. 1, 3; Burgi, NWVBl. 2004, S. 131, 133. Der VerfGH NRW hat in seinem Urteil vom 26.06.2001, NWVBl. 2001, S. 340 zu erkennen gegeben, dass es eine vollständige Auflösung der Landschaftsverbände wohl für zulässig hielte. 50 Vgl. auch LVerfG MV DVBl 2007, S. 1102, 1104 f. und Bull, DVBl 2008, S. 1, 3 ff., m. w. N.

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Aufgaben, die auch weiterhin als überörtliche kommunale Aufgaben qualifiziert werden, andererseits „alle (nach erfolgter Aufgabenkritik und größtmöglicher Privatisierung und Kommunalisierung) noch verbleibenden (staatlichen) Aufgaben der staatlichen Mittelinstanz“ zugewiesen werden.51 So entsteht mit der „Regionalverwaltung“ eine „Mittelinstanz neuen Typs“, nämlich ein Träger staatlich-kommunaler öffentlicher Verwaltung.52 Art. 78, 79 VerfNRW sowie Art. 3 Abs. 2, 29 a Abs. 1 VerfNRW lassen erkennen, dass die Landesverfassung von einer Trennung und einem prinzipiellen Nebeneinander staatlicher und kommunaler Verwaltung ausgeht. Dafür spricht ferner Art. 78 Abs. 3 S. 1 VerfNRW, wonach das Land die Gesetzmäßigkeit der kommunalen Verwaltung überwacht. Auch der in der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG enthaltenen Vorgaben lassen ein Grundraster der Verwaltungsorganisation erkennen, welches zumal nach der Föderalismusreform durch die Trennung und Eigenständigkeit der Verwaltungen des Bundes und der Länder gekennzeichnet ist. Zudem garantiert das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 2 S. 1 und S. 2 GG einen gegenüber dem Staat eigenständig wahrzunehmenden Aufgabenkreis der Kommunalverwaltung. Die Verwaltungsorganisation ist damit nach dem Grundgesetz in dem Sinne vorstrukturiert, als Bund, Länder und die kommunalen Träger öffentlicher Verwaltung zwar nicht beziehungslos nebeneinander, aber grundsätzlich eigenständig und unabhängig voneinander bestehen.53 Da die „Regionalverwaltung“ auch bisher von den Landschaftsverbänden erledigte kommunale Aufgaben zu erfüllen hat und eine Wahrnehmung kommunaler Aufgaben durch den Staat angesichts der grundgesetzlichen und landesverfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in Betracht kommt, ergibt sich die Notwendigkeit, die „Regionalverwaltung“ als kommunalen Träger öffentlicher Verwaltung i.S.d. Art 28 Abs. 2 GG, Art. 78 Abs. 1, 2 VerfNRW zu errichten. Der Intention des Regionalverwaltungsmodells entsprechend wird es sich dabei um einen Verband kommunaler Träger öffentlicher Verwaltung handeln. Es bleibt daher zu prüfen, ob eine verwaltungsorganisatorische Neuordnung der Mittelinstanz in der Weise zulässig ist, dass ein solcher kommunaler Träger öffentlicher Verwaltung auch staatliche Aufgaben erledigt54. Durch die Schaffung eines einzigen Trägers öffentlicher Verwaltung der mittleren Ebene, „Regionalpräsidium“, „Bündelungsbehörde“, dem Kompeten___________ 51

So Erichsen/Büdenbender, NWVB1. 2001, S. 161, 162. Erichsen/Büdenbender, NWVB1. 2001, S. 161, 162. 53 Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Rechtsquellen, Organisation, Finanzen), Bd. V, 2007, § 108 Rdnr. 17. 54 Dazu Erichsen/Büdenbender, NWVB1. 2001, S. 161; einschränkend Burgi, NWVB1. 2004, S. 131, 137. 52

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zen zur Wahrnehmung der bisher von der staatlichen Mittelinstanz erledigten Aufgaben sowie die bisher von den Landschaftsverbänden wahrgenommenen überörtlichen kommunalen Aufgaben zugewiesen werden sollen, würde die Trennung55 von staatlicher Verwaltung und kommunaler Selbstverwaltung jedenfalls im Hinblick auf den Träger öffentlicher Gewalt durchbrochen. Gem. Art. 78 Abs. 2 VerfNRW sind die Gemeinden und Gemeindeverbände in ihrem Gebiet die „alleinigen Träger öffentlicher Verwaltung“. Dieses Aufgabenverständnis kommt auch in §§ 2, 3 GO NRW und § 2 KrO NRW zum Ausdruck und wird zudem in Art. 78 Abs. 3 VerfNRW deutlich, wo von der Übertragung „öffentlicher“ und nicht von der Übertragung staatlicher Aufgaben auf Gemeinden und Gemeindeverbänden die Rede ist. Angesichts dessen begegnet in Nordrhein-Westfalen eine Übertragung von Aufgaben öffentlicher Verwaltung auf die Gemeinden und Gemeindeverbände in dem Sinne, dass diese Zurechnungsendsubjekt (landes)staatlicher Aufgaben werden, verfassungsrechtlichen Bedenken.56 Vielmehr ist der Landesgesetzgeber in NordrheinWestfalen verfassungsrechtlich gehindert, den Gemeinden und Gemeindeverbänden die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben als Zurechnungsendsubjekt zu übertragen.57 Eine Durchbrechung des Trennungsprinzips läge allerdings dann nicht vor, wenn die Inanspruchnahme von kommunalen „Organen“ für die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben den kommunalen Träger öffentlicher Verwaltung nicht zum Zurechnungsendsubjekt machen würde. Wie §§ 44 Abs. 6, 58 Abs. 1, 59 Abs. 3, 61 Abs. 1 S. 2 KrO NRW; § 9 Abs. 4 OBG NRW; §§ 18, 21a SchVG NRW zeigen, ist dem Organisationsrecht die Einbeziehung kommunaler Organisationseinheiten in die Erledigung staatlicher Aufgaben nicht fremd.58 Vielmehr ist eine „Organleihe“ als grundsätzlich zulässig angesehen59, teilweise sogar von der Anerkennung der „Organleihe“ durch einzelne Landesverfassungen gesprochen werden.60 Allerdings ist die Bildung einer „Doppelspitze“ nur dann ___________ 55 Vgl. zur Zweiteilung von staatlichen und kommunalen Verwaltungsaufgaben schon Knemeyer, DÖV 1988, S. 397. 56 Anders Knemeyer, DÖV 1988, S. 397, 400. 57 Erichsen, Kommunalrecht in Nordrhein Westfalen, 2. Aufl. 1997, § 5B., S. 69; Tettinger in: Löwer/Tettinger, VerfNRW Kommentar, Art. 78, Rdnr. 102, der Art. 78 Abs. 3 LV NRW als „Schranke“ bewertet. 58 Vgl. auch Oebbecke in: Oebbecke u. a., Kommunalverwaltung in der Reform 2004 S. 42, 49 f. 59 Salzwedel, Kommunalrecht, 1963, S. 232; v. Unruh, Gemeinderecht, 1982, S. 129; OVG Münster, OVGE 8, S. 295; OVG Lüneburg, DVB1. 1970, S. 553 f.; OVG Bautzen, LKV 1998, S. 455, dazu Krüger, LKV 2000, S. 189; a. A.. Kirchhof, VR 1977, S. 373, weil die Organleihe mehr als die als verfassungswidrig einzustufende Auftragsverwaltung in das Selbstverwaltungsrecht eingreife. 60 Pagenkopf, Kommunalrecht I, 1975, S. 181 unter Hinweis auf Art. 137 Abs. 4 Verf Hessen, Art. 78 Abs. 3 Verf NRW, Art. 49 Abs. 4 Verf Rh.-Pf.

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unbedenklich, wenn es sich in beiden Fällen um Organe des kommunalen Trägers öffentlicher Verwaltung handelt. Eine Organ- oder auch Institutionenleihe61 kommt allerdings nur in Betracht, wenn es um die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben geht. Aus der Regelung des Gesetzesvorbehalts in Art. 28 Abs. 2 GG – „im Rahmen der Gesetze“ – und aus dem Gesetzesvorbehalt in Art. 78 Abs. 2 VerfNRW und Art. 78 Abs. 3 VerfNRW, wonach das Land die Gemeinden und Gemeindeverbände durch gesetzliche Vorschriften zur Übernahme und Durchführung bestimmter öffentlicher Aufgaben verpflichten kann, sowie aus Art. 77 VerfNRW, der die Organisation der allgemeinen Landesverwaltung betrifft, ist abzuleiten, dass dem Landesgesetzgeber die Kompetenz zur Qualifikation der Aufgaben zusteht. Wie Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG zeigt, kommt der kommunalen Ebene eine staatspolitische, auf Integration von Staat und Gesellschaft ausgerichtete, demokratische Funktion zu62, die auch vor dem Hintergrund eines grundsätzlichen Primats der niedrigeren Einheit der Verstaatlichung von Aufgaben entgegenstehen kann. Angesichts dessen ist Art. 28 Abs. 1 GG die Vorgabe zu entnehmen, dass – soweit keine anderweitigen verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG, bestehen – die Aufgaben zuvorderst den Gemeinden und Gemeindeverbänden, und nur soweit sie als notwendige Staatsaufgaben zu qualifizieren sind, dem Staat zuzuordnen sind. 63 Die Zulässigkeit einer in der Form der Organ- oder Institutionenleihe erfolgenden Interaktion von Land und kommunalen Trägern bei der Wahrnehmung von Aufgaben staatlicher Verwaltung beurteilt sich nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie dem Gewicht und der Bedeutung des jeweiligen Zusammenwirkens.64 Wichtigste Vorgaben hierbei sind das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG und die sich aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie der Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 78 Abs. 1, 2 VerfNRW ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG folgt das Gebot einer Verwaltungsorganisation, die Vorhersehbarkeit, Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit für den Bürger bewirkt und damit Verantwortungsklarheit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns schafft.65 Daraus ergibt sich zum einen, dass jeder Träger öffentlicher Verwaltung, dem durch eine verfas___________ 61 Dazu Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein Westfalen, 2. Auflage 1997, § 7B3b, S. 148 f. 62 Vgl. auch LVerfG MV DVBl 2007, S. 1102 ff. 63 Vgl. auch LVerfG MV DVBl 2007, S. 1102, 1104. 64 Erichsen/Büdenbender NWVBl. 2001, S. 161, 165 f. 65 Vgl. dazu Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Rechtsquellen, Organisation, Finanzen), Bd. V, 2007, § 108 Rdnr. 90, vgl. auch BVerfGE 107, 396, 416.

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sungsrechtliche Kompetenznorm Verwaltungsaufgaben zugewiesen worden sind, diese Aufgaben grundsätzlich durch eigene Einrichtungen – mit eigenen personellen und sachlichen Mitteln – wahrzunehmen hat,66 weil nur dann von einem dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung entsprechenden Verwaltungshandeln gesprochen werden kann. Dies schließt zwar die Inanspruchnahme der „Hilfe“ anderer Träger öffentlicher Verwaltung durch den zuständigen Träger öffentlicher Verwaltung nicht schlechthin aus, setzt ihr aber Grenzen. So bedarf es für das Abgehen von dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung eines besonderen Grundes.67 Ob dafür allein eine erstrebte Verwaltungsvereinfachung genügt, ist zweifelhaft,68 da Zweckmäßigkeitserwägungen grundsätzlich nicht allein geeignet sind, Verwaltungszuständigkeiten zu begründen.69 Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt weiterhin der Grundsatz der Verantwortungsklarheit.70 Danach muss erkennbar sein, ob das Behördenhandeln einem Träger kommunaler Selbstverwaltung oder dem Land als Endsubjekt zuzurechnen ist.71 Dem könnte durch eine an der Art der wahrzunehmenden Aufgaben ausgerichtete Gliederung der Organisation der jeweiligen „Regionalverwaltung“ genügt werden. Zudem kann bei nach außen gerichteten Handeln der Behörde der „Regionalverwaltung“ etwa durch die konkrete Angabe im Briefkopf deutlich gemacht werden,72 ob sie für den kommunalen Träger öffentlicher Verwaltung „Regionalverwaltung“ oder aber im Wege der sog. Organ- bzw. Institutionenleihe für den staatlichen Träger öffentlicher Verwaltung „Land Nordrhein-Westfalen“ gehandelt hat. Weitere Grenzen staatlich-kommunaler Mischverwaltung ergeben sich aus der Garantie kommunaler Selbstverwaltung gem. Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 78 Abs. 1, 2 VerfNRW unter dem Gesichtspunkt kommunaler Organisationsho___________ 66 BVerfGE 63, 1, 38, 41; BVerfG DVBl. 2008, 173, 178 (159). Vgl. auch Trapp, DÖV 2008, 277, 282. 67 Vgl. Krebs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Rechtsquellen, Organisation, Finanzen), Bd. V, 2007, § 108 Rdnr. 66; BVerfG DVBl. 2008, 173, 178 (159). A. A. wohl Schnapp, Jura 2008, 241 ff. 68 Vgl. BVerfGE 79, 127, 153 im Hinblick auf den Entzug von Aufgaben einer Gemeinde. 69 BVerfGE 11, 6, 17; 22, 180, 216 f.; 41, 291, 312. LVerGMV DVBl 2007, S. 1102, 1104. 70 Dazu Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, 21. Lfg. 1983, Art. 83 Rdnr. 110. 71 BVerfGE 83, 363, 377, wonach sich aus einer gesetzlichen Regelung ergeben muss, ob der Staat oder aber die jeweilige kommunale Körperschaft – und dann: welche – jeweils zuständige Aufgabenträger ist; auch Trapp, DÖV 2008, 277 ff. 72 So bezeichnet sich der Landrat, wenn er staatliche Aufgaben wahrnimmt, in seinen Schreiben als „Der Landrat als untere staatliche Verwaltungsbehörde“, vgl. § 59 KrO NRW.

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heit73, die mit der Gewährleistung des Rechts der Selbstverwaltung“74 auch den Gemeinschaftsverbänden garantiert wird.75 Allerdings ist zu beachten, das die Kommunalgesetze der Länder in Übereinstimmung mit der Entfaltung der in Art. 28 Abs. 2 GG enthaltenen institutionellen Garantie die Grundstrukturen der Aufbauorganisation von Gemeinden und Gemeindeverbänden festlegen.76 Eine dahingehende gesetzliche Regelung würde sich nach dem vorstehend Gesagten in den strukturellen, durch die geschichtliche Entwicklung ausgeformten Rahmen kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften einfügen,77 mit der Folge, dass insoweit eine Verfassungswidrigkeit nicht besteht.78 Das gilt allerdings nicht für die Implantation einer auf die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben beschränkten zweiten Spitze. Eine weitere Grenze staatlich-kommunaler Mischverwaltung ergibt sich aus der Garantie kommunaler Selbstverwaltung gem. Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 78 Abs. 1, 2 VerfNRW unter dem Aspekt kommunaler Finanzhoheit. Die Bildung und Errichtung eines Trägers öffentlicher Verwaltung als Gemeindeverband i. S. d. Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 78 Abs. 1, 2 VerfNRW führt – und damit verbunden auch für die ihm angehörenden Kommunen79 – zu zusätzlichen finanziellen Belastungen, etwa im Hinblick auf zusätzliche Personalkosten und zusätzlichen Sachmittelaufwand. Dies kann verfassungsrechtlich bedenklich werden, wenn sich im Falle eines Umlageverfahrens daraus eine Mehrbelastung der Mitgliedskörperschaften ergibt, die ein Maß erreicht, das mit deren kommunaler Selbstverwaltungsgarantie nicht mehr vereinbar ist. Wo diese Grenze verläuft, wird sich abstrakt kaum definieren lassen80, so dass die verfassungsrechtlich vertretbare Umlagequote daher nur individuell für ___________ 73

Dazu BVerfGE 91, 228, 237 ff. BVerfGE 79, 127, 150 ff. 75 Erichsen/Weiß, Kommunale Selbstverwaltung und staatliche Organisationsvorgaben, 1995, 37. Vgl. aber VerfGH NRW, NWBl. 2001, S. 340, 347. Andere Auffassung: Schmidt/Jortzig, Kommunale Organisationshoheit – Staatliche Organisationsgewalt und körperschaftliche Selbstverwaltung, 1979, S. 74 ff. 76 Erichsen/Büdenbender, NWVBl. 2001, S. 161, 168. 77 Dementsprechend wird auch die Existenz von Vorschriften der Kommunalverfassungen der Länder, durch die Organe definiert bzw. gebildet werden, als „selbstverständlich“ (Gönnerwein, Gemeinderecht, 1963, S. 50) und überkommen betrachtet (Stern, in: BK, 131 Lfg. 2007, Art. 28, Zweitbearbeitung, 1964, Rdnr. 127). 78 BVerfGE 91, 228, 238 ff.; Stern, in: BK, 131 Lfg. 2007, Art. 28, Zweitbearbeitung, 1964, Rdnr. 127; vgl. aber Gönnerwein, Gemeinderecht, 1963, S. 50. 79 Vgl. dazu Gutsfeld, Höhere Kommunalverbände in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Frankfurt/Main, 2000, S. 183. 80 Anders Schmidt-Jortzig, DVBl. 1986, S. 1067, 1068; ders., Kommunalrecht, 1982, Rdnr. 778, der die Verbotsschwelle bei einer Belastung von über 50 % der gemeindlichen Finanzmittel als erreicht ansieht; Thieme, DVBl. 1983, S. 965, 969 f., der bereits 74

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jede Mitgliedskörperschaft unter Abwägung der gesamten Umstände festgestellt werden kann.81 Dabei ist zum einen die Verpflichtung der Mitgliedskörperschaften zu beachten, einen angemessenen Beitrag zur Aufgabenbelastung und Finanzierungssituation der „Regionalverwaltung“ zu leisten, zum anderen zu berücksichtigen, inwieweit den Mitgliedskörperschaften ein vernünftiger finanzieller Entfaltungsspielraum verbleibt. Eine Umlagequote ist daher nur dann akzeptabel, wenn sie eine Belastung der Mitgliedskörperschaften herbeiführt, die die Möglichkeit zur kraftvollen eigenverantwortlichen Betätigung belässt.82

VI. Ausblick Da die bestehenden Landschaftsverbände weder als bestehende Gliederungen der Organisation öffentlicher Verwaltung noch als solche absolut verfassungsrechtlich garantiert sind, ist Raum für eine, den Kriterien zweckmäßiger Organisation und dem Übermaßgebot Rechnung tragende Neuordnung der der Verwaltungsräume, der Zuweisung von Aufgaben, Befugnisse und Verwaltungsmittel.83 Der Plan, die Verwaltung in NRW neu zu ordnen, insbesondere die Mittelebene neu zu organisieren und die Wahrnehmung der Aufgaben der Bezirksregierungen und Landschaftsverbände in 3-Mittelinstanzen zusammenzufassen, die zugleich eine Neuordnung der örtlichen Zuständigkeit der Mittelebene mit sich bringt, wird von durchaus unterschiedlichen Überlegungen getragen. Eine Rolle spielen die Durchsetzung regionaler Interessen, die Hoffnung auf eine größere Effizienz der öffentlichen Verwaltung, ein gewisses Unbehagen an der mit Dezentralisierung verbundene Differenzierung und Entstehung politischer Gravitationszentren sowie an der finanziellen Undiszipliniertheit nicht nur kleinerer einwohnernah ausgerichteter Einheiten. Hinzu kommt das Bekenntnis zum Bürokratieabbau und zur Reduzierung kostenträchtiger Personalstellen. ___________ die Entziehung von mehr als 25 % der gemeindlichen Einnahmen für verfassungswidrig hält. 81 So zu Recht Gutsfeld, Höhere Kommunalverbände in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Frankfurt/Main, 2000, S. 183; OVG Schleswig, DVBl. 1995, S. 471; OVG Lüneburg, DVBl. 1986, S. 1063, 1067. 82 BVerfGE 79, 127, 155; OVG Rhld.-Pf., DÖV 1986, S. 342, 345; OVG Schleswig, DVBL. 1995,S. 472; Vgl. auch LVerfMV DVBl 2007, S. 1102, 1104; Schoch, Die aufsichtsbehördliche Genehmigung der Kreisumlage, 1995, S. 92. Vgl. auch die statistischen Angaben zum Anstieg der Kreis- und Landschaftsverbandsumlage im Kreis Mettmann und dessen kreisangehörigen Gemeinden bei Zacharias, DÖV 2000, S. 56, 61. 83 Vgl. dazu auch Oebbecke in: Oebbecke u. a., Kommunalverwaltung in der Reform 2004, S. 42, 44 f.

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Allerdings kann eine auf den output ausgerichtete Verwaltungseffizienz- und Wirtschaftlichkeit84 nicht allein entscheidend sein.85 Vielmehr ist es in einer Demokratie auch von Bedeutung86, in welchem Ausmaß eine Organisation Identifikationsansätze im Verhältnis von Bürger- und Bürgerinnen und Staat schafft und dazu beiträgt, dass diese sich in ihrem Gemeinwesen aufgehoben sehen und wiederfinden.87 Insoweit ist im Rahmen der Güterabwägung die Eignung einer Organisation, zur Überlieferung, zur Pflege und Bewahrung von Kultur und Lebensweise beizutragen, auch ein ihren Wert bestimmender Faktor.88

___________ 84 Dazu auch Oebbecke in: Oebbecke u. a., Kommunalverwaltung in der Reform, 2004 S. 42 (44 ff, 50 f.); Roters/Ballke, Funktionalreform in der mittleren Verwaltungsebene, 1978, S. 145. 85 Vgl. auch BVerfGE 79, 127 (153). 86 Vgl. dazu auch LVerfMV DVBl 2007 S. 1102 (1103 f.). 87 Vgl. auch Schmidt-Aßmann in: Franßen, Bürger-Richter-Staat, FS Sendler, 1991 S. 121 (129, 138); Stuer, DVBl 2007 S. 1267 ff. 88 Vgl. Erichsen, NWVBl. 1995, S. 4 f.

Good Governance und Bürger-Verantwortung Von Franz-Ludwig Knemeyer, Würzburg

I. Der Bürger – das Volk – ist der Souverän in unserer Demokratie – jedenfalls vom staatspolitischen Ansatz her! In der Praxis sieht dies freilich anders aus und mitunter wird wirklich die zugegebenermaßen ketzerische Frage gestellt: Braucht unsere Demokratie – unsere Volksherrschaft – das Volk, den Bürger? Regierung und Verwaltung scheinen nicht selten nur Selbstzweck zu sein – bad governance! Nur dann ist die Grundvoraussetzung einer guten Verwaltung erfüllt, wenn Regierungs- und Verwaltungshandeln an den Souverän – also an den Bürger – gekoppelt ist. Um good governance – diese neue Zauberformel – für den Bürger nutzbar zu machen, sei ein kurzer Blick in die Erfolgsgeschichte unserer kommunalen Selbstverwaltung geworfen. In den mittlerweile sechs Jahrzehnten moderner Selbstverwaltung sind ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen und ihre gesetzlichen Ausformungen beispielhaft für Europa1 und die Welt2 geworden. Auch hinter der Europäischen Grundrechtecharta brauchen unsere Grundrechte sich nicht zu verstecken.3 Good governance ist in Deutschland freilich noch nicht zum Grundrecht ausgestaltet. Ob es das werden sollte, ist eine ganz andere Frage. Nur einzelne Aspekte – wie etwa das Transparenzprinzip – gelten mittlerweile europaverankert auch in Deutschland.4 ___________ 1 Näher dazu Knemeyer, Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, Baden-Baden 1989. 2 Zur Weltcharta und zu den von der UN verabschiedeten Leitlinien zur Dezentralisierung der Staaten und Stärkung der lokalen Selbstverwaltung siehe etwa EUROPAkommunal, 2007, S. 106. 3 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde verabschiedet anlässlich des Europäischen Rates von Nizza am 7. Dezember 2000. 4 Siehe etwa das KonTraG und hinten Fn. 47. Das Grundrecht auf gute Verwaltung ist nicht mehr als ein europagrundrechtlich abgesicherter Anspruch auf zügige Antragsbehandlung und ein rechtsstaatliches Verfahren, wie wir es aus unseren Verwaltungsverfahrensgesetzen kennen. – Zur Diskussion um die Bedeutung von good governance im Bereich der Rechtswissenschaften siehe insbesondere die Beiträge von Ivo Appelt und Martin Eifert, Klassisches Verwaltungsrecht und Steuerungswissenschaft, VVDStRL 67

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Die junge deutsche Demokratie hatte Ende der 40er Anfang der 50er Jahre noch gar keine Zeit, sich öffentlich Gedanken über die Rolle der Bürger im Staate zu machen. Man packte einfach an. Der Bürger trat erst mit Gründung der Bundeswehr 1955 als „Staatsbürger in Uniform“ ins Bewusstsein. In den 60er Jahren, als der demokratische Staatsapparat richtig in die Gänge gekommen war und sich jenseits der Mauer eine „Deutsche Demokratische Republik“ etabliert hatte, kamen Fragen auf, ob denn nicht der Staat für den Bürger da sei und der Bürger mit dem Wahlakt einmal in vier bzw. fünf Jahren alle seine Rechte an seine Repräsentanten überlassen müsste. Bundes- wie Landesparlamente funktionierten wie gut geölte Verwaltungsapparate – freilich ohne ständige Rückkoppelung an die „Auftraggeber“. So konnte es nicht Wunder nehmen, dass sich eine „Außerparlamentarische Opposition“ etablierte, die mit den 68ern ihren „schlagkräftigen“ Ausdruck gefunden hat. Die 70er und 8oer Jahre waren gekennzeichnet durch die großen Verwaltungs- und Gebiets-Reformen. Die Bürger wurden in Anhörungen instrumentalisiert aber nicht wirklich einbezogen in die Neuordnung der Verwaltungsstrukturen ihrer näheren Umgebung. Der eigentliche Aufbruch der Bürger, das Jahrzehnt der Bürger, brach vor der Jahrtausendwende an. Die 90er Jahre – „das Volk sind wir“ – waren im kommunalen bürgernahen Bereich gekennzeichnet durch eine „zweite partizipative Revolution“. Der Bürger ist mündig geworden. Erst Jahre nach der „ersten partizipativen Revolution“5 „der 68er“ gewinnt die politisch demokratische Funktion im politischen Diskurs aber auch in der rechtswissenschaftlichen und politischen Literatur an Boden. Forderungen werden erhoben, dem Selbstbestimmungsanspruch des Bürgers mehr Rechnung zu tragen und das Subsidiaritätsprinzip auch unter Einbeziehung des Bürgers zu sehen. Lange Zeit waren in den Gemeindeordnungen allenfalls spärliche Ornamente unmittelbarerer Demokratie am grundsätzlich repräsentativen Selbstverwaltungssystem angebracht.6 Der auf staatlicher Ebene erhobene Ruf „Das Volk sind wir“ hat sich auch im kommunalen Bereich niedergeschlagen. Die Bürger konnten sich mehr und mehr Mitwirkungsrechte bei der Gestaltung ihrer Angelegenheiten sichern. Dieser Demokratieschub7 hin zu einer neuen Bürgerkultur und Bürgergesell___________ (2008), S. 226 ff.. mit Hinweis auf das „noch übersehbare Governance Schrifttum“ ebenda S. 245. 5 Zum Begriff: Knemeyer, Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik, 2. Auflage 1997, S. 11. 6 Siehe dazu etwa Kühne/Meißner, Züge unmittelbarer Demokratie in der Gemeindeverfassung, Göttingen 1977; und F.-L. Knemeyer, Bürgerbeteiligung (Fn. 5), S. 46 ff. 7 Zu den verschiedenen Faktoren für diesen Demokratieschub siehe etwa Frank Decker, Parlamentarische Demokratie versus Volksgesetzgebung, ZParl 2007, S. 118 ff.

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schaft8 hat auch die legislatorische Basis für eine lebendigere Demokratie geschaffen. Im Gefolge der friedlichen demokratischen Revolution des Jahres 1989 sind die unterschiedlichsten Formen bürgerschaftlicher Mitwirkung erneut in die Diskussion gekommen. Sie haben schließlich Eingang in viele Kommunalverfassungen gefunden.9 Neben einer bürgerfreundlichen Gestaltung des Kommunalwahlrechts mit kumulieren und panaschieren10 sind Bürgerbegehren und Bürgerentscheid verankert worden. Aber auch Mitwirkungsmöglichkeiten in kommunalen Vertretungskörperschaften und ihren Ausschüssen sowie Bürgerfragestunden, Bürgerbefragungen, Einwohner- und Bürgerversammlungen, Einwohner- und Bürgeranträge sind im neuen Spektrum bürgerschaftlicher Mitwirkung bedeutsam. Institutionalisierte Partizipation hat von Süden ausgehend flächenmäßig mittlerweile fast alle Länder erfasst.11 Darüber hinaus sind vielfältige Möglichkeiten institutionalisierter Bürgermitwirkung und Einwirkung in anderen fachgesetzlich geregelten speziellen Politikbereichen, namentlich im Baurecht, im Abfallrecht, im Atomrecht, im Naturschutzrecht, im Fernstraßen- und Beförderungsrecht, verankert. Letztlich darf der Bereich nichtinstitutionalisierter Formen bürgerschaftlicher Beteiligung nicht gering geachtet werden.12 Zum Pro und Contra dieser Partizipationsmöglichkeiten gab es gerade in den 90-er Jahren eine Fülle von Literatur. Nur auf zwei Aspekte sei hingewiesen, nämlich den Aspekt Demokratie und Effizienz und die Auflösung dieser Spannungen.13 Jedenfalls ist die lange Zeit gehegte Sorge kommunaler Mandatsträger vor exzessiven Wahrnehmungen und Blockaden gesamtkonzeptioneller Kommunalpolitik – „Die Angst der politischen Klasse vor dem Volk“ wie Otmar Jung es ausdrückt14 – weitgehend verflogen – so jedenfalls meine Erfahrungen für den süddeutschen Raum. Die grundsätzlich repräsentativ angelegte lokale Demokratie mit vielfältigen kommunikativen Elementen, ergänzt durch ___________ 8

Knemeyer, Kommunale Selbstverwaltung neu denken, DVBl. 2000, S. 876 ff., 878. Knemeyer, Bürgerbeteiligung (Fn. 5), S. 148 f. 10 Lediglich NRW, das Saarland und Schleswig-Holstein halten noch am System der starren listen fest. 11 Knemeyer, Bürgerbeteiligung (Fn. 5), Tabelle S. 168 f. – Zur Orientierung der Wahlsysteme am süddeutschen Vorbild, Decker, Parlamentarische Demokratie, ZParl 2007, S. 118 ff. m. w. N. 12 Zu den „konventionellen und unkonventionellen Formen politischer Beteiligung“ Gabriel, Anpassungsprobleme des lokalen politischen Systems an die Modernisierung der Gesellschaft, 4.1. 13 Knemeyer, in: Jung/Knemeyer, Direkte Demokratie, 2001, S. 88 ff. und zum neuen Rollenverständnis von Bürger und. Gemeinderat S. 115 ff. sowie ders., Kommunale Selbstverwaltung neu denken, DVBl. 2000, S. 878 und S. 881. 14 Jung bilanziert auf den Speyerer Demokratietagen im Oktober 2007: Die Angst der politischen Klasse vor dem Volk, Fortschritte und Rückschritte der letzten 15 Jahre in Deutschland. 9

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Bürgerentscheide, wird dem System unserer kommunalen Selbstverwaltung mit ihren Verwaltungs- und politisch demokratischen Funktionen voll gerecht und verleiht ihr ein menschliches Gesicht.15 Blickt man über die Kommunen hinaus, so wird das repräsentative System auf Landesebene nur mehr durch Volksentscheide ergänzt.16 Auf Bundes- und Europaebene sind derartige Ergänzungen jedoch systemfremd und unangebracht.17 Unser Jahrzehnt nun ist – neben der Terrorismusfrage – beherrscht von Reformen der inneren Verwaltung und von dem Versprechen einer Good Governance. Was aber verbirgt sich hinter der derzeit in aller Munde geführten Zauberformel? Dient good governance nur der Verwaltung? Dient good governance – übersetzt ja eigentlich nichts anderes als unsere Jahrhunderte bekannte „Gute Verwaltung“ – nur sich selbst oder dient sie auch dem Bürger?

II. Auslöser für good-governance-Aktivitäten Fortschritte in der bürgerschaftliche Partizipation haben den Abstand zwischen Volksvertretung und Volk nicht wirklich reduzieren können. Politikverdrossenheit hat mit wachsendem Politikinteresse sogar zugenommen. Gute Politik wird vermisst. Aus Vertrauen in die Verwaltung – namentlich in unsere deutschen Aufsichtssysteme18 – ist Misstrauen in den oder Desinteresse am Staat geworden. Eigentlicher Auslöser der good governance Aktivitäten ist eine in Deutschland nie für möglich gehaltene Häufung von Korruptionsfällen auf allen Ebenen. Die Speyerer Demokratietagungen haben sich – gesteuert von Hans Herbert von Arnim – seit 1999 bis heuten mehrfach mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Gerade die Beiträge der Tagung des Jahres 2007 sind symptomatisch für die Gesamtdiskussion. Die Korruption steht im Vordergrund. Immerhin wird die Tagung eingeleitet durch ein Referat von Matthias Jung: Wie ver___________ 15 Kösters, Direkte Demokratie im Rathaus – Wie bewerten die Kommunalverwaltungen in Nordrhein-Westfalen die Praxis? ZParl 2007, 134 ff. Zur Bewertung kommunaler Selbstverwaltung heute siehe Bull, Kommunale Selbstverwaltung heute – Idee, Ideologie und Wirklichkeit, DVBl. 2008, S. 1 ff. 16 Zum Gesamtproblem Engelken, Demokratische Legitimation bei Plebisziten auf staatlicher und kommunaler Ebene, DÖV 2000, S. 881 ff.; Frank Decker, Parlamentarische Demokratie versus Volksgesetzgebung, ZParl 2007, S. 118 ff. 17 Engelken, Volksgesetzgebung auf Bundesebene und die unantastbare Ländermitwirkung nach Art.79 Abs. 3 GG, DOV 2006, S. 550 ff. 18 Knemeyer, Die Staatsaufsicht über die Gemeinden und Kreise (Kommunalaufsicht), HKWP Bd. 3, 3. Aufl. 2007, S. 217 ff.

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drossen sind die Bürger? Damit wird gezeigt, dass good governance auch breiter angelegt werden kann. Das Heilmittel gegen Korruption, die Transparenz, stellt nur eine Voraussetzung für gute Verwaltung dar. Haben Weltbank und OECD schon Ende der 80er Jahre aus dem Dilemma mit der verwaltungsmäßigen Umsetzung von Entwicklungsprogrammen und dem Versickern von Milliarden durch Korruption nach Institutionen, Strukturen und Prinzipien für eine gute Politik – eine gute Verwaltung – gesucht, haben sie unter dem Zielbegriff einer good governance Voraussetzungen für Effizienz und Verantwortlichkeit, Demokratie und Partizipation, für Transparenz und Gerechtigkeit formuliert und zur Bedingung für weitere Zahlungen gemacht – nur gute, nicht aber korrupte Regierungen erhalten Subventionen – ist good governance von Brüssel kommend erst jüngst in Deutschland zum Ziel erhoben. Transparenz als Mittel zum Verbraucherschutz aber auch als Mittel zur Durchsetzung individueller Ansprüche. Seit einigen Jahren wird good governance aber auch als Heilmittel für eine gute bürgerschaftliche Selbstverwaltung gepriesen! – Eine grundlegende dogmatische Erfassung dieser neu formulierten „Verwaltungsdirektive“ fehlt freilich noch. Good governance sollte weiter zu gefasst werden als „gute Bürgerorientierte19 Kommunalpolitik und -verwaltung in Verantwortungsgemeinschaft“!

III. Good Governance in der Kommune – eine Bürger-orientierte Kommunalpolitik und -verwaltung Der Souverän hat nicht nur Rechte – er hat auch Pflichten. Er ist verantwortlich auch für die Gestaltung seines eigenen Lebensumfeldes. Die aktive Bürgergesellschaft20 und die aktivierende Kommune sind die Schlüssel zu einer Bürger-orientierten guten Verwaltung. Nach dem „Jahrzehnt der Bürger“, dem letzten des alten Jahrtausends, – ist unser Jahrzehnt gekennzeichnet durch die Entdeckung der Bürgergesellschaft und die Forderung nach Transparenz: Wenn es gelinge, alles transparent zu machen, werde es keine Korruption – in großem Stil – mehr geben und der Bürger werde wieder Vertrauen in die Politik und ___________ 19

Zur Position des Bürgers im Verwaltungsrecht siehe die Tübinger Dissertation von Baer „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht, 2004. 20 Die Politikwissenschaft spricht allgemein vor der civil society – der Zivilgesellschaft. Zur Neuentdeckung dieser Zivilgesellschaft als weiterer Säule neben Markt und Regierung siehe etwa Rifkin, Der europäische Traum, Frankfurt/New York 2004. Im 11. Kapitel unter dem Titel: „Der Flirt mit der Zivilgesellschaft“, weist er darauf hin, dass das Ziel dieser Gesellschaft das Gemeinwohl und der soziale Zusammenhalt und nicht die Akkumulation von Reichtum ist (S. 253 ff., 257).

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Verwaltung gewinnen und dann auch selbst wieder aktiv werden – seine Sache selbst in die Hand nehmen! Diese Prognose klingt fast wie eine Beschwörungsformel. Im Kern ist sie wohl richtig. Transparenz ist freilich nur ein Aspekt für eine gute Verwaltung. Allem voran muss dem Bürger wieder klar werden, dass der Staat nicht nur Anspruchsgegner und Bedroher seiner Rechte sondern nur eine Institution ist, die nur so gut sein kann, wie seine Auftraggeber es fordern oder zulassen. Das aber setzt Besinnung auf Bürgerpflichten und Bürgerverantwortung voraus. Nach jahrzehntelanger Betonung der Bürgerrechte versucht die Politik ihrerseits, die Bürger auch in die Pflicht zu nehmen. Dem Recht zu aktiver Teilhabe wird auch eine – moralische – Pflicht zur Mitwirkung und zum Engagement zur Seite gestellt. Die Modelle der Bürgergesellschaft beruhen auf der Prämisse von Rechten und Pflichten. Auch die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hat die Pflichtenseite aufgenommen und ihre Jahrestagung 1996 unter das Motto „Bürgerverantwortung im demokratischen Rechtsstaat“ gestellt.21 Prägnant formuliert Paul Kirchhof den demokratischen Rechtsstaat als die „Staatsform der Zugehörigen“.22 Mehr und mehr bahnt sich die Erkenntnis einen Weg, dass der „Nur-RechteBürger – der Anspruchsbürger“ in seiner Individualität vereinsamt. Nach dem Ende der Ich-Gesellschaft mit dem Rückzug in die „Eigenwelten“ – wird eine Wir-Gesellschaft propagiert, nach dem Ende der Spaßgesellschaft eine neue Ernsthaftigkeit. Eine Sehnsucht nach Werten und nach Gesellschaft wird diagnostiziert. Der späte Durchbruch eines gesunden Patriotismus und WirGefühls23 hat die ideologischen Fesseln der veröffentlichten Meinung24 gesprengt. Dass Bürgerverantwortung25 erst in „Zeiten der Krise“ von der Politik entdeckt wird, in Zeiten, da Staat und Kommunen an die Grenzen ihrer Leistungs-

___________ 21

VVDStRL Band 55 (1996) mit Beiträgen von Merten, Berka und Depenheuer. Handbuch des Staatsrechts, IX, Heidelberg 1997, § 221, Rn. 121 ff. 23 Nicht in einem Sinne von „Wir sind das Volk“ – seinerzeit formuliert gegen die Diktatur der abgehobenen alten Männer. 24 Zu deren Dominanz Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, Heidelberg 2005, S. 229 ff., 257 ff., 260. 25 Zu den Konturen einer Verantwortungsgesellschaft etwa Boer, Gesellschaft neu denken, Einblicke in Umbrüche, Frankfurt/M 2004; und Merz, Nur wer sich ändert, wird bestehen. Vom Ende der Wohlstandsillusion – Kursbestimmung für unsere Zukunft, Freiburg 2005. 22

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fähigkeit gelangt sind,26 mag ein „Schönheitsfehler“ sein. Ohne „Krise“ bewegt sich jedoch kaum etwas. Darum gilt es die neue Situation zu nutzen und den „Anspruchs-Bürger“ auch in Pflicht und Verantwortung zu nehmen. Dazu bedarf es auch einer Umorientierung bei überkommenem Selbstverwaltungsdenken und -handeln.

IV. Ein neues Leitbild für die Kommunen – die aktivierende Bürgerkommune Mit dem allenthalben reklamierten Subsidiaritätsprinzip gilt es auch innerhalb der Kommune ernst zu machen. Die Neuanforderung an die Kommunalpolitik heißt: weniger Administration, weniger Verwaltung als Aufgabe der Gewählten, mehr Moderation, mehr Anstoß, mehr Impulse für die Initiativen der Bürger.27 Das Kennwort heißt Öffnung: Einer Neuordnung der Aufgabenfelder Rat/Bürgermeister muss eine Öffnung zu breiten komplementären Feldern für Einzelne oder Gruppen folgen.28 Hermann Hill formuliert in einem Vortrag unter dem Titel „Die Rolle der Städte und Gemeinden im 21. Jahrhundert“ knapp und prägnant: „Das wichtigste Kriterium für die Behörde ist die Rechtsstaatlichkeit und für das Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit. Für die Bürgerkommune sind es der soziale Zusammenhalt und die Mitwirkung einer Vielfalt der Akteure. In der Behörde gibt der Staat und im Dienstleistungsunternehmen der Kunde die Aufgaben vor. Bei der Bürgergesellschaft tut es die Bürgerschaft, die andere Interessen haben kann als z. B. die direkten Kunden, beispielsweise in der Sozialhilfe. Die Argumentationen, die in der Behörde eher rechtlich und im Unternehmen eher ökonomisch geprägt sind, verändern sich in der Bürgerkommune

___________ 26 Der Betreuungsstaat ist am Ende. Die Politik kann nicht mehr die Privilegien garantieren, die wir bisher genossen haben. 27 Schleyer, Eine neue Sozial- und Bürgerkultur in der kommunalpolitischen Praxis, verschiedene Beiträge im Sonderheft 1/1999 der politischen Studien der Hanns-SeidelStiftung unter dem Thema: Neue Bürger- und Sozialkultur – Vision oder Utopie?, S. 108 ff., 112. 28 Schleyer, bringt eine Reihe von Beispielen dafür, wo Kommunen Bürgern Mitwirkungsmöglichkeiten dadurch verwehren, dass sie selbst Aufgaben wahrnehmen, die die Bürger übernehmen könnten (Fn. 27), S. 110. Die Politik erkennt die Notwendigkeit, der Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Bürger Vorrang vor staatlichen und kommunalen Aktivitäten einzuräumen. Aus den namentlich von Stiftungen getragenen Umfeld sei beispielhaft hingewiesen auf den Wettbewerb der Bertelsmann-Stiftung „Bürgerorientierte Kommune – Wege zur Stärkung der Demokratie“.

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hin zu einem politisch geprägten Ansatz. Alle drei Facetten werden im 21. Jahrhundert nebeneinander erforderlich sein.“29 Diese neuen Ansätze sind geprägt durch die Wiederentdeckung der Bürgerbeteiligung als Voraussetzung zur Pflege und zum Erhalt der örtlichen Gemeinschaft. Deutlich mach Hermann Hill, dass es, anders als in den 70-er Jahren, nicht mehr darum geht, im Rathaus schlüssige Konzepte zu entwickeln und die Bürger lediglich qua Anhörung daran zu beteiligen. Es reicht auch nicht eine Erweiterung der Beratung und Betreuung der Bürger in einem Bürgerbüro oder ähnlich.30 In einer lebendigen Bürgergesellschaft sind bürgerschaftliche Mitwirkung und Verantwortungsübernahme nicht nur gewünscht, sie sind gefordert.31 Es bedarf eines Aufbruchs in die Eigenverantwortung. Erst mit der notwendigen Stärkung der integrativen Komponente der politisch-demokratischen Funktion kommunaler Selbstverwaltung kann eine Gemeinde zur Bürgerkommune werden. Will man vor dem Hintergrund neuer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen die Position kommunaler Selbstverwaltung neu erfassen, so bedarf es neben der selbstverwaltungsadäquaten Balance zwischen den verschiedenen Funktionen kommunaler Selbstverwaltung32 im demokratischen Rechtsstaat als Rechtswahrer und Dienstleister auch der Beachtung und Stärkung des unmittelbaren Bürgerengagements. Es gilt also effektive Kommunalverwaltung im Dienste des Bürgers zu entwickeln, dabei aber gleichzeitig ein new public management nicht ohne den Bürger und ohne seine Mit- und Einwirkung zu organisieren. Bürgerbeteiligung muss mehr sein als Mitentscheidung. Es bedarf des unmittelbaren Bürgerengagements auch neben der Beteiligung an Verwaltungsentscheidungen. Der geläufige kommunale Aufgabendualismus – eigene und übertragene Aufgaben – ist umeine eigene dritte Kategorie zu ergänzen: die kommunalen Bürgerangelegenheiten oder Selbsthilfeaufgaben, Aufgaben, die die Bürger in öffentlicher Verantwortung subsidiaritätsentsprechend selbst wahrnehmen.33 Die Angelegenheiten, die der Bürger selbst entscheiden und erfüllen oder auch nur entscheiden kann, sind ihm auch zu überlassen: Es geht um eine Fort___________ 29 Hill, Die Rolle der Städte und Gemeinden im 21. Jahrhundert, Bayerische Gemeindetagszeitung (BayGTZ) 1999, S. 275 ff. 30 Dazu etwa Ruge, Die allgemeinen kommunalen Beratungs- und Betreuungspflichten, Baden-Baden 2000. 31 Hill, Städte und Gemeinden (Fn. 29), BayGTZ 1999, S. 276. 32 Dazu etwa Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, 12. Aufl. 2007, Rn. 8. 33 Dazu näher Knemeyer, Schutz der Bürgerrechte und Bürgerpflichten, in: Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz, 2008, S. 9.

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führung des Subsidiaritätsprinzips von Europa über Bund, Länder und die kommunalen Ebenen bis hin zum Einzelnen. Dazu gilt es nicht nur von Bürgern selbst entwickelte und betriebene Projekte zu unterstützen, sondern dem Bürger auch Angebote zum Engagement zu unterbreiten, ihn zur aktiven Teilnahme und Verantwortungsübernahme auch in für ihn neuen, überschaubaren Aufgabenfeldern aufzufordern. Denn nicht alles kann nur von unten wachsen, es muss auch einiges aus der Gesamterfahrung und im Kontext einer gesamtkonzeptionellen Kommunalpolitik angestoßen werden. Dies erfordert, auch aus der Sicht des Bürgers zu denken und Bürgerwissen zu nutzen. Wirksam werden diese Aufforderungen sein, wenn sie mit Anreizen und ggf. auch mit Sanktionen (etwa finanzieller Schlechterstellung) verbunden sind. Deutschland kennt eine unvergleichliche Kultur ehrenamtlichen Engagements – freilich zumeist für einzelne Projekte und ohne das Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zur Erfüllung öffentlicher – kommunaler – Aufgaben. Ihren Stellenwert könnte man durch Einbindung in das kommunale Aufgabensystem stärken. Ein erster Ansatz ist erreicht durch die Schaffung einer steuerlich absetzbaren Pauschale sowie die Einrichtung einer vom Staat finanzierten Bayerischen Ehrenamtsversicherung Auf diese Weise wird die Zugehörigkeit zum öffentlichen Sektor erstmals anerkannt.34 Ein eigenes Thema ist schließlich die effektive Einbindung auch der ausländischen Mitbürger in die „Neue Bürgergesellschaft“. Partizipation wäre ein wichtiger Schritt zur Integration von Zuwanderern.35 Ein neues Leitbild für die Kommunen – eine Betonung der Bürgerpflichten und der Übernahme von Verantwortung erfordert schließlich eine breite Öffnung zum Bürger und eine neuartige kommunale Öffentlichkeitsarbeit.36 Nur so wird auch das erforderliche Klima für eine neue Bürgergesellschaft mit gemeinsamen Überzeugungen und Werten geschaffen. Nur so kann auch verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewonnen und wachsende Politikverdrossenheit eingedämmt werden.

___________ 34 So besteht z. B. seit dem 1. April 2007 die vom Freistaat Bayern getragene Sammelhaftpflicht- und -unfallversicherung für ehrenamtlich/freiwillig Tätige. Siehe dazu etwa BayBgm 2007, S. 258. Zur Effektivierung des Ehrenamts ist das Landesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement schon im Dezember 2003 in Leben gerufen, siehe dazu den Beitrag des Geschätsführers Röbke in BayGTZ 2003, S. 456. Am 8. Juli 2007 hat der Bundestag das „Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements“ beschlossen, mit dem ein finanzielles Engagement erheblich verbessert wurde. 35 Siehe dazu etwa Bertelsmann-Forum, 2/2007, S. 22 ff. Zur Jugendbeteiligung in der Kommune ebenda S. 25 ff. 36 Bürgerbezogene Öffentlichkeitsarbeit ist der Sauerstoff der Demokratie (Heinemann).

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V. Transparenz und Information – nicht allein Mittel zur Korruptionsbekämpfung, Verbraucherinformation und Wahrnehmung eigener Rechte, sondern Grundvoraussetzungen einer aktiven Bürgergesellschaft und „guter Verwaltung“ Wie schon angemerkt ist der partizipativen Revolution in den 90er Jahren – von der Presse mächtig unterstützt – im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ein immer stärkerer Ruf nach Transparenz und Information gefolgt. Der Bürger will nachvollziehbar erfahren, warum gerade seine Straße jetzt und nicht später oder früher ausgebaut wird, warum Radwege immer noch fehlen, warum Kindergärten nicht auch zum Hort erweitert werden etc. etc. Er denkt – wenn auch zumeist nur eigenbezogen – mit. Er möchte aber nicht nur nachdenken, wenn die Entscheidung schon gefallen ist. Am liebsten würde er schon vor den Gemeinderäten die Namen möglicher Investoren, die Umstände von Preisen und Angeboten etc. erfahren und möglichst schon vor „Geschäftsanbahnung“ eingeschaltet werden. Durch derartige Ansinnen – zumeist von der Presse vermittelt oder von ihr lanciert – sehen Rat und Verwaltung ihre Verhandlungspositionen geschwächt oder gar unmöglicht gemacht. Ausgehend von Brüssel bestimmen heute mehr und mehr Transparenzgesetze das Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung, Transparenz- und Informationsfreiheitsgesetze,37 die vor allem dem Bürger weitgehende Akteneinsichtsrechte zur Wahrnehmung seiner Ansprüche gewähren.38 Diese neue Tendenz stärkerer Betonung des Transparenzprinzips ist freilich bezogen auf die Wahrnehmung eigener Interessen des Bürgers, nicht aber auf seine demokratischen Mitwirkungsrechte. Immer mehr wird jedoch erkannt, dass eine möglichst umfassende rechtzeitige Information auch die Basis für eine wirksame bürgerschaftliche Mitwirkung darstellt und so Bedeutung auch für die Gemeinwohldiskussion in der „Neuen Bürgergesellschaft“ besitzt. Good governance verlangt unter anderem die Einbindung der Bürger und der gesellschaftlichen Gruppen in den Entscheidungsprozess. In Agenda-21 Prozessen ist dies nicht selten schon erfolgreich praktiziert. Dr. Uwe Brandl, der Präsident des Bayerischen Gemeindetages formuliert: „Wir brauchen transparente Entscheidungsabläufe, die für jedermann nachvollziehbar gestaltet wer___________ 37

Siehe dazu etwa Kugelmann, Informationsfreiheitsgesetz (IFG), Kommentar, 2007; Flick, Verwaltungstransparenz durch Informationsfreiheit, DVBl. 2006, S. 1406 ff. Auf die Wirtschaft – auch die Kommunalwirtschaft – bezogen, s. a. das KonTraG. 38 Ein Anspruch auf Öffentlichkeit kann aber nur dann bestehen, wenn er zur Wahrnehmung eigener Rechte erforderlich ist und wenn er (so die neuen Transparenzgesetze, die vor allem der Bekämpfung auch der Korruption dienen) die Grenzen der Rechte anderer berücksichtigt. Damit gilt es, vor jedem Akteneinsichtsverlangen des Bürgers diese Aspekte zu überprüfen – Datenschutz etc.

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den. Das gilt nicht nur für die verantwortlichen Kommunalpolitiker! Die Zukunft einer Gemeinde ist nicht nur Chefsache im Rathaus, sie betrifft und trifft jeden Bürger.“39 In einem Verfahren gegen die Nichtzulassung eines Bürgerbegehrens mit dem bezeichnenden Titel „Mehr Bürgerbeteiligung statt geheimer Rathauspolitik“ hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil von 8. Mai 2006 die Zusammenhänge von Transparenz und Bürgermitwirkung als Bürgerrechte40 gestärkt. Auch und vor allem das Urteil der Vorinstanz41 zeigt auf, dass mit mangelnder Transparenz auch die demokratische Legitimation sowie die Partizipation der Bürger am Meinungsfindungs- und Entscheidungsprozess kranken. Schon das Bundesverfassungsgericht hatte in einer auf Abgeordnete bezogenen Entscheidung festgestellt, dass sowohl das demokratische als auch das rechtsstaatliche Prinzip verlangen, dass der gesamte Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar sein muss und Ergebnisse vor den Augen der Öffentlichkeit zu beschließen sind. Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt, zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich.42 Die angeführten Urteile entsprechen einer zunehmenden Entwicklung in Rechtsprechung, Literatur und Rechtsetzung, Informationsrechte der Öffentlichkeit gegenüber Staat und Kommunen als Ausdruck staatsbürgerlicher Teilhabe an Staat und Verwaltung zu stärken.43 Daraus folgt: Rat und Verwaltung müssen den Bürger – in Grenzen – an ihrem Herrschaftswissen teilhaben lassen. Es reicht nicht aus, durch die Einrichtung von Bürgerbüros Aufgeschlossenheit zu demonstrieren. Es reicht auch nicht aus, Sitzungen öffentlich zu machen. Unabdingbar ist echte Transparenz durch aktive kommunale Öffentlichkeitsarbeit. Nur mit einer „neuen Offenheit“ ist verlorene Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen und wachsende Politikverdrossenheit – Politikerverdrossenheit – einzudämmen. Das gläserne Amt – das gläserne Rathaus – der gläserne Bürgermeister –, das sind in der augenblicklichen Diskussion unter Praktikern noch gewisse Schreckgespenster. Der aktive Kommunalpolitiker braucht ob eines derartigen Systems der Öffnung und der Mitgestaltung durch den Bürger um seine Position jedoch nicht zu fürchten. Um dem gewachsenen Informationsbedürfnis zu entsprechen, gilt es, selbst in die Offensive zu gehen, zu zeigen, was getan wird ___________ 39

Bayerischer Gemeindetag 2007, S. 47 ff., 48. BayVGH BayVBl. 2006, S. 534 ff. 41 VG Regensburg, LKV 2005, S. 365 ff. mit Anmerkung von Zieglmeier. 42 BVerfGE 40296/327 gleich BayVBl. 1976, S. 12. 43 Siehe dazu auch v. Bechtoltsheim/Betz, Kommunalrechtliches Öffentlichkeitsprinzip versus vergaberechtlichen Geheimhaltungsgrundsatz, KommJur 2006, S. 1 ff. 40

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und warum es getan wird oder warum es nicht getan wird. Dabei ist freilich der schwierige Spagat zwischen Offenlegung und Geheimhaltung zu vollziehen. Aktive Öffentlichkeitsarbeit belebt die politische Kultur und gestattet auch dem Bürger, Erfolge in Bezug auf die nächste Wahl, auf die Wiederwahl, zu bilanzieren. Zu einer Erosion kommunaler Entscheidungsmacht wird eine harmonische, weiterentwickelte gemischt-örtliche Demokratie nicht führen. Freilich sind die bürgergewählten Repräsentanten nicht nur gehalten, sondern auch verpflichtet, ihr Rollenverständnis zu überdenken und der neuen, dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip entsprechenden Situation anzupassen.44 Es gilt aber auch, vor jeder Information an die Öffentlichkeit die Gesamtposition der Verwaltung im tagesordnungsentsprechenden Verfahren zu prüfen, d. h. z. B. ob und inwieweit durch eine Information der Öffentlichkeit die Verhandlungsposition der Verwaltung geschwächt wird. Denn die Verwaltung ist verpflichtet, im Interesse der Allgemeinheit effektiv zu handeln und nicht durch vorzeitige Informationen ihre Verhandlungsposition zu schwächen damit dem Bürger, der letztendlich „die Zeche zahlt“. Gerade eine vorzeitige Information kann nicht im Interesse der Bürger liegen.

VI. Ein good-governance-Kodex als Verhaltenskodex in einer Verantwortungsgemeinschaft zwischen dem Bürger und seiner Kommune Es muss gelingen, good governance – die bislang nur beschworene Zauberformel – in einem wirkungsvollen Kodex einzufangen. Nur mit einer neuen Offenheit könnte verlorene Glaubwürdigkeit zurück gewonnen und wachsende Politikverdrossenheit eingedämmt werden. Der „Anspruchsbürger“45 muss freilich erkennen, dass er auch Pflichten zu erfüllen hat. Der Staat ist nicht nur Anspruchsgegner und Bedroher der Bürgerrechte, sondern Einrichtung des Bürgers, die nur so gut sein kann, wie es der Bürger selbst zulässt. Transparenz und Information sind entgegen der bisherigen Schwerpunktsetzung in der Politik nicht allein Voraussetzung einer wirksamen Korruptionsbekämpfung, Verbraucherinformation und Wahrnehmung eigener Interessen namentlich gegenüber der Verwaltung sondern Grundvoraussetzung einer aktiven Bürgergesellschaft und „guter Verwaltung“. Der hier verfolgte Ansatz nimmt den Bürger umfassend in die Pflicht und erwartet von ihm einen Aufbruch in die Eigenverant___________ 44 Knemeyer, Kommunale Selbstverwaltung neu denken, DVBl. 2000, S. 876 ff., 881 mit weiteren Nachweisen. 45 Dem Grundrecht auf good governance im Grundrechteteil einer „Europäischen Verfassung“ muss auch eine komplementäre Pflicht entsprechen.

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wortung. Er konturiert auf diese Weise die Bürgergesellschaft als kommunale Gesellschaftsform der Zugehörigen. Die Auferlegung von über bestehende Rechtspflichten hinausgehenden Pflichten ist freilich ohne die Abgabe von Garantien nicht möglich. Nur bei Garantien in Form einer Selbstverpflichtung46 der kommunalen Mandatsträger47 etwas in einem good-governance-Kodex wird der Bürger als Souverän bereit sein, auch die ihm zukommende Verantwortung zu tragen. So verstanden dient good governance dem Bürger, der Verwaltung und der Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Good governance vermag – in dieser Form ausgestaltet – die Grundlage zu sein für eine Kommunalpolitik und -verwaltung in Verantwortungsgemeinschaft mit ihren Bürgern.

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Sie sollte mehr sein als nur eine moralische Pflicht. Ganz typisch für die immer häufiger aufgestellten Verhaltenskodices ist der „Europäische Verhaltenskodex für kommunale und regionale Volksvertreter“. Reagierend auf „Rechtsskandale“ wird auf das Umfeld von Missverwaltung und Korruption abgestellt. Die demokratische Komponente von good governance bleibt außen vor. Für die Wirtschaft siehe etwa Kremer, in: Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder, Kommentar zum Deutschen Corporate Governance Kodex, Kodex-Kommentar, 2. Aufl. 2005. 47

Zur Einstellung von Personen mit Migrationshintergrund im Polizeivollzugsdienst Von Philip Kunig, Berlin

I. Problemstellung In mehreren Ländern der Bundesrepublik wird das Ziel verfolgt, mehr Personen mit Migrationshintergrund in den Öffentlichen Dienst aufzunehmen, namentlich – und darum soll es im Folgenden gehen – den Anteil solcher Personen im Polizeivollzugsdienst zu erhöhen. Die nachfolgenden Überlegungen gehen auf eine Beratung zurück, die der Verf. im Auftrage des Berliner Polizeipräsidenten vorgenommen hat. Der alltagssprachliche Begriff des Migrationshintergrundes wird zumeist wie folgt verstanden: Erfasst davon sind zum einen Bewerber und Bewerberinnen, die nicht entweder die deutsche oder die Staatsangehörigkeit eines anderen EU-Mitgliedstaates haben; ihre Einstellung als Beamte ist von vornherein generell gerade nur ausnahmsweise, nämlich im Falle eines dringenden dienstlichen Bedürfnisses möglich (vgl. z.B. § 9 III BerlLBG). Einen Migrationshintergrund haben aber auch solche Bewerber und Bewerberinnen, die ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit eine andere nationale Abstammung als die deutsche oder eine solche eines anderen EU-Mitgliedstaates aufweisen. Von einer solchen anderen nationalen Abstammung wird unabhängig vom Geburtsort ausgegangen, wenn die betreffende Person – vor dem Erwerb der deutschen oder einer anderen EU-Staatsangehörigkeit – eine andere Staatsangehörigkeit inne hatte oder aber jedenfalls ein Elternteil heute oder früher eine solche andere Staatsangehörigkeit hat oder hatte. Es ließe sich auch unabhängig von Staatsangehörigkeiten sagen: Maßgeblich für die Annahme eines Migrationshintergrundes sind erkennbar auf Ethnie oder Sprache gerichtete Differenzen im Vergleich mit einheimischen Personen, welche als solche deutlich wahrgenommen werden. Personen aus dem vorgenannten Kreis sind derzeit in den Polizeivollzugsdiensten der Länder im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes in deutlich geringerem Ausmaß vertreten. Die Ursachen

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dafür können zum einen in einem mangelnden Interesse an einem derartigen Beschäftigungsverhältnis liegen. Soweit ein solches Interesse vorhanden bzw. konkret in der Vergangenheit geäußert worden ist, sind entsprechende Bewerbungen häufig an dem Grad der Kenntnis der deutschen Sprache, aber auch an anderen für die Einstellung maßgeblichen Kriterien gescheitert. Dabei scheinen auch die Altersgrenzen eine Rolle gespielt zu haben. Es ist vielfach der politische Wille geäußert worden, diesen Befund zu verändern, was zu dem Interesse an den vorliegend zu erörternden Rechtsfragen geführt hat. Dieser Wille richtet sich darauf, den Anteil von Personen mit Migrationshintergrund im Polizeivollzugsdienst schrittweise zu erhöhen. Dabei ist aber wohl nirgends beabsichtigt – und sind demzufolge hierdurch ggf. aufgeworfene spezielle Rechtsfragen unerörtert zu lassen –, eine organisatorisch verselbständigte Sonderpolizei zu bilden, deren Personal ausschließlich oder überwiegend aus dem Kreis von Personen mit Migrationshintergrund zu rekrutieren wäre und dann ggf. besondere Aufgaben zugewiesen erhielte, welche ihrerseits aus dem Vorhandensein einer Vielzahl solcher Personen in manchen Regionen resultieren mögen. Derartiges wird übrigens gerade im Kreise von Personen mit Migrationshintergrund verbreitet abgelehnt. Vielmehr steht das politische Ziel der Erhöhung des Anteils von Personen mit Migrationshintergrund, soweit es hier zu berücksichtigen ist, unter dem Vorbehalt, dass gerade an den Polizeidienst einheitliche Anforderungen zu stellen sind, weil jeder Vollzugsbeamter und jede Vollzugsbeamtin in der Breite des Vollzugsdienstes einsetzbar sein soll. Da die Beweggründe für ein politisches Ziel auch für die rechtliche Beurteilung von Wegen zur Zielerreichung Bedeutung entfalten können, sei dazu festgehalten: Die Erhöhung des Anteils von Personen mit Migrationshintergrund im Polizeivollzugsdienst, ggf. die Erreichung einer Anzahl, welche dem Anteil solcher Personen an der Bevölkerung gleich kommt, könnte eine integrative Wirkung entfalten und damit der Konfliktvorsorge dienen, woraus eine Entlastung des polizeilichen Vollzugs erwachsen könnte. Die denkbare Steigerung einer Akzeptanz der Polizei in der Bevölkerung kann einen Gewinn an polizeilicher Effizienz bedeuten. Das gilt allgemein, also Grundeinstellungen der Bevölkerung gegenüber der Polizei betreffend, ist aber auch für den konkreten Einsatzfall insofern denkbar, als die Präsenz eines als Person mit Migrationshintergrund wahrnehmbaren Amtsträgers vertrauensbildend, aber auch autoritätserhöhend wirken kann. Denkbar ist ferner, dass Personen mit Migrationshintergrund über Kenntnisse, speziell auch kommunikative Kompetenzen verfügen, welche anderen Personen nicht ohne weiteres oder gleichen Ausmaßes zueigen sind; auch das kann im Einzelfall effektivitätsfördernd sein.

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Die vorgenannten Einschätzungen, die im politischen Raum vernehmbar sind, werden hier ungesichert wiedergegeben1. Sie mögen teilweise auch falsifizierbar sein. Diesbezüglichen Überlegungen, die im Übrigen den juristischen Sachverstand überschreiten, würde nur nachzugehen sein, sofern die tatsächliche Plausibilität politischer Erwägungen für eine rechtliche Würdigung unabdingbar ist. Dazu sei hier allgemein festgehalten, dass bei der Subsumtion von Tatsachen unter unbestimmte Rechtsbegriffe sowohl des einfachgesetzlich geregelten öffentlichen Rechts wie auch des für dessen Interpretation und letztlich Gültigkeit zu bemühenden Verfassungsrechts vielfach eine Einschätzungsprärogative der Verwaltung bzw. zur Rechtssetzung berufener Organe zulassen, also einen politischen Gestaltungsspielraum ermöglichen, welchen das Recht lediglich begrenzt. Die im vorstehenden Absatz wiedergegebenen politischen Einschätzungen dürften sich weitgehend innerhalb solcher Spielräume bewegen.

II. Maßgebliche Vorschriften – das Beispiel Berlin Für die Auswahl der Bewerber für den Polizeivollzugsdienst des Landes Berlin ist das Landesbeamtengesetz maßgeblich, das zwar für Polizeibeamte einen gesonderten Abschnitt VII enthält, der sich indessen für die Frage der Begründung des Status der Polizeivollzugsbeamten auf die Regelung einer Alters-(Ober-)Grenze (§ 106 LBG) beschränkt, so dass für die Auswahl der Bewerber § 12 LBG maßgeblich bleibt. Satz 2 dieser Vorschrift lautet: „Die Auslese ist nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, sexuelle Identität, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse oder politische Anschauung, gewerkschaftliche Zugehörigkeit, Herkunft oder Beziehungen vorzunehmen; dabei soll der Beste den Vorzug erhalten“. In Satz 3 ist hinzugefügt: „Die Bestimmungen des Landesgleichstellungsgesetzes bleiben unberührt“. Vorschriften zur (geschlechtsbezogenen) Gleichstellung können im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. Das (Berliner) Landesbeamtengesetz ist zur Ausfüllung des Rahmengesetzes (des Bundes) zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (BRRG) erlassen worden. In § 7 BRRG heißt es: „Ernennungen sind nach Eignung, Befähigung und ___________ 1

Näheres dazu etwa bei Franzke, Polizisten und Polizistinnen ausländischer Herkunft. Eine Studie zur ethnisch-kulturellen Identität und beruflicher Sozialisation Erwachsener in einer Einwanderungsgesellschaft, 1999; Behr, Cop Culture. Der Alltag des Gewaltmonopols, 2000; Hunold/Behr, Freunde in den eigenen Reihen, in: Ohlemacher/Mensching/Werner (Hrsg.), Polizei im Wandel? Empirische Polizeiforschung VIII, 2007, 21 ff.

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fachlicher Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen, Herkunft oder Beziehungen vorzunehmen.“ Mit dem Inkrafttreten der sog. Föderalismusreform am 1. September 2006 ist die gem. Art. 30, Art. 70 I GG für den Erlass von die Landesbeamten betreffenden bundesrechtlichen Vorschriften vorausgesetzte Kompetenzgrundlage des Art. 75 I 1 Nr. 1 GG (Rahmengesetzgebung des Bundes) weggefallen. Seither gilt aber gem. Art. 125 a I GG das BRRG als Bundesrecht fort (das künftig durch Landesrecht abgelöst werden kann). Demzufolge hat die erwähnte Verfassungsänderung den Bestand der vorhandenen beamtengesetzlichen Vorschriften über die Bewerberauswahl im Bund und in den Ländern zunächst unberührt gelassen. Beide zitierten Vorschriften sind vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Vorgaben im Bund und in Berlin für die Beamtenauswahl zu sehen. Es betrifft dies für den Bund die auf die Gleichbehandlung zielenden Aussagen in den drei Absätzen des Art. 3 GG sowie in Art. 33 I bis III GG, darunter vor allem dessen Abs. 2, der lautet: „Jeder Deutscher hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt“. Das Berliner Verfassungsrecht (siehe insbesondere Art. 19 II VvB) entspricht diesen Vorgaben, so dass es hier keiner Ausführungen über das Verhältnis des Verfassungsrechts des Bundes zu demjenigen der Länder im Allgemeinen bedarf. Es verlangt im Übrigen den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern ausdrücklich unabhängig von der Staatsangehörigkeit (insoweit anders als Art. 33 II GG), was aber angesichts der Art. 3 I, III GG wiederum jedenfalls im Ergebnis keine im Vergleich zum Bundesrecht abweichende Rechtslage nach dem Landesverfassungsrecht darstellt2. Hinsichtlich des Verhältnisses des höherrangigen Verfassungsrechts zum einfachgesetzlichen Beamtenrecht wie auch des Verhältnisses des insoweit bestehenden bundesrechtlichen Beamtenrechts zum landesrechtlichen Beamtenrecht bedarf es hier ebenfalls keiner weiteren Überlegungen. Denn ungeachtet der insoweit jeweils unterschiedlichen Formulierungen, namentlich der Aufnahme einzelner für eine Einstellungsentscheidung für maßgeblich erklärten Kriterien in das einfache Recht, welche auf der Verfassungsebene keine wortgleiche Entsprechung finden, kann, soweit für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, von einer Deckungsgleichheit dieser Rechtsgrundlagen ausgegangen werden. In jedem Falle muss eine Einstellungsentscheidung der Vorgabe des Art. 33 II GG genügen.

___________ 2

Vgl. Driehaus, in: ders., Verfassung von Berlin, 2. Aufl., 2005, Art. 19 Rn. 9.

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Als Rechtsgrundlage für die Beurteilung von Einstellungsentscheidungen zu berücksichtigen ist ferner das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz des Bundes, das am 18. August 2006 in Kraft getreten ist. Die Vorschriften dieses Gesetzes gelten gem. § 24 AGG „unter Berücksichtigung ihrer besonderen Rechtsstellung entsprechend“ auch für Beamtinnen und Beamte der Länder (§ 24 Nr. 1 AGG). Eine – gesetzestechnisch denkbare – Bereichsausnahme für den mit dem Polizeivollzugsdienst in Rede stehenden Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit ist nicht vorhanden. Allerdings ist in § 2 AGG hinsichtlich des Anwendungsbereichs des AGG bestimmt, dass dieses Benachteiligungsverbote bzw. Gebote der Gleichbehandlung im „sonstigen Recht“ nicht berühre. Diesbezügliche beamtengesetzliche Bestimmungen stellen sich demzufolge als Spezialregelungen zu dem AGG dar, welche es in die Subsidiarität verweisen. Das bedeutet, dass eine Anwendung von Vorschriften des AGG dann zu erfolgen hat, wenn das Beamtenrecht hierfür Raum lässt3. Deshalb wird bei der rechtlichen Beurteilung in Betracht kommender Wege zur Verwirklichung des oben angesprochenen politischen Ziels insbesondere zu erwägen sein, ob die in dem AGG vorgesehenen Maßnahmen der Ungleichbehandlung zum Nachteilsausgleich hier eine Bedeutung entfalten können. Dabei könnte ggf. zu berücksichtigen sein, dass die einfachgesetzlichen Regelungen des AGG ihrerseits jedenfalls im Ausgangspunkt europarechtlich veranlasst, nämlich durch europäische Richtlinien vorgegeben sind, was angesichts des grundsätzlichen Anwendungsvorrangs europäischen Rechts gegenüber mitgliedstaatlichem Recht Fragen nach der Reichweite dieses Anwendungsvorrangs und seiner Bedeutung für innerstaatliches Verfassungsrecht aufwerfen kann. Festzuhalten ist noch: Soweit, wie angesprochen, das AGG auch die Rechtsverhältnisse von Landesbeamten erreichen will, beruht es wie das BRRG auf seit dem 1. September 2006 nicht mehr bestehenden Kompetenzgrundlagen. Auch sein Bestand bleibt insoweit aber wegen Art. 125 a I GG erhalten. Er ist insoweit künftig abhängig von einer Inanspruchnahme des neuen Art. 74 I Nr. 27 GG.

III. Wege zur Lösung Die Erhöhung des Anteils einer bestimmten Bevölkerungsgruppe an Positionen oder Ämtern kann auf unterschiedlichen Wegen rechtlich gesteuert werden. Denkbar ist insbesondere die gesetzliche Vorgabe von sog. Quoten. Diese Pro___________ 3 Vgl. Bauer/Göpfert/Krieger, Allgemeines Gleichbehandlungssatz, Kommentar, 2007, § 24 Rn. 5 f.; Mahlmann, in: Däubler/Bertzbach, Hrsg., Allgemeines Gleichbehandlungssatz, Kommentar, 2007, § 24 Rn. 8; Bauschke, RiA 2006, 241, 244.

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blematik ist in Deutschland, aber auch in Europa, im Zusammenhang mit geschlechtsbezogenen Gleichstellungsfragen jahrzehntelang diskutiert worden. Jedenfalls für den öffentlichen Dienst haben sich dabei, wesentlich mitbestimmt durch mehrere Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die verfassungsrechtlichen bzw. grundrechtlichen Grenzen solcher Regelungen erwiesen4. Die Gründe dafür werden hier nicht nachgezeichnet, da in den Ländern eine auf Personen mit Migrationshintergrund bezogene Quotenregelung offenbar nicht ernsthaft erwogen wird; sie würde auch gerade von den betroffenen Personen wohl durchweg klar abgelehnt werden. Demzufolge beschränken sich die nachfolgenden Überlegungen auf die Handhabung der bisher praktizierten Kriterien für die Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern. Auch insoweit sind verschiedene „Wege“ denkbar. Den Ausgangspunkt der Betrachtung soll dabei die Frage bilden, ob eine Veränderung der bisherigen Einstellungspraxis zugunsten einer mutmaßlich größeren Erfolgsquote von Bewerberinnen und Bewerbern mit Migrationshintergrund womöglich rechtlich geboten ist. Diese Erwägung drängt sich wegen der auch insoweit bestehenden Parallele zur geschlechtsbezogenen Gleichstellungsfrage auf. Die Durchführung von Maßnahmen zur Erhöhung des Anteils von Frauen in bestimmten Berufsfeldern findet ihren verfassungsrechtlichen Hintergrund (nunmehr) in Art. 3 II 2 GG, war – zutreffender Ansicht nach – aber auch schon vor der diesbezüglichen Verfassungsänderung dem Art. 3 II a. F. GG zu entnehmen. Daraus resultiert ein Spannungsverhältnis mit den oben bei II wiedergegebenen Rechtsgrundlagen für die Einstellung, welche das Kriterium des Geschlechts ausblenden5. Es wäre also – übertragen auf die vorliegende Problematik – gewissermaßen aus dem Blickwinkel eines Gleichstellungsauftrages nach Einschränkungen bei der Anwendung grundsätzlich ihre Ausschließlichkeit erheischender Kriterien zu fragen. Die Prämisse einer solchen Überlegung ist allerdings, dass die bisherige Einstellungspraxis zu einer rechtlich relevanten Diskriminierung von Personen mit Migrationshintergrund führt. Nicht ausgegangen werden kann von einer unmittelbar an den Umstand des Migrationshintergrundes anknüpfenden negativen Entscheidungspraxis der Einstellungsbehörden, also einer direkten Diskriminierung wegen der Abstammung bzw. des kulturellen Hintergrundes, wie sie mit – jedenfalls – Art. 3 III GG unvereinbar wäre. Indessen spielt bisher in den Einstellungsverfahren die Sprachkompetenz offenbar eine maßgebliche Rolle. Die Nichtberücksichtigung eines Bewerbers oder einer Bewerberin aufgrund mangelnder Sprachfähigkeit ___________ 4 S. Kunig, in: Schmidt-Aßmann, Hrsg., Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, VI Rn. 87 m. w. Nachw. 5 Vgl. zu dieser Problematik Gubelt, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 3 Rn. 93a ff.

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könnte sich als mittelbare Diskriminierung im Blick auf eine ethnische Herkunft darstellen. Dies lässt sich rechtlich dem Merkmal der „Sprache“ in Art. 3 III GG zuordnen, aber auch dem AGG, das in seiner Zielbestimmung (§ 1 AGG) ausdrücklich die „ethnische Herkunft“ anspricht; Ziel des Gesetzes sei es, so ist dort ausgesagt, eine (auch hierauf bezogene) Benachteiligung zu verhindern oder zu beseitigen. Nach dem erkennbaren Sinn und der Systematik des AGG ist das Erfordernis der Erfüllung von Anforderungen der Sprachkompetenz als ein Problem der Rechtfertigung von Ungleichbehandlung zu erfassen, nicht etwa durch eine Auslegung des Tatbestandes der Ungleichbehandlung6. Andererseits bestimmt das AGG in seinem § 8 I, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zulässig sei, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, „sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist“. Dass die dienstlichen Erfordernisse des Gebrauchs der deutschen Sprache einen objektiven Grund für eine hier anzunehmende mittelbare Ungleichbehandlung darstellen, erscheint eindeutig. Insbesondere an die Deutschkenntnisse der Bewerber müssen Anforderungen gestellt werden, welche den effizienten Einsatz der in Aussicht genommenen Personen bei der Vollzugspolizei ermöglichen. Zu beachten ist aber, dass das Gleichbehandlungsrecht hier unter die Maßgabe des allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gestellt ist („angemessen“). Es dürfen deshalb keine Sprachkenntnisse verlangt werden, deren Niveau von den Erfordernissen des Dienstes nicht geboten ist. Es erscheint ausgeschlossen, dass die namentlich in Art. 3 III GG enthaltenen verfassungsrechtlichen Anforderungen bezüglich der Vermeidung von Diskriminierungen insofern weitergehen würden als das seit dem vergangenen Jahr bundesgesetzlich geregelte, europarechtlich veranlasste allgemeine Gleichbehandlungsrecht. Erweist sich das politische Bestreben, den Anteil von Personen mit Migrationshintergrund im Polizeivollzugsdienst zu erhöhen, demzufolge nicht als aus Gründen der Diskriminierungsvermeidung verfassungsrechtlich geboten, so kann es nur um die davon unabhängige Frage nach der Zulässigkeit ihrer Veränderung gehen. Auch dafür ist aber das allgemeine Gleichbehandlungsrecht zu berücksichtigen. Es könnte sich nämlich eine Grundlage für eine Bevorzugung von Personen mit Migrationshintergrund aus § 5 AGG ergeben. Die Vorschrift regelt sog. positive Maßnahmen und lautet: „Ungeachtet der in den § 8-10 sowie in § 20 benannten Gründe ist eine unterschiedliche Behandlung auch zulässig, wenn durch geeignete und angemessene Maßnahmen bestehende Nachteile ___________ 6

Vgl. Mahlmann, aaO, § 24 Rn. 14.

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wegen eines in § 1 genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen“. Hier geht es also (auch) um Nachteile, die zwar angesichts des § 8 I AGG, wie dargelegt, nicht als auf rechtswidriger Diskriminierung beruhend zu qualifizieren sind, dennoch aber in der sozialen Wirklichkeit vorhandene faktische Ungleichheiten bedeuten7. Der bestehende tatsächliche Befund der vergleichsweise geringen Zahl von Personen mit Migrationshintergrund im Polizeivollzugsdienst könnte, so gesehen, eine Durchbrechung des Prinzips der Bestenauslese nahe legen. Gem. § 5 AGG müsste dann die Bevorzugung solcher Bewerberinnen und Bewerbern dem Ausgleich eines bestehenden Nachteils dienen. Eine solche Betrachtungsweise kann aber nicht überzeugen. Sie überfordert bereits den objektiven Regelungsgehalt des § 5 AGG. Der Begriff der positiven Maßname ist aus dem anglo-amerikanischen Sprach- und Rechtsraum übernommen worden und stellt eine durch den europäischen Hintergrund des Gleichbehandlungsgesetzes erklärbare Übersetzung des Begriffs affirmative action dar. Damit sind gruppenbezogene fördernde Maßnahmen gemeint, sollen strukturell benachteiligte Gruppen gegenüber anderen gefördert werden8. Im vorliegenden Zusammenhang ist schon fraglich, ob es sich bei den Personen mit Migrationshintergrund i.S. des hier zugrunde liegenden Verständnisses (s.o. I.) überhaupt um eine für eine Gegenüberstellung mit anderen „Gruppen“ hinreichend abgrenzbare, also in sich homogene Gruppe von Personen handelt9. Zweifelhaft ist ferner, ob der Begriff der Maßnahme hinreichend bestimmt ist, um in eine auf Einzelfälle bezogene Entscheidungspraxis umgesetzt werden zu können. Er dürfte seinerseits die Umsetzung durch Gesetze (wie sie für andere Bereiche etwa in Gestalt des Altersteilzeitgesetzes, der Vorschriften zur Förderung schwerbehinderter Arbeitnehmer, aber auch des geschlechtsbezogenen Gleichstellungsrechts schon bestehen) voraussetzen, wie sie für den Bereich des Arbeitsrechts etwa entsprechende Gestaltungen in Tarifverträgen vorsehen. Schließlich ist die Regelungsintention des § 5 AGG, wie sich an seiner europäischen Herkunft zeigt, geprägt von dem Anliegen, den Interessen einer Vielzahl von Personen gegenüber solchen Einzelner einen Vorrang zu verschaffen, soweit das mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist; letzteres schließt die Annahme eines absoluten Vorrangs der zu fördernden Gruppe aus, wie der Europäische Gerichtshof vor allem im Zusammenhang mit den geschlechtsbezogenen Gleichstellungsfragen verdeutlicht hat10. ___________ 7

Vgl. Hinrichs, in: Däubler/Bertzbach, aaO, § 5 Rn. 2. Vgl. zum Begriff Empt, DÖV 2004, 239 ff. 9 Vgl. dazu Bauer/Göpfert/Krieger, aaO, § 5 Rn. 6. 10 S. näher Mahlmann, aaO, § 24 Rn. 58 ff. 8

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Schon für sich genommen, bietet § 5 AGG also keine Handhabe zur Umsetzung einer Bevorzugung von Personen mit Migrationshintergrund bei der Einstellung in den Polizeivollzugsdienst. Deshalb besteht kein Anlass der Frage nachzugehen, ob die Vorschrift sich womöglich wegen ihrer europäischen Prägung und des damit verbundenen Anwendungsvorrangs als Rechtfertigung für eine mit Art. 33 II GG sonst unvereinbare Einstellungspraxis darstellen würde. Da das Allgemeine Gleichbehandlungsrecht also weder die erwogene Umsteuerung bei der Einstellungspraxis gebietet noch auch hierfür eine Handhabe bieten will, stellen allein die oben geschilderten beamtengesetzlichen Vorgaben im Zusammenspiel mit den erwähnten verfassungsrechtlichen Gleichheitssätzen den Beurteilungsmaßstab dar. Die Regelung des Ämterzugangs in Art. 33 II GG, welche durch die beamtenrechtlichen Einstellungsvorschriften konkretisiert werden, konkretisiert den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG, um zu verhindern, dass die Gleichheit des Zugangs zu öffentlichen Ämtern mit den in der gerichtlichen Praxis entwickelten recht abstrakten Formeln zur Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes beurteilt werden muss11. Sie bietet stattdessen drei positiv formulierte Entscheidungskriterien an und verpönt damit indirekt alle anderen Kriterien. Suchte man diese Negativkriterien ihrerseits zu beschreiben, so bietet dafür Art. 3 II, III GG einen Anhaltspunkt, wie es auch die einfachgesetzlichen Einstellungsregeln aufnehmen und teilweise noch ergänzen, damit dann Art. 3 I GG konkretisierend, ohne aber Maßstäbe zu bieten, welche die Positivliste des Art. 33 II GG verändern könnten12. Die drei Begriffe „Eignung“, „Befähigung“ und „fachliche Leistung“ unterscheiden sich voneinander, auch wenn sich die damit gemeinten Inhalte teilweise bedingen und sich vielleicht sagen lässt, dass bereits der Begriff der Eignung die beiden anderen Begriffe umfasst13. Jedenfalls sind unter „Eignung“ Persönlichkeitsmerkmale zu verstehen, dies auch im Sinne charakterlicher Eignung, darüber hinaus betreffend den Intellekt, Physis und Psyche. „Befähigung“ bezieht sich auf Wissen, Erfahrung, Ausbildung. „Fachliche Leistung“ bedeutet den – konkreten – Nachweis – abstrakter – Befähigung im Beruf und für den Beruf. Zutreffender Ansicht nach stehen die drei Kriterien gleichrangig nebeneinander14. Für diese Sichtweise spricht, dass Art. 33 II GG der eine Auswahlent___________ 11 S. Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 2, 5. Aufl., 2001, Art. 33 Rn. 14. 12 S. Merten, in: Magiera/Siedentopf, Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, 181, 204 ff. 13 Hierzu und zum Folgenden mit w. Nachw. Kunig, aaO, Art. 33 Rn. 26 ff. 14 S. Lübbe-Wolff, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 33 Rn. 41.

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scheidung treffenden Behörde auch Spielräume einräumt. Die Behörde muss die relative Eignung, Befähigung und Leistung, bezogen auf das zur Vergabe stehende Amt beurteilen. Sie trifft eine Entscheidung, welche durch die Vorgabe von Entscheidungskriterien programmiert, aber nicht bereits durch die Rechtsordnung entschieden ist15. Die Ausrichtung einer Einstellungsentscheidung auf das Kriterium des Migrationshintergrundes ist also immer dann unzulässig, wenn sich nicht nachweisen lässt, dass der Migrationshintergrund das relative Ausmaß der durch die drei Begriffe des Art. 33 II GG umschriebenen Qualitäten steigert. Darauf ist zugleich zurückzukommen. Festzuhalten ist zunächst noch, dass (auch) Art. 33 II GG keinen uneinschränkbaren Verfassungssatz darstellt. Durchbrechungen des von ihm statuierten Leistungsprinzips sind nicht von vornherein ausgeschlossen16. Sie bedürfen aber der verfassungsrechtlichen Legitimation, wie Fragen der geschlechtsbezogenen Herstellung von Chancengleichheit und bestimmte Konstellationen im Anwendungsbereich des Sozialstaatsgebots des Art. 20 I GG gezeigt haben, früher für die Kriegsfolgenbewältigung, später vor allem im Zusammenhang mit der Behindertenförderung17. Unabhängig von der Frage nach den Grenzen der Beschränkbarkeit des Art. 33 II GG ist zu betonen, dass es für solche Durchbrechungen des Leistungsprinzips jeweils einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage bedarf bzw. bedürfte. Die obigen Ausführungen zum allgemeinen Gleichbehandlungsrecht haben bereits gezeigt, dass eine solche gesetzliche Grundlage auch dort nicht vorhanden ist. Das wiederum schließt nicht aus, ihre Einführung – nach nunmehriger Kompetenzlage vorrangig im Landesrecht – zu erwägen. Der bereits im Zusammenhang mit der Auslegung des § 5 AGG geäußerte Zweifel an der Gruppenhomogenität der Personen mit Migrationshintergrund, die für eine Zuordnung des Förderungsanliegens zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Abbau faktischer Ungleichheit unabdingbar ist, spricht allerdings von vornherein gegen die Möglichkeit einer verfassungskonformen Abweichung von Art. 33 II GG. Auch das Sozialstaatsgebot dürfte sie nicht tragen. Von weiteren Erwägungen dazu kann jedoch abgesehen werden, wenn und soweit spezifische Kenntnisse und Erfahrungen, die im Kreise von Personen mit Migrationshintergrund zwar nicht notwendigerweise immer, in vielen Fällen aber wohl doch vorhanden sein können, für die Beurteilung ihrer Amtstauglichkeit anhand der Maßstäbe des Art. 33 II GG im positiven Sinne von Bedeutung sind, sich also bereits auf diesem Wege das erstrebte Ziel verfolgen lässt. Es betrifft dies die Eignung, unter Umständen auch die Befähigung, soweit mit diesem Kriterium auf Wissen und Erfahrung abzustellen ist. ___________ 15

S. Kunig, aaO, Art. 33 Rn. 27. S. Kunig, aaO, Art. 33 Rn. 30. 17 S. Schmidt-Aßmann, NJW 1980, 16 ff. 16

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Erfahrungen im interkulturellen Umgang, wie sie sich durch die mit einem Migrationshintergrund verbundenen individuellen Prägungen ergeben können, Kenntnisse über kulturelle Traditionen und darauf bezogene Kommunikationskompetenz können Bewerber und Bewerberinnen mit Migrationshintergrund von anderen unterscheiden und auszeichnen. Sie dürfen, soweit ihr Vorhandensein als dienstliches Qualitätsmerkmal ausgesprochen werden kann, zum Gegenstand von Anforderungsprofilen gemacht werden, ohne dass dies zu Lasten anderer Personen eine Ungleichbehandlung nach der Herkunft darstellen würde. Nicht die Herkunft als solche, wohl aber allein aufgrund einer Herkunft herausgebildete Eignungsmerkmale fügen sich nämlich in das Positivprogramm des Art. 33 II GG ein und sind nicht von Art. 3 III GG verpönt. Es besteht insoweit im Ausgangspunkt eine vergleichbare Lage wie nach der Herstellung der deutschen Einheit hinsichtlich der Einstellungspraxis von Bewerberinnen und Bewerbern für den öffentlichen Dienst, welche bei Fehlen von in der Bundesrepublik erworbenen Qualifikationen dennoch aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR Einstellungsmerkmale aufweisen konnten, die für das Gesamtbild – erneut: die drei Kriterien des Art. 33 II GG stehen gleichberechtigt nebeneinander – von Bedeutung sind, soweit bei einer Stellenbesetzung solche spezifischen Fähigkeiten relevant sind (oder waren)18. Insofern spricht nichts dagegen, künftig bei der Einstellungspraxis auch Kriterien zu berücksichtigen und in Ausschreibungstexte aufzunehmen, die sich als individuell-entwicklungsbedingt darstellen und faktisch gerade und vor allem bei Bewerberinnen und Bewerbern mit Migrationshintergrund vorhanden sind. Ein solches Vorgehen ist rechtlich zulässig, wenn und insoweit die in Rede stehenden Eigenschaften die Qualität der Dienstwahrnehmung erhöhen. Hierfür verfügt der Dienstherr über eine Einschätzungsprärogative19.

___________ 18 19

Vgl. dazu Kunig, aaO, Art. 33 Rn. 31; s. auch Lübbe-Wolff, aaO, Art. 33 Rn. 45. Vgl. Battis, Bundesbeamtengesetz, Kommentar, 3. Aufl., 2004, § 8 Rn. 12.

Neues und Altes zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage Von Wolf-Rüdiger Schenke, Mannheim

I. Einführung in die Problematik Das wissenschaftliche Interesse von Friedrich Schnapp gilt seit jeher in besonderem Maße dem Beamtenrecht1. Zu den Problemen, die hier sowohl die Rechtswissenschaft wie auch die Rechtsprechung seit Jahrzehnten intensiv beschäftigen, zählen zweifellos die Rechtsfragen der beamtenrechtlichen Konkurrentenklage. Die Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Rechtslehre vertreten dabei unterschiedliche Rechtsauffassungen. Während die Rechtsprechung des BVerwG die Klage eines erfolglosen Bewerbers um eine Beamtenstelle gegen die Ernennung eines Konkurrenten, die unter Verletzung des Art. 33 Abs. GG erfolgte, mangels Klagebefugnis, wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses oder wegen „Erledigung“ des begehrten Verwaltungsakts2 als grundsätzlich unzulässig ansieht und den Betroffenen zunächst nur auf die Möglichkeit eines verwaltungsgerichtlichen präventiven Rechtsschutzes sowie auf Schadensersatzansprüche wegen einer Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG sowie die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung seiner Bewerbung verwies, wird in der Literatur vielfach von der Zulässigkeit einer auf die Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG gestützten Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage ausgegangen und bei tatsächlicher Verletzung des Klägers die gerichtliche Aufhebung einer bereits erfolgten Ernennung des Konkurrenten befürwortet. In neuerer Zeit hat die Rechtsprechung allerdings ihren Standpunkt aufgelockert. So hat das BVerwG in einem Urteil vom 13.09.2001, welches unmittelbar den Rechtsschutz eines politischen Beamten gegen seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand betraf, in einem obiter dictum Bedenken gegenüber der von ihm vorher in ständiger Rechtsprechung vertretenen Ansicht geäußert, nach der ein Rechtsschutz eines übergangenen Bewerbers gegen die be___________ 1 S. hierzu vor allem seine grundlegende Monografie „Amtsrecht und Beamtenrecht“, 1977. 2 Nähere Nachw. dazu bei Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 42, Rdnr. 49.

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reits erfolgte Ernennung seines Konkurrenten nicht mehr in Frage komme. Es führte in diesem Zusammenhang aus3, es sei schwer mit Art. 19 Abs. 4 GG zu vereinbaren, einem Beamten den Rechtsschutz mit der Begründung zu versagen, sein Anspruch auf eine den Grundsätzen des Art. 33 Abs. 2 GG entsprechende Auswahlentscheidung sei durch den Vollzug der getroffenen, diese Grundsätze möglicherweise verletzenden Auswahlentscheidung untergegangen. Die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum aufkeimenden Hoffnungen auf eine generelle Rechtsprechungsänderung erfüllten sich aber nicht. Das BVerwG4 ging vielmehr in der Folgezeit davon aus, die in seiner Entscheidung vom 13.09.2001 geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken habe das BVerfG durch einen Kammerbeschluss vom 24.09.2002 „entkräftet“. Eine Auslegung einfachen Rechts, wonach die endgültige Besetzung der umstrittenen Planstelle mit dem erfolgreichen Bewerber dem Unterlegenen die Verfolgung seines verfassungsrechtlich garantierten Bewerbungsverfahrensanspruchs abschneide, sei allerdings nur dann mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 33 Abs. 2 GG in Einklang zu bringen, wenn ein bei der Beförderungsauswahl unterlegener Bewerber seinen Anspruch aus Art. 33 Abs. 2 GG durch vorläufigen Rechtsschutz zur Abwendung vollendeter Tatsachen wirksam sichern könne. Mit diesen Vorgaben aus Art. 19 Abs. 4 GG i.V. mit Art. 33 Abs. 2 GG sei die Annahme unvereinbar, „der Bewerbungsverfahrensanspruch gehe auch dann mangels Erfüllbarkeit durch den Dienstherrn unter, wenn dieser unter Verstoß gegen eine den Anspruch sichernde einstweilige Anordnung einen Konkurrenten befördere. Ebenso wie es Art. 19 Abs. 4 GG i.V. mit Art. 33 Abs. 2 GG verletzt, wenn der unterlegene Bewerber vom Ausgang des Stellenbesetzungsverfahrens erst nach der Ernennung des Mitbewerbers erfährt, ist dies auch dann der Fall, wenn der Dienstherr sich mit der Ernennung des Konkurrenten unter zusätzlicher Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG über eine einstweilige Anordnung hinwegsetzt“. Der Betroffene habe vielmehr einen Anspruch auf Wiederherstellung, wenn die Verwaltung durch ihr Verhalten rechtzeitigen vorläufigen Rechtsschutz verhindert oder sich über dessen erfolgreiche Inanspruchnahme hinweggesetzt hat. Das ergebe auch die gebotene verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des Verfahrens- und des materiellen Rechts. Nach dem in § 162 Abs. 2 BGB sowie in den §§ 135, 136 BGB zum Ausdruck kommenden, auch im öffentlichen Recht geltenden allgemeinen Rechtsgedanken könne der Dienstherr einem zu Unrecht übergangenen Bewerber nicht durchgreifend entgegenhalten, er sei mangels Besetzbarkeit der unter Verstoß gegen eine einstweilige Anordnung vergebenen Planstelle nicht mehr in der Lage dessen Bewerbungsverfahrensanspruch zu erfüllen5. Das BVerwG geht dabei davon aus, dass eine unter ___________ 3

BVerwG, NVwZ 2002, 604, 605. BVerwG, NJW 2004, 870, 871. 5 BVerwG, NJW 2004, 870, 871. 4

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Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG erfolgte Ernennung hierdurch nicht berührt werde. Wenn sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ausnahmsweise ein Anspruch eines Bewerbers auf Ernennung ergebe, sei die Verwaltung vielmehr verpflichtet, eine benötigte weitere Planstelle zu schaffen6. In Anknüpfung an diese Entscheidung hat das OVG Münster in einem Urteil vom 07.07.2004 die Ansicht vertreten, dass dann, wenn die objektiv vorhandenen „Beförderungskandidaten“, welche der Dienstherr tatsächlich in die engeren Auswahlerwägungen einbezieht, nicht so rechtzeitig über den Ausgang eines durchgeführten Auswahlverfahrens informiert werden, dass sie eine Entscheidung über die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutz treffen können, ihren Bewerbungsverfahrensanspruch nicht allein wegen der bereits erfolgten Ernennung verlieren. Es führt hierzu aus: „Wegen unterbliebener Information kann sich in solchen Fällen der Bewerbungsverfahrensanspruch zu einem Anspruch auf Übertragung der Beförderungsstelle verdichten und ausnahmsweise auch noch nach Ernennung der Mitbewerber mit Erfolg im Hauptsacheverfahren als Anspruch auf „Wiederherstellung“ gerichtlich geltend gemacht werden…Eine Beförderung kann allerdings mit Aussicht auf Erfolg nur unter der Voraussetzung beansprucht werden, dass der Beamte in der betreffenden Beförderungsgruppe zwingend hätte ausgewählt werden müssen, weil er aus Rechtsgründen zumindest einem der erfolgreichen Bewerber hätte vorgezogen werden müssen“7. In der Kammer-Entscheidung des BVerfG, auf welche sich das BVerwG in seinem Urteil vom 21.08.20038 berief und welche die von ihm in Aussicht genommene Rechtsprechungsänderung nach seiner Aussage „entkräftet“ haben soll, hatte sich das BVerfG freilich mit den vom BVerwG geltend gemachten Argumenten, welche eine Revision seiner bisherigen bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nahe legten, gar nicht näher befasst. Es führte vielmehr nur lapidar aus: „Dieser Anspruch (Bewerbungsverfahrensanspruch) lässt sich nach der bisherigen, verfassungsrechtlich nicht beanstandeten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nur vor einer Ernennung des ausgewählten Konkurrenten mittels einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO effektiv sichern. Wird hingegen die im Streit befindliche Stelle besetzt, bleibt dem unterlegenen Bewerber sowohl die erfolgreiche Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes als auch der primäre Rechtsschutz in der Hauptsache in Form der Bescheidungsklage versagt (vgl. BVerwGE 80, 127 (129 f.) = NVwZ 1989, 158; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1990, 501, vgl. allerdings jetzt auch BVerwG, NVwZ 2002, 604 = DVBl. 2002, 203 (204)).“ ___________ 6

BVerwG, NJW 2004, 870, 871. OVG Münster, NJOZ 2006, 64, LS 3. 8 BVerwG, NJW 2004, 870, 871. 7

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Eine Auseinandersetzung mit einer durch das BVerwG ins Auge gefassten Rechtsprechungsänderung, geschweige denn deren „Entkräftung“9, kann hierin jedenfalls sicher nicht gesehen werden. Das BVerfG beschränkt sich vielmehr in seiner Entscheidung im Wesentlichen nur auf die Verweisung auf seine frühere Rechtsprechung und betont in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich10, dass die bisherige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung auf einer Auslegung des Beamtenrechts und Verwaltungsprozessrechts beruhe, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Es knüpft insoweit an seine ständige Rechtsprechung an, nach der es nur über spezifische Verfassungsrechtsverletzungen zu entscheiden hat und Fragen des einfachen Gesetzesrechts aus funktionellrechtlichen Gründen ohne einen besonderen verfassungsrechtlichen Bezug nicht der Jurisdiktion des BVerfG unterliegen11. Damit konnte aber der Entscheidung des BVerfG – entgegen der Annahme des BVerwG – von vorneherein nicht entnommen werden, dass eine Änderung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, wie sie sich in der Entscheidung des BVerwG vom 13.09.2001 anzubahnen schien, durch das BVerfG ausgeschlossen und die Bedenken des BVerwG gegen die bisherige Rechtsprechung „entkräftet“ wurden. Zwar ließ sich dem Kammerbeschluss des BVerfG vom 19.09.1989, auf den das BVerfG in seinem Beschluss vom 24.09.2002 Bezug nahm, möglicherweise entnehmen, dass es mit Art. 33 Abs. 2 GG i. V. mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar sei, in der Ernennung des Konkurrenten keinen Verwaltungsakt mit Drittwirkung zu sehen, weil die Ernennung des Konkurrenten dessen Mitbewerber rechtlich nicht betreffe12. Hieraus ließ sich aber nicht folgern, das BVerfG habe eine Interpretation einfachgesetzlicher beamtenrechtlicher wie verwaltungsprozessualer Bestimmungen ausgeschlossen, derzufolge es sich bei der Ernennung des Konkurrenten – wie durch das BVerwG im Beschluss vom 13.09.2001 angenommen – um einen Verwaltungsakt mit Drittwirkung handelt. Verkannt wird durch das BVerwG zudem, dass durch eine Bejahung der Drittwirkung der Ernennung neue verfassungsrechtliche Probleme aufgeworfen werden, mit denen sich zu befassen für das BVerfG bisher kein Anlass bestand. Bejaht man nämlich eine Drittwirkung einer unter Verletzung des ___________ 9

So aber BVerwG, NJW 2004, 870, 871. BVerfG, NJW 1990, 501. 11 Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass eine Abgrenzung des Funktionsbereichs von Verfassungsgerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann, und die Frage, was eine spezifische Grundrechts- bzw. Verfassungsrechtsverletzung darstellt, u.U. mehr Fragen aufwirft, als sie solche löst (vgl. hierzu näher Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, 1987, passim). 12 Allerdings vermisst man auch insoweit eine nähere Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage, ob eine solche Deutung der Ernennung trotz sich insoweit aufdrängender Bedenken noch mit Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar ist. 10

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Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung eines Konkurrenten, so stellt sich die Frage, ob die Verneinung eines repressiven Rechtsschutzes gegen die Ernennung mit dem sonst bei subjektiven Rechtsverletzungen durch die Verwaltung verfassungsrechtlich gewährleisteten Beseitigungsanspruch im Einklang steht (dazu unten III, 2 c). Wie immer man zu der Entscheidung des BVerfG vom 24.09.2002 und ihrer anschließenden Deutung durch das BVerwG steht, liegt es jedenfalls auf der Hand, dass die nur sehr fragmentarischen Äußerungen des BVerfG die sich in Verbindung mit einem Rechtsschutz von Mitbewerbern gegen die Ernennung eines Konkurrenten stellenden Fragen in keiner Weise erschöpfen und nicht als letztes Wort des BVerfG verstanden werden können. Ohnehin kam der durch das BVerwG überbewerteten Entscheidung des BVerfG nur der Charakter eines obiter dictum zu. Jedenfalls hatte das BVerfG in seiner Entscheidung vom 24.09.2002 nicht über den Rechtsschutz eines Bewerbers nach Ernennung eines Konkurrenten zu entscheiden. Zudem vermied das BVerfG ersichtlich jede Auseinandersetzung mit der von ihm nur erwähnten Entscheidung des BVerwG vom 13.09.2001 und begnügte sich in diesem Zusammenhang mit einem vielsagenden „vgl. hierzu allerdings jetzt auch BVerwG, NVwZ 2002, 604“. Eine solche Wiederaufnahme der Diskussion ist auch deshalb gerechtfertigt, weil sich das BVerwG in seiner neueren Rechtsprechung von dem von ihm früher vertretenen Standpunkt gelöst hat, demzufolge eine Durchsetzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs nach Ernennung eines Konkurrenten stets ausgeschlossen sein sollte. Das wirft aber, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, neue diskussionswürdige Probleme auf. Sollte sich dabei herausstellen, dass der durch das BVerwG in seiner jüngeren Rechtsprechung beschrittene Weg zur Beseitigung nunmehr auch von ihm empfundener Rechtsschutzdefizite nicht zu befriedigen vermag, so kommt der Beantwortung der Frage, ob bei einer unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung eines Konkurrenten nicht doch eine Aufhebung der Ernennung möglich sein muss, schon aus diesem Grund nach wie vor Aktualität zu. Es fragt sich dann, ob nicht neben neuen auch alte, schon früher vorgebrachte Argumente, über welche sich das BVerwG bisher hinwegsetzte, für die es sich aber immerhin in seiner Entscheidung vom 13.09.2008 offen zeigte, nicht doch eine Revision der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nahe legen. Jedenfalls drängt sich eine Neubewertung dieser Argumente auf, wenn man mit der neueren bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung annimmt, dass eine generelle Verweisung lediglich auf die vor der Ernennung bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten nicht ausreicht.

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II. Der Ausbau des präventiven Rechtsschutzes von Mitbewerbern Wenn im Folgenden unter III. für einen repressiven Rechtsschutz des unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Mitbewerbers gegen die Ernennung eines Konkurrenten plädiert wird, so sollen damit nicht die Verdienste der Judikatur geschmälert werden, die ihr im Hinblick darauf zukommen, dass sie durch Ausbau des vorbeugenden Rechtsschutzes einen bedeutsamen, wenn auch möglicherweise noch nicht ausreichenden Beitrag zur Effektuierung des Art. 33 Abs. 2 GG geleistet hat. Richtig erkannt hat die Rechtsprechung jedenfalls, dass ihre grundsätzliche Verneinung eines nachträglichen Rechtsschutzes eines Bewerbers gegen die Ernennung eines Konkurrenten eine Vorverlegung des Rechtsschutzes in die Phase vor der Ernennung umso dringlicher macht. Sie hat dabei wichtige Grundsätze entwickelt, welche zur Sicherung eines solchen vorbeugenden Rechtsschutzes unabdingbar sind. Insbesondere der Rechtsprechung des BVerfG kommt hierbei das Verdienst zu, in dieser Richtung wegweisend gewirkt zu haben. Zu Recht hat das BVerfG13 in seinem Kammerbeschluss vom 19.09.1989 darauf hingewiesen, dass ein wirksamer Rechtsschutz dann, wenn man mit der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung die gerichtliche Aufhebung einer unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung für ausgeschlossen hält, nur dadurch möglich ist, dass der unterlegene Bewerber innerhalb einer für die Rechtsschutzentscheidung ausreichenden Zeitspanne vor der Ernennung des Mitbewerbers durch eine Mitteilung des Dienstherrn Kenntnis vom Ausgang des Auswahlverfahrens erhält. Es folgert diese Pflicht des Dienstherrn unmittelbar aus Art. 33 Abs. 2 GG i. V. mit Art. 19 Abs. 4 GG, denn das dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren vorgelagerte Verwaltungsverfahren dürfe nicht so ausgestaltet sein, dass es den gerichtlichen Rechtsschutz vereitelt oder unzumutbar erschwert14. Keine Aussage traf das BVerfG dabei zu der Frage, wie die ausreichende Zeitspanne zu bemessen sei, die dem im Auswahlverfahren erfolglosen Mitbewerber für seine Rechtsschutzentscheidung verbleiben müsse. Nicht Stellung genommen wurde ferner dazu, ob einem bei der Auswahl übergangenen Mitbewerber mit der Information über die bevorstehende Ernennung eines Konkurrenten von Amts wegen, oder jedenfalls auf Nachfrage, die Gründe mitzuteilen sind, welche für die Auswahlentscheidung maßgebend waren. Schließlich äußerte sich das BVerfG auch nicht zur Frage, welche Konsequenzen es hat, wenn die verfassungsrechtlich gebotene Information eines übergangenen Mitbewerbers unterblieb oder die Information nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise erfolgte. Die diesbezügliche Zurückhaltung ist dem BVerfG allerdings nicht anzulasten, vielmehr funktionellrechtlich gebo___________ 13 14

BVerfG, NJW 1990, 501 f. BVerfG, NJW 1990, 501.

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ten. Es obliegt primär den Verwaltungsgerichten, die verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG auf der Basis des einfachen Gesetzesrechts zu konkretisieren.

1. Der Zeitpunkt der Benachrichtigung Umstritten ist, welcher Zeitraum dem bei der Auswahlentscheidung übergangenen Bewerber für seine Entscheidung verbleiben muss, ob er sich gegen die drohende Ernennung eines Konkurrenten im Wege einer einstweiligen Anordnung zur Wehr setzen will. Teilweise wird es bei beamtenrechtlichen Ernennungen als ausreichend angesehen, dass der Übergangene zwei Wochen15 vor der bevorstehenden Ernennung eines anderen Bewerbers benachrichtigt wird; davon wird in der Praxis sogar überwiegend ausgegangen16. M. E. ist diese Frist zu kurz. Es liegt nahe, sich hier an der Einmonatsfrist zu orientieren, die auch sonst für die Anfechtung eines Verwaltungsakts gilt17. Das trifft insbesondere dann zu, wenn man in der Mitteilung eine endgültige oder vorläufige Ablehnung der Bewerbung der Übergangenen sieht und damit vom Vorliegen eines Verwaltungsakts ausgeht. Zu betonen ist allerdings, dass selbst dann, wenn man eine ohne Rechtsmittelbelehrung erfolgte Mitteilung als einen Verwaltungsakt qualifiziert, dies nicht bedeuten kann, dass sich der Betroffene noch innerhalb eines Jahres gegen die drohende Ernennung des Konkurrenten zur Wehr setzen kann18. Dies ist kein Systembruch, denn der im Wege der einstweiligen Anordnung erstrebte Rechtsschutz des Übergangenen richtet sich in praxi ohnehin nicht unmittelbar gegen die Ablehnung seiner Bewerbung, sondern primär gegen die drohende Ernennung des Konkurrenten. Er ist überdies regelmäßig über die Beantragung einer einstweiligen Anordnung zu realisieren. Für die Entscheidung, ob er gegen die angekündigte Ernennung vorgehen will, erscheint mir unter Zugrundelegung der bundesverfassungsgerichtli___________ 15 VGH Kassel, NVwZ 1994, 398, 399; v. Golitschek, ThürVBl. 1996, 1, 7; Günther, RiA 2008, 1, 3; Schnellenbach, NVwZ 1990, 637, 638. 16 So jedenfalls nach Günther, RiA 2008, 1, 3, wonach in der Praxis die Phase zwischen Bekanntgabe der Auswahl und dem Anrufen des Verwaltungsgerichts tendenziell mit zwei Wochen bemessen werde. 17 Kopp/Schenke, VwGO, § 42, Rdnr. 50 m. w. Nachw.; Busch, DVBl 1990, 107, 108; Masing, in: Dreier, GG, Art. 33, Rdnr. 55 Fn. 294; J. Martens, ZBR 1992, 129, 131. Für eine Frist von drei Wochen spricht sich das OVG Schleswig, DÖV 1993, 962 aus. Nach Schöbener, BayVBl. 2001, 321, 325 und Tegethoff, ZBR 2004, 341, 347 soll überhaupt keine abstrakte Fristfestsetzung möglich sein, was freilich unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit besonders gravierende Bedenken provozieren müsste. 18 Nach Ablauf eines Jahres scheidet allerdings die Möglichkeit eines Rechtsschutzes für den Übergangenen selbst dann aus, wenn die Stelle, um die er sich beworben hat, inzwischen noch nicht besetzt ist.

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chen Prämissen ein Zeitraum von einem Monat als ausreichend, aber auch als geboten.

2. Die Begründungspflicht Keine Einigkeit besteht auch bezüglich der Frage, ob und inwieweit die Mitteilung von der beabsichtigten Ernennung eines Konkurrenten den übergangenen Bewerbern gegenüber zu begründen ist. Sieht man in der Mitteilung (zumindest auch) einen endgültigen oder vorläufigen Ablehnungsbescheid und damit einen Verwaltungsakt19, so ergibt sich schon aus § 39 VwVfG, dass die Entscheidung schriftlich zu begründen ist20. Da in Bezug auf diese Entscheidung ein Beurteilungsspielraum wie auch ein hiermit gekoppelter Ermessensspielraum bestehen, kommt der Begründung der Entscheidung sogar eine ganz besondere Bedeutung zu. Dem trägt § 39 Abs. 1 S. 3 VwVfG Rechnung, indem er für Ermessensentscheidungen vorschreibt, dass hier die Begründung von Ermessensentscheidungen die Gesichtspunkte erkennen lassen soll, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist; diese Vorschrift ist wegen der hier bestehenden strukturellen Verwandtschaft analog auf Entscheidungen anwendbar, die auf einer Rechtsvorschrift beruhen, welche der zuständigen Behörde in Bezug auf einen dort verwandten unbestimmten Rechtsbegriff einen Beurteilungsspielraum einräumen. Nicht überzeugend ist deshalb die vom OVG Koblenz21 geäußerte Ansicht, derzufolge zwar in der Ablehnung der Bewerbung ein Verwaltungsakt liege, das jedoch dennoch davon ausgeht, „dem Begründungserfordernis nach § 39 VwVfG (sei) aber Genüge getan, wenn nach ständiger Verwaltungspraxis bekannt und gewährleistet ist, dass dem abgelehnten Bewerber die Gründe für die getroffene Auswahlentscheidung durch Auskünfte und/oder Einsichtnahme in den Besetzungsvorgang bekannt gemacht werden“. Diese Ansicht steht im eindeutigen Widerspruch zu § 39 VwVfG, der verlangt, dass der belastende Verwaltungsakt selbst mit einer Begründung zu versehen ist und eine Verweisung auf außerhalb desselben liegende Begründungen ausschließt. Eine Verwaltungspraxis vermag dieses gesetzliche Erfordernis nicht auszuhebeln. Nicht bedenkenfrei ist es deshalb auch, wenn das BVerfG22 in einem kürzlich ergangenen Beschluss vom 09.07.2007 zwar zu Recht eine schriftliche Fixierung der wesentlichen Auswahlerwägungen für geboten ansah, zugleich aber ausführte, dass der unterlegene Bewerber sich diese Kenntnisse „gegebenenfalls durch Akteneinsicht verschaffen kann“. ___________ 19

Für Verwaltungsaktscharakter auch BVerwGE 80, 127, 129. So auch Laubinger, VerwArch. Bd. 83 (1992), 246, 274. 21 OVG Koblenz NVwZ 2007, 109. 22 BVerfG, NVwZ 2007, 1178, 1179. 20

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Allerdings ist diese Zurückhaltung des BVerfG möglicherweise dadurch bedingt, dass die Frage des „Wie“ der Information der Mitbewerber (jedenfalls bei dieser – wegen des Persönlichkeitsschutzes des Konkurrenten – durch eine ganz besondere Interessenlage gekennzeichneten Problematik) nach Ansicht des BVerfG noch nicht auf der Verfassungsebene, sondern erst auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts zu beantworten ist. Da der Gesetzgeber hier jedoch keine von § 39 Abs. 1 S. 3 VwVfG abweichenden Regelungen getroffen hat, muss es bei den dort genannten Erfordernissen verbleiben. Bejaht man die Verwaltungsaktsnatur der Benachrichtigung übergangener Bewerber, so steht es der Pflicht zur gleichzeitigen Begründung der Auswahlentscheidung auch nicht entgegen, dass die erforderliche Begründung eines Verwaltungsakts sonst nach § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG noch bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann und § 114 S. 2 VwGO eine Ergänzung von Ermessenserwägung noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zulässt. Beide Vorschriften erlauben weder ein Nachholen der Begründung noch ein Nachschieben von Gründen. Abgesehen davon, dass sie ohnehin nichts an einer von Anfang an bestehenden materiellrechtlichen Begründungspflicht hinsichtlich der den Mitbewerbern mitgeteilten Auswahlentscheidung ändern würden, sind sie weder unmittelbar noch analog auf das Verfahren der einstweiligen Anordnung anwendbar, mit dem die Ernennung eines Konkurrenten unterbunden werden soll. Die Regelung des § 45 Abs. 2 VwVfG, die nach heute h. M. nur eine Heilung mit mit Wirkung ex nunc erlaubt23, erklärt sich daraus, dass es der Verwaltung bei einem dem § 45 Abs. 2 VwVfG unterfallenden verfahrensfehlerhaften Verwaltungsakt grundsätzlich nicht untersagt ist, einen neuen verfahrensfehlerfreien Verwaltungsakt zu erlassen. Wegen der damit gegebenen Austauschbarkeit von Neuerlass eines Verwaltungsakts und Heilung des Verfahrensfehlers mit Wirkung ex nunc ist deshalb die durch den Gesetzgeber vorgesehene Heilung eines dem § 39 Abs. 1 S. 3 VfVfG unterfallenden Begründungsmangels noch in der Tatsacheninstanz vertretbar und trotz bestehender rechtspolitischer Bedenken, die sich auf die Abwertung des Verwaltungsverfahrens stützen, jedenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden24. Nach Beantragung einer einstweiligen Anordnung ist es aber der Verwaltung zumindest bis zum Abschluss dieses Verfahrens untersagt, eine neue, den Antragsteller benachteiligende Auswahlentscheidung zu treffen. Das hat selbst dann zu gelten, wenn diese neue Auswahlentscheidung am Ergebnis der Auswahl nichts änderte. ___________ 23

S. dazu näher Schenke, VerwArch. Bd. 97 (2006), 592, 604 m. w. Nachw. S. dazu näher Schenke, VerwArch. Bd. 97 (2006), 592, 604. Das Nachholen der Begründung kann allerdings zu Kostennachteilen für die Verwaltung führen, wenn der Kläger nunmehr den Rechtsstreit für erledigt erklärt. 24

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Damit entfällt aber die ratio des § 45 Abs. 2 VwVfG, da es an der bei ihr vorausgesetzten und sie legitimierenden Austauschbarkeit von Heilung eines Verwaltungsakts und seinem Neuerlass fehlt. Deshalb scheidet eine analoge Anwendung des § 45 Abs. 2 VwGO, welche die Rechtsschutzfunktion der einstweiligen Anordnung erheblich beeinträchtigen müsste, aus. Es wäre jedenfalls eine weitere, die Grenze der Zumutbarkeit überschreitende Erschwerung des Rechtsschutzes, wenn die übergangenen Mitbewerber, deren Rechtsschutz gegen die Ernennung eines Konkurrenten ohnehin schon durch die Abschneidung eines nachträglichen Rechtsschutzes erheblich eingeschränkt ist, zusätzlich gehalten wären, auf Verdacht hin, also quasi „ins Blaue hinein“25, eine einstweilige Anordnung zu beantragen, ohne die Gründe für die Ernennung des Konkurrenten zu erfahren. Von der Nichtanwendbarkeit des § 45 Abs. 2 VwVfG scheint denn auch das BVerfG26 in seiner jüngsten Rechtsprechung auszugehen, wenn es eine in Betracht kommende analoge Anwendung des § 45 Abs. 2 VwVfG auf den Fall eines Nachholens der Begründung nicht einmal erwähnt und stattdessen nur die Anwendbarkeit des § 114 S. 2 VwGO diskutiert. Selbst die vom BVerfG erwogene, im konkreten Fall aber abgelehnte (analoge) Anwendung des § 114 S. 2 VwGO scheidet jedoch aus. Diese Vorschrift beinhaltet nach heute h. M. keine materiellrechtliche Heilungsvorschrift, sondern hat nur eine rein prozessuale Bedeutung hat, indem sie eine gesetzliche Klageänderung vorsieht27. Als Basis für eine Heilung eines formellen wie auch materiellen Begründungsmangels kommt sie damit von vorneherein nicht in Betracht. Ein Nachschieben von Gründen28 ließe sich nur dann rechtfertigen, wenn man in ihm einen Neuerlass des Ermessensverwaltungsakts sehen würde. Dies verbietet sich aber aus eben den Gründen, aus denen heraus auch ein Nachholen der Begründung nach Beantragung einer einstweiligen Anordnung durch übergangene Mitbewerber ausscheidet. Würde man § 114 S. 2 VwGO – im Einklang mit der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers29 – entgegen der heute h. M. so interpretieren, dass er eine Ermächtigungsgrundlage für ein Nachschieben von Gründen bei Ermessensverwaltungsakten statuierte, wäre aber – wie auch das BVerfG30 konzediert – ein Nachschieben wesentlicher Ermessenserwägungen oder gar ihr Austausch durch § 114 S. 2 VwGO auf jeden ___________ 25

S. hierzu zutreffend BVerfG, NVwZ 2007, 1178, 1179. BVerfG, NVwZ 2007, 1178, 1179. 27 S. dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 70 mit eingeh. Nachw. 28 Dazu eingehend Schenke, NVwZ 1988, 1 ff. und Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnrn. 63 ff. 29 S. dazu Schenke, NJW 1997, 81 ff. 30 BVerfG, NVwZ 2007, 1178, 1179. 26

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Fall nicht mehr gerechtfertigt. Es handelte sich dann nicht mehr nur um ein „Ergänzen“ der Ermessenserwägungen31. Auch wenn man aber in der Mitteilung aber keinen Verwaltungsakt sehen und deshalb § 39 VwVfG nicht für unmittelbar anwendbar halten würde, könnte auf das Erfordernis einer Begründung der Auswahlentscheidung nicht verzichtet werden32. Die für die Auswahlentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte müssten dann nämlich, um nachträgliche Manipulationen auszuschalten und den übergangenen Mitbewerbern eine verlässliche Basis für ihre Entscheidung über die Beantragung einer einstweiligen Anordnung zu liefern, gleichzeitig mit der Auswahlentscheidung schriftlich dokumentiert werden33 und den übergangenen Bewerbern jedenfalls auf Nachfrage rechtzeitig mitgeteilt werden34. Ohne eine entsprechende Information wären diese nicht in der Lage, die Erfolgsaussichten einer von ihnen später angestrengten Konkurrentenklage zu überprüfen. Die Begründung muss bei Beförderungsentscheidungen zumindest erkennen lassen, ob sie wegen eines für die Eignung bedeutsamen Hauptkriteriums oder auf Grund von Hilfskriterien erfolgte, die bei gleicher Eignung von Bewerbern heranzuziehen sind35.

___________ 31

S. dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 72 m. w. Nachw. Dazu, dass eine Begründungspflicht nicht allein deshalb zu verneinen ist, weil eine Ernennung aufgrund einer Wahl erfolgte (anders nur bei politischen Beamten), s. näher Schenke, in: FS für Stober, 2008, S. 221, 229 f. 33 So nunmehr auch BVerfG, NVwZ 2007, 1178, 1179. Schon vorher forderte auch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung in Verbindung mit der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst, dass die Leistungsbewertung und die wesentlichen Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen sind, damit der gerichtliche Rechtsschutz nicht vereitelt oder unzumutbar erschwert wird (BAGE 104, 295, 301). Eine solche Dokumentation wird auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wie auch im Schrifttum zur Sicherung der Transparenz der Auswahlentscheidung als unverzichtbar angesehen (VGH Kassel, ZBR 1990, 185; NVwZ-RR 1994, 601; ebenso Günther, RiA 2008, 1, 2; Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 33 Abs. 2, Rdnr. 22; a. A. VGH Mannheim, NJW 1996, 2525. 2527). 34 Nach VGH Mannheim, NJW 1996, 2525, 2527 soll es bereits ausreichen, wenn der übergangene Bewerber sich rechtzeitig vor einer Ernennung des Mitbewerbers Kenntnis von den für die Auswahlentscheidung maßgeblichen Gründen verschaffen kann. Auf die Notwendigkeit einer Begründung schon vor der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes weist auch VGH Kassel, DÖD 1997, 67, 68 hin. 35 Kopp/Schenke, VwGO, § 42, Rdnr. 50; Schnellenbach, NVwZ 1990, 637, 638; Schöbener, BayVBl. 2001, 321, 326. 32

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3. Rechtliche Konsequenzen einer Verletzung von Benachrichtigungs- und Begründungsmängeln Nach Ansicht der verfassungsgerichtlichen wie auch der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung muss dem bei der Auswahl Übergangenen im Hinblick auf Art. 33 Abs. 2 GG i. V. mit 19 Abs. 4 GG selbst dann, wenn die gerichtliche Aufhebung einer unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung nicht mehr möglich ist, effektiver Rechtsschutz gewährt werden. Daraus hat das BVerwG36 gefolgert, dass bei einer unter Missachtung einer einstweiligen Anordnung erfolgenden Ernennung der Bewerbungsverfahrensanspruch übergangener Mitbewerber nicht erloschen sei. Ist ein Übergangener unter Beachtung des Beurteilungsspielraums der Behörde der geeignetste Bewerber, so hat er konsequenterweise einen Rechtsanspruch auf Ernennung. Die Besetzung der Stelle durch einen weniger geeigneten Konkurrenten steht dem nicht entgegen. Zwar kann dessen Ernennung unter Zugrundelegung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Rechtsprechung geht aber davon aus, dass in einem solchen Fall eine für die Ernennung benötigte neue Planstelle geschaffen werden müsse. Unterstellt man, dass eine unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgte Ernennung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, so stellt diese Lösung – ungeachtet mit ihr möglicherweise verbundener rechtsdogmatischer Friktionen (s. dazu unten II, 4) – in der Tat die einzige Möglichkeit zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes übergangener Mitbewerber dar. Die Verweisung auf die bestehende Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit der Ablehnung seiner Ernennung bzw. der Ernennung des Konkurrenten feststellen zu lassen und bei Verschulden des Dienstherrn auf Ersatz der aus der Nichternennung entstehenden Schäden zu klagen, beinhaltet keinen vollwertigen Rechtsschutz. Bejaht man bei Missachtung einer einstweiligen Anordnung durch den Dienstherrn einen Anspruch des geeignetsten Bewerbers auf Ernennung, so hat Entsprechendes auch dann zu gelten, wenn der geeigneste Bewerber zwar bereits einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt hatte, mit welcher dem Dienstherrn die Ernennung des von ihm ausgewählten Bewerbers untersagt werden sollte, die Ernennungsbehörde den Erlass der einstweiligen Anordnung jedoch erst gar nicht abwartete, sondern den Konkurrenten bereits vor ihrem Ergehen unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG i. V. mit Art. 19 Abs. 4 GG ernannte37. Durch ein solches Fehlverhalten des Dienstherrn darf der effektive Rechtsschutz nicht ausgehebelt werden. In der Logik dieser ___________ 36

BVerwG, NJW 2004, 870 ff. Zur vorläugigen Stillhaltepflicht des Dienstherrn nach Beantragung einer einstweilgen Anordnung s. Günther, RiA 2008, 1, 4; Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rdnr. 5; BVerfG, NVwZ 2007, 1178 f.; OVG Bautzen, NVwZ 2004, 1134. 37

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Überlegungen liegt es dann aber auch dort, wo der geeignetste Bewerber um eine Stelle über die bevorstehende Ernennung eines weniger geeigneten Konkurrenten gar nicht informiert wurde und deshalb nicht die Möglichkeit zur Beantragung einer einstweiligen Anordnung besaß, ihm trotz der inzwischen erfolgten Ernennung eines Konkurrenten jedenfalls grundsätzlich einen Anspruch auf Ernennung einzuräumen. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn das OVG Münster38 sich bei einer solchen Fallkonstellation für eine Verdichtung des Bewerbungsverfahrensanspruchs zu einem Anspruch auf Übertragung der Beförderungsstelle aussprach, wenn der Beamte in der betreffenden Beförderungsrunde zwingend hätte ausgewählt werden müssen, weil er zumindest einem der erfolgreichen Mitbewerber hätte vorgezogen werden müssen. Fraglich kann nur noch sein, wie jene Fälle zu bewerten sind, bei welchen zwar eine Information über die bevorstehende Ernennung eines Konkurrenten erfolgte, diese aber erst so spät erfolgte, dass dem unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Bewerber keine ausreichende Zeit für die Entscheidung über die Beantragung einer einstweiligen Anordnung verblieb oder ihm die (von ihm angeforderte) Begründung für die Ablehnung seiner Bewerbung nicht mitgeteilt wurde. In Fällen dieser Art hatte der Betroffene immerhin die theoretische Möglichkeit, eine einstweilige Anordnung zu beantragen. Ihm fehlte aber die Möglichkeit, die Erfolgsaussichten eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuschätzen. Unter diesen Umständen war ihm aber die Beantragung einer einstweiligen Anordnung nicht zumutbar und dürfte deshalb auf der Basis der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung auch hier ein Anspruch auf Ernennung des übergangenen geeignetsten Bewerbers zu bejahen sein.

4. Würdigung der neuen Rechtsprechung Auch wenn der oben geschilderte Ausbau des Rechtsschutzes des Bewerbers dessen Rechtsstellung erheblich verstärkt, weist ein solcher Lösungsansatz dennoch unverkennbare Schwächen auf und kann insoweit nicht frei von Kritik bleiben. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass diese Lösung nicht nur den Interessen eines unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Bewerbers Rechnung zu tragen scheint, sondern zugleich auch zwei andere Gesichtspunkte berücksichtigt, welche die Rechtsprechung veranlassen, eine Anfechtungsklage eines übergangenen Bewerbers gegen die unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgte Ernennung eines Konkurrenten auszuschließen. Dieser Lösungsversuch vermeidet jedenfalls zum einen eine Beeinträchtigung der Rechtsstellung des bereits Ernannten und dessen auf seine Ernennung gestütz___________ 38

OVG Münster, NJOZ 2006, 64.

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ten Vertrauens. Er führt zum anderen auch nicht zu einer von Gegnern eines repressiven Rechtsschutzes gegen eine Ernennung befürchteten Gefährdung der Ämterstabilität. Bedenken gegen die neuere verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung gründen sich dabei aber schon darauf, dass diese Rechtsprechung im Widerspruch dazu steht, dass ein Amt aus haushaltsrechtlichen Gründen (§ 49 BHO und entsprechenden landesrechtlichen Regelungen) nur beim Vorhandensein einer entsprechenden Planstelle verliehen werden darf, es an einer solchen aber zunächst fehlt, wenn die ursprünglich zur Verfügung stehende Planstelle bereits endgültig durch den ernannten Konkurrenten besetzt ist39. Der Versuch, dem dadurch zu begegnen, dass dem geeignetsten Mitbewerber ein Recht auf Schaffung einer Planstelle eingeräumt und ihm dadurch die Durchsetzung seines Ernennungsanspruchs verwirklicht wird, weist keinen echten Ausweg aus dem sich hier stellenden Dilemma. Er steht im Widerspruch dazu, dass nach sonst allgemein anerkannter Rechtsauffassung aus Art. 33 Abs. 2 GG gerade kein Recht auf Schaffung einer Planstelle abzuleiten ist und diese als eine organisatorische Entscheidung, die dem Haushaltsgesetzgeber obliegt40, außerhalb des Schutzbereichs des Art. 33 Abs. 2 GG liegt41. Der Hinweis des BVerwG42, dass auch das Bestehen von Schadensersatzansprüchen nicht davon abhängt, ob im Haushalt entsprechende Mittel zu seiner Begleichung zur Verfügung stehen, ist demgegenüber wenig beweiskräftig, denn anders als eine Stellenplanung entzieht sich eine schadensersatzrechtliche Vorsorge aus der Natur der Sache heraus einer entsprechenden haushaltsrechtlichen Vorplanung. Deshalb ist es seit jeher anerkannt, dass die Existenz verfassungsrechtlich anerkannter Schadensersatzansprüche nicht von der Ausweisung entsprechender Mittel im Haushaltsplan abhängen kann. Demgegenüber beinhaltet die Ausweisung einer neuen Planstelle einen systemwidrigen schwerwiegenden Eingriff in die Organisations- und Planungshoheit der öffentlichen Hand, der allenfalls dann gerechtfertigt werden könnte, wenn Art. 33 Abs. 2 GG i. V. mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht bereits auf andere Weise Rechnung getragen werden kann, woran es aber, wie unter III. zu zeigen sein wird, gerade fehlt. Eine solche, in Konsequenz der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung liegende Planstellenverdoppelung führt zudem – speziell wenn es um die erstmalige Einstellung als Beamter geht – zu einer schwerwiegenden finanziellen Belastung des Staates und gerät insoweit zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zu dem in Art. 114 Abs. 2 S. 1 GG vorausgesetzten Wirtschaft___________ 39

Kritisch deshalb auch Wernsmann, DVBl. 2005, 276, 277, 281. BAG, NZA 2003, 324, 325. 41 Vgl. z.B. Höfling, in: BK-GG, Art. 33 Abs. 1 bis 3, Rdnr. 10; Schenke, Fälle zum Beamtenrecht, 2. Aufl. 1990, S. 1 f.; BVerfGE 84, 133, 147; BAG, NZA 2003, 324, 325. 42 BVerwG, NJW 2004, 870, 871. 40

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lichkeitsgrundsatz43. Sie wirft zusätzliche Kompetenzprobleme auf, wenn es um die Verteilung der Aufgaben zwischen dem zu Unrecht ernannten Bewerber und dem für die Stellenbesetzung geeignetsten Bewerber geht und ist damit der Verwaltungseffizienz abträglich. Vor allem scheidet sie aber dort aus, wo sich aufgrund gesetzlicher Regelungen ergibt, dass ein Amt nur einmal zu besetzen ist. Geht es beispielsweise um die Besetzung der Stelle eines OLG-Präsidenten, so liegt es auf der Hand, dass diese nicht zweimal besetzt werden kann44. Die neuere Rechtsprechung bricht zudem mit der Dogmatik sonst anerkannter Konkurrentenklagen in Form von Mitbewerberklagen45. Sie stellt insoweit einen Fremdkörper in unserem verwaltungsgerichtlichen Klagesystem dar. Bei Konkurrentenklagen wird jedenfalls sonst allgemein davon ausgegangen, dass, wenn mehrere Konkurrenten einen begünstigenden Verwaltungsakt begehren, der nur einem von ihnen erteilt werden kann, der Rechtsschutz eines zu Unrecht Übergangenen sehr wohl dadurch zu bewerkstelligt ist, dass der Übergangene den rechtswidrig Begünstigten aus seiner Rechtsstellung „herausklagt“. Ein derartiger repressiver Rechtsschutz schließt regelmäßig den präventiven Rechtsschutz gegen die rechtswidrige Begünstigung eines Konkurrenten aus46. Umstritten ist lediglich, ob es neben der Verpflichtungsklage des Übergangenen noch der gesonderten Erhebung einer Anfechtungsklage gegen die Begünstigung des Konkurrenten bedarf, oder ob allein die Erhebung einer Verpflichtungsklage bereits ausreicht, um auf die Aufhebung der rechtswidrigen Begünstigung hinzuwirken47. Die Vorverlegung des Rechtsschutzes übergangener Mitbewerber – wie sie zur Vermeidung einer Verdoppelung von Planstellen befürwortet wird – führt aber auch im Übrigen zu erheblichen rechtlichen und praktischen Problemen. Sie beeinträchtigt sowohl die verfassungsrechtlich garantierte Personalgewalt des Dienstherrn wie auch die Funktionsfähigkeit der Verwaltung, und dies, obwohl gerade diese Gesichtspunkte von den Gegnern eines repressiven Rechtsschutzes gegen ein Klagerecht des Mitbewerbers ins Feld geführt werden48. ___________ 43

S. zum Wirtschaftlichkeitsgrundsatz v. Arnim, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, 1988, S. 67 ff. m. w. Nachw.; VerfGH RhPf AS 25, S. 387, 388, 403 f.; krit. gegenüber der Annahme eines Wirtschaftlichkeitsprinzips Siekmann, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2007, Art. 114, Rdnr. 14. 44 S. zur entsprechenden Problematik im Notarrecht BVerfG, NJW 2006, 2395. 45 Zu diesen s. näher Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 11.Aufl. 2007, Rdnrn. 275 f. 46 S. dazu ausführlicher Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnrn. 355 ff. m. w. Nachw. 47 Dazu näher Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnrn. 275 ff. 48 S. z. B. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 476, der die Verneinung eines verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes eines Mitbewerbers gegen eine bereits erfolgte Ernennung seines Konkurrenten unter

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Einschränkungen der Personalgewalt ergeben sich dabei nicht nur aus der bereits oben angesprochenen Gefahr einer Verdoppelung von Planstellen, sondern vor allem auch daraus, dass sich in Konsequenz des Ausbaus des vorbeugenden und des diesen flankierenden vorläufigen Rechtsschutzes die Ernennung eines durch den Dienstherrn ausgewählten Bewerbers bereits im Hinblick auf den Zeitraum verzögert, der den Mitbewerbern für die Entscheidung über die Beantragung einer einstweiligen Anordnung einzuräumen ist. Macht ein Mitbewerber von der Möglichkeit, eine einstweilige Anordnung zu beantragen, Gebrauch, so hat dies weitere ganz erhebliche Verzögerungen der Ernennung zur Konsequenz49, denn eine Ernennung darf erst dann erfolgen, wenn das die einstweilige Anordnung betreffende Verfahren einschließlich des Beschwerdeverfahrens abgeschlossen ist50. Noch weitere beträchtliche Verzögerungen ergeben sich schließlich, wenn man mit dem BVerfG51 sogar verlangt, dass dem unterlegenen Mitbewerber zusätzlich die Möglichkeit zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde eingeräumt werden muss, ehe die Ernennungsurkunde an den ausgewählten Bewerber ausgehändigt werden darf. Da wegen der bei einer Ernennung des Konkurrenten in besonderem Maße bestehenden Gefahr der Schaffung vollendeter Tatsachen im Rahmen der einstweiligen Anordnung eine intensivere Überprüfung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren zu erfolgen hat52, als sie sonst im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes geboten ist, kann die Durchführung des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens aus diesem Grund zusätzlich beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen. Gehen die Verwaltungsgerichte im Rahmen des Verfahrens nach § 123 VwGO davon aus, dass die Erfolgsaussichten eines Hauptsacheverfahrens offen sind, d. h. erscheint die Auswahl des Mitbewerbers möglich, genügt dies nach Auffassung des BVerfG53 bereits für den Erlass einer einstweiligen Anordung. Damit kann sich aber die Ernennung des geeignetsten Bewerbers u. U. bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens hinausziehen und erst nach mehreren Jahren in Betracht kommen. Stellt sich dabei heraus, dass die Behörde den durch ___________ dem Gesichtspunkt der Rechtsbeständigkeit der Ernennung, die ein „Kernelement der Personalhoheit des Dienstherrn“ bilde, zu rechtfertigen versucht. 49 Diese zeitlichen Verzögerungen, die sich aus der Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ergeben, müssen auch die Gegner eines repressiven Rechtsschutzes gegen die Ernennung des Konkurrenten konzedieren (s. z. B. Lemhöfer, ZBR 2003, 14, 15: Verzögerung der rechtmäßigen Ernennung um ein halbes Jahr und mehr“). Die Verzögerungen fallen sogar noch deutlich höher aus, wenn man mit BVerfG, NVwZ 2007, 1178 davon ausgeht, dass dem Mitbewerber sogar noch die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde offen stehen müsse. 50 Günther, RiA 2008, 1, 4; Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rdnr. 3; BVerfG, NVwZ 2004, 1109; OVG Bautzen, NVwZ 2004, 1134. 51 BVerfG, NVwZ 2007, 1178. 52 Dazu Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rdnr. 34 m. w. Nachw. 53 BVerfG, NVwZ 2006, 1401 im Anschluss an BVerfG, NVwZ 2004, 1109.

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sie ausgewählten Bewerber zu Recht für die Ernennung vorgesehen hat, so kann die Realisierung eines diesem möglicherweise aus Art. 33 Abs. 2 GG erwachsenden Anspruchs auf Ernennung um Jahre vereitelt werden und u. U. sogar dazu führen, dass dessen Ernennung nunmehr aus Altersgründen ausscheidet. In einer derartigen Verzögerung bzw. sogar Vereitelung der Ernennung liegt auf jeden Fall eine schwerwiegende Beeinträchtigung seines subjektiven Rechts aus Art. 33 Abs. 2 GG, die sich in dieser Weise nicht stellte, wenn die Ernennung bereits unmittelbar nach der Auswahlentscheidung des Dienstherrn erfolgen könnte, weil sie durch die Mitbewerber anfechtbar wäre. Bejahte man für diese einen solchen repressiven Rechtsschutz, so könnte hierdurch die Ernennung des nach Ansicht des Dienstherrn Bestqualifizierten im Rahmen einer einstweiligen Anordnung wegen Fehlens eines Anordnungsgrundes häufig nicht unterbunden werden. Nach Anfechtung einer inzwischen erfolgten Ernennung durch die Mitbewerber schiede eine vorläufige Hemmung der Wirksamkeit54 der Ernennung – wie unter III 2 c cc noch näher auszuführen sein wird – wegen eines überwiegenden Vollzugsinteresses sowohl der öffentlichen Hand wie auch des ernannten Konkurrenten regelmäßig aus. Selbst wenn es aber nicht zum Ausschluss des Suspensiveffekts käme, erlitte ein rechtmäßig Ernannter hierdurch keine Statusnachteile. Nach rechtskräftiger Abweisung der Anfechtungsklage entfiele eine mit der Anfechtung zunächst verbundene vorläufige Wirksamkeitshemmung rückwirkend55. Nicht zu befriedigen vermag die Lösung der Rechtsprechung aber auch aus der Warte des übergangenen Mitbewerbers. Sie zwingt ihn, zur Sicherung seines Rechtsschutzes stets eine einstweilige Anordnung zu beantragen, wobei für ihn unklar bleibt, innerhalb welchen Zeitraums er diesen Rechtsschutz zu beantragen hat. Die Vorschriften der §§ 70, 58 VwGO sind hier, was die Initiierung des vorläufigen Rechtsschutzes angeht, nicht unmittelbar anwendbar. Folgte man der in der Praxis vorherrschenden Auffassung, die dem übergangenen Mitbewerber nur eine Frist von zwei Wochen für seine Entscheidung über die Beantragung einer einstweiligen Anordnung einräumt, würde die dem Betroffenen sonst durch die §§ 70, 58 VwGO eingeräumte Überlegungsfrist in Bezug auf die Ergreifung förmlicher Rechtsbehelfe faktisch erheblich verkürzt. Würde er sich nur an der Rechtsbehelfsbelehrung orientieren, welche der Ablehnung seiner Bewerbung beigefügt wurde, so käme der demnach im Hauptsacheverfahren mittels eines Widerspruchs bzw. einer anschließenden verwaltungsgerichtlichen Klage gegebene Rechtsschutz wegen einer inzwischen erfolgten Ernennung regelmäßig zu spät. ___________ 54 Zu dieser durch den Suspensiveffekt herbeigeführten vorläufigen Wirksamkeitshemmung s. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnrn. 948 ff. 55 S. auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnr. 951.

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Zwar könnte man den insoweit drohenden Rechtsschutzeinbußen möglicherweise noch dadurch begegnen, dass man den übergangenen Mitbewerber auf die Notwendigkeit der Beantragung einer einstweiligen Anordnung verwiese und ihm zugleich mitteilte, innerhalb welchen Zeitraums er diese Rechtsschutz zu beantragen hat, um eine Ernennung seines Konkurrenten zu verhindern. Auch dann bliebe aber noch als ein Rechtsnachteil für den Mitbewerber bestehen, dass er zur Realisierung seines Rechtsschutzes stets auf die kostenaufwendige Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes durch die Beantragung einer einstweiligen Anordnung verwiesen wäre, ohne dass er vorher eine erneute Überprüfung der Auswahlentscheidung im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens erreichen könnte. Dabei könnte ihm gerade ein Widerspruchsbescheid wesentlich helfen, die Erfolgsaussichten eines von ihm später initiierten gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens besser einzuschätzen. Der Widerspruchsbescheid lieferte ihm jedenfalls eine wichtige Basis für die Entscheidung über die Erhebung einer Klage. Die Entwertung dieser Rechtsschutzfunktion des Widerspruchsverfahrens56 wiegt im vorliegenden Zusammenhang sogar besonders schwer, da dessen Durchführung bei beamtenrechtlichen Streitigkeiten nach § 126 Abs. 3 BRRG eine ganz spezifische Bedeutung zukommt. Seine Durchführung soll im Interesse der Vermeidung unnötiger Belastungen des Verhältnisses von Beamten und Dienstherrn die Gelegenheit bieten, beamtenrechtliche Streitigkeiten verwaltungsintern beizulegen. Nur so lässt sich erklären, dass der Gesetzgeber nicht nur für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen, sondern auch für Leistungs- und Feststellungsklagen die vorherige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens obligatorisch vorschreibt. Ein Haupteinwand gegen die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage gründet sich aber vor allem darauf, dass sie ersichtlich auf der Prämisse beruht, dass eine gerichtliche Aufhebung der Ernennung des Konkurrenten ausscheidet. Diese Prämisse provoziert aber – wie im folgenden zu zeigen sein wird – schwerwiegende verfassungsrechtliche Einwände, mit denen sich bisher weder das BVerwG noch das BVerfG auseinandergesetzt haben.

III. Der repressive Rechtsschutz gegen die Ernennung des Konkurrenten Die oben aufgezeigten Probleme würden sich dann nicht ergeben, wenn der erfolglose Bewerber um eine Beamtenstelle sich gegen die unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG erfolgte Ernennung seines Konkurrenten zur Wehr setzen und deren Aufhebung erreichen könnte. Ihm würde damit die Möglichkeit er___________ 56

S. zu dieser Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnr. 645.

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öffnet, seinen Bewerbungsverfahrensanspruch weiter zu verfolgen. Wäre er der geeignetste Bewerber, so verdichtete sich sein Bewerbungsverfahrensanspruch sogar zu einem Rechtsanspruch auf Ernennung. Dabei wäre es nur von zweitrangiger Bedeutung, ob er seinen Rechtsschutz durch Koppelung einer Anfechtungsklage mit einer Verpflichtungsklage (eventuell in der Form der Bescheidungsklage) zu realisieren hätte oder ob es nur der Erhebung einer Verpflichtungsklage bedürfte57, weil bei deren Erfolg die Verpflichtung des Dienstherrn zur Ernennung des Klägers (bzw. zu seiner Neubescheidung) zugleich implizierte, dass er die Stelle wieder frei zu machen und die Ernennung des Konkurrenten aufzuheben hätte. Die Rechtsprechung des BVerwG hält freilich – trotz der in seinem Urteil vom 10.09.2001 geäußerten Bedenken58 – an der Ansicht fest, dass ein unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangener Bewerber eine gerichtliche Aufhebung der Ernennung eines Konkurrenten nicht verlangen könne. Als Begründung für diese Ansicht wies das BVerwG in seiner früheren Rechtsprechung darauf hin, dass die Ernennung des Konkurrenten die übergangenen Mitbewerber rechtlich gar nicht beträfen59 (dazu 1), eine Aufhebung der Ernennung des Konkurrenten aber jedenfalls daran scheitere, dass die beamtenrechtlichen Vorschriften die Rücknahme einer Ernennung, die unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG und entsprechender beamtenrechtlicher Vorschriften erfolgte, nicht vorsähen (dazu 2).

1. Die Verletzung von durch Art. 33 Abs. 2 GG begründeten subjektiven Rechten der Mitbewerber durch die Ernennung eines weniger geeigneten Konkurrenten Eine auf die gerichtliche Aufhebung der Ernennung des Konkurrenten gerichtete Klage schiede von vorneherein aus, wenn die Ernennung des Konkurrenten einen unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Mitbewerber nicht in seiner Rechtsstellung tangieren würde. In einem solchen Fall fehlte es bereits an der gem. § 42 Abs. 2 VwGO erforderlichen Klagebefugnis60. Die Klage wäre deshalb bereits unzulässig.

___________ 57 S. zu dieser Streitfrage näher Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnrn. 275 ff. m. w. Nachw. 58 BVerwG, NVwZ 2002, 604, 605. 59 BVerwG, Buchholz 232 § 8 BBG Nr. 49, S. 10; so auch implizit BVerwGE 80, 127, 130; BVerwG, DVBl. 1989, 1150; Günther, ZBR 1979, 93, 108 ff.; Sodan, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 42, Rdnr. 174. 60 S. hierzu die Nachw. bei Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 42, Rdnr. 49.

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Der Ansicht, die Ernennung des Konkurrenten greife nicht in die Rechte übergangener Mitbewerber ein, kann freilich mit der ihr zugrunde liegenden Trennung zwischen der Ablehnung der Bewerbung, die unbestreitbar in die Rechtsstellung von Mitbewerbern eingreift, und der Ernennung des Konkurrenten nicht überzeugen61. Sie zerreißt den hier bestehenden Zusammenhang durch eine künstliche Trennung beider Vorgänge und verkennt, dass die mit der Auswahl eines Bewerbers getroffene Entscheidung zumindest im Regelfall zugleich eine Entscheidung zu Lasten der Mitbewerber darstellt. Da eine Stelle immer nur durch einen Beamten besetzt werden kann, muss nicht nur dann, wenn ein materielles, sondern sogar schon dann, wenn nur ein formelles subjektives öffentliches Recht eines Bewerbers durch Art. 33 Abs. 2 GG begründet wird, in diesem zugleich die Befugnis enthalten sein, die Unterlassung der Ernennung des weniger qualifizierten Bewerbers verlangen zu dürfen62. Mit der unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung eines Konkurrenten wird damit Hand in Hand gehend der Bewerbungsverfahrensanspruch anderer Mitbewerber und bei Reduktion des Beurteilungs- und Ermessensspielraums des Dienstherrn auch der Rechtsanspruch des geeignetsten Mitbewerbers auf Ernennung ausgeschlossen und der diesen flankierende Unterlassungsanspruch verletzt. Dies gilt selbst dann, wenn diesem gegenüber bereits vorher ei___________ 61 S. schon Schenke, in: FS Mühl, 1981, S. 571, 577; Laubinger, VerwArch. Bd. 83 (1992), 246, 275; Wernsmann, DVBl. 2005, 276, 281 m. w. Nachw.; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 397; Wieland, in: FS Blümel, 1999, S. 647, 653 f., a. A. Bracher, ZBR 1989, 139, 140; Isensee, in: FG BVerwG, 1978, S. 337, 355; Plog/Wiedhof/Lemhöfer, Rdnr. 14 zu § 23 BBG; Wittkowski, NJW 1993, 817, 818. Nicht überzeugend ist auch die vereinzelt vertretene Rechtsansicht, welche die fehlende rechtliche Betroffenheit des unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG Übergangenen damit zu erklären sucht, dass nicht die Ernennung des Konkurrenten, sondern erst die tatsächlich und rechtlich hiervon zu unterscheidende Einweisung in eine besetzbare Planstelle, die Belastung des Übergangenen begründe (so Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 3. Aufl. 1994, Rdnr. 25 unter Berufung auf BVerwG, Buchholz 232 § 79 BBG, Nr. 78; krit. hierzu Schenke, Fälle zum Beamtenrecht, 2. Aufl., S. 33; Solte, NJW 1980, 1027, 1030 f. Fn. 32; Tegethoff, ZBR 2004, 341, 343; Wieland, in: FS Blümel, S. 647, 655). Sie verkennt den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Ernennung und der Einweisung in eine Planstelle, wie er dadurch begründet wird, dass gem. § 49 BHO und entsprechenden Bestimmungen in den Haushaltsordnungen der Länder ein Amt nur zusammen mit der Einweisung in eine besetzbare Planstelle vermieden werden kann. Sie wird außerdem dem Umstand nicht gerecht, dass die Einweisung in eine Planstelle nur noch dem haushaltsrechtlichen Vollzug der Ernennung dient und insoweit nur einen Annexcharakter aufweist. Wenn die eigentliche Belastung eines übergangenen Mitbewerbers unter Verkennung der Rechtsnatur einer Stelleneinweisung des Konkurrenten erst in dieser gesehen würde, müsste im Übrigen konsequenterweise diese Stelleneinweisung gerichtlich angreifbar sein, was aber das missliche Ergebnis nach sich ziehen würde, dass beim Erfolg einer solchen Klage dann der bereits ernannte Konkurrent zwar sein Amt im abstrakt funktionalen Sinn beibehalten würde, aber entgegen dem § 49 BHO keine entsprechende Planstelle mehr innehätte. 62 S. auch Tegethoff, ZBR 2004, 341, 343.

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ne rechtsverbindliche Ablehnung seiner Bewerbung erfolgte und man diese als einen Verwaltungsakt qualifiziert. Mit der Ernennung des Konkurrenten kann diesem die Stelle, um die er sich beworben hat, ohne Aufhebung der Ernennung endgültig nicht mehr verliehen werden. Daran änderte sich auch nichts, wenn man mit der neueren Rechtsprechung des BVerwG63 davon ausginge, dass der unter Verstoß gegen eine einstweilige Anordnung übergangene geeignetste Bewerber einen Anspruch auf Schaffung einer neuen Planstelle hätte und dann im Hinblick auf diese seine Ernennung doch noch vorgenommen werden könnte. Diese Rechtsprechung betrifft ohnehin nur einen seltenen Ausnahmefall. Zudem scheitert selbst bei ihm die Lösungsweg dort, wo die Schaffung einer solchen zusätzlichen Zweitstelle gesetzlich ausgeschlossen ist. Schließlich geht es nach der Schaffung einer neuen Planstelle aber auch gar nicht mehr um die Besetzung der Stelle, um die sich der Übergangene beworben hat. Eben dies ist denn auch der Grund, weshalb die Rechtsprechung davon ausgeht, dass der übergangene Bewerber, der seinen Bewerbungsverfahrens- bzw. (ausnahmsweise sogar) Ernennungsanspruch durch eine einstweilige Anordnung sicherstellen will, mit dieser erstreben muss, die Ernennung des seines Erachtens weniger geeigneten Konkurrenten zu unterbinden64. Würde es seinem Bewerbungsverfahrensanspruch hingegen bereits genügen, wenn ihm nach seiner Ernennung überhaupt eine entsprechende Stelle zur Verfügung stehen würde und wäre deshalb die Besetzung der Stelle, um welche sich ein Mitbewerber bemühte, durch einen Konkurrenten irrelevant, so wäre der Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit welcher dem Dienstherrn die Besetzung der (zunächst) zu vergebenden Stelle untersagt wird, in der Regel nicht zu rechtfertigen. Es fehlte dann an dem für den Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund. Dass die Ernennung eines weniger geeigneten Konkurrenten die übergangenen qualifizierteren Mitbewerber in ihren Rechten verletzt, wird durch eine zusätzliche Überlegung bestätigt. Eine solche Ernennung verstößt nämlich unbestreitbar gegen die objektivrechtliche Pflicht des Dienstherrn, seine Entscheidung an dem das Prinzip der Bestenauslese statuierenden Art. 33 Abs. 2 GG zu orientieren. Da die Vorschrift des Art. 33 Abs. GG aber nicht nur öffentliche Interessen, sondern als eine grundrechtsgleiche Vorschrift auch die Interessen von Mitbewerbern schützt, ist die Bejahung einer subjektiven Rechtsverletzung der geeigneteren Mitbewerber rechtslogisch zwingend geboten. ___________ 63

BVerwG, NJW 2004, 870, 871 Auf den hier bestehenden Zusammenhang weist zu Recht auch Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, S. 397 hin, obwohl er einen repressiven Rechtsschutz von Mitbewerbern gegen die Ernennung eines Konkurrenten ablehnt. 64

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Die Richtigkeit dieser Auffassung lässt sich durch einen Seitenblick auf andere Mitbewerberklagen erhärten, bei denen sich dieselben Probleme stellen und die einer entsprechenden Lösung zugeführt werden. Geht es um den Erlass eines im Schwerefeld von Grundrechten (wie z. B. Art. 12 GG) oder grundrechtsähnlichen Rechten liegenden begünstigenden Verwaltungsakts, der nur einem der Bewerber erteilt werden kann, so entspricht es sonst allgemeiner Rechtsauffassung, dass hier derjenige, der die rechtlichen Voraussetzungen für die Begünstigung erfüllt, durch die rechtswidrige Begünstigung eines anderen Mitbewerbers in seiner Rechtsstellung betroffen und verletzt wird65. Weshalb im Beamtenrecht von den sonst allgemein anerkannten Grundsätzen abgewichen werden soll, ist nicht ersichtlich. Stets geht es darum, dass das Recht auf Begünstigung bzw. eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Begünstigung dann erlöschen würde, wenn die Begünstigung einem Dritten erteilt wurde und diese nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses ist deshalb die Bejahung einer rechtlichen Betroffenheit des Übergangenen zwingend geboten. Deshalb liefert die diesbezügliche Rechtsprechung einen zusätzlichen Beleg dafür, dass der Anspruch auf Erteilung einer nur einmal zu vergebenden Begünstigung zugleich das Recht einschließt, die Unterlassung der rechtswidrigen Begünstigung einer anderen Person und (jedenfalls grundsätzlich) deren Beseitigung verlangen zu können. Ohne ein solches Recht auf Unterlassung (bzw. Beseitigung) einer rechtswidrigen Begünstigung Dritter wäre der auf Vornahme der Begünstigung gerichtete Rechtsanspruch des Rechtsinhabers nur höchst unvollkommen und ineffektiv geschützt. Bezeichnenderweise geht denn auch die Rspr. des BAG66 in Verbindung mit einer auf Art. 33 Abs. 2 GG gestützten, vor den Arbeitsgerichten zu verfolgenden Konkurrentenklage ausdrücklich davon aus, dass ein DienstordnungsAngestellter einen Anspruch auf Unterlassung der Beförderung eines weniger qualifizierten Mitbewerbers hat, den er mit einer Unterlassungsklage durchsetzen kann. Der Sache nach erkennen dies letztlich auch das BVerwG und das BVerfG an, wenn sie dem Bewerber um eine Beamtenstelle die Befugnis einräumen, mittels einer einstweiligen Anordnung auf die Unterlassung der Ernennung eines weniger qualifizierten Konkurrenten hinzuwirken. Da die einstweilige Anordnung nämlich nach allgemein anerkannten prozessualen Grundsätzen dem Antragsteller nicht mehr zu gewähren vermag als das Hauptsache___________ 65

Vgl. z. B. BVerwG, NVwZ 1995, 478 ff.; BVerfG, DVBl. 2004, 431, 432 f. BAG, RdA 2000, 356, 357, das in diesem Zusammenhang auf eine analoge Anwendung des § 1004 BGB rekurriert, der es freilich deshalb nicht bedarf, da ein solcher Unterlassungsanspruch sich bereits unmittelbar aus Art. 33 Abs. 2 GG ableiten lässt (s. auch Battis, RdA 2000, 359, 360). 66

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verfahren67, setzt eine durch sie herbeiführbare Unterlassung der Ernennung des Konkurrenten zwingend voraus, dass ein unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangener Bewerber einen Anspruch auf Unterlassung der Ernennung des weniger geeigneten Konkurrenten hat. Dieser kann bei Verneinung eines repressiven Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren und beim Fehlen anderer Rechtsschutzmöglichkeiten durch Erhebung einer vorbeugenden Unterlassungsklage geltend gemacht werden68. Besteht ein Anspruch des Mitbewerbers auf Unterlassung der Ernennung eines weniger geeigneten Konkurrenten, so folgt daraus rechtslogisch zwingend, dass dessen dennoch erfolgte Ernennung eine Verletzung der Rechte der übergangenen Mitbewerber impliziert. Dem Mitbewerber muss deshalb eine Klagebefugnis zugebilligt werden. Die Verletzung seines Unterlassungsanspruchs besteht dabei völlig unabhängig davon, ob man ihm (richtigerweise) ein Recht auf Beseitigung (Rücknahme der Ernennung) einräumt. Vom Vorliegen einer solchen Verletzung geht denn auch das BVerwG69 in seinem Urteil vom 13.09.2001 zu Recht aus, wenn es dort erwägt, aus § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO und Art. 19 Abs. 4 GG eine Befugnis des Gerichts zur Aufhebung der Ernennung abzuleiten. Unabhängig davon, ob man ihm hierbei im Ergebnis zu folgen bereit ist, ist ihm jedenfalls insoweit beizupflichten, als die Ernennung des Konkurrenten zwingend mit einer Rechtsverletzung geeigneterer Mitbewerber einhergeht.

2. Der Anspruch auf Beseitigung einer unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung Wird ein geeigneterer Mitbewerber durch eine Ernennung seines Konkurrenten in seinem durch Art. 33 Abs. 2 GG begründeten Recht verletzt, so bildet dies ein gewichtiges Indiz dafür, dass ihm ein mittels einer Anfechtungsklage durchsetzbarer Anspruch auf behördliche Beseitigung (Rücknahme)70 der Ernennung zusteht. Dieser Anspruch könnte jedoch dadurch ausgeschlossen sein, dass die Beamtengesetze eine abschließende Regelung der Rücknahme beamtenrechtlicher Ernennungen beinhalten (dazu a), wogegen allerdings die Regelung des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO (dazu b) wie auch eine möglicherweise zu ___________ 67

S. dazu statt vieler z. B. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnr. 1038 sowie Kopp/Schenke, VwGO, § 123, Rdnr. 11; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123, Rdnr. 11 m. w. Nachw.; VGH Mannheim, VBlBW 1994, 285, 287. 68 S. hierzu Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnrn. 357 f. 69 BVerwG, NVwZ 2002, 604, 605. 70 Zur Anfechtungsklage als einer prozessualen Gestaltungsklage zur Durchsetzung materiellrechtlicher Beseitigungsansprüche s. näher Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnr. 178 m. w. Nachw.

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bejahende verfassungsrechtliche Verankerung des Rücknahmeanspruchs (dazu c) sprechen könnten.

a) Abschließende Regelung des Rücknahmenanspruchs durch die Beamtengesetze Ein Anspruch der Mitbewerber auf Rücknahme der Ernennung eines weniger geeigneten Konkurrenten könnte durch die Beamtengesetze ausgeschlossen sein, wenn diese eine abschließende, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Regelung der Rücknahme beamtenrechtlicher Ernennungen enthielten. Auf die beamtenrechtlichen Rücknahmeregelungen wird denn auch regelmäßig von denjenigen verwiesen, die einen nachträglichen Rechtsschutz gegen eine Ernennung des Konkurrenten ausschließen wollen71. Ihnen ist jedenfalls insoweit Recht zu geben, als eine unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgte Ernennung eines Beamten nicht unter beamtenrechtliche Rücknahmevorschriften wie § 9 BRRG und § 12 BBG subsumiert werden kann. Freilich erlaubt diese Feststellung allein noch nicht den Schluss, dass damit bereits eine Rücknahme der Ernennung ausgeschlossen wird. Ein solcher Ausschluss ließe sich den einschlägigen beamtenrechtlichen Vorschriften nur dann entnehmen, wenn diese eine abschließende Regelung der Rücknahme von Ernennungen beinhalteten und diese abschließende Normierung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre. Ausdrücklich wird der abschließende Charakter dieser Regelungen nicht angeordnet. Das wäre nur dann der Fall, wenn die einschlägigen Vorschriften expressis verbis normierten, dass eine Rücknahme „nur“ oder „lediglich“ unter den in ihnen genannten Voraussetzungen möglich sein soll. Daran fehlt es jedoch. Insofern ist ein argumentum e contrarioSchluss nicht zwingend. Zugegebenermaßen mag der Gesetzgeber in der Tat davon ausgegangen sein, dass die von ihm geschaffenen Rücknahmeregelungen abschließend seien. Solchen entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten kommt aber bei der Interpretation der Rücknahmevorschriften nur ein relativ geringer Stellenwert zu; die historisch-genetische Interpretation hat nach der heute in der Methodenlehre überwiegender Auffassung Nachrang72 gegenüber systematischen und teleologischen Auslegungsgesichtspunkten. Bei einer systematischen Auslegung der beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften wird bedeutsam, dass unsere Rechtsordnung sonst grundsätzlich davon ausgeht, dass ein Verwaltungsakt, der die Rechte Dritter verletzt, zumindest bei seiner Anfechtung zurückzunehmen ist. Diese Systementscheidung hat ___________ 71 So z. B. BVerwGE 81, 282, 284; Günther, ZBR 1979, 93, 108 ff.: Schnellenbach, ZBR 2002, 180, 181. 72 S. zu diesem Nachrang schon BVerfGE 1, 299, 312.

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in der Regelung des § 50 VwVfG ihren Ausdruck gefunden73. Auf ihr baut auch die prozessrechtliche Vorschrift des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO auf, wenn sie vorsieht, dass ein Verwaltungsakt, der den Kläger in seinen Rechten verletzt, grundsätzlich aufzuheben ist. Dies lässt sich nur damit erklären, dass dem durch einen Verwaltungsakt mit Drittwirkung Verletzten grundsätzlich ein in § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO vorausgesetzter Beseitigungsanspruch zusteht, der mit der Anfechtungsklage prozessual geltend gemacht wird. Vor diesem Hintergrund betrachtet, spricht einiges für die Vermutung, dass die (frühere) Rechtsprechung des BVerwG, welche die Verletzung eines qualifizierteren Mitbewerbers durch eine unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG erfolgte Ernennung eines Konkurrenten verneinte, zu einem erheblichen Teil dadurch motiviert war, sich der Sogwirkung einer mit der Bejahung eines Verwaltungsakts mit Drittwirkung verbundenen Systementscheidung zu entziehen. Bei (der unabweisbaren) Anerkennung der Drittwirkung einer Ernennung musste die Fragwürdigkeit der von der Rechtsprechung verfochtenen Ablehnung von Rücknahmeansprüchen der Mitbewerber jedenfalls besonders deutlich werden. Ein argumentum e contrario-Schluss ist aber jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn die der Rechtsordnung zugrunde liegende Systementscheidung nicht nur einfachgesetzlich fundiert, sondern verfassungsrechtlich vorgegeben ist. In einem derartigen Fall beansprucht der Gesichtspunkt der verfassungskonformen Auslegung eindeutig Vorrang vor einer historisch-genetischen Interpretation, der nach der (allerdings nicht immer gradlinigen) Rechtsprechung des BVerfG ohnehin nur dort Bedeutung zukommt, wo andere Auslegungsgesichtspunkte noch Zweifel an der Interpretation einer Norm zulassen. Sollte sich daher später zeigen (dazu unten c), dass der Rücknahmeanspruch verfassungsrechtlich begründet ist, so könnte jedenfalls von einem konkludenten Ausschluss des Rücknahmeanspruchs der geeigneteren Mitbewerber nicht ausgegangen werden. Dass eine verfassungskonforme Interpretation einer Norm zu einer Auslegung zu führen vermag, die im Widerspruch zum eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers steht, hat die Rechtsprechung im Übrigen schon wiederholt anerkannt. Erinnert sei hier nur daran, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 59 VwVfG davon ausging, durch die seines Erachtens spezielleren Regelungen des § 59 Abs. 2 VwVfG sei ein über § 59 Abs. 1 VwVfG vermittelter Rückgriff auf § 134 BGB hinsichtlich subordinationsrechtlicher Verträge ausgeschlossen74, dies die Rechtsprechung und die h. L. aber dennoch nicht daran hinderte, im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des ___________ 73 Auf die Bedeutung dieser Vorschrift für die Lösung der hier erörterten Problematik weist zu Recht auch Laubinger, VerwArch. Bd. 83 (1992), 246, 276 hin. 74 BT-Drucks. 7/910, S. 81; s. hierzu auch Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2008, § 59, Rdnr. 8.

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§ 59 Abs. 1 VwVfG für die Anwendung des § 134 BGB auch auf subordinationsrechtliche öffentlichrechtliche Verträge zu plädieren75. Ebenso geht die heute ganz h. M.76 trotz einer aus der Entstehungsgeschichte des § 48 VwVfG77 belegbaren Absicht des Gesetzgebers, dem Vertrauensschutz des Begünstigten bei § 48 Abs. 3 VwVfG unterfallenden Verwaltungsakten nur mittels eines Entschädigungsanspruch Rechnung zu tragen, davon aus, dass das verfassungsrechtlich verankerte Vertrauensschutzprinzip bereits eine Rücknahme des Verwaltungsakts ausschließen kann, wenn nur auf diese Weise der rechtsstaatlich geforderte Vertrauensschutz zu gewährleisten ist. Es ist dann aber nur konsequent und keineswegs singulär, wenn man bei einer verfassungsrechtlichen Begründung des Anspruchs auf Rücknahme des Verwaltungsakts den abschließenden Charakter der beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften verneint. Eine solche verfassungskonforme Auslegung der beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften sollte umso leichter fallen, als die Alternative hierzu nur die Bejahung einer Teilnichtigkeit der einschlägigen Rücknahmevorschriften wäre, soweit sich diese als abschließend verstünden

b) Die Begründung einer ausschließlichen gerichtlichen Aufhebungsbefugnis durch § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO und Art. 19 Abs. 4 GG Zuweilen wird § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO nicht nur als ein Indiz für das Vorliegen eines Beseitigungsanspruch der geeigneteren Mitbewerber angesehen. Vielmehr wird ihm – flankiert durch Art. 19 Abs. 4 GG – die gerichtliche Befugnis zur Aufhebung einer Ernennung trotz einer aufgrund der §§ 9 BRRG und 12 BBG fehlenden behördlicher Rücknahmebefugnis entnommen78. Dahin tendierte auch das BVerwG in seiner Entscheidung vom 13.09.2001, wenn es dort ausführte: „Zwar mag der Dienstherr gehindert sein, eine von dem unterlegenen Mitbewerber angefochtene Ernennung zurückzunehmen, wenn die beamtenrechtlichen Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind (vgl. § 9 BRRG, § 12 BBG). Dies schließt aber ihre Anfechtung durch den unterlegenen Mitbewerber ebenso wenig aus wie ihre gerichtliche Überprüfung. Es erscheint mit Art. 19 Abs. 4 GG schwer vereinbar, einem Beamten den Rechtsschutz mit der Begründung zu versagen, sein Anspruch auf eine den Grundsätzen des ___________ 75

S. hierzu Schenke, JuS 1977, 281, 288; Hennecke, in: Knack, Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Aufl. 2004, § 59, Rdnr. 5 m. w. Nachw. 76 Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 48, Rdnr. 137; Schenke, DÖV 1983, 320, 322 f.; BVerwG, NVwZ-RR 2001, 198. 77 S. BT-Drucks. 7/910, S. 75 zu § 44 RegE (dem heutigen § 48 Abs. 3 VwVfG). 78 So z. B v. Mutius, VerwArch. Bd. 69 (1978), 103, 112 f.; Tegethoff, ZBR 2004, 341, 344; s. auch früher Schenke, Fälle zum Beamtenrecht, 1. Aufl. 1986, S. 23 f. (anders aber bereits in der 2. Aufl. 1990, S. 30).

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Art. 33 Abs. 2 GG entsprechende Auswahlentscheidung sei durch den Vollzug der getroffenen, diese Grundsätze möglicherweise verletzenden Auswahlentscheidung untergegangen“79. Diese Argumentation vermag aber deshalb nicht zu überzeugen, weil sie verkennt, dass die verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage der Durchsetzung materiellrechtlicher Beseitigungs- bzw. Rücknahmeansprüche dient80. Würde es deshalb tatsächlich an einem Rücknahmeanspruch des unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Bewerbers fehlen, so schiede deshalb auch eine gerichtliche Aufhebung der Ernennung des Konkurrenten aus. So wird denn auch heute im verwaltungsprozessualen Schrifttum81 überwiegend anerkannt, dass § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO dort keine Basis für eine gerichtliche Aufhebung von Verwaltungsakten zu bieten vermag, wo es trotz einer durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt begründeten subjektiven Rechtsverletzung ausnahmsweise an einem Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsakts fehlt. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO ist deshalb in einem solchen Fall teleologisch zu reduzieren. So ist beispielsweise bei einem dem § 46 VwVfG unterfallenden verfahrensfehlerhaften Verwaltungsakt nicht nur eine behördliche Aufhebung des Verwaltungsakts ausgeschlossen, sondern im Hinblick auf die gebotene teleologische Reduktion des § 113 Abs. 1 S. 1 auch die gerichtliche Aufhebung. Hier kommt bei Stellung eines entsprechenden Antrags nur noch eine gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts in Analogie zu § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO in Betracht82. Der in der Entscheidung des BVerwG vom 13.09.2001 zur Rechtfertigung einer möglichen Rechtsprechungsänderung bemühte Art. 19 Abs. 4 GG vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Es ist heute sonst weitgehend anerkannt, dass Art. 19 Abs. 4 GG die gerichtliche Durchsetzung materieller Rechte regelt, diese aber grundsätzlich nicht selbst zu begründen vermag83.

c) Der verfassungsrechtlich begründete Anspruch auf Beseitigung (Rücknahme) der Ernennung Wie im Vorhergehenden dargelegt wurde, kann an der Möglichkeit eines repressiven Rechtsschutzes durch eine Anfechtungsklage dann nicht gezweifelt ___________ 79

BVerwG, NVwZ 2002, 604, 605. S. hierzu z. B. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnr. 178. 81 S. hierzu Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rdnrn. 326 ff. m. w. Nachw.; ebenso z. B. Wernsmann, DVBl. 2005, 276, 281. 82 Dazu näher Schenke, DÖV 1986, 305, 317 ff.; dem folgend z. B. Hufen, DVBl. 1988, 69, 75; Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 58, Rdnr. 25. 83 Vgl. z. B. Schenke, in: BK-GG (Zweitbearbeitung), Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 87. 80

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werden, wenn sich der mit der Anfechtungsklage verfolgte Anspruch eines unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Mitbewerbers verfassungsrechtlich fundieren ließe. Merkwürdigerweise wird die Frage einer verfassungsrechtlichen Fundierung von Rücknahmeansprüchen bei der Behandlung der beamtenrechtlichen Konkurrentenklage aber meist gar nicht näher thematisiert. Zwar wird von den Anhängern einer beamtenrechtlichen Konkurrentenklage zur Begründung ihrer Auffassung meist kurz und apodiktisch auf Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG verwiesen. Bei ihrer der Bezugnahme auf Art. 33 Abs. 2 GG wird jedoch nicht deutlich, in welcher Weise sich ein dogmatischer Zusammenhang zwischen einer Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG und dem Bestehen von Beseitigungsansprüchen begründen lässt. Die regelmäßig anzutreffende Berufung auf Art. 19 Abs. 4 GG erschwert die Herstellung dieses Zusammenhangs zusätzlich und zeugt vom Fortbestehen eines sonst als überwunden geltenden aktionenrechtlichen Denkens. Dieses verstellt den Blick auf die entscheidende Frage des Bestehens materiellrechtlicher Beseitigungsansprüche, die mit einer Anfechtungsklage geltend gemacht werden, bzw. lässt deren Existenz zu Unrecht in den Hintergrund treten. Diese einseitige prozessuale Fixierung macht es den Gegnern einer repressiven beamtenrechtlichen Konkurrentenklage wegen der materiellrechtlichen Substanzlosigkeit des Art. 19 Abs. 4 GG zugleich relativ leicht (s. oben b), eine solche Form der Konkurrentenklage abzulehnen. Im Folgenden ist deshalb zu klären, ob der durch einen Verwaltungsakt mit Drittwirkung Verletzte grundsätzlich einen verfassungsrechtlich gewährleitsteten materiellrechtlichen Anspruch auf Beseitigung (Rücknahme) des Verwaltungsakts besitzt (dazu aa) und ob dieser Anspruch möglicherweise im Falle der Ernennung eines Konkurrenten unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (dazu bb), der Ämterstabilität und der Funktionsfähigkeit der Verwaltung (dazu cc) sowie aus anderen Gründen, insbesondere im Hinblick auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (dazu dd) sowie wegen des Persönlichkeitsschutzes des ernannten Konkurrenten, in einer verfassungsrechtlich legitimierbaren Weise ausgeschlossen werden kann (dazu ee).

aa) Die grundsätzliche verfassungsrechtliche Garantie eines Beseitigungsanspruchs des Verletzten Als Basis für einen Anspruch auf Rücknahme der Ernennung eines Konkurrenten bietet sich nur der auch sonst bei Rechtsverletzungen durch ein Verwaltungshandeln für den Verletzten anerkannte verfassungsrechtlich garantierte Beseitigungsanspruch an84. Der Anspruch leitet sich unmittelbar aus der subjektiven Rechtsqualität der verletzten Grundrechte ab, die jedenfalls dann, wenn

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die grundrechtlich umfassend geschützte Rechtssphäre von Personen rechtswidrig und fortdauernd beeinträchtigt wird, einen Beseitigungsanspruch begründet. Dieser Beseitigungsanspruch besteht auch für den durch einen Verwaltungsakt in seinen subjektiven Rechten Verletzten. An das Bestehen eines solchen Beseitigungsanspruchs knüpft bereits die Ausgestaltung der Klagebefugnis in § 42 Abs. 2 VwGO an, denn die hier geforderte Geltendmachung einer Rechtverletzung durch den Verwaltungsakt als Voraussetzung für dessen gerichtliche Aufhebung ergibt nur dann einen Sinn, wenn mit der geltend gemachten Rechtsverletzung in der Regel auch ein Anspruch auf die (behördliche und gerichtliche) Aufhebung des den Kläger verletzenden Verwaltungsakts verbunden ist. Von der grundsätzlichen Existenz dieses Beseitigungsanspruchs geht auch die Vorschrift des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aus, die der prozessualen Durchsetzung des materiellrechtlichen Anspruchs auf behördliche Beseitigung bzw. Rücknahme des Verwaltungsakts dient. Nur unter Zugrundelegung dieser Auffassung lässt sich die durch die heute ganz h. M. anerkannte verfassungsrechtliche Verankerung des in § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO vorausgesetzen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs85 legitimieren. Würde man die Rücknahme des Verwaltungsakts in das Ermessen der Behörde stellen, so ergäbe sich eine offene Flanke des Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs, da dieser nach allgemeiner Ansicht86 nur dann gegeben ist, wenn der angefochtene Verwaltungsakt aufgehoben wird. Die Vorschrift des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG ist deshalb – wie an anderer Stelle durch den Verfasser näher dargelegt wurde87 – zumindest unter dem Gesichtspunkt der verfassungskonformen Auslegung so zu interpretieren, dass ein belastender rechtswidriger Verwaltungsakt, solange noch keine Bestandskraft eingetreten ist, zurückzunehmen ist. Erst nach Eintritt der Bestandskraft des rechtswidrigen Verwaltungsakts steht dessen Rücknahme im Ermessen der Behörde. Hat der durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt in seinen Rechten Verletzte einen Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsakts, so liegt es nahe, dasselbe auch in Bezug auf die Ernennung eines unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG Ernannten anzunehmen. Das liegt umso näher, als es sich

___________ 84 Hierzu grundlegend Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsakts, 2005; s. auch schon früher Schenke, JuS 1990, 370, 371 ff.; ders., NVwZ 1993, 718, 721; ders., FS Maurer, 2001, S. 723, 725 ff. Von der Existenz eines solchen Anspruchs geht auch der Jubilar aus, s. Schnapp/Cordewener, JuS 1999, 39, 42. 85 Dazu näher z. B. Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnrn. 80 ff. 86 Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnrn. 80, 84. 87 Schenke, in: FS Maurer, S. 723, 728 ff.; ebenso nunmehr Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsakts, S. 25 ff.

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bei der Ernennung des Konkurrenten um einen gestaltenden Verwaltungsakt handelt, bei dem die Rechtsgestaltung keinen Raum für eine gesonderte Vollziehung lässt, die Ernennung vielmehr einen self-executing-Rechtsakt beinhaltet. Besteht bei vollziehbaren Verwaltungsakten ein verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch sowohl auf Beseitigung des Verwaltungsakts wie auch auf Beseitigung unmittelbarer Vollzugsfolgen, so drängt sich auch bei selfexecuting-Verwaltungsakten die Bejahung eines Beseitigungsanspruchs auf. Es mutet deshalb merkwürdig an, dass weder das BVerwG noch das BVerfG auf diesen sonst anerkannten verfassungsrechtlichen Beseitigungsanspruch rekurrieren und sich nicht einmal bemühen, darzulegen, weshalb ein Rückgriff auf ihn in Verbindung mit einer beamtenrechtlichen Konkurrentenklage ausscheiden soll. Rechtfertigen ließe sich diese Vorgehensweise der Rechtsprechung allenfalls unter der Voraussetzung, dass andere im Verfassungsrecht verankerte Rechtsprinzipien im speziellen Fall einer unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG zustande gekommenen Ernennung den Ausschluss des Beseitigungsanspruchs legitimierten und damit möglicherweise den Weg dafür frei machten, die beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften als abschließend zu verstehen.

bb) Vertrauensschutz des Ernannten rechtfertigt keinen Ausschluss des Beseitigungsanspruchs Trotz einer durch die Ernennung des weniger geeigneten Konkurrenten begründeten Rechtsverletzung des Mitbewerbers könnte dessen Anspruch auf behördliche Beseitigung der Ernennung des Konkurrenten möglicherweise dann durch den Gesetzgeber ausgeschlossen worden sein, wenn sich dies unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes rechtfertigen ließe. Der Vertrauensschutz stellt einen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips dar und scheidet wegen seiner Verfassungsschwere als Legitimationsbasis für einen Ausschluss von Beseitigungsansprüchen jedenfalls nicht von vorneherein aus. Er wird denn auch in der Tat zur Rechtfertigung des gesetzlichen Ausschlusses eines Beseitigungsanspruchs mit herangezogen88. Einer näheren Prüfung hält diese Begründung freilich nicht stand. Sie beruht auf einer verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren, sachlich nicht gerechtfertigten Überbetonung des Vertrauensschutzes eines unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG Ernannten. Der Vertrauensschutz kommt bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung im Hinblick auf deren Belastung durch das Anfechtungsrecht eines Dritten bzw. den diesem zustehenden Beseitigungsanspruch ___________ 88 So z. B. BVerwGE 81, 282, 284; Isensee, in: FG BVerwG, S. 337, 355; Pogrzeba, Konkurrentenklagen im Beamtenrecht, 1983, S. 101 ff.; krit. hierzu Schenke, Fälle zum Beamtenrecht, S. 32; Wieland, in: FS Blümel, S. 647, 657.

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sonst grundsätzlich nicht zum Tragen. Das spiegelt sich in der Vorschrift des § 50 VwVfG wider, die einen Vertrauensschutz des Begünstigten jedenfalls nach der Anfechtung durch den Drittbelasteten ausschließt89. Von daher gesehen hätte aber der Gesetzgeber den Vertrauensschutz des rechtswidrig Ernannten ebenso einschränken können wie er dies sonst bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung getan hat. Er wäre also keineswegs gezwungen gewesen, den Vertrauensschutz systemwidrig auf Kosten eines sonst gegebenen verfassungsrechtlichen Beseitigungsanspruchs zu absolutieren, wie dies aber dann der Fall ist, wenn man die beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften als abschließende Regelungen interpretiert. Ein derartiges Verständnis der beamtenrechtlichen Rücknahmebestimmungen beinhaltete jedenfalls keinen ausgewogenen Ausgleich zwischen dem verfassungsrechtlich garantierten, aus der subjektiven Rechtsqualität des (unmittelbar oder mittelbar) verletzten Grundrechts ableitbaren Beseitigungsanspruch und dem Vertrauensschutz des rechtswidrig Ernannten. Besonders deutlich wird dies daran, dass bei Bejahung eines den beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften zu entnehmenden argumentum e contrario die Rücknahme der Ernennung selbst mit Wirkung für die Zukunft – und zwar unabhängig von einem bestehenden Vertrauen des Ernannten – generell ausgeschlossen wäre. Dies träfe sogar dann zu, wenn die Ernennung unter Verstoß gegen eine einstweilige Anordnung erfolgte oder für den übergangenen Mitbewerber nicht einmal die Möglichkeit bestanden hatte, eine einstweilige Anordnung zu beantragen90, und dem ernannten Konkurrenten die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Dienstherrn von vorneherein bekannt war. Zur Rechtfertigung eines solchen Ergebnisses scheidet aber das Vertrauensschutzprinzip offensichtlich aus. Die Verfehltheit einer Berufung auf das Prinzip des Vertrauensschutzes wird bei einer unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung sogar besonders deutlich Dem zu Unrecht Ernannten wird nämlich bei einer Aufhebung seiner Ernennung in der Regel sogar ein weiterreichender Schutz zuteil, als er den durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt mit Drittwirkung Begünstigten sonst nach der Aufhebung seiner Begünstigung zukommt. Selbst bei einer rückwirkenden gerichtlichen Aufhebung der Ernennung kann das Recht die faktischen Beziehungen, die zwischen dem zunächst „Ernannten“ und seinem ___________ 89 Dazu, dass der Vertrauensschutz des Begünstigten in Bezug auf einen Dritte verletzenden, noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt selbst dann ausgeschlossen ist, wenn der Dritte den Verwaltungsakt noch nicht angefochten hat, s. Schenke, in: FS Maurer, S. 723, 735 ff. 90 S. hierzu auch Wernsmann, DVBl. 2005, 276, 283, der deshalb in diesem und entsprechenden anderen Fällen eine Rücknahme befürwortet, dabei aber nicht ausreichend beachtet, dass eine solche Differenzierung, für die sich im Tatbestand der beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften keine Anhaltspunkte finden, jedenfalls interpretatorisch nicht mehr zu bewerkstelligen ist.

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„Dienstherrn“ bestanden, nicht einfach negieren. Das sich nach der Aufhebung der Ernennung ergebende Rechtsverhältnis ist vielmehr bis zum Zeitpunkt seiner Aufhebung weitgehend dem bei Wirksamkeit der Ernennung bestehenden Beamtenverhältnis angeglichen. Seine Rückabwicklung dürfte, insbesondere was die Rückzahlung bereits empfangener Bezüge anbetrifft, in der Regel sogar gänzlich ausgeschlossen sein91. Die analoge Anwendung des § 14 S. 2 BBG bzw. entsprechender landesbeamtenrechtlicher Bestimmungen (s. z. B. § 16 Abs. 2 S. 2 LBG BW) bietet die rechtliche Handhabe, um dem diesbezüglichen Vertrauensschutz des zunächst zu Unrecht ernannten Konkurrenten Rechnung zu tragen92. All dies legt es nahe, einen sonst verfassungsrechtlich garantierten Beseitigungsanspruch auch bei einer unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung als nicht durch das Vertrauensschutzprinzip eingeschränkt anzusehen. Dem Vorrang des Beseitigungsanspruchs ist deshalb durch eine verfassungskonforme Auslegung der beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften Rechnung zu tragen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn man diesen keinen abschließenden Charakter beimisst. Demgegenüber wäre ein Vertrauen auf den Fortbestand der Ernennung allenfalls dann gerechtfertigt, wenn man die beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften als abschließend ansähe. Eine Berufung hierauf zur Rechtfertigung eines durch den Gesetzgeber zu beachtenden Vertrauensschutzes scheidet aber naturgemäß aus bzw. mündete in einen offensichtlichen Zirkel ein.

cc) Stabilität der Ämterorganisation und Funktionsfähigkeit der Verwaltung rechtfertigen keinen Ausschluss des Beseitigungsanspruchs Keine Rechtfertigung für einen Ausschluss des Rücknahmeanspruchs ergibt sich aus den Gesichtspunkten der Stabilität der Ämterorganisation sowie der Funktionsfähigkeit der Verwaltung93. Bei der Berufung auf den Grundsatz der Ämterstabilität bleibt bereits unklar, was dessen konkreter Inhalt ist und worauf ___________ 91 S. hierzu näher Brückner, Das faktische Dienstverhältnis, 1968, s. 107 ff.; Fromme, DÖD 1981, 169, 170; BVerwG, DÖV 1983, 898, 899. 92 S. auch Lecheler, DÖV 1983, 953, 955; Tegethoff, ZBR 2004, 341, 345. 93 So z. B. auch Battis, NJW 2002, 1085, 1089; Brinktrine, RiA 2003, 15, 17; Hermanns, NordÖR 2002, 108, 109; s. auch schon Schenke, in: FS Mühl, S. 571, 589 f.; Wieland, in: FS Blümel, S. 647, 656 f. Dagegen leiten z. B. BVerwGE 81, 282, 284; Pogrzeba, Konkurrentenklagen im Beamtenrecht, 1983, S. 108 ff.; Schnellenbach, ZBR 2002, 180, 181 und Siegmund-Schulze, VerwArch. Bd. 73 (1982), 137, 147 ff. sowie Grundmann, NordÖR 2002, 106 f. aus dem Gesichtspunkt der Ämterstabilität die Unanfechtbarkeit einer Ernennung durch den unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Mitbewerber ab.

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sich dieser gründet. Soweit man diesem Grundsatz nur entnehmen will, dass die Rücknahme einer Ernennung des Beamten nur dann zulässig ist, wenn sie nach den Beamtengesetzen erlaubt ist94, hilft die Berufung hierauf schon deshalb nicht weiter, weil es ja gerade strittig ist, ob die Beamtengesetze nur bei Vorliegen der in ihnen genannten Voraussetzungen eine Rücknahme der Ernennung erlauben. Die Berufung auf die Ämterstabilität liefe damit auf eine petitio principii hinaus. Davon abgesehen erscheint es aber auch durchaus zweifelhaft, ob die einfachgesetzlichen beamtenrechtlichen Rücknahmevorschriften, selbst wenn sie durch den Gesetzgeber als abschließend gewollt wurden, mittels eines Grundsatzes der Ämterstabilität verfassungsrechtlich überhöht werden können und eine Aufhebung einer unter Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung ausschließen, obschon dies zu einem Bruch mit anderen verfassungsrechtlich anerkannten Grundsätzen, wie der Existenz eines sonst bei Grundrechtsverletzungen verfassungsrechtlich begründeten Beseitigungsanspruchs führte. Leugnete man aber den Verfassungsprinzipcharakter der Ämterstabilität und verankerte diese nur im einfachen Gesetzesrecht, so ließe sich von hierher ein verfassungsrechtlich fundierter Anspruch eines Mitbewerbers auf Rücknahme der unter Verletzung von Art. 33 Abs. 2 GG zustande gekommenen Ernennung eines Konkurrenten von vorneherein nicht ausschließen. Denkbar ist aber auch, den Grundsatz der Ämterstabilität und einer mit ihr gekoppelten Funktionsfähigkeit so zu verstehen, dass die statusrechtliche Stellung von Beamten zur Vermeidung von Funktionsbeeinträchtigungen der Verwaltung nicht in der Schwebe bleiben soll, da dies zu einer jahrelangen Unsicherheit über die Ämtervergabe und damit verbundenen Folgeproblemen führen könnte95. Ein so konturierter Grundsatz der Ämterstabilität wäre in der Tat tangiert, wenn man mittels einer Anfechtungsklage durchsetzbare Rücknahmeansprüche übergangener Mitbewerber annähme. Freilich bliebe dabei unklar, wo dieser Grundsatz verfassungsrechtlich zu verankern sein soll96. Seine Verankerung in einem der Verfassung zu entnehmenden Prinzip der Verwaltungseffizienz erweckte schon insoweit Bedenken, als die Existenz eines solchen Verfassungsprinzips durchaus zweifelhaft erscheint97, diesem bei seiner Bejahung aber jedenfalls wegen seiner Abstraktionshöhe die nötige Konturenschärfe fehlte98, um hieraus so konkrete Folgerungen zu ziehen, wie sie mit der Ab___________ 94

So z. B. Schnellenbach, ZBR 2002, 180, 181. So z. B. Lemhöfer, ZBR 2003, 14, 16. 96 Dazu, dass Praktikabilitätserwägungen eine durch Art. 33 Abs. 2 GG begründete Rechtsstellung nicht beschränken können, weil ihnen die Dignität des Verfassungsrechts abgeht, s. auch Wieland, in: FS Blümel, S. 647, 656 f. 97 Für die Existenz eines solchen Verfassungsprinzips aber z. B. Häberle, in: Verwaltungsverfahren, FS zum 50jährigen Bestehen des Boorberg Verlages, 1977, S. 47, 80 f.; Schmidt-Aßmann, VVDStRL Bd. 34 (1976), S. 221, 229 f.; Schwarze, DÖV 1980, 590 f. 98 S. hierzu näher Schenke, VBlBW 1982, 313, 316 f. 95

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lehnung eines Klagerechts des Mitbewerbers gegen eine erfolgte Ernennung verbunden sind. Dies gilt umso mehr als die Bejahung eines solchen Klagerechts des Mitbewerbers bei näherer Hinsicht sogar – wie noch zu zeigen sein wird (s. auch schon oben unter II, 4) – die Funktionsfähigkeit der Verwaltung steigern würde99. Schon aus diesem Grund scheitert auch die Ableitung der Ämterstabilität aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip100, die eine wirksame Erfüllung des Amtsauftrages der Verwaltung gewährleisteten. So wünschenswert dieses abstrakte Postulat im Übrigen auch sein mag, so lassen sich hieraus jedenfalls keine konkreten rechtlichen Folgerungen für die Lösung der hier untersuchten Problematik ziehen. Die gegenteilige Ansicht blendet zudem zu Unrecht das Spannungsverhältnis zu anderen Inhalten dieser verfassungsrechtlichen Prinzipien aus. Sie verkennt damit, dass sowohl das Prinzip der Bestenauslese wie auch seine Absicherung durch Beseitigungsansprüche gleichfalls unschwer einen Brückenschlag zum Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip erlauben. Sie weisen dabei einen weit substantielleren Rechtsgehalt auf, als eine vorgeblich in diesen Strukturprinzipien verankerte Ämterstabilität. Dass die Zulassung eines Klagerechts eines Mitbewerbers gegen die Ernennung eines Konkurrenten gegen das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip und damit auch gegen die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verstößt, kann denn wohl auch schwerlich behauptet werden und macht die Überfrachtung dieser Prinzipien besonders deutlich. Als Basis für eine verfassungsrechtliche Verankerung eines Grundsatzes der Ämterstabilität käme damit – wenn überhaupt – wohl nur noch Art. 33 Abs. 5 GG in Betracht101. Wie später noch zu zeigen sein wird (s. unten dd), scheidet aber die Berufung auf die institutionelle Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums in Verbindung mit der beamtenrechtlichen Konkurrentenklage wegen des insoweit gänzlich veränderten verfassungsrechtlichen Um___________ 99 Soweit sich unter dem Aspekt der Ämterstabilität erhobene Bedenken gegen ein der Durchsetzung von Beseitigungsansprüchen dienendes Anfechtungsrecht darauf stützen, dass hiernach der Kreis potentiell Anfechtungsberechtigter nur schwer zu bestimmen sei und deshalb die Ernennung sehr lange in der Schwebe bleiben könne, ließe sich dem unschwer durch eine Ausschreibung der zu besetzenden Stellen begegnen. Zudem kann das Anfechtungsrecht verwirkt werden. Im Übrigen stellt sich das Problem der Abgrenzung des Bewerberkreises aber ebenso in Bezug auf einen vorbeugenden Rechtsschutz gegen die Ernennung, denn auch hier ist die Verwaltung verpflichtet, potentielle Bewerber von der bevorstehenden Ernennung eines Konkurrenten zu informieren und läuft bei Unterlassung einer entsprechenden Information nach der neueren Rechtsprechung (s. OVG Münster, NJOZ 2006, 64, 67 f.) Gefahr, zur Schaffung einer neuen Planstelle verurteilt zu werden (s. auch oben I und II, 3). 100 Für sie aber BAG, NZA 2003, 324, 325. 101 Dafür z. B. Schnellenbach, ZBR 2002, 180, 181; prinzipiell auch Wernsmann, DVBl. 2005, 276, 282.

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felds aus. Ohnehin sieht Art. 33 Abs. 5 GG nur eine „Berücksichtigung“ der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums bei der Regelung des Beamtenverhältnisses vor und lässt ausdrücklich Raum für dessen Fortentwicklung. Das hat insbesondere dann zu gelten, wenn der Anstoß für eine Fortentwicklung sich nicht nur aus dem einfachen Gesetzesrecht, sondern bereits aus der Verfassung ergibt. Deshalb lässt sich auch auf diese Weise ein Ausschluss grundrechtlich begründeter Beseitigungsansprüche nicht legitimieren. Die Berufung auf die Ämterstabilität und die Funktionsfähigkeit der Verwaltung würde aber selbst dann, wenn man einen diesbezüglichen Brückenschlag zur Verfassung noch für möglich ansähe, dennoch nicht den völligen Ausschluss des Beseitigungsanspruchs, wie er mit der Verneinung eines Klagerechts von Mitbewerbers verbunden ist, rechtfertigen. Zwar bleibt bei der Bejahung eines repressiven Rechtsschutzes die Wirksamkeit der Ernennung des Konkurrenten zunächst in der Schwebe. Diesbezüglich geäußerte Bedenken verlieren aber schon dadurch erheblich an Gewicht, dass ein Anspruch auf Rücknahme einer unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG erfolgten Ernennung eines Konkurrenten schon wegen des weitreichenden Beurteilungs- und Ermessensspielraums der Verwaltungsbehörde nur in seltenen Fällen Erfolg beschieden sein wird, was freilich nicht bedeuten kann, diese als quantité négligeable außer Acht zu lassen und generell einen Beseitigungsanspruch auszuschließen. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang zudem, dass bei einer Anfechtung der Ernennung des Konkurrenten regelmäßig die Voraussetzungen für eine sofortige Vollziehung der Ernennung durch den Dienstherrn wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses, aber auch eines überwiegenden Interesses des ernannten Konkurrenten vorliegen werden102. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung wird sich in der Regel bereits aus dem Topos der Funktionsfähigkeit und Effizienz der Verwaltung ergeben, die für einen sofortigen dienstlichen Einsatz des Ernannten sprechen. Ein solcher liegt auch im Interesse des Ernannten. Demgegenüber ist das Interesse des übergangenen Bewerbers an einer vorläufigen Aussetzung der Ernennung regelmäßig geringer zu veranschlagen. Ihm wird durch die vorläufige Suspendierung der Ernennung seines Konkurrenten nicht gedient, da er allein hiermit seine eigene Ernennung zunächst noch nicht erreichen kann und auch im Übrigen seine Rechtsstellung nicht verbessert. Sowohl dem öffentlichen Interesse an der baldigen Besetzung einer Stelle zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung wie auch dem Interesse des durch den Dienstherrn ausgewählten Bewerbers lässt sich jedenfalls bei Be___________ 102 S. auch Finkelnburg, DVBl. 1980, 809, 812; Schenke, Fälle zum Beamtenrecht, 2. Aufl., S. 31; Schick, DVBl. 1975, 747; Solte, ZBR 1972, 114; Tegethoff, ZBR 2004, 341, 344.

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jahung eines auch repressiven Rechtsschutzes übergangener Mitbewerber weit eher Rechnung tragen als bei deren ausschließlicher Verweisung auf einen nur präventiven Rechtsschutz. In dessen Konsequenz müsste bei Offenheit seiner Erfolgsaussichten103 auf Antrag eines übergangenen Mitbewerbers eine einstweilige Anordnung erlassen werden, mit welcher die Ernennung des durch den Dienstherrn ausgewählten Bewerbers unterbunden wird. Dies wirkte sich – wie schon oben unter II 4 angeklungen – zum Nachteil des Dienstherrn wie auch des von ihm Ausgewählten aus, ohne dass dem übergangenen Mitbewerber durch die vorläufige Unterbindung der Tätigkeit des Konkurrenten als solcher ein unmittelbarer Vorteil erwachsen würde. Zugleich würden hierdurch aber auch Interessen der Allgemeinheit tangiert, die auf eine effiziente und funktionsfähige Verwaltung angewiesen ist. Die speziell unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit der Verwaltung bestehenden Bedenken gegen die Verneinung eines repressiven Rechtsschutzes verstärken sich noch weiter, wenn man sich die durch die neuere bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung aus der Unanfechtbarkeit einer Ernennung gezogenen Konsequenzen vor Augen hält. Wenn nach dieser bei einer Vereitelung eines vorläufigen Rechtsschutzes des Mitbewerbers sogar eine Doppelernennung geboten sein kann, wird zusätzlich deutlich, dass die Funktionsfähigkeit der Verwaltung nicht etwa gegen einen repressiven Rechtsschutz von Mitbewerbern, sondern ganz im Gegenteil für einen solchen spricht. Wie wenig überzeugend die Berufung auf die Funktionsfähigkeit der Verwaltung ist, welche durch eine durch die Zulassung repressiven Rechtsschutzes gegen die Ernennung eines Konkurrenten angeblich gefährdet wird, zeigt ein Blick auf das Gemeinschaftsrecht, in dem der Europäische Gerichtshof104 seit Jahrzehnten ein Klagerecht des erfolglosen Mitbewerbers anerkennt, ohne dass es hierbei zu Belastungen der Funktionsfähigkeit der Verwaltung gekommen ist. Der Schwebezustand, der sich bei Bejahung einer gegen eine bereits erfolgte Ernennung gerichteten Konkurrentenklage übergangener Mitbewerber ergibt und die hieraus resultierenden Folgeprobleme stellen im Übrigen selbst im Beamtenrecht keine Besonderheit dar. Dieselben Probleme müssen sich hier dann ergeben, wenn ein Beamter entlassen oder in den einstweiligen Ruhestand versetzt wird, die von ihm innegehabte Stelle inzwischen anderweitig besetzt wird und der Entlassene bzw. in den einstweiligen Ruhestand Versetzte sich hiergegen mit Erfolg zur Wehr gesetzt hat. Bei einem solche Fall entspricht es der ganz h. M., dass die Ämterstabilität der Aufhebung der Entlassung bzw. der ___________ 103

BVerfG, NVwZ 2006, 1401, 1403 unter Berufung auf BVerfG, NVwZ 2004,

1109. 104 EuGHE 1964, 277, 290; 1974, 1099; s. hierzu auch Schick, DVBl 1975, 741 ff.; Schenke, Fälle zum Beamtenrecht, 2. Aufl. S. 32; Wieland, in: FS Blümel, 647, 657.

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Versetzung in den einstweiligen Ruhestand nicht im Wege steht. So hat denn auch das BVerwG in seiner Entscheidung vom 13.09.2001, bei der es sich mit einer Anfechtungsklage eines politischen Beamten gegen seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand zu befassen hatte, ausgeführt, dass der Erfolg einer solchen Klage nicht dadurch ausgeschlossen werde, dass die Stelle inzwischen aufgehoben sei und es nicht angehe, dass der Dienstherr durch rechtswidriges Verhalten vollendete Tatsachen schaffe und dadurch den effektiven Rechtsschutz des Betroffenen vereitele105. Bezeichnenderweise hat es in derselben Entscheidung – im Hinblick auf die auch von ihm gesehene vergleichbare Interessenklage sicher nicht zufällig – in einem obiter dictum erwogen, seine bisherige Rechtsprechung zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage zu ändern und eine Anfechtung einer einmal erfolgten Ernennung durch einen Mitbewerber zuzulassen. In der Tat besteht unter dem Gesichtspunkt der Ämterstabilität hier kein Anlass zu Differenzierungen. Ein repressiver Rechtsschutz und eine in dessen Konsequenz mögliche rückwirkende Aufhebung einer bereits erfolgten Ernennung fällt umso leichter, als sie keine Auswirkungen auf die Diensthandlungen hat, die durch den zunächst rechtswidrig Ernannten getätigt wurden. Die Wirksamkeit der Amtshandlungen des ernannten Beamten vor Aufhebung der Ernennung werden hiermit nicht in Frage gestellt, wie die analog anwendbare Regelung des § 14 Abs. S. 1 BBG und die ihr entsprechenden Vorschriften in den Beamtengesetzen der Länder (s. z. B. § 16 Abs. 2 S. 1 BWLBG) zeigen106.

dd) Hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums rechtfertigen keinen Ausschluss des Beseitigungsanspruchs Gelegentlich werden auch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) bemüht, um eine Konkurrentenklage nach erfolgter Ernennung eines Mitbewerbers auszuschließen107. Auch dies vermag freilich – ___________ 105

BVerwG, NVwZ 2002, 604, 605. Für einen repressiven Rechtsschutz gegen die Ernennung der Konkurrenten spricht schließlich auch der Umstand, dass ein repressiver Rechtsschutz eines übergegangenen Bewerbers gegen die Besetzung eines höherwertigen Dienstpostens durch einen Mitbewerber im Vorgriff auf dessen beabsichtigte Beförderung nach heute einhelliger Meinung als zulässig angesehen wird, vgl. hierzu Schenke, in: FS für Stober, 2008, S. 221, 237 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, § 42, Rdnr. 50 a.E. 107 BVerwGE 81, 282, 284; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, S. 476 („Rechtsbeständigkeit der Ernennung als Kernelement der Personalhoheit und damit auch als ein Bestandteil der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“); Zängl, in: Fürst, GKÖD, Bd. I, Rdnr. 116 zu § 8 BBG; für grundsätzlich einschlägig angesehen wird dieser Grundsatz auch durch Wernsmann, DVBl. 2005, 276, 106

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wie oben unter cc) schon angedeutet – nicht zu überzeugen. Die Berufung auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums knüpft an solche Rechtsgrundsätze an, die jedenfalls bereits unter der Weimarer Reichsverfassung anerkannt waren. Sie scheidet aber dann aus, wenn sich das verfassungsrechtliche Umfeld gegenüber dem in der Weimarer Reichsverfassung bestehenden grundsätzlich verändert hat. Eben dies trifft aber in Bezug auf die Problematik eines Klagerechts eines Mitbewerbers gegen eine erfolgte Ernennung eines Konkurrenten zu. Anders als Art. 33 Abs. 2 GG wurde Art. 128 Abs. 1 WRV durch die h. M.108 lediglich als ein Recht auf Bewerbung verstanden. Die Ernennung eines weniger qualifizierten Konkurrenten konnte damit von vorneherein keine Verletzung der Rechte übergangener befähigterer Mitbewerber begründen. Zudem war damals die Existenz eines kraft Verfassungsrechts bestehenden materiellrechtlichen Beseitigungsanspruchs nicht anerkannt und der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz überdies nicht mit dem heute durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutz vereinbar. Die Verfehltheit einer Berufung auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums wird schließlich auch daran deutlich, dass unter der WRV ein vorbeugender Rechtsschutz gegenüber der Ernennung eines Konkurrenten von niemandem ins Auge gefasst wurde, ja außerhalb des Bereichs des Vorstellbaren lag. Dennoch sieht sich die heute h. M. hierdurch aber nicht gehindert, einen solchen Rechtsschutz anzuerkennen.

ee) Persönlichkeitsschutz des Konkurrenten rechtfertigt keinen Ausschluss des Rücknahmeanspruchs Nicht durchschlagend ist schließlich auch das Argument Isensees109, der Zulässigkeit einer Konkurrentenklage stehe das Persönlichkeitsrecht des Konkurrenten im Wege. Dieses Argument müsste bei seiner Richtigkeit gleichermaßen gegenüber einem präventiven Rechtsschutz eines übergangenen Bewerbers um eine Beamtenstelle gelten und diese ausschließen, wird aber in diesem Zusammenhang heute von niemandem mehr benutzt, um auch einen solchen Rechtsschutz auszuschließen. Ohne die Möglichkeit eines Eignungsvergleichs, die eine Befassung mit der Person des ernannten Konkurrenten und seiner Eignung zwingend erforderlich macht, würde Art. 33 Abs. 2 GG leer laufen. Jeder, der sich um eine Ernennung bemüht, weiß im Übrigen, dass er sich damit einem Leistungsvergleich zu stellen hat und willigt damit konkludent in einen solchen ___________ 282, der allerdings für seine Einschränkung plädiert, wenn für den übergangenen Mitbewerber keine Möglichkeit zur Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes bestand. 108 Vgl. z. B. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 128, Anm. 2. 109 Isensee, in: FG BVerwG, 1978, S. 337, 355.

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ein. Würden bei einem solchen Eignungsvergleich besondere persönliche Umstände bedeutsam werden, an denen ein besonderes Geheimhaltungsinteresse des Konkurrenten anzuerkennen wäre, stünde im Übrigen das in-cameraVerfahren des § 99 VwGO zur Klärung sich hier ergebender Fragen zur Verfügung.

IV. Resümee Als Ergebnis unserer Überlegungen zeigt sich damit, dass der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, die sich für einen Ausbau des vorbeugenden und vorläufigen Konkurrentenrechtsschutzes ausspricht, jedenfalls dann beizupflichten ist, wenn man einen repressiven Rechtsschutz gegen eine bereits erfolgte Ernennung des Konkurrenten grundsätzlich ablehnt. In der Logik einer solchen Konzeption liegt es auch, dass dort, wo eine Ernennung eines weniger geeigneten Konkurrenten unter Missachtung einer einstweiligen Anordnung erfolgte oder der übergangene Mitbewerber gar nicht die Möglichkeit zu Beantragung einer einstweiligen Anordnung gegen eine inzwischen erfolgte Ernennung eines Konkurrenten besaß, dem Mitbewerber nicht die Möglichkeit eines wirksamen Rechtsschutzes genommen werden darf. Er darf deshalb nicht lediglich auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Ablehnung sowie auf Schadensersatzansprüche verwiesen werden. Sehr problematisch ist aber, wenn das BVerwG dem Betroffenen die Möglichkeit zur Anfechtung der Ernennung des Konkurrenten verwehrt und ihm stattdessen einen Anspruch auf Schaffung einer neuen Planstelle einräumt. Nicht zu übersehen ist jedenfalls, dass sich dieser Lösungsweg keineswegs immer beschreiten lässt und zudem zu dogmatischen Brüchen führt. Überdies erweckt er sowohl unter haushaltsrechtlichen wie auch unter praktischen Gesichtspunkten erhebliche Bedenken und gefährdet die Funktionsfähigkeit der Verwaltung. Die sich hier ergebenden Schwierigkeiten lassen sich nur dann vermeiden, wenn man im Einklang mit den sonst für den Konkurrentenrechtsschutz anerkannten Grundsätzen dem unter Verletzung des Art. 33 Abs. 2 GG übergangenen Mitbewerber einen Anspruch auf Rücknahme der Ernennung des Konkurrenten zubilligt. Für diese Lösung spricht, dass die Ernennung des Konkurrenten die geeigneteren Mitbewerber in ihrem durch Art. 33 Abs. 2 GG gewährleisteten Recht verletzt. Diese Rechtsverletzung hat einen verfassungsrechtlich garantierten Beseitigungsanspruch (Rücknahmeanspruch) der Mitbewerber zur Folge. Dessen Ausschluss lässt sich weder unter Berufung auf den Vertrauensschutz des Betroffenen noch zur Wahrung der Stabilität der Ämterorganisation, der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung, zur Wahrung hergebrachter Grundsätze des Berufsbeamtentums sowie des Persönlichkeitsschutz des ernannten Konkurrenten legitimieren.

Selbstverwaltungsgarantie und Kreisgebietsreform* Von Maximilian Wallerath, Greifswald

I. Einführung Organisationsrechtliche Fragen haben Friedrich E. Schnapp immer wieder intensiv beschäftigt.1 Das gilt auch für die kommunale Ebene.2 Organisationsakte, die auf eine gebietliche Veränderung kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften zielen, nehmen innerhalb des Organisationsrechts eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu den meisten sonstigen Organisationsentscheidungen trifft hier staatliche Gestaltungsmacht auf eine normativ-institutionelle Vorprägung der zu ändernden oder aufzuhebenden Gebilde. Zugleich verbindet sich die subjektiv-rechtliche Dimension der einzelnen betroffenen Einheiten mit der institutionellen Dimension. Abstrakte und konkrete Entscheidungselemente amalgamieren und fordern ein Austarieren unterschiedlicher Belange. Auch empirisch zeigen kommunale Gebietsreformen Auffälligkeiten: Sie folgen eigenen Zyklen, erzeugen eine Länder übergreifende Breitenwirkung und stehen häufig unter ähnlichen Leitmotiven.3 Dass die Diskussion periodisch wiederkehrt, kann nicht überraschen: Institutionen bewegen sich zwischen ständiger Erneuerungsbedürftigkeit und der Notwendigkeit einer gewissen Konsolidierung. Während es sich dabei vielfach um ein Ergebnis organisa___________ * Friedrich E. Schnapp in freundlicher Erinnerung an eine anregende, gemeinsame Assistententätigkeit an der Ruhr-Universität Bochum in den Jahren 1969 – 1971. 1 Neben seinen zahlreichen Beiträgen zu Fragen des Organisationsrechts im Bereich der Sozialversicherung hat der Jubilar in verschiedenen Arbeiten zu grundlegenden Problemen des Organisationsrechts Stellung bezogen; vgl. etwa: Amtsrecht und Beamtenrecht. Eine Untersuchung über normative Strukturen des staatlichen Innenbereichs, Berlin 1977, sowie: Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 105 (1980), S. 243 ff. 2 Das Kommunalrecht war insbesondere in seinen frühen Arbeiten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, z.B. Die Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht, Herford 1972; Zuständigkeitsverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden, Frankfurt 1973. 3 Treffend W. Löwer/J. Menzel, ZG 1997, 90, 91.

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tionellen Lernens handelt, gehen kommunale Gebietsreformen regelmäßig auf heteronome – staatliche – Anpassungs- oder Änderungsentscheidungen zurück. Nach den Gebietsreformen im Westen zwischen 1963 und 1978 folgten in den Jahren 1993 und 1994 Gebietsreformen in den neuen Bundesländern. Die Reformen verzichteten auf einen Neuzuschnitt der Gemeinden, reagierten aber auf die dort vorgefundene geringe Größe der Kreise, die Ergebnis einer Verwaltungsreform der DDR im Jahre 1952 war. Die Reformen der Kreisebene bewegten sich in den traditionellen Mustern und Größenordnungen; die Zahl der Kreise wurde von insgesamt 189 auf 86 reduziert.4 Inzwischen ist eine neue Reformphase erreicht, die die politische Entscheidungslandschaft in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein erfasst hat:5 So hat das Land Sachsen-Anhalt erst unlängst eine weitere Anpassung der Kreise mit einer Reduktion von 21 auf 11 vorgenommen – die Opposition hatte fünf Großkreise vorgeschlagen.6 Sachsen hatte zunächst eine deutlich einschneidere Lösung mit insgesamt fünf Großkreisen ins Auge gefasst, um sich schließlich – nach Einsetzung einer Expertenkommission – mit einer Reform zu begnügen, die eine Reduktion von 22 auf 10 Kreise und drei kreisfreie Städte vorsieht.7 Das Funktional- und Kreisgebietsreformgesetz Mecklenburg-Vorpommern vom 23.5.20068 sah neben einer weitreichenden Funktionalreform vor, im Jahre 2009 die bisherigen zwölf Landkreise und sechs kreisfreien Städte zu fünf Kreisen zusammenzulegen. Das Verfassungsgericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat die Regelung in seiner Entscheidung vom 27. Juli 20079 als mit der Verfassung des Landes unvereinbar erklärt. In Schleswig-Holstein ist eine landesweite Kreisgebietsreform geplant, deren Konturen im Einzelnen allerdings noch nicht feststehen. Eine der leitenden Ideen der neuerlichen Reformen ist der „Regionalkreis“. Diese Vorstellung ist nicht neu – sie hat eine rd. 30 Jahre umfassende Vorge-

___________ 4

Näher G. Püttner, SächsVBl 1993, 193, 194. Vgl. Hubert Meyer, LKV 2005, 233; M. Miller, LKV 2005, 478 ff; s. a. H. Jochum, DÖV 2005, 632 ff. 6 Hubert Meyer, LKV 2005, 233. 7 Zur Vorgeschichte: W.-U. Sponer, LKV 2006, 337 ff. 8 Art.1 des Ges. zur Modernisierung der Verwaltung des Landes M-V, GVOBl 2006, 194. 9 LVerfG M-V, Urt. v. 26.7.2007 - LVerfG 7/06-19/06, DVBl. 2007, 1102 (m. Bespr. von B. Stüer, S. 1267 = LKV 2007, 457, 458 = NVwZ 2007, 1054 [LS] mit Bespr. von Hubert Mayer, NVwZ 2007, 1024 f; s. a. H.P. Bull, DVBl 2008, 1 ff.; W. Erbguth, DÖV 2008, 152 ff.; W. März, NJ 2007, 433 ff.; Hans Meyer, NVwZ 2008, 24 ff.; V. Mehde, NordÖR 2007, 331 ff.; H. Schönfelder/A. Schönfelder, SächsVBl. 2007, 249 ff). Der Verfasser hat an der Entscheidung mitgewirkt. 5

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schichte.10 Aber sie hat doch eine neue Dynamik entwickelt. Diese speist sich aus verschiedenen Quellen: Als harte Faktoren wirken die demographische Entwicklung und fiskalische Zwänge auf die Diskussion ein. Als weicher Faktor lässt sich die allgemein gewandelte oder gesunkene Problemlösungsfähigkeit des Staates ausmachen.11 Sie verleitet zu einem Denken in größeren Räumen, das eine gewisse Parallelisierung zu der – freilich ganz anders gelagerten – Debatte um die Regionen in Europa aufweist. Die derzeitige Kleinteiligkeit der Kommunen lasse eine Verlagerung der Landesaufgaben nach unten nicht zu und verlange eine Korrektur hin zu größeren Einheiten – dies nicht zuletzt angesichts des zu erwartenden Bevölkerungsrückgangs. Neue Aufgaben im Umweltschutz wie auch im Bereich der Gefahrenvorsorge und -abwehr seien in den bisherigen Strukturen nicht zu leisten. Namentlich die Regional- und Strukturplanung sei in den überkommenen Organisationsformen überfordert.

II. Kreise und Kreisgebietsreformen Kreisgebietsreformen standen stets in einem engen Zusammenhang mit Funktionalreformen sowie der Verortung der Städte im Kreis (insbesondere mit der Stadt-Umland-Problematik).12 Im Westen ist man dabei – auf der Grundlage verschiedener Gutachten13 – unterschiedliche Wege gegangen. Bis heute kann freilich als offene Frage gelten, wie der Erfolg der unterschiedlichen Ansätze zu bewerten ist. Pauschale Kritik steht gegen ebenso pauschales Lob. Die einschlägigen Einzeluntersuchungen zur Wirkung der Reformen sind eher ernüchternd.14 Mit Recht wurde verschiedentlich konstatiert, dass die Würdigungen „Gesamtentwicklung und partizipatorische Aspekte“ weitgehend ausblendeten.15 ___________ 10

Siehe H.-U. Evers, DVBl 1969, 765 ff; K. Lange, DÖV 1996, 684; U. Scheuner, in: Die Verwaltungsregion, 1967, S. 11 f.; F. Schoch, in: ders. (Hg.) Selbstverwaltung der Kreise in Deutschland, 1996, S. 25, 26, 28; M. Schröder, VR 1977, 294, 295; F. Wagener, Die Städte im Landkreis, 1955, S. 101 ff. 11 H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, DV Beiheft 7, 2007, S. 11, 23. 12 Dazu A. Kasper, DÖV 2006, 589 ff. 13 Nachw. bei A. v. Mutius, Gutachten E zum 53. DJT, 1980, E 60 f. 14 Mit möglichen Effizienzgewinnen der Reformen befassen sich namentlich P. Eichhorn/H. Siedentopf, Effizienzeffekte der Verwaltungsreform (Rheinland-Pfalz), Gutachten für die Staatskanzlei der Landes Rheinland-Pfalz, 1976, S. 113; H. Kappe, Wirtschaftlichkeitsanalysen zur Gebiets- und Funktionalreform, 1980; W. Thieme/ G. Prillwitz, Durchführung und Ergebnisse der kommunalen Gebietsreform, 1981; zusammenfassend F. Wagener, DÖV 1983, 745, 748 Fn. 14 ff.; D. Gunst, AfK 29 (1990)m 189, 204 jew. m. w. N. 15 v. Mutius (Fn. 13) E 74; Püttner, SächsVBl 1993, 194; Schröder, VR 1977, 294.

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Die in ein neues Stadium eingetretene Diskussion legt einen Blick auf die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen nahe. Dass die Verwaltung sich ständig wandelnden Einflüssen der Umwelt ausgesetzt ist und diese adäquat zu verarbeiten imstande sein muss, ist nicht identisch mit einem Automatismus struktureller Reorganisation. Es gibt keinen ausschließlich funktionalen Sachzwang, wo verfassungsrechtlich geschützte Positionen im Raume stehen. Kommunale Reorganisation kann damit unter der Geltung des Grundgesetzes nur Ergebnis einer Abwägung sein. Was die Befassung mit der Thematik besonders reizvoll, aber herausfordernd macht, ist die Verbindung der subjektivrechtlichen mit der institutionellen Dimension, die – nicht zufällig – die geschichtliche Entwicklung stets als kontextuellen Problemhintergrund mit zu bedenken hat.16 Die Kreise haben sich in der Neuzeit aus ständischen Vorbildern über staatliche Verwaltungsbezirke zu eigenständigen kommunalen Einrichtungen entwickelt.17 Ihre größere Nähe zur staatlichen Organisationsstruktur erklärt, weshalb die Kreisebene stets einer gewissen Labilität unterworfen war.18 Während die Landgemeinden bereits unter der Geltung des ALR als Gebietskörperschaften anerkannt waren, brachte erst die preußische Kreisordnung vom 13.12.187219 – nach langen Kämpfen – eine nachhaltige Regelung zur Körperschaftlichkeit der Landkreise. Sie lebte von der Vorstellung einer Übertragung der Grundidee der Stein’schen Städteordnung auf ländliche Gebiete, auch wenn die Verschiedenheit der Bedürfnisse von Stadt und Land ein differenziertes Vorgehen im Einzelnen forderte.20

III. Verfassungsrechtlicher Schutz der Kreise Der Schutzbereich des Art. 28 Abs. 2 GG ist dreidimensional angelegt: Zum einen umfasst er die Garantie eines bestimmten gemeindlichen Aufgabenbereichs und einer typischen Funktionsweise gemeindlicher Betätigung – allgemein als „Rechtsstellungsgarantie“ bezeichnet.21 Zum zweiten die Garantie, dass es „Gemeinden“ als solche gibt – die so genannte „Rechtssubjektgarantie“. Beide sind Ausformungen der institutionellen Selbstverwaltungsgarantie, d. h. sie beziehen sich auf das Vorhandensein und die Ausstattung einer ___________ 16

Vgl. nur BVerfGE 59, 216, 226 f.; 86, 90, 107. Informativ C. Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, 1903, S. 206 ff.; Evers, DVBl 1969, 766 f. 18 Näher B. Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004, S. 24 ff. 19 PreußGS 661. Näher Rothe (Fn. 18) S. 27. 20 R. Gneist, Die preußische Kreis-Ordnung in ihrer Bedeutung für den inneren Aufbau des deutschen Verfassungs-Staates, 1870, S. 22 ff. 21 Statt vieler: K. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 408 f. 17

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Institution mit bestimmten typusbestimmenden Merkmalen.22 Der institutionelle Garantiegehalt wird auf einer dritten Gewährleistungsebene verstärkt durch den individualrechtlichen Schutz der einzelnen Gemeinde gegenüber einer rechtswidrigen Beeinträchtigung eigenverantwortlicher Betätigung. Ihm entspricht zwar nicht die Garantie des Bestandes jeder einzelnen Kommune, wohl aber der Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen in die garantierte Rechtsstellung der einzelnen Gemeinde. Dies ist im Ergebnis allgemein anerkannt23. Tatsächlich ist im Grundgesetz selbst bereits die individualrechtliche Verstärkung der institutionellen Garantie im Sinne eines Abwehrrechts gegenüber einer rechtswidrigen Beeinträchtigung eigenverantwortlicher kommunaler Betätigung angelegt.24 Damit ist auch ein beschränktes individuelles Recht auf Abwehr eines ungesetzlichen Eingriffs in den eigenen Bestand verbunden: Nicht der „status quo in all seinen kontingenten Erscheinungen“ ist geschützt,25 sondern das Recht, in diesem nicht ohne Einhaltung der dafür geltenden Voraussetzungen beeinträchtigt zu werden. Die individuelle Garantie gewinnt ihre Maßstäblichkeit vor allem von der institutionellen Garantie her; die betroffenen Kommunen werden auf diese Weise zugleich zu Sachwaltern der Einhaltung der institutionellen Garantie gemacht. Die inhaltliche Ausgestaltung dieses Schutzes hängt damit wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich,26 von der näheren Ausformung der Rechtsstellungsgarantie ab. Dies gilt es auch bei der Frage der Zulässigkeit von Gebietsänderungen im Blick zu behalten. Die Verfassungsgerichte27 haben die Kreise – ebenso wie der ganz überwiegende Teil des Schrifttums28 – in diese Garantie stets mit einbezogen29. Zwar ___________ 22

Zum institutionellen Garantiegehalt: StGH für das Deutsche Reich, RGZ 126, Anh. S. 14, 22 f.; BVerfGE 79, 127, 143; R. Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, S. 193 ff.; J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 242; W. Löwer, in: v. Münch/Kunig (Hg.), GG Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 28 Rn. 39; E. Schmidt-Aßmann, in: ders. (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, 1. Kap., Rn. 8 ff; Stern (Fn. 21) S. 408 f. 23 Eher verwirrend BVerfGE 86, 90, 107: „institutionelle, keine individuelle Garantie“. Zutreffend ThürVerfGH, LVerfGE 7, 361, 380; J. Ipsen, in: Meyer/Wallerath (Hg.), Gemeinden und Kreise in der Region, 2004, S. 17, 19 f.; Schmidt-Aßmann (Fn. 22) Rn. 11. 24 Siehe Art. 28 Abs. 2 Satz 1 und 2 („Recht“), Art. 94 Abs. 1 Nr. 4 b GG. 25 Isensee (Fn. 22), S. 246. 26 Insoweit übereinstimmend H. Maurer, DVBl. 1995, 1037, 1041; abweichend U. Mager, Einrichtungsgarantien – Entstehung, Wurzeln, Wandlungen und grundgesetzgemäße Neubestimmung einer dogmatischen Figur des Verfassungsrechts, 2003, S. 335. 27 BVerfGE 83, 363, 383; BayVerfGH, DVBl 1975, 28, 35; BdgVerfG, LVerfGE 2, 143 ff.; LKV 1995, 75; StGH BW, ESVGH 23, 1 ff.; NdsStGH, StGHE 2, 1, 144; SächsVerfGH, LKV 1995, 115; ThürVerfGH, NVwZ-RR 1997, 639 ff. 28 Siehe E. Becker, in: Hdb der Kommunalen Wissenschaft und Praxis I, 1956, S. 139, 143 f.; Hendler (Fn. 22) S. 206; P. Lerche, DÖV 1969, 46, 52; Rothe (Fn. 18) S. 65 m. w. N. in Fn. 320; im Erg. auch K. Stern, in: Der Kreis, Bd. 1, 1972, S. 156,

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weisen Gemeindeverbände nicht den gleichen Grad der „Natürlichkeit“ auf wie die Gemeinden; auch ist deren Aufgabenkreis anfälliger gegenüber staatlichen Ingerenzen als bei letzteren. Bezieht man indessen Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG mit in die Überlegung ein, so sollte keinem Zweifel unterliegen, dass die vom Grundgesetz vorgefundene Kreisstruktur in den Flächenstaaten von der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 28 GG Abs. 2 GG mit erfasst ist.30 Zwar wird die Bestimmung teilweise auch so gedeutet, als formuliere sie bestimmte Legitimationsanforderungen nur für den Fall, dass Kreise eingerichtet sind.31 Art. 28 Abs. 2 GG könnte danach lediglich als überflüssige „Ermächtigungsnorm“, nicht als „Garantienorm“ gedeutet werden. Demgegenüber hat Lerche32 überzeugend nachgewiesen, dass die Entkopplung des die Binnenstruktur der Kreise vorprägenden Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG von der institutionellen Aussage des Abs. 2 nicht haltbar ist. Ersterer zeigt, dass die „demokratische“ Struktur nicht Akzidentiale, sondern Essentiale des Verwaltungstyps „Kreis“ ist. Das Grundgesetz weist den Kreisen damit eine eigene Bedeutung für den demokratischen Staatsaufbau durch Verwirklichung eines gebietskörperschaftlichen Pluralismus zu und macht sie so zu einem integralen Bestandteil eines dezentral organisierten, demokratischen Staatsaufbaus. Die grundgesetzlich vorgegebene Struktur der Kreise stellt die entscheidende Vorkehrung gegen eine Herabsetzung der demokratischen Legitimation im gesamten ländlichen Raum dar. Über Art. 93 Abs.1 Nr. 4 b GG und die entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen werden die bestehenden Kreise als natürliche Interessenwahrer zur Durchsetzung der institutionellen Gehalte des Art. 28 Abs. 2 GG mobilisiert.

___________ 177 f. (abw. noch ders., in: BK, Art. 28 Rn. 80, 174); einschränkend Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Rn. 45; P. Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 28 Rn. 240. 29 Explizit angesprochen sind die Kreise in Artt. 10 Abs.1 BayVerf, Art. 3 Abs. 2, 72 Abs.1 S.2, Abs.2 LV M-V; 57 Abs. 1 und 2 NdsVerf; 82 Abs. 2 SächsVerf; 87 Verf LSA (s. a. Artt. 98 Abs. 3 S. 2 BdgVerf, 92 Abs. 3 ThürVerf – Auflösung und Gebietsänderung); implizit erfasst von Artt. 1 Abs. 2, 71 Abs. 1, 72 Verf BW; 137 HessVerf; 3 Abs. 2, 72 Abs. 1 Verf NW; 49, 50 Verf RhPf; 113 SaarlVerf; 2 Abs. 2, 46 Abs. 2 Verf SchlH. 30 Mager (Fn. 26) S. 332; Maurer (Fn. 26) S. 6; Rothe (Fn. 18) S. 72 (zugleich zur Vereinbarkeit mit dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG sowie zu den neuen Bundesländern); R. Wiese, Garantie der Gemeindeverbandsebene?, 1972, S. 25 f. 31 A. Köttgen, in: Peters (Fn. 28), S. 175, 191; G. Leibholz /D. Lincke, Die Regionalstadt, 1974, S. 33. 32 P. Lerche, DÖV 1969, 46 ff.; R. Schnur, DÖV 1965, 114 ff.; abw. Leibholz/Lincke (Fn. 31) S. 29 ff.

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IV. Maßstäbe für Kreisgebietsreformen Kommunale Gebietsreformen entspringen staatlicher Organisationsgewalt. Allerdings ist auch diese nicht frei von (verfassungs-)rechtlichen Bindungen. Das Maß der verfassungsrechtlichen Vorformung von Organisationsbefugnissen der Länder ist unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um die Errichtung und nähere Ausgestaltung von Einrichtungen unmittelbarer Landesverwaltung, den Zuschnitt von verfassungsrechtlich nicht vorgeformten Einrichtungen mittelbarer Landesverwaltung oder einen solchen von Einrichtungen handelt, deren Struktur bestimmten verfassungsrechtlichen Direktiven folgt und insoweit begrenzt „innovationsoffen“ ist. Die Verfassungsgerichte33 leiten gewöhnlich aus der historischen Entwicklung des Selbstverwaltungsrechts zwei – mit verfassungsrechtlichem Gewährleistungsgehalt versehene – Erfordernisse ab. So führt das BVerfG34 aus, es gehöre zum verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung, dass Bestands- und Gebietsänderungen von Gemeinden nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nach Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften zulässig seien. Tatsächlich erweisen sich kommunale Gebiets- oder Aufgabenänderungen als ambivalent: Der politische Gestaltungsspielraum stößt hier auf einen anderen verfassungsrechtlichen Rahmen als bei lediglich auf die Landesverwaltung bezogenen internen Organisationsmaßnahmen. Das verlangt neben einer „Zweckorientierung“ die Anlegung einer „juristischen Methode“ und damit „verfassungsrechtliche Rationalität“. Diese verweist auf einen Entscheidungsprozess, der die legislatorische Zwecksetzung mit den rechtlichen Rahmenbedingungen abgleicht und so in einen Abwägungsvorgang einmündet. Damit wird verständlich, weshalb im Zusammenhang mit kommunalen Gebietsreformen nicht nur die Einhaltung eines bestimmten Verfahrens (Anhörung) angemahnt und auf das Erfordernis einer materiellen Legitimation in Form des öffentlichen Wohls verwiesen wird, sondern auch immer wieder das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit angeführt wird.35 ___________ 33 BVerfGE 50, 50, 51 f.; 50, 195, 203; StGH BW, ESVGH 25, 1, 20 f.; NdsStGH, OVGE 33, 497, 498; VerfGH NW, OVGE 26, 270, 273; VGH RhPf, DÖV 1970, 198. Hierzu namentlich W. Hoppe/H.-W. Rengeling, Rechtschutz bei der kommunalen Gebietsreform, 1973, S. 149; W. Loschelder, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und gemeindliche Gebietsgestaltung, 1976, S. 274 ff.; F.-L. Knemeyer in: Ch. Starck/ K. Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit II, 1983, 143, 147, 157. Die einschränkende Sicht von E. Friesenhahn, in FS für M. Imboden, 1972, S. 115, 126 sowie Hans Meyer, DÖV 1971, 801, 804, 808 trägt dem institutionellen Gehalt der Garantie nicht ausreichend Rechnung und konnte sich nicht durchsetzen. 34 BVerfGE 86, 90 ff. – Papenburg u. a. 35 BVerfGE 86, 90, 108 f.; 107, 1, 24; StGH BW, ESVGH 23, 1, 19; ThürVerfG, LVerfGE 7, 361, 386 ff.; Isensee (Fn. 22) S. 248; Gunst, AfK 1990, 189, 197; Maurer

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mag im Verhältnis staatlicher Aufgabenträger zueinander keinen Anwendungsbereich finden und durch andere Topoi wie den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens oder der Organtreue funktionsäquivalent zu ersetzen sein. Geht es indessen um den gesetzgeberischen Zugriff auf verfassungsrechtlich verselbständigte Verwaltungseinheiten, welche durch die Verfassung mit eigenständigen, verteidigungsfähigen Rechten ausgestattet sind, besteht kein Grund, das im Rechtsstaatsprinzip verankerte und im Grundrechtsbereich besonders ausgeformte Prinzip insoweit nicht unter Beachtung der Eigenart der Regelungsmaterie (einschließlich der institutionellen Komponente)36 zu übernehmen. Die Verfassungsgeber der neuen Länder haben überwiegend – im Bewusstsein der „traditionellen Streitträchtigkeit“ der Materie – die genannten Kriterien ausdrücklich als Maßstäbe für Gebietsreformen vorgegeben.37 Die Regelungen nehmen inhaltlich den Erkenntnisstand auf, der sich in den alten Bundesländern – ohne entsprechende ausdrückliche Regelungen – in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte entwickelt hat.

1. Gründe des öffentlichen Wohls „Öffentliches Wohl“ ist als Sammelbegriff offen für eine Vielzahl von Zwecken in unterschiedlichen Konstellationen.38 Als unbestimmter Rechtsbegriff sperrt sich dieser allerdings gegen eine rein politische Dezision und verschließt sich einem beliebigen Rechtfertigungsmuster. Er erhält seine maßgeblichen Konturen durch die jeweilige Regelungsmaterie und deren rechtliche Vorprägungen. Dem Gesetzgeber obliegt es, den Begriff des Gemeinwohls im Einklang mit etwaigen verfassungsrechtlichen Vorgaben zu konkretisieren. Damit wird einerseits Raum für das Politische geschaffen, zugleich wird der Steuerungsfunktion von Grundgesetz und Landesverfassung Geltung verschafft. Die verfassungsrechtlichen Leitbilder beanspruchen Beachtung als integrale Bestandteile des politischen Entscheidungsprozesses. Dessen Ergebnis ist regelmäßig nur als Konsequenz einer auf der Formulierung zulässiger Kriterien, sorgfältiger Tatsachenermittlung und -auswertung sowie einer fehlerfreien Abwägung beruhenden legislatorischen Entscheidung denkbar. Das entspricht, wie das LVerfG M-V39 ausdrücklich herausstellt, einem „prozeduralen“ Ge___________ (Fn. 26), S. 19; R. Scheer, SächsVBl 1993, 126, 131; s. a. (mit systematischen Abschichtungen) W. Erbguth, DÖV 2008, 154. 36 Insoweit ausschließlich an der Eingriffstypik orientiert W. Erbguth, DÖV 2008, 154. 37 Näher Löwer/Menzel, ZG 1997, 90, 92; Scheer, SächsVBl 1993, 126 ff. 38 VerfGH NW, OVGE 26, 286, 293; VerfGH RhPf, DVBl 1969, 799, 801. 39 LVerfG M-V, Urt. v. 26.7.2007 - LVerfG 7/06-19/06, LKV 2007, 457, 458 im Anschluss an BVerfGE 86, 90,108; vgl. auch VerfGH RhPf, DVBl 1969, 799, 810 f; VerfG

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meinwohlverständnis; als Alternative käme ein pluralistisches Gemeinwohlverständnis in Betracht. Während ersteres auf eine adäquate Entscheidungsstruktur in Gestalt eines iterativen Verfahren drängt, setzt letzteres auf ein möglichst konsensuales Vorgehen unter Einbeziehung externen Sachverstandes.40

a) Konkretisierung durch Zielentwicklung und Leitlinien Mit Organisationsgesetzen über eine kommunale Neugliederung strebt der Gesetzgeber jedenfalls bei ausgreifenden Neugliederungen eine veränderte „kommunale Landschaft“ an. Diese kann, muss aber nicht mit anderen Aktionsbedingungen der Selbstverwaltungseinheiten verbunden sein. Die Komplexität einer solchen Regelung verleiht ihr einen deutlich planerischen Einschlag.41 Dementsprechend sind kommunale Gebietsreformen regelmäßig Ausdruck gestaltender Entscheidung mit planerischen Elementen und (verfassungs-)normativer Umrahmung. Daraus erwachsen bestimmte Anforderungen an den Entscheidungsprozess. Die den Gesetzgeber leitenden Ziele der Reform spiegeln den Vorgang der Gemeinwohlkonkretisierung wieder und bilden die maßgebliche Grundlage für die weitere Umsetzung des Vorhabens.42 Idealiter folgen Gebietsreformen einem Entscheidungsmuster, das zunächst das legislatorische Programm in Form von Richtzielen und Grobzielen oder auch „Leitsätzen“ formuliert und die Kriterien darlegt, aus denen sich die Maßstäblichkeit für eine bestimmte Problemlösung und die Zuordnung einzelner Betroffener erschließt. Dieses zu entwickeln, ist originäre Aufgabe des Gesetzgebers; das bedeutet namentlich, dass er den grundsätzlichen Aufgabenzuschnitt der Kommunen, ihre regelmäßige Größe sowie die Kreis- und Amts-(Verbands-)angehörigkeit autonom bestimmen kann. Verbindet der Gesetzgeber mit der Festlegung der leitenden Grundsätze einer Reform (wie Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung) die konkrete Zuordnung von Verwaltungseinheiten, so hat er auch die jeweiligen Verwirklichungsbedingungen kommunaler Selbstverwaltung einschließlich ihrer partizipatorisch-demokratischen Komponente in den Blick zu nehmen, sie in ihrem

___________ LSA, LVerfGE 2,227, 259; VerfG Bdg, LKV 1995, 37 f; P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 361 f.; M. Fügemann, Sächs-VBl. 2006, 1, 3; G. Kisker, Disk.beitrag, VVDStRL 39 (1981), S.172; Hans Meyer, ebda., S. 180 gegen K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99, 103. 40 BVerfGE 86, 108; VerfGH Rh-Pf, Urt.v. 17.4.1969, DÖV 1969, 565; Häberle (Fn. 39), S. 361 f. 41 BVerfGE 86, 90, 108. 42 Vgl. BVerfGE 86, 90, 108; VerfGH BW, ESVGH 23, 1, 3.

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Eigenwert einzustellen und abzuwägen.43 Insofern muss die in den Gebietsbestand oder die Existenz einer Gemeinde oder eines Kreises eingreifende gesetzgeberische Problemlösung schon in ihrem Zustandekommen bestimmten prozeduralen Anforderungen genügen. Überdies ist sie auch im Ergebnis an gewissen unverzichtbaren, aus dem Grundgesetz abzuleitenden Wertmaßstäben zu orientieren.44 Nicht jedes Ziel ist aus verfassungsrechtlicher Sicht bei der Ausformulierung des Programms von gleicher Dignität.45 Auch ist nicht ausgeschlossen, dass sich verfassungsrechtlich gebotene Richtziele nicht mehr auf der nächsten Konkretisierungsstufe wieder finden; insofern kann es an der Konsistenz der Zielformulierung auf verschiedenen Konkretisierungsstufen mangeln. Schließlich kann auch die konkrete Neugliederungsentscheidung in Widerspruch zur Zielformulierung stehen. Insoweit ist zu bedenken, dass unterschiedliche gesetzgeberische Grundentscheidungen verschiedene Wirkrichtungen grundgesetzlicher Maßstäbe erzeugen: Lässt sich der Gesetzgeber vor allem von der Absicht der Stärkung der Leistungskraft der Verwaltungseinheiten leiten, so rückt der spezifische Modus kommunaler „Selbstverwaltung“, insbesondere der damit verbundene Willensbildungs- und Legitimationsprozess, als Korrekturelement in den Vordergrund. Orientiert sich der Gesetzgeber vor allem an letzterem, so hat er sich rückkoppelnd der Frage ausreichender Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltungseinheiten zu stellen. Als mögliche Richtziele (Hauptkriterien) einer gebietlichen Neuordnung von Kreisen lassen sich insbesondere anführen:46 Schaffung einer einheitlichen Lebens- und Umweltqualität, Stärkung der kommunaler Leistungskraft und Effektivität, Stärkung oder zumindest Wahrung spezifisch kommunaler Körperschaftlichkeit sowie Integrationsfähigkeit. Auf einer weiteren Konkretisierungsstufe lassen sich weitere (Grob-)Ziele formulieren, die sich auf die beiden Grundfunktionen kommunaler Selbstverwaltung beziehen. So lassen sich im Hinblick auf die administrative Funktion die technisch-administrative Leistungsfähigkeit (Verwaltungskraft), Eignung zur Trägerschaft (Veranstaltungskraft) sowie strukturpolitische Eignung (Einpassung in das Gliederungssystem der Raumordnung insbesondere in Form von Wirtschaftsräumen und Entwicklungsachsen) als mögliche Teilziele anführen. Die politisch-demokratische Funktion ist angesprochen, soweit es um die politische Aktionsfähigkeit (Verhältnis der örtlichen zur Kommunalpolitik auf Kreisebene, Substanz der Kreis___________ 43

Hierzu und zum Folgenden: LVerfG M-V, LKV 2007, 457, 461; März, NJ 2007,

441. 44

BVerfGE 86, 90, 108; s. a. P. Krause, AöR 97 (1972), S. 343, 343. Vgl. nur Schröder, VR 1977, 294. 46 S. a. Gunst, AfK 1990, 201; E. Laux, in: H. J. von Oertzen (Hg.), Rechtsstaatliche Verwaltung im Aufbau I, 1992, S. 53, 67 f. 45

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aufgaben), die politische Integrationsfähigkeit der Kreise (Gemeinsamkeit der politisch-gesellschaftlichen Interessen im Raum des Kreises) oder die Pluralität der kommunalen Initiativ- und Aktionsräume (Mehrzahl von leistungsfähigen räumlich und funktional günstig abgegrenzten Kommunen) geht.

b) Die Maßgeblichkeit verfassungsrechtlicher Vorgaben Zu den vom BVerfG47 angeführten, „unverzichtbaren, aus dem Grundgesetz abzuleitenden Wertmaßstäben“ zählen namentlich die Staatszielbestimmungen des Art. 20 Abs.1 GG, hier speziell die Grundsätze der Demokratie und des sozialen (Rechts)staates, sowie die institutionelle Garantie kommunaler Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG und den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Gewährleistungsnormen. Während erstere den Aspekt der „Leistungsfähigkeit“ von Gemeinden und Kreisen in den Vordergrund rücken, verlangt die Selbstverwaltungsgarantie in ihrer institutionellen Komponente auch und vor allem die angemessene Berücksichtigung der strukturellen Anforderungen an kommunale Gebietskörperschaften. Angesichts der „Offenheit“ des Leistungsfähigkeitskriteriums kommt dem Modus kommunaler Selbstverwaltung und seinen strukturellen Vorbedingungen besonderes Gewicht zu, geht es dabei doch um die Grundbedingungen einer Wahrung der typusbestimmenden Merkmale des verfassungsrechtlich vorgeformten Bildes des Kreises.48 In dieser Garantie des Verwaltungstypus „Gebietskörperschaft“ Kreis49 ist die doppelte Funktion „bürgerschaftlicher Selbstverwaltung“ aufgehoben, die den verwaltungspraktischen Vorteil dezentraler Aufgabenverteilung mit der demokratietheoretisch begründeten Erhöhung von Chancen politischer Mitgestaltung für die Bürger in der „Kommune“ verbindet. Damit werden die Aktivierung der Einwohner für die eigenverantwortliche Erfüllung der Gemeinschaftsangelegenheiten und deren spezifische Repräsentation innerhalb der kommunalen Gebietskörperschaften zu einer zentralen Argumentationsfigur.50 ___________ 47

BVerfGE 86, 90, 108; s. a. BayVerfGH, DVBl 1975, 33. Das zeigt nicht zuletzt die Bedeutung der sog. kommunalen „Hoheiten“. S. a. BVerfGE 79, 127 ff. (zur Aufgabenteilung zwischen Gemeinden und Kreisen); Maurer (Fn. 26), S. 11; Krause, AöR 97 (1972), S. 344. Die „Strukturanalogie“ zu den Gemeinden weist auf den berechtigten Kern des Bildes von den Kreisen „als maßstabsvergrößerten Gemeinden“ hin; hierzu Dreier, in: ders. (Hg.), GG, 2. Auf. 2006, Art. 28 Rn. 167 m. w. N. 49 Damit geht es im Kern um die Verwirklichungsbedingungen der typusprägenden „funktionsgerechten Organstruktur“ (hierzu namentlich M. Burgi, in: VVDStRl 62 [2003] S.430 m. w. N.) des Kreises; s. a. Mager (Fn. 26), S. 335 sowie vorstehend VI 1a. 50 BVerfGE 79, 127, 148; E. Schmidt-Aßmann, in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S.121, 123; s. a. M. Ruffert, ThürVBl 2006, 265, 269 m. w. N. Allgemein zum 48

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2. Die Anhörung Der verfassungsrechtliche Schutz von (Gemeinden und) Kreisen stellt zusätzliche Anforderungen an die Generierung der Neugliederungsentscheidung. Die „Gewissheitsverluste über das ‚sachlich allein Richtige’“ sind bei einer möglichen Verfehlung verfassungsrechtlicher Leitbilder nur erträglich, wenn sie mit einem „prozedural juristischen Denken“ und dem Streben nach Akzeptanzsicherung verbunden werden.51 Völlig zu Recht hat deshalb das BVerfG52 betont, die Ausrichtung einer Neugliederung an Gründen des öffentlichen Wohls müsse „den prozeduralen Anforderungen genügen“. Hierzu zählt namentlich die Anhörung der betroffenen Kommunen.53 Sie solle eine Sachverhaltsermittlung auf der Grundlage verlässlicher Quellen gewährleisten und sei geboten, um die Kommunen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns werden zu lassen. Die Anhörung ermöglicht den Gemeinden, Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis zu nehmen. Damit wird der Staat zugleich vor voreiligen Entscheidungen bewahrt. Die Anhörung muss rechtzeitig unter Offenlegung der Maßstäblichkeit erfolgen.54 Das Gebot der Anhörung der betroffenen Kommunen ist Teil eines diskursiven Prozesses und sperrt sich gegen eine Materialaufarbeitung, die wesentliche Aspekte und mögliche Alternativen von vornherein aus dem parlamentarischen Willensbildungsprozess ausklammert. Die Anhörung muss deshalb auch offen sein für Korrekturen aufgrund sachlich begründeter Einwände und vorgelegter Alternativen.55 Sie hat so zeitig zu erfolgen, dass es der Kommune möglich ist, sich aufgrund eigener fundierter Vorbereitung unter Mitwirkung der gewählten Vertretung zur geplanten Gebietsänderung sachgerecht zu äußern und ihre Auffassung zur Geltung zu bringen. Bei einer wesentlichen

___________ Verhältnis von Demokratie und kommunaler Selbstverwaltung: G. Püttner, in: Mann/ders. (Hg.), HKWP, Bd.1, 3. Aufl. 2007, § 19 Rn. 6 m. w. N. 51 Vgl. F. Schoch, in H.-G. Henneke/Maurer/Schoch, Die Kreise im Bundesstaat, 1994, S. 9. 52 BVerfGE 86, 90, 108 – Papenburg u. a. 53 BVerfGE 107, 1, 24; SachsAnhVerfG, LKV 2007, 125 f. Mit einer angeblichen Primärkompetenz der Kommunen zu vertraglicher Gebietsänderung hat dies nichts zu tun; s. a. Friesenhahn (Fn. 33), S. 125; Krause, AöR 97 (1972), S. 343. 54 BVerfGE 86, 90, 107. Während die abschließende gesetzgeberische Entscheidung lediglich einer entsprechenden „Darlegungspflicht“ im Hinblick auf die vorgenommene Abwägung unterliegt, verlangt die Anhörung der konkret betroffenen Kommunen eine „Begründung“; zum Unterschied Ch. Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen etc., 2003, S. 205 ff.; s. a. Hans Meyer, DÖV 1971, 806: „aus materiellem Recht geboten“. 55 Siehe M. Fügemann, SächsVBl. 2006, 1, 3; Krause, AfK 13 (1974), S. 277, 286.

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Änderung des Neugliederungsvorhabens gegenüber dem ursprünglichen Planungsstand ist eine erneute Anhörung durchzuführen.56

V. Die Direktivkraft institutioneller Verfassungsgarantie der Kreisebene in den Flächenstaaten Die Rechtsprechung hat sich bislang nur beiläufig mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bildung von Regionalkreisen befasst. Richtig wird in anderem Zusammenhang betont, die historisch überkommene Ausgestaltung des Selbstverwaltungsbegriffs bedeute gerade nicht Entwicklungsfeindlichkeit.57 Das gibt freilich in dieser Allgemeinheit nur eine Binsenweisheit wieder. Als institutionelle Garantie ist die Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung geradezu auf gesetzgeberische Konkretisierung angelegt. Erst recht ist der den Kreisen zugewiesene Aufgabenbestand von den Entscheidungen des Gesetzgebers abhängig. Bei Kreisgebietsreformen geht es indes darum, die den Verwaltungstypus Kreis kennzeichnenden Merkmale und die daraus resultierenden Grenzen für eine konkrete Neuordnungsmaßnahme zu ermitteln.58 Auch wenn diese nur raum-zeitlich zu bestimmen sind und vom jeweiligen Umfeld abhängen, erspart das nicht, die Grenzen der betreffenden Neugliederungsmaßnahme freizulegen und den verfassungsrechtlichen Schutz gegen ihr Überspielen zu konturieren. Explizit angesprochen wird eine mögliche Regionalkreisbildung - neben dem unlängst ergangenen Urteil des LVerfG M-V59 – im sog. Bonn-Urteil des VerfGH NW.60 Das Gericht erörtert aus Anlass der Zusammenlegung des früheren Kreises Bonn und des Siegkreises auch die Alternative einer „Regionalkreisbildung“ und stellt hierbei obiter dictum fest: „Hinzu kommt, dass die Beschneidung des Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs der Gemeinden im städtischen Ballungskern, nicht aber bei den weit abgelegenen Gemeinden in der ländlichen Zone des Kreises eine sachliche Rechtfertigung für sich gehabt hätte“. Allgemeiner – unter dem Aspekt zulässiger Größe – äußern sich zwei Vorprüfungsentscheidungen des BVerfG61 wie auch eine Entscheidung des StGH BW zu der Frage. Erstere lassen mit Blick auf die Flächenausdehnung dahin gestellt, ob eine bestimmte Kreisgröße dem Kernbereich der Selbstverwal___________ 56 Zur Präklusion im späteren verfassungsgerichtlichen Verfahren bei nicht rechtzeitigem Vorbringen im Anhörungsverfahren vgl. VerfGH RhPf, DVBl 1970, 785. 57 BVerfGE 23, 353 (367); s. a. Mager (Fn. 26), S. 337; Rothe (Fn. 18), S. 74. 58 BVerfGE 26, 228, 239; Maurer (Fn. 26), S. 22; Schmidt-Aßmann (Fn. 50), S. 124. 59 Siehe Fn. 9. 60 OVGE 26, 270, 284. 61 Beschlüsse vom 20.3.1970, 2 BvR 39 und 55/70 – n. v.

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tungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG zuzurechnen ist. Denn auch bei Bejahung dieser Frage ließe sich eine Verletzung nicht feststellen: Die durch das Gesetz gebildeten Kreise Ostholstein und Nordfriesland seien ihrer Ausdehnung nach nicht so groß, dass bei den entwickelten Kommunikationsmitteln und dem dichten Verkehrsnetz die Selbstverwaltung beeinträchtigt würde.62 Der StGH BW63 führt aus, die Selbstverwaltungsgarantie gewährleiste weder den individuellen Fortbestand einzelner Landkreise noch die historisch überkommene Kreisstruktur. Der Gesetzgeber sei insbesondere nicht gehindert, zur Schaffung einer großräumigen Ordnung auch solche Kreise aufzulösen, die im bisherigen Umfang zur Erfüllung ihrer Aufgaben imstande seien. Allerdings dürfe er nicht einen Kreis schaffen, der wegen seiner Größe den überörtlichen, die Ebene der Gemeinden ergänzenden Selbstverwaltungsaufgaben nicht mehr gerecht werden könne. Diese Grenzen ließen sich jedoch nicht auf eine einfache quantitative Formel bringen. Das Funktionieren eines Landkreises als Selbstverwaltungseinrichtung, besonders seine übergemeindliche Ausgleichsfunktion, seine Überschaubarkeit und Bürgernähe, hingen von einer Vielzahl von Faktoren ab. Soweit diese sich numerisch ausdrücken ließen, seien neben der Einwohnerzahl vor allem der gebietliche Umfang sowie die Zahl und die Struktur der kreisangehörigen Gemeinden bedeutsam. Die Überlegungen geben einen Hinweis darauf, dass es bei Kreisgebietsreformen keineswegs nur und nicht einmal zuerst um „Wirtschaftlichkeit“ im engeren Sinne gehen kann, sondern um eine Neuordnung von Kompetenzträgern, die – will man sie auf einen Nenner bringen – einem weiten Begriff der Leistungsfähigkeit Rechnung zu tragen hat. Dieser umfasst vor allem Entscheidungskompetenz, Schnelligkeit, Situationsgerechtigkeit der Entscheidungsfindung sowie die leitbildgerechte eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung im Sinne bürgerschaftlicher Selbstverwaltung. Daneben ist der Grundsatz der „Wirtschaftlichkeit“ ein legitimes (Teil-)Ziel kommunaler Neuordnung. Indes kommt ihm keinesfalls eine die verfassungsrechtlichen Leitentscheidungen zur organisatorischen Ausgestaltung der unteren Verwaltungsebene verdrängende Wirkung zu.64 Dem stehen schon die Universalität des Wirtschaftlichkeits___________ 62 Der Kreis Ostholstein weist eine Größe von rd. 1.391 qkm, der Kreis Nordfriesland eine solche von 2.048 qkm auf. 63 StGH BW, ESVGH 23, 1, 4, 17. Es ging um Kreise mit einer Flächenausdehnung zwischen 630 und 800 qkm und Einwohnerzahlen zwischen 280.000 und 420.000. 64 H.H. v. Arnim, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, 1988, S. 38 f., 93; s. a. BVerfGE 79, 127, 148 f, 153 (die Entscheidung trifft insoweit durchaus allgemeine Aussagen zum Verhältnis von „Verwaltungseffizienz“ und einem „auf Selbstverwaltungskörperschaften ruhenden Staatsaufbau“); P. Kirchhof, NVwZ 1983, 505, 511 f.; Burgi, VVDStRL 62 (2003) S. 405, 430 f., 449 mit Fn. 205; ders., in: Butzer (Hg.), Wirtschaftlichkeit durch Organisations- und Verfahrensrecht, 2004, S. 53, 59, 66; V. Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, 2000, S. 387, 390; v. Muti-

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grundsatzes wie die Offenheit des Grundsatzes als „formales Prinzip“ entgegen.65 Im Schrifttum wurde eine Regionalkreislösung namentlich von Schnur66 kritisch beurteilt. Sie lasse sich mit dem grundgesetzlichen Leitbild „Kreis“ nicht in Einklang bringen, wenn „die als überörtlich gedachte Leistung des Kreises von den betreffenden Bürgern nicht mehr als eigene angesehen“ werde, „weil sie als nicht mehr erreichbar“ gelte. Dann nämlich gelinge nicht mehr die „Integration im politischen Raum ‚Kreis’“. Auffällig sei im Übrigen, dass die in der Vergangenheit tätig gewesenen Sachverständigen-Kommissionen durchweg die Schaffung von Regionalkreisen – anders als die von Regionalverbänden – abgelehnt hätten. Demgegenüber meint Schoch,67 letztlich könne „bei zureichenden Sachgründen“ verfassungsrechtlich nicht zweifelhaft sein, dass „Regionalkreise, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten, als Gemeindeverbände i. S. des Art. 28 Abs. 2 GG zulässig“ seien, „zumal das demokratische Gebot aus Art. 28 Abs.1 S. 2 GG ohne weiteres erfüllt werden“ könne. Dabei lässt er offen, wie diese Größe zu bemessen ist. Ausdrücklich dahingestellt lässt er auch, wie eine Verwaltungseinrichtung, die sich als „Kreis“ im grundgesetzlichen Sinne darstellt, nach der Verfassungsgarantie für die Kreisebene strukturiert sein muss. Indes sind genau dies die leitenden Fragen. Geht es auch darum, über die Legitimationsstränge der Staatsorganisation hinaus eine Plattform für das Engagement der Bürger und damit Freiheit durch politische Selbstbestimmung zu sichern, so steht die Einrichtung der Landkreise als solche mit ihren typusbildenden Merkmalen nicht zur voraussetzungslosen Disposition des einfachen Gesetzgebers.68 Damit geht es um die Wahrung der Sonderstellung kommunaler Selbstverwaltung innerhalb des staatlichen Organisationsgefüges, die sie aufgrund ihres gebietskörperschaftlichen Zuschnitts und der damit verbundenen Strukturmerkmale einnimmt.69 Insofern sind die verschiedenen Emanationen der Kreise auf unterschiedliche Weise angesprochen: Zum einen und zuvörderst ___________ us, VVDStRL 41 (1984), 147, 201; L. Osterloh, VVDStRL 54 (1995), 221; U. Schliesky, in: ders./Ernst (Hg.), Recht und Politik - Wissenschaftliches Symposium für E. SchmidtJortzig zum 65. Geburtstag, 2007, S. 35, 51 f.; H. Schulze-Fielitz, in: Henneke (Hg), Organisation kommunaler Aufgabenerfüllung, 1998, S. 223 , 242 ff; Ch. Brüning, DÖV 1997, 278, 280. 65 v Arnim (Fn. 60) S. 38 f.; v. Mutius, VVDStRL 41 (1984), 177. 66 R. Schnur Regionalkreise?, 1971, S. 4, 17, 24; s. a. Evers, DVBl 1969, 771; H. Köstering, DÖV 1992, 721, 724; W. Thieme, Gutachten über die Einkreisung der Stadt Witten in den Ennepe-Ruhr-Kreis durch das Ruhrgebiet-Gesetz, 1974, S. 131. 67 Schoch, in: ders. (Hg.), Selbstverwaltung der Kreise in Deutschland, 1996, S. 27; ähnlich A. Leidinger, NWVBl 1991, 325, 331 f. 68 Maurer (Fn. 26) S. 22; . 69 Lerche, DÖV 1969, 54; Schmidt-Aßmann (Fn. 50) S. 123 ff.

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geht es um ihren Körperschaftsstatus, zum anderen um ihren Charakter als Gemeindeverband. Schließlich ist als drittes Element die Rolle des Landrats als „untere staatliche Verwaltungsbehörde“ in den Blick zu nehmen.

1. Die Kreise als kommunale Gebietskörperschaften Als „Gebietskörperschaften“ sind die Kreise durch die Elemente Bewohner, Gebiet und Kompetenzen (Aufgaben und Hoheiten) definiert.70 Diese Elemente sind aufeinander bezogen: Aus der mitgliedschaftlichen Struktur erwächst der spezifische Modus der Aufgabenwahrnehmung im Sinne kommunaler Selbstverwaltung. Hiermit verbinden sich typische kommunale „Hoheiten“. Sie beziehen sich auf ein definiertes Gebiet, das nicht nur wie bei staatlichen Behörden einen räumlichen Zuständigkeitsbereich beschreibt, sondern – in der „Gebietshoheit“ kommt dies zum Ausdruck – die räumliche Basis, die „Hardware“,71 kreiskommunaler Regelungsgewalt bedeutet. Die Regionalisierungsdiskussion zielt nicht zuletzt auf eine Erweiterung der Verwaltungsräume auf übergemeindlicher Ebene, welche die überkommenen Größenordnungen der Kreise übersteigt. Sie spricht damit vor allem die Struktur der Verwaltungseinheit „Kreis“ unter den Aspekten von Bevölkerung und Gebiet an.72 Hierbei handelt es sich um zwei Variablen, die sich in dem Topos „Bevölkerungsdichte“ verbinden, ohne freilich darin aufzugehen. In der gebotenen wertenden Betrachtung wird zutreffend betont, kommunale Selbstverwaltung sei Verwaltung in überschaubaren Räumen („Prinzip der Überschaubarkeit“). Dazu gehöre ein Gebietszuschnitt, der es ermögliche, dass sich ein Gefühl der Verbundenheit ausbildet. Zudem müssten Verwaltungsraum, Aufgabenzuschnitt und Entscheidungsstruktur so aufeinander abgestimmt sein, dass die zugrunde liegenden Interessen und ihre Träger greifbar und die zutreffenden Entscheidungen in ihren Folgen erkenn- und fühlbar seien.73 Das verschiedentlich herausgestellte Kriterium der „Überschaubarkeit“ ist durch Art. 28 Abs. 2 GG vorbestimmt und entspringt dem partizipativen Ele___________ 70

Ähnlich BayVGH, BayVBl 1981, 399, 400. S. a. E. Schmidt-Aßmann, Perspektiven der Selbstverwaltung der Landkreise, in: Schoch (Fn. 10), S. 79, 80 m. w. N. Das Gutachten der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen, 1969, S. 149, Rn. 513, spricht davon, die Fläche sei „ein typischer Verwaltungsfaktor im Kreise“. 72 Siehe J. Oebbecke, in: H. G. Henneke (Hg.), Optimale Aufgabenerfüllung im Kreisgebiet? 1998, S. 47 f. Zusätzlich sind Zahl und Größe der kreisangehörigen Gemeinden von Belang; s. Wagener (Fn. 9), S. 242. 73 Hierzu Schmidt-Aßmann (Fn. 71), S. 79 f.; s. a. VerfGH NW, OVGE 28, 305; Hans Meyer, DÖV 1971, 801, 809; Ruffert, ThürVBl.2006, 269. 71

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ment kommunaler Selbstverwaltung.74 Das Kriterium mag inhaltlich schwer auszufüllen sein – das hat er mit vielen anderen unbestimmten Rechtsbegriffen gemein. Aufgabe von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ist es, den Begriff mit Inhalt aufzufüllen und mit näheren Konturen zu versehen.75 Auch mag es für sich allein nicht einen bestimmten Zuschnitt von Verwaltungsräumen zu präjudizieren, indes ermöglicht es sehr wohl die Festlegung kardinaler Rangfolgen bei mehreren Alternativen. In der Sache geht es um Verwaltungsräume, die „nicht mit den gleichen Maßstäben wie die einer monokratisch organisierten staatlichen Behörde beurteilt werden“ dürfen,76 und in denen sich ein Stück der demokratischen Verfahrensordnung des Grundgesetzes durch Verknüpfung von Staat und Gesellschaft verwirklicht.77 Das lässt sich in zwei Richtungen näher entfalten. Der Sicht des Bürgers als „Selbstverwaltungsbeteiligter“ folgen die immer wieder genannten Kriterien der Bürgernähe78 und der Integration (Identifikation).79 Hier spielen Siedlungsräume, vorhandene Verflechtungen, Entfernungen und Erreichbarkeit eine wichtige Rolle. Wenn dem Bürger die Chance offen gehalten werden soll, sich für die Wahrnehmung seiner eigenen Angelegenheiten zu aktivieren, kommen der Qualität des Kreises als konkret erfahrbarer Lebensraum wie auch der Verkehrsinfrastruktur nach wie vor große Bedeutung zu.80 Neue Entwicklungen in der Kommunikationstechnik und gewandelte soziale Verhaltensmuster, die sich in der empirischen Sozialforschung niederschlagen, heben diesen Bedingungszusammenhang nicht auf. Indes steht nicht nur dieser zur Debatte. Geht es nicht nur um „gute Verwaltung“, sondern zugleich um „gute Selbstverwaltung“, so ist auch und nicht zuletzt die funktionsgerechte Ausgestaltung von Repräsentationsebene und Verwaltung von Belang. Dabei geht es gar nicht einmal in erster Linie um die „Repräsentationsdichte“ in größeren Räumen als vielmehr um die Gewinnbarkeit des politischen Personals und die Vertrautheit der Repräsentanten und des Verwaltungsapparats mit den Lebensverhältnissen vor Ort:81 Auch ___________ 74

S. a. BayVGH, BayVBl 1981, 399, 400: „genossenschaftliches“ Element. Für eine wie auch immer geartete juristische Unmöglichkeitstheorie ist hier wie andernorts kein Platz; s. a. W. Hoppe/ H.-W. Rengeling, Rechtsschutz bei der kommunalen Gebietsreform, 1995, S. 109 m. w. N. 76 Rothe (Fn. 18), S. 150. 77 Dies mit Recht betonend: Thieme (Fn. 66), S. 131; Wagener (Fn. 9), S. 217. 78 Burgi, VVDStRL 62 (2003) S. 446 spricht vom „Selbstverwaltungsbürger“; s. a. W. Clausen, Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern: Gutachten zur kommunalen Gebietsreform in M-V, 1991, S. 46; Rothe (Fn. 18), S. 91. 79 Hierzu Hans Meyer, DÖV 1971, 801, 809; Schmidt-Aßmann (Fn. 71), S. 80; Schnur (Fn. 66), S. 17; Stern (Fn. 28), S. 176; Thieme (Fn. 66), S. 131; Graf Vitzthum, Disk.beitrag, VVDSRL 62 (2003), 461, 452. 80 VerfG LSA, LKV 1995, 83; Evers, DVBl 1969, 769; Kappe (Fn. 14) S. 12; Oebbecke (Fn. 72), S. 47 f.; zurückhaltender ders., VVDStRL 62 (2003), 266, 369. 81 Kappe (Fn. 14) S. 26, 92; Gunst, AfK 1990, 189 (199); Stern, DÖV 1968, 857. 75

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wenn man – mit dem „neuen Steuerungsmodell“ – den Schwerpunkt der Arbeit kommunaler Vertretungskörperschaften auf strategische Entscheidungen legt, bleibt das „Konkrete“ das „demokratische Lebenselexier der Kommunalpolitik“.82 Eben darin gründen Ortsbezogenheit und -verbundenheit von Kommunalpolitik; und genau dies trägt dem in der kommunalen Selbstverwaltung mit angelegten, schon früh erkannten antibürokratischen Affekt83 Rechnung. Dieser hat sich heute nicht etwa verflüchtigt, sondern wird – im Gegenteil – durch einen zusätzlichen, gegen Funktionärsherrschaft gerichteten Impuls verstärkt.84 Schließlich wird auch über die beiden Koordinaten „Empirie“ sowie distanzierter Sachverstand eine Annäherung an die Frage verträglicher Größe möglich. Zur Gebietskörperschaft Kreis gehört schließlich ein bestimmtes Aufgabenspektrum. Der Kreis schließt die Lücke zwischen staatlich-zentraler Aufgabenerfüllung einerseits und ortsnaher und bürgernaher Aufgabenerfüllung in den Gemeinden andererseits.85 Den Kreisen kommt damit die Funktion der „Verlängerung“ der örtlichen Aufgaben in den weniger dicht besiedelten Raum zu. Traditionell wird insoweit zwischen integralen Aufgaben, Ausgleichsaufgaben und Ergänzungsaufgaben unterschieden. Diese – nicht ihre Ausgestaltung im Einzelnen – markieren Funktionen der Kreise, die der Gesetzgeber nicht völlig beseitigen kann.86 Dennoch wäre es verfehlt, die Frage des Gebietszuschnitts der Kreise primär von ihren Aufgaben her zu deuten.87 Das folgt nicht nur aus der – gegenüber den Gemeinden größeren – Labilität kreiskommunaler Aufgaben, sondern auch aus dem eigenständigen Garantiegehalt des spezifischen Verwaltungsmodus kommunaler Selbstverwaltung.88 Die Zuweisung von Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung oder von Planungsaufgaben ist hiervon nicht ausgenommen.89 Beide sind nicht imstande, ein dominierendes Kriterium der Leistungsfähigkeit zu liefern, das sich über die strukturellen Anforderungen an die Kreise hinwegsetzen könnte. Das geltende Planungsrecht ___________ 82 M. Reiser, Zwischen Ehrenamt und Berufspolitik. Professionalisierung der Kommunalpolitik in deutschen Großstädten, 2006, S. 204 f.; vgl. auch Burgi; VVDStRL 62 (2003), 446 Fn. 188. 83 M. Wallerath, DÖV 1986, 533, 539 m. w. N. 84 S. a. Maurer (Fn. 26), S. 8. 85 Schmidt-Aßmann (Fn. 71 S. 81 im Anschluss an v. Mutius, Der Landkreis 1994, 5 ff. 86 S. a. Rothe (Fn. 18) S. 73 f.; Schoch (Fn. 10) S. 34 ff. 87 Ebenso Evers, DVBl 1969, 769; Lerche, DÖV 1969, 51; Schmidt-Aßmann (Fn. 50), S. 136. 88 BVerfGE 83, 363, 383. 89 Mit K. Lange, DÖV 1996, 684, 685 gilt, dass sich nicht (in jedem Falle) der Träger, sondern die Zuständigkeitsordnung der Aufgabe anzupassen hat. Ähnlich J. von der Heide/H.-P. Gatzweiler, in: Der Kreis Bd. 3, 1985, S. 189. S. a. W. Erbguth, in: Henneke (Fn. 72), S. 202; anders ders., LKV 2004, 1, 2 ff..

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geht aus gutem Grund von einer Eigenständigkeit von Raumplanung und Fachplanung wie auch von kommunaler Gebietsplanung aus. Damit wird nicht nur die Raumplanung von einer isolierten Perspektive der Fachpolitik getrennt, so bedeutsam deren Beitrag auch sein kann, sondern sie wird auch in einen anderen räumlichen Bezugsrahmen gestellt, welcher der typischen Divergenz zwischen administrativen Grenzen und raumspezifischen Entwicklungen90 Rechnung trägt und nicht zufällig zum Ausgleich der regelmäßig divergierenden Interessen auf die konstruktive Wirkung des Gegenstromprinzips setzt. Tatsächlich ist allgemein verwaltende Tätigkeit, die auf jeden Einwohner gerichtet ist, funktional deutlich unterschieden von großflächiger Planung. Ländliche Räume sind denn auch, insbesondere soweit es sich um periphere strukturschwache Gebiete handelt, „in ihren ökonomischen und ökologischen Problemen viel zu sensibel, um mit einer radikalen Änderung ihrer Verwaltungsstrukturen überzogen zu werden“.91

2. Die Kreise als Gemeindeverbände Neben seiner Eigenschaft als Gebietskörperschaft ist der Landkreis Gemeindeverband. Zwar sind die Gemeinden in die Entscheidungsprozesse der Kreise nicht selbst eingebunden. Vielmehr äußert sich die Zugehörigkeit der kreisangehörigen Gemeinden zunächst – vordergründig – nur darin, dass sie Zahler der Kreisumlage sind. Deren schon heute labile Akzeptanz ist indes umso stärker gefährdet, je mehr ihr Einfluss verdünnt wird. Wenn die Chance einer Vielzahl von Gemeinden, ihre spezifischen Anliegen bei der kreiskommunalen Willensbildung vorzubringen, praktisch gegen Null tendiert, droht eine sachgerechte Wahrnehmung der Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion des Kreises auf der Strecke zu bleiben.92 Es obliegt diesem, die kleinen Gemeinden durch die notwendige Koordinierung und Harmonisierung zu unterstützen.93 Eine Verbandsgemeindestruktur (Ämterstruktur) mag dies erleichtern, ändert aber an dem Grundauftrag nichts. Umgekehrt hat der Kreiszuschnitt darauf Bedacht zu nehmen, dass keine Majorisierung von Gemeinden durch eine deutlich größere Stadt infolge deren hegemonialer Stellung erfolgt.94

___________ 90

Schröder, VR 1977, 294, 296; krit. Schoch (Fn. 10) S. 45. Schmidt-Aßmann (Fn. 71), S. 81 m. w. N.; vgl. auch Wagener (Fn. 10), S. 244. 92 K. Stern/G. Püttner, Neugliederung der Landkreise Nordrhein-Westfalens, 1969, S. 91

35. 93 94

Evers, DVBl 1969, 768. Evers, DVBl 1969, 768; Schröder, VR 1977, 296 jew. m. w. N.

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3. Untere staatliche Verwaltungsbehörde Traditionell deckt sich das Kreisgebiet mit dem der unteren staatlichen Verwaltungsbehörde.95 Deren Aufgaben bündeln sich überwiegend im Landrat (Landratsamt), der insoweit im Wege der Organleihe für staatliche Aufgabenwahrnehmung dienstbar gemacht wird.96 In der Änderung der Rahmenbedingungen für diese Funktion, die nicht zuletzt die allgemeine Kommunalaufsicht umfasst, ist der Kreis selbst nicht unmittelbar in verfassungsrechtlichen Rechten betroffen. Wohl aber ist nicht auszuschließen, dass der rechtsstaatliche Auftrag, den Einklang der Ausführung von Gesetzen mit „Recht und Gesetz“ sicherzustellen, durch eine strukturelle Überforderung der Aufsicht verfehlt wird. Die Frage der Kontrollspanne ist nicht neu; sie markiert eine bekannte Problemstellung in den Organisationswissenschaften.97 Mit zunehmender Zahl der zu kontrollierenden Einheiten gerät ihre Effizienz ins Hintertreffen. Sie ist deshalb auch im vorliegenden Zusammenhang – unter dem Aspekt der Wahrung des „öffentlichen Wohls“ – nicht ohne Belang, mag hier aber auf sich beruhen.98

VI. Der Abwägungsvorgang Sind gebietliche Neuordnungen kommunaler Körperschaften von Verfassungs wegen an das Vorliegen „öffentlichen Wohls“ gebunden, so handelt es sich nicht nur um politische Gestaltungsentscheidungen, sondern auch um rechtlich angeleitete Abwägungsvorgänge. Die Verwirklichung des politischen Gestaltungsziels muss insoweit dem „Auftrag der Vernunft“ folgen, als sie einer Rationalität unterliegt, die sich vor den Anforderungen des „öffentlichen Wohls“ zu bewähren hat. Dieses umschreibt die Summe der rechtmäßig abgewogenen öffentlichen Interessen.99 Insoweit kommt eine Vielzahl von Belangen in Betracht: Die Anknüpfung an Siedlungs- oder Naturräume, funktionale Verflechtungen, historische Zuordnungen, die Leistungsfähigkeit der betreffenden kommunalen Einheiten, ihre Beziehungen zueinander, nicht zuletzt ihre Bürgernähe und Überschaubarkeit. Zu beachten ist, dass die aus Art. 28 Abs. 2 GG ___________ 95

Rothe (Fn. 18), S. 29; Schmidt-Aßmann (Fn. 71), S. 83. Näher Schmidt-Aßmann (Fn. 71), S. 104 m. w. N. 97 Siehe auch Schnur (Fn. 66), S. 27. 98 G. Püttner, Verwaltungslehre, 3.Aufl.2000, S. 74 sieht 10 – 20 Einheiten der niedrigeren Stufe als optimal an; s. a. Kappe (Fn. 14), S. 17; F. Wagener, Neubau der Verwaltung, 2. Aufl. 1974, S. 322. Die Verwaltungswirklichkeit hat sich bereits heute – teilweise deutlich – von diesen Größenangaben entfernt. 99 Siehe E. Becker, in: Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 39, 1968, S. 73; M. Fügemann, SächsVBl. 2006, 1, 5. 96

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erwachsenden Anforderungen nicht nur eine Restriktion, sondern zugleich ein verfassungsrechtlich gefordertes Ziel umschreiben: Sie stehen einerseits für die funktional zu bestimmende Leistungsfähigkeit der kommunalen Einrichtungen, bedeuten aber andererseits zugleich – soweit es sich um strukturelle Anforderungen handelt – unhintergehbare Zielbindungen.

1. Hinreichende Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts Fehlt es an einer ausreichenden Ermittlung des für die gesetzgeberische Entscheidung erheblichen Sachverhalts und damit an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Abwägung der Gründe und Gegengründe, so kann sich die Entscheidung schon deswegen nicht auf Gründe des öffentlichen Wohls stützen.100 Das erzwingt eine Aufbereitung des Abwägungsmaterials, die nicht nur auf „pauschalen“ Einschätzungen beruht101 und die nicht nur die Fakten umfassen darf, welche das Reformvorhaben stützen. Auch ist – bei aller Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers – kaum denkbar, dass nivellierende „Einheitslösungen“ im Einklang mit dem öffentlichen Wohl stehen. Auch hierauf muss die Aufbereitung des Materials Rücksicht nehmen. Das gilt namentlich insoweit, als die Maßstäbe verschieden ausfallen, je nachdem, ob es sich z. B. um Kreise mit starker Bevölkerungsdichte oder menschenarme Räume handelt oder Besonderheiten der geographischen Lage zu berücksichtigen sind.102 Dabei muss sich der Gesetzgeber auf aussagekräftige und zutreffende Vergleichsdaten stützen.103 Bei konsolidierten gebietlichen Verhältnissen wird er aufgrund einer länger zurückliegenden Gebietsreform einen zwischenzeitlichen deutlichen Aufgabenzuwachs oder auch die Absicht einer neuen Aufgabenverteilung im Lande zum Anlass einer Gebietsreform nehmen können. Bei einer Mehrfachneugliederung innerhalb eines überschaubaren Zeitraums gehört jedoch eine realitätsnahe Defizitanalyse dazu;104 insoweit sind Dysfunktionalitäten konkret nachzuweisen.

___________ 100

BVerfGE 86, 90, 109, 114; Fügemann, SächsVBl 2006, 5 m. w. N. BVerfGE 86, 90, 120; SächsVerfGH, LVerfGE 10, 375, 396. 102 Becker (Fn. 99), S. 78, 82; v. d. Heide/Gatzweiler (Fn. 89), S. 193. 103 BVerfGE 86, 90, 120; VerfGH RhPf, DVBl 1979, 780. S. a. SächsVerfGH, LVerfGE 10, 375, 399, zum Ausschluss der Nachholung fehlerhafter Darlegung. 104 BVerfGE 30, 392, 403 f.; Rothe (Fn. 18), S. 241; Fügemann, SächsVBl. 2006, 1, 6. Für die Kreisgebietsreform 2006 in Mecklenburg-Vorpommern hat das LVerfG M-V, LKV 2007, 460 auf diese Anforderung verzichtet, da die vorangegangene Kreisgebietsreform (1993/94) durch eine Zeit des Umbruchs gekennzeichnet gewesen sei, in der die weitere Entwicklung des Landes noch nicht vorhersehbar war. 101

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2. Einstellen der Vor- und Nachteile in die Abwägung Die verfassungsrechtliche Imprägnierung des vom Gesetzgeber ausgeformten Leitbildes wie auch die „Maßstäblichkeit“ der von ihm mit der Neuordnung verfolgten Ziele bestimmen den Umfang der in die Abwägung einzustellenden Vor- und Nachteile verschiedener Verwirklichungsalternativen. Kommen erkennbar mehrere Lösungsmöglichkeiten in Betracht, ist der Gesetzgeber gehalten, die wesentlichen für oder gegen diese sprechenden Gesichtspunkte in die Abwägung einzustellen, will er ein Abwägungsdefizit vermeiden.105 Mehr noch: Wenn die verfassungsrechtlichen Anforderungen zugleich die Zielebene erfassen, hat dem bereits die Entwicklung des Leitbildes Rechnung zu tragen. Damit sind schon in diesem Stadium die Vor- und Nachteile bestimmter Zielformulierungen einzustellen und zu bedenken.106 So speist sich kommunale Selbstverwaltung gerade nicht vorrangig aus der administrativen Funktion der Kommunen oder einer fiskalisch verstandenen „Leistungsfähigkeit“, auch wenn deren Insuffizienz Anlass zu einer Neuordnung sein kann.107 In die Abwägung einzustellen sind namentlich Einwohnerzahl, Raum (Umfang, Verflechtungen, Infrastruktur, geologische Besonderheiten), Zahl und Struktur der Gemeinden,108 gewachsene Beziehungen, Aufgaben sowie Leistungs- und Veranstaltungskraft der Kreise sowie (sonstige) Effizienzeffekte. Hierbei ist - unabhängig von der Regelungstechnik – im Hinblick auf die unterschiedlichen Prüfungsebenen sowie die Kontrolldichte zu differenzieren. Je größer die Zahl der betroffenen Verwaltungseinheiten ist, umso mehr darf der Gesetzgeber typisieren – dies folgt schon aus dem zwangsläufig generellen Charakter der Maßstabbildung.109 Je kleiner indes die Zahl der betroffenen Körperschaften ist, umso stärker schlagen die konkreten Auswirkungen der jeweiligen Zuordnung durch. Das bleibt nicht ohne Einfluss auf den Abwägungsvorgang.

___________ 105

BVerfGE 50, 195, 202 ff.; 86, 90, 108 f.; 107, 1, 24. Im Erg. auch Erbguth, DÖV, 2008, 154 f.; Rothe (Fn. 18) S. 151 f. Von daher indiziert die Vorwegnahme eines erst durch Abwägung zu rechtfertigenden Ergebnisses ein nicht mehr zu beseitigendes verfassungsrechtliches Defizit; s. a. Rothe ebda S. 263 sowie ThürVerfGH, ThürVBl 2005, S. 228, 240. 107 Vgl. oben zu Fn. 64, 65. 108 Siehe oben zu Fn. 75. Schon gar nicht ist die Einwohnerzahl geeignet, als alleiniges Kriterium zu dienen, zutreffend v. Mutius (Fn. 13), S. 63 f. 109 Vgl. BVerfGE 91, 228, 241 sowie BdgVerfG, LKV 2002, 573, 575. 106

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3. Maßstabsgerechte Umsetzung Die Rechtsprechung hat schon früh die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit (Systemgerechtigkeit) bei kommunalen Gebietsreformen herausgestellt. Dieses stellt sich nicht hinreichend begründeten Abweichungen von dem Grundkonzept einer Reform im Einzelfall entgegen.110 Eine dem vorgelagerte Problematik ist angesprochen, wenn bei kommunalen Gebietsreformen immer wieder von einer „Maßstabsvergrößerung“ die Rede ist.111 Eine solche lässt sich in zweifacher Hinsicht ausmachen: In einer kreisimmanenten Perspektive geht es um die Vergrößerung der Kreise durch Reduktion der bisherigen Anzahl. Sie wirft bei einem entsprechend hohen Änderungsfaktor die Frage der „Angemessenheit“ der gesetzgeberischen Entscheidung auf und kann Indiz für einen die bestehenden Einheiten wenig schonenden Umgang sein. In einer kreisübergreifenden Perspektive geht es um die Maßstäblichkeit zu den übrigen Verwaltungseinheiten im Land. Damit ist das Gebot der „institutionellen Symmetrie“112 angesprochen. Mit diesem kommen makroanalytische Variablen ins Spiel. Das Gebot hält den Staat namentlich zur Wahrung struktureller Konkordanz von Kreisebene und örtlicher Ebene an: Danach hat der Gesetzgeber Aufgaben, Größe und Struktur kommunaler Körperschaften aufeinander abzustimmen.113 Es handelt sich hierbei nicht etwa nur um einen „ästhetischen“ Aspekt von Verwaltungsreformen. Vielmehr geht es um das Maß der Problemverarbeitungskapazität im Schnittfeld von örtlicher und überörtlicher Aufgabenwahrnehmung. Wenn der kreisangehörige Raum auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Subsidiarität und Komplementarität von Gemeinden und Kreisen baut,114 geht es um eine notwendige Rahmenbedingung für Repräsentanz und Mitsprache der Gemeindebürger und ihrer Gemeinden sowie eine angemessene Wahrnehmung von Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion der Kreise.115 Nur so lässt sich der Marginalisierung kleiner Gemeinden in einem großen Kreis auf institutioneller Ebene wirksam begegnen.116

___________ 110

BVerfG, NVwZ 1982, 95; BdgVerfG, LKV 2002, 573 ff.. v. Mutius (Fn. 13), E 61; Schröder, VR 1977, 294; F. Wagener, in: Die Verwaltungsregion, 1967, S. 73. 112 Stern (Fn. 28), S. 156, 177; Stern/Püttner (Fn. 92), S. 20. 113 S. a. Püttner, SächsVBl 1993, 195: „Einpassungskriterium“. 114 Schoch (Fn. 10), S. 30. 115 Deshalb sollten Gebietsreformen stets bei der gemeindlichen Ebene ansetzen; s. Laux (Fn. 45), S. 69. 116 Siehe Kappe (Fn. 14), S. 21; Rothe (Fn. 18), S. 91, 150 (zur Berücksichtigung der Gesamteinwohnerzahl). 111

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4. Die Angemessenheit des Abwägungsergebnisses Das Bundesverfassungsgericht prüft Neugliederungsgesetze regelmäßig in zwei Schritten: Zunächst untersucht es, ob der Gesetzgeber alle Gemeinwohlgründe sowie die Vor- und Nachteile der Neuordnungsregelung in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat.117 Sodann fragt es, ob der gesetzgeberische Eingriff offenbar ungeeignet oder nicht erforderlich ist, um die damit verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob er deutlich außer Verhältnis hierzu steht sowie ob er frei von willkürlichen Erwägungen ist.118 Hier soll – in einer abschließenden Betrachtung – lediglich auf die Frage der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i. e. S.) näher eingegangen werden. Bei gebietlichen Neugliederungen ist eine Vielzahl von Kriterien abzuwägen. Neben den regionalen Eigenheiten, nicht zuletzt örtlicher Verbundenheit sowie geschichtlichen und kulturellen Bezügen, ist es insbesondere die ambivalent zu verstehende „Leistungsfähigkeit“ der neu zu bildenden Einheiten, welche in der gebotenen Abwägung zum Ausgleich zu bringen ist. Damit stellt sich eine komplexe Abwägungsaufgabe: Die an den Aufgaben gemessene administrativ-technische Leistungsfähigkeit ist ein legitimer Abwägungsfaktor neben anderen. Er kann freilich die sich aus Art. 28 Abs. 2 GG ergebenden strukturellen Anforderungen spezifisch kommunaler Selbstverwaltung nicht überspielen; diese sind mehr als ein beliebiger „Belang“. Die Nichtberücksichtigung eines sich den Umständen nach aufdrängenden Abwägungselements führt zu einem Abwägungsdefizit, ihre verfehlte Gewichtung zu einem rechtlich missbilligten Abwägungsergebnis infolge einer Abwägungsdisproportionalität.119 Anhaltspunkte für eine angemessene Bewertung der Vor- und Nachteile bieten empirische Vergleiche wie auch Empfehlungen von SachverständigenKommissionen und Stellungnahmen in Literatur und Rechtsprechung. Wo wegen der Größe der Kreise die Kompatibilität mit dem Strukturmodell kommunaler Selbstverwaltung – und hier insbesondere die Frage der Überschaubarkeit – eine Rolle spielt, erlaubt die Empirie ein „Benchmarking“ anhand von „Kennzahlen“, wie sie auch in anderen Zusammenhängen (wie dem Länderfinanzausgleich) verwendet werden. Letztere ermöglichen die abstrakte Einschätzung bestimmter Größenordnungen durch distanzierten Sachverstand. Bezogen auf Gesamtdeutschland stellte sich die Kreisebene Ende 2006 wie folgt dar: Es bestanden 323 Kreise mit einer durchschnittlichen Einwohnerzahl ___________ 117 118

Vgl. vorstehend zu Fn. 105. BVerfGE 50, 195, 202 ff.; 86, 90, 108 f.; in positiver Wendung: BVerfGE 107, 1,

24. 119 Zur Kontrolldichte BVerfGE 107, 1, 24; Schmidt-Aßmann (Fn. 50), S. 137 f.; zu pauschal: SächsVerfGH, LVerfGE 10, 375 ff.; VerfG RhPf, DVBl 1971, 497, 500.

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von 174.614 und einer durchschnittlichen Kreisfläche von rd. 1.055 qkm. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Struktur der Länder, namentlich der jeweiligen Bevölkerungsdichte, ist der Zuschnitt der Kreise in den einzelnen Ländern allerdings breit gestreut: Die Einwohnerzahl schwankt zwischen 35.700 und 657.600. Insbesondere in Rheinland-Pfalz finden sich nach wie vor Kreise mit weniger als 50.000 Einwohnern. In mehr als der Hälfte (176) der Kreise beträgt die Fläche unter 1000 qkm; 122 Kreise weisen ein Gebiet zwischen 1000 und 2000 qkm auf, 21 Kreise haben eine Ausdehnung von über 2000 qkm, 1 Kreis (Uckermark) eine solche von 3050 qkm.120 Die unterschiedliche Relationalität folgt einem je eigenen „Bezugsrahmen“, der vor allem durch Rahmenbedingungen wie Siedlungsdichte, Verflechtungen, ländliche oder städtische Strukturen u.a. gekennzeichnet ist. Nach Püttner121 kann allerdings von einer spürbaren Verwaltungsschwäche auch in den einwohnerschwächeren Kreisen nicht die Rede sein; namentlich seien Qualitätssprünge durch größere Kreise nicht beobachtet worden. Vor diesem Hintergrund kann nicht überraschen, wenn sich frühere Vorschläge in Sachverständigen-Gutachten regelmäßig in einem Bereich zwischen 100.000 und 200.000 Einwohnern mit einer gewissen Präferenz um 150.000 Einwohner bewegten.122 Die Rechtsprechung123 hatte sich dem durchweg angeschlossen. Auch im Schrifttum124 war keine wesentlich hiervon abweichende Maßstäblichkeit zu registrieren. Wagener125 gelangte auf der Grundlage seiner – vor allem quantitativ angelegten – Analyse für die Kreisebene zu Zahlen zwischen 130.000 und 280.000 Einwohnern bei unterdurchschnittlicher Einwohnerdichte, für die er eine Zahl von weniger als 200 Einwohnern/qkm ansetzte.126 Stern/Püttner127 nennen eine Größenordnung von 125.000 bis 400.000 Einwohnern je nach Einwohnerdichte und Gemeindegröße. Rothe128 sieht eine ___________ 120

Berechnung auf der Grundlage von Statistisches Bundesamt, www.genesis. destatis.de/genesis/online/dabruftabelle (code: 1111-0002, Gebietsfläche: Kreise). 121 Püttner, SächsVBl 1993, 195; s. a. Rothe (Fn. 18), S. 150. 122 Ausf. Nachw. bei Kappe (Fn. 14), S. 14 f., 22 Fn. 2. Zum Saarland: Krause, AfK 13 (1974), 277, 280. 123 Siehe StGH BW, ESVGH 23, 1, 13; VerfGH NW, OVGE 30, 312, 316. 124 Vgl. außer den im Folgenden Genannten: E. Pappermann/ F. Stollmann, NVwZ 1993, 240 f. unter Hinweis auf Werte zwischen 80.000 und 120.000 Einwohnern. Eine solche Lösung bedeute ein „geringeres Übel“ gegenüber einer überproportionalen Flächenausdehnung. S. a. Püttner, SächsVBl 1993, 193, 195 sowie Wagener (Fn. 98), S. 224 f. 125 Wagener (Fn. 98), S. 463 ff. 126 Dabei ging Wagener von bestimmten Proportionen aus: Für die Gemeinden nannte er eine Mindestzahl von 7.000 Einwohnern, für die Länder Zahlen von 5,9 – 10,0 Mio. Einwohnern; s. a. ders. (Fn. 111), S. 73, 74 f. 127 Stern/Püttner (Fn. 92), S. 35. 128 Rothe (Fn. 18), S. 150 f.

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Flächengröße von 2000–2500 qkm als empfehlenswerten „Richtwert“ an. Die genannten Schwellenwerte sind letztlich Ergebnis einer Abwägung, welche die verschiedenen Kriterien auf einen – durch einen bestimmten Rahmen definierten – Nenner bringt.129 Klar ist, dass es sich bei den diskutierten quantitativen Werten immer nur um – zeitgebundene – Indikatoren für eine sachgerechte Abwägung handeln kann. Der Gesetzgeber selbst kann und sollte sich jedenfalls an Werten im Sinne von „Regelgrößen“ orientieren, die in einem rationalen Abwägungsprozess zustande gekommen sind. Das lässt Abweichungen zu, wo diese angebracht sind, impliziert aber zugleich, dass er das Grundraster nicht ohne hinreichende Begründung verlassen darf.130 Ebenso klar sollte sein, dass der Faktor Fläche in dünn besiedelten Gebieten mit einer schwach ausgeprägten Infrastruktur nicht nur marginal von Belang ist. Hier darf nicht primär nach Einwohnerzahlen vorgegangen werden, soweit nicht gewichtige Gründe für eine bestimmte Mindestzahl streiten. Insofern folgt die Abwägung einer Je-Desto-Formel: Je mehr Restriktionen für die bürgerschaftliche Selbstverwaltung mit der Maßnahme verbunden sind, umso höher sind die Anforderungen an die in Aussicht genommene Reform. Je geringer die Bevölkerungsdichte, desto problematischer ist die räumliche Ausdehnung. Je ungesicherter die angestrebten Vorteile der Maßnahme sind, umso stärkeres Gewicht müssen die dafür vorgebrachten Gründe haben.131 Ohnehin geht es nicht um Festlegungen für ein und alle Mal. Auch die „kommunale Landschaft“ steht nicht unter einem allgemeinen verfassungsrechtlichen Entwicklungsverbot.132 Stets kommt es auf die Ambiance an, auf welche die Neugliederungsmaßnahme trifft.133 Neugliederungen sind notwendig kontextbezogen. Verhältnismäßige Anpassungen sind namentlich dann möglich, wenn sich die Rahmendaten (etwa die Einwohnerzahlen oder die maßgebliche Infrastruktur) dauerhaft verändern. Eine Rolle für die Maßstäblichkeit spielt weiterhin das administrative Umfeld der neu zu ordnenden Kreise; hierzu zählen die jeweils wahrzunehmenden Aufgaben ebenso wie die Struktur der Verwaltung im Übrigen. Dabei ist zu beachten, dass sich mehrere Faktoren in der Tendenz verstärken oder sich gegenseitig aufheben können. So ___________ 129

Kappe (Fn. 14), S. 14. BVerfGE 50, 50, 51; s. a. Dreier in: ders. (Hg.), GG, 1998, Art. 28 Rn. 122. 131 Vgl. Ipsen (Fn. 23) S. 24 f.; v. Mutius (Fn. 13), E 62 f.; Schröder, VR 1977, 294, 295; s. a. Ebsen, Disk.beitrag, VVDStL 62 (2003), 459. 132 Siehe oben IV (zu Fn. 57). 133 Lerche, DÖV 1969, 54; s. a. W. Jann, in: M. Nierhaus (Hg.), Kommunalstrukturen in den Neuen Bundesländern nach 10 Jahren Deutscher Einheit, 2002, S. 87 (unter Hinweis auf die – in einen ganz anderen Kontext gestellten – skandinavischen Länder); W. Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl., S. 174 Rn. 257. 130

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drängt ein Gebiet mit geringer Bevölkerungsdichte und einer Vielzahl kleiner Gemeinden zur Bildung eines Kreises mit niedrigen, eine Region mit starker Bevölkerungsdichte und zahlreichen Städten auf eine solche mit hohen Einwohnerzahlen. Andererseits können in Ländern mit Verbandsgemeinden höhere Einwohnerziffern für Kreise angesetzt werden als in Ländern ohne diese.134 Schließlich ist der Gesamtzuschnitt des Landes zu bedenken. So kann eine Neugliederung des Bundes, die mit einer Vergrößerung der Flächen der Länder verbunden wäre, auch den Zuschnitt der kommunalen Selbstwaltungskörperschaften in einen neuen, abwägungsrelevanten Kontext stellen:135 Umfasst das relevante Entscheidungsumfeld einer kommunalen Neugliederung sämtliche Verwaltungsebenen, so lässt eine solche Maßstabsveränderung auf der Makroebene auch die kommunale Landschaft nicht unberührt.

___________ 134 135

Vgl. Wagener (Fn. 10), S. 246. Zu diesem Zusammenhang bereits Becker (Fn. 99), S. 75.

Das Recht auf Zugang zum Gericht in Verwaltungsangelegenheiten und „zuständiges Gericht“ in der polnischen Rechtsordnung Von Andrzej Wasilewski, Krakau

I. Einführung1 Es scheint zweckmäßig, zu Beginn der vorliegenden Erörterungen an bestimmte historische Begebenheiten anzuknüpfen.2 In Folge der drei Teilungen Polens (1772; 1793; 1795) durch die Nachbarstaaten Russland, Preußen und Österreich wurde der seit über 800 Jahren bestehende, seit Mitte des 15. Jahrhunderts als die 1. Republik bezeichnete souveräne polnische Staat von der politischen Karte Europas getilgt, um erst nach dem 1. Weltkrieg (1918) als die 2. Republik seine Unabhängigkeit wiederzugewinnen. Innerhalb von 123 Jahren (1795-1918) galten also auf den polnischen – nun Österreich, Preußen und Russland einverleibten Gebieten drei verschiedene Rechtsordnungen, folglich auch verschiedene Lösungen im Bereich der gerichtlichen Kontrolle der öffentlichen Verwaltung. In dem zu Preußen gehörenden Landesteil herrschte eine Verwaltungsgerichtsbarkeit mit drei Instanzen (Kreis- oder Stadtausschüsse – Bezirks- oder Regierungsausschüsse – Oberverwaltungsgericht), in den Jahren 1872-1883 in Preußen eingeführt, deren Zuständigkeitsbereich vom Gesetzgeber in einer Enumerativklausel grundsätzlich abschließend bestimmt, im Polizei- und Fiskusbereich aber durch eine Generalklausel ergänzt wurde. Auf den Österreich zugefallenen Gebieten gab es eine einstufige Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ___________ 1 Mit diesem Beitrag möchte ich insbesondere an die folgenden Schriften von Friedrich E. Schnapp anknüpfen: Das Rechtsstaatsprinzip in der Verfassung der Republik Polen, OsteuropaRecht 2001 S. 171 ff.; Die Garantie der örtlichen Selbstverwaltung in der polnischen Verfassung, DÖV 2001, S. 723 ff.; Rechtsschutzgewährleistung und Rechtsschutzsystem in der polnischen Verfassung, DÖV 2004, S. 322 ff. 2 Vgl. J. Bardach/B.LeĞnodorski/M. Pietrzak, Historia ustroju i prawa polskiego [Geschichte der polnischen Staatsordnung und des polnischen Rechts], 5. Aufl. Warszawa 2000, S. 223 ff; J.S. Langrod, Zarys sądownictwa administracyjnego ze szczególnym uwzglĊdnieniem sądownictwa administracyjnego w Polsce [Abriss zur Verwaltungsgerichtsbarkeit unter besonderer Berücksichtigung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Polen], Warszawa 1925.

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dem 1875 gegründeten Verwaltungsgerichtshof in Wien. In seinen Zuständigkeitsbereich fiel der Schutz der subjektiven öffentlichen Rechte des Einzelnen gegen eine Verletzung durch eine gesetzwidrige Entscheidung oder Verfügung in den durch die Generalklausel bestimmten Sachen, diejenigen ausgenommen, die enumerativ von dem Zuständigkeitsbereich des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen wurden. Der Verwaltungsgerichtshof entschied nur kassatorisch. Russland dagegen kannte im 19. Jahrhundert keine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Kraft des Erlasses (Ukas) vom 20. November 1864 wurde die Gerichtsbarkeit von den Verwaltungsbehörden getrennt – für alle Zivilstreitigkeiten waren ordentliche Gerichte zuständig, während die Kontrolle der öffentlichen Verwaltung im Hinblick auf die ihre Tätigkeit regelnden Grundsätze quasi-gerichtlich blieb. Denn a) wurden die für diese Kontrolle zuständigen Organe nicht aus dem allgemeinen Verwaltungssystem ausgesondert; b) wurden Klagen gegen Verwaltungsbescheide im speziellen „Innenverwaltungsverfahren“ durch die 1890 in einzelnen Verwaltungszweigen eigens dazu berufenen Kollegialorgane („prisustvije“) entschieden; c) waren Rechtsmittelinstanz gegen ihre Entscheidungen entsprechende, auf Gouvernementebene gegründete Kollegialorgane, d) waren die höchste Instanz für Klagen gegen Entscheidungen dieser Kollegialorgane die (je nach Verwaltungsgebiet) sachlich zuständigen Departements des Senats in Petersburg. Es sei hier aber auch erwähnt, dass in der Verfassung des Herzogtums Warschau, einem 1807 von Napoleon I. aus den bislang preußischen, russischen und österreichischen Teilungsgebieten gegründeten, formal unabhängigen und im Bündnis mit Frankreich stehenden Staat, die Grundsätze der französischen Staatsordnung rezipiert wurden, darunter zum Teil auch die Organisation und Tätigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Art. 65 der Verfassung des Herzogtums Warschau). Für Verwaltungsangelegenheiten waren zwei Rechtszüge vorgesehen: 1. Instanz – die Präfekturräte und 2. Instanz – der Staatsrat. Sie waren hauptsächlich für Vermögensstreitsachen zwischen Verwaltungsorganen bzw. öffentlichen Einrichtungen und Privatpersonen zuständig. In dem auf dem Wiener Kongress 1815 durch dessen Schlussakte geschaffenen und durch Personalunion mit dem Russischen Reich verbundenen Königreich Polen wurde die im Herzogtum Warschau existierende Struktur der Verwaltungsgerichtsbarkeit faktisch aufrechterhalten; auch wenn die Verfassung des Königreichs Polen von 1815 die Verwaltungsgerichtsbarkeit unerwähnt ließ, so bestätigte sie doch das weitere Bestehen des Staatsrates.

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II. Die Zweite Republik Art. 37 des Gesetzes vom 17. März 1921 – Verfassung der Republik Polen (Vf II RP),3 des ersten Verfassungsgesetzes seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1918, allgemein als Märzverfassung bezeichnet, legte fest: „Zur Entscheidung über die Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsakten im Bereich der Regierungs- wie der Selbstverwaltung wird durch besonderes Gesetz eine Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt, die sich in ihrer Organisation auf das Zusammenwirken von Laien- und richterlichen Faktoren stützt, mit einem Obersten Verwaltungstribunal an der Spitze“. Dies bedeutete zwar, dass die gerichtliche Kontrolle über die Verwaltung in der zweiten Republik mindestens in zwei Rechtszügen und zumindest in erster Instanz unter Beteiligung von Schöffen stattfinden sollte, die verfassungsrechtlichen Vorgaben wurden aber nie umgesetzt. Der Verwaltungsgerichtshof (das sog. Oberste Verwaltungstribunal – poln. NTA, weiter als: VwGH), das auf Grund des Gesetzes vom 3. August 19224 gegründet wurde, war auf den meisten polnischen Gebieten ohne gerichtlichen Unterbau – mit Ausnahme der Wojewodschaften Posen, Pommern und Schlesien.5 Nach österreichischem Vorbild war der VwGH a) im Prinzip ein „eininstanzliches“ Organ für die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung, b) ausschließlich von Fachrichtern besetzt, c) für ausschließlich kassatorische Entscheidungen zuständig, d) mit einem durch eine Generalklausel bestimmten Zuständigkeitsbereich, nach dem er zur Überprüfung der Gesetzmäßigkeit von Bescheiden der Regierungsverwaltungs- und Selbstverwaltungsorgane zuständig war, soweit nicht bestimmte enumerativ genannte Kategorien von Sachen davon ausgenommen waren. Auf Grund des Gesetzes vom 26. ___________ 3 Dziennik Ustaw RP (Gesetzesblatt RP), im folgenden: GBl.RP von 1921 Nr. 44/267. 4 Gesetz vom 3. August 1922 über den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) – GBl.RP von 1922 Nr. 67/600 und seine Änderung: GBl.RP von 1926 Nr. 68/400; und die Verordnung des Präsidenten der RP vom 27. Oktober 1932 über den Verwaltungsgerichtshof – GBl.RP von 1932 Nr. 94/806 mit Änd. – Art. 1: „Bis zur Errichtung von Verwaltungsgerichten niedrigeren Ranges ist der Verwaltungsgerichtshof die einzige Gerichtsinstanz, die für Entscheidungen über die Gesetzmäßigkeit von Anordnungen und Entscheidungen, die in den Zuständigkeitsbereich der Regierungs- und der Selbstverwaltung fallen, zuständig ist“. 5 Wegen der finanziellen Schwierigkeiten des wieder entstandenen polnischen Staates und des Mangels an entsprechend vorbereiteten Kadern wurden damals keine Verwaltungsgerichte niedrigeren Ranges errichtet; auf Grund des Art. 35 des Gesetzes über den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) wurden die Organisationsstruktur und die Tätigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit niedrigerer Ordnung auf den ehemals von Preußen besetzten Gebieten, d. h. in der Wojewodschaft Posen und Pommern, und seit 1924 auch in der Wojewodschaft Schlesien aufrechterhalten; vgl. auch : W. Maisel, Wojewódzkie sądy administracyjne w Drugiej Rzeczypospolitej [Wojewodschaftsverwaltungsgerichte in der Zweiten Republik], Warszawa – PoznaĔ 1976.

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März 1935 wurde neben dem VwGH das Invalidenverwaltungsgericht (IVwG)6 ins Leben gerufen, das für Klagen gegen Verwaltungsbescheide in Sachen der Altersversorgung von Kriegs- und Militärinvaliden sowie deren Hinterbliebenen zuständig war und somit den Verwaltungsgerichtshof im einschlägigen Bereich entlasten sollte. Gleichzeitig wurde entsprechend der Disposition von Art. 86 der Märzverfassung ein besonderer Kompetenzgerichtshof zur Entscheidung von Streitigkeiten über Zuständigkeit zwischen Verwaltungsbehörden und Gerichten eingesetzt,7 dessen Richter für die Dauer von 5 Jahren berufen wurden – zum Teil wurde er mit Richtern des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH), zum Teil mit solchen des Obersten Gerichts, aber auch mit solchen Rechtswissenschaftlern besetzt, die kein Verwaltungs- bzw. Justizamt bekleideten und von den Fakultäten der staatlichen Universitäten genannt wurden.8

III. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg 1. Die Zeit von 1944 bis 1980 Nach 1944 (bis 1980) wurde in Polen der Verwaltungsgerichtshof nicht reaktiviert, obwohl gemäß dem Verfassungsgesetz vom 19. Februar 1947 über die Verfassung und Umfang der Tätigkeit der Obersten Organe der Republik Polen (der sog. „Kleinen Verfassung“)9 die Bestimmungen der Märzverfassung formal nach wie vor ihre Geltung behielten (bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung durch das Verfassungsparlament im Jahre 1952) und ungeachtet dessen, dass in Art. 26 der Kleinen Verfassung die Bildung einer gesonderten Verwaltungsgerichtsbarkeit ausdrücklich vorgesehen war. In den Jahren 19451948 wurde zwar öffentlich über die künftige Konzeption der gerichtlichen Verwaltungskontrolle in Polen diskutiert10 und auf die Notwendigkeit ihrer Einführung hingewiesen, die Realisierung dieses Vorhabens ist aber endgültig an politischen Entscheidungen dieser Zeit gescheitert. Dann war im Gesetz vom ___________ 6

GBl.RP von 1935 Nr. 26/177. Vgl. Gesetz vom 25. November 1925 über den Kompetenzgerichtshof – GBl.RP von 1925 Nr. 126/897 und K.M. KrzyĪanowski, Trybunaá Kompetencyjny [Der Kompetenzgerichtshof], Warszawa 1925. 8 Die Regelungen der sog. Märzverfassung über den VwGH, als auch den IVwG und den Kompetenzgerichtshof blieben bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 in Kraft. 9 GBl.RP von 1947 Nr. 18/17 – Art. 1. 10 Vgl. z. B.. T. Bigo, Sądownictwo administracyjne [Verwaltungsgerichtsbarkeit], in: ĝląsko-Dąbrowski Przegląd Administracyjny 1947/Nr. 6. 7

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22. Juli 1952 – Verfassung der Volksrepublik Polen (VerfVRP)11 – von der gerichtlichen Kontrolle der öffentlichen Verwaltung überhaupt keine Rede mehr. Zwar kam es in den Jahren 1956-1959, einer Zeit der Liberalisierung im Zuge des „polnischen Oktobers“, erneut zur öffentlichen Diskussion über die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der Einführung dieser Kontrolle,12 aber auch diesmal ohne Erfolg.

2. Die Errichtung des Hauptverwaltungsgerichts 1980 Die gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Verwaltung wurde in die polnische Rechtsordnung erst am 1. September 1980 wieder eingeführt, und zwar mit der Errichtung des Hauptverwaltungsgerichts (poln. NSA, weiter als: HVwG).13 In den ersten zehn Jahren waren die Zuständigkeiten des HVwG enumerativ im Gesetz festgelegt (u. a. dieser Kontrolle unterlagen Verwaltungsakte in den Bereichen Baurecht, Preise, Gebühren, Kommunal- und Wohnungswirtschaft, Grundstücksenteignungen, Berechtigungen zur Ausübung von bestimmten Berufen und Tätigkeiten u. a., auch Untätigkeit eines Organs). Das HVwG war ein „eininstanzliches“ und mit Berufsrichtern besetztes Gericht mit Sitz in Warschau und mit einigen (zunächst fünf) Außenstellen in größeren Wojewodschaftsstädten. Es hatte die Aufgabe, die objektiv-rechtliche Rechtmäßigkeit von angefochtenen Verwaltungsakten zu kontrollieren, und war dazu ausschließlich mit Kassationsbefugnissen ausgestattet. Nach der Änderung der Vorschriften des Gesetzes über das Hauptverwaltungsgericht (HVwG)14 wurde der Zuständigkeitsbereich des HVwG im beschränkten Umfang auch um „reformatorische“ Befugnisse erweitert, d.h., das Gericht war nicht mehr strikt an den Rahmen der (Anfechtungs-) Klage gebunden; die in seiner Entscheidung ausgedrückte rechtliche Bewertung war für das Verwaltungsorgan im nachfol___________ 11

GBl.VRP von 1952 Nr. 33/232 mit Änd. Vgl. J. Litwin, Problematyka sądownictwa administracyjnego [Problematik der Verwaltungsgerichtsbarkeit], in: Nowe Prawo 1956/Nr. 10; W. Dawidowicz, W sprawie sądownictwa administracyjnego [In Sachen der Verwaltungsgerichtsbarkeit], in: PaĔstwo i Prawo 1956/Nr. 12; L. Bar / J. Stembrowicz, O potrzebie sądowej kontroli administracji [Über die Notwendigkeit der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung], (in:) PaĔstwo i Prawo 1957/Nr. 1; T. Bigo, Trzy sugestie w sprawie sądownictwa administracyjnego [Drei Suggestionen in Sachen der Verwaltungsgerichtsbarkeit], in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Wrocáawskiego 1958/Nr. 10. 13 Auf Grund von Art. 1 – Art. 10 des Gesetzes vom 31. Januar 1980 über das Hauptverwaltungsgericht und über die Änderung des Gesetzes – Verwaltungsverfahrensgesetz – GBl.VRP von 1980 Nr. 4/8 mit Änd.; und später gemäß den Vorschriften des Gesetzes vom 11. Mai 1995 über das Hauptverwaltungsgericht – GBl.RP von 1995 Nr. 74/368 mit Änd. 14 Gesetz vom 11. Mai 1995 über das Hauptverwaltungsgericht – GBl.RP von 1995 Nr. 74/368 mit Änd. 12

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genden (Ausführungs-) Verwaltungsverfahren in derselben Sache rechtlich bindend. Zugleich aber wurde die Rechtsprechung des HVwG der Judikativaufsicht des Obersten Gerichts (poln. SN, weiter als: ObG)15 unterstellt, das u.a. durch Beschlüsse verbindliche Antworten auf Rechtsfragen geben und über die sog. außerordentliche Revision gegen die Entscheidungen des Hauptverwaltungsgerichts urteilen konnte.

3. Die Sozialgerichtsbarkeit Darüber hinaus waren noch auf Grund des Gesetzes vom 28. Juli 1939 – Recht der Sozialversicherungsgerichte16 – in den Jahren 1947-1974 in Polen besondere Sozialversicherungsgerichte tätig (Bezirkssozialversicherungsgerichte und der Sozialversicherungsgerichtshof), die für Klagen gegen Verwaltungsbescheide in Renten- und Sozialversicherungsangelegenheiten zuständig waren. Auf Grund des Gesetzes vom 24. Oktober 197417 wurde anstelle der bisherigen Bezirkssozialversicherungsgerichte besondere „Bezirksarbeits- und Bezirkssozialversicherungsgerichte“ als Gerichte erster Instanz errichtet und gleichzeitig der Sozialversicherungsgerichtshof aufgelöst. Für Rechtsmittel gegen die Entscheidungen der Gerichte erster Instanz war von nun an das Oberste Gericht zuständig. Und auf Grund des Gesetzes vom 18. April 198418 wurden die bisher gesonderten Bezirksarbeits- und Bezirkssozialversicherungsgerichte in die Organisationsstruktur der „ordentlichen Gerichte“ aufgenommen. Schon von 1962 an unterlagen die Entscheidungen der Sozialversicherungsgerichte, und dann auch der Arbeits- und Sozialversicherungsgerichte der Judikativkontrolle des Obersten Gerichts (ObG).19

___________ 15 Art. 5 des Gesetzes vom 31. Januar 1980 über das Hauptverwaltungsgericht (HVwG) und über die Änderung des Gesetzes – Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) – GBl.VRP von 1980 Nr. 4/8 mit Änd. 16 GBl.RP von 1939 Nr. 71/476. Vgl. auch: T. Liszcz, Ubezpieczenie spoáeczne i zaopatrzenie spoáeczne w Polsce [Sozialversicherung und Sozialversorgung in Polen], Kraków-Lublin 1997. 17 Gesetz vom 24. Oktober 1974 über Bezirkarbeitsgerichte und Bezirkssozialversicherungsgerichte – GBl.VRP von 1974 Nr. 39/231 mit Änd. 18 Gesetz vom 18. April 1985 über gerichtliche Prüfung von Sachen im Bereich des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – GBl.VRP von 1985 Nr. 20/85. 19 Vgl. folgende Gesetze: Gesetz vom 15. Februar 1962 über das Oberste Gericht – GBl.VRP von 1962 Nr. 11/54 mit Änd.. (Art. 9 und Art. 24); Gesetz vom 20. September 1984 über das Oberste Gericht – GBl.VRP von 1984 Nr. 45/241 mit Änd. (Art. 13) und GBl.RP von 2002 Nr. 101/924 mit Änd. (Art. 13); Gesetz vom 23. November 2002 über das Oberste Gericht – GBl.RP von 2002 Nr. 240/2052 mit Änd. (Art. 1).

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4. Das Kompetenzkollegium Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlten dagegen im polnischen Recht verfassungsrechtliche bzw. gesetzliche Grundlagen für die Errichtung eines Kompetenzgerichtshofes (nach Vorbild aus der Vorkriegszeit). Zwar legte Art. 20 der ursprünglichen Fassung des Gesetzes vom 14. Juni 1960 – Verwaltungsverfahrensgesetz (poln. KPA, weiter als: VwVfG)20 fest, dass entsprechende Verfahrensgrundsätze in einem separaten Gesetz geregelt werden sollten, dennoch traten einschlägige Vorschriften erst infolge der Novellierung des Verwaltungsverfahrensgesetzes durch Gesetz vom 31. Januar 1980 in Kraft.21 Gemäß diesen Vorschriften war für die Lösung von Streitigkeiten zwischen den Organen der öffentlichen Verwaltung und den ordentlichen Gerichten das am Obersten Gericht tätige Kompetenzkollegium (KKamOG – Art. 190 VwVfG) zuständig. Gemäß diesen Vorschriften (Art. 192 § 1 VwVfG) lag ein Kompetenzstreit vor, wenn 1) sich sowohl Organe der öffentlichen Verwaltung als auch die ordentlichen Gerichte als für die Lösung ein und derselben Sache zuständig erachteten (der sog. positive Kompetenzstreit) – die rechtliche Legitimation zur Antragstellung stand dann dem interessierten Verwaltungsorgan oder dem ordentlichen Gericht, und darüber hinaus auch dem Justizminister und dem Generalstaatsanwalt zu; ferner war das Kollegium zuständig, wenn 2) sowohl Verwaltungsorgane als auch allgemeine Gerichte sich als für die Sache unzuständig ansahen (der sog. negative Kompetenzstreit) – zur Antragstellung waren in diesem Fall die an der Lösung der Sache interessierte Person sowie der Justizminister und der Generalstaatsanwalt berechtigt. Der Antrag auf die Lösung eines Kompetenzstreits war an den Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts zu richten, der den Justizminister sowie den im Hinblick auf den Streitgegenstand sachlich zuständigen Minister und den Generalstaatsanwalt davon in Kenntnis zu setzen verpflichtet war (Art. 192 § 2 VwVfG). Das KKamOG hatte keine ständige Besetzung – besetzt wurde jeweils für die Entscheidung einer konkreten Sache. Das KKamOG erkannte in der Besetzung von fünf Personen – drei Richtern des Obersten Gerichts (darunter der Vorsitzende des KKamOG), die jeweils nach Eingang des Antrags vom ersten Präsidenten des OG bestellt wurden, und je einem Vertreter des Justizministers und des sachlich zuständigen Ministers (Art. 191 VwVfG). Die Entscheidung fiel nach einer Verhandlung unter Beteiligung der an der Entscheidung über die Sache interessierten Partei, ___________ 20

GBl.VRP von 1960 Nr. 30/168. Gesetz vom 31. Januar 1980 über das Hauptverwaltungsgericht (HVwG) und über die Änderung des Gesetzes – Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) – GBl.VRP von 1980 Nr. 4/8, sowie Gesetz vom 14. Juni 1960 – Verwaltungsverfahrensgesetz – einheitlicher Text: GBl.VRP von 1980 Nr. 9/26 mit Änd.; vgl. auch: Art. 5 und Art. 7 des Gesetzes über das Oberste Gericht vom 20 September 1984 – einheitlicher Text: GBl.RP 1994 Nr. 13/48 mit Änd. 21

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also vor dem Hintergrund der zum Kompetenzstreit führenden Auseinandersetzung. Antragsbefugt waren die Partei sowie der Vertreter des zuständigen Verwaltungsorgans und des Generalstaatsanwalts (Art. 193 § 3 VwVfG). Mangels spezieller Vorschriften fanden im Verfahren vor dem KKamOG die Vorschriften des Zivilverfahrensgesetzbuches Anwendung (Art. 195 VwVfG); die Entscheidungen des KKamOG waren endgültig und nicht anfechtbar (Art. 194 VwVfG).22

IV. Die III. Republik Vom 8. Dezember 1992 an galt das neue Verfassungsgesetz vom 17. Oktober 1992 über gegenseitige Beziehungen zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt der Republik Polen und über die Selbstverwaltung (die sog. Kleine Verfassung),23 Sie hatte die bislang geltende Verfassung der Volksrepublik Polen (VerfVRP)24 aufgehoben, aber einige ihrer Vorschriften aufrecht erhalten. Die neue Verfassung vom 2. April 1992 trat aber erst am 17 Oktober 1997 in Kraft (Verfassung der III. Republik Polen – Verf III RP).25 Sie legte u. a. fest: (1) „Die Ordnung der Republik Polen stützt sich auf die Trennung und das Gleichgewicht der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt“ (Art. 10 Abs. 1); (2) gewährleistet wurde der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 45 Abs. 1; Art. 77 Abs. 2 sowie Art. 165 Abs. 2);26 (3) „Die Rechtsprechung in der Republik Polen üben das Oberste Gericht, ordentliche Gerichte, Verwaltungs- und Militärgerichte aus“ (Art. 175 Abs. 1),27 und „Sondergerichte und Schnellverfahren dürfen nur für Kriegszeiten eingeführt werden“ (Art. 175 Abs. 2); (4) „Das Gerichtsverfahren umfasst mindestens zwei Instanzen“ (Art. 176 Abs. 1); (5) „Den Aufbau und die Zuständigkeiten der Gerichte sowie das Gerichtsverfahren regeln Gesetze“ (Art. 176 Abs. 2); (6) der Abgrenzung von Zuständigkeiten der ordentlichen und der Verwaltungsgerichte liegen folgende Grundsätze zugrunde: (a) „Die ordentlichen Gerichte üben die Rechtsprechung in allen Angelegenheiten mit Ausnahme derer ___________ 22 Vgl. dazu auch: A. Wasilewski, Kolegium Kompetencyjne przy Sądzie NajwyĪszym – de lege lata i de lege ferenda [Das Kompetenzkollegium am Obersten Gericht – de lege lata und de lege ferenda] PaĔstwo i Prawo 2000/Nr. 8, S. 4 ff. 23 GBl.RP von 1992 Nr. 84/426. 24 Vgl. Anm. 13. 25 GBl.RP von 1997 Nr. 78/483 mit Änd. 26 Vgl. Z. Czeszejko-Sochacki, Prawo do sądu w Ğwietle Konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej [Anspruch auf rechtliches Gehör im Lichte der Verfassung der Republik Polen], PaĔstwo i Prawo 1997/Nr 11-12, S. 86 ff. 27 Vgl. A. Wasilewski, PojĊcie ‘sądu’ w prawie polskim w Ğwietle standardów europejskich [Der Begriff „Gericht im polnischen Recht im Lichte der europäischen Standards], Przegląd Sądowy 2002/Nr. 11-12, S. 3 ff.



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aus, die gesetzlich der Zuständigkeit anderer Gerichte vorbehalten sind“ (Art. 177), (b) die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung kontrollieren das Hauptverwaltungsgericht und andere Verwaltungsgerichte in dem durch Gesetz bestimmten Umfang, wobei diese Kontrolle auch Entscheidungen über die Gesetzmäßigkeit der Beschlüsse der örtlichen Selbstverwaltungsorgane und der Normativakte der lokalen Organe der Regierungsverwaltung umfasst (Art. 184). Nach der Übergangsvorschrift der Verfassung der III. RP (Art. 236 Abs. 2) sollten die zur Regelung des Aufbaus der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Verfahrens vor den Verwaltungsgerichten erforderlichen Gesetze vor Ablauf von fünf Jahren nach dem Tag des Inkrafttretens dieser Verfassung (d. h. spätestens bis zum 16. Oktober 2002 – terminus ad quem) verabschiedet werden. Bis zu deren Inkrafttreten sollten also die bisherigen Vorschriften weitergelten, darunter auch diejenigen über die Grundsätze und das Verfahren bei der Lösung von Kompetenzkonflikten zwischen den öffentlichen Verwaltungsorganen oder zwischen den Verwaltungsgerichten und den ordentlichen Gerichten vor dem KKamOG. In Ausführung der obigen Verfassungsvorschrift (Art. 236 Abs. 2 Verf III RP) wurden drei Gesetze verabschiedet, und zwar: (1) das Gesetz über die Organisation der Verwaltungsgerichte vom 25. Juli 2002 (poln. PUSA, weitr als: VwGOrgG),28 (2) das Gesetz über das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten vom 30. August 2002 (poln. PPSA, weiter als: VwPO)29 und (3) das Gesetz – Einführungsvorschriften zum Gesetz über die Organisation der Verwaltungsgerichte und zum Gesetz über das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten (EinfG),30 die am 1. Januar 2004 in Kraft traten (Art. 1 und Art. 2 EinfG) – demnach gelten jetzt folgende Regelungen hinsichtlich der gerichtlichen Verwaltungskontrolle: Zum Ersten – die Kontrolle der öffentlichen Verwaltung üben Verwaltungsgerichte, d.h. das Hauptverwaltungsgericht und die Wojewodschaftsverwaltungsgerichte aus (Art. 1 und 2 VwGOrgG). Zum Zweiten – der Umfang der gerichtlichen Kontrolle der öffentlichen Verwaltung wurde durch eine Generalklausel mit dem Hinweis auf die „Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung“ festgelegt. Dabei wurde auch die Untätigkeit der öffentlichen Verwaltung (Art. 1 VwGOrgG sowie Art. 3 und Art. 4 VwPO) erfasst. Ferner wurden beispielhaft typische Handlungsweisen der Verwaltung aufgeführt, die der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen sollen (u. a. Bescheide in individuellen Sachen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, Rechtsvorschriften bzw. andere Rechtsakte der lokalen Verwaltungsorgane, ___________ 28 29 30

GBl.RP von 2002 Nr. 153/1269 mit Änd. GBl.RP von 2002 Nr. 153/1270 mit Änd. GBl.RP von 2002 Nr 153/1271 mit Änd.

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Lösung von Kompetenzkonflikte zwischen diesen Organen). Durch negative Enumeration wurde eine Reihe von Streitsachen im Bereich der öffentlichen Verwaltung von der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgeschlossen (Art. 5 VwPO). Zum Dritten – die Verwaltungsgerichtsbarkeit kontrolliert die Rechtmäßigkeit (Art. 1 § 2 VwGOrgG) des Handelns der öffentlichen Verwaltung nach dem Maßstab der Gesetzmäßigkeit (Legalität) in zwei Gerichtsinstanzen (Art. 3 VwGOrgG sowie Art. 1, Art. 13 und Art. 15 VwPO). Zum Vierten – erweist sich das Verwaltungshandeln nach der gerichtlichen Prüfung als rechtswidrig, erlässt das Verwaltungsgericht nur eine Kassationsentscheidung. Allerdings sind sowohl dieses Gericht selbst als auch das Organ, dessen Tätigkeit Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle war (Art. 153 VwPO), an die in den Gründen der Entscheidung formulierte rechtliche Bewertung und an die Hinweise hinsichtlich des weiteren Verfahrens in der konkreten Sache gebunden Und zum Fünften – last but not least – die aktuell geltenden Vorschriften der polnischen Rechtsordnung sehen weder die Gründung eines besonderen Organs noch ein entsprechendes Rechtsverfahren hinsichtlich der Lösung von eventuellen (positiven bzw. negativen) Kompetenzkonflikten zwischen den Organen der öffentlichen Verwaltung bzw. Verwaltungsgerichten einerseits und den ordentlichen Gerichten andererseits vor.31 Auch wenn nach dem Inkrafttreten der Verfassung der III. RP diese zwei autonomen Säulen der Gerichtsbarkeit – die ordentlichen Gerichte mit dem Obersten Gericht an der Spitze (Art. 177 und Art. 187) und die Verwaltungsgerichte mit dem Hauptverwaltungsgericht (Art. 184 und Art. 185) voneinander getrennt wurden, hat die Verfassung der III. Republik Polen weder an die der Verfassung der II. Republik Polen bekannte Lösung angeknüpft noch die Gründung eines Kompetenzgerichtshofes als eines für die Lösung von eventuellen Kompetenzkonflikten zwischen den Organen der öffentlichen Verwaltung oder zwischen den Verwaltungsgerichten und den ordentlichen Gerichten zuständigen Organs vorgesehen. Und weil gleichzeitig die Meinung Oberhand gewann, nach der Streitigkeiten dieser Art „nicht

___________ 31

Vgl. Kritik der einschlägigen Rechtsvorschriften: A. ZieliĔski, Prawo do sądu a struktura sądownictwa [Anspruch auf rechtliches Gehör und die Struktur der Gerichtsbarkeit], in: PaĔstwo i Prawo von 2003, Nr. 4, S. 29 ff.; Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü a prawo jednostki do sądu [Kompetenzstreit und der Anspruch des Einzelnen auf rechtliches Gehör], in: Glosa – Przegląd Prawa Gospodarczego von 2003 Nr. 9, S. 4 ff.; W. Sanetra, Spór o spory kompetencyjne [Streit um Kompetenzstreitigkeiten], Przegląd Sądowy 2003, Nr. 9, S. 3 ff.; B. Adamiak, Rola sporów o wáaĞciwoĞü w postĊpowaniu administracyjnym [Die Rolle der Streitigkeiten über Zuständigkeit im Verwaltungsverfahren], in: Przegląd Sądowy von 2004 Nr. 6, S. 6 ff.

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mehr, wie bis jetzt, vom KKamOG gelöst werden sollten“,32 wurde in die polnische Rechtsordnung eine Lösung eingeführt, die sich auf das Prinzip der Gesamtanwendung dreier Rechtsgrundsätze stützt: (1) auf das Prinzip der „Kompetenzgleichheit“ (par super parem potestatem non habet), das in diesem Fall bedeutet, dass die Zuständigkeit für die Lösung dieser Streitsache jedem Beteiligten auf beiden Seiten, d. h. sowohl dem Organ der öffentlichen Verwaltung bzw. dem Verwaltungsgericht (Art. 66 § 3 VwVfG33 und Art. 58 § 1 Pkt. 1 VwPO34), als auch dem ordentlichen Gericht (Art. 199 § 1 Pkt. 1 ZPO35) zusteht; (2) „Vorrangsprinzip“ (potior est qui prior est), nach dem Streitigkeiten dieser Art nur in einer konkreten Sache (ad casum) gelöst werden können, und für die Lösung dieses Kompetenzstreites dasjenige Organ zuständig ist, vor dem das Verfahren zuerst eingeleitet wurde (Art. 66 § 4 VwVfG36 und Art. 199¹ ZPO37),38 und als dessen logische Folge (3) „Prinzip der gegenseitigen Bindung“ (res iudicata – à rebours), nach dem beide Parteien eines Kompe___________ 32

Vgl. Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 5; R. Hauser, Rozstrzyganie sporów kompetencyjnych [Die Lösung von Kompetenzkonflikten], in: Procedura administracyjna wobec wyzwaĔ wspóáczesnoĞci – Prof. Dr. hab. Januszowi Borkowskiemu przyjaciele i uczniowie [Die Verwaltungsprozedur und die Herausforderungen der Gegenwart – für Prof. Dr. habil. Janusz Borkowski von seinen Freunden und Schülern], àódĨ 2004, S. 132. 33 Art. 66 § 3 VwVfG, d. h. des Gesetzes – Verwaltungsverfahrensgesetz /VwVfG vom 14. Juni 1960 – einheit. Text: GBl.RP von 2000 Nr 98/1071 mit Änd. „Ist der Antrag auf die Eröffnung des Verfahrens in der Sache bei einem unzuständigen Organ eingelegt worden, und kann das zuständige Organ auf Grund der im Antrag enthaltenen Angaben nicht festgestellt werden, oder geht aus dem Antrag hervor, dass in dieser Sache ein ordentliches Gericht zuständig ist, so wird der Antrag dem Antragsteller durch das Organ zurückgegeben, bei dem er eingebracht wurde. Die Rückgabe des Antrags erfolgt durch Beschluss, gegen den Beschwerde zulässig ist.“ 34 Art. 58 § 1 Punkt 1 VwPO: „Das Gericht weist die Klage ab, wenn die Sache nicht in die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts fällt“. 35 Art. 199 § 1 Punkt 1 ZPO, d.h. des Gesetzes – Zivilprozessordnung vom 17. November 1964 – GBl.VRP von 1964 Nr 43/296 mit Änd.: „Das Gericht weist die Klage ab, wenn der Gerichtsweg unzulässig ist“. 36 Art. 66 § 4 VwVfG: „Das Organ kann aber das Gesuch nicht mit der Begründung ablehnen, dass in dieser Sache ein ordentliches Gericht zuständig ist, wenn sich das Gericht bereits zuvor als für diese Sache unzuständig erklärt hat.“ 37 Art. 1991 ZPO: „Das Gericht kann die Klage nicht mit der Begründung abweisen, dass für die Sache ein Organ der öffentlichen Verwaltung oder das Verwaltungsgericht zuständig ist, wenn sich das Organ der öffentlichen Verwaltung oder das Verwaltungsgericht als für diese Sache unzuständig erklärt hat. 38 Vgl. Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 5; A. Wróbel, Komentarz do Art. 66 VwVfG [Kommentar zu Art. 66 VwVfG], in: M. JaĞkowska / A, Wróbel, Kodeks postĊpowania administracyjnego – Komentarz [Verwaltungsverfahrensgesetz Kommentar], 2. Aufl. Kraków 2005, S. 446 und A. Matan, Komentarz do Art. 66 VwVfG [Kommentar zu Art. 66 VwVfG], in: G. àaszczyca / Cz. Marzysz / A. Matan, Kodeks postĊpowania administracyjnego – Komentarz [Verwaltungsverfahrensgesetz – Kommentar], Kraków 2005.

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tenzstreites an den Inhalt der in dieser konkreten Sache durch die andere Seite angenommenen Entscheidung gebunden sind (Art. 66 § 4 VwVfG und Art, 58 § 4 VwPO39 sowie Art. 199¹ ZPO).40 Und doch kommen grundsätzliche Bedenken auf, ob diese angeblich „einfache Lösung“,41 die im Grunde die Möglichkeit solcher Kompetenzstreitsachen ausschließt, den verfassungsrechtlichen Standards eines Rechtsstaates tatsächlich Rechnung trägt (Art. 2 Verf. III RP), darunter dem Grundsatz der Gewaltentrennung (Art. 10 Verf. III RP) und dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 45 Abs. 1 Verf. III RP).42 Der Verfassungsgrundsatz der Teilung von Gewalten in die „gesetzgebende – vollziehende – rechtsprechende Gewalt“ (Art. 10 Abs. 1 Verf. III RP) hat zugleich „die Teilung und das Gleichgewicht“ dieser Gewalten zu gewährleisten, und setzt folglich nicht nur eine bloße Abgrenzung dieser Gewalten, sondern auch deren gegenseitige Kooperation und Kontrolle voraus. Dennoch soll „jeder Staatsgewalt ein ‚Kernbereich‘ autonomer Zuständigkeiten und Wirkungsmöglichkeiten garantiert bleiben. Ein zentraler Grundgedanke der Zuordnung liegt darin, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt, von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen (Organadäquanz); er erscheint in der neueren Literatur als Schlüssel zu einer funktionellen Betrachtung der Gewaltenteilung. Kompetenzkonflikte werden nach Maßgabe des ungeschriebenen Verfassungsgrundsatzes der Verfassungstreue i. S. gegenseitiger Rücksichtnahme harmonisiert, das Gesetz kann hier konkretisieren“.43 Eine Analyse der geltenden Regelungen zur Lösung von Kompetenzkonflikten dieser Art zeigt, dass sie nicht nur gegen den so verstan___________ 39

Art. 58 § 4 VwPO: „Das Gericht kann die Klage nicht abweisen (...), wenn sich das ordentliche Gericht in dieser Sache für unzuständig erklärte“. 40 Vgl. Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 4 und das Urteil des Wojewodschaftsverwaltungsgerichts in Warszawa vom 16. März 2006 in der Sache II SA/WA 1871/05 (LEX Nr. 202351). 41 So R. Hauser, Rozstrzyganie sporów kompetencyjnych... (Fn. 32), S. 135. 42 Vgl. dazu im besonderen: Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 6 ff.; B. Adamiak, in: B. Adamiak / J. Borkowski, Post Ċpowanie administracyjne i sądowoadministracyjne [Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren], Warszawa 2003, S. 131 ff.; B. Adamiak, Rola sporów o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 3 ff. 43 H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreiser (Hrsg.) Grundgesetz – Kommentar, Band 2, 2. Aufl. – Tübingen 2006, Art. 20 (R), 211-212. Vgl. dazu auch: F.E. Schnapp, in: I. von Münch / P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, Band 1, 5. Aufl. – München 2000, Art. 20 Rn. 41; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, 2. Aufl. – Heidelberg 2006, S. 179 ff. (213 ff.); sowie R.A. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht. Funktionenzuordnung, Rücksichtnahmegebote und Kooperationsverpflichtungen. Eine rechtsvergleichende Analyse anhand der Verfassungssysteme der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten, Tübingen 2001, S. 82 ff.

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denen Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung und die von ihm abgeleiteten Grundsätze der Verfassungsordnung, sondern auch gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Zum Ersten sehen die geltenden Vorschriften von Art. 66 § 3 VwVfG in Verbindung mit Art. 199¹ ZPO vor, dass das ordentliche Gericht an die Entscheidung eines Organs der öffentlichen Verwaltung über die Zuständigkeit dieses Gerichts in einer konkreten Situation dann gebunden ist, wenn der entsprechende Antrag zuerst bei diesem Organ eingebracht wurde, dieses Organ die Zuständigkeit des Gerichts in dieser Sache feststellte und diese Entscheidung nicht vor dem Verwaltungsgericht angefochten wurde (sic!). Das bedeutet, dass der Gesetzgeber in diesem Fall die Möglichkeit eines „negativen Kompetenzstreites zwischen dem öffentlichen Verwaltungsorgan und dem ordentlichen Gericht“ zwecks Feststellung, welche der beiden Gewalten und in welchem Verfahren für die Entscheidung in dieser konkreten Sache zuständig ist,44 ausschließt und gleichzeitig – angeblich im Namen des „Vertrauens der Bürger in den Staat“, „der Schnelligkeit des Verfahrens“ und somit um „der Autorität des Staates und seiner Organe keinen Abbruch zu tun“,45 die Möglichkeit zulässt, dass der Zuständigkeitsbereich eines ordentlichen Gerichts (in Bezug auf eine konkrete Sache und ohne dessen Beteiligung) im Wege einer einseitigen Entscheidung des Verwaltungsorgans festgelegt wird. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass eine unzutreffende Entscheidung in einem konkreten Fall eine „Änderung der gesetzlich bestimmten Zuständigkeitsgrenzen“ eines konkreten Organs46 und somit auch die Verletzung der verfassungsrechtlichen Garantie des Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Folge hat. Zum Zweiten erregt grundsätzliche Bedenken die Regelung, nach der das Verwaltungsgericht, das in einer konkreten Sache seine Unzuständigkeit feststellte, gleichwohl die Klage nicht aus diesem Grund abweisen darf, wenn sich ein ordentliches Gericht zuvor als für diese Sache unzuständig erklärt hatte (Art. 58 § 4 VwPO). Ebenso wenig darf ein ordentliches Gericht, das das bei ihm anhängige Verfahren für unzulässig erklärt, weil die Sache in den Zuständigkeitsbereich des Verwaltungsgerichts fällt, die Klage nicht aus diesem Grund abweisen, wenn sich ein Verwaltungsgericht bereits zuvor als für diese Sache unzuständig erklärt hatte (Art. 199¹ ZPO). Diese Lösung stützt sich auf das „Vorrangsprinzip“ und das „Gegenseitigkeitsprinzip“, setzt die gegenseitige Anerkennung früherer Entscheidungen über die „Unzuständigkeit“ des jeweiligen Gerichtszweiges in einer konkreten Sache voraus und schließt somit die Möglichkeit eines „negativen Kompetenzstreites zwischen den beiden Ge___________ 44

Vgl. J. Borkowski, in: B. Adamiak / J. Borkowski, Kodeks postĊpowania administracyjnego – Komentarz [Verwaltungsverfahrensgesetz – Kommentar], S. 784. 45 Vgl. R. Hauser, Rozstrzyganie sporów kompetencyjnych... (Fn. 32), S. 132. 46 Por. Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 5.

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richtsarten“47 aus, was das Verfahren angeblich beschleunigen und von diesem Standpunkt aus für die an der gerichtlichen Lösung der Sache interessierte Person günstig sein soll. Völlig unberücksichtigt bleiben dabei aber (a) die rechtliche Differenzierung der Begriffe „Verwaltungssache“ (Art. 1 VwVfG) und „Zivilsache“ (Art. 1 ZPO),48 und (b) der grundsätzliche Unterschied zwischen den Zielen beider Gerichtsverfahren und der sie abschließenden Gerichtsentscheidungen, die bei Verfahren vor Verwaltungsgerichten grundsätzlich nur Kassationsentscheidungen sein und in Verfahren vor ordentlichen Gerichten auch reformatorischen Charakter haben können. Für die rechtliche Situation der an der gerichtlichen Entscheidung interessierten Person ist dies nicht ohne Bedeutung.49 Denn unberücksichtigt blieb auch (c), dass sie dabei a priori um die Möglichkeit gebracht wird, bei dem objektiv zuständigen Gericht Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Gerichts einzulegen, das über das für eine konkrete Sache „zuständige Gericht“ entschieden hat. Damit wird diese Person in dem ihr zustehenden verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 45 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 177 und Art. 184 Verf. III RP) verletzt. Zum Dritten lassen die geltenden Regelungen auch die Frage ungeklärt, nach welchen Grundsätzen dann zu verfahren ist, wenn sich sowohl ein öffentliches Verwaltungsorgan bzw. das Verwaltungsgericht als auch ein ordentliches Gericht als in dieser Sache zuständig erklären (der positive Kompetenzstreit) und folglich in jedem der beiden Verfahren „konkurrierende“ Entscheidungen in einer konkreten Sache ergehen. Beachtenswert ist im Lichte der vorliegenden Erwägungen auch, dass Art. 177 der Verfassung der III. RP (Verf. III RP) zwecks Beseitigung von eventuellen Lücken festlegt, dass die ordentlichen Gerichte die Rechtsprechung in allen Angelegenheiten mit Ausnahme derer ausüben, die gesetzlich der Zuständigkeit anderer Gerichte vorbehalten sind ___________ 47 Vgl. Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 5 ff; B. Adamiak, Rola sporów o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 6 ff. 48 Vgl. K. Tybur, Sprawa administracyjna a sprawa cywilna [Verwaltungssache und Zivilsache], in: A. BáaĞ / K. Nowacki, Wspóáczesne europejskie problemy prawa administracyjnego i administracji publicznej – w 35. rocznicĊ utworzenia Instytutu Nauk Administracyjnych Uniwersytetu Wrocáawskiego [Gegenwärtige europäische Probleme des Verwaltungsrechts und der öffentlichen Verwaltung – zum 35. Jahrestag der Gründung des Instituts für Verwaltungswissenschaften der Universität Wrocáaw], Acta Universitatis Wratislaviensis No 2770 – Prawo CCXCV, Wrocáaw 2005, S. 427 ff; vgl. auch: A. ZieliĔski, Prawo do sądu... (Fn. 31), S. 20 ff, der u.a. darauf hinweist, dass „ein Zuständigkeitsstreit zwischen den Organen der Staatsverwaltung und den ordentlichen Gerichten nur diese Sachen betreffen kann, die Zivilsachen im Sinne des Art. 1 ZPO oder Verwaltungssachen im Sinne des Art. 1 VwVfG sind. Dies bedeutet, das das Kompetenzkollegium am Obersten Gericht nicht in Sachen entscheiden kann, auf die keine von diesen Vorschriften zutrifft, d.h. in Sachen aus dem Bereich des öffentlichen Rechts außerhalb des Anwendungsumfangs des VwVfG.“ 49 Vgl. A. ZieliĔski, Prawo do sądu... (Fn. 31), S. 30 ff; B. Adamiak, Rola sporów o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 7 ff

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(Kompetenzvermutung zugunsten der ordentlichen Gerichtsbarkeit), für die Annahme der Kompetenz eines ordentlichen Gerichts eine positive gesetzliche Norm gar nicht notwendig ist – ausreichend ist der Mangel eines Gesetzes über die Zuständigkeit eines anderen Gerichts. Der Kompetenzstreit zwischen den Organen der öffentlichen Verwaltung bzw. der Verwaltungsgerichte und den ordentlichen Gerichten gilt somit im Grunde genommen stets einer Sache, die entweder eine „Zivilsache“ im Sinne des Art. 1 ZPO (wenn zwecks Vereinfachung hier die Frage der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte in Strafsachen außer Acht gelassen wird) oder eine „Verwaltungssache“ im Sinne des Art. 1 VwVfG ist oder die in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichte fällt (Art. 3 und Art. 4 VwPO). Der Mangel an Bestimmungen hinsichtlich des Verfahrens bei der Lösung solcher „positiven Kompetenzkonflikte“ kann in der Praxis dazu führen, dass in ein und derselben Sache „gegenseitig unabhängige“ Verfahren sowohl vor einem Verwaltungsorgan bzw. Verwaltungsgericht als auch vor dem ordentlichen Gericht laufen können. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass hinsichtlich der „Zivilsache“ iS von Art. 1 ZPO „in der Rechtsprechung des Obersten Gerichts die Konzeption der auf die Idee des sog. Prozessanspruchs gestützten ‚Sache‘ vorherrschend ist, was zu bedeuten hat, dass für die Zulässigkeit des Gerichtsweges (vor dem ordentlichen Gericht – Anm. AW) nicht das objektiv vorhandene subjektive Recht entscheidend ist, sondern lediglich die Feststellung der Partei über dessen Vorliegen (…) Die Konzeption der Sache und der Partei im Verwaltungsverfahren stützt sich dagegen auf andere Voraussetzungen (…), was zu ernsthaften Schwierigkeiten bei der Bewertung führen kann, ob die Sache, in der sich das ordentliche Gericht als unzuständig befunden hat, eine Sache im Sinne des Art. 1 VwVfG ist“.50 Nicht ohne Bedeutung ist zum Vierten auch, dass die auf Grund der aktuell geltenden Regeln getroffenen Entscheidungen bei Kompetenzkonflikten zwischen den Organen der öffentlichen Verwaltung bzw. den Verwaltungsgerichten und den ordentlichen Gerichten immer einseitige Entscheidungen sind (Entscheidungen einer „Partei“ des Kompetenzstreites) und immer nur in einer konkreten Sache (a casu ad casum) ergehen. Dies kann in der Praxis zu weitgehenden Rechtsprechungsdivergenzen hinsichtlich der Auslegung und Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften, und dies nicht selten bei ähnlichen (analogen) Sachverhalten, führen. In der geltenden Rechtsordnung sind aber keine Lösungen vorgesehen (Bestimmung eines zuständigen Organs oder des anzuwendenden Verfahrens), die Widersprüchlichkeiten einschlägiger Entscheidungen vermeiden oder gar die Einheitlichkeit der auch bei solchen Kon___________ 50 Vgl. J. Wróbel, in: M. JaĞkowska / A. Wróbel, Kodeks postĊpowania administracyjnego (Fn. 38), S. 446; vgl. auch K. Tybur, Sprawa administracyjna... (Fn. 48), S. 430 ff.

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flikten getroffenen Entscheidungen gewährleisten.51 Es sei nämlich in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass das Oberste Gericht seine Judikativaufsicht ausschließlich über die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte ausübt (Art. 183 Abs. 1 Verf. III RP), und der Verfassungsgerichthof nicht über die allgemein geltende Auslegung von Rechtsvorschriften entscheiden kann.52 All dies begünstigt keineswegs die Einhaltung des Verfassungsgrundsatzes der Rechtsmäßigkeit (Art. 7 Verf. III RP), und im Resultat auch nicht die Verwirklichung der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Verfassungsgrundsätze der Rechtssicherheit und des Schutzes des Vertrauens der Bürger in Staat und Verwaltung.

V. Fazit Obige Erwägungen führen zum Schluss, dass eine Änderung der aktuell geltenden polnischen Regelungen im Bereich der Grundsätze und des Verfahrens bei der Lösung von Kompetenzkonflikten zwischen den Verwaltungsorganen bzw. Verwaltungsgerichten und den ordentlichen Gerichten – entweder durch die Einführung entsprechender Gesetzesregelungen53 oder auch im Wege einer auf die Errichtung des Kompetenzgerichtshofes ausgerichteten Novellierung der Verfassung der III. Republik Polen – dringend notwendig und zu erwarten ist.

___________ 51 Zur Garantie der Einheitlichkeit der Gerichtsrechtsprechung vgl. auch: A. Wasilewski, OdrĊbnoĞü sądowej kontroli administracji a problem jednoĞci orzecznictwa sądowego [Die Besonderheit der gerichtlichen Kontrolle der Verwaltung und das Problem der Einheitlichkeit der Gerichtsrechtsprechung], (in:) PaĔstwo i Prawo von 1999 Nr. 2, S. 3 ff; Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 4 ff. 52 Vgl. Art. 188 und Art. 189 Verfassung der III. RP. 53 Vgl. dazu u. a.: A. Wasilewski, Kolegium Kompetencyjne... (Fn. 22), S. 12-16; A. ZieliĔski, Prawo do sądu... (Fn. 31), S. 31; Z. Kmieciak, Spory o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 7; W. Sanetra, Spór o spory kompetencyjne... (Fn. 31), S. 3 ff; B. Adamiak, Rola sporów o wáaĞciwoĞü... (Fn. 31), S. 12.

Vierter Teil: Rechtstheorie und Rechtsetzungslehre

Rückwirkung der Bürgschaftsentscheidung? Die doppelt analoge Anwendung von § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG durch das Bundesverfassungsgericht und ihre Folgen1

Von Hans-Joachim Cremer, Mannheim

Zeitigt die Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Oktober 19932 Wirkungen auch für ähnlich gelagerte Fälle? In dem Aufsehen erregenden Beschluss hat das BVerfG ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH)3 wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG aufgehoben, weil dieses gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie verstoßen habe. Der BGH habe nämlich der den Zivilgerichten obliegenden Pflicht nicht genügt, dort, wo diese bei Vertragsschlüssen zwischen Privaten einen die eine Seite ungewöhnlich belastenden, dem Interessenausgleich offensichtlich unangemessenen Inhalt feststellen, 1. zu klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und 2. gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts (insbesondere §§ 138 und 242 BGB) korrigierend einzugreifen.4

I. Bindungswirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 1 BVerfGG Wer nach der Bindungswirkung dieses Beschlusses für Parallelfälle fragt, stößt rasch auf § 31 Abs. 1 BVerfGG und die Rechtsprechung des BVerfG, wonach die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden nicht nur an den Tenor bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen gebunden sind, sondern auch an die „tragenden Gründe“.5 Was ___________ 1

BVerfGE 115, 51. BVerfGE 89, 214 – Bürgschaftsverträge. 3 BGH, Urt. v 11.7.2002 –IX ZR 326/99–, BGHZ 151, 316. 4 BVerfGE 89, 214 (231 ff., insbes. 234 f.) – Bürgschaftsverträge. 5 BVerfGE 7, 99 (108 f.) – Sendezeit I; 8, 122 (141) – Volksbefragung Hessen; 12, 338 (341); 19, 377 (392, s.a. 391) – Berlin-Vorbehalt II; 20, 56 (88) – Parteienfinanzie2

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hierzu gehört, ist selten klar. Nach einer vom BVerfG selbst formulierten Definition sind „tragend“ für eine Entscheidung „jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele“.6 Die Bürgschaftsentscheidung leitet aus dem die Privatautonomie gewährleistenden Art. 2 Abs. 1 GG7 eine Pflicht der Zivilgerichtsbarkeit ab, darauf zu achten, dass privatrechtliche Verträge „nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen“, und daher bei ernsthaften Störungen der Vertragsparität „gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend“ einzugreifen.8 Der diese Pflicht enthaltende „Rechtssatz“ ist gewiss für den zur Aufhebung des BGH-Urteils führenden Begründungsweg bestimmend gewesen. Mithin lässt er sich in dem vom BVerfG gemeinten Sinn nicht „hinwegdenken“, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis entfiele. Er ist also ein „tragender Grund“. Folglich bindet er die Zivilgerichte – freilich nur mit Wirkung für die Zukunft!

II. Wirkung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen für rechtskräftig abgeschlossene Fälle Dies war auch nicht der Streitpunkt in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren, in dessen Rahmen der verfassungsprozessual spektakuläre Beschluss vom 6. Dezember 20059 erging, der im Folgenden besprochen werden soll. Die Verfassungsbeschwerde hatte eine Frau erhoben, die bereits im Jahr 1992 – also im ___________ rung I; 40, 88 (93 f.) – Führerschein; 96, 375 (404 ff.) – Sterilisation; 104, 151 (197) – NATO-Konzept. Einschränkend zu Wirkungen von Normenkontrollentscheidungen: BVerfGE 92, 91 (107) – Feuerwehrabgabe. Zu weitgehend allerdings BVerfGE 36, 1 (36) – Grundlagenvertrag. Zur Beschränkung der Bindungswirkung auf die Entscheidungsgründe, welche die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes betreffen: BVerfGE 40, 88 (93 f.) – Führerschein. Dazu, dass die Bindungswirkung das BVerfG selbst nicht hindert, seine Rechtsprechung zu ändern: BVerfGE 4, 31 (38) – 5%Sperrklausel; 20, 56 (87) – Parteienfinanzierung I; 85, 117 (121). Gebunden ist das BVerfG jedenfalls nicht stärker als nach Rechtskraftgrundsätzen: BVerfGE 77, 84 (104) – Arbeitnehmerüberlassung; 82, 198 (205). Nach BVerfGE 20, 56 (88 f.) – Parteienfinanzierung I schließt die Bindungswirkung auch nicht aus, das BVerfG mit einer Frage erneut zu befassen; dazu, dass nur Sach- und nicht auch Prozessurteile in die Bindungswirkung einbezogen sind: BVerfGE 2, 181 (191); 78, 320 (328). S. auch BVerfGE 92, 91 (107) – Feuerwehrabgabe (zu Beschlüssen von Vorprüfungsausschüssen und Kammern); sowie zu § 93a BVerfGG a.F.: BVerfGE 23, 191 (207) – Dienstflucht; 33, 1 (11) – Strafgefangene. 6 BVerfGE 96, 375 (404) – Sterilisation. 7 BVerfGE 89, 214 (231 ff.) – Bürgschaftsverträge. 8 BVerfGE 89, 214 (234) – Bürgschaftsverträge. 9 BVerfGE 115, 51.

Rückwirkung der Bürgschaftsentscheidung?

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Jahr vor der Bürgschaftsentscheidung – durch ein rechtskräftig gewordenes Versäumnisurteil zur Zahlung von 70.000 DM aus einer selbstschuldnerischen Bürgschaft verurteilt worden war. Diese hatte sie, obgleich mittellos und seit 1990 von Sozialhilfe lebend, zur Absicherung mehrerer Darlehen ihres damaligen Ehemanns übernommen. Nachdem die Bürgschaftsentscheidung des BVerfG im Jahr 1993 ergangen war, hatte die Frau versucht, die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil abzuwehren. Ihre auf § 767 ZPO i.V. mit § 79 Abs. 2 BVerfGG gestützte Klage blieb jedoch in allen Instanzen erfolglos.10 Das letztinstanzliche Urteil des BGH hatte dabei zwar festgestellt, dass der Bürgschaftsvertrag auf der Grundlage der – durch die Bürgschaftsentscheidung des BVerfG geprägten – heutigen Rechtsprechung des IX. und XI. Zivilsenats des BGH wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB als nichtig anzusehen sei.11 Doch habe der Beschluss des BVerfG die Wirkungen des § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG nicht ausgelöst – mithin weder ein Vollstreckungshindernis begründet noch die Vollstreckungsabwehrklage in entsprechender Anwendung von § 767 ZPO eröffnet.12 Gegen dieses Revisionsurteil des BGH erhob die Frau Verfassungsbeschwerde. Das Problem, vor welches sich das BVerfG dadurch gestellt sah, war also, ob sich gerichtlichen Entscheidungen, die bereits vor der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG in Rechtskraft erwachsen waren, nachträglich entgegenhalten lasse, dass sie anders ausgefallen wären, wenn die Grundsätze der Bürgschaftsentscheidung herangezogen worden wären.13 Diese Frage bejaht der Erste Senat mit seiner Entscheidung vom 6. Dezember 2005. Für unzulässig hält er nämlich die Vollstreckung aus einer nicht mehr anfechtbaren fachgerichtlichen Entscheidung, wenn diese auf der Auslegung und Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe beruhe, die vom BVerfG für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden seien. Dieses Vollstreckungshindernis könne, soweit die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der ZPO durchzuführen ist, durch Vollstreckungsabwehrklage entsprechend § 767 ZPO geltend gemacht werden.14 § 79 Abs. 2 BVerfGG sei dabei analog anzuwenden. Das Bemerkenswerte an diesem Beschluss ist – abgesehen von seinen Auswirkungen auf den Verfassungsprozess und das Verhältnis des BVerfG zur Fachgerichtsbarkeit – der methodische Streit innerhalb des entscheidenden Ersten Senats um die korrekte Auslegung und Handhabung von § 79 BVerfGG.

___________ 10

BVerfGE 115, 51 (54 ff.). BGHZ 151, 316 (318 f.). S.a. BVerfGE 115, 51 (55). 12 BGHZ 151, 316 (320 ff.). S.a. BVerfGE 115, 51 (56). 13 Vgl. BVerfGE 115, 51 (54 ff.). 14 BVerfGE 115, 51 (61 ff.). 11

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Dieser lässt sich nicht nur an den Ergebnissen der Abstimmung15 ablesen, sondern auch und vor allem durch das engagierte Sondervotum16 der Bundesverfassungsrichterin Haas17 geradezu nacherleben.

III. Analogiefähigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG

1. Der normtextbezogene Befund § 79 BVerfGG steht im Zehnten Abschnitt des III. Teils des BVerfGG. Dieser enthält Bestimmungen über das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; § 13 Nr. 6 BVerfGG) und das Verfahren zur Entscheidung bei Meinungsverschiedenheiten darüber, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG; § 13 Nr. 6a BVerfGG). Der zweite Absatz des § 79 BVerfGG regelt, welche Folgen es für nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die keine Strafurteile sind,18 hat, wenn das BVerfG gemäß § 78 BVerfGG die Norm für nichtig erklärt: Grundsätzlich bleiben sie von der Nichtigerklärung der sie stützenden Norm unberührt,19 jedoch ist die Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung unzulässig.20 Um die Unzulässigkeit der Vollstreckung geltend zu machen, stellt § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG, soweit die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der ZPO durchzuführen ist, die Vollstreckungsabwehrklage entsprechend § 767 ZPO zur Verfügung.21 Von seinem Wortlaut her erstreckt sich § 79 Abs. 2 BVerfGG folglich nicht auf die Konstellation des oben beschriebenen Bürgschaftsfalls, dass nämlich einem zivilgerichtlichen Urteil ein Sachverhalt zugrunde liegt, der einem – vom BVerfG zeitlich nach der Rechtskraft dieses Urteils entschiedenen22 – Fall äh___________ 15

BVerfGE 115, 51 (66, 72). § 30 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erlaubt es den Senaten, in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitzuteilen. 16 Die Zulässigkeit von Sondervoten ergibt sich aus § 30 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. 17 BVerfGE 115, 51, 72 ff. 18 § 79 Abs. 2 BVerfGG meint mit „Entscheidung“ behördliche oder gerichtliche Entscheidungen (s. M. Graßhof, in: D.C. Umbach/Th. Clemens/F.-W. Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl., 2005, § 79, Rn. 24). 19 § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. 20 § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG. 21 § 79 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG schließt Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung aus. Diese Norm besitzt für den Beschluss keine unmittelbare Bedeutung. 22 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folgt in diesen Konstellationen zeitlich nach Eintritt der Rechtskraft des früheren Zivilurteils; dieses könnte ansonsten nämlich, wenn es mit dem bundesverfassungsgerichtlichen Judikat unvereinbar wäre,

Rückwirkung der Bürgschaftsentscheidung?

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nelt, in dem auf eine Verfassungsbeschwerde hin ein Zivilurteil deswegen aufgehoben wird, weil es die Bedeutung der Grundrechte für die Konkretisierung privatrechtlicher Generalklauseln wie §§ 138 und 242 BGB verkannt hat.23 Ebenfalls außerhalb der Reichweite des § 79 Abs. 2 BVerfGG liegt der Fall, dass eine fachgerichtliche Entscheidung auf der Auslegung einer einfachgesetzlichen Norm beruht, die vom BVerfG im Rahmen verfassungskonformer Auslegung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Beide Fälle werden vom BVerfG im Ansatz unterschieden: Bei der verfassungskonformen Auslegung werde, wenn von mehreren nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen möglichen Deutungen des Norminhalts wenigstens eine mit dem Grundgesetz übereinstimme, die Norm als solche nicht beanstandet, sondern verfassungskonform ausgelegt und nur die als verfassungswidrig erkannte Auslegungsvariante verworfen.24 Dagegen werden in Fällen wie der Bürgschaftsentscheidung die Zivilgerichte dazu angehalten, „bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürgerlichen Rechts die jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“.25 Während also diese beiden Fälle, wenn sie zivilgerichtliche (oder behördliche) Entscheidungen betreffen, nach dem Wortlaut des § 79 Abs. 2 BVerfGG insbesondere von dessen Vollstreckungsverbot nicht erfasst werden, greift § 79 Abs. 1 BVerfGG für Strafurteile weiter aus: Beruht ein rechtskräftiges Strafurteil auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm, die vom BVerfG für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, so ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung zulässig. Neben die Nichtigerklärung wird die in § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht angesprochene Unvereinbarerklärung einer Norm ebenso gestellt wie die Unvereinbarerklärung der Auslegung einer Norm. Damit ist die verfassungskonforme Auslegung gemeint, durch die das BVerfG eine denkbare Auslegungsvariante als verfassungswidrig ausschließt. Entscheidungen des BVerfG, in denen die „interpretationsleitende“ Funktion der Grundrechte konkretisiert wird, sind jedoch auch hier nicht erwähnt. § 79 Abs. 1 BVerfGG belässt es in ___________ noch mit Rechtsmitteln und – was § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG durch seinen Vorbehalt zugunsten des § 95 Abs. 2 BVerfGG klarstellt – ggf. mit der Verfassungsbeschwerde erfolgreich angefochten werden. 23 Vgl. BVerfGE 7, 198 (206 f., 212) – Lüth. 24 BVerfGE 115, 51 (66) mit Hinweis auf BVerfGE 40, 88 (94) – Führerschein; 64, 229 (242); 83, 201 (214 f.). 25 BVerfGE 115, 51 (66) mit Hinweis auf BVerfGE 7, 198 (205 ff.) – Lüth; 99, 185 (196) – Scientology.

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allen drei Fällen für Strafurteile nicht bei einem Vollstreckungsverbot, sondern erlaubt mit der Wiederaufnahme des Verfahrens die Durchbrechung der Rechtskraft.26

2. Analogie als Ausfluss des Gleichheitssatzes Das BVerfG hält es angesichts dieses Befundes für geboten, die Regeln des § 79 Abs. 2 BVerfGG durch Analogieschluss zweifach auszudehnen. Angesetzt wird dazu bei § 79 Abs. 1 BVerfGG, der ursprünglich lediglich eine Folge der Nichtigerklärung von Gesetzen enthielt, seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 197027 die Wiederaufnahme des Strafverfahrens aber u.a. auch auf rechtskräftige Strafurteile ausdehnt, die bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben zu verfassungskonformer Auslegung widersprechen: Liegt einer zivilgerichtlichen oder behördlichen Entscheidung eine Normauslegungsvariante zugrunde, deren Verfassungswidrigkeit das BVerfG festgestellt hat, so muss dem Ersten Senat zufolge auch sie von dem in § 79 Abs. 2 BVerfGG statuierten Vollstreckungsverbot erfasst und die Möglichkeit, dieses geltend zu machen, auf sie erstreckt werden.28 Von dort aus stellt es in den Augen des BVerfG offenbar nur einen kleinen Schritt dar, diese Rechtsfolge auf Entscheidungen auszudehnen, die sich in Widerspruch zu Vorgaben für die Auslegung privatrechtlicher Vorschriften setzen, welche das BVerfG aus Grundrechten abgeleitet hat. Auch diesen zweiten Schritt hält es für geboten.29 Woher aber rührt ein solches Gebot? Dem BGH, der die analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG in dem „zweiten“ Bürgschaftsfall ablehnte und die Revision gegen die Abweisung der Vollstreckungsabwehrklage durch die Vorinstanz zurückwies,30 hält das BVerfG einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Dieser gebiete es, Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln.31 Nicht nur an den Gesetzgeber richte sich das daraus folgende Verbot, Sachverhalte ungleich zu behandeln, wenn sich die Differenzierung sachbereichsbezogen nicht auf einen sachlich ein___________ 26 W. Schmidt, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl., 2003, Vor § 359, Rn. 4 (die Institution der Wiederaufnahme des Verfahrens sei „der wichtigste Fall einer Durchbrechung der Rechtskraft zugunsten der Gerechtigkeit“). Die Wiederaufnahme nach § 79 Abs. 1 BVerfGG stellt einen selbstständigen (absoluten) Wiederaufnahmegrund dar; die Verweisung auf die StPO bezieht sich nur auf das Verfahren (Schmidt, ebd., Rn. 21). 27 Dazu BVerfGE 115, 51 (63 f.). 28 BVerfGE 115, 51 (64 ff.). 29 BVerfGE 115, 51 (66 ff.). 30 S.o. bei Fn. 11 f. 31 BVerfGE 115, 51 (61) mit Hinweis auf BVerfGE 71, 255 (271).

Rückwirkung der Bürgschaftsentscheidung?

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leuchtenden Grund zurückführen oder im Hinblick auf Art und Gewicht vorhandener Unterschiede nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen lasse.32 Es gelte auch für die Auslegung gesetzlicher Vorschriften durch die Gerichte.33 Damit hat das BVerfG – soweit ersichtlich zum ersten Mal – ausdrücklich eine eindeutige Verbindung zwischen der methodischen Figur der Analogie und dem Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG hergestellt.34 Dies ist keineswegs trivial. Das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz verpflichtet gerade auch die nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebundene Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG). Dass die analoge Rechtsanwendung eine „Gleichheitsoperation“ darstellt,35 klingt bei Karl Larenz an, wenn er geradezu klassisch definiert: „Unter einer Analogie verstehen wir die Übertragung der für einen Tatbetand (A) oder für mehrere, untereinander ähnliche Tatbestände im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm ‚ähnlichen‘ Tatbestand (B).“36 ___________ 32

BVerfGE 115, 51 (61) verweist insoweit auf BVerfGE 93, 386 (397) – Auslandszuschlag; 108, 52 (67 f.). 33 BVerfGE 115, 51 (62) mit Hinweis auf BVerfGE 84, 197 (199); 99, 129 (139) – DDR-Erbbaurecht; 101, 239 (269) – Stichtagsregelung. S.a. BVerfGE 58, 369 (374) zu einer gleichheitswidrigen Auslegung von § 551 Abs. 1 und 2 RVO; 79, 230 (239 ff.) zu einer mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbaren Auslegung von § 7 Abs. 3 BAFöG. Vgl. a. BVerfGE 40, 65 (81 f.) – Krankenversicherung; 47, 168 (177 ff.). 34 BVerfGE 84, 197 (199 ff.) bejaht zwar auch eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch ein zivilgerichtliches Urteil, das denjenigen, die eine Wohnung von einem gewerblichen Zwischenvermieter gemietet haben, gegenüber dem Herausgabeverlangen des Eigentümers einen Kündigungsschutz versagte, wie er kraft gesetzlicher Regelung dem Mieter (nur) im Verhältnis zu seinem Vermieter zustand. Doch belässt es das Bundesverfassungsgericht bei der Feststellung: „Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, daß eine weitgehende Gleichstellung des Mieters mit den herkömmlichen Methoden der Auslegung der Lückenfüllung nicht erreichbar wäre“, und überlässt es den Fachgerichten zu entscheiden, in welcher Weise sie dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung Rechnung tragen (ebd., 203). 35 Deutlich: R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl., 2006, § 11 II. a), S. 68 (s.a. I b), S. 65); C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, 25, 45, 71 ff. (s. insbes. die w. Nachw. ebd., 72, Fn. 47). K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, 374 f., spricht den Grundsatz der „Gleichbehandlung des Gleichartigen“ als ein Prinzip an, „das jedem Gesetz innewohnt, weil und soweit es beansprucht, ‚Recht‘ zu sein“. 36 Larenz (Fn. 35), Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, 381. Freilich ist Larenz besonders daran gelegen, zu betonen, dass die Analogie auf einem „Vorgang wertenden Denkens“ beruhe (ebd., 381 f.). Doch gilt dies auch für jedes Urteil darüber, ob der Gleichheitssatz beachtet worden ist. Zu einem ausdrücklich durch Art. 3 Abs. 1 GG geleiteten Verständnis der Analogie setzt sich Larenz freilich in keinen sachlichen Gegensatz. Denn er betont, die Analogie beruhe darauf, dass der geregelte und der nicht geregelte Tatbestand „gleich zu bewerten“ seien. Dies aber versteht er als „Forderung der Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln“ (ebd., 381). Sachlich befindet er sich damit im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz –

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Leicht anders gewendet: Vor das Problem der Analogie werden der Richter oder Rechtsanwender durch einen Fall gestellt, der zwar vom Tatbestand einer Rechtsnorm nicht erfasst ist, der aber, wenn man den Tatbestand nur leicht modifizierte, darunter fallen würde.37 Der Fall weist also entweder nicht alle notwendigen Tatbestandsmerkmale auf, oder er weist Merkmale auf, die den tatbestandlich geforderten nur, aber immerhin, „ähnlich“ sind. Insoweit werden „auf einem Kontinuum zwischen den (theoretischen) Eckpunkten absoluter Identität und völliger Verschiedenheit“ zum Teil verschiedene „Ähnlichkeitsgrade“ unterschieden.38 Zwischen „wertungsmäßiger wesentlicher Gleichheit“ und „wertungsmäßiger wesentlicher Ungleichheit“ liege ein Bereich bloßer „wertungsmäßiger Ähnlichkeit“, in dem der Gleichheitssatz eine Analogie weder gebiete noch verbiete.39 Ob es im Recht solche Fälle wirklich gibt, mag zweifelhaft erscheinen.40 Jedenfalls wenn im Lichte der Wertung, die dem Erlass der Rechts___________ freilich ohne die „Forderung der Gerechtigkeit“ in ausdrücklichen Bezug zum Verfassungsrecht zu setzen. Worauf es Larenz offenbar entscheidend ankommt, ist, dass als Voraussetzung der Analogie der geregelte und der ungeregelte Tatbestand nicht „gleich“, sondern einander nur „ähnlich“ sein müssen (ebd., 381). Damit aber soll offenbar im Wesentlichen klargestellt werden, dass ein Fall, der dem nicht geregelten Tatbestand entspricht, sich unter den geschriebenen Tatbestand nicht subsumieren lässt. 37 S. BVerfGE 82, 6 (12): „Sie [sc. die Methode der Analogie] geht … über die Auslegung im engen Sinne hinaus, indem sie den Anwendungsbereich einer Norm auf einen Fall erstreckt, der von ihrem Wortlaut nicht erfaßt wird.“ 38 D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, 306. 39 Looschelders/Roth (Fn. 38), 306 ff., inbes. 307 f. 40 S. dazu Westen, Speaking of Equality, 1990. Bezogen auf den vom Gesetz festgelegten, aus ihm als relevant ablesbaren und für den Analogieschluss in Form des normativen Telos maßgeblichen „Standard“ kann es im Verhältnis zweier Personen(gruppen) nur Gleichheit oder Ungleichheit geben (s. dazu Westen, ebd., insbes. 119 ff.). Auf den ersten Blick schlüssiger erscheint, wenn Canaris (Fn. 35), 148 ff., zwischen ‚Fällen „möglicher“ und „notwendiger“ Analogie unterscheidet; liegt dies doch nahe bei der Schwierigkeit, gesetzliche Gleichheitsverstöße zu beheben, welche das BVerfG dazu gebracht hat, Gesetze nicht für nichtig, sondern für unvereinbar mit der Verfassung zu erklären (s. dazu insbes. BVerfGE 8, 28 [36 ff.]; 13, 248 [249, 260 f.]; 22, 349 [360 f.]; s.a. H.-J. Cremer, Die Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: J.A. Frowein/T. Marauhn, Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998, 237 [268 ff.]; E. Klein, in: E. Benda/E. Klein, Verfassungsprozeßrecht, 1991, Rn. 1244 ff.; K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 5. Aufl., 2001, Rn. 382 ff., 389 ff.). Vgl. auch zur verfassungsgerichtlichen Zurückhaltung bei der Beantwortung der Frage, ob eine Gesetzeslücke vorliegt und wie sie zu schließen ist, BVerfGE 82, 6 (12). Dort bezeichnet sich das Bundesverfassungsgericht als nicht zu einer Erforschung des einfachen Gesetzesrechts berufen. Diese obliege den Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht sei grundsätzlich nicht befugt, die fachgerichtliche Wertung durch eine eigene zu ersetzen: „Auch wenn sich bei der Rechtsfortbildung in verstärktem Maße das Problem des Umfangs richterlicher Gesetzesbindung stellt, ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle analoger Rechtsanwendung darauf beschränkt, ob das Fachgericht in vertretbarer Weise eine einfachgesetzliche Lücke angenommen und ge-

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norm zugrunde liegt,41 beim Vergleich des geregelten mit dem ungeregelten Tatbestand das Gemeinsame das Unterscheidende überwiegt, bestehen zwischen dem konkreten Fall und dem von der Norm „ins Auge gefassten“ Fall „keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“. Dann aber – so hat das BVerfG dies mit Blick auf gesetzliche Regelungen immer wieder hervorgehoben42 – ist Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird“.43 Sie müssen nämlich gleichbehandelt werden. Wie gesehen44 unterstreicht das BVerfG in seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005, dass auch die Gerichte beim Fehlen zureichender Differenzierungsgründe dem Verbot der Ungleichbehandlung unterliegen. Wenn es unter dieser Prämisse das Unterlassen einer analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG als Gleichheitsverstoß wertet, so liegt dem der Gedanke zugrunde, dass der Gleichheitssatz fordert, nicht von der Norm Betroffene, wenn und soweit die Voraussetzungen einer Analogie vorliegen, genauso zu behandeln wie die eigentlichen Normadressaten.45 Die Rechtsfolge der Norm ist auch auf sie zu erstrecken. Hierauf hat der durch eine solche Analogie Begünstigte kraft des Art. 3 Abs. 1 GG einen Anspruch.46

3. Die Voraussetzungen der Analogie Bislang sind die allgemein anerkannten Voraussetzungen für eine analoge Rechtsanwendung noch nicht vollständig benannt worden: Es ist notwendig, dass in einem Fall der Tatbestand einer Rechtsnorm zwar nicht verwirklicht ist, die Merkmale des Sachverhalts aber auf Grund ihrer Ähnlichkeit zu den Tatbestandsmerkmalen eine Verschiedenbehandlung ausschließen. Ferner ist erforderlich, dass das Gesetz eine „Lücke“ aufweist und dass diese „planwidrig“ ist. ___________ schlossen hat und ob diese Erweiterung des Normenbereichs Wertungen der Verfassung, namentlich Grundrechten widerspricht.“ 41 S. dazu a. BVerfGE 82, 6 (12 f.). 42 BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I; st. Rspr., s. etwa BVerfGE 83, 395 (401); 85, 238 (244); 117, 316 (325) – Künstliche Befruchtung für Verheiratete. 43 BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I. 44 S.o. bei Fn. 33. 45 Dabei lässt sich unter Normadressat sowohl eine Person verstehen, welcher die Norm eine Pflicht auferlegt, als auch eine Person, welcher die Norm ein mit dieser Pflicht korrespondierendes Recht verleiht. 46 Wenn das Bundesverfassungsgericht damit im Vergleich zu BVerfGE 82, 6 (12) (s.o. in Fn. 40) seine Zurückhaltung gegenüber der Nachprüfung der Auslegung „einfacher“ Gesetze aufgibt, dürfte dies gerade auch damit zusammenhängen, dass es hier um Normen des Verfassungsprozessrechts geht.

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a) Die „Lücke“ im Gesetz und wie man sie entdeckt Die Metapher der „Lücke“ im Gesetz ist fragwürdig. Wie nämlich soll man sich auch nur das Auffinden einer „Lücke“ vorstellen? Um sich hierüber Klarheit zu verschaffen, sei empfohlen, sich die hermeneutische Problematik richterlicher Entscheidung in einem System weitgehend kodifizierten Rechts zu vergegenwärtigen.47 Die in der Praxis regelmäßig entscheidenden und oft erheblichen Schwierigkeiten der Sachverhaltsaufklärung seien ausgeblendet; die einem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen seien sämtlich zutreffend vorgetragen. Wer in einer solchen Situation dazu berufen ist, den Streit rechtlich zu entscheiden, wird nicht umhinkönnen, zunächst aus dem Stand eine Lösung zu entwerfen und dabei ein spontanes Vorverständnis des einschlägigen, den Fall lösenden Rechtssatzes auszubilden. Will der Rechtsanwender die den Streit entscheidende Norm „finden“, so muss er sie „suchen“. Suchen aber setzt eine Vorstellung von dem zu Findenden voraus. Der Richter muss folglich eine Vorstellung von dem Rechtssatz haben, den er im Gesetz mit dem ihm durch Art. 20 Abs. 3 GG vorgegebenen Ziel aufspüren will, seine Entscheidung als eine dem Gesetz entsprechende auszuweisen. Er braucht – in Anlehnung an Ernst Beling48 – eine „Normschablone“, ein rechtsnormatives Vorverständnis. Der professionelle rechtliche „Entscheider“ ist sich seines intuitiven Ausgangspunkts und der Vorläufigkeit seiner prima-facie-Lösung bewusst. Gleichsam dokumentiert wird dies im Ansatz seines juristischen Gutachtens. Zur Beurteilung des Falls der Beschwerdeführerin in dem der Entscheidung BVerfGE 115, 51 zugrunde liegenden Fall könnte etwa der Berichterstatter des BGH mit der Überlegung angesetzt haben: „Die Vollstreckung des Versäumnisurteils gegen die Beschwerdeführerin könnte unzulässig sein, weil das BVerfG in einem Parallelfall festgestellt hat,49 dass ein ähnliches Zahlungsurteil gegen eine Bürgin Art. 2 Abs. 1 GG verletze.“ Zugrunde läge die Vorstellung einer Norm, die für den Fall der Feststellung einer Grundrechtsverletzung in einem Parallelfall die Vollstreckung aus fachgerichtlichen Urteilen verbietet. In dem erwägenden, im coniunctivus potentialis gefassten Ansatz wird eine Falllösungshypothese aufgestellt, die auf einer den Fall lösenden Normhypothese50 beruht. Beides gilt es zu überprüfen. Entsprechend seiner Erfahrung mit ___________ 47

Vgl. hierzu H.-J. Cremer, Anwendungsorientierte Verfassungsauslegung, 2000, 489 ff., insbes. 501 ff. 48 E. Beling, Bindings Lehre von der Abstimmung im Strafgericht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 37 (1916), 365 (382). 49 S. § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. 50 Vgl. K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., 1963, 15; sowie den von ihm in Bezug genommenen E.R. Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 4. Band (Neudruck der von 1894-1917 erschienenen Aufl.), 1961, 46 f. (s.a. Fn. 2).

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ähnlichen Fällen, seinem Judiz, kann der Richter im ersten Zugriff die richtige Lösung sehr wohl bereits erfasst haben. Dies merkt er, wenn er eine – wiederum nach seinem Vorverständnis – passend erscheinende geschriebene Rechtsnorm findet (sic!) und es sich – bei Ausschöpfung aller verfügbaren Quellen – bestätigt, dass er sie im ersten Zugriff richtig verstanden und auf den Fall korrekt angewendet hat. Um möglicherweise einschlägige Normen aufzuspüren, bedient sich der Richter seiner Normhypothese als einer „Normschablone“ und als eines „VorBilds“ für die Suche. Mit ihrer Hilfe wird er das Gesetz nach einer Vorschrift „durchforsten“, welche der Normhypothese entspricht. Die Suche nach einer solchen Entsprechung besteht in einem Vergleichen, also einer Gleichheitsoperation. Mit Recht wird also darauf hingewiesen, dass das Prinzip der Gleichbehandlung gleichartiger Fälle bereits ein Instrument der Lückenfeststellung sei.51 Pragmatisch gesehen mag der Richter bei der von ihm für richtig gehaltenen Rechtsfolge ansetzen (in dem „zweiten“ Bürgschaftsfall also z.B. beim Verbot der Vollstreckung) und alle Rechtssätze sichten, welche diese Rechtsfolge enthalten. Um die Anwendbarkeit der Normen zu beurteilen, muss er aber letztlich in seinen Vergleich notwendig auch den Tatbestand jeder in Betracht gezogenen Norm einstellen.52 Denn findet er zwar Normen mit passender Rechtsfolge, lässt sich der von ihm zu entscheidende Fall jedoch nicht auch einem gesetzlichen Tatbestand zuordnen, der diese Rechtsfolge auslöst, so entspricht der gesetzliche Rechtssatz nicht der Normhypothese. Im Fall eines solchen Fehlschlagens der Verifikation53 der Normhypothese darauf zu schließen, dass das Gesetz als Ganzes eine Lücke aufweise, wäre indessen vorschnell. Das Gesetz könnte nämlich durchaus noch einen Rechtssatz enthalten, der für einen Fall wie den zu entscheidenden gerade eine andere als die prima facie angenommene Rechtsfolge, möglicherweise sogar das Gegenteil des Vermuteten, vorschreibt. Darum muss der Richter seine Suche nach Vorschriften, welche den gleichen Tatbestand wie seine Normhypothese regeln, über den Kreis der geschriebenen Normen mit ähnlichen Rechtsfolgen ___________ 51

Zippelius (Fn. 35), § 11 I b), S. 65; Canaris (Fn. 35), 72. Vgl. E. Beling (Fn. 48), 382: : „Denn beim Aufsuchen der relevanten Tatsachen ist ja stets die rechtliche Schablone zielweisend, und umgekehrt ergibt nur das Tatsächliche, an welche Rechtssätze zu denken ist.“ 53 Zweifelhaft ist, ob es in strengem Sinne eine „Verifikation“ geben kann. Vgl. hierzu den falsifikationistischen methodologischen Ansatz von B. Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Der Staat 1980, S. 73 (87 ff.), wonach es freilich nicht nur des Scheiterns der Falsifikation, sondern auch einer gewissen Bewährung eines „gefundenen“ Ergebnisses bedarf; allein es wird – zu Recht – betont, dass eine „Verifikation“ niemals vollständig gelingen kann, während Falsifikationen eindeutig möglich erscheinen (vgl. ebd., S. 92 ff.). S.a. Cremer (Fn. 47), 494 ff. 52

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hinaus ausdehnen. Erst wenn er auch hier nicht fündig wird, lässt sich von einer „Gesetzeslücke“ sprechen.

b) Die „Planwidrigkeit“ der „Lücke“ im Lichte der Rechtsbindung, der Gewaltenteilung und des allgemeinen Gleichheitssatzes Die bisherigen Überlegungen zeigen die zentrale Problematik der Gesetzeslücke: Der Richter findet im Gesetz keine geschriebene Norm, die den von ihm zu beurteilenden Fall so löst, wie er sich dies bei seinem ersten Zugriff vorgestellt hat. Würde er, was er prima facie für die richtige Lösung hält, zum Inhalt seiner verbindlichen Entscheidung machen, so würde er den Fall nicht in einem strengen Sinn gemäß einer gesetzlichen Vorschrift lösen. Dadurch, dass er die Rechtsfolge außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Tatbestandskonstellationen zur Anwendung bringt, ergänzt er nun jedoch das Gesetz. Insoweit aber nimmt er eine Funktion wahr, die nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung an sich dem Gesetzgeber zukommt.54 Denn dieser kann – wie Reinhold Zippelius formuliert – „Fragen der Gesetzesergänzung, die oft weit in die Rechtspolitik hineinreichen, mit stärkerer demokratischer Legitimation, insbesondere in der gebotenen Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit, und oft auch mit breiteren Informationsgrundlagen lösen, als ein Gericht dies tun kann“.55 Dieses se ut legislatorem gerere56 steht der richterlichen Gesetzesergänzung – obgleich sie nur in dem konkret zu entscheidenden Fall und damit punktuell erfolgt57 í grundsätzlich entgegen. ___________ 54

Vgl. auch o. in Fn. 40. Zippelius (Fn. 35), § 11 I. c), S. 66 (vgl. auch zur Auslegung als Legitimationsproblem ebd., § 10 I a), S. 48 f.). 56 S. dazu BVerfGE 87, 273 (280): Ein Richterspruch setze sich über die aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gesetzesbindung hinweg, „wenn die vom Gericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen eindeutig erkennen lassen, daß es sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen“. So verhalte es sich beispielsweise im Fall der unzulässigen Rechtsfortbildung. 57 Vgl. zum grundsätzlichen Fehlen einer Bindung des Richters an Präjudizien: BVerfGE 87, 273 (278 f.): „Abweichende Auslegungen derselben Norm durch verschiedene Gerichte verletzen das Gleichbehandlungsgebot nicht. Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte – auch die im Rechtszug übergeordneten – den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich (BVerfGE 78,123 [126]).“ S.a. H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl., 1999, Rn. 519 ff. 55

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Doch verliert dieser Einwand an Gewicht und Überzeugungskraft, wenn die Entscheidung des Richters gleichwohl im Sinne des Gesetzes liegt. Gerade hierauf deutet die Grundvoraussetzung der Analogie hin, dass (1) das Gesetz eine Rechtsfolge „für einen Tatbestand (A) oder für mehrere, untereinander ähnliche Tatbestände“ vorgibt und dass (2) ein Tatbestand (B), dessen Merkmale im konkreten Fall erfüllt sind, dem Tatbestand (A) „ähnlich“ ist.58 Je größer nämlich diese Ähnlichkeit ist, desto eher fordert Art. 3 Abs. 1 GG, beide Tatbestände gleich zu behandeln – also die gleiche Rechtsfolge an sie zu knüpfen. Die – bei aller Ähnlichkeit verbleibenden – tatbestandlichen Unterschiede erscheinen als besonders gering, wenn lediglich ein einziges Merkmal, welches das Gesetz tatbestandlich voraussetzt, in einem Fall nicht verwirklicht ist und dieses Merkmal als unwesentlich zu werten ist – was in der Sprache der Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes heißt, dass dieses Merkmal kein hinreichend gewichtiges Differenzierungskriterium darstellt. Die Wesentlichkeit des Merkmals zu ermitteln erfordert – wie bereits angeklungen ist – eine Wertung.59 Diese kann der Gesetzgeber freilich selbst getroffen haben, indem er bewusst davon abgesehen hat, die Rechtsfolge auf den nicht geregelten Tatbestand zu erstrecken. Ein solches „beredtes“ gesetzgeberisches Schweigen60 hat, wenn es sich etwa aus der (immanenten) Teleologie des Gesetzes61 oder aus der Entstehungsgeschichte eindeutig ergibt, der gesetzesgebundene Richter zu achten; sollte er der Auffassung sein, dass der Gesetzgeber gemessen an Art. 3 Abs. 1 GG unzulässig differenziert hat, so bleibt ihm bei einem formellen, nachkonstitutionellen Gesetz grundsätzlich nur die Möglichkeit, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen, ob das Gesetz tatsächlich verfassungswidrig ist (Art. 100 Abs. 1 GG). Handelt es sich indes um keine bewusste Beschränkung der Rechtsfolge auf die ausdrücklich im Gesetz genannten Tatbestände, würde der gesetzgeberische Zweck aber befördert, indem die Regel auf die nicht erfassten, jedoch ähnlichen Fälle erstreckt wird, so liegt eine „planwidrige Unvollständigkeit“ des Gesetzes vor.62 Mit der Umschreibung der „Lücke“ als einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ des Gesetzes63 wird nicht nur noch einmal verdeutlicht, dass man die ___________ 58

S.o. bei Fn. 36. S. BVerfGE 82, 6 (13). 60 Canaris (Fn. 35), 39 f., 44 ff. 61 S. Canaris (Fn. 35), 45. 62 Larenz (Fn. 35), 373, weist darauf hin, dass dieser Ausdruck von Elze, Lücken im Gesetz, 1916, 3 ff., stammte. 63 Canaris (Fn. 35), 43, weist auf den strikten Unterschied zwischen – der von ihm weit verstandenen (s. ebd., 34 ff.) – „Lücke“ und „rechtsfreiem Raum“ hin: „liegt eine Lücke vor, so fordert die Rechtsordnung eine Regelung, während der rechtsfreie Raum gerade umgekehrt dadurch gekennzeichnet ist, daß eine Rechtsfolge nicht eintreten soll“. 59

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„Lückenhaftigkeit“ eines Gesetzes nicht durch bloße Gesetzeslektüre „wahrnehmen“ kann – dies gilt zumal für „Regelungslücken“, bei denen nicht der einzelne Rechtssatz,64 sondern eine bestimmte Regelung im Ganzen als unvollständig erscheint,65 was nur „vom Standpunkt des Gesetzes selbst, der ihm zugrunde liegenden Regelungsabsicht, der mit ihr verfolgten Zwecke, des gesetzgeberischen ‚Plans‘“ her beurteilt werden kann.66 Die analoge Rechtsanwendung unter die Voraussetzung zu stellen, die Unvollständigkeit des Gesetzes sei planwidrig, hat auch die wesentliche Funktion, den Richter zu disziplinieren. Gesichert wird, dass die Ausdehnung einer (gesetzlich anderweit vorgesehenen) Rechtsfolge auf einen vom Gesetzgeber nicht geregelten Fall jedenfalls der gesetzlichen Regelungsintention entspricht. Der Richter vervollständigt das Gesetz im Sinne des Gesetzgebers, indem er die gesetzliche Rechtsfolge auf den nicht erfassten, aber „ähnlichen“, gleich zu bewertenden Tatbestand erstreckt. Um diese Planwidrigkeit zu korrigieren, behandelt er wesentlich Gleiches gleich. Die Herstellung der „Planmäßigkeit“ ist durch den Gleichheitssatz geboten und bildet die Rechtfertigung für die Rechtsfortbildung.67 Der Richter befolgt die Teleologie des Gesetzes und genügt dadurch zugleich dem Gebot des Art. 3 Abs. 1 GG.68 Daher entscheidet er nicht contra legem, auch nicht in einem engeren Sinne praeter legem, nämlich am Gesetz vorbei, sondern legi congruens, im Gleichlauf mit dem Gesetz. Die – rechtfertigende und verpflichtende – Grundlage der Rechtsfortbildung durch Analogie bildet folglich das gesetzliche Telos in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz. Dadurch ist sie aber zugleich begrenzt.69

___________ 64 Insofern spricht Larenz (Fn. 35), 372, von „Normlücken“ und führt als geradezu klassisches Beispiel § 904 Satz 2 BGB an, der die Frage offen lässt, wer bei der Einwirkung auf eine Sache im aggressiven Notstand der dem Eigentümer gegenüber zum Ersatz Verpflichtete ist. 65 Larenz (Fn. 35), 372. 66 Larenz (Fn. 35), 373. 67 Hier zeigt sich eine spannende Nähe zur Problematik der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen (s. insbes. u. im Haupttext bei Fn. 107 ff.). Denn durch die analoge Anwendung einer Rechtsvorschrift wird die Rechtsfolge des Gesetzes auf Fälle erstreckt, die das Gesetz nicht erfasst hat, die an sich aber hätten erfasst werden müssen, um Art. 3 Abs. 1 GG zu genügen. Die vom Richter herangezogene Analogie gleicht damit einen Mangel des Gesetzes aus und korrigiert es im Sinne der Gleichbehandlung – auf welche Weise eine Vorlage des Gesetzes nach Art. 100 Abs. 1 GG vermieden wird. 68 Vgl. Canaris (Fn. 35), 71 ff., 141 f. (wo für die hier einschlägige Fallgruppe von „teleologischen Lücken“ gesprochen wird). 69 S. dazu a. BVerfGE 82, 6 (13): „Die Beantwortung der Frage, ob eine Gesetzeslücke oder eine abschießende Regelung vorliegt, erfordert im gleichen Maße eine rechtliche Wertung wie die Lösung des Problems, in welcher Weise die Lücke zu schießen ist (…).“

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4. Die doppelte Analogie zu § 79 Abs. 2 BVerfGG im innergerichtlichen Diskurs Ob das BVerfG in seiner Entscheidung vom 6. Dezember 2005 bei der doppelten Analogie zu § 79 Abs. 2 BVerfGG diese Grenzen eingehalten hat, ist, wie das Sondervotum offenbart, innerhalb des Gerichts selbst heftig umstritten gewesen. Die Mehrheit des Ersten Senates meint, die Rechtsfolgen des § 79 Abs. 2 BVerfGG müssten in einem gedanklich ersten Schritt auf Entscheidungen ausgedehnt werden, die auf einer vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten Auslegung einer Norm beruhen, und von dort aus auch auf Entscheidungen, welche vom BVerfG aus Grundrechten abgeleitete „Richtlinien“ für die Interpretation zivilrechtlicher Vorschriften nicht befolgen. Dem widerspricht die Bundesverfassungsrichterin Haas.70 Schon auf der ersten Stufe der Argumentation hält sie die analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht für überzeugend.

a) Lückenhaftigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG in Bezug auf die verfassungskonforme Auslegung? Haas zufolge weist die Vorschrift keine „Lücke“ auf, wenn sie die Vollstreckung nicht grundsätzlich aus allen Entscheidungen, die auf einer vom BVerfG im Zuge verfassungskonformer Auslegung für verfassungswidrig erklärten Interpretationsvariante einer Norm beruhen, verbietet und, soweit die Zwangsvollstreckung sich nach der ZPO richtet, die Vollstreckungsabwehrklage eröffnet. Vermisst wird die „positive Begründung“ einer Gesetzeslücke.71 Eine Analogie setze voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigte Lücke vorliege und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden könne, andernfalls sonst jedes Schweigen des Gesetzgebers – und dies sei der Normalfall, wenn er etwas nicht regeln wolle – als planwidrige Lücke zu verstehen sei, die im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden könnte.72 Bezug genommen wird dabei auf Claus-Wilhelm Canaris’ Schrift „Die Feststellung von Lücken im Gesetz“. An der zitierten Stelle73 stellt Canaris die These auf, zur Feststellung einer Lücke genüge nie der negative Schluss, die gewünschte Regelung widerspreche dem geltenden Recht nicht, ___________ 70

BVerfGE 115, 51, 72 ff. BVerfGE 115, 51, 72 (74). 72 BVerfGE 115, 51, 72 (74). 73 Genauer auf Canaris (Fn. 35), 51. 71

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sondern erforderlich sei stets „die positive Begründung …, die Regelung werde von der Rechtsordnung gefordert“.74 Damit wird die Abhängigkeit der Feststellung einer „Gesetzeslücke“ von der Regelungsintention des Gesetzgebers pointiert. Das Telos der gesetzlichen Regelung muss eine Rechtsfolge nicht nur dulden, sondern verlangen.

aa) Keine Begründung für die Annahme, § 79 Abs. 2 BVerfGG sei planwidrig unvollständig Dass dies für § 79 Abs. 2 BVerfGG von der Senatsmehrheit dargetan sei, bezweifelt Haas. Im Gegenteil blieben ihre Senatskollegen ein positives Argument für die Lückenhaftigkeit schuldig.75 Die Mehrheit meint, § 79 Abs. 2 BVerfGG weise „seinem Wortlaut nach“ eine Regelungslücke auf, die „vom Gesetzgeber nicht erkannt wurde, als er der Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zur Ausweitung des Absatzes 1 folgte“.76 Der Hinweis auf den Wortlaut genügt indessen für sich genommen nicht, um die Voraussetzungen einer analogen Rechtsanwendung zu begründen. Dies folgt daraus, dass dort, wo eine Analogie denkbar ist, zumindest logisch auch ein Umkehrschluss möglich wäre.77 Ein „Schweigen“ des Gesetzes könnte darum entweder die analoge Anwendung einer Norm fordern oder als ein argumentum e contrario dienen.78 Die Senatsmehrheit setzt sich freilich gar nicht explizit mit den Voraussetzungen einer Analogie auseinander. Ihr insoweit tragendes Argument für eine „Lücke“ scheint zu sein, dass es „ungereimt“ wäre, „nur die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG unberührt zu lassen und sie lediglich den Vollstreckungsverboten gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG zu unterstellen, dagegen die anderen in § 79 Abs. 1 BVerfGG neuer Fassung als rechtsähnlich angesehenen Fälle der Unvereinbarerklärung und der verfassungswidrigen Auslegung schon vom Bestandsschutz des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auszunehmen“.79 Nicht erkennbar und unerfindlich sei ein Grund dafür, weshalb im Jahr 1970 der Gesetzgeber allein die auf Strafurteile beschränkte Ausnahmere___________ 74

Hervorhebung im Original. S.a. Canaris (Fn. 35), 93 f., 95. BVerfGE 115, 51, 72 (74). 76 BVerfGE 115, 51 (65). 77 K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl., 1983, 149; Looschelders/Roth (Fn. 38), 309; H.-M. Pawlowski, Einführung in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl., 2000, Rn. 115, 200. 78 S. Canaris (Fn. 35), 44 ff. 79 BVerfGE 115, 51 (65). 75

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gelung des § 79 Abs. 1 BVerfGG um die Fälle erweitert haben könnte, in denen die Entscheidung auf der Grundlage einer Norm oder einer Normauslegung ergangen ist, die vom BVerfG für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist.80 Indessen ist einerseits auch damit eine „positive“ Begründung nicht gegeben. Andererseits verschließt die Senatsmehrheit die Augen vor dem auf der Hand liegenden, allem Anschein nach entscheidenden Grund für die Erweiterung des § 79 Abs. 1 BVerfGG, wie ihn das Sondervotum verdeutlicht: Die „Sensibilität der Materie“ und die „einschneidende Wirkung des staatlichen Eingriffs für den Betroffenen“ heben rechtskräftige strafrechtliche Verurteilungen aus dem Kreis nicht mehr anfechtbarer Entscheidungen heraus. Dieser „besonderen Belastung“ entspricht in Haas’ Augen eine „bevorzugte Einräumung von Wiederaufnahmemöglichkeiten“.81 Dieses gewichtige Argument für eine Differenzierung wird von den übrigen Richtern, obwohl sie es der Sache nach selbst sehen,82 nicht recht entkräftet. Die bloße Entkräftung würde freilich für sich genommen auch nicht ausreichen, um die Ergänzungsbedürftigkeit der Regelung darzulegen und damit den aus dem Sondervotum ablesbaren Vorwurf auszuräumen, die Mehrheit vermöge sich auf nichts als „ihre rechtspolitische Vorstellung von einer in ihrem Sinne zu optimierenden Rechtslage“83 zu stützen.

bb) Eine versteckte „positive“ Begründung der Lückenhaftigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG? (1) Kein Regel-Ausnahme-Verhältnis der beiden Absätze des § 79 BVerfGG Enthält die Mehrheitsmeinung aber vielleicht eine andere „positive“ Begründung für die Lückenhaftigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG? Bei der Suche fällt der Blick auf ein Argument, das für die planwidrige Unvollständigkeit der Norm sprechen könnte, jedoch nicht eindeutig der Feststellung einer Regelungslücke oder deren Ausfüllung zugeordnet wird: Die Mehrheit sieht es „zur Vermeidung einer inhaltlichen Widersprüchlichkeit und damit zur Wahrung des Grundsatz-Ausnahmeverhältnisses der Absätze 2 und 1 von § 79 BVerfGG“ als geboten an, die Regelungen des Absatzes 2 analog auch dann anzuwenden, wenn eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung auf einer Auslegungsvariante ___________ 80

BVerfGE 115, 51 (64 f.). BVerfGE 115, 51, 72 (73, 75). 82 BVerfGE 115, 51 (63). 83 BVerfGE 115, 51 (75 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfGE 82, 6 (12): „Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war (.…).“ 81

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beruht, deren Verfassungswidrigkeit das BVerfG festgestellt hat.84 Hier geschieht mehr, als nur den Gedanken der „Ungereimtheit“ wieder aufzunehmen. Es wird auf das systematische Verhältnis der beiden Absätze des § 79 BVerfGG abgestellt. Zugrunde gelegt wird dabei die ursprüngliche Struktur der Vorschrift von 1951.85 Diese regelte insgesamt Folgewirkungen allein der Nichtigerklärung einer Norm durch das BVerfG. Dass der Änderungsgesetzgeber im Jahre 1970 nur die Ausnahmefälle des Absatzes 1 ausdehnte, löst nach der Mehrheitsmeinung augenscheinlich einen „Zwang“ aus, durch Analogie auch den Grundsatz des Absatzes 2 zu erweitern. Darin könnte die von Haas vermisste positive Begründung für die Feststellung einer „Lücke“ liegen: Die Ergänzung des Gesetzes im Wege der Analogie könnte durch die in § 79 BVerfGG angelegte Systematik „von der Rechtsordnung gefordert“86 sein. Doch wäre dies nur überzeugend, wenn sich die Ergänzung des Absatzes 1 von § 79 BVerfGG einzig und allein so verstehen ließe, dass unter strikter Wahrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses zu Absatz 2 die Fälle einer Abweichung vom Grundsatz (des bloßen Vollstreckungsverbots) erweitert würden – wenn also die Ausdehnung der Fälle einer Rechtskraftdurchbrechung notwendig auch die Ausdehnung der Fälle des Vollstreckungsverbots nach sich ziehen müsste.87 Indessen ist keineswegs ersichtlich, weshalb dem Gesetzgeber verwehrt sein sollte, § 79 Abs. 1 BVerfGG zu ändern und dabei ungeachtet des (bisherigen) systematischen Verhältnisses zu § 79 Abs. 2 BVerfGG um neue Fälle zu ergänzen, in denen Strafverfahren wiederaufgenommen werden dürfen. Die ursprüngliche Fassung des § 79 Abs. 1 BVerfGG stellte eine Spezialregelung gegenüber den in § 79 Abs. 2 BVerfGG normierten generellen Folgewirkungen der Nichtigerklärung einer Norm dar.88 Was spricht dagegen, einen Bereich zusätzlicher Wiederaufnahmefälle eigenständig und vom Grundsatz losgelöst zu regeln? Allenfalls möchte es sein, dass diese Regelung systematisch deplatziert wirken könnte, da § 79 BVerfGG im Zehnten Abschnitt des III. Teils des BVerfGG steht und damit im systematischen Kontext von Vorschriften über die abstrakte Normenkontrolle und über das Verfahren zur Ent___________ 84

BVerfGE 115, 51 (66). S. BVerfGE 115, 51 (63 f.) – sowie o. bei C. II. 86 S.o. im Haupttext bei Fn. 74. 87 Denn andernfalls erschiene die Ergänzung des Gesetzes durch analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG auf Fälle der Unvereinbarerklärung einer Norm oder der Auslegung einer Norm nicht als zwingend und damit nur als möglich und nicht als geboten. 88 Bei § 79 Abs. 1 a.F. BVerfGG handelte es sich um den Fall einer echten lex specialis, da ein „rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruht“, unproblematisch in den Kreis der „nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruhen“, fällt, gleichzeitig aber durch die zusätzlichen drei Merkmale 1) „Urteil“ 2) „in einem Strafverfahren“, das 3) „in Rechtskraft erwachsen ist“, weiter qualifiziert ist. 85

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scheidung bei Meinungsverschiedenheiten darüber, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht.89 Doch ist eine solche systematische Stellung weder rechtlich unzulässig noch logisch ausgeschlossen. Das in § 79 BVerfGG a.F. angelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis reicht folglich für sich genommen nicht als „positive Begründung“ für die Feststellung einer Regelungslücke aus.

(2) Keine Lückenhaftigkeit des § 79 BVerfGG nach einem aus dieser Norm selbst „abgeleiteten“ Rechtsgedanken In den Entscheidungsgründen lässt sich schließlich ein letztes mögliches Argument für die Lückenhaftigkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG aufspüren. Es versteckt sich in den Ausführungen zum Gehalt des § 79 Abs. 2 BVerfGG.90 Am Ende dieses Abschnittes nennt das BVerfG einen „allgemeinen Rechtsgedanken“, den es aus den Regelungen des § 79 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 BVerfGG „abgeleitet“ habe.91 Dieser besagt, „dass einerseits zwar unanfechtbar gewordene Akte der öffentlichen Gewalt, die auf verfassungswidriger Grundlage zustande gekommen sind, nicht rückwirkend aufgehoben und die nachteiligen Wirkungen, die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangen sind, nicht beseitigt werden, andererseits jedoch zukünftige Folgen, die sich aus einer zwangsweisen Durchsetzung verfassungswidriger Entscheidungen ergeben würden, abgewendet werden sollen“.92 Im Lichte dieser Idee mag § 79 Abs. 2 BVerfGG in der Tat als unvollkommen erscheinen. Dies gilt, zumal allgemeinen Rechtsprinzipien und Rechtsgrundsätzen eine entscheidende Rolle bei der Rechtsfortbildung zukommt93 – und dies, wie Canaris überzeugend herausgearbeitet hat, nicht erst für die „Lückenfüllung“, sondern bereits für die Ermittlung der Ergänzungsbedürftigkeit des Gesetzes.94 ___________ 89

S.o. bei C.I. BVerfGE 115, 51 (62 f.). 91 In dem – von BVerfGE 115, 51 (63) als Beleg zitierten – Beschluss vom 11.10.1966 –1 BvR 164, 178/64–, BVerfGE 20, 230 (236) zu § 55c des Lastenausgleichsgesetzes heißt es: „Sieht man die Vorschriften des § 79 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 und Satz 4 BVerfGG im Zusammenhang, so ergeben sie den Rechtsgedanken, daß die unanfechtbar gewordenen fehlerhaften Akte der öffentlichen Gewalt nicht rückwirkend aufgehoben und die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangen nachteiligen Wirkungen nicht beseitigt werden, daß aber für die Zukunft die aus einer zwangsweisen Durchsetzung der verfassungswidrigen Entscheidungen sich ergebenden Folgen abgewendet werden sollen.“ 92 BVerfGE 115, 51 (63). 93 Canaris (Fn. 35), 93. 94 Canaris (Fn. 35), 93. 90

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Schon im Ansatz jedoch irritiert, dass der aus § 79 Abs. 2 BVerfGG gewonnene Rechtsgedanke die Lückenhaftigkeit gerade des § 79 Abs. 2 BVerfGG selbst erweisen können soll. Eine solche Argumentation erregt den Verdacht eines Zirkelschlusses. Dagegen könnte die Norm schlicht die spezielle Ausprägung eines allgemeinen Rechtsgedankens darstellen, die sich nunmehr – im Angesicht der Bürgschaftsfälle – als unvollkommen erweist. Dann aber stellte die „Ableitung“ dieses Gedankens in Wahrheit einen Induktionsschluss dar. Der Gedanke wäre in § 79 Abs. 2 BVerfGG lediglich „angedeutet“, nicht aber in ihm vollkommen enthalten. Dies aber hat durchaus erhebliche Bedeutung. Denn keineswegs alle allgemeinen Rechtsprinzipien können ausnahmslos zur Lückenfeststellung verwandt werden. Eine Lücke liegt nur vor, wo das geltende Recht die Ergänzung des Gesetzes erfordert. Da nicht alle „materialen Prinzipien“ Bestandteil unserer Rechtsordnung sind,95 muss der Geltungsanspruch eines allgemeinen Rechtsprinzips durch den Nachweis seines besonderen Geltungsgrundes abgestützt werden. Canaris zufolge bieten sich dafür hauptsächlich drei Möglichkeiten an: „Der Schluß, daß ein Prinzip als Bewertungs- oder innerer Ordnungsgedanke dem positiven Recht immanent ist und in diesem nur unvollkommen Verwirklichung gefunden hat, die Rückführung eines Prinzips auf die Rechtsidee und schließlich seine Gewinnung aus der Natur der Sache.“96 Ein Rechtsgedanke, der lediglich induktiv aus einer besonderen Norm gewonnen wird, ist indessen nur dieser Norm immanent. Er taugt daher nicht zum Nachweis, dass die Rechtsordnung um ähnliche Regeln wie die normierte ergänzt werden müsste. Es verwundert folglich nicht, dass das BVerfG den allgemeinen Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 GG bis zum Beschluss vom 6. Dezember 2005 auf die nachträglich festgestellte Verfassungswidrigkeit einer Gesetzeslage bezogen hat. So heißt es in der – bezeichnenderweise im Beschluss vom 6. Dezember 2005 nicht zitierten – Entscheidung vom 31. Mai 1978, in der es für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG gehalten wurde, dass § 1355 Abs. 2 Satz 1 BGB i.d.F. des Ersten Ehereformgesetzes ausnahmslos die Möglichkeit ausschloss, bei Altehen den Geburtsnamen der Ehefrau zum Ehenamen zu bestimmen:97 „Aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens ist der Gesetzgeber – wie auch der Rechtsgedanke des § 79 Abs. 2 BVerfGG zeigt – nicht verpflichtet, sämtliche Folgen verfassungswidriger Bestimmungen rück___________ 95

Canaris (Fn. 35), 95. Canaris (Fn. 35), 96 f. – Hervorhebungen im Original. 97 BVerfGE 48, 327. Auch die in BVerfGE 115, 51 (63) zitierten Entscheidungen BVerfGE 20, 230 (236); 37, 217 (263) – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen; 91, 83 (90f.); 97, 35 (48) – Hamburger Ruhegeldgesetz – betreffen sämtlich die Nichtigerklärung oder die – analog zu behandelnde (s. die Nachw. sogleich in Fn. 101) – Feststellung der Unvereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung. 96

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rückwirkend zu beseitigen; er hat aber dafür zu sorgen, daß für die Zukunft nachteilige Auswirkungen früherer verfassungswidriger Rechtslagen behoben werden (…)“.98

(3) Kein allgemeiner Rechtsgedanke, dass unanfechtbare Akte, die sich als verfassungswidrig erweisen, bestandskräftig, aber unvollstreckbar seien Der Grundgedanke ist wohl auch nach Ansicht des BVerfG nicht etwa dem Verfassungsrecht als solchem immanent. Denn es hat § 79 Abs. 2 BVerfGG ausdrücklich als „eine Vorschrift des einfachen Rechts, die der Disposition des Gesetzgebers untersteht“, bezeichnet.99 Freilich zielt die Argumentation, in welche dieser Satz eingefügt ist, in erster Linie gegen die Ansicht, die öffentliche Gewalt treffe eine verfassungsrechtliche Pflicht, jeden rechtsfehlerhaften, mindestens aber jeden verfassungswidrigen Akt ohne Rücksicht auf seinen formellen Rechtsbestand von Amts wegen nachträglich mit Wirkung ex tunc zu beseitigen.100 Dafür aber, die Abwehr zukünftiger Folgen, die sich aus einer zwangsweisen Durchsetzung verfassungswidriger Entscheidungen ergeben würden, auf die Fälle der Nichtigerklärung und die – durchaus analog zu behandelnde101 – Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm zu beschränken, sprechen gewichtige Gründe. In ihrem Sondervotum führt Haas sie im Wesentlichen sämtlich an.102 Dass sie dort als Argumente nicht gegen das Fehlen einer planwidrigen Gesetzeslücke, sondern gegen die Vergleichbarkeit der Tatbestände und die Übertragbarkeit der Rechtsfolge vorgebracht werden,103 schadet nicht. Denn wie oben gesehen104 ist das Prinzip der Gleichbehandlung gleichartiger Fälle ein Instrument nicht erst der Lückenfüllung (in Bezug auf welche die Richterin Haas es einsetzt105), sondern bereits der Lückenfeststellung. ___________ 98

BVerfGE 48, 327 (340) – Familienname (Hervorhebungen nicht im Original). BVerfGE 20, 230 (236). 100 S. BVerfGE 20, 230 (235 f.). 101 BVerfGE 37, 217 (263 f.) – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen; 81, 363 (384) – Beamtenbaby. S.a. BGHZ 151, 316 (322 f.). 102 BVerfGE 115, 51, 72 (76 ff.). 103 BVerfGE 115, 51, 72 (76). 104 S.o. im Haupttext bei Fn. 51. 105 S. BVerfGE 115, 51, 72 (78), wo dargelegt wird, dass für die de lege lata getroffene Differenzierung zwischen den Rechtsfolgen der Nichtigerklärung in § 79 Abs. 2 BVerfGG und den Rechtsfolgen sonstiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „ein hinreichender sachlicher Grund“ bestehe, „der die Annahme eines Gleichheitsverstoßes ausschließt“. 99

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Das Sondervotum arbeitet die – eine gesetzliche Differenzierung rechtfertigenden106 – Unterschiede zwischen der Nichtigerklärung eines Gesetzes einerseits und dem Ausschluss einer verfassungswidrigen Variante der Auslegung eines „einfachen“ Gesetzes andererseits heraus. Sie bestehen im Hinblick auf die Entscheidungswirkungen und auf die Kompetenzverteilung zwischen BVerfG und Fachgerichten.

(a) Unterschiede in den Entscheidungswirkungen Gravierend erscheinen die unterschiedlichen Rechtsfolgen von verfassungskonformer Auslegung und Nichtigerklärung einer Norm, selbst wenn man zunächst allein auf die Entscheidungen des BVerfG abstellt. „Bei der Nichtigerklärung wird die Geltung eines Gesetzes aufgehoben; bei der Feststellung, dass eine bestimmte Gesetzesauslegung verfassungswidrig ist, bleibt das Gesetz gerade in Kraft“, schreibt das Sondervotum.107 Die Verwerfung lediglich einer Auslegungsvariante eines Gesetzes geschieht, wie mehrfach erwähnt, im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung. „Läßt … eine Norm mehrere Auslegungen zu, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führen, so ist die Norm verfassungsgemäß und muß verfassungskonform ausgelegt werden (…).“108 Wenn also mehrere Möglichkeiten bestehen, eine Gesetzesnorm auszulegen, von denen mindestens eine zur Verfassungsmäßigkeit, mindestens eine andere zur Verfassungswidrigkeit der Norm führen würde, darf keine der verfassungswidrigen, sondern muss eine der verfassungsgemäßen Auslegungsvarianten gewählt werden.109 Die verfassungskonforme Auslegung hält das BVerfG schon seit den frühen Anfängen seiner Rechtsprechung für geboten. Allgemein gelte der Grundsatz, dass „ein Gesetz nicht für nichtig zu erklären ist, wenn es im Einklang mit der Verfassung ausgelegt werden kann“.110 Denn es spreche „nicht nur die Vermutung dafür, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sondern das in dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlangt auch im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes.“111 Diese Vermutung mag man aus dem Grundsatz der Gewaltengliede___________ 106

S. soeben o. Fn. 105. BVerfGE 115, 51, 72 (76). 108 BVerfGE 64, 229 (242). S.a. BVerfGE 69, 1 (55) – Kriegsdienstverweigerung II; 74, 297 (299, 345, 347) – 5. Rundfunkentscheidung; 88, 203 (331) – Schwangerschaftsabbruch II. 109 L. Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, 1. 110 BVerfGE 2, 266 (282) – Notaufnahme. 111 BVerfGE 2, 266 (282) – Notaufnahme. 107

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rung sowie aus Art. 20 Abs. 3 GG herauslesen. Wenn danach die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind, die Gesetzgebung selbst aber schon an die verfassungsmäßige Ordnung, so dürfen Exekutive und Judikative als gesetzesanwendende Gewalten – vorbehaltlich begründeter Zweifel (arg. ex Art. 100 Abs. 1 GG) – grundsätzlich davon ausgehen, dass die Legislative ihrer Verfassungsbindung genügt hat.112 Um den Gesetzgeber davor zu bewahren, dass seine Akte ins Leere gehen und die Produkte oft langwieriger Gesetzgebungsverfahren entwertet werden, erscheint es nach dem Grundsatz in favorem legis richtig, dass Behörden und Gerichte unter mehreren möglichen diejenigen Normdeutungen verwerfen, die verfassungswidrig sind.113 Die Verwerfung einer verfassungswidrigen Auslegungsvariante zieht die Konsequenz aus der Einbettung des einfachen Gesetzesrechts in die wesentlich von der Verfassung beeinflusste Gesamtrechtsordnung.114 Dies wird deutlich, wenn das BVerfG in seiner Entscheidung zur verfassungskonformen Auslegung des § 1632 Abs. 4 BGB ausführt: „Das Grundgesetz ist als ranghöchstes innerstaatliches Recht nicht nur Maßstab für die Gültigkeit von Rechtsnormen aus innerstaatlicher Rechtsquelle; jede dieser Rechtsnormen ist im Einklang mit dem Grundgesetz auszulegen. Sie empfängt daraus im Rahmen ihres Wortlauts gegebenenfalls einen ergänzenden Sinn oder ist, wenn die übrigen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind, im Einklang mit dem Grundgesetz fortzubilden. Denn das Grundgesetz ist Teil der Gesamt-

___________ 112 Vgl. hierzu A. Hamilton, The Federalist No. 78, in: A. Hamilton/J. Madison/J. Jay, The Federalist Papers, Cutchogue, New York 1992, 395: „If it be said that the legislative body are themselves the constitutional judges of their own powers, and that the construction they put upon them is conclusive upon the other departments, it may be answered, that this cannot be the natural presumption, where it is not to be collected from any particular provisions in the constitution. It is not otherwise to be supposed that the constitution could intend to enable the representatives of the people to substitute their will to that of their constituents. It is far more rational to suppose that the courts were designed to be an intermediate body between the people and the legislature, in order, among other things, to keep the latter within the limits assigned to their authority. The interpretation of the laws is the proper and peculiar province of the courts. A constitution is in fact, and must be, regarded by the judges as a fundamental law. It therefore belongs to them to ascertain its meaning as well as the meaning of any particular act proceeding from the legislative body. If there should happen to be an irreconcileable variance between the two, that which has the superior obligation and validity ought of course to be preferred; or in other words, the constitution ought to be preferred to the statute, the intentions of the people to the intention of their agents.“ 113 BVerfGE 2, 266 (282) – Notaufnahme. S.a. Cremer (Fn. 47), 285 f., insbes. Fn. 84 (S. 285) mit einem Zitat von A. Hamilton (Fn. 112), 395 f. 114 Sie folgt aus dem hierarchischen Stufenbau der einheitlichen staatlichen Rechtsordnung (H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, 228 ff.).

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rechtsordnung, die als Sinnganzes verstanden werden muß und jeglicher Auslegung innerstaatlichen Rechts zugrunde zu legen ist (…).“115 Das BVerfG unterscheidet hier zwischen der Verfassung als „Maßstab für die Gültigkeit“ des einfachen Gesetzesrechts und als dessen höherrangigem normativem Kontext, welcher auf den Bedeutungsgehalt des Gesetzes ausstrahlt. Die Wahl einer verfassungswidrigen anstelle einer verfügbaren verfassungsgemäßen Auslegungsvariante erweist sich damit als Fehler nicht einer rechtsetzenden, sondern einer rechtsanwendenden Instanz, insbesondere der Rechtsprechung.116 Das Wesen der Rechtsprechung außerhalb von Normenkontrollverfahren aber beschreibt das Sondervotum mit Recht als „Entscheidung von Einzelfällen“.117 Solchen Entscheidungen liegt notwendig eine Interpretation der angewandten Normen zugrunde. Mängel hierbei aber sind Mängel im einzelnen Fall. Um sich gegen solch mangelhafte Entscheidungen zu wehren, mutet unsere Rechtsordnung dem Einzelnen grundsätzlich zu, die gesetzlich verfügbaren Rechtsbehelfe und Rechtsmittel bis hin zur Verfassungsbeschwerde zu ergreifen.118 Wer diesen Weg nicht beschreitet, nimmt die Entscheidung hin und wird um der Rechtssicherheit willen daran festgehalten. Die Endlichkeit und Erschöpflichkeit des Rechtswegs liegt – um ihrer Funktionsfähigkeit willen notwendig – auch der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit zugrunde. Dazu steht die Nichtigerklärung eines Gesetzes in Kontrast. Ihr spricht § 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BVerfGG Gesetzeskraft zu. Dies erscheint gerade mit Blick auf § 79 Abs. 2 BVerfGG bedeutsam. Denn die Gesetzeskraft ist, worauf Wolfgang Löwer aufmerksam gemacht hat,119 historisch gesehen vollstrekkungsrechtlichen Ursprungs, und diesen Zusammenhang lassen § 31 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 BVerfGG noch erkennen: Die Gesetzeskraft der Normenkontrollentscheidung verschafft dem bloß feststellenden Ausspruch „selbstvollziehende Kraft“.120 Eines weiteren Aufhebungsaktes des Gesetzgebers bedarf es ___________ 115 BVerfGE 75, 201 (218). A.A. W. Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1973, S. 101; A. Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, AöR 125 (2000), 177 (183). Beide Autoren betonen, dass die Einheit der Rechtsordnung lediglich die verfassungskonträre Interpretation verbiete, nicht aber die verfassungskonforme gebiete. Mithin könne die verfassungskonforme Auslegung nur aus dem Grundsatz der Normerhaltung („favor legis“) abgeleitet werden. 116 S. die überzeugenden Überlegungen von M. Graßhof (Fn. 18) § 79 Rn. 38. 117 BVerfGE 115, 51, 72 (78). 118 Vgl. auch das Sondervotum, BVerfGE 115, 51, 72 (77). 119 W. Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl., 2005, § 70, S. 1389 ff., Rn. 112 f. S.a. K. Rennert, Historisches zur Bindungswirkung und Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, Der Staat 34 (1993), 527 (544 ff.). 120 Löwer (Fn. 119 ), Rn. 113.

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nicht. Infolge der „Wirkungsleihe“ für einen Staatsakt (Urteil) bei einem anderen (Gesetz) „gelten“ die Urteilswirkungen für jedermann („inter et erga omnes“), „so wie das Gesetz gegenüber jedermann Verbindlichkeit beansprucht“.121 Dies lässt die Regelung in § 79 Abs. 2 BVerfGG als schlüssig erscheinen, soweit sie die Nichtigerklärung eines Gesetzes auf sämtliche Entscheidungen, die auf seiner Grundlage ergangen sind, ausstrahlen lässt.122 Gerade in der Gesetzeskraft der Nichtigerklärung einer Norm aber sieht das Sondervotum einen erheblichen Unterschied zur bloßen verfassungskonformen Auslegung.123 Die von dem BVerfG für verfassungswidrig erklärte Auslegungsvariante sei nämlich nur in der Weise von der weiteren Rechtsanwendung „ausgeschlossen“, wie dies bei jedem anderen Verfassungsverstoß auch der Fall sei: Aufgrund von § 31 Abs. 1 BVerfGG seien die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des BVerfG gebunden und damit an einer Wiederholung eines durch das BVerfG festgestellten Verfassungsverstoßes in einem anderen Verfahren gehindert.124 Freilich gilt es hier, feiner zu differenzieren. Gesetzeskraft kommt nicht nur Entscheidungen des BVerfG zu, die eine Norm für nichtig erklären. Nach § 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG haben Entscheidungen in Verfahren der prinzipalen Normenkontrolle (§ 13 Nr. 6 und 6a, 11 BVerfGG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 2a, Art. 100 Abs. 1 GG)125 grundsätzlich Gesetzeskraft. Dies gilt auch, wenn Entscheidungen, wie dies bei Unbegründetheit geschieht,126 eine Norm für vereinbar mit dem GG oder höherrangigem Recht erklären.127 Die Vereinbarkeit kann dabei auch auf der verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes beruhen. Während die Feststellung, dass die Norm in der genannten Auslegung verfassungsgemäß ist, in Gesetzeskraft erwächst,128 ist umstritten, ob dies auch für die ___________ 121

Löwer (Fn. 119 ), Rn. 113. So ist auch das Sondervotum, BVerfGE 115, 51, 72 (77), zu verstehen. 123 BVerfGE 115, 51, 72 (77). 124 BVerfGE 115, 51, 72 (77). 125 § 13 Nr. 12 BVerfGG betrifft die Normenverifikation nach Art. 100 Abs. 2 GG, § 13 Nr. 14 BVerfGG die Normenqualifikaion nach Art. 126 GG. 126 Graßhof (Fn. 18), § 78, Rn. 7. 127 Schlaich/Korioth (Fn. 40), Rn. 483. Kritisch zur Erstreckung der Gesetzeskraft auf positive Vereinbarkeitsurteile: Rennert (Fn. 119), 548 f. 128 A. Heusch, in: D.C. Umbach/Th. Clemens/F.-W. Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl., 2005, § 31, Rn. 85 mit Verweis auf H. Bogs, Die Bindung des Fallrichters an eine verfassungskonforme Gesetzesauslegung des Normenkontrollrichters, DVBl. 1965, 633 (635); S. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkung im öffentlichen Recht, 1995, 376 f; Klein (Fn. 40), Rn. 1287; K. Lange, Rechtskraft, Bindungswirkung und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, JuS 1978, 1 (7); M. Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, 316. 122

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Verwerfung der missbilligten Auslegungsvariante gilt.129 Würde man dies bejahen,130 so schiene sich die negative Komponente der verfassungskonformen Auslegung der Nichtigerklärung einer Norm anzugleichen. Dies gälte nicht nur für die genannten Verfahren der prinzipalen Normenkontrolle, sondern auch für Entscheidungen über Rechtssatzverfassungsbeschwerden (prinzipale Normenkontroll-Verfassungsbeschwerde; vgl. § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG).131 Indessen gelten Besonderheiten bei der Urteilsverfassungsbeschwerde. Hier erfolgt die verfassungskonforme Auslegung in der Regel nur in den Gründen132 – mit der Folge, dass der Entscheidung keine Gesetzeskraft, sondern – so jedenfalls auf Grund der Rechtsprechung,133 wonach ihr Tenor und ihre tragenden Gründe134 binden135 – allein Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zukommt.136 Dass die Gesetzeskraft der Verwerfung einer verfassungswidrigen Auslegungsvariante bei Urteilsverfassungsbeschwerden von der individuellen Entscheidung über die Tenorierung sollte abhängen dürfen, erscheint wenig konsistent. Stimmiger wirkt es, die Gesetzeskraft (und somit auch § 79 Abs. 2 BVerfGG!) schon grundsätzlich – also auch in Aussprüchen der prinzipalen Normenkontrolle – nicht auf die Ausscheidung eines mit dem Grundgesetz unvereinbaren Normverständnisses zu erstrecken.137 Dies trüge auch dem bereits ___________ 129 Heusch (Fn. 128), § 31, Rn. 85, Fn. 267; Detterbeck, (Fn. 128), 376 f; Lange (Fn. 128), JuS 1978, 1 (7). 130 So etwa Heusch (Fn. 128), § 31, Rn. 85, Fn. 267; Lange (Fn. 128), JuS 1978, 1 (7). 131 Vgl. Heusch (Fn. 128), § 31, Rn. 72, 85. 132 Schlaich/Korioth (Fn. 40), Rn. 433, wo als Ausnahme BVerfGE 64, 229 (242) – Grundbuchordnung und Grundbuchverfügung angeführt wird. 133 Einen guten Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Diskussion gibt Heusch (Fn. 128), § 31, Rn. 58, der ebd., Rn. 59, sich selbst dem BVerfG anschließt (ähnlich: Lange [Fn. 128], JuS 1978, 1 [4 f.]; Klein [Fn. 40], Rn. 1323 ff.; J. Ziekow, Abweichung von bindenden Verfassungsgerichtsentscheidungen?, NVwZ 1995, 247 [248]; ders., Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Jura 1995, 522 [526 f.]; U. Scheuner, DVBl. 1952, 613 [617]). 134 „Tragend für eine Entscheidung sind jene Rechtssätze, die nicht hinweggedacht werden können, ohne daß das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele“ (BVerfGE 96, 375 [404] – Sterilisation). 135 S.o. Fn. 5. 136 H. Brox, Zur Zulässigkeit der erneuten Überprüfung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht, in: Festschrift für W. Geiger (1974), 809 (824 f.); Schlaich/Korioth (Fn. 40), Rn. 433. 137 Dies entspricht den hierzu ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 40, 88 (94) – Führerschein formuliert: „Spricht das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer „verfassungskonformen Auslegung“ einer Norm des einfachen Rechts aus, daß gewisse an sich mögliche Interpretationen dieser Norm mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, so kann kein anderes Gericht diese Interpretationsmöglichkeiten für verfassungsgemäß halten.“ Um dies zu begründen, stellt es ebd. zwar die Qua-

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erwähnten138 Umstand Rechnung, dass beim Unterlassen der verfassungskonformen Auslegung ein Rechtsanwender versagt, der Verfassungsverstoß also nicht oder zumindest nicht allein im Legislativakt liegt. Gerade dieser Umstand entkräftet auch das denkbare Argument, § 79 Abs. 2 BVerfGG trage keineswegs bloß der in § 31 Abs. 2 BVerfGG angeordneten und rein formal zu verstehenden Gesetzeskraft der Nichtigerklärung von Normen Rechnung, sondern bewältige die Folgen der Nichtigkeit; der Nichtigkeit einer Norm aber stehe die Verwerfung einer verfassungswidrigen Auslegungsvariante gleich – so dass die Gleichbehandlung von Nichtigerklärung und Ausschluss einer unzulässigen Interpretation durch verfassungskonforme Auslegung geboten sei. Verständlich wird dies, wenn man sich des Inhalts von § 79 Abs. 2 BVerfGG erinnert. Wie gesehen, lässt dieser die Nichtigkeit der Norm nicht einfach zur Nichtigkeit sämtlicher auf ihr beruhender vergangener Entscheidungen führen, sondern nur zur Unvollstreckbarkeit pro futuro. Damit sucht das BVerfGG einen Ausgleich in dem Konflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit herzustellen. Dieser Konflikt resultiert daraus, dass – wie dies das BVerfG heute sieht,139 es aber während des Erlasses des BVerfGG im Jahr 1951 durchaus umstritten war140 – Normen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie in Konflikt mit höherrangigem Recht stehen, grundsätzlich eo ipso, in Rückschau also ex tunc, nichtig sind.

___________ lifizierung „einer durch eine bestimmte Auslegung konkretisierten ‚Normvariante‘ als verfassungswidrig“ der Nichtigerklärung einer Norm durch das Bundesverfassungsgericht gleich. Doch geschieht dies eindeutig mit Bezug allein auf § 31 Abs. 1 BVerfGG. BVerfGE 42, 258 (260) gibt „den Hinweis, daß die Qualifizierung einer bestimmten Auslegung des einfachen Rechts als verfassungswidrig durch das Bundesverfassungsgericht alle anderen Gerichte gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindet; eine Mißachtung dieser Bindungswirkung stellt schon für sich einen Gesetzesverstoß dar (BVerfGE 40, 88 [94] – Führerschein)“. 138 S.o. bei Fn. 116. 139 BVerfGE 1, 14 (37) – Südweststaat; 7, 377 (387) – Apotheken-Urteil; 8, 51 (71) – 1. Parteienspenden-Urteil; 37, 217 (262) – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen. S. zur Rezeption des dogmenhistorischen Gebäudes der Ipso-iure- und Ex-tunc-Nichtigkeit durch das Grundgesetz: Löwer (Fn. 119), Rn. 114 (ebd. auch zur Ipso-iure-Nichtigkeit als logischer Voraussetzung für die inzidente Normenkontrolle in Art. 100 Abs. 1 GG); s. dazu auch K. A. Bettermann, Richterliche Gesetzesbindung und Normenkontrolle, in: FS Kurt Eichenberger (1982), 593 [598]). S. zur literarischen Diskussion zwischen Nichtigkeits- und Vernichtbarkeitslehre je m. w. N.: J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, 24 ff., 164 ff., 174 ff., 276 ff.; Schlaich/Korioth (Fn. 40), Rn. 367 ff.; Klein (Fn. 40), Rn. 1244 ff. 140 S. Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit – Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, bearb. v. R. Schiffers, 1984, 344, Fn. 35, mit Verweis auf H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, 117 f. sowie BT-RechtsA 72. Sitzung, 4.12.1950, S. 21-30.

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Eo-ipso-Nichtigkeit aber beruht nicht nur auf der Vorstellung, dass es, um sie zu beseitigen, keiner Aufhebungsinstanz mehr bedarf. Sie beruht auch darauf, dass nicht erst eine fehlerhafte Interpretation oder Anwendung, sondern die Norm als solche, wie sie vom Gesetzgeber erlassen worden ist, selbst schon gegen höherrangiges Recht verstößt. Dies lenkt den Blick auf Unterschiede, die zwischen der Nichtigerklärung eines Gesetzes einerseits und dem Ausschluss einer verfassungswidrigen Auslegungsvariante eines „einfachen“ Gesetzes andererseits im Hinblick auf die Kompetenz zu solchen Entscheidungen bestehen:

(b) Kompetenzielle Unterschiede Während förmliche nachkonstitutionelle Gesetze nur durch das BVerfG für nichtig erklärt werden können,141 ist zur Verwerfung einer Auslegungsvariante und zur Heranziehung einer verfassungskonformen Auslegungsvariante „jeder Rechtsanwender berechtigt und auch verpflichtet“.142 Das Sondervotum expliziert nicht die Bedeutung dieses Unterschiedes. Doch hat Malte Graßhof143 darauf aufmerksam gemacht, dass eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG, weil sie nur bei einer Entscheidung des BVerfG in Frage käme, zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung von Fällen verfassungskonformer Auslegung führen müsste. Gelingt es nämlich schon den Fachgerichten, eine problematische Norm im Einklang mit der Verfassung auszulegen, so hat dies keinerlei Auswirkung auf bis dahin bereits unanfechtbar gewordene Entscheidungen. Gelangt dagegen ein Fall vor das BVerfG, würde die entsprechende Anwendung von § 79 Abs. 2 BVerfGG auf alle Entscheidungen, welche auf der verfassungskonform ausgelegten Norm beruhen, zum Verbot der Vollstreckung und ggf. zur Eröffnung der Vollstreckungsabwehrklage führen. Die Ausstrahlung auf Parallelfälle erscheint damit als etwas Zufälliges. Die ungleiche Wirkung einer verfassungskonformen Auslegung durch die Fachgerichte und das BVerfG irritiert besonders, wenn man bedenkt, dass vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde grundsätzlich der fachgerichtliche Rechtsweg erschöpft sein muss (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und die Zulässigkeit einer inzidenten prinzipalen Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG voraussetzt, dass das Fachgericht sich vergeblich um eine verfassungskonforme Aus___________ 141 So die st. Rspr. zu Art. 100 Abs. 1 GG seit BVerfGE 2, 124 (128) – Normenkontrolle II. 142 So deutlich das Sondervotum BVerfGE 115, 51, 72 (77). S.a. Schlaich/Korioth (Fn. 40), Rn. 432; Löwer (Fn. 119 ), Rn. 127. 143 Graßhof (Fn. 18), § 79 Rn. 38 i.V. mit Rn. 18.

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legung der dem BVerfG vorgelegten Norm bemüht hat.144 Wenn also die Fachgerichte funktionieren und verfassungswidrige Auslegungsvarianten ausscheiden, bringen sie diejenigen, die in der Vergangenheit von einer verfassungswidrigen Norminterpretation betroffen waren, gleichsam um die Vorteile aus § 79 Abs. 2 BVerfGG.145 Das erscheint inkonsistent. Diese Inkonsistenz ist zwar durch ausdrückliche Änderung des ersten Absatzes des § 79 BVerfGG positiviert worden. Gleichwohl spricht sie gegen die entsprechende Anwendung des zweiten Absatzes auf Fälle, in denen das BVerfG eine Norm verfassungskonform auslegt, würde dies doch eine brüchige, im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG zumindest bedenkliche Lösung noch weiter ausdehnen. Insgesamt also zeigt sich, dass § 79 Abs. 2 BVerfGG schon insoweit nicht als planwidrig unvollständig erscheint, als er seine Rechtsfolgen nicht auch auf Fälle erstreckt, in denen das BVerfG eine Norm verfassungskonform auslegt und damit eine mögliche Variante ihrer Auslegung als verfassungswidrig ausscheidet.

b) Die Unzulässigkeit der doppelt analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG Damit fehlt es auch an einer tragfähigen Grundlage dafür, die Analogie noch weiter zu treiben und § 79 Abs. 2 BVerfGG ausgreifend auch auf Entscheidungen zu erstrecken, durch welche die Zivilgerichte „angehalten werden, bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürgerlichen Rechts die jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (…)“.146

___________ 144

BVerfGE 68, 337 (344); 96, 315 (324 f.) – Wohngeld bei Begleitstudium. Zwar ist es gewiss nicht Aufgabe der Gerichte, Dritten mittelbar „Vorteile“ aus einem von anderen geführten, anhängigen Rechtsstreit zu vermitteln. Doch erscheint es problematisch, wenn § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG die Fachgerichtsbarkeit als „Filter“ dem Bundesverfassungsgericht vorschaltet und, wenn dieser „Filter“ funktioniert, indem er durch die verfassungskonforme Auslegung des Gesetzesrechts Grundrechtsverstöße verhindert oder beseitigt, Betroffene in abgeschlossen zurückliegenden Parallelfällen keinerlei Vorteil haben, während die Ausscheidung verfassungswidriger Auslegungsvarianten, wenn sie durch das Bundesverfassungsgericht, zumal im individuellen Rechtsschutzverfahren der Verfassungsbeschwerde, erfolgt, ein Vollstreckungsverbot erga omnes auslöst. 146 BVerfGE 115, 51 (66). 145

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aa) Die Position der Senatsmehrheit Die Senatsmehrheit tut dies trotzdem. Die Unterschiede zur verfassungskonformen Auslegung erachtet sie als nicht hinreichend gewichtig. Vielmehr sieht sie die beiden Fallkonstellationen als einander „hinsichtlich der Gewährung von Grundrechtsschutz so ähnlich, dass sie im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz gleich behandelt werden müssen“.147 Sogleich wird dies jedoch eingeschränkt. § 79 Abs. 2 BVerfGG analog anzuwenden rechtfertige sich nur, wenn das BVerfG „nicht nur die Verfehlung verfassungsrechtlicher Vorgaben bei der rechtlichen Subsumtion im Einzelfall beanstandet, sondern für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den Einzelfall hinausreichende Maßstäbe setzt, an welche die Zivilgerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in gleichgelagerten Fällen ebenso gebunden sind, wie wenn das BVerfG eine Rechtsvorschrift verfassungskonform in der Weise auslegt, dass es die verfassungswidrige Interpretationsmöglichkeit ausschließt“.148 Gerade im ersten Bürgschaftsurteil sowie speziell für Eheverträge in der Entscheidung BVerfGE 103, 89 (100) meint das BVerfG jedoch, „den Begriffen ‚gute Sitten‘, ‚Verkehrssitte‘ sowie ‚Treu und Glauben‘ in den §§ 138 und 242 BGB mit Bezug auf Bürgschaftsverträge auch für die Rechtsanwendung in anderen Fällen reproduzierbare – und für die Zivilgerichte verbindliche – Konturen gegeben“ zu haben.149 Der sich aus der von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Privatautonomie ergebende Maßstab des gebotenen Ausgleichs zwischen strukturell ungleichen Verhandlungssituationen habe „durch diese Rechtsprechung eine für die Rechtsanwendung bedeutsame Konkretisierung erfahren, die der künftigen Rechtsprechung der Zivilgerichte für die Beurteilung von Bürgschaftsfällen der hier in Rede stehenden Art abstrakt-generell und auf vorhersehbare Weise den Weg weist“.150 Die Senatsmehrheit sieht es als ein Gebot der Gleichbehandlung an, den Vollstreckungsschutz des § 79 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG auf denjenigen zu erstrecken, „dessen Grundrecht verletzt wurde, weil ein Gericht die Rechtsprechung zur verfassungsgemäßen Konkretisierung der betroffenen unbestimmten Rechtsbegriffe des Bürgerlichen Gesetzbuches noch nicht berücksichtigen konnte“.151 Gleichbehandelt werden soll dieser Fall offenbar mit dem der erst nachträglich – nämlich durch das BVerfG – ausgesprochenen verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsvorschrift. In beiden Fällen ließen, so das Mehrheitsvotum, die normbezogenen Aussagen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung den Normtext selbst unberührt. ___________ 147

BVerfGE 115, 51 (67). BVerfGE 115, 51 (67) – Hervorhebungen nicht im Original. 149 BVerfGE 115, 51 (68). 150 BVerfGE 115, 51 (68). 151 BVerfGE 115, 51 (69). 148

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Ähnlich wie die verfassungskonforme Auslegung die Reichweite der interpretierten Vorschrift ohne Normtextänderung auf den verfassungskonformen Gehalt der Regelung auch für die Anwendung in anderen Rechtsfällen reduziere, werde der Wortlaut einschlägiger Normen des Zivilrechts durch interpretationsleitende Maßgaben des BVerfG nicht verändert, wohl aber werde „für typisierbare Fallgestaltungen“ deren Inhalt „konkretisiert und damit auch für die Entscheidung anderer Fälle nutzbar gemacht“.152 Dies reiche für die Annahme des in § 79 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Satz 2 und Satz 1 BVerfGG vorausgesetzten und vom BGH zu Unrecht vermissten Normbezugs aus153 – und, so ist zu ergänzen, biete eine hinreichende Grundlage für die analoge Anwendung von § 79 Abs. 2 BVerfGG. Dieser steht es nach Ansicht des BVerfG auch nicht entgegen, dass der von der Beschwerdeführerin 1988 geschlossene Bürgschaftsvertrag nach der Beurteilung des Bundesgerichtshofs zwar auf der Grundlage der heutigen, durch die Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 veranlassten Rechtsprechung seines IX. und XI. Zivilsenats wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB als nichtig anzusehen ist, das zum Nachteil der Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisurteil aber, wie das Revisionsgericht ebenfalls ausgeführt hat, im Jahre 1992 mit der Rechtsprechung des für das Bürgschaftsrecht zuständigen Senats des Bundesgerichtshofs in Einklang stand.154 Der Senat verweist insoweit gerade darauf, dass § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG, soweit die Zwangsvollstreckung aus einer nicht mehr anfechtbaren Entscheidung nach den Vorschriften der ZPO durchzuführen ist, die entsprechende Geltung des § 767 ZPO anordnet und dieser in seinem zweiten Absatz die Zulässigkeit der Vollstrekkungsabwehrklage dahin beschränkt, dass die Gründe, auf denen Einwendungen gegen den in einem Urteil festgestellten Anspruch beruhen, erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden sein müssen, in der Einwendungen prozessual spätestens hätten geltend gemacht werden müssen, und durch Einspruch nicht mehr geltend gemacht werden können.155 Im zu entscheidenden Fall sei die Beschwerdeführerin außerstande gewesen, die „Einwendungen, die auf der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG vom 19. Oktober 1993 gründen“, geltend zu machen. Denn „die Maßstäbe, aus denen diese Einwendungen heute abgeleitet werden können“, seien „damals vom BVerfG noch nicht entwickelt und den Zivilgerichten noch nicht verbindlich vorgegeben worden“.156 Der vom BVerfG durch die konkretisierende Ausle___________ 152

BVerfGE 115, 51 (70). BVerfGE 115, 51 (70). 154 BVerfGE 115, 51 (70). 155 BVerfGE 115, 51 (71). 156 BVerfGE 115, 51 (71). 153

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gung von Art. 2 Abs. 1 GG entwickelte157 Grundsatz, dass die Zivilgerichte darauf zu achten haben, dass privatrechtliche Verträge „nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen“, und daher bei ernsthaften Störungen der Vertragsparität „gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen“,158 wird damit im Kontext des analog anzuwendenden § 767 ZPO unter die „Gegengründe“ gezählt, „die gegen den dem Vollstreckungstitel zugrunde liegenden Anspruch in dem in § 767 Abs. 2 ZPO bestimmten Zeitrahmen noch nicht vorgebracht werden konnten, weil sie erst danach entstanden sind“.159 Die in der (ersten) Bürgschaftsentscheidung160 formulierte Pflicht der Zivilgerichte, vertraglicher Fremdbestimmung entgegenzuwirken, soll also über eine Analogie zu § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG die Vollstreckungsabwehrklage eröffnen, obwohl die Maßgabe der Bürgschaftsentscheidung so vage gefasst ist, dass sie von den Zivilgerichten erst noch weiter konkretisiert und von der Rechtswissenschaft dogmatisch aufbereitet werden musste, bevor sie sich etwa in der Anwendung des § 138 BGB niederschlagen konnte, und obwohl sich – was das BVerfG durchaus selbst sieht161 – die Rechtsprechung der für das Bürgschaftsrecht und den Schuldbeitritt zuständigen Senate des BGH einander nur „schrittweise“ angenähert hat.162 Die Senatsmehrheit sieht hierin kein Problem. Soweit für die Feststellung, dass ein zivilgerichtliches Urteil mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren sei, „im Einzelfall noch rechtliche Konkretisierungen und tatsächliche Ermittlungen durch die Zivilgerichte notwendig sind“, weise § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG mit dem Verweis auf die Vollstreckungsabwehrklage hierfür den Weg.163 Das Verfahren des § 767 ZPO sei „geeignet, auch schwierige materiellrechtliche Fragen im Verhältnis von Vollstreckungsschuldner und Vollstreckungsgläubiger zu klären“.164 Die Begrenzung in § 767 Abs. 2 ZPO stelle sicher, dass dabei das Erkenntnisverfahren nicht in vollem Umfang wiederholt werde.165

___________ 157

BVerfGE 89, 214 (231 ff.) – Bürgschaftsverträge. BVerfGE 89, 214 (234) – Bürgschaftsverträge. S. schon o. bei Fn. 7 und 8. 159 BVerfGE 115, 51 (71). 160 BVerfGE 89, 214 – Bürgschaftsverträge. 161 BVerfGE 115, 51 (53 f.). 162 S. hierzu BGHZ 151, 316 (320) mit Verweis auf Fischer/Ganter/Kirchhof, Schutz des Bürgen, in: 50 Jahre BGH, Festschrift aus Anlass des 50jährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof (2000), 33 ff. 163 BVerfGE 115, 51 (71). 164 BVerfGE 115, 51 (71 f.) mit Verweis auf W. Münzberg, in: Stein/Jonas, Zivilprozessordnung, 22. Aufl., Bd. 7, 2002, § 767 Rn. 15. 165 BVerfGE 115, 51 (72). 158

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bb) Kritik Das Sondervotum erscheint in seiner Argumentation gegen diesen Teil der Entscheidungsbegründung als besonders scharfsinnig. So stellt es heraus, dass es, hielte man § 79 Abs. 2 BVerfGG für anwendbar, darum gehen müsste, ob das im Vorfeld der Verfassungsbeschwerde ergangene Versäumnisurteil „den in der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG geforderten verfassungsrechtlichen Mindeststandards nicht genügt“. Dagegen könne entgegen der Senatsmehrheit daraus, dass das gegen die Beschwerdeführerin ergangene Versäumnisurteil nach Auffassung des Bundesgerichtshofs in der angegriffenen Entscheidung auf der Grundlage der heutigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als rechtswidrig anzusehen ist, nicht geschlossen werden, das – ohne Begründung ergangene – Versäumnisurteil sei verfassungswidrig.166 Denn das BVerfG habe in der Bürgschaftsentscheidung167 den Zivilgerichten bei der Entscheidung, „wie sie dabei im Einzelnen zu verfahren“ hätten und „zu welchem Ergebnis sie gelangen“ müssten, einen „weiten Spielraum“ zugestanden168 und lediglich „Minimalstandards für die Berücksichtigung der Ausstrahlungswirkung gesetzt“. Es habe damit nicht mehr als „einen Anstoß zu einer näheren, verfassungsrechtlich nicht im Einzelnen vorgezeichneten Konkretisierung durch die Rechtsprechung gegeben“. Die Bildung normgleich typisierbarer Fallgruppen sei dann erst durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geleistet worden.169 Verfochten wird damit die These, das BVerfG habe in der Bürgschaftsentscheidung170 den Zivilgerichten grob die verfassungsinduzierte Richtung gewiesen, sei aber weit entfernt davon geblieben, eine subsumtionsfähige Regel zu formulieren. Dies wird dadurch besonders klar, dass Bundesverfassungsrichterin Haas die „Unterschiede zwischen einer verfassungskonformen Auslegung durch das BVerfG und Entscheidungen, in denen die Ausstrahlungswirkung der Grund___________ 166

BVerfGE 115, 51, 72 (81). BVerfGE 89, 214 – Bürgschaftsverträge. 168 BVerfGE 115, 51, 72 (80). S. hierzu BVerfGE 89, 214 (234) – Bürgschaftsverträge: Die Zivilgerichte müssten bei einem für eine Seite ungewöhnlich belastenden und als Interessenausgleich offensichtlich ungemessenen Vertragsinhalt „klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen“. Weiter heißt es ebd.: „Wie sie dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum lässt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.“ 169 BVerfGE 115, 51, 72 (80). 170 BVerfGE 89, 214 – Bürgschaftsverträge. 167

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rechte maßgeblich ist“,171 pointiert. Dazu arbeitet sie einen Positiv-NegativKontrast heraus: Bei der verfassungskonformen Auslegung werde – und insofern ist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Nichtigerklärung eines Gesetzes nicht zu leugnen – eine klar umrissene Auslegungsvariante mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit versehen. Es handele sich um eine negative Entscheidung, ein Verbot, eine bestimmte Auslegung zu vertreten. Die verfassungskonforme Auslegung beziehe sich auf eine einfach-rechtliche Rechtsnorm, die insoweit einen Mangel aufweise, als sie für eine Auslegungsvariante offen sei, die dem Grundgesetz widerspreche.172 Dagegen wirkten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die eine Verkennung der Ausstrahlungswirkung von Grundrechten durch die Fachgerichte konstatieren, positiv: „Sie verpflichten die Fachgerichte, bei der Anwendung einfachen Rechts, also der Subsumtion des Sachverhalts unter dem Tatbestand der Norm, unmittelbar aus dem Grundgesetz abgeleitete Direktiven zusätzlich zu berücksichtigen, die aufgrund des Charakters des Grundgesetzes als Rahmenordnung notwendigerweise weit und konkretisierungsbedürftig bleiben müssen.“173 Die Verfassungsmäßigkeit weder der einfach-rechtlichen Norm noch, wie zu ergänzen ist, einer Variante der Auslegung dieser Norm stehen dabei in Frage. So habe das BVerfG in seiner Bürgschaftsentscheidung174 die Verfassungsmäßigkeit des § 138 BGB nicht in Zweifel gezogen. Es habe als fehlerhaft beanstandet, dass verfassungsrechtliche Vorgaben, die den einfachrechtlichen Rechtsanwendungsvorgang anreichern, außer Acht gelassen worden seien.175 Dies erhellt noch einmal, dass die doppelt analoge Anwendung den § 79 Abs. 2 BVerfGG auch in seinen Folgewirkungen wesentlich verändert. Im Fall der Nichtigerklärung176 einer Norm muss im Rahmen des durch § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG eröffneten Verfahrens der Vollstreckungsabwehrklage geprüft werden, ob und inwieweit der Titel auf dieser Norm beruht,177 der Entscheidungstenor also anders ausgefallen wäre, wenn sie nicht zugrunde gelegt worden wäre. Dagegen ist man bei der doppelt analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG auf Entscheidungen des BVerfG, welche die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durchsetzen, darauf verwiesen, dieselbe maßgebliche Norm anwendend, ganz neue grundrechtliche Über___________ 171

BVerfGE 115, 51, 72 (79). BVerfGE 115, 51, 72 (79). 173 BVerfGE 115, 51, 72 (79). 174 Vgl. BVerfGE 89, 214 (231 ff.) – Bürgschaftsverträge. 175 BVerfGE 115, 51, 72 (79). 176 Und, was zuzugeben ist, auch im Fall der Heranziehung einer verfassungswidrigen Auslegungsvariante einer Norm. 177 Graßhof (Fn. 18), § 78, Rn. 36. 172

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legungen anzustellen und, den Fall entsprechend den bis dahin unbekannten bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben nachwägend, die Entscheidung grundlegend nachzujustieren. Noch bedeutsamer ist ein weiteres Anliegen des Sondervotums: Haas wehrt sich im Kern gegen eine uferlose Ausdehnung der Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Sie erkennt die begründete Gefahr, dass § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf sämtliche Entscheidungen des BVerfG anwendbar wird.178 Denn auf Judikate, welche die Zivilgerichte dazu anhalten, „bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürgerlichen Rechts die jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“,179 lässt sich die Argumentation der Senatsmehrheit nicht beschränken. Aus verfassungsgerichtlichen Einzelfallentscheidungen lassen sich nämlich – wie aus jeder Gerichtsentscheidung – stets „allgemeine Rechtssätze“ abstrahieren.180 Mit Leichtigkeit kann man sie zu verfassungsgerichtlichen Interpretationsleitlinien quasi-verfassungsnormativen Charakters hochstilisieren, um sodann sämtliche vor Erlass des bundesverfassungsgerichtlichen Ausspruchs ergangene, nicht mehr anfechtbare behördliche oder gerichtliche Entscheidungen über die doppelte Analogie unter das Vollstreckungsverbot des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG zu ziehen. Auf diese Weise wären im Ergebnis die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden kraft des § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht mehr nur bei ihren künftigen Entscheidungen an Entscheidungen des BVerfG gebunden. Diese Bindungswirkung wäre stets mit einem Verbot gekoppelt, dass diese öffentlichen Stellen aus ihren bereits ergangenen, nicht mehr anfechtbaren, vor dem BVerfG nicht angefochtenen, aber zu dem entschiedenen Fall parallel liegenden Entscheidungen vollstrecken. Dies durchbricht die Systematik des BVerfGG und verändert das Verhältnis von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit bedenklich. Gegen behördliche oder gerichtliche Entscheidungen stellt das Verfassungsprozessrecht die Verfassungsbeschwerde bereit. Es mutet wie bereits erwähnt181 dem einzelnen damit zu, diesen außerordentlichen Rechtsbehelf aktiv zu nutzen. Wer diese Möglichkeit nicht ergreift, nimmt die ihn belastende Entscheidung hin. Gleiches gilt, wenn im prozessualen Stadium davor der fachgerichtliche Rechtsweg nicht ausgeschöpft und damit eine wesentliche Zulässigkeitsvoraussetzung für die Verfas___________ 178

BVerfGE 115, 51, 72 (78 f.). BVerfGE 115, 51 (66) mit Hinweis auf BVerfGE 7, 198 (205 ff.) – Lüth; 99, 185 (196) – Scientology. 180 So zutreffend das Sondervotum, BVerfGE 115, 51, 72 (78 f.). 181 S.o. im Haupttext bei Fn. 118. 179

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sungsbeschwerde nicht erfüllt wird.182 Die Gerichtsbarkeit des BVerfG ist mit der Fachgerichtsbarkeit verwoben. Die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen trägt – unter durchaus schmerzlicher Inkaufnahme materieller Unrichtigkeit oder gar Ungerechtigkeit – wesentlich dazu bei, die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung zu sichern, indem Verfahren endgültig mit einem letztverbindlichen Ausspruch abgeschlossen werden. Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit müssen insoweit austariert werden. Es ist zu befürchten, dass die doppelt analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG die Justierschraube zu weit dreht, auch wenn die Folge nur ist, dass in weit mehr Fällen als bisher infolge einer bundesverfassungsgerichtlichen Einzelfallentscheidung gerichtliche oder behördliche Entscheidungen nicht (weiter) vollstreckt werden dürfen.

IV. Schlussbetrachtung Mit seinem Beschluss BVerfGE 115, 51 hat das BVerfG das Verfassungsprozessrecht in methodisch zweifelhafter Weise fortgebildet. Es hat die Rechtsfolgen des § 79 Abs. 2 BVerfGG unzulässig über den vorgesehenen Anwendungsbereich hinaus ausgedehnt. Die Vorschrift sieht für den Fall der Nichtigerklärung einer Norm durch das BVerfG vor, dass die auf dieser Norm beruhenden, nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen zwar unberührt bleiben, dass die Vollstreckung aus ihnen jedoch unzulässig ist (Satz 2); Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung sind ausgeschlossen (Satz 4). Soweit die Zwangsvollstreckung sich nach den Vorschriften der ZPO richtet, ordnet § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG die entsprechende Geltung des § 767 ZPO an. Während die analoge Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG auf die Feststellung der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung geboten ist, ist sie methodisch nicht mehr haltbar in Fällen, in denen das BVerfG im Wege verfassungskonformer Auslegung einfachen Gesetzesrechts eine verfassungswidrige Auslegungsvariante ausschließt. Erst recht sind die Grenzen zulässiger Analogie überschritten, wenn § 79 Abs. 2 BVerfGG angewandt wird im Gefolge einer Entscheidung des BVerfG, mit der die Zivilgerichte „angehalten werden, bei der Auslegung und Anwendung von Generalklauseln und sonstigen auslegungsbedürftigen Regelungstatbeständen des bürgerlichen Rechts die jeweils einschlägigen Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“.183 ___________ 182 Freilich darf nicht übersehen werden, dass die Beschwerdeführerin in dem BVerfGE 115, 51 zugrunde liegenden Verfahren offensichtlich schon den fachgerichtlichen Rechtsweg deswegen nicht erschöpft hat, weil ihr Prozesskostenhilfe versagt worden war (s. BVerfGE 115. 51 [55]). Dies gibt dem Fall einen geradezu tragischen Zug. 183 BVerfGE 115, 51 (66 f.).

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Übersehen wird dabei keineswegs die wohltätige Wirkung der doppelten Analogie zu § 79 Abs. 2 BVerfGG: Wer hätte kein Mitgefühl für die Verfassungsbeschwerdeführerin in dem am 6. Dezember 2005 entschiedenen Fall und für Menschen in ähnlicher Lage? Wie weit infolge des Beschlusses BVerfGE 115, 51 die Bürgschaftsentscheidung tatsächlich auf zuvor rechtskräftig entschiedene Parallelfälle rückwirkend ausstrahlt und bewirkt, dass die Vollstreckung für unzulässig erklärt wird, bleibt abzuwarten. Voraussetzung wäre, dass die Zwangsvollstreckung aus entsprechenden Zivilurteilen noch nicht zum Ziel geführt hätte, die titulierte Forderung noch nicht erfüllt worden wäre.184 BVerfGE 89, 214 liegt zeitlich wohl zu weit zurück, als dass dies häufig der Fall sein könnte. Nass und nässer wird’s im Saal und auf den Stufen der Fachgerichte durch eine Prozessflut in Bürgschaftsfällen also zunächst kaum werden. Doch mag sich dies ändern, wenn andere gesellschaftliche Massenphänomene zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führen und das BVerfG in einer späten Phase der Entwicklung einer Individualverfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung stattgibt. Dann fragt es sich, ob das BVerfG die Geister, die es rief, los wird, sollte es erkennen, dass die Wirkungen der doppelt analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG zu weit ausgreifen. An diese Fortbildung des Prozessrechts sind kraft § 31 Abs. 1 BVerfGG jedoch alle Behörden und Gerichten gebunden – alle, bis auf das BVerfG selbst.185

___________ 184 Nach § 79 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG sind Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung ausgeschlossen. 185 BVerfGE 77, 84 (104) – Arbeitnehmerüberlassung; 82, 198 (205) – Kinderfreibeträge im Einkommensteuerveranlagungszeitraum 1983-85. Vgl. auch M. Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, München 1977, 66139.

Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Gesetzesinterpretation Der Streit zwischen subjektiver und objektiver Auslegungslehre aus der Perspektive der Verfassungsrechtsdogmatik

Von Markus Kaltenborn, Bochum

Zu den zentralen Problemstellungen der Methodenlehre zählt seit jeher die Frage, welche Bedeutung man dem Willen des Gesetzgebers bei der Interpretation von Rechtsnormen zugestehen will. Während einige Autoren sich für eine „streng dem Normsetzerwillen verpflichtete Auslegungslehre“1 aussprechen, begegnet ein Großteil vor allem der älteren Literatur diesem Interpretationsansatz eher mit Skepsis: teilweise wird der Wille des Gesetzgebers abschätzig in die Ecke des „Mystischen“2 oder „Metaphysischen“3 gerückt, manche erblicken in ihm sogar ein „Gespenst“,4 eine „Chimäre“5 oder ein „dogmatisches Phantom“.6 Ungeachtet dieser Differenzen im Schrifttum erfreut sich der Wille des Gesetzgebers als Argumentationsfigur in der Judikatur außerordentlich großer Beliebtheit. Gibt man das Stichwort in die Suchmaschine der Datenbank Juris ein, so erhält man allein für den Zeitraum von 1980 bis 2007 über 11.500 Einträge, in denen auf diese Formulierung in der Rechtsprechung zurückgegriffen worden ist. Die große Zahl der Bezugnahmen auf den Willen des Gesetzgebers verdeutlicht den hohen Stellenwert, den die Argumentationsfigur in der juristischen Praxis besitzt.

___________ 1

So z. B. M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz. Studien zur Interdependenz von Grundrechtsdogmatik und Rechtsgewinnungstheorie, 1999, S. 334. 2 E. Danz, Rechtsprechung nach der Volksanschauung und nach dem Gesetz, Iherings Jahrbücher 54 (1909), S. 72 f. 3 K. Oftinger, Von der Eigentumsübertragung an Fahrnis, 1933, S. 106. 4 C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 30. 5 F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 8. Aufl. 2002, Rdnr. 443. 6 A. Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, S. 336 f.

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I. Der Streit zwischen subjektiver und objektiver Auslegungslehre Wirft man die Frage nach der rechtstheoretischen Bedeutung der Formel vom Willen des Gesetzgebers auf, gelangt man zu der bekannten Kontroverse zwischen objektiver und subjektiver Auslegungstheorie. Worum geht es bei diesem Disput? Subjektivisten und Objektivisten streiten in erster Linie um den Gegenstand bzw. das Ziel der Gesetzesinterpretation. Nach der subjektiven Theorie ist es das Ziel der Gesetzesauslegung, den subjektiven Willen des Gesetzgebers zu erkunden, den dieser mit der Vorschrift zum Ausdruck bringen wollte. Dieser „Wille“ soll auch dann maßgebend sein, wenn die Formulierung der Norm etwas anderes nahe legen mag. Im Unterschied hierzu ist nach der objektiven Theorie die Auslegung darauf ausgerichtet, den objektiven Sinn der Gesetzesvorschriften zu erforschen. Bei der Interpretation geht es dann um die allgemein nachvollziehbare Bedeutung, die die Rechtsnormen entsprechend den Regeln der Sprache haben, und zwar auch dann, wenn der Gesetzgeber etwas anderes gemeint haben sollte. Etwas verkürzt kann man sagen: Auslegung im Sinne der subjektiven Theorie zielt auf das vom Gesetzgeber Gewollte, Auslegung im Sinne der objektiven Theorie auf das vom Gesetzgeber Gesagte.7 Dieser Streit, der in der Literatur schon einmal als „juristischer Kulturkampf“8 bezeichnet worden ist, betrifft zumindest mittelbar auch die einzelnen Auslegungsmethoden, die sog. canones.9 Je nachdem, ob man der objektiven oder der subjektiven Theorie zuneigt, wird man entsprechende Akzente bei der Anwendung der einzelnen Methoden setzen und auch zwischen den einzelnen Methoden unterschiedliche Gewichtungen vornehmen. So kann man z.B. bei der Wortlautauslegung sich entweder allein an dem Sprachgebrauch orientieren, der zur Zeit der Gesetzesabfassung vorherrschte, oder aber zusätzlich den Wandel berücksichtigen, den die Bedeutung eines Wortes im Laufe der Zeit vollzieht. Ähnliche Akzentsetzungen sind im Rahmen der teleologischen Auslegung möglich. Vor allem aber bestimmt das Ziel der Gesetzesauslegung ganz entscheidend die Rangfolge bzw. Gewichtung der einzelnen canones. Soll der Wortlaut einer Norm tatsächlich die Grenze der Auslegung bilden, wie es verbreitet in der Literatur gefordert wird?10 Welche Bedeutung misst man der his___________ 7

P. Koller, Theorie des Rechts, 1992, S. 188. E. Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912; aus neuerer Zeit vgl. auch die Kontroverse zwischen G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung: Der Richter im Spannungsverhältnis von erster und dritter Gewalt, 2003 (s. auch dens., Rechtsstaat – Richterstaat, FAZ v. 30.4.2007, S. 8), und B. Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, 53 (57). 9 Eine andere terminologische Einteilung (Auslegungsmethoden als eigentlicher Gegenstand der Auslegung in Abgrenzung von den Zielen der Auslegung) befürwortet Jestaedt (Fn. 1), S. 344. 10 So z.B. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdnr. 77; kritisch hingegen O. Depenheuer, Der Wortlaut als 8

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torischen und der genetischen Auslegungsmethode im Verhältnis zu den anderen canones zu? Sollen auch noch andere, nicht dem klassischen Kanon zuzurechnende Interpretationsmethoden wie etwa die folgenorientierte Auslegung11 oder die ökonomische Analyse des Rechts12 Berücksichtigung finden? Und schließlich: Wo verläuft genau die Grenze zwischen zulässiger Rechtssatzinterpretation und – möglicherweise unzulässiger – Rechtsfortbildung?13 All diese Fragen hinsichtlich des Einsatzes und des genauen Verständnisses der unterschiedlichen Interpretationsmethoden lassen sich sinnvoll nur beantworten, wenn man sich zuvor Klarheit über das Ziel bzw. den Gegenstand der Auslegung verschafft hat. ___________ Grenze, 1988, S. 42 ff., 47 ff.; R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 283 ff.; eine umfassende Darstellung des Diskussionsstandes findet sich bei M. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, 2004, S. 40 ff. 11 Siehe hierzu Th. W. Wälde, Juristische Folgenorientierung, 1979; H. Rottleuthner, Zur Methode einer folgeorientierten Rechtsanwendung, ARSP-Beih. 13 (1980), 97 ff.; G. Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen: Welche Rolle können Folgenerwägungen in der juristischen Regel- u. Begriffsbildung spielen?, 1981; W. Hassemer, Über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, in: Festschrift Coing, 1982, S. 493 ff.; M. R. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995. 12 Vgl. R. A. Posner, Economic Analysis of Law, 6. Aufl. 2003; M. Adams, Ökonomische Theorie des Rechts, 2. Aufl. 2004; H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005; K. Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts, 2. Aufl. 2006; E.-J. Mestmäcker, A legal theory without law: Posner v. Hayek on economic analysis of law, 2007; O. Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts im Spiegelbild klassischer Argumentationsrestriktionen des Rechts und seiner Methodenlehre, 2007. 13 Zu den Grenzen der Rechtsfortbildung siehe BVerfGE 69, 315 (371); 96, 375 (394); 98, 49 (59 f.); sowie aus dem Schrifttum u.a. R. Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, 1981 ff.; P. Badura, Grenzen und Möglichkeiten des Richterrechts, 1973; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978; H. Sendler, Überlegungen zu Richterrecht und richterlicher Rechtsfortbildung, DVBl. 1988, 828 ff.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 85 ff.; Ch. Gusy, Richterrecht und Grundgesetz, DÖV 1992, 461 ff.; W. Durner, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen des Richterrechts, JA 2008, 7 ff.; vgl. außerdem B. Pieroth / T. Aubel, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung, JZ 2003, 504 (505 f.); gegen die Anerkennung des Richterrechts als eigenständige Rechtsquelle siehe insbesondere Ch. Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStRL 34 (1976), 43 (71); F. Müller, Richterrecht. Elemente einer Verfassungstheorie IV, 1986, S. 97 ff.; Ch. Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118 ff.; F. E. Schnapp, in: von Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 20, Rdnr. 44; K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Abs. 2, Rdnr. 286; H. D. Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 9. Aufl. 2007, Art. 20, Rdnr. 42; a.A. F. Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 100, Rdnr. 50; jüngst auch U. Steiner, Richterliche Rechtsfortbildung und Grundgesetz, Festschrift Hirsch, 2008, S. 611 (619).

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In der Rechtsprechung eindeutig vorherrschend ist seit geraumer Zeit die objektive Auslegungstheorie. Namentlich das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass es den subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe bzw. Personen keine entscheidende Bedeutung zumessen will. Maßgebend sei vielmehr der in der Norm zum Ausdruck gelangende „objektivierte“ Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergebe.14 In der Literatur ist das Meinungsbild uneinheitlich. Auch hier überwiegt wohl eher die objektive Lehre,15 gerade in neuerer Zeit finden sich allerdings auch viele Stellungnahmen, die eher der subjektiven Sichtweise zuneigen.16 Darüber hinaus gibt es eine ___________ 14 Ständige Rspr. seit BVerfGE 1, 299 (312); 11, 126 (132); jüngst etwa BVerfGE 105, 135 (157); vgl. in diesem Zusammenhang aber auch F.-J. Säcker, in: Münchner Kommentar zum BGB, Bd. 1/1, 5. Aufl. 2006, Einleitung, Rdnr. 116. 15 K. Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 454 ff.; J. Kohler, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, 1906, S. 123 ff.; L. Brütt, Die Kunst der Rechtsanwendung: zugleich ein Beitrag zur Methodenlehre der Geisteswissenschaften, 1907, S. 49 f.; W. Burckhardt, Die Lücken des Gesetzes und die Gesetzesauslegung, 1925, S. 62 ff.; G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, S. 107 f.; J. Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und des Staates, 1949, S. 183 f.; A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, 1960, S. 149 ff., 225 ff.; E. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 626 ff.; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, 1970, S. 75 ff.; Hirsch (Fn. 8),S. 14. 16 G. Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes – subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, ZZP 94 (1981), S. 192 (210 f.); H.-J. Koch / H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 182; R. Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 171, 176 f.; R. Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, Festschrift Klug, 1983, S. 187 (194); Depenheuer (Fn. 10), S. 54 ff.; C. Jabloner, Die Gesetzesmaterialien als Mittel der historischen Auslegung, in: Festschrift Schambeck, 1995, S. 441 (443 f.); M. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik. Zum Einfluss Wittgensteins auf die Rechtstheorie, 1995, S. 194 ff.; D. Looschelders / W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 31, 41; Jestaedt (Fn. 1), S. 334 f.; A. von Arnauld, Möglichkeiten und Grenzen dynamischer Interpretation von Rechtsnormen, Rechtstheorie 32 (2001), 465 (476 f.); B. Rüthers / C. Höpfner, Analogieverbot und subjektive Auslegungsmethode, JZ 2005, 21 (24 f.); Säcker (Fn. 14), Einleitung, Rdnr. 71, 118; vgl. auch R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl. 1996, S. 304 f.; siehe darüber hinaus aus dem älteren Schrifttum F. C. von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 213 (zu der Problematik einer genauen Zuordnung der Methodenlehre Savignys siehe allerdings Klatt [Fn. 10], S. 41 ff.; U. Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1 [12 f.]); B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 7. Aufl. 1891, S. 53 f.; E. R. Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. IV, 1911, S. 256, 280; Ph. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1 (59 ff.); R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1923, S. 371 ff.; E. Beling, Vom Positivismus zum Naturrecht und zurück, in: Festgabe Heck, Rümelin, Schmidt, 1931, S. 12 ff.; H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl. 1948, S. 126 ff.; L. Ennecerus / H. C. Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1959, S. 324 ff.

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Reihe von Autoren, die einen vermittelnden Standpunkt einnehmen.17 Insgesamt betrachtet kann man aber wohl die objektive Theorie als heute herrschende Meinung bezeichnen.18

1. Der Begriff „Wille des Gesetzgebers“ Die Vertreter der objektiven Theorie behaupten, es laufe schon rein begrifflich auf eine contradictio in adjecto hinaus, wenn man von einem Willen des Gesetzgebers spreche.19 Da der Gesetzgeber – jedenfalls in einer parlamentarischen Demokratie – nicht aus einer einzigen natürlichen Person besteht, könne er streng genommen auch keinen eigenen „Willen“ im herkömmlichen Sinne des Wortes besitzen. Nun ist allerdings offensichtlich, dass dies auch nicht mit der Redewendung vom „gesetzgeberischen Willen“ gemeint sein kann. Nicht das Parlament als das für die Gesetzgebung maßgebliche Verfassungsorgan bildet einen eigenen Willen, sondern die „‚hinter diesem (Verfassungs-)Organ‘ stehenden Organwalter“. Hans Julius Wolff hat diese Differenzierung in seiner Schrift Organschaft und juristische Person klar herausgearbeitet: „Wie die von Menschen gesetzten rechtlich erheblichen Tatbestände seiner ‚Person‘ zugerechnet werden, so werden auch die vom Organwalter gesetzten Tatbestände, insbesondere seine ‚Willenserklärungen‘, dem Organ ... zugerechnet.“20 Dabei müsse – so Wolff – insbesondere bei Kollegialorganen, wozu ja auch das Parlament zu zählen ist, deutlich zwischen dem „Willen der Organwalter“ einerseits und der „Willenserklärung des Organs“ auf der anderen Seite unterschieden werden. Während hinter den Erklärungen der Einzelpersonen, also der Organwalter, noch ein psy___________ 17

Vgl. z.B. A. Baumgarten, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1939, S. 35 f.; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 428 ff.; K. Larenz / C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 137 ff.; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. 1997, S. 121 f. (Fn. 47); E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 101; R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 3. Aufl. 2005, S. 47. 18 B. Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, Rdnr. 798. 19 Oftinger (Fn. 3), S. 106. 20 H. J. Wolff, Organschaft und Person, Bd. 2, 1934 (Neudruck 1968), S. 243; vgl. auch H.Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. 1923 (Neudruck 1984), S. 162 ff., 184; zu den Konsequenzen, die sich hieraus für die Redeweise vom „Willen des Gesetzgebers“ ergeben, siehe F. E. Schnapp, Die Richtlinien im Kassenarztrecht (§ 92 SGB V) auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, in: Festschrift Krasney, 1997, S. 437 (452, Fn. 59). Allgemein zu den von Wolff angestellten Überlegungen zum Organisationsrecht vgl. E.-W. Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person. Kritische Überlegungen zu den Grundbegriffen und der Konstruktionsbasis des staatlichen Organisationsrechts, in: Festschrift Wolff, 1973, S. 269 ff.; F. E. Schnapp, Zu Dogmatik und Funktion des staatlichen Organisationsrechts, Rechtstheorie 9 (1978), 275 (281 ff.).

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chischer Wille stehe, werde der Organwille erst durch das „Zusammenwirken der vielen Willen der Mitglieder des Kollegiums“ gebildet – sei es, dass der inhaltlich übereinstimmende Wille der Mitglieder des Kollegiums oder aber der der Mehrheit der Anwesenden als „Wille“ des Organs erklärt werde. Leicht ironisierend merkt Wolff an, dass oftmals ein derartiger Organwille nicht einmal Gegenstand irgendeines psychischen Willens sei, sondern vielmehr einen sehr komplizierten Kompromiss darstelle, „den genau genommen niemand wirklich gewollt“ habe.21 Jeder, der mit der Praxis moderner Gesetzgebung vertraut ist, wird einsehen, dass eine solche Abstraktionsleistung vom „nicht wirklich gewollten“ Kompromiss zu dem dann letztlich wohl doch gewollten Endergebnis unerlässlich ist, wenn man sich in der juristischen Argumentation auf den Willen des Gesetzgebers berufen will. In der Regel hat nur eine kleine Zahl der Abgeordneten, die an einer Beschlussfassung im Parlament beteiligt sind, den jeweiligen Gesetzestext wirklich intensiv studiert und ist sich vollständig dessen bewusst, welchen Inhalt die neuen Rechtsnormen haben. Kann man nun aber wirklich auf einen gesetzgeberischen Willen Bezug nehmen, wenn einzelne Mitglieder des Verfassungsorgans Parlament gar nicht wissen, worüber genau sie im Plenum abstimmen?22 Sogleich drängt sich ein weiterer Einwand auf: Nur im Ausnahmefall sind es die gewählten Volksvertreter selbst, die die Gesetze verfassen und damit einen bestimmten politischen „Willen“ in rechtliche Formen gießen. Zahlreiche Ministerialbeamte, Mitarbeiter in den Parteizentralen, Sachverständige und nicht zuletzt auch Lobbyisten23 nehmen an der Gesetzgebungsarbeit teil und nehmen auf den Gesetzesinhalt oftmals in deutlich höherem Maße Einfluss als die Abgeordneten.24 Müsste nicht der „Wille“ all dieser Helfer und Helfershelfer des Parlaments mitberücksichtigt werden, wenn man vom Willen des Gesetzgebers spricht?

___________ 21

Wolff (Fn. 20), S. 247. Vgl. in diesem Zusammenhang auch R. Herzberg, Die ratio legis als Schlüssel zum Gesetzesverständnis? – Eine Skizze und Kritik der überkommenen Auslegungsmethodik, JuS 2005, 1 (4): „Man ist ja schon froh, überhaupt einmal eine verwertbare Äußerung zu finden, die ein an der Gesetzgebung Beteiligter gemacht hat. Zu klären, wie die stumm gebliebenen anderen dazu standen, ist unmöglich, und zu entscheiden, welches Gewicht dem Gesagten für den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zukomme, die reine Willkür.“ 23 Siehe hierzu am Beispiel des Krankenversicherungsrechts R. Herber / W. Gerz, Lobbyismus im Gesundheitswesen – notwendiger denn je?, KrV 2000, S. 212 ff.; A. Hoffmann, Gesundheitsreform im Gestrüpp der Lobbyisten, G+G Beilage 2003, Nr. 2, S. 3 ff.; S. Rabbata / S. Rieser, Kein Hindernis für Reformen, Lobbyismus im Gesundheitswesen, Deutsches Ärzteblatt 2006, S. 1278 ff. 24 Siehe hierzu nur Bydlinski (Fn. 17), S. 431 f. 22

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Diese sich aus der Praxis moderner Gesetzgebung ergebenden Probleme verlieren deutlich an Schärfe, wenn man sich vor Augen führt, was denn genau den Gegenstand des gesetzgeberischen Willensaktes ausmacht. Wenn das Parlament einen Gesetzesbeschluss fasst, dann bezieht sich dieser in erster Linie auf das Inkrafttreten der Normen, die in dem Gesetzestext zum Ausdruck gelangen. Mögen die einzelnen Abgeordneten noch so wenig Kenntnis von den Paragraphen haben, die von anderen vorbereitet und ausgearbeitet wurden und die sie nun durch ihren Beschluss mittragen bzw. ablehnen sollen, und mögen die Parlamentarier auch noch so unterschiedliche Vorstellungen mit dem genauen Inhalt der neuen Bestimmungen verbinden – sie alle eint jedenfalls, dass sie eine verbindliche Entscheidung über das Inkrafttreten des Gesetzes treffen wollen. Das rechtliche „In-Existenz-Setzen“ des Gesetzes, und zwar in derjenigen sprachlichen Fassung, die schließlich auch im Gesetzesblatt veröffentlicht wird, ist das vom Kollegialorgan Gesetzgeber „Gewollte“. Damit dürfte ein erster grundsätzlicher Einwand gegen die subjektive Theorie weitgehend entkräftet sein: Was mit dem Begriff „Wille des Gesetzgebers“ gemeint ist, muss nicht im Ungefähren und Schemenhaften verbleiben, sondern lässt sich durchaus exakt bestimmen. Wendet man sich zunächst einmal dem Begriffsbestandteil „Gesetzgeber“ zu, so handelt es sich hierbei nämlich keineswegs um die Gesamtheit aller Personen, die in irgendeiner Form auf den Entstehungsprozess des Gesetzes Einfluss genommen haben. Wollte man ein so weites Begriffsverständnis befürworten, dann wäre es in der Tat oftmals praktisch kaum möglich, einen bestimmten gesetzgeberischen Willen zu identifizieren und ihn zum Ziel der Gesetzesinterpretation zu machen. Sinnvoll kann die Rede vom „Willen des Gesetzgebers“ nur sein, wenn man ausschließlich an den Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses anknüpft, und sich insofern allein auf den hierin zum Ausdruck gelangenden Willensakt des zuständigen Verfassungsorgans, des Parlaments, bezieht. Den Einwand, dass es sich bei dem gesetzgeberischen Willen um etwas logisch oder begrifflich Unmögliches handle, kann dann nur noch jemand erheben, der nicht bereit ist, den zweiten Begriffsbestandteil zu akzeptieren. Lässt man sich aber darauf ein, in dem Gebrauch des Wortes „Willen“ zur Bezeichnung eines Kollektivwillens eine bildliche Redeweise zu erblicken, dann dürften auch diese terminologischen Bedenken zu überwinden sein.

2. Sprachtheoretische Überlegungen Das zweite Argument, das gegen die subjektive Theorie vorgebracht wird, wiegt deutlich schwerer: Es bezieht sich auf die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn der Bedeutungsgehalt einer aus sich heraus nicht ohne weiteres verständlichen Norm ergründet werden soll. Die Vertreter der objektiven Theorie

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bezweifeln, dass sich in einem solchen Fall tatsächlich feststellen lässt, was der Gesetzgeber mit der Vorschrift genau hat regeln wollen. Welche Bedeutung eine unklare, mehrdeutige Formulierung haben soll, werden am ehesten die Autoren der jeweiligen Norm beantworten können. Dass diese zumeist nicht mit den Organwaltern des Verfassungsorgans Parlament, den Abgeordneten, identisch sind, ist soeben bereits ausgeführt worden. Die Parlamentarier können sich allerdings mit ihrem Willensakt durchaus auch auf etwas beziehen, das andere an der Gesetzgebungsarbeit beteiligte Personen zuvor entwickelt und schon mit bestimmten Intentionen belegt haben. Diese Intentionen sind daher als vom Willen des Gesetzgebers mit umfasst anzusehen; nach der subjektiven Theorie sind sie konsequenterweise ebenfalls Gegenstand der Gesetzesinterpretation. Nun stellt sich aber die Frage, ob es überhaupt möglich ist, die konkreten Absichten zu ergründen, die die Normautoren mit der Formulierung einer Gesetzesvorschrift verbunden haben. Folgt man den Vertretern der juristischen Hermeneutik,25 dann müsste man dies verneinen: Danach hat der Interpret einer sprachlichen Äußerung immer selbst einen maßgeblichen produktiven Anteil an der Konstruktion des Sinns der Äußerung. Von seinem eigenen Begriffsverständnis wird er sich niemals ganz befreien können, aus der Sicht des Autors wird er vielmehr immer der Gefahr eines „Missverständnisses“ unterliegen.26 Linguisten sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Leistung aktiver Sinnerzeugung“,27 die jeglichem Bedeutungsverstehen zugrunde liege. Bei der Deutung von Rechtsnormen verhält sich dies nicht anders als bei jeder anderen Textinterpretation. Auch bei der Gesetzesauslegung erscheint die Berücksichtigung eines „Eigenanteils“ des Interpreten unvermeidlich. Der Blick auf den wahren Willen des Normautors bleibt damit zwangsläufig immer getrübt. Auch wenn dieser sprachtheoretische Einwand sicherlich seine Berechtigung hat,28 so zwingt er den Interpreten jedoch nicht dazu, sich gegen die subjektive ___________ 25

Siehe etwa W. Hassemer, Tatbestand und Typus. Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, 1967; J. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten. Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, 1972; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 136 ff.; K. Larenz, Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, in: Festschrift E. R. Huber, 1973, S. 291 ff.; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 212 ff.; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 86 ff. 26 Vgl. von Arnauld (Fn. 16), S. 478. 27 D. Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes? in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 (122). Aus der rechtlinguistischen Diskussion vgl. auch Christensen (Fn. 10), S. 272; Müller / Christensen (Fn. 5), Rdnr. 526 ff., 531; ferner W. Heun, Original Intent und Wille des historischen Verfassungsgebers, AöR 116 (1991), 185 (201 ff.). 28 Vgl. auch Th. Vesting, Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheorie – eine Alternative zum Abwägungspragmatismus des bundesdeutschen Verfassungsrechts?, Der Staat 41 (2002), 73 (78 ff.).

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Theorie und für die objektive Theorie zu entscheiden. Selbst wenn man sich den Erkenntnissen der modernen Linguistik bereitwillig öffnet, so muss nicht gleich jeder Verstehensvorgang notwendigerweise als ein komplettes Missverstehen gedeutet werden. Gemeintes und Verstandenes sind keineswegs stets inkommensurabel.29 Wohl zeigt das sprachtheoretische Argument, dass die Erforschung des gesetzgeberischen Willens immer bis zu einem gewissen Grad unvollkommen bleiben muss, dass es sich hierbei letztlich immer nur um eine Annäherung an den wirklichen Willen des Normautors und nie um dessen vollständige Erfassung handeln kann.30 Diese angebliche „Schwäche“ der subjektiven Theorie wird jedoch deutlich relativiert, wenn man sie den selbst gesetzten Ansprüchen der objektiven Theorie gegenüberstellt. Wer sich nämlich wie der Objektivist auf die Suche nach dem „objektiven“ Gehalt einer Rechtsnorm bzw. nach dem „Willen des Gesetzes“ begibt, wird sich wohl mit weitaus größeren erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten konfrontiert sehen als derjenige, der dem Willen des Normautors nachspürt. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die sprachtheoretischen Bedenken gegenüber der subjektiven Theorie zusätzlich entkräftet. Von einem Kollektiv verfasste Texte sind einer interpretatorischen Annäherung oftmals sehr viel leichter zugänglich als die Äußerungen eines Einzelautors. Gerade das von dem Kollektivorgan Parlament verabschiedete Gesetz bietet hierfür ein gutes Anschauungsbeispiel: Die vielen verschiedenen Vorbereitungs- und Begleittexte, die im Rahmen eines kollektiv angelegten Normsetzungsprozesses verfasst werden, enthalten für den Interpreten – jedenfalls soweit sie ihm zugänglich sind – reichhaltiges Material zur Erkundung des Normgeberwillens. Gesetzesentwürfe und Beratungsprotokolle, vor allem aber die amtlichen Begründungen und die im Gesetzestext selbst enthaltenen Präambeln und Vorsprüche können bei der Auslegung unklarer Normen herangezogen werden. Doch selbst wenn die Quellenlage einmal unzureichend sein sollte, so muss dies noch nicht zu dem Schluss führen, die subjektive Theorie insoweit für unanwendbar zu halten.31 Die Untersuchung der Gesetzesmaterialien ist zwar eine wichtige, jedoch nicht die einzige Methode, mit deren Hilfe man sich dem Willen des Gesetzgebers zu nähern vermag. Erster Bezugspunkt für die Auslegung ist ohnehin der ___________ 29

M. Hensche, Auslegung und rechtsfortbildende Explikation des Gesetzes, ARSP 87 (2001), 373 (391). Vgl. in diesem Zusammenhang auch K. F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 597: Zwar gebe es „keine Begriffe, genauer, Prädikatoren, die, für sich genommen, semantisch eindeutig sind, über deren Extension also unter keinen Umständen ein Zweifel möglich ist. Dennoch gelingt es auch dem Gesetzgeber nicht ganz selten, sich hinreichend verständlich zu machen, so dass alle Beteiligten den Wortlaut im gleichen Sinne verstehen“. 30 von Arnauld (Fn. 16), S. 467. 31 Vgl. von Arnauld (Fn. 16), S. 475 f.

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Wortlaut,32 darüber hinaus kann aber auch die Gesetzessystematik Rückschlüsse auf die Absichten des Normautors zulassen. Der subjektive Interpretationsansatz versagt erst dann, wenn sich tatsächlich keinerlei Hinweise finden lassen, die Auskunft über das vom Gesetzgeber tatsächlich Gewollte geben könnten. Solche Fälle dürften jedoch eine seltene Ausnahme bilden, die subjektive Theorie vermögen sie jedenfalls nicht prinzipiell in Frage zu stellen.

3. Das „Versteinerungsargument“ Ein weiterer Einwand gegen die subjektive Theorie ist das sog. „Versteinerungsargument“ (z. T. auch als „Ergänzungs“- oder „Fortbildungsargument“33 bezeichnet). Die Kritiker einer am Willen des Gesetzgebers ausgerichteten Auslegungslehre geben zu bedenken, dass durch die Bindung an die Vorstellungen des historischen Normgebers die notwendige Anpassung der Gesetze an veränderte soziale Verhältnisse verhindert werde. Nun gibt es in der Tat Fälle, in denen es offenkundig ist, dass ein Festhalten an dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers bei Veränderungen der Faktenlage zu wenig sinnvollen Ergebnissen führt. Man wird sich dann allerdings fragen müssen, wer nun in einer solchen Situation für die notwendige Korrekturleistung zuständig ist. Konsequente Subjektivisten müssten eine neue Betätigung des Normgeberwillens fordern, also einen neuen Rechtsetzungsakt. Dies ist in der Regel nicht nur sehr aufwendig, sondern wird für manche konkret zu entscheidenden Fälle auch nicht mehr rechtzeitig erfolgen können. Objektivisten haben es da einfacher, indem sie die Anpassung der Gesetzesbedeutung an die veränderten tatsächlichen Gegebenheiten dem Interpreten überantworten. Zumeist stellt sich das Problem aber erst gar nicht.34 Der Grund hierfür liegt darin, dass der Gesetzgeber oft bereits selbst für eine ausreichend flexible Handhabung seiner „Produkte“ gesorgt hat. Wenn er in den Gesetzestext etwa Rechtsprinzipien, Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe oder aber auch Gattungsbegriffe aufnimmt, dann bringt er damit zum Ausdruck, dass die betreffenden Normen unterschiedlichen Interpretationen zugänglich sein sollen – und ein sicherlich nicht unwichtiges Kriterium, an dem sich ein Interpret orientieren kann (manchmal sogar muss), ist der immer wieder neuen Veränderungen unterworfene faktische Bezugsrahmen des Rechts. Wie weit ein derartiges ___________ 32 Dazu treffend Jestaedt (Fn. 1), S. 342 f. (Fn. 44): Es werde „überaus häufig die Heranziehung der Gesetzesmaterialien mit subjektiv-historischer Interpretation identifiziert – als ob die Ermittlung des Norminhalts als die Ermittlung des Inhalts des Normsetzerwillens nicht auch und sogar zuvörderst auf den vom Normsetzer selbst authentifizierten Normtext abzustellen hätte …“. 33 Heck (Fn. 16), S. 68, 87 f. 34 Zum Folgenden siehe von Arnauld (Fn. 16), S. 481 ff.

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dynamisches Auslegungsverständnis greift, lässt sich etwa am Beispiel des Verwaltungsrechts demonstrieren. Ein Großteil aller Verwaltungsentscheidungen ist dem Bereich der Ermessensverwaltung zuzurechnen. Da bei jeder Ermessensprüfung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden muss, sind die Behörden (und später gegebenenfalls die Gerichte) verpflichtet, die Verwaltungsmaßnahme auch auf ihre Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit hin zu überprüfen. Um diese Anforderungen beurteilen zu können, muss der Interpret sich auf die tatsächlichen Gegebenheiten beziehen, die der Normanwendung zugrunde liegen. Subjektivisten können in einem solchen Fall dem gesellschaftlichen Wandel ebenso gut Rechnung tragen wie die Anhänger der objektiven Lehre.

II. Die Beachtung des gesetzgeberischen Willens – ein Gebot des Verfassungsrechts? Die zentralen Einwände, die die herrschende Meinung gegen eine prioritäre Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens im Rahmen der Normauslegung vorbringt, vermögen demnach nicht zu überzeugen. Die Befürworter der subjektiven Theorie gehen freilich noch einen Schritt weiter: Das Verfassungsrecht wähnen sie nämlich ebenfalls auf ihrer Seite. Ein Abrücken vom Willen des historischen Gesetzgebers soll ihrer Ansicht nach nicht nur gegen den Grundsatz der Gesetzesbindung verstoßen. Auch das Demokratieprinzip sowie die Grundsätze der Gewaltenteilung und Rechtssicherheit werden angeführt, um die angebliche Unhaltbarkeit der objektiven Auslegungslehre nachzuweisen35. Erstaunlicherweise sind diese Argumente von Seiten der Objektivisten bislang unwidersprochen geblieben. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass häufig verfassungsrechtliche topoi als Rechtfertigung für eine Rückbesinnung auf die subjektive Lehre in die Diskussion eingebracht werden, ohne dass die dahinter liegenden dogmatischen Probleme ausreichend mitbedacht werden. ___________ 35

Vgl. – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – z.B. Koch / Rüßmann (Fn. 16), S. 179, 182; Depenheuer (Fn. 10), S. 55, 60; P. Fischer, Auslegungsziele und Verfassung. Zur Bedeutung der Entstehungsgeschichte für die Anwendung des Gesetzes, in: Festschrift Tipke, 1995, S. 187 (207 ff.); Herbert (Fn. 16), S. 258; Looschelders / Roth (Fn. 16), S. 50 ff.; St. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 202 (vgl. aber auch S. 160 f.); B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 (368); dens. (Fn. 18), Rdnr. 705 ff., 812; K. Riesenhuber, Die Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre. Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts, 2006, § 8, S. 186 (189); generell zur Bedeutung verfassungsrechtlicher Argumente in der Methodenlehre siehe jüngst auch Klatt (Fn. 10), S. 22 f.;K. Hemke, Methodik der Analogiebildung im öffentlichen Recht, 2006, S. 161 ff.

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1. Gesetzesbindung Der am häufigsten formulierte Einwand gegen die objektive Gesetzesauslegung ist der Vorwurf, sie verletze den in Art. 20 Abs. 3 GG und in Art. 97 Abs. 1 GG niedergelegten Grundsatz der Gesetzesbindung.36 Hier wird offensichtlich in die Verfassungsnormen mehr hineingelesen, als tatsächlich in ihnen steht. In Art. 20 Abs. 3 GG und auch in Art. 97 Abs. 1 GG wird nicht die Bindung der Rechtsprechung an den Willen des Gesetzgebers postuliert, sondern schlicht an das „Gesetz“. Was aber das Gesetz genau besagt, worin also der Inhalt der gesetzlichen Regeln besteht, ist ja gerade Gegenstand des Streits um das richtige Auslegungsziel.37 Der Verfassungsgeber hat mit dieser Formulierung keineswegs vorentschieden, ob die Rechtsprechung sich an dem Willen des historischen Gesetzgebers oder an einem – wie auch immer zu konkretisierenden – „objektiven“ Gehalt der Gesetzesnorm zu orientieren hat. Allenfalls wird man dem Gesetzesbindungspostulat die Maßgabe entnehmen können, dass der Richter sich nicht über den eindeutigen Wortlaut einer Vorschrift hinwegsetzen darf. Insoweit beinhaltet die Verfassung zwar eine äußerste Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung. Was aber zu geschehen hat, wenn der Wortlaut einer Norm nicht eindeutig, sondern auslegungsbedürftig ist, wird durch Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 GG gerade nicht beantwortet.

2. Demokratieprinzip Ähnlich verhält es sich mit dem häufig vorgebrachten Argument, die Gesetzesinterpretation sei am Willen des Gesetzgebers auszurichten, weil dies am ehesten den Forderungen des Demokratieprinzips entspreche.38 Wer eine solche Forderung aufstellt, sollte freilich auch berücksichtigen, dass nicht allein der Gesetzgeber, sondern auch die Richterschaft über eine Legitimationsbasis verfügt.39 Das Grundgesetz verlangt in Art. 20 Abs. 2 GG, dass alle Staatsgewalt vom Volk auszugehen habe – dass also die „besondere(n) Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ demokratisch legi___________ 36 Nach BGHZ 135, 86 (92) ist eine „Auslegung gegen den eindeutigen Willen des Gesetzgebers ... den Gerichten im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG verwehrt.“; vgl. auch bereits BGH, NJW 1976, 343 (351 m. w. N.). 37 Ähnliche Argumentation bei U. Kischel, Die Begründung. Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2003, S. 272. 38 Vgl. H. Schlehofer, Juristische Methodologie und Methodik der Fallbearbeitung, JuS 1992, 572 (575); Rüthers (Fn. 18), Rdnr. 708, 812. 39 Vgl. hierzu umfassend A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2006, S. 148 ff.

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timiert sein müssen. Nun kann man sich zwar fragen, ob die demokratische Legitimation der dritten Gewalt nicht gewisse Defizite aufweist. Ihre personelle Legitimation erfahren die Richter durch die Ernennung bzw. durch einen Wahlakt, der allerdings nicht vom Volk, sondern von einem besonderen Wahlgremium, dem Richterwahlausschuss, vorgenommen wird. Der zweite Legitimationsstrang, die sachlich-inhaltliche Legitimation, ist noch deutlich schwächer ausgeprägt: so unterliegt die Justiz allein dem Grundsatz der Gesetzesbindung, eine zusätzliche Steuerung etwa durch übergeordnete Aufsichts- oder gar Weisungsinstanzen kommt hingegen wegen der verfassungsrechtlich garantierten persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit der Richterschaft nicht in Betracht. Es kann daher nicht verwundern, wenn die Legitimationsbasis des Richters zuweilen als „dünn, um nicht zu sagen: prekär“40 charakterisiert wird. Für den Streit zwischen subjektiver und objektiver Auslegungstheorie ist dieser Befund jedoch ohne größere Relevanz. In Art. 20 Abs. 2 GG wird nicht gefordert, dass etwaige Legitimationsdefizite einzelner Staatsgewalten durch Aufgabenverlagerungen zwischen den Staatsgewalten auszugleichen seien.41 Auf eine solche Aufgabenverschiebung würde es aber faktisch hinauslaufen, wenn man die Rechtsprechung auf das Auslegungsziel festlegen wollte, ausschließlich den gesetzgeberischen Willen zu erforschen. Nach welchen Kriterien die Gerichte die ihnen zugewiesene Aufgabe der Gesetzesauslegung vornehmen – ob sie sich also am „objektiven“ Aussagegehalt des jeweiligen Rechtssatzes orientieren oder ob sie stärker den gesetzgeberischen Willen in den Vordergrund rücken –, ist eine Frage, auf die das Demokratieprinzip keine Antwort bereithält. Eine Bevorzugung der subjektiven Theorie würde nämlich nicht – wie es ja durchaus wünschenswert wäre – zu einer Stärkung der Legitimation der Dritten Gewalt beitragen, vielmehr würde sie lediglich eine Verschiebung im Gewaltengefüge bewirken. Ob dies verfassungsrechtlich zulässig oder gar geboten ist, entscheidet sich jedoch nicht nach Maßgabe des Demokratieprinzips, sondern muss anhand anderer Verfassungsnormen beurteilt werden.

___________ 40 A. Voßkuhle / G. Sydow, Die demokratische Legitimation des Richters, JZ 2002, 673 (682). 41 Allgemein zu der Möglichkeit einer Kompensation von Legitimationsdefiziten vgl. M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 283 f.; W. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 366 f.; W. Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000, S. 481; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 2. Kapitel, Rdnr. 98; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24, Rdnr. 23; Sommermann (Fn. 13), Art. 20 Abs. 2, Rdnr. 170; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Demokratie), Rdnr. 117.

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3. Gewaltenteilung Damit ist die Frage aufgeworfen, ob sich eine Vorrangstellung der subjektiven Theorie möglicherweise aus dem Prinzip der Gewaltenteilung ableiten lässt.42 Auch dies wird man verneinen müssen. Es gibt im Grundgesetz eine ganze Reihe von Regelungen, die Konkretisierungen des Gewaltenteilungsgrundsatzes beinhalten. Doch weder diesen Einzelausprägungen noch der Grundsatzvorschrift in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG lassen sich Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage entnehmen, in welchem Maße der Richter bei der Auslegung von Rechtsnormen dem Willen des Normsetzers Beachtung zu zollen hat. Das Verhältnis zwischen gesetzgebender Gewalt und Rechtsprechung wird vor allem durch das ausdrücklich an zwei Stellen im Grundgesetz normierte Postulat der Gesetzesbindung geprägt. Diese Verfassungssätze geben jedoch – wie bereits gezeigt wurde – keine Auskunft über die von den Gerichten zu beachtenden Auslegungsziele. Auch der allgemeine Gewaltenteilungsgrundsatz verhält sich gegenüber dem Methodenproblem indifferent. Er gibt nicht vor, wie die Trennung und Beschränkung der Gewalten konkret ausgestaltet sein müssen.43 Der Verfassungsgeber hat sich bei der Formulierung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG vielmehr auf eine Erwähnung der einzelnen Staatsfunktionen beschränkt und die weitere Präzisierung des Gewaltengefüges auf speziellere Verfassungsnormen verlagert. Dem Grundsatz selbst verbleibt danach also in der Praxis kaum noch ein eigener Anwendungsbereich.44 Selbst wenn man aber sich dieser Sichtweise nicht anschließen will und etwa mit dem Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass jede Staatsgewalt zumindest über einen vor dem Zugriff der anderen Gewalten geschützten Aufgabenkernbereich verfügt,45 dann heißt dies keineswegs, dass zu diesem Kernbe___________ 42 Zur Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes für die Methodendiskussion siehe ausführlich A. Leisner, Objektive Gesetzesinterpretation – eine Gefahr für die Gewaltenteilung?, in: M. Demel u.a. (Hrsg.), Funktionen und Kontrolle der Gewalten, 2001, S. 33 ff.; vgl. außerdem Neuner (Fn. 13), S. 52 ff.; Hensche (Fn. 29), S. 401. 43 Hesse (Fn. 10), Rdnr. 477; vgl. auch F. E. Schnapp, Der Verwaltungsvorbehalt, VVDStRL 43 (1985), 172 (190); dens. (Fn. 13), Art. 20, Rdnr. 41; M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, S. 10; U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 27, Rdnr. 8; speziell zum Verhältnis zwischen Legislative und Judikative siehe auch R. Herzog, Gesetzgeber und Gerichte, in: Festschrift Simon, 1987, S. 103 (105). 44 Vgl. hierzu A. von Arnauld, Gewaltenteilung jenseits der Gewaltentrennung, ZParl 2001, 678 (686); ferner H. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rdnr. 70; M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 20, Rdnr. 93. 45 BVerfGE 9, 268 (279 f.); 34, 52 (59); 95, 1 (15 f.); 106, 51 (60); Ch. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 195 ff.; E.-W. Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 63; Th. Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, 1993, S. 126 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Hand-

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reich aus der Sicht der Parlamente auch die dauerhafte Interpretationshoheit über die von ihr erlassenen Rechtsnormen gezählt werden müsste. Im Gegenteil: Sofern es tatsächlich einen durch Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich der Legislative gibt, dann bestünde dieser allein in der Aufgabe der Rechtsetzung – und dies auch nur in Bezug auf die vom Vorbehalt des Parlamentsgesetzes erfassten Regelungsgegenstände.46 Auch der – angeblich ebenfalls dem Gewaltenteilungsprinzip zuzuordnende – Grundsatz „funktionsgerechter Organstruktur“ würde in diesem Zusammenhang nicht weiterhelfen: Es mag ja durchaus sinnvoll sein, dass staatliche Entscheidungen nach Möglichkeit von denjenigen Organen getroffen werden, die hierfür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die jeweils besten Voraussetzungen verfügen.47 Ob dies auch verfassungsrechtlich geboten ist, soll hier einmal dahingestellt bleiben. Die Methodenproblematik wird jedenfalls durch Berufung auf ein solches Postulat nicht gelöst, schließlich geht es nicht darum, welches Organ am besten zur Auslegung der Gesetze geeignet ist, sondern allein um das Auslegungsziel. Dies aber ist keine Frage der Organstruktur, sondern betrifft die Gewichtung der Staatsgewalten „Gesetzgebung“ und „Rechtsprechung“. Wie nun diese Gewichtung konkret vorzunehmen ist, wird freilich in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nicht gesagt.

4. Rechtssicherheit Am ehesten vermag unter den verfassungsrechtlichen Argumenten, die zugunsten der subjektiven Theorie angeführt werden, noch der Hinweis auf den Grundsatz der Rechtssicherheit zu überzeugen. Die Zielvorstellung der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns kann nur dann erreicht werden, wenn sich der Gesetzesadressat selbst eine zumindest ungefähre Vorstellung von dem machen kann, wie auslegungsbedürftige Gesetzesnormen zu interpretieren sind. Der historische Wille des Gesetzgebers, soweit er in den ___________ buch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 26, Rdnr. 56 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 44), Art. 20 (Rechtsstaat), Rdnr. 71; Jarass (Fn. 13), Art. 20, Rdnr. 24; kritisch hingegen u.a. R. A. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001, S. 283 f.; Ch. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 74 f.; R. Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 8, Rdnr. 32 ff. 46 Vgl. auch Kischel (Fn. 37), S. 272 f. 47 Vgl. BVerfGE 68, 1 (86); 95, 1 (15); 98, 218 (251 f.); Th. von Danwitz, Der Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur, Der Staat 35 (1996), 329 ff.; Di Fabio (Fn. 43), § 27, Rdnr. 10; F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 101, Rdnr. 48 f.

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Materialien zum Ausdruck gelangt, bietet hier weitaus verlässlichere Anhaltspunkte als der Verweis auf den „objektiven“ Sinngehalt einer Norm.48 Wer sich im Methodenstreit auf das Argument der größeren Rechtssicherheit beruft, muss freilich auch darlegen, wo genau er diesen Grundsatz im Verfassungstext verorten will. Oftmals wird in diesem Zusammenhang das Rechtsstaatsprinzip angeführt49 – insbesondere von denjenigen, die sich für ein „integrales Rechtsstaatsverständnis“50 aussprechen und das Rechtsstaatsprinzip gewissermaßen als einen „Schleusenbegriff“ verstehen, welcher „das Einströmen sich wandelnder staats- und verfassungstheoretischer Vorstellungen und damit auch ... verschiedenartige Konkretisierungen“ ermöglicht.51 Folgt man einem solchen Rechtsstaatsverständnis, dann fällt es sicherlich nicht schwer, ebenso 52 wie zahlreiche andere Teilelemente bzw. Unterprinzipien auch das Gebot der Rechtssicherheit aus dem Verfassungsgrundsatz abzuleiten. Zu Recht wird jedoch dieser Interpretationsansatz in neuerer Zeit zunehmend in Zweifel gezogen: In der Tat sollte die Missbrauchsgefahr nicht unterschätzt werden, die dem Rechtsstaatsprinzip droht, wenn es – so hat es treffend Philip Kunig formuliert – nicht mehr resistent „gegenüber beliebigem Einsatz und Abwägungsbrei“ ist, der von manch ergebnisorientiertem Rechtsanwender angerührt werden könnte.53 Der Verlust jeglicher Konturen hat zur Folge, dass das Prinzip entweder zur Leerformel denaturiert oder aber mit beliebigen Inhalten angereichert werden kann.54 Vorzugswürdig dürfte daher ein „summatives Rechtsstaatsverständnis“ sein, das in dem Rechtsstaatsprinzip lediglich eine Sammelbezeichnung für all diejenigen Einzelrechtsnormen erblickt, die als typische Ausprägungen von Rechtsstaatlichkeit (wie z.B. die Grundrechte, der Gewaltenteilungsgrundsatz oder der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes) in den Text der Verfassung ausdrücklich ___________ 48 Zum Teil wird dieses Argument auch unter dem Stichwort der „Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung“ erörtert; vgl. z.B. Looschelders / Roth (Fn. 16), S. 54 ff.; kritisch N. Rowe, Recht und sprachlicher Wandel. Entwicklung einer institutionellen Auslegungstheorie, 2003, S. 57, 63 f. 49 BVerfGE 3, 225 (237); 3, 248 (253); 7, 194 (196); 60, 253 (267); 111, 54 (82); siehe außerdem A. von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 670 ff.; Sachs (Fn. 44), Art. 20, Rdnr. 122 ff. 50 Zu diesem Begriff siehe E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 26, Rdnr. 7. 51 E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Festschrift Arndt, 1969, S. 53. 52 Vgl. die Auflistung bei K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 471 ff. 53 Ph. Kunig, Besprechung von Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, in: AöR 123 (1998), S. 486 (489). 54 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 22 II. 2., S. 778.

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aufgenommen worden sind.55 Der Grundsatz der Rechtssicherheit hat jedoch keine explizite Erwähnung gefunden. Man mag ihn in der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG mitgarantiert sehen,56 doch betrifft dies nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Anwendungsbereich des hier behandelten Theorienstreits und kann daher in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden. Auch wenn man die Rechtssicherheit als ein Teilelement des Gesetzesbindungspostulats auffassen würde,57 käme man der Lösung nicht näher. Die Sicherheit, die das Verfassungsrecht insoweit zu bieten vermag, würde schließlich nicht weiter reichen können als der von der Gesetzesbindung ohnehin erfasste „Gewährleistungsbereich“. Wie bereits dargelegt wurde, bietet aber der Grundsatz der Gesetzesbindung gerade keine schlüssige Rechtfertigung der subjektiven Theorie. Wer daher die Rechtssicherheit als Argument gegen einen objektiven Auslegungsansatz ins Feld führt, begibt sich leicht in die Gefahr eines Zirkelschlusses.

III. Konsequenzen Insgesamt lässt sich also festhalten: In welchem Maße und in welcher Ausprägung der Wille des Gesetzgebers bei der Gesetzesinterpretation Berücksichtigung finden muss, ist durch das Grundgesetz nicht determiniert. Diese alte rechtstheoretische Streitfrage ist nicht bereits aufgrund verfassungsrechtlicher Argument zugunsten der subjektiven Theorie entschieden. Für sie mögen zwar die eingangs angeführten methodologischen Überlegungen sprechen (s.o. unter I.), auch dürfte sie wohl am ehesten in der Lage sein, richterlichem Machtmissbrauch einen Riegel vorzuschieben. Wenn Juristen nämlich vorgeben, den objektiven Gehalt einer Norm zu erforschen, dann verschleiern sie damit oftmals lediglich, dass sie in Wahrheit ihr eigenes Gesetzesverständnis der Auslegung zugrunde legen und dieses dann als den Willen des Gesetzes ausgeben.58 Vom ___________ 55 F. E. Schnapp, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Verwaltungsverfahrensrecht, in: Festschrift Scupin, 1983, S. 899 (906); ders. (Fn. 13), Art. 20, Rdnr. 24; vgl. außerdem R. Bäumlin / H. Ridder, in: Alternativkommentar Grundgesetz, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1-3, III, Rn. 35 ff.; Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 63 ff.; K.-E. Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 342 f.; P. Unruh Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 471; R. Zippelius / Th. Würtenberger Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, S. 99; M. Kaltenborn, Streitvermeidung und Streitbeilegung im Verwaltungsrecht, 2007, S. 208 ff. 56 Siehe BVerfGE 75, 78 (104 f.); 101, 239 (257); Jarass (Fn. 13), Art. 14, Rdnr. 47, Art. 20, Rdnr. 74. 57 Vgl. M. Oldiges, Grundlagen eines Plangewährleistungsrechts, 1970, S. 203 ff.; hierzu und zu weiteren Ansätzen, das Prinzip der Rechtssicherheit im Grundgesetz zu verorten, von Arnauld (Fn. 49), S. 667 ff. 58 von Arnauld (Fn. 16), S. 469; vgl. auch E. Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozess: Studien zur juristischen Hermeneutik und zur

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rechtstheoretischen Standpunkt aus betrachtet, erscheint daher eine Auslegung vorzugswürdig, die zunächst die Wortlautgrenze beachtet und sich dann in einem zweiten Schritt (sofern der Wortlaut mehrdeutig ist) auf die Suche nach den Absichten der Normautoren begibt. Das Verfassungsrecht jedoch verlangt eine solche Vorgehensweise nicht – das Grundgesetz hält keine abschließende Antwort auf die Lösung des Methodenstreits bereit.

___________ Gesetzgebungslehre, 1977, S. 87 ff.; W. Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, AöR 119 (1994), 1 (20, Fn. 51).

Die rechtstheoretische Bedeutung des Juristendeutsch Ein Beitrag zur Hart-Dworkin-Debatte Von Ralf Poscher, Bochum

Wie kaum einem anderen Staatsrechtler ist dem Jubilar die Pflege der deutschen Sprache in juristischen Texten ein Anliegen. Wir verdanken ihm nicht nur regelmäßige Handreichungen zu ausgewählten Themen in juristischen Ausbildungszeitschriften, sondern auch eine juristische Stilkunde1. Ihr Anliegen ist, den schlimmsten Verirrungen des Juristendeutsch vorzubeugen, denen besonders jenseits der Zunft weithin mit Unverständnis in doppeltem Sinn begegnet wird. Das Juristendeutsch ist häufig Gegenstand der Karikatur oder auch der Selbstkarikatur wie etwa die Namen von Gesetzgebungswerken wie dem „Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz“2 oder dem „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“3 in jüngerer Zeit wieder belegt haben. Aufzuzeigen, dass der Hang zur Eigensprachlichkeit der Juristen trotz seiner Verirrungen tiefer liegende methodologische und theoretisch bedeutsame Ursachen hat, ist das Anliegen dieses Beitrags. Es soll gezeigt werden, dass die semantischen Besonderheiten des Juristendeutsch letztlich den methodischen Eigenstand des Rechts spiegeln. Die Betonung dieses Eigenstands soll ein neues Licht auf die „Hart-Dworkin-Debatte“ werfen, die die angelsächsische Rechtstheorie4 seit Jahrzehnten dominiert. Viele Laien verwundert an juristischen Texten, dass sie – anders als Diagnosen ihrer Ärzte oder Analysen von Börsenmaklern – kaum Fremdwörter enthalten, aber dennoch schwer verständlich sind. Was Nicht-Juristen bei der Lektüre juristischer Texte – seien es Gesetze oder Urteile – erfahren, entspricht einer wohl etablierten Erkenntnis der Linguistik. Verschiedene Disziplinen und Dis___________ 1

Stilfibel für Juristen, 2004. BGBl. 1991 I, S. 2174. 3 BGBl. 2007 I, S. 2. 4 H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961; R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977; H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961), Postscript, 2. Aufl. 1994; B. Leiter, Beyond the Hart/Dworkin Debate, American Journal of Jurisprudence 48 (2003), 17-51; R. Dworkin, Hart’s Postscript and the Character of Political, Oxford Journal of Legal Studies 24 (2004), 1. 2

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kursbereiche entwickeln ihre eigene Sprache und Terminologie. Selbst dann, wenn derselbe Ausdruck benutzt wird, kann er einen anderen Inhalt haben als in der Alltagssprache. Im Strafrecht kann ein Bierfilz mit einigen Bleistiftstrichen eine Urkunde sein,5 obwohl der allgemeine Sprachgebrauch sich gegen die Verwendung des Urkundenbegriffs für einen so profanen Gegenstand sträubt. In der juristischen Methodenlehre führen diese semantischen Verschiebungen dazu, dass der allgemeine Sprachgebrauch, der sog. Wortlaut, zwar ein wichtiges, aber eben nur ein Auslegungskriterium darstellt. Häufig nimmt die Entwicklung eines juristischen Begriffs ihren Ausgangspunkt bei einem ähnlichen Begriff der Alltagssprache und modifiziert ihn dann so, dass er den besonderen juristischen dogmatischen Anforderungen entspricht. Dies ist einer der Gründe, warum Nicht-Juristen Schwierigkeiten mit dem Juristendeutsch haben. Im Rahmen des juristischen Sprachgebrauchs erfolgen semantische Verschiebungen nicht nur im Verhältnis zur Alltagssprache, sondern auch im Verhältnis zu anderen Disziplinen. So kann sich ein juristischer Begriff etwa an Definitionen in anderen Disziplinen schärfen, in denen dieser Begriff bereits systematisch oder sogar wissenschaftlich entwickelt worden ist. Ordnet ein Verkehrsschild eine Geschwindigkeitsbegrenzung im Fall von Nebel an, kann sich die Entwicklung des juristischen Begriffs des Nebels u. U. auf eine meteorologische Definition beziehen, die Nebel durch ein Verhältnis von Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Luftdruck beschreibt. Aber die juristische Konzeption des Nebels wird wohl auch noch einen Sichtfaktor einbeziehen müssen, da der Grund der besonderen Geschwindigkeitsbegrenzung in der Sichtbehinderung der Fahrer liegt. Selbst wenn Begriffe in anderen Disziplinen bereits wissenschaftlich entwickelt sind, kann das Recht sie nicht einfach übernehmen, sondern muss sie an seine spezifischen Zwecke und Bedürfnisse anpassen.

I. Konzepte und Konzeptionen Um das Verhältnis zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Begriffen zu verdeutlichen, soll die Unterscheidung zwischen Konzepten und Konzeptionen herangezogen werden. Die Unterscheidung wurde zunächst von W. B. Gallie beiläufig genutzt, um seine Idee der „essentiell umstrittenen Konzepte“ zu entwickeln.6 Für Gallie liegt die Besonderheit moralischer und politischer Konzep___________ 5

RG, DtStrZ 1916, 77; T. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 55. Aufl. 2008, § 267 Rn. 7; eine Fülle weiterer Beispiele bei U. Neumann, Juristische Fachsprache und Umgangssprache, in: G. Grewendorf (Hrsg.), Rechtskultur als Sprachkultur, 1992, S. 110-120. 6 W. B. Gallie, Essentially Contested Concepts, Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), 167; die Unterscheidung wurde aufgenommen von J. Rawls, A Theory

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te wie „das Gute“, „Gerechtigkeit“ oder „Demokratie“ darin, dass sie zwar über eine allgemein geteilte Kernbedeutung verfügen, dass aber die Kriterien ihrer Anwendung in grundsätzlich unauflöslicher Weise umstritten sind. Politische Philosophen können sich – so eines seiner Beispiele – darauf einigen, dass Demokratie etwas mit dem Anspruch auf politische Gleichberechtigung zu tun hat; trotz dieser Übereinstimmung sind sie aber uneinig darüber, welche Regierungen als demokratisch erachtet werden können.7 Ohne die Begriffe systematisch zu entwickeln, beschrieb Gallie8 diese Konstellation durch die Unterscheidung zwischen Konzepten und Konzeptionen: In der politischen Theorie gibt es in dieser Terminologie unterschiedliche Konzeptionen für das Konzept der Demokratie, die es zu einem essentiell umstrittenen machen. Obwohl Gallie die Unterscheidung zwischen Konzepten und Konzeptionen für Auseinandersetzungen innerhalb einer Disziplin – namentlich die praktische Philosophie – genutzt hat, lässt sie sich auch auf ähnliche Phänomene über Disziplingrenzen hinweg anwenden, ohne dass die in den Disziplinen unterschiedlich ausfallenden Konzeptionen die Konzepte essentiell umstritten werden lassen müssen. Auch profane Konzepte, die in unterschiedlichen Diskursbereichen genutzt werden, können über eine teilweise geteilte Bedeutung in dem Sinn verfügen, dass sie auf dieselben Gegenstände Anwendung finden, aber ihnen – manchmal auch nur geringfügig – verschiedene Konzeptionen zugrunde liegen. Noch genauer könnte der Sachverhalt durch die dreifache Unterscheidung zwischen einem Terminus, seiner Extension und seiner Intension charakterisiert werden, wobei die Extension den gegenständlichen Bedeutungsumfang und die Intension die merkmalsbezogene Bedeutungsumschreibung bezeichnet.9 Ein Terminus kann in verschiedenen Disziplinen über einen gemeinsamen Kern von Extensionen verfügen, während ihm leicht oder auch radikal unterschiedliche Intensionen zugrunde liegen. Wegen des gemeinsamen Kerns an Extensionen ist es gerechtfertigt, davon zu sprechen, dass der Terminus noch dasselbe Konzept im Sinn der zweifachen Unterscheidung zwischen Konzepten und Konzeptionen bezeichnet. Der Begriff „Nebel“ teilt den Kern seiner Extensionen im meteorologischen und rechtlichen Diskurs, während er von unterschiedlichen Intensionen getragen sein kann. Dies ist anders als im Fall von Homo___________ of Justice, (1971), 2. Aufl. 1999, S. 5, passim; D. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 7072; s. auch M. Ezcurdia, The Concept-Conception Distinction, Philosophical Issues 9 (1998), 187. 7 Gallie, Fn. 6, S. 184 f. 8 Gallie, Fn. 6, S. 176. 9 Zu der Unterscheidung in der logischen Semantik, K. Lorenz, Semantik, logische, in: J. Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 2004, S. 776; sie nimmt die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Sinn von G. Frege, Über Sinn und Bedeutung, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF 100 (1892), 25, auf.

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nymen, bei denen derselbe Terminus nicht nur über unterschiedliche Intensionen verfügt, sondern auch keine Extension in den verschiedenen Anwendungsfeldern teilt.10 Der Terminus „Bank“ hat im Kontext der Rede über ein Geldhaus und bei der Beschreibung einer Sitzgelegenheit weder eine gemeinsame Intension noch eine geteilte Extension. Im Folgenden soll die Unterscheidung zwischen Konzepten und Konzeptionen in diesem Sinn verwandt werden. Von geteilten Konzepten soll die Rede sein, wenn ein Terminus in verschiedenen Diskursen verwandt wird, in denen er einen Kern von Extensionen teilt, aber u. U. über verschiedene Intensionen verfügt. Letzteres sei durch die Rede von verschiedenen Konzeptionen bezeichnet.

II. Geteilte Konzepte Das Recht benutzt regelmäßig Konzepte, die in alltäglichen oder technischen Kontexten verwendet werden, und entwickelt Konzeptionen, die von ihrer Bedeutung im Alltags- oder technischen Sprachgebrauch abweichen. Es kommt sogar vor, dass innerhalb des Rechts verschiedene Konzeptionen für ein Konzept entwickelt werden. So wird der Begriff des Menschen im Strafrecht anders definiert als im Privatrecht. Im Strafrecht beginnt die Existenz eines menschlichen Individuums erst zu einem bestimmten Zeitpunkt während der Geburt,11 während im Zivilrecht bereits ab einem bestimmten Zeitpunkt nach der Empfängnis von einem menschlichen Individuum ausgegangen wird12. Beide Konzeptionen stützen sich u. a. auf medizinische und biologische Konzeptionen des menschlichen Lebens. Doch der Unterschied zwischen der strafrechtlichen und der privatrechtlichen Konzeption folgt nicht daraus, dass das Strafrecht und das Privatrecht unterschiedlichen medizinischen oder biologischen Konzeptionen folgen. Vielmehr erklärt sich der Unterschied aus den verschiedenen systematischen Anforderungen der einschlägigen straf- und zivilrechtlichen Regelungen. Würde das Strafrecht die zivilrechtliche Konzeption übernehmen, würden die strafrechtlichen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch13 redundant.

___________ 10

Vgl. G. Pethö, What is Polysemy?, in: E. T. Németh/K. Bibok (Hrsg.), Pragmatics and the Flexibility of Word Meaning, 2001, S. 178/181 f. 11 BGHSt 10, 291/293; 13, 21/24; 31, 348/352; A. Eser, in: A. Schönke/H. Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 27. Aufl. 2006, Vorbemerkungen zu den §§ 211 ff. Rn. 13; K. Kühl, in: K. Lackner/ders. (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 26. Aufl. 2007, Vorbemerkung § 211 Rn. 3. 12 BGH, NJW 1972, 1126; H. G. Bamberger, in: ders./H. Roth (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, § 1 Rn. 13; J. Ellenberger/H. Heinrichs‚ in: O. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl. 2008, § 1 Rn. 7. 13 §§ 218-219b StGB.

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Dies bedeutet nicht, dass das Strafrecht und das Zivilrecht nicht auch auf medizinisches und biologisches Wissen im Hinblick auf die Empfängnis, die Entwicklung des Embryos und den Geburtsprozess zurückgriffen, aber sie nutzen diese Informationen lediglich, um sie bei der Ausarbeitung verschiedener rechtlicher Konzeptionen einzubeziehen. Obwohl das Recht dasselbe Konzept benutzt wie der medizinische und der biologische Diskurs und obwohl medizinisches und biologisches Wissen mit in die rechtlichen Konzeptionen einfließt, sind die rechtlichen Konzeptionen des Menschen eine dem Recht eigene. Sie orientiert sich an den spezifischen dogmatischen Anforderungen und Methoden – wie in dem Beispiel des strafrechtlichen Begriffs an der systematischen Analyse der einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs. Dies bedeutet nicht, dass das Recht die Konzeptionen anderer Disziplinen nicht in Rechnung stellt. Konzeptionen zu Schlüsselbegriffen fungieren in den einzelnen Wissensgebieten als Wissensspeicher, die das Recht für seine Zwecke nicht unbeachtet lässt. Indem die wissenschaftlich entwickelten Konzeptionen anderer Disziplinen herangezogen werden, sorgt das Recht auch dafür, dass es mit seinen Konzeptionen jedenfalls nicht unreflektiert hinter dem Wissensstand der Gesellschaft zurückfällt. Es wird etwa versuchen, seine Konzeptionen des Menschen jedenfalls so auszurichten, dass sie nicht dem in der Gesellschaft anerkannten biologischen Wissensstand widersprechen. Das Recht berücksichtigt Konzeptionen anderer Disziplinen mithin nicht nur aus informatorischen, sondern auch aus funktionalen Gründen. Doch diese funktionalen Gesichtspunkte determinieren nicht die Ausformung einer einzelnen Konzeption, sondern gelten nur für das generelle Verhältnis des Rechts zum Wissensstand der Gesellschaft und sind gradualistischer Natur. Als funktionale Anforderungen können sie zudem nur empirische Wirkungsbedingungen des Rechts beeinflussen, nicht aber seine normative Geltung.

III. Die Midas-Qualität des Rechts Dieses Verhältnis von rechtlichen Konzeptionen zu denen geteilter Konzepte in anderen Diskursen ist ubiquitär. Die spezifisch dogmatischen Anforderungen an die Entwicklung rechtlicher Konzeptionen führen dazu, dass das Recht Konzeptionen anderer Anwendungsbereiche des Konzepts verändert. Aus einer linguistischen Perspektive entspricht dem, dass Polysemie oder zumindest Bedeutungsverschiebung die Regel ist.14 Polysemie und Bedeutungsverschiebungen ___________ 14 Was als ‚Polysemie‘ betrachtet wird, hängt davon ab, wie stark sich zwei Bedeutungen unterscheiden müssen, um als eigenständig und nicht nur als Varianten angesehen zu werden. Die Grenze wird von verschiedenen linguistischen Ansätzen unterschiedlich gezogen, siehe Pethö, Fn. 10, S. 178. Polysemie soll im Folgenden in einem

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sind zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass zu Konzepten in verschiedenen Fachdiskursen spezifische Konzeptionen entwickelt werden, die deren Bedeutung spezifizieren und modifizieren. Eben solche Polysemiesierungen ergeben sich auch, wenn Konzepte im Recht aufgegriffen und zu spezifisch rechtlichen Konzeptionen ausgearbeitet werden. Aus sprachphilosophischer Perspektive entspricht das Phänomen pragmatischen Sprachtheorien, die entscheidend auf den Gebrauch von Termini abstellen.15 Aus der Perspektive solcher Theorien ist es nicht überraschend, dass ein bestimmtes Wort innerhalb verschiedener Bereiche der Praxis verwandte, aber doch verschiedene Bedeutungen erhält. Verschiedene Formen der Praxis generieren verschiedene Bedeutungen. Die Anforderungen der einzelnen Praxisbereiche bestimmen die Bedeutung der Worte, und diese Anforderungen sind im Recht andere als in der Medizin oder der Biologie. Aber selbst wenn die Entwicklung einer rechtlichen Konzeption zu derselben Konzeption wie in einem anderen Diskurs führen würde, beraubte dies die rechtliche Konzeption nicht ihrer rechtlichen Eigenheit. Sie wäre in dem Sinn spezifisch rechtlich, dass sie nur in das Recht übernommen werden konnte, weil sie mit den spezifisch rechtlichen Anforderungen übereinstimmt, nicht allein deshalb, weil sie in der anderen Disziplin überzeugt. Dass dies auch die Bedingungen, unter denen ihre Verwendung steht, in rechtsspezifischer Weise beeinflusst, zeigte sich etwa bei einer Änderung von Rechtsvorschriften. Wenn es zum Schutz des Lebens nur Vorschriften über Mord und Totschlag gegeben hätte, hätte die strafrechtliche Konzeption des menschlichen Lebens sich einer bestimmten medizinischen Definition, die bereits den Embryo mit einbezieht, anschließen können, um auch das ungeborene Leben zu schützen. In diesem Fall würde die Einführung von besonderen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch notwendig die strafrechtliche Konzeption beeinflussen, während dies die medizinische oder biologische Konzeption nicht berühren müsste. Das Recht ist wie König Midas in der antiken Legende.16 König Midas hatte sich Silenos, dem Ziehvater und Schulmeister Dionysos, angenommen, als er ___________ so großzügigen Sinn verwendet werden, dass der Begriff auch Varianten aufgrund von Spezialisierung umfasst. 15 Eine kurze Darstellung von Gebrauchstheorien findet sich bei W. G. Lycan, Philosophy of Language – A contemporary introduction, 2000, S. 88; eine aktuelle Ausarbeitung bei P. Horwich, Meaning, 1998. 16 P. Ovidius Naso, Metamorphosen, übersetzt v. M. v. Albrecht, 1994, S. 568-573; R. v. Ranke-Graves, Griechische Mythologie, 12. Aufl. 1999, S. 255-258. Die MidasLegende wurde bereits von Hans Kelsen herangezogen, nämlich in H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 44, als Metapher für die Identität von Staat und Recht und in H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 282, als Bild für die Eigenschaft des Rechts, alles in Recht zu verwandeln, was es berührt. Kelsen zielt dabei aber auf die Inkorporation außerrechtlicher Standards im Wege legislativer Verweisungen, ebd. S. 238, nicht hingegen auf die Rechtsanwendung.

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sich im betrunkenen Zustand verlaufen hatte. Midas bewirtete Silenos für zehn Tage. Am elften Tag brachte er ihn zu Dionysos zurück. In Dankbarkeit gewährte Dionysos König Midas die Erfüllung eines Wunsches. Midas wünschte sich, dass alles, was er berührte, zu Gold werde. Und so geschah es: Alles, was Midas in die Hand nahm, verwandelte sich in Gold. Wie alles, was Midas berührte, sich in Gold verwandelte, verwandeln sich alle Konzepte, die in das Recht aufgenommen werden, in rechtliche in dem Sinn, dass im Rahmen des Rechts eine spezifisch rechtliche Konzeption für sie entwickelt wird. Das Recht muss zu den in ihm verwandten Begriffen Konzeptionen entwickeln, die seine spezifischen Methoden, dogmatischen Standards und institutionellen Rahmenbedingungen berücksichtigen.

IV. Rechtliche und moralische Konzeptionen Die Rechtstheorie hat sich wenig um das Verhältnis von rechtlichen und meteorologischen, biologischen oder medizinischen Konzepten gekümmert. Die Ausdifferenzierung von Konzeptionen zu geteilten Konzepten vollzieht sich weitgehend unbeobachtet und provoziert keine theoretischen Debatten.17 Zu dieser theoretischen Unauffälligkeit des Phänomens gibt es jedoch eine Ausnahme: das Verhältnis von rechtlichen und moralischen Konzeptionen. Die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral ist nicht nur so alt wie die Rechtsphilosophie selbst, sondern steht seit den 60er Jahren in der Debatte um den Positivismus auch wieder im Zentrum der angelsächsischen Rechtstheorie. Aber die beschriebenen allgemeinen Bedingungen, unter denen die Verwendung gemeinsamer Konzepte stehen, gelten für das Verhältnis von Recht und Moral ebenso wie für das Verhältnis von Recht und Meteorologie, Recht und Medizin, Recht und Biologie etc. Der Unterschied besteht darin, dass sehr zentrale Konzepte des Rechts wie Gleichheit, Freiheit, Würde, um nur einige zu nennen, ebenfalls sehr zentrale Konzepte in der Morallehre sind. Die beiderseitige Zentralität lässt den beschriebenen Polysemiesierungseffekt jedoch unberührt. Auch moralische Konzepte werden zu spezifisch rechtlichen Konzeptionen ausgestaltet, wenn sie in das Recht eingebracht werden. Eine vergleichbare Beobachtung lässt sich bereits bei Hermann Kantorowicz finden. In seiner Arbeit über den Begriff des Rechts verteidigt er die Unterscheidung zwischen Recht und Moral gegen das Argument, dass viele rechtli___________ 17 Zu einer pittoresken Ausnahme D. Graham Burnett, Trying Leviathan, 2007, der einen Aufsehen erregenden Prozess um die rechtliche Qualifikation von Walen als Fische schildert, in dem Anfang des 19 Jh. der Versuch der aufstrebenden Naturwissenschaften zurückgewiesen wird, Deutungshoheit über juristische Klassifikationen zu gewinnen.

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che Verbote lediglich moralische reproduzierten. Eines seiner Gegenargumente bezieht sich auch auf die Ubiquität des Phänomens, dass das Recht Regeln mit anderen Disziplinen teilt. „Wäre dem so, dann würden selbst die Regeln der Multiplikation Rechtsregeln sein, sofern sie z. B. in einem Steuergesetz niedergelegt wären.“18 Sein Hauptargument für die Unterscheidung zwischen Recht und Moral beruht auf der kantianischen Unterscheidung zwischen intern und extern bindenden Normen. Während die Normen der Moral auf die internen Einstellungen zielten, würde sich das Recht nur auf das externe Verhalten beziehen. Daraus folgert er, dass moralische Verpflichtungen, die in rechtliche überführt werden, ihren Charakter im Zuge der Transformation veränderten. „Hier ist eine ethisch-religiöse Regel in eine Rechtsregel verwandelt worden; aber der Preis dieser Umwandlung war der Verlust ihres Charakteristikums, daß sie dem Menschen ein inneres Verhalten abverlangte.“19 Obwohl die Unterscheidung zwischen interner und externer Bindung im Vordergrund steht, ist sein Argument zur Transformation von moralischen in rechtliche Regeln demjenigen zu den geteilten Konzepten vergleichbar. Moralische Regeln können nur um den Preis einer Veränderung in rechtliche überführt werden. Noch näher an der linguistischen Beobachtung ist diejenige Max Webers zum Verhältnis zwischen Begriffen in der Rechtswissenschaft und der Soziologie, wobei Weber das Phänomen aus der Perspektive der Soziologie betrachtet. In seinen methodischen Schriften ging es Max Weber darum, die Eigenständigkeit der Sozialwissenschaften im Verhältnis zu den Naturwissenschaften, aber auch im Verhältnis zur Rechtswissenschaft zu etablieren. Auf der Ebene der Begriffe war er mit dem Phänomen konfrontiert, dass viele Begriffe, die in den Sozialwissenschaften verwandt wurden, aus dem Recht übernommen worden waren. In seiner Kritik Stammlers hebt er hervor, dass die Verwendung gemeinsamer Begriffe einer der Faktoren sei, der zu methodologischen Verwirrungen führt, die der Wahrnehmung der Eigenständigkeit der Sozialwissenschaften gegenüber den Rechtswissenschaften im Wege stünde. „Demgegenüber steht nun die Tatsache, daß … wichtige Zweige der empirischen Disziplinen vom Kulturleben: die politische und ökonomische Betrachtung insbesondere, sich der juristischen Begriffe nicht nur, wie schon hervorgehoben, terminologisch, sondern auch sozusagen als einer Vorformung ihres eigenen Materials bedienen. Zunächst ist es die hohe Entwicklung des juristischen Denkens, welche diese Entlehnung zum Zweck einer provisorischen Ordnung der uns umgebenden Mannigfaltigkeit faktischer Beziehungen bedingt. Aber eben deshalb ist es notwendig, stets darüber im Klaren zu bleiben, dass diese juristische Vorformung alsbald verlassen wird, sobald die politische oder die ökonomische ___________ 18 H. Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, (1939), übersetzt aus dem Englischen von W. Goldschmidt und G. Kastendieck, 1963, S. 58 f. 19 Kantorowicz, Fn. 18, S. 59.

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Betrachtung nun ihre ‚Gesichtspunkte an den Stoff bringt und dadurch die juristischen Begriffe in Faktizitäten mit einem notwendig anderen Sinn umdeutet.“20 Aus logischen Gründen impliziert die Bedeutungsverschiebung, die Weber auf der Seite der Sozialwissenschaften beobachtet, einen Bedeutungsunterschied auf der Seite des Rechts; aus Gründen der Analogie impliziert seine Beobachtung ein ähnliches Verhältnis zwischen Recht und Moral. Rechtliche Konzeptionen unterscheiden sich von denen der Sozialwissenschaften oder der Moral selbst dann, wenn sie dasselbe Konzept ausgestalten, und selbst dann, wenn sie sich sozialwissenschaftlicher oder moralischer Konzeptionen im Rahmen einer „Vorformung“ bedienen. Jüngst hat Danny Priel ein ähnliches Argument in die Debatte über den inklusiven oder exklusiven Positivismus eingebracht. Auch für Priel gilt, „that in all instances in which moral words are mentioned in the law, the reference is to a legal concept, which often bears a close relationship to the moral concept but is logically independent of it.“21 Er stützt sein Argument jedoch auf eine metaethische und epistemologische Überlegung. Der Debatte um den inklusiven oder exklusiven Positivismus läge die gemeinsame Annahme zugrunde, dass es jedenfalls vorstellbar sei, dass das Recht verlange, dass Konzepte, die es mit der Moral teilt, im Lichte des besten moralischen Verständnisses22 dieser Konzepte angewandt werden sollten.23 Nach Priel hat die Geschichte der Moralphilosophie aber gezeigt, dass es entweder keine besten moralischen Konzeptionen 24 gibt oder wir sie jedenfalls nicht erkennen können. Wenn es aber – so Priel – kein bestes moralisches Verständnis oder jedenfalls kein Wissen um ein bestes moralisches Verständnis gibt, dann könne das rechtliche Verständnis nicht dasselbe wie das beste moralische sein. Es müsse vielmehr dem Recht eigen sein.25 Doch anders als Priel annimmt, beruht die Eigenständigkeit rechtlicher Konzeptionen von Konzepten, die das Recht mit der Moral teilt, nicht auf metaethischen oder epistemologischen Gründen. Nicht der Mangel an objektiven moralischen Wahrheiten oder deren epistemologischer Status ist für die Entwicklung eigenständiger rechtlicher Konzeptionen verantwortlich, sondern die juristischen Methoden sowie die dogmatischen und institutionellen Anforderungen des Rechts. ___________ 20

M. Weber, R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, 1985, in: J. Winckelmann (Hrsg.), Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 6. Aufl. 1985, S. 291/353. 21 D. Priel, Farewell to the Exclusive – Inclusive Debate, Oxford Journal of Legal Studies 25 (2005), 675/682. 22 J. Raz, Dworkin: A New Link in the Chain, California Law Review 74 (1986), 1110. 23 Priel, Fn. 21, S. 681. 24 Priel, Fn. 21, ebd. 25 Priel, Fn. 21, S. 683.

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Bei der Entwicklung rechtlicher Konzeptionen von Konzepten wie Freiheit, Gleichheit, Würde etc. kann das Recht zwar Konzeptionen, die in der Moraloder politischen Philosophie entwickelt wurden, im Sinn von Webers „Vorformung“ heranziehen, wie es im Rahmen einer „Vorformung“ auch meteorologische, medizinische oder biologische Erkenntnisse heranziehen kann. Aber welche Einsichten sich auch immer mit der Erwägung der Konzeptionen anderer Disziplinen verbinden, müssen diese Erkenntnisse in einer spezifisch rechtlichen Konzeption verarbeitet werden, die die spezifisch rechtlichen Traditionen, Methoden, Argumentationsformen und institutionellen Rahmenbedingungen des Rechts berücksichtigt.26 Wie auch immer die moralische Antwort auf die Frage nach der Zulässigkeit der Folter im sog. Ticking-bomb-Szenario ausfallen mag, muss die rechtliche Konzeption des Menschenwürdeschutzes die besonderen institutionellen Rahmenbedingungen in Rechnung stellen, die mit der Legalisierung der Folter im Rahmen der Polizei- und Sicherheitsdienste verbunden sind. Es muss etwa in Rechnung stellen, dass es empirische Anhaltspunkte dafür gibt, dass die rechtliche Ermächtigung zum Einsatz von Folter durch Polizei- und Sicherheitskräfte zu deren inflationärem Einsatz führt,27 was u. a. auf der rechtlichen Behandlung von Erlaubnistatbestandsirrtümern und Einschätzungsprärogativen beruht. Es gibt mithin Gründe für ein absolutes rechtliches Verbot der Folter, die dem Recht eigen sind. Sie müssen bei der rechtlichen Ausgestaltung des Menschenwürdekonzepts berücksichtigt werden und können zu einer unterschiedlichen Ausgestaltung des Menschenwürdekonzepts in Recht und Moral führen.28 Solche Beispiele lassen sich leicht vermehren: Für die Frage, ob die Todesstrafe eine Menschenwürdeverletzung bedeutet, muss sich die rechtliche Konzeption der Menschenwürde damit auseinandersetzen, ob die Todesstrafe in einem besonderen Verfassungsartikel abgeschafft oder in bestimmten Fällen sogar vorgesehen29 ist. Für die moralische Frage sind diese Tatsachen ohne Belang. Nicht nur in Rechtssystemen, die über ein Case-Law-System verfügen, ___________ 26 Ein etwas detailierterer Versuch, die Besonderheiten des rechtlichen Bezugssystems zu erfassen, bei R. Poscher, Rechtsprechung und Verfassungsrecht, in: W. Erbguth/J. Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen: Europarecht und nationales Recht, 2005, S. 127/132-145; zur Bedeutung im Rahmen der Gewaltenteilung R. Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Vosskuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 8 Rn. 51-64. 27 Zu den Erfahrungen in Israel siehe A. Imseis, „Moderate“ Torture On Trial, Berkeley Journal of International Law 19 (2001), 328/339-349. 28 R. Poscher, Menschenwürde als Tabu, in: G. Beestermöller/H. Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter, 2006, S. 75; R. Poscher, Menschenwürde im Staatsnotstand, in: P. Bahr/M. Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006, S. 215. 29 Vgl. etwa Art. 28 Abs. 1 S. 2 Hess.Verf.

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müssen für die rechtliche Ausgestaltung des Freiheitsbegriffs die in der Tradition des Rechtssystems ergangenen Entscheidungen, die historische Entwicklung der Freiheitsgarantien, der genetische Kontext der Verfassung etc. berücksichtigt werden, um eine spezifisch rechtliche Konzeption der Freiheit zu entwickeln. Dabei kann auch die Diskussion um den positiven und negativen Freiheitsbegriff in der politischen Philosophie herangezogen werden,30 aber die Entwicklung eines rechtlichen Freiheitsbegriffs kann nicht auf die Philosophie übertragen werden31. Seine tiefere Ursache hat die Eigenständigkeit juristischer Konzeptionen in der besonderen institutionellen, methodischen und dogmatischen Praxis des Rechts. Sie gibt die Parameter vor, die bei der Entwicklung juristischer Konzeptionen zu beachten sind. Diese Parameter unterscheiden sich von denen anderer Disziplinen wie der Meteorologie, aber auch eben von denen der Moral und der Politik. Das Recht kann keine Konzeptionen verwenden, die nicht auf seine spezifischen Parameter abgestimmt sind. Das Argument für die Eigenständigkeit rechtlicher Konzeptionen ist also kein linguistisches. Das Argument bezieht sich vielmehr auf eine grundlegende Qualität der institutionellen, methodischen und dogmatischen Praxis. Polysemie und Bedeutungsverschiebung sind nur die Konsequenz aus deren Eigenständigkeit. Der Vergleich mit anderen Disziplinen, hinsichtlich derer die Einsicht, dass das Recht seine eigenen Konzeptionen zu entwickeln hat, wenig spektakulär erscheint, verdeutlicht nur, dass dies auch für das Verhältnis von Recht und Moral gelten muss, hinsichtlich dessen diese wenig spektakuläre Erkenntnis aufgrund der inhaltlichen Bedeutung und Zentralität der aufgeworfenen Fragen häufig übersehen wird. Die Besonderheit des Verhältnisses von Recht und Moral ist nicht struktureller Natur, sondern quantitativ und qualitativ: Quantitativ besteht die Besonderheit darin, dass viele rechtliche Fragen – wenn auch nicht alle – ein Äquivalent in der Moral oder der politischen Philosophie haben. In qualitativer Hinsicht sticht das Verhältnis zur Moral zum einen dadurch hervor, dass beide Disziplinen einige ihrer bedeutendsten Konzepte teilen, und nicht nur profane wie etwa im Fall der Meteorologie; zum anderen dadurch, dass beide Disziplinen normativer Natur sind. Es gibt also gute Gründe dafür, dass das Recht sich mehr für die Moral oder auch die politische Theorie interessiert als für die Meteorologie. Aber dieses Interesse bleibt auch im Fall der Moral nur ein Interesse im Sinne Webers „Vorformung“. Dass das Recht Konzepte mit anderen Disziplinen teilt, stellt es nicht von der Aufgabe frei, seine eigenen Konzeptionen zu entwickeln.

___________ 30 31

I. Berlin, Two concepts of liberty, 1959. Vgl. R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 109-143.

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V. Konsequenzen für die Rechtsphilosophie Worin liegt nun die rechtstheoretische Bedeutung der oberflächlich wenig spektakulären, aber auf einer tieferen Ebene grundlegenden Einsicht, dass das Recht seine eigenen Konzeptionen zu Konzepten entwickeln muss, die es mit anderen Disziplinen teilt? Priel nutzt die Einsicht in die spezifisch rechtliche Qualität rechtlicher Konzeptionen, um die Grundlagen der Debatte um den inklusiven oder exklusiven Positivismus innerhalb des positivistischen Lagers in Frage zu stellen.32 Obwohl sein metaethisches Argument für die Eigenständigkeit juristischer Konzeptionen den wichtigeren Punkt verfehlt, dass die institutionellen Rahmenbedingungen, die rechtlichen Methoden sowie die dogmatischen Anforderungen an das Recht für dessen Midas-Qualität verantwortlich sind, ist seine Schlussfolgerung zutreffend. Sowohl inklusiver als auch exklusiver Positivismus teilen die Annahme, dass moralische Konzepte für das Recht von Bedeutung sind. Sie unterscheiden sich nur in der Antwort auf die Frage, ob moralische Konzepte in das Recht integriert werden können. Inklusive Positivisten glauben, dass das Recht moralische Konzepte integriert, indem es auf sie in Rechtsetzungsakten explizit oder auch implizit Bezug nimmt. Inklusive Positivisten wollen so die für den Positivismus zentrale Ableitungsbeziehung zu einem „positiven“ Rechtsetzungsakt wahren.33 Exklusive Positivisten glauben hingegen nicht, dass moralische Konzepte Teil des Rechts werden können. Die prominenteste Ausformung dieser Position durch Joseph Raz beruft sich auf das Argument der Autorität.34 Indem das Recht sich auf moralische Konzepte beziehe, begebe es sich zu Gunsten der Moral seiner Autorität, verstanden als unabhängiger Grund für eine Handlung. Denn wenn das Recht sich auf moralische Konzepte beziehe, sei es nicht mehr das Recht, sondern die Moral, die den Grund für die Handlung bereitstelle und damit Autorität ausübe. Weil aber Autorität ein wesentliches Element des Rechts sei, könnten moralische Konzepte nicht in das Recht aufgenommen werden, sondern nur an die Stelle der Autorität des Rechts treten. Wenn aber die Konzepte, die das Recht mit der Moral teilt, nicht mit ihren moralischen Konzeptionen, sondern mit eigenständigen rechtlichen Konzeptio___________ 32

Priel, Fn. 21, S. 683. Umfassend K. E. Himma, Inclusive Legal Positivism, in: J. Coleman/S. Shapiro (Hrsg.), Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2001, S. 125. 34 J. Raz, Legal Positivism and the Sources of Law, in: ders., The Authority of Law: Essays on Law and Morality, 1979, S. 37; ders., Authority, Law and Morality, a.a.O. S. 210; einen Überblick der exklusiven Position bietet A. Marmor, Exclusive Legal Positivism, in: J. Coleman/S. Shapiro (Hrsg.), Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2001, S. 104. 33

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nen in das Recht eingeführt werden, kollabiert die Debatte um Inklusivität oder Exklusivität.35 Beide Seiten der Debatte gehen von einer falschen Annahme aus. Auf der einen Seite werden keine moralischen Konzeptionen in das Recht integriert, wie es die inklusiven Positivisten glauben machen wollen. Das Recht verwendet lediglich Konzepte, die es mit der Moral teilt. Es mag auch noch weitergehend moralische Konzeptionen dieser Konzepte im Sinn einer „Vorformung“ Webers heranziehen, doch dies nur um spezifisch rechtliche Konzeptionen zu entwickeln. Nur diese rechtlichen Konzeptionen gehen dann in das Recht ein. Auf der anderen Seite übergibt das Recht seine Autorität nicht an die Moral, weil die unabhängigen Gründe, die es für Handlungen liefert, nicht auf moralischen, sondern auf spezifisch rechtlichen Konzeptionen beruhen. Aber die Einsicht in den Eigenstand rechtlicher Konzeptionen hat Konsequenzen, die über das positivistische Lager hinausreichen. Die gesamte HartDworkin-Debatte, die die anglo-amerikanische Rechtstheorie seit nunmehr fast 40 Jahren in Beschlag genommen hat,36 beruht wesentlich auf der Kritik Dworkins an Hart. Die Kritik stützt sich wesentlich auf die Idee, dass das Recht in schwierigen Fällen, sog. Hard Cases, auf moralische Prinzipien, wie etwa Freiheit, Gleichheit, Würde etc., zurückgreifen muss und dass dies auch in gerichtlichen Entscheidungen beobachtet werden kann.37 Dworkins Argument forderte zwei zentrale Thesen des Positivismus heraus: Zum einen etablierte das Argument eine Beziehung zwischen Recht und Moral, die die positivistische Trennungsthese in Frage stellt.38 Wenn das Recht in schwierigen Fällen auf moralische Prinzipien zurückgreifen muss, existiert eine notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral, die die Positivisten gerade ablehnen. Zum anderen forderte die Kritik das positivistische Modell der Rechtsanwendung heraus:39 Nach diesem Modell kommen Moral oder auch Politik ins Spiel, wenn die rechtlichen Materialien keine eindeutige Entscheidung eines Falles erlauben. In schwierigen Fällen wendeten Richter, Anwälte und Rechtsgelehrte kein Recht an, sondern träfen moralische oder politische Entscheidungen im Rahmen des ihnen durch die Unbestimmtheit des Rechts kompetentiell zugewiesenen Er___________ 35

Priel, Fn. 21, S. 677. Hart, Fn. 4, 1961; Dworkin, Fn. 4, 1977; Hart, Fn. 4, 1994, S. 238-276; Dworkin, Fn. 4, 2004, 1; der Gedanke, dass die Debatte sich erschöpft habe, ist weit verbreitet: J. Waldron, Legal and Political Philosophy, in: J. C. Coleman/S. Shapiro (Hrsg.), Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2001, S. 381: “flat and repetitive”; W. Twinning, Imagining Bentham: A Celebration, in: M. D. A. Freeman (Hrsg.), Current Legal Problems 1998, 1998: “trivial and almost entirely pointless”; B. Tamanaha, The Contemporary Relevance of Legal Positivism, Australian Journal of Legal Philosophy 32 (2007), 2/36 f. m.w.N.; s. auch Leiter, Fn. 4, S. 17. 37 Dworkin, Fn. 4, 1977, S. 22-31. 38 Ebd. 39 Hart, Fn. 4, 1994, S. 173-204. 36

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messens. In dem positivistischen Modell gibt es danach zwar einen Raum für Moral oder Politik im Rahmen der Rechtsanwendung, aber nur jenseits des Rechts, wenn die rechtlichen Gründe erschöpft sind und keine Entscheidung auf der Grundlage rechtlicher Gründe mehr getroffen werden kann. Dworkin wollte hingegen zeigen, dass dieses Modell verfehlt ist, weil Richter, Anwälte und Rechtsgelehrte ihre Debatten auch in schwierigen Fällen als rechtliche Debatten führen und verstehen.40 Nur um Dworkins Kritik und der von Dworkin in Bezug genommenen rechtlichen Praxis Rechnung zu tragen, entwickelte der Positivismus – und Hart selbst41 – die Variante des inklusiven Positivismus, nach der das Recht explizit oder implizit bestimmte moralische Standards in das Recht einbeziehen kann. Wenn aber das Recht Midas-Qualität besitzt, beruht die Debatte weitgehend auf einer geteilten falschen Annahme und fällt in sich zusammen, sobald diese Annahme aufgeben wird: der Annahme, dass das Recht moralische Konzeptionen in sich aufgreift. Recht und Moral teilen hingegen nur gemeinsame Konzepte, nicht aber gemeinsame Konzeptionen. Es ist die gerade Aufgabe des Rechts, oder genauer jedermanns, der am dogmatischen System des Rechts arbeitet – Richter, Anwälte und Rechtsgelehrte etc. –, spezifisch rechtliche Konzeptionen auszuformen und dabei die spezifisch rechtlichen Methoden, die Traditionen und institutionellen Rahmenbedingungen des Rechts in Rechnung zu stellen. Soweit in diesem Prozess moralische Konzeptionen herangezogen werden, führt dies weder dazu, dass diese moralischen Konzeptionen Rechtsqualität erhalten, noch dazu, dass Recht und Moral in eine strukturell besondere Relation treten. Das Recht zieht moralische Konzeptionen ebenso heran wie meteorologische, ohne dass dies jemals eine philosophisch intensive Debatte darüber ausgelöst hätte, dass das Recht notwendigerweise meteorologisch sei oder die Meteorologie inkorporiert habe. Wie in seinem Verhältnis zu den Naturwissenschaften ist das Verhältnis zur Moral nicht nur ein informatorisches, sondern auch ein funktionales. So wie sich das Recht aus funktionalen Gründen nicht beliebig weit von weithin akzeptierten naturwissenschaftlichen Wissensbeständen entfernen kann, ohne mit erschwerten Akzeptanz- und Wirkungsbedingungen rechnen zu müssen, so kann sich das Recht auch nicht beliebig weit von weithin akzeptierten moralischen Überzeugungen entfernen, ohne ähnliche Akzeptanzrisiken in Kauf nehmen zu müssen. Doch wie im Verhältnis zu den naturwissenschaftlichen Wissensbeständen determinieren diese funktionalen Gesichtspunkte nicht die Ausformung einer einzelnen Konzeption, sondern gelten nur für das generelle Verhältnis des Rechts zu den moralischen Überzeugungen der Gesellschaft, und wie in dem ___________ 40 Zu dem sog. Dissenz-Argument R. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 45 f., s. auch T. Endicott, Are there any Rules?, The Journal of Ethics 5 (2001), 199/209-211. 41 Hart, Fn. 4, 1994, S. 250-254.

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Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind sie lediglich gradualistischer Natur. Als funktionale betreffen sie auch im Verhältnis zu moralischen Überzeugungen nur die empirischen Wirkungsbedingungen, nicht aber die normative Geltung des Rechts. Die lose funktionale Beziehung etabliert keine notwendige normative Geltungsbeziehung zwischen Recht und Moral, die die positivistische Trennungsthese in Frage stellen könnte. Dworkin hatte seinen Überlegungen die reale Praxis der Gerichte zugrunde gelegt. In einigen theoretischen Übersteigerungen seines Arguments, in denen Positivisten die Belastbarkeit ihrer Gegenstrategien prüfen, wird hingegen mit fiktiven Rechtssystemen operiert. Prominent ist dabei eine fiktive Rechtsordnung, die nur aus einer Norm besteht: „Tue, was gerecht ist!“ 42 Doch selbst in diesem fiktiven Fall müsste ein entwickeltes Rechtssystem eine eigene Konzeption des Begriffs der Gerechtigkeit hervorbringen, der der Spezifik der rechtlichen Institutionen, der rechtlichen Traditionen, Präjudizien und Methoden Rechnung trägt. Historisch ist die Entwicklung des Rechts als eigenständige soziale Praxis ein gradueller Prozess. Dieser Prozess schließt die Entwicklung spezieller Institutionen, aber auch eines spezifisch dogmatischen Sinnsystems ein, die sich beide aus einer undifferenzierten religiösen, moralischen, politischen und ökonomischen Praxis herausbilden. In diesem Prozess sozialer Differenzierung erlangt das Recht nicht nur eine Autonomie seiner Institutionen, sondern auch eine Autonomie als Sinnsystem,43 an dem sich seine Institutionen orientieren.44 Jedenfalls in entwickelten Rechtssystemen, wie denen der westlichen Industrienationen, hat die Komplexität der rechtlichen Institutionen und des sinnstiftenden Materials in rechtlichen Dokumenten und Texten einen Grad erreicht, bei dem die Midas-Eigenschaft des Rechts ubiquitär wird. Auch wenn die Midas-Eigenschaft des Rechts in der langen historischen Perspektive des Prozesses sozialer Differenzierung kontingent wie dieser Differenzierungsprozess selbst ist, so ist sie doch eine charakteristische Eigenschaft entwickelter Rechtssysteme in funktional differenzierten Gesellschaften. Wenn das König-Midas-Bild des Rechts zutrifft, lassen sich zwei Schlussfolgerungen für die Hart-Dworkin-Debatte ziehen. Zum einen hat Dworkin zu Recht darauf hingewiesen, dass das Recht auf die Moral oder die politische Theorie zugreift, wenn es seine Konzeptionen entwickelt. Aber daraus folgt nicht, dass die Trennungsthese des Positivismus falsch ist. Selbst in schwierigen Fällen ist das Recht nicht notwendigerweise auf die Moral angewiesen. ___________ 42

Vgl. Tamanaha, Fn. 36, S. 31. Zu dem langsamen Prozess der Herausbildung eines eigenständigen Rechtsdenkens im antiken Rom, B. Frier, The Rise of the Roman Jurist, 1985, S. 184-196. 44 Zur Bedeutung des Rechts als dogmatischem Sinnsystem, M. Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: J. Winkelmann (Hrsg.), Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl. 1988, S. 427 (438 f.). 43

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Auch dort, wo dem Recht moralische Konzeptionen zur Seite stehen, muss es sie jedenfalls an die spezifischen Anforderungen des Rechts anpassen. Es gibt nur eine schwache Verbindung zwischen Recht und Moral in dem Sinn, dass das Recht im Prozess der Ausbildung der eigenen Konzeptionen moralische Konzeptionen heranziehen kann. Aber diese schwache Verbindung unterhält das Recht nicht nur mit der Moral, sondern auch mit vielen anderen Disziplinen, ohne dass dies die Trennung zwischen dem Recht und den anderen Disziplinen in Frage stellen würde. Zum anderen weist die Midas-Qualität des Rechts darauf hin, dass das positivistische Rechtsanwendungsmodell – dessen zentrale Annahmen Hart45 und Hans Kelsen46 teilen – verfehlt ist. Nach dem positivistischen Bild der Rechtsanwendung gibt es keine rechtliche Lösung in schwierigen Fällen. In schwierigen Fällen seien die nach der Rechtsordnung zuständigen Organe, zumeist die Gerichte, vielmehr dazu ermächtigt, eine Entscheidung nach nicht-rechtlichen Kriterien zu treffen.47 Haben sie in schwierigen Fällen über die Anwendung vager Begriffe, die das Recht mit der Moral oder der politischen Theorie teilt, zu entscheiden, sollen sie ermächtigt sein, nach ihren eigenen moralischen oder politischen Standards zu urteilen. Dieses Modell spaltet den Prozess der Rechtsanwendung in schwierigen Fällen in zwei Phasen auf. Zunächst in eine rechtliche Phase und dann in eine nicht-rechtliche Phase, in der die Rechtsanwender die Entscheidung nach moralischen oder politischen Standards treffen. Dieses zweistufige Bild der Rechtsanwendung ist jedoch verfehlt. Wenn Richter, Anwälte oder sonstige Rechtsanwender Theorien der praktischen Philosophie in Bezug nehmen, um rechtliche Konzeptionen geteilter Konzepte zu entwickeln, wechseln sie nicht die Pferde. Sie betreiben nicht Recht, bis zu dem Punkt, an dem der Fall schwierig wird, und treffen dann moralische oder politische Entscheidungen. Sie wechseln nicht mitten im Fall von der Rolle des Rechtsanwenders zur Rolle des Moralphilosophen oder politischen Theoretikers. Sie tun vielmehr das, was im Recht ganz allgemein geschieht. Das Recht ___________ 45

Hart, Fn. 4, 1994, S. 259, war sich des defizitären Charakters seiner Überlegungen zur Rechtsanwendung bewußt: “But I certainly wish to confess now that I said far too little in my book about the topic of adjudication and legal reasoning and, in particular, about arguments from what my critics call legal principles. I now agree that it is a defect of this book that principles are touched upon only in passing.” 46 H. Kelsen, Juristischer Formalismus und Reine Rechtslehre, JW 1929, 1723/1726; H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 2. Aufl. 1960, S. 242-247, 346-354; S. L. Paulson, Überlegungen zur Auslegung bei Hans Kelsen und deren Folgen für die Rechtserkenntnis, in: W. Hoppe u.a. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1992, S. 409. 47 Ein Versuch, gerade die positivistische Rechtsanwendungslehre zu reaktivieren, bei M. Jestaedt, Rechtsprechung und Rechtsetzung in: W. Erbguth/J. Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen: Europarecht und nationales Recht, 2005, S. 25/75-79; ders., Das mag in der Theorie richtig sein…, 2006, S. 43-85.

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zieht das Wissen anderer Disziplinen heran und passt es an seine spezifischen Bedürfnisse an. Ein erheblicher Teil der anspruchsvolleren dogmatischen Arbeit besteht gerade darin, diesen Transfer zu leisten. Diese Art des Transfers ist kein Phänomen, das sich auf das Verhältnis von Recht und Moral beschränkt, sondern ist ubiquitär im Verhältnis des Rechts zu anderen Wissensgebieten. Das Wissen, das das Recht bei der Entwicklung seiner Konzeptionen heranzieht, wird in diese eingebaut; sie verfügen dann aber über einen rechtsspezifischen Inhalt und entfalten ein eigenständiges Leben. Dworkin hat das positivistische Modell der Rechtsanwendung zu Recht kritisiert und zu Recht auf der spezifisch rechtlichen Qualität juristischer Auseinandersetzungen selbst in schwierigen Fällen bestanden. Nicht zu folgen ist ihm jedoch, soweit er daraus eine besondere, notwendige Beziehung zwischen Recht und Moral ableiten will, die die zentrale Trennungsthese des Positivismus in Frage stellen soll. Das Verhältnis von Recht und Moral ist grundsätzlich instrumentell. Ein solches instrumentelles Verhältnis unterhält das Recht auch mit vielen anderen Disziplinen, um seine eigenen Konzeptionen zu entwickeln. Die Orientierung an den spezifisch rechtlichen Institutionen, Methoden, dogmatischen Standards wird dabei immer zu spezifisch rechtlichen Konzeptionen führen. Wie im Fall von König Midas ist dies das Schicksal des Rechts.

Logische Bilder im Recht Von Klaus F. Röhl, Bochum Der Jubilar gehört zu der eher seltenen Spezies von Kollegen, die bereit sind, sich mit ihrem Nachbarn auf fachliche Diskussionen einzulassen. Davon habe ich viel profitiert. Durch seine Neubearbeitung der Juristischen Logik von Egon Schneider hat er mich angestoßen, meine Vorstellungen zu logischen Bildern im Recht1 weiter auszuarbeiten.

I. Logische Bilder als Graphen Wenn ich von logischen Bildern rede, so meine ich logische Bilder im engeren Sinne, also nur solche, die sich darauf beschränken, strukturelle Informationen mitzuteilen. Wir werden allerdings sehen, dass bei der visuellen Darstellung logischer Zusammenhänge unweigerlich unlogische Elemente einfließen. Als Folge gibt es einen gleitenden Übergang von logischen Bildern i. e. S. zu Schaubildern im Sinne von Infografik oder Charts. Moderne Infografik2 nimmt zwar oft logische Bilder oder Mengenbilder zur Grundlage, schmückt diese aber mit ikonischen Zeichen aus. ___________ 1

Ab 1999 habe ich mich, unterstützt von tüchtigen Mitarbeitern, an meinem damaligen Lehrstuhl an dem Projekt „Visuelle Rechtskommunikation“ gearbeitet. Dabei sind wir natürlich auch auf die „logischen Bilder“ gestoßen. Allgemein über das Projekt und die daraus entstandenen Veröffentlichungen gibt die Internetseite http://www.ruhr-unibochum.de/rsozlog/ Auskunft. Zur Abgrenzung der verschiedenen Bildsorten vgl. Röhl, Was ist ein Bild?, in: Dieter Dölling (Hrsg.), Jus Humanum (Festschrift Ernst Joachim Lampe zum 70. Geburtstag), Duncker & Humblot, Berlin 2003, S. 227-244. Mit der Verwendung logischer Bilder in modernen Lehrbüchern hat sich empirisch Thomas Langer befasst (Die Verbildlichung der juristischen Ausbildungsliteratur, Tenea, Berlin 2004). Zur Verwendung logischer Bilder in der Juristenausbildung Klaus F. Röhl/Stefan Ulbrich, Recht anschaulich. Visualisierung in der Juristenausbildung, Halem Verlag, Köln 2007, S. 139 ff. 2 Dazu Angela Jansen/Wolfgang Scharfe, Handbuch der Infografik, Berlin, 1999; Thomas Knieper, Infographiken: Das visuelle Informationspotential der Tageszeitungen, München, 1995; Martin Liebig, Die Infografik, Konstanz, 1999; Hanno Sprissler, Infografiken gestalten – Techniken, Tips und Tricks, Berlin, 1999.

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Logische Bilder in diesem engeren Sinne lassen sich mathematisch als Graphen3 beschreiben. Ein Graph besteht aus einer geordneten Menge von unterschiedlichen Elementen, nämlich aus Knoten oder Ecken und aus Kanten. Die Knoten repräsentieren Objekte, Personen, Ereignisse oder gedankliche Konstrukte. Den Wert, der einem Knoten zugeordnet wird (eine Zahl, ein Name oder ein Text) nennt man Schlüssel, Marke oder Informationsfeld. Eine Kante verläuft zwischen zwei Knoten und beschreibt eine Beziehung zwischen diesen. Verläuft diese Beziehung nur von A nach B, nicht aber umgekehrt von B nach A, so spricht man von einem gerichteten Graphen. Anders formuliert: in einem gerichteten Graphen hat jede Kante nur einen Ausgangs- und einen Zielknoten. Das in der Jurisprudenz beliebteste logische Bild ist der Baum. Baumstrukturen bilden eine Sonderform von Graphen. Ein Baum sieht nicht unbedingt aus wie ein Baum. Entscheidend für die Baumeigenschaft ist, dass es zwischen zwei Knoten nur einen Weg gibt. Als Blatt (leaf) bezeichnet man diejenigen Knoten, die keine Nachfolger besitzen. Alle anderen Knoten heißen innere Knoten. Ein Knoten y der (direkt) unter einem Knoten x liegt, heißt (direkter) Nachfolger (descendant) von x. Umgekehrt ist der Knoten x (direkter) Vorgänger (ancestor) von y.

Abbildung 1 Abbildung 2 Es handelt sich bei Abbildung 1 und 2 um einen Baum.

Was wir als Baum vor Augen haben, ist ein Sonderfall, nämlich der Wurzelbaum. Ein Wurzelbaum entsteht, wenn man, wie in Abbildung 2, eine Ecke des Baumes, das heißt einen Knoten, der nur einseitig mit anderen verbunden ist, also ein Blatt, auszeichnet. Dieser Wurzelbaum gehört zu den Basics der In___________ 3

Die wohl maßgebliche Einführung in die Graphentheorie ist von Reinhard Diestel, Graphentheorie, Springer-Verlag, 3. Aufl. 2006. Ich gestehe, dass ich über das erste Kapitel nicht hinausgekommen bin. Für Juristen gut brauchbar der Artikel „Graphentheorie“ in Wikipedia.

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formatik. Dort heißt eine Datenstruktur Baum (tree), wenn sie zwei Merkmale erfüllt: 1. Es gibt genau einen Knoten, der keinen Vorgänger besitzt. Dieser wird als Wurzel (root) bezeichnet. 2. Alle Knoten außer der Wurzel besitzen genau einen Vorgängerknoten. Aus diesen Voraussetzungen folgt, das es sich um einen gerichteten Graphen handeln muss, denn sonst könnte man nicht zwischen Wurzel und Blättern unterscheiden. Das zweite Merkmal hat zur Folge, dass der Baum insofern eine rekursive Datenstruktur besitzt, als er sich durch eine Reihe von Teilbäumen darstellen lässt, weil jeder innere Knoten als Wurzel dienen kann. Als planar (oder plättbar) wird ein Graph bezeichnet, der auf einer Ebene mit Punkten für die Knoten und Linien für die Kanten dargestellt werden kann, ohne dass die Kanten sich schneiden. Für juristische Anwendungsfälle kommt man damit meistens aus. Aus der Zahl der direkten Nachfolger eines inneren Knotens ergibt sich der Verzweigungsgrad des Baumes. Informatiker sprechen von strikten Bäumen, wenn jeder innere Knoten mehrere Nachfolger bildet. Dann hat der Baum keinen Stamm, sondern nur noch Zweige, die sich immer weiter gabeln. Der höchste Grad unter allen Knoten ist der Grad des Baumes. Bäume vom Grad 2 heißen binär. Für die Informatik sind binäre Bäume insofern prominent, als letztlich alle Aufgaben für den Computer in eine binäre Struktur übersetzt werden müssen. Zu diesem Zweck werden Bäume höheren Grades in binäre umgewandelt. Auch im Alltagsdenken und ebenso in der Jurisprudenz haben binäre (dichotome) Strukturen eine gewisse Prominenz, weil sie mit Begriffen und Gegenbegriffen arbeiten.4 Aber die visuelle Darstellung von Bäumen gestattet ohne weiteres auch trichotome oder gar polytome Verzweigungen, die dann semantisch den Charakter einer Aufzählung gewinnen. Für juristische Zwecke kommen andererseits auch Bäume ohne Verzweigung vor, also eine bloß lineare Folge von Knoten. Sie werden als Kette, Stufenbau oder Pyramide visualisiert. Zur Visualisierung eines Graphen als Baum werden den Knoten Symbole (Punkte, Kreise, Vierecke) zugeordnet. Für die Verteilung der Knoten auf einer Fläche oder im Raum werden Koordinaten festgelegt. Dann werden die Kanten durch „Kurven“ zwischen den Knotensymbolen abgebildet. Als Kurven in diesem Sinne dienen in der Regel Geradensegmente oder Polygonzüge. Eine gerichtete Beziehung wird gewöhnlich dadurch sichtbar gemacht, dass die Kante ___________ 4 Zur Bedeutung solcher Antonyme in der Jurisprudenz Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2002, S. 142 ff.

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als Pfeil gestaltet ist. Die Stärke der Beziehung kann durch die Strichstärke oder die Kantenlänge angedeutet werden. Die mathematische Beschreibung eines logischen Bildes als Graph ist eindeutig. Für die zeichnerische Darstellung bestehen jedoch große Freiheiten mit der Folge, dass die Visualisierung der Information mehr oder weniger gut gelingt. Man kann auf Papier zeichnen, auf dem Bildschirm oder mit dem großen Zeh im Sand. Man kann unterschiedliche Formate und Farben wählen, die Darstellung mit einem Rand versehen, der wiederum rechteckig, kreisförmig oder als Wolke ausfallen kann. Es lassen sich verschiedene Anforderungen festlegen, mit denen sich die Lesbarkeit der Zeichnung von Graphen verbessern lässt. Dazu gehört insbesondere die Forderung, dass Symmetrien eines Graphen sichtbar werden und die Anzahl der Schnittpunkte von Kanten möglichst klein ist. Die Interpretation eines Baumes kann dazu führen, dass man eine Hierarchie herausliest. Um diese angemessen darzustellen, wird die Knotenmenge in Äquivalenzklassen aufgeteilt, so dass Knoten einer Äquivalenzklasse auf einer Höhe gezeichnet werden können. Im Übrigen haben sich für verschiedene Fachgebiete unterschiedliche Konventionen zur Visualisierung von Graphen herausgebildet. Sind die Kriterien für die Darstellung einer Klasse von Graphen festgelegt, lassen sich Algorithmen entwickeln, mit deren Hilfe die Zeichnung von Graphen automatisiert werden kann.5 Welche Ausführung man wählt, bleibt letztlich eine Frage der Zweckmäßigkeit und Ästhetik.6 In der Computerwelt ist, wohl zunächst von Charles F. Goldfarb, die Idee entwickelt worden, die logische Struktur einer Datenmenge von ihrer Darstellung vollständig zu trennen. Zur Formalisierung dieser Struktur hat Goldfarb 1974 die Beschreibungssprache SGML (Standard Generalized Markup Language) entwickelt und sie zu XML weiter entwickelt. Ein Abkömmling dieser Beschreibungssprache ist das HTML, mit dem die gängigen Internet-Browser darüber informiert werden, wie sie die Inhalte auf dem Bildschirm darzustellen haben. In einer solchen Beschreibungssprache wird der Inhalt des Dokuments von dem Layout getrennt. Ähnlich wie ein Textverarbeitungsprogramm den Text mit unterschiedlichen Formatvorlagen verbinden kann, wird in SGML der Inhalt zunächst in Gestalt von „Elementen“ strukturiert, die sich dann individuell oder durch Style-Sheets formatieren lassen. Ein SGML-Element ist ein Knoten in einem Informationsbaum. Es besteht aus den Element-Eigenschaften (Name, SGML-Attribute) und dem Element-Inhalt. Für die Visualisierung einer Baumstruktur gibt es verschiedene prinzipiell gleichwertige Möglichkeiten. Man kann einen Baum im Bildsinne zeichnen, ein Venn-Diagramm oder eine Tabelle. Die verschiedenen Darstellungen sind zwar ___________ 5 6

Weiterführende Hinweise unter http://de.wikipedia.org/wiki/Graphzeichnen. Diestel, Graphentheorie (N 3), S. 2.

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isomorph, haben aber darstellungspraktische Vorzüge und Nachteile. Hier am Beispiel des subjektiven Rechts:

Abbildung 3: Begriffspyramide „Subjektives Recht“ als Baumgrafik (aus Röhl, Allg. Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 43)

Subjektive Rechte Herrschaftsrechte absolute VR

NVR

Gestaltungsrechte

relative VR

NVR

gesetzliche rb

rg

vertragliche rv

rb

rg

rv

Abbildung 4: Begriffspyramide „Subjektives Recht“ als Tabelle

Die tabellarische Darstellung wird bei höheren Bäumen schnell unübersichtlich. Abhilfe bietet die kreisförmige Anordnung der Tabelle, bei der die Kopfzeile zum Mittelpunkt wird. Mit der Entfernung vom Mittelpunkt werden die äußeren Zeilen länger, bieten also mehr Platz zur Beschriftung. Solche rotae waren das Markenzeichen der ars combinatoria des Raimundus Lullus (12321315). Lullus transformierte die Bäume in konzentrische Scheiben, die sich sogar gegeneinander verdrehen ließen und so unterschiedliche Begriffskombina-

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tionen gestatten. Damit eröffnete er eine neue, dynamische Dimension der visuellen Darstellung, von der allerdings, soweit ich sehe, jedenfalls im juristischen Bereich nie Gebrauch gemacht worden ist. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass die kreisförmige Darstellung schwierig zu beschriften und auch nicht einfach zu lesen ist.

HerrschaftsR.

VermögensR.

Subjektive Rechte

GestaltungsR.

NichtvermögensR.

Abbildung 5: Begriffspyramide „Subjektives Recht“ als Venn-Diagramm

Auch Mengenbilder sind platzraubend, können aber Schnittmengen abbilden, die sich mit Bäumen und Tabellen nicht visualisieren lassen. Schreib- und drucktechnisch einfach zu handhaben und relativ raumökonomisch ist dagegen die Tabelle mit geschweiften Klammern.

Vermögensrechte

Herrschaftsrechte Nichtvermögensrechte

Gestaltungsrechte Abbildung 6: Begriffspyramide „Subjektives Recht“ als Klammertabelle

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Zur korrekten Visualisierung struktureller Informationen genügen ästhetisch anspruchslose Strichzeichnungen. Damit geben sich juristische Publikationen heute in aller Regel zufrieden. Die durchschnittliche Grafik in modernen juristischen Lerntexten fällt ästhetisch und teilweise auch funktional im Vergleich zu den mittelalterlichen Arbores und Turres oder zu den Illustrationen technisch orientierter Literatur beklagenswert kümmerlich aus. Man vergleiche mein eigenes Machwerk in Abbildung 7 mit dem Oppositionsquadrat aus der Margarita Philosophica in Abbildung 8. In historischer Zeit hat man dagegen keine Mühe gescheut, solche Bilder ästhetisch auszuschmücken oder sie gar mit Analogbildern zu überlagern. Seit der Spätantike, besonders aber in der Zeit der Scholastik, waren die Arbores, Rotae und Turrae in Gebrauch. An der ausgeprägten Kultur vor allem der Arbores hatte die Jurisprudenz erheblichen Anteil. Der neue Trend zur Visualisierung führt dazu, dass logische Bilder auch in juristischem Kontext über das Notwendigste hinaus bildhafte Elemente erhalten.

Abbildung 7: Das Normenquadrat aus Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 170

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Abbildung 8: Oppositionsquadrat aus der Margarita Philosophica

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II. Arbores Juris7 und andere Bildschemata Schematische Darstellungen (stemmata), die wir heute als logische Bilder einordnen, haben in der Jurisprudenz eine lange Tradition.8 Es gab sie schon in vorjustinianischer Zeit. In den Institutionen (3. 6. 9.9) werden sie besonders erwähnt. Praktisch ging es dabei um Verwandtschaftstafeln für erbrechtliche Zwecke. In der großen Mehrzahl der Handschriften handelte es sich um einfache Strichzeichnungen ohne ornamentalen oder figuralen Schmuck.10 In mittelalterlichen Handschriften wurden diese Graphen mehr und mehr mit Ornamenten und Figuren ausgestaltet und darüber hinaus zu einem Gesamtbild geformt. Das römische Recht benutzte zur Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen architektonische oder geometrische Bilder, insbesondere das Bild eines Hauses oder einer abgestumpften Pyramide.11 Geläufig war aber auch die Darstellung in Gestalt einer Fahne (vexillum; Abb. 9). Nicht ganz selten wurden die Zellen oder Knoten in einen menschlichen Körper hineingezeichnet. Schon die abstrakte Dreiecksform der Pyramide erinnert an einen Baum. So trat seit Isidor von Sevilla (um 560-636) das Bild des Baumes in den Vordergrund.12 Mit der Etablierung des Kirchenrechts im Hochmittelalter wechselte die Thematik vom Erbrecht zum Eherecht. Nunmehr ___________ 7 Im Juristendeutsch wurde die arbor juris zeitweise als Masculinum behandelt. Heute wird wieder die grammatisch richtige weibliche Form benutzt (vgl. Schadt S. 15 Fn. 14). 8 Für einen Überblick vgl. Franziska Prinz (geb. Wieszorek), Der Bildgebrauch in gedruckten Rechtsbüchern des 15. bis zum Ausgang des 18. Jahrhundert, LIT Verlag, Hamburg 2006, S. 103 ff.; Röhl, Bilder in gedruckten Rechtsbüchern, in: Kent Lerch (Hrsg.) Die Sprache des Rechts, Band 3, Walter de Gruyter, Berlin/New York, 2005, S. 267-348. 9 Sed cum magis veritas oculata fide quam per aures animis hominum infigitur, ideo necessarium duximus post narrationem graduum etiam eos praesenti libro inscribi, quatenus possint et auribus et inspectione adulescentes perfectissimam graduum doctrinam adipisci. (Weil aber die Wahrheit sich dem menschlichen Geist mehr durch das Auge als durch das Ohr einprägt, so haben Wir für nötig erachtet, nach der Aufzählung der Abstufungen diese auch in das vorliegende Buch einzutragen, so dass der Jüngling sowohl durch das Ohr wie auch durch die Anschauung die vollkommenste Übersicht der Abstufungen erlangen könne.) 10 Hermann Schadt, Die Darstellungen der Arbores Consanguinitatis und der Arbores Affinitatis: Bildschemata in juristischen Handschriften, Wasmuth, Tübingen 1982, S. 14. 11 Roderich Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1867 (Nachdruck Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Aalen 1959), S. 151. 12 Stintzing (N 11), S. 152; Thomas Macho, Die Bäume des Alphabets, Neue Rundschau, 116 (2005) S. 66-80.

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übernahmen Baumdarstellungen die Aufgabe, die verwandtschaftlichen Ehehindernisse des Kirchenrechts anschaulich zu machen. Eheschließungen zwischen Verwandten waren bis zum sechsten Glied verboten. Daher zeigt der „Baum der Blutsverwandtschaft“ (arbor consanguinitatis) die Verwandtschaftsgrade für jeweils vier Generationen in aufsteigender und in absteigender Linie sowie die seitlichen Verwandten bis hin zu den Nachkommen desselben Urgroßvaters. Entsprechendes gilt für die Schwägerschaft in der arbor affinitatis.

Abbildung 9: Verwandschaftstafel aus Sebastian Brant, Der neu Layenspiegel, Straßburg 1518 (Aufnahme Franziska Wieczorek)

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Abbildung 10: Tafel aus M. Abraham Saur, Güldener Fluß und Außzug Von Erbschafften, Frankfurt a. M. 1593 (Aufnahme Franziska Wieczorek)

Die Baumdarstellungen erlebten ihre Blütezeit in mittelalterlichen Handschriften. Der Kunsthistoriker Schadt hat 650 Beispiele aus 450 juristischen Manuskripten gesammelt.13 Im Buchdruck verbreiteten sich die Baumbilder vor allem durch die vielfach nachgedruckte „Lectura super arboribus consanguinitatis et affinitatis“ von Johannis Andreä.14 Die Bäume waren teils von Künstlerhand gestaltet. Gegen Ende des Jahrhunderts verlor sich aber die Information teilweise in der Dekoration. Das gilt etwa für verschiedene Begriffsbäume, die in Lyoner Ausgaben des Corpus Juris aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu finden sind. Als Beispiel zeigt Abbildung 11 eine arbor jurisdictionum. Anfangs zeigten auch die gedruckten arbores noch vielfach vegetabile Formen, Ornamente und Figuren. Im 17. Jahrhundert wurden die Baumdarstellungen nüchterner. Man kehrte zu rein geometrischen Schemata zurück. ___________ 13 14

Schadt (N 10), S. 14. Dazu ausführlich Stintzing (N 11), S. 151-185.

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Abbildung 11: Arbor Jurisdictionum aus dem Corpus Juris Lyon 1549/50

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III. Die ramistische Klammertechnik Im 16. Jahrhundert traten für die Darstellung abstrakter Materien an die Stelle des Baumes tabellarische Darstellungen mit Hilfe geschweifter Klammern. Diese Darstellungsform war ein spezifisches Kennzeichen der ramistischen Methode, die auch unter Deutschlands Juristen sehr beliebt war.15 Dabei handelt es sich der Sache nach um eine in die Horizontale gedrehte Baumstruktur. Das klassische Beispiel gibt die Synopsis Juris Civilis von Giulio Pace.16 Das Buch enthält auf insgesamt 102 Seiten 45 überwiegend ganzseitige Klammertabellen. Abbildung 12 zeigt eine eigene solche Klammertabelle von Freigius. Mit Klammern gebildete tabulae waren schon vorher bekannt, gewannen jedoch durch die „dialektische“ Methode des Petrus Ramus (1515-1572), heute würden wir sagen, durch sein deduktives System, so sehr an Bedeutung17, dass man geradezu von einer ramistischen Klammertechnik sprechen kann. Der zeitweise außerordentliche Popularität des Pierre de la Rameé dürfte es kaum hinderlich gewesen sein, dass sein latinisierter Name „Zweig“ bedeutet.18 Ramus wurde in Deutschland vor allem durch den Freiburger Pädagogen und Juristen Johann Thomas Freigius (1543-1583) bekannt gemacht,19 der von der Mathematik zur Jurisprudenz gekommen war;20 Freigius edierte Arbeiten des Ramus und schrieb dessen Biografie.21 ___________ 15

Stintzing (N 11), S. 144 ff. Gulio Pace, Synopsis Juris Civilis, Mareschallus, Lugdano, 1588. 17 Hans Erich Troje, Graeca leguntur, 1971, S. 178. 18 Zu Ramus allgemein Walter J. Ong, Ramus, Method and the Decay of the Dialogue, Octagon Books, New York 1974. 19 P. Rami Professio regia, Henricpetri, Basel 1566; P. Rami dialecticae institutiones – Item Aristotelicae animadversiones: a prima aeditione nuspiam hac methodo visae – Tam pridem a pos postliminio revocatae – atque in lucem editae opera Joan. Thom. Freigii, Basel 1575; P. Rami Professio regia, hoc est Septem artes liberales in Regia cathedra/per ipsum Parisiis apodicta docendi genere propositae, et per Joan. Freigium in tabulas … rel. … editae, Henricpetri, Basel 1576. 20 Roderich Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Erste Abtheilung, R. Oldenbourg, München und Leipzig 1880, S. 300 u. S. 440-449. Von Freigius habe ich in der anna-Amalia-Bibliothek in Weimar die folgenden juristischen Bücher gefunden: Methodica actionum juris repetitio … / Cum praefatione Joannis Tho. Freigij, Henricpetri, Basel 1569; Thomae Freigi Partitiones Juris Utriusque Hoc est, Omnium Juris Tam Civilis Quam Canonici Materiarum, In Tabulas … digestio … , Henricpetri, Basel 1571; Neüwe Practica Juris und Formulen oder Concepten allerley, in zwen theil abgetheilet. Auß welchen der erst in sich begreifft der Practick, so im Rechten gebreüchlich … , Henricpetri, Basel 1574; Joannis Thomae Freigii Quaestiones Justinianeae in Institutiones juris Civilis, Henricpetri, Basel 1578, Nachdruck 1591; Joan Thomae Freigii Partitiones juris utriusque, hoc est: omnium juris tam civilis quam canonici materiarum, in tabulas apta et illustris digestio … , Henricpetri, Basel 1581; Joan Thom. Freigii de logica jureconsultorum libri duo, Henricpetri, Basel 1582, editio postrema 1590; Cheiragogia, Sive Cynosura Juris, Bernardum Albinus, Speier 1588 mit Appendix von 16

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Abbildung 12: Klammertabelle aus Thomas Freigius, De perfecto Jurisconsulto, 1589

___________ 1589: De perfecto Jurisconsulto: itemque de claris iurisperitis Italiae, Galliae, Germaniae; Jo. Thomae Freigii Idea Boni Et Perfecti Jurisconsulti, 1589]. Ferner hat er sich als Herausgeber betätigt: Zasius Joan. Thomae Freigii … : Hoc Est: In Pandectas Juris Civilis Commentarii: À … Uldarico Zasio Olim Diffusé Tractati: Nunc veró: Secundum leges Methodicas in compendium redacti … , Henricpetri, Basel 1576. 21 Petri Rami Vita von Freigius ist zusammen mit den Praelectiones in Ciceronis Orationes octo consulares von Petrus Ramus zuerst 1575 bei Petrus Perna in Basel erschienen und dort 1580 und bei Egenolph in Marburg 1599 nachgedruckt worden. Ein Reprografischer Nachdruck, herausgegeben von Walter J. Ong, ist 1969 bei Olms in Hildesheim erschienen. Der Band enthält am Ende auch die Vita Petri Rami von Freigius.

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Ramus wollte mit seiner Methode ein universelles Werkzeug für alle Materien der Wissenschaft anbieten. Dazu soll jedes Thema vom Allgemeinen zum Besonderen hin entwickelt werden. Praktisch sind zu diesem Zweck zunächst Definitionen zu bilden. Sodann ist der Gegenstand zweifach zu unterteilen und danach jede Unterteilung erneut zu dichotomisieren, und so fort, bis am Ende das Thema in einer Kaskade von Dichotomien erschöpft ist.22 Der grundlegende Unterschied zur Methode der Scholastik besteht darin, dass nicht länger nach einem ersten Prinzip gesucht wird, das die Wissenschaftlichkeit der folgenden Differenzierungen garantiert. Alles und jedes kann jetzt zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Untersuchung genommen werden. Das zeigt sich visuell im Übergang von der scholastischen Baumstruktur zur Klammertechnik. Als Graphen, also logisch betrachtet, sind Baumstruktur und Klammern wie gesagt gleichwertig. Aber die Metapher des Baumes hat auch inhaltliche Bedeutung. Der Baum wächst aus einem Grundprinzip, aus einer gesunden Wurzel. Der Begriff, der die erste Klammer bezeichnet, kann dagegen willkürlich gewählt werden. Die waagerechte Anordnung der Klammern vermeidet auch die Suggestion einer natürlichen Hierarchie, die von der Baumstruktur ausgeht. Außerdem hat sie keine Verwendung mehr für einen Stamm. Jeder innere Knoten verzweigt sich. Es werden strikte Bäume gebildet.

IV. Begriffsnetze (Concept-Mapping, Mind-Mapping) Es ist inzwischen zu einem populärwissenschaftlichen Gemeinplatz geworden, dass die kognitive Repräsentation von Wissen in Begriffsnetzen erfolgt. Was über die Baumstruktur als Graphen gesagt wurde, lässt sich auf Netze übertragen. Netze unterscheiden sich von Bäumen dadurch, dass sie keine Wurzel haben und dass ein Knoten mehrere Vorgängerknoten haben kann. Zur grafischen Darstellung dienen so genannte Concept Maps. Bei der Visualisierung helfen Computerprogramme, die in der Regel auch für die Anwendung auf dem PC zur Verfügung stehen.23 In den meisten Fällen beschränkt sich die Darstellung auf Baumstrukturen ohne Wurzel. Sobald sich Netze nicht mehr als ___________ 22 In Schneider/Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl. 2006, finde ich nur ein einziges logisches Bild, und zwar eine Klammertabelle, und zwar zur Darstellung der logischen Urteile nach Kant. Vorab heißt es: „Erschrecken Sie bitte nicht! Diese Übersichtstafel, die auf Kants „Kritik der reinen Vernunft“ zurückgeht, soll Ihnen lediglich eine optische Hilfe für das Verständnis des nachfolgenden Textes bieten.“ In dieser Tafel wird dann allerdings die geschweifte Klammer insofern unkonventionell verwendet. 23 Z. B. MindManager von Mindjet GmbH, Visio von Microsoft oder Cmap Tools, das man im Internet für private und für Ausbildungszwecke kostenlos herunterladen kann. Es gibt inzwischen über 40 ähnliche Programme.

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planare Graphen abbilden lassen, wird die Visualisierung kompliziert. Häufig wird sie durch Hyperlinks ersetzt. Friedrich Lachmayer, der sich wie kein anderer über logische Bilder im Recht Gedanken gemacht hat24, hat mir die Frage nahe gelegt, ob auch die sog. Petri-Netze25 für eine Darstellung rechtlicher Zusammenhänge nützlich sein könnten. Man kann sich ein Petri-Netz als Flowchart vorstellen, wie sie zur Darstellung von Prozessabläufen verwendet wird. Die Besonderheit besteht zunächst in einer strengen formalen Semantik, mit deren Hilfe ganz unterschiedliche Komponenten einheitlich notiert und kombiniert werden können. In der Folge können mit Petri-Netzen beschriebene Abläufe computergestützt analysiert, simuliert und optimiert werden. Petri-Netze können aber auch in graphische Darstellungen überführt werden. Beinahe noch wichtiger ist ein zweites Charakteristikum: Es werden nicht nur alternative Prozesse modelliert, wie sie in einem Graphen als Verzweigung dargestellt werden, sondern auch und vor allem nebenläufige Prozesse.26 Das sind Prozesse, die an sich unabhängig voneinander ereignen können. Auch die zeitliche Reihenfolge spielt keine Rolle. Da die Prozesse aber auf gemeinsame Ressourcen zugreifen und dazu Nachrichten austau___________ 24 Friedrich Lachmayer, Graphische Darstellung im Rechtsunterricht, Zeitschrift für Verkehrsrecht (ZVR), Heft 8, Wien 1976, S. 230-234; ders., Normproduktion und Konkurrenzverhalten, Rechtstheorie. Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts, Heft 2, 1977, S. 133-144; ders., Zur graphischen Darstellung des Obligationsrechts, Schweizerische Zeitschrift für Kaufmännisches Bildungswesen, Heft 3, 1977, S. 89-97; ders., Graphische Darstellung als Hilfsmittel des Gesetzgebers, in: Klug, Ulrich/Ramm, Thilo/Rittner, Fritz/Schmiedel, Burkhard (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik, Zivil- und Prozeßrecht. Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, Berlin, 1978; Karl Garnitschnig/Friedrich Lachmeyer, Computergraphik und Rechtsdidaktik, Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Wien 1979; Peter Jordan/Friedrich Lachmayer, A Graphic-Verbal Notation of the History of the Austrian Constitution, in: Ernst W.B. Hess-Lüttich, (Hrsg.), Multimedial Communication, Vol. I: Semiotic Problems of its Notation, Gunther Narr Verlag, Tübingen 1982; ders., Visualisierung des Rechts, in: Annemarie Lang-Seidl (Hrsg.), Zeichenkonstitution. Akten des 2. Semiotischen Kolloquiums Regensburg 1978, Band II, Berlin, 1981; ders., Symbolisierung von Metaphern, DOXA 13/1987, Semiotische Berichte, Institute of Philosophy, Hungarian Academy of Sciences, Budapest, Heft 3,4/1987, S. 137-141; ders., Die Absicherung des Rechts durch Zeichen. Vorbemerkungen zu einer Semiotik des Rechts, in: Aulis Aarnio/Stanley Paulson/Ota Weinberger/George Henrick von Wright/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Festschrift für Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, Berlin, 1993; ders., Visualisierung in der Rechtswissenschaft, ARSP-Beiheft 53, 1994, S. 156-159. 25 Dazu allgemein Wilfried Brauer/Wolfgang Reisig, Carl Adam Petri und die „Petrinetze“, Informatik Spektrum 29, Heft 5 Oktober 2006, S. 369-374. 26 Zu diesem Begriff Marco Thomas, Nebenläufigkeit im Schulfach Informatik – Legitimation und Vermittlung, 1998, www.hyfisch.de/HyFISCH/Informieren/Nebenlaeufigkeit/Nebenlaufigkeit.pdf (12. 2. 2008).

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schen, ist eine Koordination notwendig, damit es nicht zu Konflikten kommt und die Prozesse nicht „verklemmen“. Petri-Netze sind deshalb ein wichtiges Instrument der Software-Technik. Hier dienen sie etwa zur Programmierung des Multitasking, also der Fenstertechnik, wie man sie von Windows gewöhnt ist. „Mit Petri-Netzen modelliert man Systeme.… Besonders geeignet sind Petri-NetzModelle für verteilte und reaktive Systeme. Sie haben nicht unbedingt einen eindeutigen sequentiellen Kontrollfluss und sie interagieren mit ihrer Umgebung nicht nur zu Beginn und am Ende einer Berechnung.“27

Diese kurze Charakterisierung aus dem wohl maßgeblichen Einführungsbuch bleibt noch recht abstrakt. Konkreter kann man sagen: Das Petri-Netz bietet eine Methode, um Prozesse aller Art formalisiert darzustellen und dabei zeitliche und/oder kausale Zusammenhänge abzubilden. Es kann sich um einen Produktionsablauf oder einen Geschäftsprozess, eine Gerätesteuerung oder ein Computerprogramm handeln. Es besteht danach eigentlich gar kein Zweifel, dass sich auch rechtliche Sachverhalte, ganz gleich ob Normstrukturen im Sinne von Bedingungskonstellationen oder prozesshafte Verläufe, als Petri-Netze darstellen lassen. Die Frage ist allenfalls, ob die Mühe einer solchen Darstellung lohnt. Gesprächsweise habe ich von Professor Dr. Dr. Herbert Fiedler (Bonn), der in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD, St. Augustin) mit Carl Adam Petri zusammengearbeitet hat, erfahren, dass Petri selbst auf eine Verwendung im juristischen Bereich gehofft habe, dass Versuche aber ergebnislos geblieben seien. Fiedler hat seinerzeit eine einschlägige Dissertation von Reinhard Linz28 betreut. Mein Eindruck ist, dass der Versuch von Linz letztlich deshalb folgenlos geblieben ist, weil er zu anspruchsvoll war. Linz ging es darum, praktisch die ganze herkömmliche deontische Logik von der Prädikatenlogik in die Netztheorie umzuschreiben. Dafür gibt es keinen rechten Bedarf. Ein Bedarf könnte sich daraus ergeben, dass die logischen Bilder mit Baumstruktur in aller Regel nur zur Abbildung von Taxonomien verwendet werden, während es für die Beschreibung von Bedingungs-FolgenZusammenhängen oder von Prozessen an einer für den juristischen Gebrauch geeigneten Formalisierungsmethode zu fehlen scheint. Die relativ einfachen Graphen der Petri-Netze bieten ein anschauliches Darstellungsmittel, das diese Lücke vielleicht ausfüllen kann. Ein Petri-Netz ist ein gerichteter Graph. Es handelt sich deshalb nach unserer Definition eigentlich gar nicht um ein Netz, denn in einem Netz kann jedes Objekt mehrere Ausgangs- oder mehrere Zielknoten haben. Als Graphen haben ___________ 27 Wolfgang Reisig, Petri-Netze – eine neue Einführung, 2007, als pdf im Internet: http://www2.informatik.hu-berlin.de/top/pnene_buch/pnene_buch.pdf.2007, S. II. 28 Reinhard Linz, Grundbegriffe für eine Logik über Ergeignisse und Normen. Ein semantischer Ansatz auf der Basis von Petrinetzen, Oldenbourg u. a., München, 1992.

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Petri-Netze die Besonderheit, dass sie nur zwei Arten von Knoten kennen, nämlich Bedingungen und Ereignisse. Bedingungen werden als „Plätze“ modelliert, die eine Marke aufnehmen können, und grafisch als kleine Kreise dargestellt. Ereignisse werden als Transitionen benannt und als kleine Rechtecke gezeichnet. Petri-Netze unterliegen außerdem der Einschränkung, dass Kanten nur zwischen verschiedenartigen Knoten, also nur zwischen Plätzen und Transitionen, verlaufen. Der einfachste Fall sieht also folgendermaßen aus:

M Gültige Bedingungen tragen eine Marke. Wenn die Transition schaltet, dann entfernt sie die Marke aus dem Vorbereich und platziert sie im Nachbereich. Um einen Prozess zu analysieren, muss man die Ereignisse beschreiben, die in ihm stattfinden, und die Bedingungen angeben, von denen der Eintritt der Ereignisse abhängt. Tritt eine Bedingung ein, löst sie ein Ereignis aus und es ändert sich der Zustand. Die Gesamtheit der möglichen Bedingungen und der von ihnen abhängigen Veränderungen ergibt den Zustand des Systems. Jede Veränderung kann als Ereignis modelliert werden, eine Bewegung, eine Temperaturänderung, der bloße Zeitablauf, eine Willenserklärung, eine Zahlung oder eine Verurteilung. Jedes Ereignis ist von Bedingungen abhängig, die erfüllt sein müssen, damit es eintreten kann. Um ein Netz zu modellieren, kann man von den Ereignissen ausgehen, die man für relevant hält, und jedes Ereignis als Transition definieren. Dann sucht man nach den Bedingungen für die Transitionen und legt dafür entsprechende Plätze an. Oder man zählt umgekehrt die Objekte auf, mit denen man zu tun hat und legt für jedes einen Platz an. Dann überlegt man, wie sie sich verändern können, und zeichnet für jede mögliche Veränderung eine Transition. Die Pfeile ergeben sich mehr oder weniger zwangsläufig, wenn man bedenkt, dass eine Kante stets von einem Platz zu einer Transition führen muss und dann wieder von der Transition zu einem weiteren Platz. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle eine Einführung in die Theorie der Petri-Netze zu bieten. Dazu wären ohnehin andere berufen.29 Hier kann allenfalls an Hand eines einfachen Beispiels implizit ein winziger Eindruck von der PetriNetz-Methode vermittelt werden. Ich habe allerdings keine juristische Anwendung gefunden, die ich hier vorstellen könnte. Daher habe ich versucht, selbst ___________ 29 Ulrich Grude, Petri-Netze – eine informelle Einführung, 1988 (www.tfh-berlin.de/~grude/Petrinetze.pdf); Kay Marczinzik, Petri-Netze und Fuzzy-Petri-Netze. Einführungskurs mit interaktiven Beispielen, 1999 (http://kik.informatik.fh-dortmund.de/ Diplomarbeiten/DA%20Marczinzik/index.html); Wolfgang Reisig, Petrinetze, eine Einführung, 2. Aufl. 1986; ders. (N 27).

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ein Beispiel zu bilden. Dazu bot sich das einleitende Beispiel an, an dem Reisig in seiner Einführung die Theorie der Petri-Netze demonstriert, nämlich das Beispiel eines Warenautomaten, in diesem Falle eines Keksautomaten. An einem solchen Automaten interessieren zunächst nur zwei Vorgänge. Der Automat nimmt eine Münze entgegen und er wirft eine Schachtel aus. Münze rein

Schachtel raus

Für jede dieser Transitionen müssen wir eine Bedingung angeben, also einen

Münze eingeworfen

Münze fällt rein in die Kasse

Münze gefallen

Schachtel fällt raus aus dem Speicher

Platz zeichnen. Zu jedem (runden) Platz gehört eine Aktivierungsregel, die die Bedingung angibt, unter der ein (eckiger) Ereignisknoten schaltet. Bedingung für das Entgegennehmen der Münze ist der Einwurf durch den Kunden. Zu jedem Ereignisknoten gehört eine Schaltregel, die besagt, was im einzelnen passiert, wenn der eckige Knoten schaltet.30 Die Schaltregel besagt in diesem Fall: Münze in Kasse werfen. Die Münze in der Kasse ist wiederum Bedingung für die Abgabe der Keksschachtel durch den Speicher. Der Keksautomat bildet ein geschlossenes System mit zwei Schnittstellen zu seiner Umgebung. Schnittstellen sind der Münzeinwurfschlitz und das Entnahmefach. An diesen Schnittstellen ereignen sich Aktionen. Der Kunde wirft eine Münze ein. Das ist die erste Transition des Systemzustands. Sie löst ein Signal und damit eine weitere Transition aus, nämlich die Versenkung der Münze aus dem Einwurfschlitz in die Kasse. Diese Transition löst wiederum ein Signal für den Abwurf der Keksschachtel in das Entnahmefach aus. Für das System ist das der Endzustand. Für den Kunden schließt sich hier noch die weitere Aktion der Entnahme an. Aktion

Einwurfschlitz

Einwurfschlitz

Aktion

Die Plätze Münzeinwurfschlitz und Entnahmefach sind hier oval dargestellt, um anzudeuten, dass es sich dabei um Schnittstellen zwischen System ___________ 30

Grude (N 29), S. 22.

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und Außenwelt handelt. Der Einwurf der Münze wirkt als Signal: Hier ist eine Münze. Dieses Signal veranlasst wiederum ein Ereignis, das den Systemzustand verändert, also eine Transition: Die Münze fällt in eine Kasse. Diese Transition löst ein neues Signal aus, das wiederum eine Transition veranlasst, und zwar eine Anforderung an den Keksspeicher, eine Schachtel in das Entnahmefach zu werfen. Die abgeworfene Schachtel ist dann das Signal an den Kunden, die Keksschachtel zu entnehmen. Die einzelnen Transitionen lassen sich je nach Bedarf verfeinern. So kann man die Transition „Münze fällt in die Kasse“ von einer Münzprüfung abhängig machen und ferner davon, ob im Speicher noch ein Schachtelvorrat vorhanden ist. Solche Verfeinerungen zeigt eine Skizze von Reisig:

Abbildung 13: Endzustand des Keksautomaten nach Reisig, Petri-Netze, Abb. 1.11

Hier ist ein Zähler eingebaut, der von jeder Transition, durch die eine Schachtel aus dem Speicher in das Entnahmefach bewegt wird, ein Signal erhält und rückwärts zählt. Sinkt der Bestand unter 1, gibt der Zähler ein Signal, das die Transition „Münze zurück“ auslöst. Weiter könnte man einen Münzprüfer einbauen, der das Signal „Münze zurück“ auslöst, wenn die Münze nicht korrekt ist. In diesen Verfeinerungen zeigt sich eine spezifische Fähigkeit der Petri-Netze, nämlich die Möglichkeit des modularen Aufbaus. Nun können wir versuchen, die Aktivierung des Keksautomaten als Rechtsgeschäft zu interpretieren. Dabei stehen wir vor der Rechtsfrage, ob wir mit der herrschenden Meinung31 schon die Aufstellung des Automaten als Realofferte anzusehen haben, so dass der Münzeinwurf als Annahme zu subsumieren wäre, oder ob erst der Münzeinwurf die Offerte darstellt. Am Ende, also an der Schnittstelle „Entnahmefach“, liegen die Dinge anscheinend klar. Der Abwurf der Keksschachtel in das Entnahmefach hat doppelte Bedeutung als Übereig___________ 31 Z. B. Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 33. Auf. 2007, Überblick vor § 373, Rn. 2; Jauernig, Kommentar zum BGB, 12. Auflage 2007, § 145 Anm. 2 b.; Münchener Kommentar zum BGB (Kramer), 5. Auf. 2006, § 145 Anm. II 3 a.

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nungsangebot und als Besitzübergabe. Mit der Entnahme der Schachtel akzeptiert der Kunde das Übereignungsangebot und vollendet durch Besitzergreifung den Übergabevorgang. Was in der Mitte geschieht, nämlich die Prüfung der Münze, die Prüfung des Speichervorrats und schließlich, je nach Signal die Rückgabe der Münze oder der Abwurf der Keksschachtel, hat per se keine rechtsgeschäftliche Bedeutung. Erst die zurückgegebene Münze am Einwurf oder die Schachtel im Entnahmefach sind als Signal an den Kunden zugleich Willenserklärungen. Die Rechtsfrage beantwortet sich danach, ob der Automat zwangsläufig auf den Münzeinwurf mit dem Auswurf einer Keksschachtel in das Entnahmefach antwortet oder ob er noch Wahlmöglichkeiten hat. Es zeigt sich an dem verfeinerten Modell, dass der Automat unterschiedlich reagiert, je nachdem, ob der Warenspeicher noch gefüllt ist. Das spricht dafür, nicht schon die Aufstellung des Warenautomaten als Realofferte, sondern erst den Einwurf der Münze als Offerte der Kunden anzusehen. Das bedeutet dann aber auch, dass erst der Abwurf der Keksschachtel in das Entnahmefach die Annahme der Kaufofferte durch den Automatenaufsteller bedeutet. Die Frage ist natürlich, ob man zu dieser weltbewegenden Einsicht die Modellierung des Automaten als Petri-Netz benötigt. Wohl kaum. Aber hinterher ist man immer klüger. Unser Beispiel zeigt trotz seiner Trivialität vielleicht doch, dass man bei der genauen Modellierung eines Vorgangs als Petri-Netz auf Details aufmerksam werden kann, die sonst leicht übersehen werden. Allerdings ist das gewählte Beispiel insofern atypisch, als es gar nicht von vornherein ein Rechtsgeschäft als Petri-Netz modelliert, sondern dem Automatenmodell nur eine juristische Interpretation überstülpt. Immerhin erkennt man dabei, dass längst nicht alle technischen Vorgänge unmittelbar als Willenserklärungen wirken, dass aber einige technische Vorgänge, auch wenn sie selbst keine Willenserklärungen sind, für die Interpretation anderer Vorgänge als Willenserklärungen relevant werden können.

V. Zum Aussagewert logischer Bilder Der praktisch unbestrittene Wert logischer Bilder für das Recht beruht nicht darauf, dass diese Bilder mehr sagen als viele Worte, sondern gerade umgekehrt darauf, dass sie sich in der Wiedergabe der Begriffe und Relationen erschöpfen sollen, von denen gleichzeitig diskursiv gehandelt wird. Die Bilder dürfen nichts verändern oder hinzufügen, was nicht in der sie begleitenden verbalen Darstellung enthalten ist. Sonst gelten sie als falsch. Ihre Bedeutung beschränkt sich auf eine Veranschaulichung des Textes oder vielmehr des darin mehr oder weniger genau beschriebenen Konzepts. Darüber hinaus können sie allenfalls zur Begriffsklärung beitragen. Sie ermöglichen nämlich eine wechsel-

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seitige Kontrolle dahin, ob eine Eins-zu-Eins-Zuordnung gelungen ist. Ein positives Ergebnis spricht für klare Begriffe. Die Grundeinstellung, die sich hinter dieser Auffassung verbirgt, ist problematisch, denn entgegen dem ersten Anschein sind logische Bilder alles andere als harmlos. Sie suggerieren eine Verbindlichkeit, die ihnen nicht zukommt. Logische Bilder geben sich analytisch und damit neutral. Sie scheinen nur der Aufbereitung und Darstellung vorhandenen Wissens zu dienen. Der analytische Anspruch des logischen Bildes gerät jedoch in Konflikt mit psychologischen Mechanismen, die man pauschal als bildhaftes Denken bezeichnen kann. Der Konflikt wird ausgelöst ebenso durch die visuelle Gestalt des Bildes wie durch seine metaphorische Benennung. Die geometrische Gestalt transportiert einiges von der Autorität der Mathematik. Eine potentiell irreführende Konkretisierung beginnt damit, dass die visuelle Darstellung des Graphen nur eine begrenzte Menge von Elementen zeigt und damit den Schluss nahelegt, hier sei ein kleines Universum erschöpfend dargestellt, bei den sichtbaren Grenzen könne es sich um reale Grenzen handeln. Ähnliche Implikationen haben Dichotomien und Aufzählungen. Sie erwecken den Eindruck der Vollständigkeit und tragen damit zur Konstruktion des Wissens bei, dass sie vorgeblich nur darstellen. Erst eine Beobachtung zweiter Ordnung zeigt, welche Möglichkeiten der Unterscheidung durch die konkrete Darstellung ausgeschlossen werden. Die Visualisierung eines Graphen verleitet durch ihre Gestaltung zu Interpretationen, die die logische Struktur nicht hergibt. Diese Gefahr besteht immer, weil die Kante eines Graphen, die nur ganz abstrakt irgend eine Beziehung zwischen zwei Knoten darstellt, sobald sie als Linie oder Pfeil erscheint, Assoziationen über Kausalbeziehungen, zeitliche Abläufe oder Hierarchien provoziert. Im Ausgangspunkt ist alles Denken konkret und damit bildhaft, und es schreitet vor allem durch Analogien voran. Das hat zur Folge, dass logische Bilder unvermeidlich als Abbildungen interpretiert werden. Dieses Phänomen wird gefördert, wenn die nackten Graphen aus ästhetischen Gründen dekoriert werden, wie es vom Mittelalter bis in die Barockzeit üblich war. Dazu trägt natürlich auch die metaphorische Benennung des Graphen als Baum bei. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Visualisierung als Baum aristotelischem Denken entspricht, das von einer festen Grundlage ausgeht. Es ist kein Zufall, dass der Baum in der Neuzeit auf die Krone gestellt wird. Nicht länger ist die Wurzel das wichtigste, sondern umgekehrt eine nirgends verankerte Spitze. Doch alsbald zieht auch dieses Gebilde wieder Deutungen auf sich. Der umge-

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kehrte Baum wird zur Hierarchie, die die moderne Rechtsquellenlehre widerspiegelt. Die metaphorische Einkleidung ist deshalb alles andere als harmlos. Gould32 hat am Beispiel von Haeckels Evolutionsbaum (aus: Anthropogenie) eindrucksvoll beschrieben, wie die bildhafte Vorstellung eines Baumes oder eines Kegels, auf den Verlauf der Evolution angewandt, die Theorie in die Irre geführt hat. Für den Bereich des Rechts liegt eine analoge Blickbeschränkung durch „kanonische“ Bilder auf der Hand. Die logischen Bilder transportieren in erster Linie eine hierarchische Struktur. Die Normenhierarchie ist das beherrschende, aber keineswegs kritiklos anerkannte Hintergrundschema der Jurisprudenz. Ihm entsprechen der „Stufenbau“ und die „Pyramide“ als Metaphern. Als Folge kann eine unkritische Verwendung logischer Bilder zu einer gar nicht bemerkten Verfestigung hierarchischer Vorstellungen in Juristenköpfen führen.

Abbildung 14: Rechtsquellenpyramide des Arbeitsrechts í Aus von Hoyningen-Huene, Betriebliches Arbeitsrecht, 1997

In Abbildung 14 ist diese Hierarchievorstellung auch in der Sache anfechtbar. Es gibt nämlich keine klare Hierarchie zwischen dem Europarecht und dem nationalen Verfassungsrecht, denn noch immer leitet das Europarecht seine ___________ 32 Stephen Jay Gould, Leitern und Kegel: Einschränkungen der Evolutionstheorie durch kanonische Bilder, in: Robert B. Silvers (Hrsg.) Verborgene Geschichten der Wissenschaft, Berlin, 1996, S. 43-70.

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Geltung in Deutschland aus Art. 23 GG ab. Die Darstellung ist auch noch in anderer Hinsicht irreführend. Normalerweise verbindet sich mit der Vorstellung vom Stufenbau die Annahme, dass das Recht auf den höheren Stufen abstrakter und deshalb auch weniger umfangreich sei. Das ist die Vorstellung der Pyramide, die sich nach oben verjüngt. Das Europarecht, das hier die Spitze bildet, ist aber so konkret und damit umfangreich, wie gewöhnlich nur das Recht auf den untersten Stufen. Unverhüllt tritt der persuasiv-metaphorische Charakter eines Strukturbildes hervor, wenn es mit Säulen und Dach als „Tempel“ gezeichnet wird. Dazu ein letztes Beispiel:

Abbildung 15: Chart 2/8 aus Christa Tobler/Jacques Beglinger; Essential EC Law in Charts; HVG-ORAC, Budapest 2007

„Gesetzgebungskunst“ im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz Von Rolf Wank, Bochum Motto: „Erstens: Das Gesetz meint nicht, was es sagt. Zweitens: Das Gesetz sagt nicht, was es meint.“ Herbert Wiedemann, NZA 2007, 950, 953 f.

I. Gesetzgeber und Gesetzgebung Friedrich E. Schnapp hat sich stets nicht nur dem Sozialrecht verbunden gefühlt, sondern auch Fragen der Gesetzgebungstechnik, der Sprache und der Logik1. Der nachfolgende Beitrag widmet sich diesem Interessenkreis des Jubilars. Juristen fungieren überwiegend als Konsumenten, und zwar als Konsumenten von Rechtsnormen, die andere verfasst haben. Seltener agieren Rechtswissenschaftler selbst als Initiatoren von Gesetzgebungsvorhaben. So hat der Arbeitskreis Deutsche Rechtseinheit im Arbeitsrecht als Professorengremium einen Entwurf für ein Arbeitsvertragsgesetz ausgearbeitet, der auf dem 59. DJT vorgestellt wurde2 und es bis zu Gesetzesinitiativen von Brandenburg und Sachsen gebracht hat.3 Einen erneuten Anlauf für ein Arbeitsvertragsgesetz unternehmen nunmehr Henssler und Preis4. Weniger häufig findet sich eine rechtswissenschaftliche Kritik an einer konkreten Gesetzgebung. Punktuell wird das eine oder andere bemängelt, aber Gesetze als Ganze bleiben meist ungeschoren. Demgegenüber soll im Folgenden ein konkretes Gesetz, nämlich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) unter dem Aspekt der Gesetzgebungstechnik auf den Prüfstand gestellt ___________ 1 S. insbes. Schnapp, Stilfibel für Juristen, 2004; ders., Jura 2006, 573; Schneider/Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl. 2006. 2 Gutachten D zum 59. DJT, 1992; s. auch Hanau, FS Richardi 2007, S. 247; Stindt, FS Küttner, 2006, S. 509 ff. 3 BR-Drucks. 671/96 (Brandenburg); BR-Drucks. 239/95 (Sachsen). 4 Beilage zu NZA Heft 23/2006.

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werden; dabei geht es nicht um die angesprochenen Sachfragen, sondern allein um die Art der gesetzgeberischen Umsetzung. Vorab muss allerdings – so wie § 3 in Abs. 3 und 4 AGG unterscheidet – zwischen „bezweckt“ und „bewirkt“, zwischen den Akteuren (= Gesetzgeber), die etwas bezwecken und dem Endergebnis, dem „Bewirkten“ unterschieden werden. Zu den Schwierigkeiten für die Gesetzesverfasser zählte, dass das AGG bereits eine bewegte Vorgeschichte hatte.5 Nach einem gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren musste die Koalitionsregierung unter der Bundeskanzlerin auf die Schnelle ein Gesetz vorlegen. Dieselbe Partei, die den Gesetzentwurf der SPD/Grünen-Regierung abgelehnt hatte, übernahm nun deren Entwurf, nur in wenigen Punkten abgeschwächt6. D.h. der Gesetzgeber musste EG-Recht, EuGH-Rechtsprechung7 und konkrete, teils einander widersprechende politische Vorgaben innerhalb kürzester Zeit umsetzen und dabei aus einem SPD/Grünen-Gesetz ein CDU/SPD-Gesetz machen. Auch sollte möglichst wenig am vorliegenden Text geändert werden, damit das Gesetzgebungsverfahren schnell durchgeführt werden konnte. Nicht zuletzt ergaben sich Probleme daraus, dass die Anfertigung des Gesetzentwurfs nicht dem Justizministerium oder dem Arbeitsministerium übertragen worden war – die sowohl in der Materie als auch in Fragen von Gesetzgebungsverfahren auf viel Erfahrung zurückblicken können –, sondern einem Ministerium, das mit der Materie und mit Fragen der Gesetzgebungstechnik nicht im gleichen Maße vertraut war.8 Insgesamt oblag den Gesetzesverfassern keine dankbare Aufgabe.

II. Gesetzgebungstechnik und AGG 1. Die Gesetzesüberschrift Der Vorgängerentwurf hieß noch „Antidiskriminierungsgesetz“ (ADG). Demgegenüber heißt das Gesetz in der jetzigen Fassung „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG). Der Ausdruck Gesetz ist zutreffend. ___________ 5

Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2007, Rn. 14 ff.; Däubler/Bertzbach, AGG, 2007, Einl. Rn. 8 ff. 6 Däubler/Bertzbach, AGG, Einl. Rn. 10. 7 Zur Frage der Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht s. Bauer/Göpfert/Krieger, AGG, 2007, Einl. Rn. 43. 8 Zur Frage, wer der Gesetzgeber ist, s. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, 1. Kap. 4, 2 c, S. 148 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 3. Aufl. 2005, S. 43 f.

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a) Um ein „Allgemeines“ Gleichbehandlungsgesetz handelt es sich dagegen nicht9. Bei diesem Ausdruck denkt man zwangsläufig an den „allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz“10. Eben dieser ist im Gesetz aber nicht geregelt, sondern er besteht als gewohnheitsrechtlicher Rechtsgrundsatz neben dem Gesetz fort11. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Spezialvorschriften, wie § 4 Abs. 1 TzBfG, § 4 Abs. 2 TzBfG, § 75 BetrVG usw.12, so dass von einem „allgemeinen“ Gesetz nicht die Rede sein kann. § 2 Abs. 2 AGG besagt denn auch ausdrücklich, dass die Geltung anderer Benachteiligungsverbote oder Gleichbehandlungsgebote unberührt bleibt. b) Es handelt sich auch nicht um ein „Gleichbehandlungs“gesetz.13 Zu unterscheiden sind Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote.14 Das Gesetz enthält, entgegen seiner Überschrift, weitgehend Diskriminierungsverbote.

2. Allgemeiner Teil und Besondere Teile Guter Gesetzgebungstechnik entspricht es, zwischen einem Allgemeinen Teil und einem oder mehreren Besonderen Teilen zu unterscheiden. Dann sollte wirklich alles Allgemeine im Allgemeinen Teil stehen; und es sollte nichts dort stehen, was in einen Besonderen Teil gehört.

a) Anders verfährt z.B. das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG). Es enthält einen „Ersten Abschnitt. Allgemeine Vorschriften“. Darin findet sich § 3 (der nur die befristet beschäftigten Arbeitnehmer und damit allein den „Dritten Abschnitt. Befristete Arbeitsverträge“ betrifft), § 4 Abs. 1 (der nur teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, und damit allein den „Zweiten Abschnitt. Teilzeitarbeit“ angeht) sowie § 4 Abs. 2 (der in Bezug auf befristete Beschäftigung in den Dritten Abschnitt gehört hätte). Ergänzt wird das Ganze um den – wegen des identischen § 612 a BGB überflüssigen – § 5 zum Benachteiligungsverbot. Ein zweiter Allgemeiner Teil findet sich dann unter der Überschrift „Vierter Abschnitt. Gemeinsame Vorschriften“ in §§ 22, 23. ___________ 9

Preis, ZESAR 2007, 249 f. Adomeit/Mohr, AGG, 2007, § 1 Rn. 4. 11 S. dazu insbes. Hans Hanau, FS Konzen, 2006, S. 244 ff.; Wiedemann, RdA 2005, 193, 194 ff. 12 Nachw. bei Schleusener/Suckow/Voigt, AGG, 2007, § 1 Rn. 21 ff. 13 Adomeit/Mohr, § 1 AGG, Rn. 5; Bauer/Göpfert/Krieger, AGG, Einl. Rn. 10; Preis, ZESAR 2007, 249, 250. 14 S. insbes. Wiedemann, Die Gleichbehandlungsgebote im Arbeitsrecht, 2001; ders., FS BAG, 2004, S. 265 f.; ders., RdA 2005, 193 f. 10

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b) Vergleichbares zeigt sich im AGG. Abschnitt 1 enthält den Allgemeinen Teil (§§ 1 – 5), Abschnitt 2 das Arbeitsrecht, Abschnitt 3 das Allgemeine Zivilrecht usw. Aber im „Abschnitt 7. Schlussvorschriften“ findet sich eine Vorschrift für den Allgemeinen Teil, nämlich § 31 zur Unabdingbarkeit. Auch § 32 als Konkurrenzregelung gehört in den Allgemeinen Teil (vgl. § 2 Abs. 2 bis 4, der sich ebenfalls mit Konkurrenzfragen beschäftigt).

3. Geltungsbereich Guter gesetzgeberischer Übung entspricht es, den Geltungsbereich im Gesetz ausdrücklich festzulegen.15 Sinnvoll ist es auch, eine derartige Regelung an den Anfang zu stellen. Nur ein kleiner Schönheitsfehler ist es, wenn beispielsweise im Kündigungsschutzgesetz der persönliche Geltungsbereich in § 1 Abs. 1 KSchG zu finden ist, der sachliche Geltungsbereich dagegen viel später in § 23 KSchG.

a) Auch im AGG muss man zwischen dem persönlichen und dem sachlichen Geltungsbereich unterscheiden. Der persönliche Geltungsbereich wird in § 6 für Arbeitsverhältnisse, also für die in §§ 6 ff. geregelten Rechtsverhältnisse, durch Legaldefinition bestimmt. Da das Gesetz aber nicht nur für Arbeitnehmer gilt (s. §§ 19 ff. AGG für den allgemeinen Zivilrechtsverkehr), vermisst man eine allgemeine Vorschrift zum persönlichen Geltungsbereich außerhalb des Arbeitsrechts. Für die allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften ist jedermann (jede Frau) Gesetzesadressat. Hier ist des Weiteren § 24 AGG zu nennen, der den persönlichen Geltungsbereich des Gesetzes auf Beamte, Richter und Zivildienstleistende erstreckt. Der Gesetzgeber war anscheinend der Meinung, mit Hilfe dieser simplen Verweisung habe er seine Pflicht erfüllt; alle wesentlichen Probleme, wie beispielsweise alle Altersdiskriminierungen im Beamtenrecht16, bleiben ungelöst. Da das Gesetz – schlechtem EG-Vorbild folgend – keine Gesetzesadressaten kennt (Ausnahme § 12: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet ….“), sondern nur vom Himmel gefallene Ergebnisse (§ 7 Abs. 1 „Beschäftigte dürfen nicht … benachteiligt werden“, § 19 Abs. 1 „Eine Benachteiligung …. ist unzulässig“), sucht man den allgemeinen persönlichen Anwendungsbereich im Gesetz vergebens. b) Was den persönlichen Geltungsbereich angeht, ist das Gesetz im Hinblick auf Arbeitnehmer und Selbständige geradezu konfus. Es gibt im Zivilrecht abhängig Beschäftigte (für diese gilt Arbeitsrecht) und Selbständige (für diese gilt ___________ 15 Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, 8. Aufl. 1989, S. 99 ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 11. Aufl. 1999, § 27 Rn. 1 ff. 16 S. zu Gleichbehandlungsrecht und öffentlichem Recht Rudolf in: Rudolf/Mahlmann, Gleichbehandlungsrecht, 2007, Kap. 6, insbes. Rn. 41.

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Selbständigenrecht, wie u.a. Dienstvertragsrecht und Werkvertragsrecht).17 Innerhalb der Gruppe der Selbständigen wird unterschieden zwischen unabhängigen Selbständigen und Arbeitnehmerähnlichen18. In manchen Gesetzen wird angeordnet, dass für Arbeitnehmer geltende Vorschriften auf Arbeitnehmerähnliche entsprechend anzuwenden sind19. Teilweise hat der Gesetzgeber Arbeitnehmer und Arbeitnehmerähnliche unter dem Oberbegriff des „Beschäftigten“ zusammengefasst, so auch in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG. Dem AGG ist es vorbehalten, sowohl „Selbständige“ in § 6 Abs. 3 AGG aufzuführen als auch Arbeitnehmerähnliche in § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AGG. Das ist so, als ob man sagen würde: „Kühe und braune Kühe“. Allerdings gilt das Gesetz für Selbständige nur bezüglich „Zugang zur Erwerbstätigkeit und beruflichen Aufstieg“. Im Übrigen enthält die Vorschrift aber keine Einschränkung. Während § 19 AGG, die allgemeine Vorschrift für die Vertragsschlüsse von Selbständigen, immerhin ein Massengeschäft als Voraussetzung fordert, gilt das AGG scheinbar für jeden Vertrag, den ein Selbständiger schließt, sofern es sich nur um seinen „Zugang“ zur Erwerbstätigkeit handelt20. Wenn sich also ein Handwerksgeselle selbständig macht und nunmehr als Handwerksmeister seine Dienste im Stadtviertel anbietet (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG), unterliegt anscheinend jeder Besteller, der diese Dienste zu Gunsten eines anderen ablehnt, einem potentiellen Anspruch nach § 15 AGG. Die Vorschrift ist so wenig durchdacht, dass auch die Kommentarliteratur damit ihre Probleme hat. Teilweise wird allerdings vertreten, das AGG gelte tatsächlich für alle Dienstverträge.21 Das kann unmöglich richtig sein und wird auch vom EG-Recht nicht gefordert. Teilweise wird gesagt, § 6 Abs. 3 beziehe sich auf „freie Mitarbeiter, wirtschaftlich abhängige Selbständige und Franchisenehmer“.22 Das ist unzutreffend, weil es sich bei den Genannten um Arbeitnehmerähnliche handelt, die bereits von Abs. 1 erfasst werden. Das richtige Ergebnis erschließt sich keineswegs durch den Wortlaut, sondern nur durch eine sinnvolle Auslegung. Danach können der einzelne Dienst___________ 17 Wank, Arbeitnehmer und Selbständige, 1988, S. 82 zum dualen Modell der Erwerbstätigkeit. 18 Die hier in der Literatur genannten „freien Mitarbeiter“ (Bauer/Göpfert/Krieger, § 2 AGG, Rn. 16) stellen keine juristische Kategorie dar. 19 S. zum Ganzen Wank in: Wiedemann, TVG, 7. Aufl. 2007, § 12 a Rn. 4 ff. 20 Däubler/Bertzbach, § 2 AGG, Rn. 25 umgeht das Problem, indem er nur auf staatliche Prüfungen abstellt. 21 Meinel/Heyn/Herms, AGG, 2007, § 2 Rn. 9: „Erfasst sind …. unternehmerische Tätigkeiten sowie aufgrund der extensiven Auslegung – auch nur einmalige – weisungsunabhängige Dienstverhältnisse“. 22 Adomeit/Mohr, § 6 AGG, Rn. 29.

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vertrag oder Werkvertrag nicht gemeint sein. Gemeint sein können nur solche Verträge, die die Rahmenbedingung für die Berufsausübung als Selbständiger bieten, beispielsweise der Abschluss eines Franchisevertrages.23

c) Zum sachlichen Geltungsbereich findet sich eine Regelung in § 2 AGG. Wenn man genauer hinsieht, geht es um Arbeitsrecht (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 3), um Verbänderecht (§ 2 Abs. 1 Nr. 4), um Sozialrecht und Arbeitsrecht (§ 2 Abs. 1 Nr. 5 und 6), um Bildungsrecht (§ 2 Abs. 1 Nr. 7) und schließlich um allgemeines Zivilrecht (§ 2 Abs. 1 Nr. 8).24 Der Gesetzgeber hat die zugrunde liegenden EG-Richtlinien korrekt abgeschrieben. Aber die Arbeitsteilung zwischen der EG und einem nationalen Gesetzgeber sollte so aussehen, dass eine Richtlinie nicht abgeschrieben, sondern in das nationale System übersetzt wird. M.a.W. eine Richtlinie ist nicht selber Gesetz, sondern enthält nur Handlungsanweisungen für den nationalen Gesetzgeber. Der deutsche Gesetzgeber hätte, statt ein Sammelsurium in § 2 AGG anzubieten, konkret bei den einschlägig betroffenen Gesetzen tätig werden müssen. Zudem hat der Gesetzgeber gemeint, wenn er nur die Anwendungsbereiche zweier Richtlinien zusammenfasst (RL 2000/43/EG und RL 2000/78/EG), habe er seine Pflicht erfüllt. Jedoch hatte sich der EG-Gesetzgeber bei den unterschiedlichen Geltungsbereichen durchaus etwas gedacht; nämlich mehr Schutz gegen Rassendiskriminierung als in anderen Fällen. Die überschießende deutsche Regelung führt nur zu Verwirrungen.25 Weder in § 2 noch in § 19 AGG wird im Übrigen nach Anwendungsbereich und inhaltlichen Bestimmungen unterschieden.26 Wie wenig der Gesetzgeber seiner Aufgabe nachgekommen ist, wird beispielsweise deutlich, wenn man fragt, welche der in § 2 Abs. 1 AGG genannten Nummern für das Privatrecht und welche für das öffentliche Recht gelten,27 welche davon nur Arbeitnehmer betreffen und welche auch Selbständige. Dass der Allgemeine Teil mit dem Besonderen Teil schlecht abgestimmt ist, zeigt sich schon im Gesetz selbst. § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG betrifft das allgemeine Zivilrecht. Definiert wird der Geltungsbereich als „Zugang zu und Versorgung ___________ 23

So zutr. Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 94; Bauer/Göpfert/Krieger, § 2 AGG, Rn. 16 „Selbständige, Berater“. 24 Vgl. Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 3. 25 Preis, ZESAR 2007, 249, 254. 26 Bauer/Göpfert/Krieger, § 2 AGG, Rn. 2. 27 Die Frage ist denn auch im Schrifttum umstritten, s. z.B. zu § 2 Abs. 1 Nr. 7 AGG betr. Bildung Bauer/Göpfert/Krieger, § 2 AGG, Rn. 39 (staatlich oder privat) einerseits; Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 119; Däubler/Bertzbach-Franke, § 2 AGG, Rn. 49 ff. (privat) andererseits.

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mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum“. Scheint es so, als ob „der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“ das maßgebliche Abgrenzungskriterium für den sachlichen Geltungsbereich im allgemeinen Zivilrecht ist, so belehrt uns § 19, dass man zwischen Massengeschäften, Quasi-Massengeschäften und dem besonderen Nähe- und Vertrauensverhältnis unterscheiden muss – ganz abgesehen von den Sondervorschriften für Vermietung (§ 19 Abs. 3) und für die privatrechtliche Versicherung (§§ 19 Abs. 1 Nr. 2, 20 Abs. 2). Die Lösung besteht darin, dass innerhalb des allgemeinen Zivilrechts zwei Bereiche zu unterscheiden sind: bezüglich Rasse und ethnische Herkunft sollen Benachteiligungen weitergehend verboten sein; es reicht, wenn die Güter und Dienstleistungen „der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“. Für die anderen sechs Merkmale des § 1 AGG muss hinzukommen, dass es sich um Massengeschäfte handelt.28 Diese Aufspaltung derselben Sachfrage auf zwei Paragrafen (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 und § 19 AGG) ohne jeden Verweis ist gesetzgebungstechnisch sicher nicht geglückt.29

4. Tatbestand und Rechtsfolge Schon als junger Jurist lernt man, dass man Gesetze gedanklich in Tatbestand und Rechtsfolge auflösen muss; dass es einen Kernrechtssatz gibt, der alles Wesentliche aussagt, und dass dieser durch ergänzende Rechtssätze und Legaldefinitionen ausgefüllt wird.30 Eine Reihe von Gesetzen zeigt allerdings, dass man es als Gesetzgeber auch schlechter machen kann. Suchen wir nun im AGG nach Tatbestand und Rechtsfolge. Da das Gesetz die beiden besonderen Teile „Arbeitsrecht“ und „Allgemeiner Zivilrechtsverkehr“ aufweist, sollte es jeweils den entsprechenden klaren Rechtssatz geben. Danach sucht man allerdings vergebens.31

a) § 7 Abs. 1 AGG enthält immerhin eine gewisse Art von Tatbestand. Beschäftigte (ausgefüllt durch § 6 AGG) dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden (ausgefüllt durch § 3 AGG). Natürlich ist der Satz in dieser Form von vornherein falsch. Benachteiligungen sind durchaus erlaubt, wenn sie gerechtfertigt sind. Es hätte also zumindest heißen müssen „ungerechtfertigt benachteiligt werden“, wobei ein Hinweis auf die §§ 3 Abs. 2, 5, ___________ 28

Zum Ganzen Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 126. S. zur Entstehungsgeschichte Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 126. 30 Olzen/Wank, Zivilrechtliche Klausurenlehre, 5. Aufl. 2007, S. 55 ff.; Wank, Auslegung, S. 27. 31 Bauer/Göpfert/Krieger, § 1 AGG, Rn. 1 (zu § 1); Preis, ZESAR 2007, 255. 29

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8, 9, 10 AGG möglich gewesen wäre. Aber auch dann verrät die Vorschrift nicht, durch wen denn nun die Benachteiligung nicht erfolgen soll; durch den lieben Gott, durch Behörden, durch Kollegen? Da es sich um den Besonderen Teil, Arbeitsrecht, handelt, liegt die Vermutung nahe, dass Adressat dieses Abschnitts der Arbeitgeber ist. Und siehe da, schon sechs Paragrafen später, in § 12, wird der Arbeitgeber als Adressat von Verpflichtungen genannt. In einem weiteren Paragrafen, nämlich in § 13 Abs. 1 AGG, erfahren wir dann, dass auch andere Beschäftigte als Verbotsadressaten in Betracht kommen. Bei guter Gesetzgebungstechnik könnte der Tatbestand also etwa lauten: „Arbeitgeber und andere Beschäftigte dürfen Beschäftigte nicht wegen eines Grundes nach § 1 ungerechtfertigt benachteiligen“; soweit zum Tatbestand.

b) Eine Rechtsfolge bietet § 7 Abs. 2 AGG an. Wie unten (5. b)) näher ausgeführt, werden zu Unrecht nur Vereinbarungen genannt. Richtig hätte es in Absatz 2 heißen müssen: „Maßnahmen oder Vereinbarungen“. Dass im Folgenden noch eine ganze Reihe von Rechtsfolgen genannt wird, insbesondere in §§ 13 – 16, ist gesetzgebungstechnisch in Ordnung. Störend ist allerdings, dass zwar in § 12 AGG von „Maßnahmen und Pflichten des Arbeitgebers“ die Rede ist, während der Unterabschnitt 3 nur die „Rechte der Beschäftigten“ nennt. Nur in § 7 Abs. 3 AGG werden – und das auch nur nebenbei – Beschäftigte als Adressaten des Verbots genannt. Auch befremdet bei der Aufzählung der Rechte der Beschäftigten, dass der Erfüllungsanspruch, der eigentlich am Anfang stehen müsste, erstmals in § 15 Abs. 6 AGG erwähnt wird. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass abgesehen vom Einstellungsanspruch und vom Anspruch auf beruflichen Aufstieg durchaus ein Erfüllungsanspruch bestehen kann. Etwas irritierend wirkt auch, dass der Unterlassungsanspruch und der Beseitigungsanspruch, die eigentlich selbstverständlich sind, in der Aufzählung der Rechte der Beschäftigten fehlen.

5. Legaldefinitionen

a) Guter gesetzgeberischer Übung entspricht es auch, Legaldefinitionen an den Anfang zu stellen.32 Wie eine korrekte Definition auszusehen hat, lesen wir bereits bei Aristoteles33. Das Verfahren ist einfach: Es gibt einen Oberbegriff und zwei (oder mehr) Unterbegriffe. Die Unterbegriffe haben etwas Gemeinsames, was durch den Oberbegriff ausgedrückt wird, und ein Unterscheidendes (tertium comparationis), was sie zu den Unterbegriffen macht. Hätten die Gesetzesverfasser (und zuvor der EuGH und die EG-Richtlinienverfasser) bei Ari___________ 32

Zu Legaldefinitionen Wank, Auslegung, S. 28 ff. Aristoteles, Zweite Analytik; ders., Topik; dazu Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 51 ff. 33

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stoteles nachgesehen, wäre uns die Karikatur einer Legaldefinition wie die in § 3 Abs. 1 und 2 AGG erspart geblieben. Es geht um den Oberbegriff „Benachteiligung“ und um die Unterbegriffe „unmittelbare Benachteiligung“ und „mittelbare Benachteiligung“. Folgt man dem, was Aristoteles angelegt hat und was bis heute gilt, dann müsste man in § 3 Abs. 1 AGG das Spezifikum (die differentia specifica34) zur unmittelbaren Benachteiligung und in Abs. 2 das Spezifikum zur mittelbaren Benachteiligung finden, also genau das, was den Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung ausmacht. Davon kann nicht die Rede sein. § 3 Abs. 1 AGG erläutert zwar, was eine Benachteiligung ist, nicht aber worin sich gerade eine unmittelbare Benachteiligung ausdrückt. § 3 Abs. 2 AGG spricht ebenfalls eine besondere Form der Benachteiligung an, erfüllt aber nicht seine eigentliche Aufgabe, die mittelbare Benachteiligung im Gegensatz zur unmittelbaren Benachteiligung zu charakterisieren. Wir haben es mit einer „ignorantia elenchi“ zu tun, einer Unkenntnis dessen, was eigentlich ansteht.35 Falsch ist es auch, von dem „Anschein nach neutralen Vorschriften“ zu sprechen, als ob es hier um eine Frage des Betrugs ginge (klarer Fall einer „Metabasis eis allo genos“, also vom Abschweifen durch Kategorienverwechselung36). Folgt man Aristoteles, so könnte § 3 etwa wie folgt lauten: „Eine Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstigere Behandlung erfährt als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn die benachteiligenden Merkmale unmittelbar an eines der in § 1 AGG genannten Merkmale anknüpfen. Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn die benachteiligende Maßnahme nicht selbst an eines der § 1 AGG genannten Merkmale anknüpft, sondern an ein anderes Merkmal, sofern zwischen diesem anderen Merkmal und dem in § 1 AGG genannten Merkmal ein innerer Zusammenhang besteht.“

Die ganz entscheidende Feststellung, dass von einer mittelbaren Benachteiligung nur dann die Rede sein kann, wenn zwischen dem Nachteil und einem Arbeitgeberverhalten ein Zurechnungszusammenhang besteht,37 wird nicht einmal erwähnt. Angesichts der konfusen Definition zur Abgrenzung von unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung, wie sie sich beim EuGH, in den EG-Richtlinien und in § 3 Abs. 1 und 2 AGG findet, bleibt es nicht aus, dass auch innerhalb der ___________ 34

Dazu Schneider/Schnapp, Logik, S. 37 ff., 46. Schneider/Schnapp, Logik, S. 210 ff. 36 Schneider/Schnapp, Logik, S. 217 ff.; Wank, Begriffsbildung, S. 141 ff. 37 Adomeit/Mohr § 3 AGG, Rn. 99; Däubler/Bertzbach, § 1 AGG, Rn. 20; Wank, Beilage zu NZA Heft 22/2004, 21. 35

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Rechtsprechung des EuGH und innerhalb der deutschen Autorenschaft bis zum heutigen Tag keine klare Abgrenzung zwischen den beiden Merkmalen gelungen ist38. So findet sich in der Literatur der Begriff der „verdeckten Diskriminierung“ – zusätzlich zur unmittelbaren und zur mittelbaren Diskriminierung –, den niemand richtig zu umschreiben weiß.39 Es handelt sich meist um den Versuch, Fälle einer mittelbaren Benachteiligung durch Begriffsvertauschung40 zu Fällen von unmittelbarer Benachteiligung zu machen. Der Fehlschluss lautet: –

Für unmittelbare Diskriminierungen gilt der Rechtfertigungsgrund des § 3 Abs. 2 AGG nicht.



Eine verdeckte Diskriminierung, d.h. eine Diskriminierung, die nicht unmittelbar an ein verpöntes Merkmal anknüpft, aber verdeckt doch, ist eine unmittelbare Diskriminierung.



Für verdeckte Diskriminierungen gilt § 3 Abs. 2 AGG nicht.

b) Wenn es schon um Begriffe geht, die für ein ganzes Gesetz von Bedeutung sind, ist es nicht verkehrt, sie vor die Klammer zu ziehen.41 In diesem Gesetz geht es um Maßnahmen jeder Art. Eine den Spielregeln gehorchende Legaldefinition für das AGG könnte etwa so aussehen: „Maßnahmen im Sinne dieses Gesetzes sind Realakte, einseitige Rechtsgeschäfte und Vereinbarungen.“ oder einfacher: „Rechtsgeschäfte und andere Handlungen“.42

Während § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG von Vereinbarungen und Maßnahmen spricht, kommen in § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG Maßnahmen gar nicht vor. Bei schulmäßiger Auslegung müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass die Einstellungsentscheidung des Arbeitgebers als Maßnahme gar nicht vom Geltungsbereich und daher vom Diskriminierungsverbot erfasst wird.43 Die Literatur behilft sich im Wege wohlwollender Auslegung dadurch, dass sie in Abs. 1 den Abs. 2 hineinliest. Immerhin sei dieser Aufbau „gesetzessystematisch unglücklich“44. ___________ 38 Vgl. EuGH 30.4.1996 Rs. C 13/94 = NZA 1996, 695 – P/S (zu Transsexuellen); dazu krit. Wank, FS Richardi, 2007, S. 441, 454 ff.; ders., Beilage zu NZA Heft 22/2004, 20; Wendeling-Schröder, FS Schwerdtner, 2003, S. 269, 276; ferner Adomeit/Mohr, § 3 AGG, Rn. 10; richtig ErfK-Wißmannn, Art. 141 EGV Rn. 16 f. 39 S. als Beispiel Däubler/Bertzbach-Schrader/Schubert, § 3 AGG, Rn. 31 – 34, die vier verschiedene Begriffsverständnisse nebeneinander stellen. 40 Quaternio terminorum; dazu Schneider/Schnapp, Logik, § 43; Wank, Begriffsbildung, S. 70. 41 Schneider/Schnapp, Logik, S. 84. 42 S. zu den Grundbegriffen Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 75. 43 Dazu Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 13. 44 Bauer/Göpfert/Krieger, § 2 AGG, Rn. 19.

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In §§ 1 bis 5 AGG sucht man erfolglos nach einer Handlung, die unzulässig sein soll. Genannt werden immer nur Ergebnisse, nämlich Benachteiligungen, die offenbar vom Himmel fallen, aber nicht durch irgendwelche Personen und irgendwelche Handlungen erfolgen. Auch § 7, Benachteiligungsverbot, nennt immer noch keinen Akteur. Immerhin besagt § 7 Abs. 2: „Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 verstoßen, sind unwirksam.“ Folgt man den üblichen Auslegungsregeln, so ist damit klar: nur diskriminierende Vereinbarungen sind unwirksam, einseitige Maßnahmen, wie etwa eine Weisung des Arbeitgebers (§ 106 GewO), dürfen ohne weiteres diskriminieren. Denn wenn es zwei juristische Fachausdrücke („Vereinbarung“, „Maßnahme“) gibt und der Gesetzgeber nur eine wählt, ist im Umkehrschluss zu folgern, dass er den anderen ausschließen will. Das Ergebnis wird durch die systematische Auslegung scheinbar bestätigt. Dem Gesetzgeber ist nämlich der Unterschied zwischen Maßnahmen und Vereinbarungen bekannt. Nach § 12 Abs. 1 AGG ist der Arbeitgeber umfassend verpflichtet, „die erforderlichen Maßnahmen … zu treffen“. Es bleibt somit nur der Umkehrschluss45: Von der Unwirksamkeitsfolge sind nur Vereinbarungen betroffen, nicht aber einseitige Maßnahmen. Hier hilft nur das „argumentum ad absurdum“46: Das kann doch nicht wahr sein! Es handelt sich nicht um den einzigen Fall, in dem ein Umkehrschluss eigentlich nahe liegt, aber nicht gewollt ist. In § 4 AGG wird, wenn die Benachteiligung aus mehreren Gründen erfolgt, verlangt, dass alle Benachteiligungen nach §§ 8 bis 10 und 20 gerechtfertigt sind. Der Rechtfertigungsgrund aus § 5 AGG wird nicht genannt. Heißt das im Umkehrschluss, dass eine Fördermaßnahme neben einem anderen Motiv keinen Rechtfertigungsgrund bietet? Natürlich gilt auch dieser Rechtfertigungsgrund, auch wenn er in dieser Aufzählung nicht genannt wird.47 Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG müssen „kollektivrechtliche Vereinbarungen“ in Bezug auf die „Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen“ am AGG gemessen werden. In § 2 Abs. 2 Nr. 1 dagegen werden kollektivrechtliche Vereinbarungen nicht genannt. Der Umkehrschluss ergibt: Tarifrechtliche Regelungen über die Einstellung von Arbeitnehmern dürfen ohne weiteres diskriminieren. Natürlich ist das nicht gemeint, wie auch die Gesetzesbegründung verrät.48 ___________ 45 S. zum Umkehrschluss allgemein Schneider/Schnapp, Logik, S. 102 ff., 155 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, Rn. 899 ff.; Wank, Auslegung, S. 125 f. 46 Schneider/Schnapp, Logik, S. 182 ff. 47 Beschönigend sprechen Bauer/Göpfert/Krieger, § 4 AGG, Rn. 4 und Meinel/Heyn/Herms, § 4 AGG, Rn. 4 von einem Redaktionsversehen. 48 BT-Drucks. 16/1780, 38; wohlwollende Auslegung bei Wulfers/Hecht, ZTR 2007, 475, 476.

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c) Einen Umkehrschluss könnte man ohne weiteres zugrunde legen, wenn wir es mit einem Qualitätsgesetz zu tun hätten. Das ist aber, wie bereits aus dem Vorigen deutlich geworden sein dürfte, nicht der Fall49, sondern wir haben es mit einem B-Gesetz zu tun. Diese Kategorie ist, zugegebenermaßen, in der Methodenlehre bisher unbekannt50. Deshalb hier die Erläuterung. In der Zeit, als es noch Schallplatten gab, hatten diese immer eine A-Seite und eine B-Seite. Der Song auf der A-Seite war derjenige, der verkauft werden sollte. Als Käufer musste man aber die qualitativ schlechtere B-Seite mit kaufen. Man konnte also bei Schallplatten die beiden Qualitätsstufen A und B deutlich auseinander halten. Eine entsprechende Abstufung empfiehlt sich auch im Hinblick auf Gesetze. Daraus ergeben sich Folgerungen für die Methodenlehre. Die Methodenlehren gehen davon aus, dass es sich jeweils um ein Qualitätsgesetz der A-Stufe handelt.51 Wenn ein bestimmtes Wort verwandt wird, so wird vermutet, dass sich der Gesetzgeber dabei etwas gedacht hat und dass, wenn er dieses Wort im Gegensatz zu einem anderen verwandt hat, daraus ein Umkehrschluss abzuleiten ist. Für A-Gesetze wie das BGB in seiner ursprünglichen Fasung, das auf eine lange Zeit der Vorarbeit und den Einsatz geistig führender Kräfte zurückblicken konnte, ist eine derartige Vermutung berechtigt. Selbst bei A-Gesetzen gelingt es Juristen allerdings, sich vom Gesetz freizumachen. Wenn die Methodenlehrer (und ihnen gerne folgend Rechtsprechung und Rechtsdogmatik) gegen ein Gesetz argumentieren wollen und ihre eigene Meinung an die Stelle des Gesetzes einbringen wollen, so gelingt ihnen das mit Hilfe des Kunstgriffs der sog. objektiven Auslegung. Die objektive Auslegung heißt objektive Auslegung, weil sie den subjektiven Gesetzgeberwillen, der klar erkennbar ist, beiseite schiebt und sich die Gesetzesinterpretation nach der subjektiven Ansicht des Interpreten richtet.52 Um ihren Trick zu verbergen, führen die Vertreter der sog. objektiven Theorie (die ganz herrschend ist) den Gedanken des „Alterns der Kodifikationen“53 ins Feld. Zunächst fühlt man sich noch an den Willen des Gesetzgebers gebun___________ 49 S. auch Preis, ZESAR 2007, 249, 253: „Ferner reiht sich ein rechtstechnischer Mangel an den nächsten, der die Handhabung des Anti-Diskriminierungsrechts zum juristischen Abenteuer macht.“ 50 Vgl. aber schon F.C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Berlin 1840, Bd. I, S. 222 ff. Er unterscheidet für die Methodenlehre zwischen Gesetzen „in einem gesunden Zustand“ und solchen „in einem mangelhaften Zustand“. 51 Vgl. auch Bauer/Göpfert/Krieger, AGG, Einl., Rn. 64: „Im Übrigen gelten für die Auslegung des AGG die allgemein anerkannten Auslegungsgrundsätze“. 52 Krit. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 797, 806 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 59 ff. 53 BVerfGE 34, 269, 288; dagegen Wank, Auslegung, S. 45 ff.

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den. Aber im Laufe der Zeit ist man gegenüber dem erkannten Gesetzgeberwillen immer freier. Immerhin wären danach auch Objektivisten bei einem gerade erlassenen Gesetz an den Willen des Gesetzgebers gebunden. Das Besondere an B-Gesetzen ist, dass man schon bei ihrem Erscheinen nicht sagen kann, was der Gesetzgeber eigentlich gesagt und was er eigentlich gewollt hat und deshalb ab ovo genötigt ist, eine distanzierte Haltung gegenüber dem Gesetzgeber einzunehmen. Dementsprechend ist es auch verfehlt, Vorschriften wie §§ 2 Abs. 4, 3 Abs. 1 und 2, 7 Abs. 2 AGG in methodischer Hinsicht den allgemeinen methodischen Regeln zu unterwerfen. Niemand hält im Ergebnis den Umkehrschluss aus § 7 Abs. 2 AGG für berechtigt. Vielmehr wird allgemein anerkannt, dass § 7 Abs. 1 AGG i.V.m. § 134 BGB insgesamt zur Nichtigkeit von Maßnahmen und Vereinbarungen führt, und dass § 7 Abs. 2 AGG insoweit nur klarstellenden Charakter habe.54 Die Kennzeichnung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes als BGesetz mag als unfair erscheinen. Wie allerdings eine maßgeblich am Gesetz beteiligte Referentin ausgeführt hat, handelt es sich um ein „lernendes Gesetz“. D.h. übersetzt „Durch Schaden wird man klug“ oder „Schaun wir mal“. Der Gesetzgeber selbst hat sich also der B-Klasse zugeordnet.55 „Gesetze sind daher insgesamt, ob wir es mögen oder nicht, in gewissem Sinne experimentell …“.56

6. Ungenaue Formulierungen „Die Forderung nach eindeutigen und genau bestimmten Gesetzen, die möglichst keine Zweifel über das vom Gesetzgeber Gewollte offen lassen, durchzieht die gesamte Geschichte der Gesetzgebungstheorie der Neuzeit.“57

a) Während man im Sozialversicherungsrecht allgemein den abhängig Beschäftigten als „Beschäftigten“ bezeichnet (§ 7 SGB IV), wird dieselbe Person im Arbeitsrecht überwiegend als Arbeitnehmer bezeichnet, in manchen Gesetzen wird hingegen der Begriff des „Beschäftigten“ im Arbeitsrecht verwandt; er umfasst weitere Gruppen von abhängig Beschäftigten wie z.B. Arbeitneh___________ 54

Schleusener in: Schleusener/Suckow/Voigt, AGG, § 7, Rn. 32 hält die Regelung „im Hinblick auf das Gebot einer transparenten Umsetzung europarechtlicher Normen“ für „sinnvoll“! 55 S. auch Preis, ZESAR 2007, 249 ff., 308 ff.; Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, Rn. 20 (allerdings zu einer Vorläuferfassung des jetzigen Gesetzes). 56 Beutel, Frederick K., Some Potentialities of Experimental Jurisprudence as a New Branch of Social Science, 1957, S. 45. 57 Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, 2004, S. 354.

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merähnliche oder Beamte. Man kann daher im Arbeitsrecht entweder von Arbeitsbedingungen oder von Beschäftigungsbedingungen sprechen. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG spricht von „Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger Erwerbstätigkeit“, nennt aber daneben ausdrücklich auch „Bedingungen für den Zugang zu selbständiger Erwerbstätigkeit“. Da das Gesetz selbst in § 6 nicht den Arbeitnehmer, sondern den Beschäftigten als Adressaten nennt, würde sich anbieten, zu unterscheiden zwischen „Beschäftigungsbedingungen (oder auch Arbeitsbedingungen) für Beschäftigte“ und „Beschäftigungsbedingungen für Selbständige“. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG spricht demgegenüber – ohne, wie Nr. 1, zwischen selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit zu trennen – von „Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen“. Das ist in jedem Fall verfehlt.58 Sollte die Vorschrift die Bedingungen von Beschäftigten i.S. von § 6 meinen, dann durfte nur der Ausdruck „Beschäftigungsbedingungen“ verwandt werden. Der Begriff Arbeitsbedingungen ist dann überflüssig, weil der Arbeitnehmer im Oberbegriff des Beschäftigten enthalten ist. Die Gesetzestechnik ist so, als würde man formulieren „Pferde“ und „Schimmel“ (s. o. 3. b)). Gemeint sein könnten aber mit Beschäftigungsbedingungen auch Beschäftigungsbedingungen von Selbständigen. Im Wege der wohlwollenden Auslegung, die dem Gesetz wegen seines Charakters als B-Gesetz zuteil wird, wird entgegen dem verfehlten Wortlaut Nr. 2 dahingehend interpretiert, dass sie nur Beschäftigte i.S. von Arbeitnehmern meint.

b) In § 2 Abs. 1 Nr. 1 ist die Rede von „Bedingungen für den beruflichen Aufstieg“, in Nr. 2 von „Bedingungen beim beruflichen Aufstieg“. Manche Autoren meinen, die unterschiedliche Wortwahl hätte etwas zu bedeuten59. Das ist des Guten zu viel interpretiert; wie auch sonst, hat sich der Gesetzgeber wieder einmal nichts dabei gedacht. c) Zu § 15 Abs. 3 AGG kann auf die treffende Formulierung von Wiedemann verwiesen werden, wie sie dem Text als Motto voransteht. Entgegen dem Wortlaut soll sich das Verschulden des Arbeitgebers nicht auf den Vollzug eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung beziehen, sondern auf die Kenntnis von deren Rechtswidrigkeit. Es bleibt offen, ob das Gesetz wirklich meint, dass sich die Aussage auf die „Entschädigung“ beschränkt (also auf den immateriellen Schaden)60 oder ob es sich auch auf den Schadensersatz (materieller Schaden, vgl. § 15 Abs. 1 und 2 AGG) beziehen soll.61 ___________ 58

Wohlwollende Auslegung dagegen bei Däubler/Bertzbach, § 2 AGG, Rn. 32. Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 95. 60 So Däubler/Bertzbach-Deinert, § 15 AGG, Rn. 92. 61 So zutr. Annuß, BB 2006, 1629, 1635; Bauer/Evers, NZA 2006, 893, 897. 59

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Da es für die Unterscheidung keinerlei Grund gibt, gilt auch hier, dass das Gesetz „hü“ sagt und „hott“ meint.

7. Wortklauberei

a) Ein schönes Beispiel dafür, wie man es bei der Formulierung eines Gesetzes nicht machen sollte, findet sich in § 9 EStG. Die Vorschrift unterscheidet wie folgt: –

„Sind Werbungskosten“ (§ 9 Abs. 1 Satz 1),



„sind auch Werbungskosten“ (§ 9 Abs. 1 Satz 3),



„wie Werbungskosten“ ( § 9 Abs. 1 Satz 3) und



„keine Werbungskosten“ (§ 9 Abs. 3 Satz 1).

§ 4 f EStG nennt die erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten „Wie“Betriebsausgaben, obwohl sie echte Betriebsausgaben sind.62

b) Wer § 1 AGG aufmerksam liest, wird feststellen, dass unter den acht „verpönten Merkmalen“ unterschieden wird. Benachteiligungen „aus Gründen der Rasse“ sollen verhindert oder beseitigt werden; bezüglich der anderen Gründe heißt es „wegen“ der Herkunft usw. Der Gesetzgeber hat sich dabei etwas gedacht. Er meint – wie auch der EG-Gesetzgeber – es gäbe keine unterschiedlichen menschlichen Rassen (nebenbei gesagt: Ist es etwas Schlimmes, wenn man die Existenz menschlicher Rassen bejaht, aber damit keinerlei Wertung verbindet?). Bei „wegen“, so der Gesetzgeber63, könnte man meinen, der Gesetzgeber selbst meine, es gäbe Rassen. Bei der Formulierung „aus Gründen“ würde man diese Fehlvorstellung dem Gesetzgeber nicht anlasten. Wer – außer denjenigen, die die amtliche Begründung oder einen AGGKommentar gelesen haben – wird angesichts der unterschiedlichen Fassung darauf kommen? Im Übrigen ist die Definition auch überflüssig. Nach § 7 Abs. 1 AGG liegt eine unzulässige Benachteiligung auch vor, „wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.“ (Wie nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, steht diese Aussage systematisch an falscher Stelle. Denn sie bezieht sich natürlich nicht nur auf den Abschnitt 2 bezüglich Arbeitsrecht, sondern in gleicher Weise auf den Abschnitt 3 bezüglich „allgemeiner Zivilrechtsverkehr“, so dass sie in den Allgemeinen Teil (Abschnitt 1) gehört hätte.) Wenn es darum ___________ 62 63

Alles zitiert nach Tipke, BB 2007, 1525, 1531. BT-Drucks. 16/1780, S. 31.

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geht, mit welcher Motivation jemand handelt, dann ist allein dessen subjektive Vorstellung, evtl. auch eine Fehlvorstellung, maßgebend. Allerdings hat der Gesetzgeber seine tief schürfenden Überlegungen, die er zu § 1 angestellt hatte (Abgrenzung zwischen „aus Gründen“ und „wegen“) in § 7 AGG bereits wieder vergessen. Dort heißt es bezüglich aller Gründe, also auch bezüglich der Rasse, schlicht „wegen“. Meint der Gesetzgeber in § 7 damit, dass es doch menschliche Rassen gibt?

8. Aufhebung einer bestehenden guten Regelung Wenn man eine bereits geregelte Materie aufgrund europarechtlicher Erfordernisse neu regelt, sollte man tunlichst Bewährtes bestehen lassen. Im früheren Recht enthielt § 612 Abs. 3 BGB eine klare Vorschrift betreffend Lohndiskriminierung wegen des Geschlechts. Die EG-Gesetzgebung und -Rechtsprechung waren zutreffend umgesetzt, indem auf „gleiche oder gleichwertige Arbeit“ Bezug genommen wurde. Im AGG sucht man umsonst eine vergleichbare klare Aussage64 – und das obwohl die zugrunde liegende EG-Vorschrift in Art. 119 EGV (nunmehr Art. 141 EGV) am Anfang des EG-Antidiskriminierungsrechts stand65. Nunmehr muss man sich – nach Meinung der amtlichen Begründung – denselben Rechtssatz aus §§ 7, 1, 2 Abs. 1 Nr. 2 und 8 Abs. 2 AGG selbst zusammensuchen.66 Der Gesetzgeber folgt einer Modeerscheinung, die eigentliche Frage nicht zu regeln, sondern nur eine Randfrage, und es dem Interpreten zu überlassen, daraus Rückschlüsse für die eigentliche Frage zu ziehen. So ist der Gesetzgeber bei der Schuldrechtsreform im Hinblick auf einige der von ihm zu lösenden arbeitsrechtlichen Frage verfahren. Regelungsbedürftig war u.a. die Frage der Haftungsbeschränkung im Hinblick auf Schäden, die Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern zufügen. Sie war bisher nur durch das richterrechtlich entwickelte Institut des innerbetrieblichen Schadensausgleichs erfasst.67 Diese Frage selbst hat der Gesetzgeber nicht geregelt, sondern in § 619 a BGB nur die Frage der Beweislast für solche Fälle. Der Gesetzgeber meinte im Übrigen, die Lösung ergäbe sich aus § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Vorschrift besagt jedoch nur, dass sich eine mildere Haftung ___________ 64

Schöngeredet bei Schleusener/Suckow/Voigt, § 8 AGG, Rn. 45. Wank in: Hanau/Steinmeyer/Wank, Deutsches und europäisches Arbeitsrecht, 2002, § 16 Rn. 1 ff. 66 Dazu Preis, ZESAR 2007, 249, 255; ebenso LAG Hamm, NZA-RR 2007, 81. 67 BAG AP BGB § 611 Haftung des Arbeitnehmers Nr. 103. 65

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„aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses“ ergeben kann. Was das konkret für Arbeitsverhältnisse bedeutet, ergibt sich daraus nicht. Den Vogel schießt in diesem Zusammenhang Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG ab: Wenn der Feind in Deutschland einmarschiert, sind Streiks zulässig und verfassungsrechtlich geschützt. Ob Streiks auch in Friedenszeiten verfassungsrechtlichen Schutz nach dieser Vorschrift genießen, soll sich dagegen aus dieser Vorschrift – nach h.M.68 – nicht ergeben; der erst-recht-Schluss69 scheint nicht allgemein bekannt zu sein.70

9. Konkurrenzen Ein weiteres Beispiel dafür, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht erfüllt hat, stellen § 2 Abs. 2 AGG und § 2 Abs. 4 AGG dar.

a) Nach § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG gilt für die betriebliche Altersversorgung das Betriebsrentengesetz. Da sich in dem Gesetz nichts zu Antidiskriminierungsproblemen findet, darf man offenbar in diesem Bereich fröhlich diskriminieren. Das meinte der Gesetzgeber des AGG nun auch wieder nicht; denn nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG werden vom Schutz des Gesetzes auch Personen erfasst, deren Arbeitsverhältnis bereits beendet ist und die Ansprüche auf betriebliches Ruhegeld haben. Es handelt sich um einen klaren Fall des Normwiderspruchs. Im Ergebnis kann man § 2 Abs. 2 Satz 2 AGG nur als ungeschrieben betrachten.71 b) Nach § 2 Abs. 4 AGG sollen für Kündigungen ausschließlich die Bestimmungen zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutzgesetz gelten. In der ursprünglichen Gesetzesfassung, die allerdings nur wenige Tage galt, fand sich dann aber entgegen § 2 Abs. 4 eine Sonderregelung im Kündigungsrecht in § 10 Nr. 6 und 7, so dass zumindest § 2 Abs. 4 auf diese Vorschrift hätte hinweisen müssen. (Die Nr. 6 und 7 galten allerdings nur vom 18.10.2006 bis zum 31.11.2006 und wurden dann aufgehoben72; ein schöner Beweis für ein „lernendes Gesetz“.) Unabhängig davon ist die Vorschrift, milde gesagt, zumindest irreführend. Nach der eigenen Regelung in § 2 Abs. 1 Nr. 2 gilt das AGG für „Maßnahmen ___________ 68

S. z.B. BVerfGE 84, 212, 225. Schneider/Schnapp, Logik, S. 163. 70 Kritisch gegenüber der h.M. Wank, FS Kissel, 1994, S. 1225, 1228 f.; ferner Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 4 Rn. 18 f. 71 Preis, ZESAR 2007, 308, 310. 72 Durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengesetzes, BR-Drucks. 741/06. 69

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bei der Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses“, also für Kündigungen. Dasselbe Gesetz behauptet also in § 2 Abs. 1 Nr. 2, dass es für Kündigungen gilt, dagegen in § 2 Abs. 4, dass es für Kündigungen nicht gilt.73 Die Regelung in § 2 Abs. 2 Nr. 2 AGG entspricht der zugrunde liegenden Richtlinie, die die Anwendung auf Kündigungen vorsieht. D.h. der deutsche Gesetzgeber darf die Anwendbarkeit der Vorgaben der zugrunde liegenden Richtlinien für das Kündigungsrecht überhaupt nicht ausschließen.74

aa) Nach einer Ansicht genügt das vorhandene Kündigungsrecht den EGRichtlinien bereits, so dass insoweit ein Rückgriff auf das AGG entbehrlich ist.75 Die Wertungen des AGG könnten im Rahmen der sozialen Rechtfertigung in § 1 KSchG berücksichtigt werden. Außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes greife ein Schutz nach §§ 138, 242 BGB ein. Das europarechtliche Transparenzgebot sei nicht verletzt; es beziehe sich nur auf die Verpflichtung des Mitgliedstaats gegenüber der Gemeinschaft.76 bb) Nach einer zweiten Ansicht muss unterschieden werden zwischen der Wirksamkeit der Kündigung, die nach dem Kündigungsschutzrecht zu beurteilen sei, und den Rechtsfolgen von diskriminierenden Kündigungen. Wenn zwar objektiv ein Kündigungsgrund vorliege, aber die Kündigung subjektiv aus diskriminierenden Gründen erfolge, komme ein Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG trotz wirksamer Kündigung in Betracht.77 cc) Eine weitere Ansicht verfeinert das dahin, dass den Arbeitnehmer im zuletzt genannten Fall die Beweislast dafür treffe, dass der Arbeitgeber subjektiv diskriminierend gehandelt habe.78 dd) Schließlich wird – zu Recht – § 2 Abs. 4 AGG insgesamt für gemeinschaftswidrig gehalten.79 Vor allem nachdem der Gesetzgeber sich mit der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit noch kürzlich selbst befasst und § 10 Nr. 6 und 7 AGG aufgehoben hat, kommt eine Korrektur durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht in Betracht.80

___________ 73

Zum Satz vom Widerspruch s. Schneider/Schnapp, Logik, S. 90 ff., 198 ff. Bauer/Göpfert/Krieger, § 2 AGG, Rn. 63. 75 Willemsen/Schweibert, NJW 2006, 2583, 2584. 76 S. auch Kamanabrou, RdA 2007, 199 ff. 77 Diller/Krieger/Arnold, NZA 2006, 887 ff.; Bauer/Göpfert/Krieger, § 2 AGG, Rn. 74

69. 78

Bayreuther, DB 2006, 1842, 1844 f. Adomeit/Mohr, § 2 AGG, Rn. 212 ff.; Däubler/Bertzbach, § 2 AGG, Rn. 263; Sagan, NZA 2006, 1257, 1258; Schiek in: Schiek, AGG, 2007, § 2 Rn. 12. 80 Schleusener/Suckow/Voigt, § 2 AGG, Rn. 23. 79

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10. Appellgesetzgebung Zum Schluss etwas Erfreuliches. § 17 Abs. 1 AGG normiert einen moralischen Appell. Danach sind „Tarifvertragsparteien, Arbeitgeber, Beschäftigte und deren Vertretungen aufgefordert, im Rahmen ihrer Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten an der Verwirklichung des in § 1 genannten Ziels mitzuwirken.“ Rechtsvorschriften sollten sich eigentlich dadurch auszeichnen, dass sie einen Tatbestand und Rechtsfolgen normieren und sich moralischer Appelle enthalten81. § 1 Richtgeschwindigkeits-Verordnung, nach der Autofahrer auf Autobahnen nicht schneller als mit 130 km/h fahren sollen82, ist so wirkungsvoll gewesen, dass wohl außer drei oder vier Juristen niemand weiß, dass es diese Verordnung überhaupt gibt. Auch solche Vorschriften wie § 1353 BGB oder § 2 BetrVG gehören nicht in eine Sammlung typischer Rechtssätze. Was die in § 17 Abs. 1 AGG angesprochenen Adressaten angeht, so gibt es für Verstöße gegen das AGG in diesem Gesetz selbst normierte Rechtsfolgen. Tarifvertragsparteien und Betriebspartnern, die gegen das AGG verstoßen, wird durch § 7 Abs. 2 AGG gesagt, dass ihre Vereinbarungen unwirksam sind (allerdings haftet der Arbeitgeber nach § 15 Abs. 3 bei einem Verstoß gegen das AGG unter Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen nur dann, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig handelt). Verstößt der Arbeitgeber gegen das Gesetz, so ergeben sich die Rechtsfolgen aus §§ 7 Abs. 1 AGG i.V.m. § 134 BGB, 7 Abs. 2, §§ 13, 14, 15 Abs. 1 und 2. Dass auch Beschäftigte selbst nicht gegen das AGG verstoßen dürfen, ergibt sich mittelbar aus § 7 Abs. 3, wonach eine Benachteiligung durch Beschäftigte eine Verletzung ihrer vertraglichen Pflichten bedeutet. Kurz und gut: Das Gesetz selbst enthält die einschlägigen Rechtsfolgen bei Gesetzesverstößen. Hier muss man unterscheiden zwischen dem Inhalt des Gesetzes und der verbalen Umsetzung. Wie § 75 Abs. 1 BetrVG i.d.F. des Art. 3 Abs. 3 des Rahmengesetzes83 zeigt, ist das AGG – i.V.m. § 12 AGG – in das BetrVG inkorporiert.84 Aber gerade deshalb ist die Formulierung als Appell nicht nur überflüssig und „inhaltsleer“85 sondern geradezu irreführend. Ob die angesprochenen Adressaten es dabei bewenden lassen, nicht gegen das Gesetz zu verstoßen, oder ob sie darüber hinausgehende Maßnahmen ergreifen, ist keine Frage, die das Gesetz regeln kann (abgesehen von §§ 5 und 20 Abs. 1 Nr. 3 AGG). ___________ 81

S. dazu Däubler/Bertzbach-Buschmann, § 17 AGG, Rn. 4: „keine unmittelbar durchsetzbaren Verpflichtungen der Parteien untereinander“. 82 BGBl. 1978 I, S. 1824. 83 BT-Drucks. 16/1780, S. 56. 84 Hayen, ArbRGgw 44 (2007), 23, 30; Kamanabrou, NZA Beil. 3/2006, 138. 85 So Klumpp, NZA 2006, 904.

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III. Fazit Der kurze Streifzug über einige Vorschriften des AGG dürfte gezeigt haben, dass man nicht an alle Gesetze den gleichen Qualitätsmaßstab anlegen kann. Die Konsequenz für die Methodenlehre ist die, dass Auslegungsgrundsätze, die für Qualitätsgesetze ihre Berechtigung haben, für manche anderen Gesetze nicht in gleicher Weise zugrunde gelegt werden können. Eine akribische Wortlautauslegung, die von der Vorstellung beseelt ist, der Gesetzgeber habe jedes Wort abgewogen, ist dann nicht immer am Platze. Auch eine systematische Auslegung, die von der Vorstellung ausgeht, jedenfalls in demselben Gesetz oder doch jedenfalls in ein und demselben Paragrafen seien die Vorschriften aufeinander abgestimmt, mag trügen. Die Entstehungsgeschichte macht deutlich, dass auch hier viele Köche den Brei verderben. Der Einfluss von EuGH, EG-Richtlinien und verschiedenen parteipolitischen Präferenzen erklärt, warum das AGG so ist, wie es ist. Hier hilft dann nur noch die teleologische Auslegung und der Rückgriff auf den methodischen Topos „B-Gesetz“: Wenn man weiß, was gemeint ist, kommt man durch Auslegung auch bei einem gesetzestechnisch nicht perfekten Gesetz zu brauchbaren Ergebnissen. Die hier aufgezeigten Defizite an Gesetzgebungstechnik sollten nicht weiter beunruhigen. Wie die Gesetzgebungslehre zeigt, wirken Gesetze nicht von selbst, sondern sie sind abhängig von etwa 60 Einflussquellen. „Auffallend geringen Einfluß auf die Gesetzeswirkungen hat die Bekanntheit und Verständlichkeit der Normtexte gezeigt … der Gesetzestext wird so gut wie nie benutzt, wenn es um seine Anwendung geht …“.86

___________ 86

Zeh in: Schreckenberger, Gesetzgebungslehre, 1986, S. 57, 70.

Personenrechtliche Grenzen der Vertragsbindung Von Peter A. Windel, Bochum

I. Einführung Friedrich E. Schnapp gehört zu den souveränen Rechtsgelehrten, die die fachliche Diskussion nicht nur preisen, sondern in erfrischender Offenheit auch tatsächlich pflegen. Dabei sind ihrerseits noch unerfahrene Kollegen als gleichberechtigte Gesprächspartner willkommen. Der Verfasser möchte mit diesem bescheidenen rechtsdogmatischen Beitrag versuchen, für die herzliche Aufnahme in den Gesprächskreis des Jubilars, insbesondere aber für Genuss und Bildungswert zahlloser engagierter Debatten Dank abzustatten. Von einer höheren Warte aus geht es dabei um die Regelungsmacht des Gesetzes und damit des Gesetzgebers gegenüber einem unserer Rechtsordnung zur Lösung vorgegebenen Grundproblem menschlichen Zusammenlebens.

II. Die Genese des § 241 BGB Entgegen dem überwiegend im 19. Jahrhundert in Deutschland geltenden Partikularrecht und entgegen der h.M. zum Gemeinen Recht1 sollten Schuldverhältnisse im BGB nach dem Willen des Gesetzgebers nicht länger auf die Befriedigung wirtschaftlicher Interessen beschränkt bleiben.2 Dies wurde im späteren § 241 BGB zwar nicht explizit klargestellt, aber andererseits wurde der mögliche Gegenstand einer Leistung auch nicht eingegrenzt. Daraus wird überwiegend geschlossen, ein qualifiziertes Leistungsinteresse sei zur Begründung eines (vertraglichen) Schuldverhältnisses nicht erforderlich.3 Freilich wollte man das Vertragsrecht gegenüber dem bisherigen Recht nicht uferlos ausweiten. Man glaubte, dies würde schon deshalb ausbleiben, weil es im fami___________ 1

Aufgearbeitet bei von Kübel, Vorentw. zum Recht der Schuldverhältnisse I (1882), S. 11-15 (neu hrsg. von Schubert [1980]). 2 Mot. II, S. 5; Prot. II, S. 559 ff.; wegweisend Windscheid, Pandektenrecht II, § 250. 3 Staudinger/Olzen, BGB (Bearb. 2005), § 241 Rn. 14 ff.; widersprüchlich Mot. II, S. 5, einerseits, Prot. II, S. 559, andererseits; abl. Hellwig, AcP 86 (1896), S. 223, 245 f.: Ein völliger Bruch mit der Rechtstradition müsse ausdrücklich angeordnet werden.

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liären, freundschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich regelmäßig am Willen der Beteiligten fehle, sich im Rechtssinne zu verpflichten. Bestehe aber ein ernsthafter Verpflichtungswille, sei eine vertragliche Bindung unbedenklich, sofern die Freiheit des Versprechenden nicht in sittenwidriger Weise beschränkt werde, was ohnehin (gem. dem heutigen § 138 Abs. 1 BGB) zur Nichtigkeit der Abrede führe.4 Andere wollten das Personenrecht demgegenüber ganz vom Gericht fernhalten.5 Ihre Einwände haben die damalige Diskussion in drei Punkten bereichert. Erstens wurde herausgearbeitet, dass es nicht um ein isoliertes Problem des Schuldrechts, sondern um das Verhältnis des Vermögensrechts zum Personenrecht geht. Zweitens wurde demzufolge nicht mehr allein nach dem möglichen Inhalt einer Obligation, sondern nach allgemeinen Grenzen vertraglicher Bindung gesucht. Drittens ist bis heute nicht widerlegt, dass es Abreden gibt, an deren Ernstlichkeit ebenso wenig zu zweifeln ist wie an ihrer Sittlichkeit, die aber gleichwohl nicht verbindlich sein dürfen. So nannte Hellwig das Beispiel des ernstlichen Versprechens, sich einer indizierten Operation zu unterziehen.6 Weitere Fälle werden sich zeigen, wenn wir näher zusehen, was aus den Plänen des Gesetzgebers einerseits und den Einwänden der Literatur andererseits geworden ist.

III. Die Entwicklung seit dem BGB Die Konzeption des BGB wurde nach seinem In-Kraft-Treten nur noch selten in Frage gestellt.7 Vielmehr ist die h.M. dem Gesetzgeber hierin wie in kaum einem anderen Punkte gefolgt, indem sie die Lehre vom Gefälligkeitsverhältnis entwickelt und daneben auf § 138 Abs. 1 BGB zurückgegriffen hat.

___________ 4

Prot. II, S. 561 f.; Stammler, Das Recht der Schuldverhältnisse in seinen allgemeinen Lehren (1897), S. 4 f. 5 Hellwig, AcP 86 (1896), S. 223, 248; zust. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II3 (1979), § 7, 2 (S. 82 f.); ähnlich Kohler, Arch.Bürg.R. Bd. 12 (1897), S. 1, 18 ff., der glaubte, eine Lösung sei mit dem Normtext möglich. 6 AcP 86 (1896), S. 223, 233 f. 7 Hervorzuheben sind Eckstein, Arch.Bürg.R. Bd. 38 (1913), S. 195 ff.; von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. II/1 (1914), § 51 I (S. 183 ff.), Bd. II/2 (1918), § 70 II 2 (S. 32 f.); Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II3 (1979), § 7, 2 (S. 82 f.); Willoweit, JuS 1986, S. 96, 97.

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1. Zum Gefälligkeitsverhältnis Das Gefälligkeitsverhältnis müsste heute eigentlich als Schuldverhältnis8 mit beschränktem Inhalt, nämlich wie eine vorvertragliche Sonderverbindung als solches ohne primäre Leistungspflichten dargestellt werden (§§ 311 Abs. 2 Nr. 3; 241 Abs. 2 BGB). Die traditionell in der Rechtsprechung9 verbreitete Gegenansicht glaubt, eine Haftung für Schäden bei Abwicklung eines Gefälligkeitsverhältnisses nur deliktsrechtlich begründen zu können.10 Gegen diese Einordnung spricht aber nicht nur, dass Gefälligkeiten nur selten im Rahmen bloßer Zufallskontakte – etwa unter Zugreisenden –, sondern meist unter Verwandten, Freunden oder Bekannten erbracht werden. Übersehen scheint von der Rechtsprechung auch, dass seit Erlass des BGB in seiner ursprünglichen Fassung ein System quasivertraglicher Haftung entwickelt und im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung in § 311 Abs. 2 BGB aufgenommen wurde. Es dürfte jedenfalls im Ergebnis schon h.L. entsprechen,11 dass ein Gefälligkeitsverhältnis einer rechtlichen Sonderverbindung jedenfalls gleichzustellen ist. Je nach Art der Gefälligkeit wird dabei nach reduziertem Maßstab gehaftet, wie es von unentgeltlichen Schuldverträgen her bekannt ist.12 Nicht von ungefähr hält die Rechtsprechung ihren abweichenden Ansatz einer regulären deliktischen Haftung oft nicht durch, sondern nimmt, aller vermeintlichen Außerrechtlichkeit der Gefälligkeit zum Trotz, isolierte stillschweigende Haftungsbegrenzungen an. Jüngstes Beispiel hierfür ist eine Entscheidung des OLG Hamm zu einem Unfall bei der „Pinkelpause“ im Rahmen einer „Junggesellenfahrt mit dem Treckergespann“.13 Das Ergebnis des OLG wäre durch die Ausdehnung des reduzierten Haftungsmaßstabes des Gefälligkeitsverhältnisses als Sonderverbindung auf das Deliktsrecht14 einfacher zu begründen gewesen, zumal die Beteiligten gerade am wenigsten an den Haftungsfall gedacht haben dürften. Nicht gegen den hier vertretenen Ansatz spricht auch, dass sich die Literatur intensiv bemüht hat, das Gefälligkeitsverhältnis einem rechtsfreien Raum15 zu___________ 8 Willoweit, JuS 1984, S. 909 ff., 915; Hammen, FS des FB Rechtswissenschaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2007), S. 435 ff. 9 Die Analyse von Willoweit, JuS 1986, S. 96 ff., ist nach wie vor meinungsbildend. 10 Etwa Heinrichs, FS Canaris Bd. I (2007), S. 421, 439 f.: § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB betreffe „geschäftliche“, nicht „soziale“ Kontakte. 11 Statt aller MünchKomm-BGB5/Kramer, Bd. II, Einl. Rn. 36 ff., 42 m. Nw. 12 Hammen, FS des FB Rechtswissenschaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2007), S. 435, 449 ff. 13 OLG Hamm, NJW-RR 2007, S. 1517 ff. 14 Dazu Hammen, FS des FB Rechtswissenschaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2007), S. 435, 452 f. 15 Allg. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991), S. 370 ff.

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zuordnen.16 Denn dieser rechtsfreie Raum wird normativ bestimmt als ein Gebiet, das das Recht nicht regeln könne oder dürfe.17 Den erstgenannten Bereich gibt es nicht. Richtig ist zwar, dass „rein innerseelische Vorgänge und Verhaltensweisen, Gedanken, Empfindungen, Meinungen, Glaubensüberzeugungen, Sympathien und Antipathien (…) ihrer Natur nach einer rechtlichen Regelung nicht zugänglich“ sind, wie Larenz schreibt. Er selbst räumt aber gleich ein, dass ihre rechtliche Bewertung sehr wohl möglich ist.18 Dies zeigen nicht nur die vielfältigen subjektiven Tatbestandsmerkmale, nicht zuletzt im Strafrecht, sondern auch die zivilrechtlichen Regelungen für Gesinnungsäußerungen (§§ 532; 2343 BGB). Damit bleibt als vermeintlich rechtsfrei nur ein Bereich, der nicht geregelt werden soll. Dieser ist aber, wie selbst die Lehre vom rechtsfreien Raum einräumt, in einem doppelten Sinne relativ, nämlich zum einen eben vom jeweils geltenden Recht abhängig, zum anderen auf verschiedenen Stufen unterschiedlich stark ausgeprägt. Treffend hat man eine Bandbreite gleitender Übergänge von einem zwingend ungeregelten bis hin zu einem zwingend normierten Bereich aufgezeigt, wobei die Gefälligkeitsverhältnisse etwa in der Mitte stehen.19 Vor diesem Hintergrund lassen sich Gefälligkeitsverhältnisse als relativ rechtsfrei oder – wie hier – als relativ normiert einordnen. Eine Notwendigkeit, familiäre und gesellschaftliche Beziehungen dem rechtsgeschäftlichen Bereich insgesamt zu entziehen, folgt daraus nicht.20 Von jedem dogmatischen Ausgangspunkt aus ergibt sich der Grad der Verbindlichkeit einer Abrede vielmehr aus dem Partei-, genauer dem Rechtsbindungswillen der Beteiligten. Dessen Bedeutung und vor allem sein Verhältnis zu den verwandten Begriffen des Erklärungsbewusstseins und des Geschäftswillens wird klarer, wenn man – gleichbedeutend – vom Verpflichtungswillen spricht:21 Es wird zwar etwas Konkretes zugesagt (was einen Geschäftswillen tragen könnte), dies geschieht jedoch nicht für die Zukunft verbindlich.22 Entgegen einer verbreiteten Vorstellung ist damit aber nicht notwendig auch das Erklärungsbewusstsein verneint, überhaupt rechtserheblich zu handeln.23 Dies hat schon das Beispiel ___________ 16 Insbes. Comes, Der rechtsfreie Raum (1976), S. 45 ff.; Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 190 ff. 17 Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 190 f. 18 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6 (1991), S. 371 (Hervorhebung nicht im Original). 19 Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 193 ff. 20 Soergel/Hefermehl, BGB13 (1999), vor § 116 Rn. 28. 21 So zur Zeit der Entstehung des BGB üblich, siehe oben II. 22 Hammen, FS des FB Rechtswissenschaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2007), S. 435, 441. 23 Willoweit, JuS 1984, S. 909, 915 f.

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der „Junggesellenfahrt“ gezeigt. Hinsichtlich anderer rechtlicher Folgefragen liegt es ebenso. So werden sich die Beteiligten über die Rechtslage hinsichtlich eines gesellschaftlichen Abendessens meist keine Gedanken machen. Bei einer Einladung unter Juristen aber könnten explizit Erwerbs- bzw. Rechtsgrundabreden getroffen werden, dass die Hausfrau den überreichten Blumenstrauß behalten darf und dass die Gäste schlemmen dürfen, ohne anschließend zum Wertersatz verpflichtet zu sein.24 Fehlt es wie üblich an solchen Absprachen, muss beides im Wege der Auslegung als Inhalt des Gefälligkeitsverhältnisses angenommen werden.25

2. Sittenwidrigkeitsverdikte Als ein zur Disposition der Parteien stehendes Kriterium ist der Rechtsbindungswille naturgemäß ungeeignet, einen personalen Bereich abzugrenzen, der sich einer vertraglichen Bindung entzieht.26 An Hand der höchstrichterlichen Rechtsprechung lässt sich zeigen, dass dies auch Sittenwidrigkeitsverdikte nicht durchweg leisten können. a) Schon im Jahre 1904 hatte das RG27 über die Verbindlichkeit eines Prozessvergleichs zu entscheiden, in dem sich eine Partei verpflichtet hatte, „in die rituelle Scheidung zu willigen und die nach den Vorschriften der mosaischen Religion erforderlichen Erklärungen (…) abzugeben.“ Erstaunlicherweise ging das Gericht auf die damals noch frische Kontroverse um die Fassung des § 241 BGB mit keinem Wort ein, sondern begründete zunächst aufwändig, dass „Akte religiöser Wesensart“ nicht „auf dem Gebiete der staatlichen Gesetzgebung liegen“, weswegen jeglicher Rechtszwang ausscheide. Der Gegenstand der Abmachung sei deswegen zum einen rechtlich unmöglich, zum anderen hätten sich die Parteien in einem wesentlichen Irrtum über die ihnen gegebenen Möglichkeiten befunden, sich rechtsverbindlich zu einigen. Weil der Vergleich noch vor In-Kraft-Treten des BGB geschlossen worden war und dem preußischen Recht unterlag, war er demzufolge aus zwei Gründen nichtig (PrALR I 5 § 51 – anfängliche Unmöglichkeit – und I 4 § 75 – Grundlagenirrtum).28 ___________ 24

Allenfalls hilft § 814, 2. Alt. BGB, Hammen, FS des FB Rechtswissenschaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2007), S. 435, 437 f. 25 Hammen, FS des FB Rechtswissenschaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen (2007), S. 435, 439 ff. 26 Kohler, Arch.Bürg.R. Bd. 12 (1897), S. 1, 25; Comes, Der rechtsfreie Raum (1976), S. 52; Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 199 f. 27 RGZ 57, 250. 28 RGZ 57, 250, 255 ff.

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De lege lata wäre die Begründung des RG nicht mehr haltbar: Der Nichtigkeitsgrund der anfänglichen objektiven Unmöglichkeit ist im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung entfallen (§ 311 a Abs. 1 BGB), der beiderseitige Grundlagenirrtum (heute § 313 Abs. 2 BGB) führt schon seit Erlass des BGB nicht mehr zur Unwirksamkeit eines Vertrages. Gleichwohl ist rätselhaft, wie das Urteil von der Literatur § 138 Abs. 1 BGB zugeordnet werden konnte.29 Denn das RG führt zunächst aus, „daß die Übernahme einer solchen Verpflichtung an sich gewiß nicht gegen die guten Sitten verstößt,“30 und lässt es schließlich sogar dahingestellt, ob die in dem angegriffenen Prozessvergleich enthaltene Verknüpfung des religiösen Versprechens mit einer geldwerten Gegenleistung zur Sittenwidrigkeit führe.31 b) Auch die notarielle Verpflichtung eines Ehemannes, in Zukunft keinerlei Geschäfts- oder Vergnügungsreisen mehr allein zu unternehmen, beschäftigte das RG. Es sprach dem Zweck der Vereinbarung, weiteren Eheverfehlungen vorzubeugen, die sittliche Berechtigung nicht ab, sah die individuelle Freiheit des Mannes letztlich aber doch unsittlich beschnitten, weil er der „Beschattung“ durch (seine Frau oder) eine Aufsichtsperson unterstellt sei.32 Nicht im Ergebnis, wohl aber in der methodischen Ableitung hat das RG Kritik erfahren. Erforderlich sei eine an dem Gegensatzpaar von individueller Autonomie und Sozialbezug orientierte Interessenabwägung, um den Bereich auszuloten, der zwingend „rechtsfrei“ bleiben müsse.33 Konkret wird dem vom RG entschiedenen Fall das Beispiel gegenübergestellt, dass die Ehefrau eines Wissenschaftlers nicht neiderfüllt allein das Haus zu hüten brauche, während ihr Mann in aller Welt Fachkongresse besuche und dabei regelmäßig auch das kulturelle Rahmenprogramm ausnütze. Vielmehr sei das unmittelbare Interesse der Ehefrau an gemeinsamen Reisen größer, die Beeinträchtigung des Ehemannes geringer als im Ausgangsfall des RG. Kurz: Eine entsprechende Vereinbarung konkretisiere die eheliche Unterhaltspflicht (§ 1360 S. 1 BGB) und sei wirksam.34 Diese Differenzierung zwischen Geschäfts- und Kongressreisen leuchtet kaum ein, jedenfalls wären Klagbarkeit und vor allem Vollstreckbarkeit in beiden Fällen gleichermaßen kurios. ___________ 29

Etwa von Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II15 (1960), § 191 III 2 (S. 1170); Soergel/Hefermehl, BGB13 (1999), § 138 Rn. 21; zur Zuordnung zu § 1588 BGB unten 3.a. 30 RGZ 57, 250, 255. 31 RGZ 57, 250, 257. 32 RGZ 158, 294, 298; i.E. zust. Gernhuber, FamRZ 1979, S. 193, 197; Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 206, 216, 220 f.; Staudinger/Sack, BGB (Bearb. 2003), § 138 Rn. 430. 33 Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 196 ff., bes. 200, 205, 209 ff. 34 Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 216 f., 220 f.

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c) Dem BGH35 lag im Jahre 1986 folgender Fall vor: Die Gefährten einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft hatten sich darauf verständigt, dass die Frau zur Empfängnisverhütung die Pille nehmen sollte. Ohne es mitzuteilen, setzte sie diese ab. Es kam zur Zeugung und Geburt eines Kindes, dem der Mann unterhaltspflichtig war. Er verlangte von der Frau Freistellung von den Ansprüchen des Kindes und wollte wegen bereits geleisteten Unterhalts bei ihr Regress nehmen.36 Der BGH verneinte Rechte des Mannes gegen die Frau, weil die Abrede über die Empfängnisverhütung mit Rücksicht auf deren Persönlichkeitsrecht als sittenwidrig gem. § 138 Abs. 1 BGB anzusehen sei.37 Verstoßen also Partner einer Lebensgemeinschaft „gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“, wenn sie sich über Empfängnisverhütung und Familienplanung absprechen? Immerhin werden solche Abreden heute familientherapeutisch empfohlen, ja angesichts der zu beobachtenden Bandbreite verschiedener Vorstellungen über Sexualität und Familienplanung als geradezu unausweichlich angesehen.38 Nein, einverständliche Familienplanung ist nach heutigen Anschauungen nicht nur erlaubt, sondern geradezu sittlich geboten,39 und ein sittlich gebotenes Verhalten kann nicht zu der Nichtigkeitsfolge des § 138 Abs. 1 BGB führen. Demgegenüber lehrt Flume,40 es komme im Rahmen des § 138 BGB nicht auf die Unsittlichkeit des Handelns als solchem, sondern nur darauf an, ob das Rechtsgeschäft als Regelung sittenwidrig sei. Demzufolge hält er Verträge über menschliche Beziehungen ohne Rücksicht auf ihren konkreten Inhalt für nichtig, obwohl er diese zuvor bereits jenseits der Grenzen der Vertragsmöglichkeit angesiedelt hat. Das seltsame Ergebnis – Unwirksamkeit aus einem Sachgrund, ___________ 35 BGHZ 97, 372 (inzident, denn es ging um einen einem Gebührenanspruch entgegengehaltenen Anspruch aus Anwaltshaftung). 36 Diese Rechtsfolgen ähneln dem sog. familienrechtlichen Ausgleichsanspruch (dazu für die h.M. Palandt/Diederichsen, BGB67 (2008), § 1606 Rn. 21 f.; abl. A. Roth, FamRZ 1994, S. 793 ff.). 37 BGHZ 97, 372, 379 = JZ 1986, S. 1008 [abl. Ramm, ebd., S. 1011 ff.] = JR 1986, S. 451 ff. [abl. Schlund, ebd., S. 455 f., sowie Roth-Stielow, JR 1987, S. 7 ff.] = VersR 1986, S. 656 ff. [(nur) i.E. zust. Dunz, ebd., S. 819 f.] = JuS 1986, S. 910 [zust. Emmerich, ebd.]; dem BGH folgend die h.M., etwa MünchKomm-BGB5/Armbrüster, § 138 Rn. 69; a.A. Fehn, JuS 1988, S. 602 ff.; Muscheler, FamR (2006), Rn. 499; Grziwotz, Nichteheliche Lebensgemeinschaft4 (2006), § 10 Rn. 27 ff. 38 Lehrreich OLG Köln, FamRZ 2000, S. 819 f.: Selbst wenn beide der gleichen Glaubensrichtung (in casu: der katholischen Morallehre) anhängen (zu § 1314 Abs. 2 Nr. 3 BGB); vgl. auch OLG Zweibrücken, FamRZ 2006, S. 1201, 1202 f. (verschiedene muslimische Glaubensrichtungen). 39 Ins. zutr. Dunz, VersR 1986, S. 819. 40 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II3 (1979), § 7, 2 (S. 82 f.), mit § 18, 2 (S. 367-369); gegen ihn Staudinger/Sack, BGB (Berarb. 2003), § 138 Rn. 464.

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aber aus zwei Rechtsgründen – sei „unbedenklich“. Dem kann nicht gefolgt werden. Vielmehr entlarvt sich darin ein falscher Ansatz. Juristische Theoriebildung oder – allgemeiner – Rechtsdogmatik hat nämlich zwei Funktionen, die der Systematisierung und die der Sinnstiftung.41 Wenigstens letztere wird durch ein Sittenwidrigkeitsverdikt verfehlt, das dem sozialen Sinn der Abrede der Beteiligten nicht gerecht wird und dem Bürger unverständlich bleiben muss. Natürlich führt Familienplanung nicht zu dauerhaften Rechtspflichten. Auch wenn man § 138 BGB nicht anwendet, ist der Vertrag also nicht schlechthin wirksam.42 Dies zwingt aber nicht dazu, gleich auf das Deliktsrecht, genauer auf § 826 BGB, zuzusteuern.43 Vielmehr wird dem Aspekt der besonderen Vertrauensbeziehung von Lebenspartnern besser entsprochen, wenn man zwar eine wirksame Abrede annimmt, dieser aber keine Bindungswirkung für die Zukunft beimisst. Der richtige Grund hierfür ist der, dass sich das Personenrecht einer Verpflichtung entzieht, wodurch die Vertragsmöglichkeit unmittelbar begrenzt wird.44 Die nähere Konturierung eines personenrechtlichen Bereichs ist nicht einfach. Der der „Höchstpersönlichkeit“45 beschreibt das Problem jedenfalls eher, als dass er es löst. Dem gegenwärtigen Stand des Personenrechts entsprechend46 mag man nach dem Vorbild des BGH47 bei der mittelbaren Drittwirkung48 des verfassungsrechtlich verbürgten allgemeinen Persönlichkeitsrechts49 des einen Partners gegenüber dem anderen ansetzen. Entgegen dem BGH ist die Generalklausel des § 138 BGB aber hier ungeeignet, die grundrechtlichen Wertentscheidungen in das Zivilrecht zu transformieren. Vielmehr wird der Sinnstiftungsfunktion des Rechts durch eine teleologische Reduktion der Grundsätze des Vertragsrechts angemessener genügt.

___________ 41

Jaeger/Windel, InsO, Bd. II (2007), § 80 Rn. 11 m. Nw. So aber Schlund, JR 1986, S. 455 f.; ins. unklar Muscheler, FamR (2006), Rn. 499. 43 So aber Ramm, Roth-Stielow, Fehn und Grziwotz, jew. wie Fn. 37. 44 Ähnlich schon Hellwig, AcP 86 (1896), S. 223, 227, 234; Kohler, Arch.Bürg.R. Bd. 12 (1897), S. 1, 21 f.; Eckstein, Arch.Bürg.R. Bd. 38 (1913), S. 195, 197 ff., während von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. II/2 (1918), § 70 II 2 (S. 32 f.), auf die öffentliche Ordnung abstellte. 45 Dafür Willoweit, Abgrenzung und rechtliche Relevanz nicht rechtsgeschäftlicher Vereinbarungen (1969), S. 67, 80 f.; ders., JuS 1986, S. 96, 97 f. 46 Dazu Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts2 (2000), § 1 (S. 1 ff.); Röhl, Allgemeine Rechtslehre2 (2001), § 55 (S. 441 ff.); Damm, AcP 202 (2002), S. 841 ff. 47 Dazu insbesondere Depping, JuS 1988, S. 922, sowie Barth, JuS 1990, S. 80. 48 A.A. Willoweit, JuS 1986, S. 96, 97. 49 Zu dessen Bedeutungen im Privatrecht Ehmann, FS Georgiades (2006), S. 113 ff. 42

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Der hier gemachte Vorschlag hat nicht nur andere Begründungsmuster als diejenigen des BGH, sondern auch andere Ergebnisse zur Konsequenz. Partnerschaftliche Abreden über die persönliche Lebensgestaltung einschließlich der Familienplanung sind rechtlich nicht völlig unbeachtlich,50 sondern nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln wie Gefälligkeitsverhältnisse. Es besteht zwar kein Erfüllungsanspruch, wohl aber kommt eine Haftung nach quasivertraglichen Grundsätzen in Betracht.51 Daher kann ein Partner von den bisherigen Abreden künftig abweichen, haftet aber dem anderen, wenn er diesen nicht rechtzeitig davon unterrichtet.52 Der Haftungsmaßstab bestimmt sich – auch für die nichteheliche Lebensgemeinschaft – nach § 1359 BGB,53 d.h. man muss erst befürchten, in Anspruch genommen zu werden, wenn man grob fahrlässig handelt. Die Interessen des Kindes bleiben gewahrt, weil seinen Unterhaltsansprüchen gegenüber beiden Eltern Vorrang vor den Rechten des Schadensersatzgläubigers gebührt. Dies folgt aus dem Rechtsgedanken, dass niemand einen anderen zum eigenen Nachteil an seine Stelle treten lassen muss (nemo subrogat contra se, heute §§ 268 Abs. 3 S. 2; 426 Abs. 2 S. 2;54 774 Abs. 1 S. 2; 1143 Abs. 1 S. 2; 1150; 1249 S. 2; 1607 Abs. 4 55 BGB). d) Der BGH hatte zwischenzeitlich Gelegenheit, sich erneut mit der Bindungswirkung von Abreden über Familienplanung zu befassen:56 Ein Ehepaar, das auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen konnte, hatte sich zu einer In-vitro-Fertilisation entschlossen. Nachdem drei Versuche erfolglos geblieben waren, wandte sich der Mann einer anderen Frau zu und widerrief seiner Gattin gegenüber sein Einverständnis zu der Implantation weiterer befruchteter Eizellen. Gleichwohl ließ diese am Heiligabend des Jahres 1996 eine weitere Implantation vornehmen und kam mit einem gesunden Christkind nieder. Der BGH bestätigte die Vorentscheidung zur Anti-Baby-Pille ausdrücklich.57 Ob___________ 50 von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. II/1 (1914), § 51 I (S. 185). 51 Oben III.1. 52 I.E. ebenso Muscheler, FamR (2006), Rn. 499, sowie i.d.S. schon Kurr, Vereinbarungen zwischen Partnern eheähnlicher Lebensgemeinschaften und Ehegatten, Diss. Bielefeld 1978, S. 92 ff., 97 ff. (für die nichteheliche Lebensgemeinschaft), sowie H. P. Westermann, JBl. 1979, S. 113, 119 (für die Ehe). 53 Muscheler, FamR (2006), Rn. 499; a.A. Ramm, JZ 1986, S. 1011, 1013, der nur die Vorsatzhaftung des § 826 BGB für angemessen hält. 54 Diese Vorschrift gilt nicht unmittelbar, weil die Eltern als Teilgläubiger haften (Palandt/Diederichsen, BGB67 [2008], § 1606 Rn. 7; A. Roth, FamRZ 1994, S. 793, 794). 55 Diese Vorschrift gilt unter den Eltern nur bei direkter oder analoger (dazu A. Roth, aaO, S. 795 f.) Anwendung des § 1607 Abs. 2 S. 2 BGB. 56 BGHZ 146, 391 = JZ 2001, S. 983 ff. [i.E. abl. Foerste, ebd., S. 986 ff.] = MDR 2001, S. 692 f. [zust. Born, ebd., S. 693 f.] = BGHR 2001, S. 327 f. [zust. Borth, ebd., S. 329 f.] = JuS 2001, S. 711 f. [zust. Hohloch, ebd.]. 57 BGHZ 146, 391, 395-398.

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wohl der Mann demzufolge sein Einverständnis in die Implantation zulässig und rechtzeitig widerrufen hatte, hatte dies wiederum keine nachteiligen Folgen für die Frau. Namentlich blieb ihr der Mann gem. § 1570 BGB voll unterhaltspflichtig, weil ihr eigenmächtiges Verhalten nicht als mutwillig im Sinne der negativen Härteklausel (§ 1579 Nrn. 3, 4 BGB) eingestuft werden könne.58 Für die weitere Untersuchung ist weniger das Ergebnis dieser Entscheidung relevant als vielmehr seine Begründung. Der BGH führt § 138 BGB nämlich selbst beim Referat des Urteils zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht explizit an, sondern argumentiert im Wesentlichen eherechtlich.

3. Sonderrechtliche Unika oder allgemeines Prinzip? Dies gibt zu der Frage Anlass, ob die angeführten Konstellationen tatsächlich in das allgemeine Vertragsrecht gehören oder ob sie in Sonderrechtsgebieten nicht besser aufgehoben wären. a) In die letztgenannte Richtung weist vordergründig auch die Argumentation des RG zum jüdischen Scheidebrief, die im Wesentlichen auf die Trennung von Staat und Religion abstellt.59 Als eine der wenigen Normen des BGB wird § 1588, der so genannte Kaiserparagraph,60 angeführt, wonach kirchliche Verpflichtungen in Ansehung der Ehe durch die Vorschriften des staatlichen Eherechts nicht berührt werden. Diese Vorschrift betrifft das Verhältnis der Eheleute zueinander aber jedenfalls nicht unmittelbar, sondern das zwischen ihnen und ihrer Religionsgemeinschaft. Wohl deshalb wird die Entscheidung heute auch nur vereinzelt § 1588 BGB zugeordnet,61 obschon dies elegant als mittelbare Drittwirkung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG darzustellen wäre. Gerade dieser grundrechtsdogmatische Zusammenhang spricht freilich für ein übergreifendes Prinzip, weil es kaum relevant sein dürfte, ob die vertragliche Bindung wegen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) oder wegen eines Spezialgrundrechts wie aus Art. 4 Abs. 1 GG versagt bleiben muss. b) Abreden über die persönliche Lebensgestaltung von Ehegatten werden meist spezifisch familienrechtlich behandelt.62 Zwar beruft man sich heute ___________ 58

BGHZ 146, 391, 399-401; a.A. Foerste, JZ 2001, S. 986, 987 f., unter Hinweis auf den inhaltlichen Widerspruch zu BGHZ 93, 123, 134. 59 RGZ 57, 250, 255 ff. 60 Die Vorschrift geht auf den auf Vorschlag von Kaiser Wilhelm I. aufgenommenen § 82 PStG 1875 zurück. 61 Etwa von MünchKomm-BGB4/Wacke, § 1588. 62 So die Argumentation von RGZ 158, 294, sowie trotz des Hinweises auf BGHZ 97, 379, im Grunde auch BGHZ 146, 391, 395 ff., während RGZ 57, 250, 256 f., das

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kaum noch auf einen (vermeintlich) zwingenden Kernbereich des § 1353 BGB, um eine Absprache für unwirksam zu erklären.63 Dies verbietet sich auch, weil es ein institutionelles Eheverständnis voraussetzen würde,64 das sich der Staat schon mit Rücksicht auf seine Verpflichtung, Privat- und Familienleben zu achten (Art. 8 Abs. 1 EMRK), gar nicht mehr anmaßen dürfte. Allerdings scheint die besondere, eher mittelbar auf Rechtswerte bezogene Qualität der personalen Beziehungen65 eine Restriktion der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre zu rechtfertigen. Gerade auch Vertreter einer modernen, interindividuellen oder interpersonalen Ehelehre, die eigentlich auf die Verständigung der Eheleute setzten,66 schlagen einen familienrechtlichen Sonderweg ein. Dessen Ergebnis wären aber nicht nur schwer zu rechtfertigende Diskrepanzen zwischen Abreden unter Eheleuten einerseits und den Gefährten einer eheähnlichen Gemeinschaft andererseits.67 Vielmehr kommt es auch zu wenig überzeugenden Interessenabwägungen, wie die Beispiele zu den Geschäftsund Kongressreisen gezeigt haben sollten. Demgegenüber bietet der Rekurs auf grundrechtliche Wertentscheidungen zwar keine Garantie für größere Stringenz, ermöglicht aber doch die Orientierung an einem bewährten Konzept. Mittelfristig wird ohnehin ein tragfähiges Personenrecht im Zivilrecht zu entwickeln sein.68 Namentlich der Versuch, die Lehre vom relativ rechtsfreien Raum für das Eherecht nutzbar zu machen,69 führt in die Irre. Dies zum einen deshalb, weil die Zivilehe im Gegensatz zur eheähnlichen Gemeinschaft, die eine schlichte Realbeziehung darstellt, ein geradezu statusrechtlich verfestigtes Rechtsverhältnis bildet.70 Zum anderen deshalb, weil das Vakuum, das der Zerfall institutioneller Leitbilder im Familienrecht hinterlassen hat, nicht hingenommen, son___________ Eherecht nur zur Stützung der religionsrechtlichen Argumentation anführt. Aus der Lit. Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 182 ff. 63 Für den Verzicht auf eheliche Treue aber nach wie vor etwa Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 224, sowie Soergel/Herm. Lange, BGB12, § 1353 Rn. 4; für die Familienplanung OLG Stuttgart als Vorinstanz zu BGHZ 146, 391, dort S. 393. 64 Dazu Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 14 ff.; Rauscher, FamR2 (2007), Rn. 230 ff.; Gernhuber/Coester-Waltjen, FamR5, § 4 Rn. 3 ff.; allg. zum Problem Schnapp, NJW 1998, S. 960. 65 Betont von Diederichsen, FS Larenz II (1983), S. 127, 146, im Anschluss an Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts (1967), § 9 (S. 107 ff.). 66 Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 43 ff.; Rauscher, FamR2 (2007), Rn. 235 f. 67 Paradigmatisch Kurr, Vereinbarungen zwischen den Partnern eheähnlicher Lebensgemeinschaften und Ehegatten, Diss. Bielefeld 1978, S. 82 ff., einerseits, S. 112 ff., andererseits, dem H. P. Westermann, JBl. 1979, S. 113, 119, hierin zu Recht nicht folgt. 68 Zur Kritik an der Drittwirkungslehre Windel, STAAT 37 (1998), S. 385 ff. 69 Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 200 ff., 206 ff. 70 Dazu dezidiert Windel, StAZ 2006, S. 125 ff.

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dern dadurch gefüllt werden sollte, dass den Eheleuten formale Einigungsinstrumente an die Hand gegeben werden.71 Dem Individualprinzip entsprechend, das heute das Familienrecht beherrscht,72 sind diese Einigungsinstrumente nicht im Familien- als einem Sonderrecht, sondern in der allgemeinen Ausformung der Privatautonomie zu suchen. Das Familienrecht hat sich der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre im Zuge seiner Individualisierung geöffnet, diese hat in einen Bereich Einzug gehalten, der ihr zuvor verschlossen war. Allerdings muss die Anwendung von Normen des allgemeinen Zivilrechts im Familienrecht dessen Besonderheiten berücksichtigen.73 Genauer sind die allgemeinen Grundsätze zum einen in ihrem familialen Kontext zu konkretisieren. So sind Absprachen über Familienplanung unter Partnern anders zu beurteilen74 als etwa im Arbeits- oder im Arztrecht.75 Zum anderen unterliegen die aus den allgemeinen Grundsätzen abgeleiteten Ansprüche den familienrechtlichen Regelungen. Insbesondere steht § 1353 Abs. 1 BGB einer Geltendmachung von Forderungen während der Ehe grundsätzlich entgegen.76 Dies verhindert nicht nur die völlige Gleichstellung von Ehe und eheähnlicher Gemeinschaft, sondern nimmt den Schadensersatzansprüchen auch ihre ehezerstörende Tendenz. Nach einer allfälligen Scheidung kann geklagt werden.77

4. Gesetzlich begrenzte Vertragsmöglichkeiten Die erarbeiteten Thesen werden schließlich durch die neuere Gesetzgebung bestätigt, die personenrechtlich problematische Materien dem Vertragsrecht nicht vollständig, sondern nur partiell entzieht. a) Als erstes Beispiel kann § 1 S. 1 ProstG78 angeführt werden, wonach die Vereinbarung, sexuelle Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorzunehmen, eine rechtswirksame Forderung begründet. Einerlei, ob man dem entnimmt, dass der Prostitutionsvertrag nicht (mehr) als sittenwidrig anzusehen ___________ 71

Rauscher, FamR2 (2007), Rn. 235 f.; Pawlowski, Die „Bürgerliche Ehe“ als Organisation (1983). 72 Muscheler, FamR (2006), Rn. 139 ff. 73 Allg. dazu Muscheler, FamR (2006), Rn. 12 f.; verfehlt Dunz, VersR 1986, S. 819 f., der dem Familienrecht selbst für die eheähnliche Gemeinschaft eine abschließende Regelung entnimmt. 74 I.E. a.A. Hepting, Ehevereinbarungen (1984), S. 212 f., 214 f. 75 I.E. zutr. also LAG Hamm, DB 1969, S. 2353 f. (Nichtigkeit im Arbeitsrecht), sowie BGH, FamRZ 2007, S. 126 ff. [Born, ebd., S. 129 f.] (volle Wirksamkeit im Arztrecht). 76 Dazu BGH, NJW 1988, S. 2032, 2033. 77 Zutr. H. P. Westermann, JBl. 1979, S. 113, 119. 78 Vom 20. Dezember 2001, BGBl. I, S. 3983.

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ist,79 werden jedenfalls die Rechtsfolgen des § 138 Abs. 1 BGB80 spezialgesetzlich verdrängt: Zwar gewinnt der Freier keinen Anspruch auf Vornahme der sexuellen Handlung, weil dies eine unannehmbare persönliche Bindung der Prostituierten nach sich ziehen würde, wohl aber kann diese Bezahlung verlangen, und, wenn sie wie üblich auf Vorkasse bestanden hat, das Geld behalten.81 Auch haftungsrechtlich ist der Vertrag hinkend wirksam.82 b) Ein vergleichbares Ergebnis – begrenzte Vertragsmöglichkeit wegen personenrechtlicher Relevanz – erreicht auch das TPG:83 Die Vermittlung von Organen wird bei einer vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen, von der Bundesärztekammer, von der Deutschen Krankenhausgesellschaft oder von den Bundesverbänden der Krankenhausträger errichteten Vermittlungsstelle monopolisiert (§ 12 TPG). Daneben ist Organhandel bis auf Fälle verboten, die unmittelbar zur Erreichung des Ziels der Heilbehandlung oder der Verbreitung in zulässiger Weise aus Organen gewonnener Arzneimittel dienen (§ 17 Abs. 1 TPG). § 134 BGB transformiert dieses partielle Verbot in die Rechtsgeschäftslehre.

IV. Fazit Die Vernachlässigung des Personenrechts bei Schaffung des BGB84 schlägt auch auf das Vertragsrecht durch. Der Gesetzgeber konnte aber die Sachgesetzlichkeit nicht beseitigen, dass es auch insoweit angemessener Lösungen bedarf. Deshalb muss die Zivilrechtsdogmatik die Wirkungen personaler Absprachen auf das rechte Maß beschränken, ohne gleich ihre Wirksamkeit in Frage zu stellen.

___________ 79 So zutr. BGHZ 168, 314 = BGHR 2006, S. 1481 ff. [zust. von Walter, ebd., S. 1483 f.] = JZ 2007, S. 477 ff. [zust. Armbrüster, ebd., S. 479 f.]; BGH, NJW 2008, S. 140 f.; MünchKomm-BGB5/Armbrüster, Anh. zu § 138 § 1 ProstG Rn. 7; offen lassend noch BGH, JZ 2002, S. 406 ff. [Spindler, ebd., S. 408 ff.]; a.A. OLG Frankfurt, NZM 2004, S. 950 f. = OLGR 2005, S. 6 f.; OLG Kiel, NJW 2005, S. 225 ff.; SG Speyer, Urt. v. 4.5.2006, S 10 AL 1020/04; Palandt/Heinrichs, BGB67 (2008), Anh. zu § 138 § 1 ProstG Rn. 1; vgl. noch OLG Jena, GewArch 2006, S. 216. 80 von Galen, Rechtsfragen der Prostitution (2004), Rn. 60 ff., wendet § 134 BGB an. 81 MünchKomm-BGB5/Armbrüster, Anh. zu § 138 § 1 ProstG Rn. 10. 82 MünchKomm-BGB5/Armbrüster, Anh. zu § 138 § 1 ProstG Rn. 11. 83 Transplantationsgesetz i.d.F. der Bekanntmachung vom 4. September 2007, BGBl. I, S. 2206. 84 Dazu Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts2 (2000), § 1 (S. 1 f., 15).

Die unterschätzte Bedeutung des Sachverhalts in Juristenausbildung und Rechtswissenschaft Von Joachim Wolf, Bochum

Das besondere Interesse des Jubilars an der Bedeutung der deutschen Sprache für die juristische Arbeit und die Juristenausbildung ist bekannt. Zahlreiche Aufsätze aus seiner Feder zu dieser Thematik belegen dies.1 In den folgenden Überlegungen soll es um ein rechtliches Phänomen gehen, das viel mit Sprache zu tun hat und über das dennoch gerade Juristen wenig sprechen: den juristischen Sachverhalt.

I. Die Ausbildungssituation

1. Einige kursorische Streiflichter In der juristischen Ausbildungsliteratur findet man zum „Sachverhalt“ nicht viel, falls der Sachverhalt als ein gesondertes und grundlegendes Phänomen des Rechts überhaupt zur Sprache kommt.2 Eine gewisse Verbreitung genießt noch der Hinweis, dass die Arbeit am Sachverhalt oder – in anderer Sprachregelung – die Arbeit „am Fall“ wichtig sei. Als Beleg für diese Wichtigkeit werden die studiosi des Rechts auf die Bedeutung der genauen Lektüre des Sachverhalts hingewiesen.3 Meist ist damit nur die Fragestellung am Ende des Falles gemeint, die man sich, möglichst nach mehrmaliger Lektüre des Falles, genaue___________ 1 Friedrich E. Schnapp, Das Gebot der Sachlichkeit, Jura 2006, 583; ders., Da hab ich einen Satz gemacht! Über Bildung und Missbildung von Sätzen, Jura 2004, 22; ders., Krebsübel Substantivitis? Der richtige Umgang mit dem Nominalstil, Jura 2003, 173; ders., Wie entspricht man dem Gebot der Knappheit? Jura 2003, 602; ders., Augen zu und „durch“? Von der Schwierigkeit im Umgang mit Präpositionen, Jura 2002, 312; ders., Das Kreuz mit dem Konjunktiv, Jura 2002, 32; ders., Das vertrackte „Verbindungs“-Wesen: Zum richtigen Gebrauch von Konjunktionen, Jura 2002, 599. 2 Das ist beispielsweise der Fall bei Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 278 ff. 3 Vgl. Siegfried Broß/Michael Ronellenfitsch, Besonderes Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozeßrecht, 5. Aufl. 1997, S. 3.

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stens zu durchdenken habe, um von diesem Ansatz her zum einschlägigen konkreten Streitstand, danach zur methodisch gesicherten Fallbearbeitung und von dort aus dann zur Fallösung zu gelangen.4 – Und das ist es dann in der Regel auch schon, jedenfalls was die Hinweise zum Sachverhalt als übergreifendes, allen Teildisziplinen des Rechts gemeinsames Phänomen betrifft. Die nächsten Informationsschritte führen bereits zu Besonderheiten des Zivilrechts, des Strafrechts und, später dann, des öffentlichen Rechts. Einige der Gründe für diese phänomenal dünne Ausbildungsluft um den Sachverhalt als juristisches Phänomen herum sind bekannt. Sie seien hier nur des Zusammenhangs wegen in Erinnerung gerufen. Andere Gründe bedürfen weiterer Überlegungen.

a) Zweistufige Juristenausbildung Im Konzept der zweistufigen Juristenausbildung, die nicht nur in NRW gilt, sondern in ganz Deutschland dominiert, sind die grundlegenden Ausbildungsschritte auf dem Weg zur „Ersten Prüfung“ im Sinne des § 2 JAG NW vom materiellen Recht geprägt. Es sind die großen Gesetzessysteme, welche die Ausbildung bestimmen, das StGB, das BGB, anschließend das Grundgesetz und die Verwaltungsverfahrensgesetze. Sowohl die methodische als auch die verfahrensrechtliche Ausbildung tritt in den Anfangssemestern gegenüber den kodifizierten Gesetzesmaterien deutlich zurück. Mit dieser Weichenstellung tritt naturgemäß auch der Sachverhalt in den Hintergrund. Dass sich die vom Studium her als selbstverständlich hingenommene geringe Bedeutung der Arbeit am Sachverhalt als Ausbildungsgrundlage später in der beruflichen Rechtspraxis geradezu in ihr Gegenteil verkehrt, die verfahrensmäßige Arbeit an der Ermittlung und Auswertung des Sachverhalts den weitaus größeren Anteil an Kraft und Zeitaufwand des Praktikers verlangt, verglichen mit der gutachterlichen Vorbereitung „reiner“ Rechtsanwendung, bleibt den angehenden Juristinnen und Juristen meist verschlossen. Wozu sich hierüber Gedanken machen? Der „Fall“ wird einem doch geliefert – in der Übung in Form von DIN A4-Blättern, die alle wesentlichen Informationen enthalten, in der Vorlesung in Form von Fallbeispielen, die den systematischen Stoff verdeutlichen sollen. Die eigentliche Rechtspraxis mit ihren verfahrensmäßigen und methodischen Sachverhaltsproblemen bleibt schwerpunktmäßig einer fernen Zukunft vorbehalten, irgendwann nach dem ersten Staatsexamen – falls einen der Weg tatsächlich einmal ___________ 4 Peter Schwacke, Juristische Methodik mit Technik der Fallbearbeitung, 4. Aufl. 2003, S. 44 f.; Gunther Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 13. Aufl. 2008, § 57 Rn. 774 ff., S. 373 ff.

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dorthin führen sollte. Nach „Pisa im Recht“ ist dieses Ziel für viele Studierende eher noch weiter entrückt.

b) Weichenstellungen im JAG Zwar ist gesetzliches Ausbildungsziel des Volljuristen unverändert die Befähigung zum Richteramt (§ 1 JAG NRW). Doch haben sich auf dem Weg dorthin mit der Gesetzesfassung aus dem Jahr 2003 Gewichtsverschiebungen ergeben, die erklären, warum die Arbeit am Sachverhalt als elementarer juristischer Befähigungsnachweis weiterhin an Bedeutung verloren hat. Unter „Recht“ wird für Studium und erste Staatsprüfung nur das in § 11 JAG NRW aufgeschlüsselte Prüfungsrecht verstanden, unter dem – wie erwähnt – die kodifizierten Gesetzesmaterien in den Pflichtfächern dominieren. Verfahrensgesetze sind durchweg nur „im Überblick“ Prüfungsstoff. Das ist, wohlgemerkt, eine Reduzierung schon auf der Ebene der Gesetzeskenntnis, nicht erst der methodischen und verfahrensrechtlichen Anforderungen, die dann naturgemäß überproportional zurücktreten. Was das bedeutet, kommt im gesetzlichen Ausbildungsziel für den Vorbereitungsdienst auf die zweite juristische Staatsprüfung zum Ausdruck. Nach § 39 Abs.1 Satz 1 JAG NRW sollen die Referendarinnen und Referendare lernen, auf der Grundlage ihrer im Studium erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten eine praktische Tätigkeit in Rechtsprechung, Verwaltung und Rechtsberatung…selbstverantwortlich wahrzunehmen.“ Hierzu gehört nach Satz 2, dass sie in der Lage sind, „sich selbständig auch in solche juristische Tätigkeiten einzuarbeiten, in denen sie nicht ausgebildet worden sind.“ In dieser Bestimmung liegt das Eingeständnis des Gesetzgebers, dass erst die Verknüpfung von materiellen Rechtskenntnissen mit methodisch gesicherter Rechtsanwendung und den hierzu erforderlichen verfahrensrechtlichen Fähigkeiten zur eigenverantwortlichen und selbständigen juristischen Tätigkeit führt. Hier liegen Spielräume für die Ausgestaltung der Studienordnungen an den juristischen Fakultäten. Die Befähigung zum Richteramt erlangt man im zweistufigen Ausbildungssystem erst auf der Grundlage beider Ausbildungsabschnitte, des Universitätsstudiums und des Referendariats. Daran kann und wird sich auch in Zukunft so schnell nichts ändern. Die Frage ist jedoch, ob die juristischen Fakultäten nicht deutlich mehr für eine frühzeitigere und methodisch besser abgesicherte Verknüpfung von materieller Gesetzeskenntnis mit praktischer juristischer Arbeitskompetenz tun könnten. Wenn die Prämisse des Gesetzgebers im JAG stimmt, wofür alles spricht, dann wären auf diesem Wege schon im Verlauf des Studiums erhebliche Gewinne im Hinblick auf selbständige und eigenverantwortliche juristische Arbeitsweisen erreichbar. Es ist nicht ausgeschlossen, sondern

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eher wahrscheinlich, dass auf diese Weise die Erfolgsquote bei der schriftlichen Fallbearbeitung erhöht und so vielleicht auch dem Studienabbruch entgegengewirkt werden kann.

c) Missverständliche „Gegenüberstellung“ von Sachverhalt und Gesetz In dem Maße, in dem im Studium die konkrete Arbeit am Sachverhalt und mit dem Sachverhalt zurücktritt, wird die Aufmerksamkeit gleichsam automatisch auf das Gesetz gelenkt. Gesetzeskenntnis und Gesetzesverständnis werden so in der theoretisch wenig oder gar nicht abgesicherten Wahrnehmung durch die Studierenden zu den unangefochtenen Kulminationspunkten des Jurastudiums. Hier soll nicht etwa einer Geringschätzung des Gesetzes das Wort geredet werden, ganz und gar nicht. Klar benannt werden sollen jedoch die Gefahren von Missverständnissen, die dann entstehen, wenn Sachverhalt und gedanklich unscharf bleibendes Gesetz einander strikt gegenübergestellt werden.5 Das gilt namentlich dann, wenn darüber hinaus Gesetz und Recht schlicht ineinsgesetzt werden, was bei unreflektiertem Umgang mit Begriff und Vorstellung des Gesetzes häufig geschieht. Für den Sachverhalt hat diese Vorstellung fatale Konsequenzen. Sachverhalt und Recht treten nach dieser Vorstellung in einen Gegensatz, in dem die Existenzform des Rechts auf die Verankerung im abstrakten Gesetz reduziert wird. Für den Sachverhalt bleibt – wiederum: nach dieser Vorstellung! – die bloße Funktion als Rechtsstoffsammlung, die erst noch der Anwendung des Rechts auf den Sachverhalt harrt. Es ist schwer, den Studierenden von diesen in der Ausbildung verbreiteten und eingefahrenen Vorstellungen her den Weg zu einer realitätsbezogenen, effektiv erlernbaren und praktikablen Rechtskonzeption zu weisen. Niemand begreift, wo denn im Einzelfall der wirkliche Rechtsanspruch oder die wirkliche Rechtsverletzung herkommen soll, wenn der Sachverhalt „rechtsleer“ bleibt und wirkliche Rechtsbeziehungen erst aus den Höhen des abstrakten Gesetzes an den Fall herangetragen werden müssen.

d) Grundlagenfächer in den Anfangssemestern Nun werden aus dem zweistufigen Weg zur Juristenausbildung über die reine Gesetzessystematik hinausführende weitergehende Ausbildungselemente keineswegs ausgeklammert. So verlangt das JAG eine Unterweisung in Rechts___________ 5 Diese Vorgehensweise der meisten Rechtslehren, die der gängigen Juristischen Methodik folgen, wird klar beschrieben bei Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, S. 438.

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geschichte sowie eine Kenntnis sozialer und ökonomischer Dimensionen des Rechts im gesellschaftlichen Kontext. Hinzu kommen Grundkenntnisse in rechtstheoretischen Fragen. Die meisten Universitäten verlegen diese Themenbereiche der Juristenausbildung schwerpunktmäßig in die Anfangssemester. Das hat für die Vorstellung von der Bedeutung des Sachverhalts im Recht bei den Studierenden erhebliche Konsequenzen. Eine vorurteilslose Herangehensweise an das Verfahren der Sachverhaltsermittlung und sodann an die methodische Fallbearbeitung erscheint schon vom Ausbildungsweg her gar nicht mehr gefragt zu sein. Jedenfalls nicht ohne Berücksichtigung der verschiedenen außerjuristischen Kontexte. Diese generelle Kontextsicht des Rechts wird zu einem Zeitpunkt Bestandteil der juristischen Ausbildung, zu dem die Studierenden weder über gesicherte verfahrensrechtliche Kenntnisse noch über gesicherte methodische Grundfähigkeiten auf dem Gebiet der Fallbearbeitung verfügen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die Bearbeitung konkreter Fälle bei den Studierenden zunehmend zur Horrorvorstellung wird. Dieses für das juristische Ausbildungsziel denkbar abträgliche Schreckgespenst wird in dem Maße zunehmen, in dem die verfahrensrechtlichen und methodischen Grundlagen des Rechtsstudiums gegenüber allen möglichen anderen Dingen zeitlich und bedeutungsmäßig in den Studienplänen zurücktreten.

2. Die Vermittlung des Sachverhalts im Studium nach gängiger Lehre (Juristische Methode) Von einem ganz anderen Ansatz als den Justizausbildungsgesetzen der Länder her liefert die sog. Juristische Methode die aufschlussreichsten Einblicke in die Rolle des Sachverhalts bei der Juristenausbildung. In gewisser Weise handelt es sich bei dieser Methode um den „Katechismus“ aller in Deutschland und Österreich ausgebildeten und praktizierenden Juristen, also eine Art offiziöses Lehrbuch für den Unterricht. Die Schweiz geht – auch in diesem Bereich – andere Wege, wofür es, wie noch zu zeigen ist, gute Gründe gibt. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist folgendes vorauszuschicken. Die juristische Methode ist keine systematische Theorie des Rechts schlechthin. Wie schon ihr Name andeutet, geht es eher ausschnitthaft darum, für die Zwekke der juristischen Ausbildung und der Rechtspraxis einen gesicherten Zugang zum gesamten Rechtsstoff zu eröffnen und zugleich ein für Studium wie Praxis gleichermaßen unverzichtbares Grundverständnis vom Recht zu vermitteln.6 Die juristische Methode will keine gültige Antwort auf die Frage geben: „Was ist Recht?“ Sie will vielmehr den Weg weisen, wie das im Streitfall einschlägi___________ 6 Vgl. statt Vieler Peter Schwacke, Juristische Methodik mit Technik der Fallbearbeitung, 4. Aufl. 2003.

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ge Recht aufzufinden ist und wie man es schulmäßig auf den Streitfall anzuwenden hat, um diesen zu lösen. Man könnte von einer juristischen Streitbeilegungsmethode sprechen. Damit trifft man aber wohl nur einen schon recht weit zurückliegenden Grundgedanken. In der universitären Juristenausbildung wie in der beratenden, verwaltenden und gerichtlichen Rechtspraxis ist aus der juristischen Methode im Laufe der Zeit weit mehr geworden. Sie ist die Theorie der ausbildungsbezogenen wie der anwendungsbezogenen Rechtspraxis schlechthin. Ihre grundlegende Dichotomie, nämlich durchgängige Kritik an ihren theoretischen Unzulänglichkeiten bei gleichzeitig dominanter Akzeptanz ihrer Schlüsselbedeutung als „Eckdatentheorie“ für alle maßgeblichen Grundlagen des Rechts, entspringt einem praktischen Bedürfnis. Einen Rechtsstillstand durch andauernde Theoriedefizite in der Grundlagenforschung verträgt weder die universitäre Juristenausbildung noch die Praxis in ihrer Verantwortung gegenüber dem rechtsuchenden Publikum. Der Bedarf an Antworten auch auf grundlegende Rechtsfragen, der hieraus entsteht, wird in einem sehr praxisbezogenen und durchaus vordergründigen Sinne von der juristischen Methode in erheblichem Umfang gedeckt.

a) Normativistisches Rechtsdenken der juristischen Methode Nicht übersehen werden darf hierbei die Verknüpfung dieser Methode mit bestimmten Grundpositionen in der Rechtstheorie. Das ist insbesondere ihr strikt normativistisches Rechtsverständnis, ausgedrückt im Rechtssatz, worunter die auf der juristischen Methode aufbauende Rechtslehre die vornehmlich im Gesetz formulierte Norm versteht. Vor diesem Hintergrund lässt sich die heutige Bedeutung der juristischen Methode als compositum mixtum aus Rechtsauffindungs-, Rechtsanwendungsund Rechtsausbildungslehre beschreiben, die ihre maßgeblichen wissenschaftlichen Erklärungsmodelle in den normativen Rechtstheorien findet. Dieser trotz starker Praxisorientierung voraussetzungsvolle Gehalt der juristischen Methode erlaubt folgenden kursorischen Überblick, aus dem sich auch die Rolle des Sachverhalts in der universitären Ausbildung aufschlüsseln lässt. Als Sinn und Aufgabe der juristischen Methode wird hervorgehoben, „den sehr komplexen Rechtsanwendungsvorgang zutreffend abzubilden und zur Rechtsfindung derart anzuleiten, dass vor allem Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit und Akzeptanz der Rechtsentscheidung weitestgehend verbürgt“ seien. Mit Hilfe der juristischen Methode werden somit „die zur Rationalität der Rechtspraxis erforderlichen Maßstäbe“ entwickelt.7 Den theoreti___________ 7 Peter Schwacke, Juristische Methodik mit Technik der Fallbearbeitung, 4. Aufl. 2003, S.2.

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schen wie den praktischen Angelpunkt bildet hierbei der „Rechtssatz“, der gleichbedeutend mit dem Ausdruck „Rechtsnorm“ gebraucht wird.8 Er stellt die „Regel des Rechts“ dar, der normativer Sinn zukommt. Das ist in erster Linie das Gesetz, gemeint ist das Parlamentsgesetz. Der parlamentarische Gesetzgeber wird durch autoritative Formulierung des gesetzlichen Rechtssatzes zum Schöpfer der gesetzlichen Rechtsnorm. Ihr kommt als „Norm“ allgemeinverbindlicher Geltungsanspruch zu. Idealiter ist das Gesetz sowohl Verhaltensnorm für den Bürger als auch Entscheidungsnorm für Gerichte und Behörden. Auf Besonderheiten wie unvollständige Rechtssätze, über- und untergesetzliche Normen etc. kann hier nicht näher eingegangen werden. Rechtssatz und linguistischer Aussagesatz sind zwar nicht dasselbe. Dem steht der normative Sinn des Rechtssatzes entgegen. Aber ihre logische Struktur weist doch im Grundverständnis der juristischen Methode weit reichende Ähnlichkeit auf. So wie Existenz und Herkunft jedes Rechtssatzes von der jeweiligen Gesetzesnorm her erklärt werden, so ergibt sich das Recht in seiner Gesamtheit, logisch gleichsam automatisch, aus der Gesamtheit aller Rechtssätze. Dies ist die gängige Antwort der Juristischen Methodik auf die Frage nach dem Recht im objektiven Sinne.

b) Der Sachverhalt als Produkt rechtstechnisch-normativer Arbeitsweise Wo bleibt in diesem Rechtsmodell der Sachverhalt? Eine erste Antwort lautet: er wird weder zur Erklärung der Herkunft noch zur Erklärung der Existenzform des „objektiven“ Rechts benötigt. Dem juristischen Sachverhalt kommt rechtstechnische, auf die Lösung einer konkreten Rechtsstreitigkeit bezogene Bedeutung zu. Hierbei werden juristischer Sachverhalt und allgemeiner Lebenssachverhalt unterschieden. Den Sachverhalt bildet der zur Entscheidung eines Falles berufene Jurist auf der Grundlage der sog. Rohdaten des Lebenssachverhalts. Ontologischer Lebenssachverhalt, d.h. mehr oder weniger zufälliger Ausschnitt aus der Wirklichkeit und Vielfalt des Lebens, und juristischer Sachverhalt sind nicht dasselbe. Letzterer besteht nur noch aus den rechtlich, d.h. den nach Maßgabe des einschlägigen Rechtssatzes normativ relevanten Daten. Diese müssen derjenigen Lebenssituation entnommen werden, welche die jeweilige Streitgrundlage darstellt. Das kann nur der ausgebildete Jurist, der über die erforderlichen Gesetzeskenntnisse und methodischen Rechtsanwendungsfähigkeiten verfügt. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ist also das Produkt einer arbeitstechnischen juristischen Konstruk-

___________ 8

Vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 250.

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tion9 auf der Grundlage konkreter Fallinformationen. Hierüber dürfte weitgehend Einigkeit bestehen. Wie bereits angedeutet, führt dieses Verständnis zu merkwürdigen und krassen Bedeutungsunterschieden des Sachverhalts einmal in der universitären Ausbildung und zum anderen in der professionellen Rechtspraxis, für die ja eigentlich ausgebildet werden soll. Den Studierenden traut man die Fähigkeit zur Sachverhaltsermittlung, also zur selbständigen Bildung der relevanten fallbezogenen Entscheidungsgrundlage für die Lösung des jeweiligen Streitfalles, nicht zu.10 Sie bekommen die fertigen Sachverhalte geliefert. Die didaktisch wie – folgerichtig – in der Erwartungshaltung der angehenden Juristinnen und Juristen maßgebliche Blickrichtung ist und bleibt nahezu über das gesamte Studium hinweg der Blick auf das Gesetz, auf die Norm, nicht auf die konkreten Sachverhalte. Aber damit nicht genug. Die Studierenden werden darüber hinaus in einer normativen Dominanz der Gesetze und Rechtssätze über die Sachverhalte unterwiesen, die schon psychologisch kaum noch Raum für die umgekehrte Blickrichtung lässt, nämlich für den Blick von den konkreten Sachverhaltsgegebenheiten her hin zur Bedeutung dieser Gegebenheiten für das Verständnis und die Auslegung der gesetzlichen Regel. Auch in der Methodik der Gesetzesauslegung dominieren nach der juristischen Methode objektive Auslegungstheorien, also normative Denkvorgaben. In ihrer Sperrwirkung gegenüber der Bedeutung konkreter Sachverhaltsgegebenheiten für die Rechtsfindung noch zusätzlich überhöht werden diese objektiven Theorien durch die noch immer dominierende Lehre zum Wortlaut des Gesetzes, in dem eine äußerste inhaltliche Schranke möglicher Gesetzeswirkungen für jeden vom Gesetz erfassten Einzelfall liegen soll. Methodisch ist die Gesetzesauslegung jedoch ein Kanon aus prinzipiell gleichrangigen Auslegungskriterien: Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte, gesetzlicher Telos. Erst in ihrem kombinierten Aussagegehalt auf die jeweilige konkrete Fallfrage gelangt man zu den für die Fallösung einschlägigen gesetzmäßigen Rechtswirkungen. Dass für die Herausarbeitung der konkreten Fallfrage eine von der Gesetzesauslegung zu unterscheidende Sachverhaltsauslegung durchgeführt werden muß, die überhaupt erst zur Anwendbarkeit des Gesetzes, d.h. zur Begründbarkeit gesetzlicher Rechtswirkungen im konkreten Fall, führt, bleibt vielen Studierenden dauerhaft verschlossen. Der Blick haftet gebannt auf dem Gesetz. Dem Sachverhalt wird nur eine „Gesetzesauffindungsfunktion“ ___________ 9

So Philippe Mastronardi, Juristisches Denken. Eine Einführung, 2001, Rn. 680; siehe auch Walter Grasnick, Gedanken über juristisches Denken und zu dem gleichnamigen Buch von Philippe Mastronardi, Jura 2003, 664. 10 Das ist auch die Quintessenz der Ausführungen von Walter Grasnick, Gedanken über juristisches Denken, Jura 2003, 666.

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beigemessen. Auf einer denkbar frühen gedanklichen Stufe wird die Sprache des Sachverhalts bereits so weit der abstrakten Sprache des Gesetzes angenähert, dass die juristische Innovationskraft, die im konkreten Lebenssachverhalt begründet ist, weitgehend verloren geht. Die Analyse des konkreten Lebenssachverhalts nach Maßgabe der Realdaten des Falles unter Berücksichtigung konkreter Lebenserfahrung, also ohne rechtstechnische Konzentration und – leider oft – lebensfremde Verkümmerung, für dieses wichtige Element qualitätsvoller juristischer Arbeit gibt es in der universitären Ausbildung nur sehr wenige geeignete Darstellungs- und Übungsplätze.

c) Die Sprache als Existenzform von Gesetz und Sachverhalt Zwischen der Sprache des Gesetzes und der Sprache des Sachverhalts bestehen nach der juristischen Methodik zwar unterschiedliche Strukturen. Insbesondere wird der konkrete Sachverhalt im Hinblick und in Abhängigkeit von der abstrakten Gesetzessprache formuliert. Das ändert aber nichts daran, dass alle Arbeitsschritte im Rahmen der Rechtsfindung und alle hierfür benötigten allgemeinen Rechtsgrundlagen sprachliche Ausdrucksformen gefunden haben müssen, bevor mit ihnen von Fall zu Fall gearbeitet werden kann.11 Nach Maßgabe der juristischen Methodik sind hieraus weit reichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Folgt man dem, so vollzieht sich Recht in der Sprache; die Sprache wird als Seinsgrund des Rechts verstanden.12 Werden Recht und Sprache dermaßen eng genetisch miteinander verknüpft, so entscheidet folgerichtig das jeweilige Sprachmodell über die maßgebliche Daseinsform des Sachverhalts und über das maßgebliche Sachverhaltsverständnis. Es ist hier nicht der Ort, näher auf die heute in der juristischen Methodik dominierenden Sprachmodelle einzugehen. Ein nach wie vor sehr bedeutsamer Unterschied bedarf jedoch näherer Erläuterung. Das ist der Unterschied zwischen zweigliedrigen und dreigliedrigen Sprachmodellen.13 Während traditionelle, aristotelisch geprägte normativistische Sprachmodelle dreigliedrig strukturiert sind, gehen jüngere, linguistisch geprägte Sprachmodelle zweigliedrig vor. ___________ 11

So dezidiert Gerd Roellecke, Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 323 (330 ff.,

336). 12 So die Formulierung in der Darstellung bei Klaus Goutier, Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre im Lichte der evolutionären Erkenntnistheorie. Unter besonderer Berücksichtigung heutiger naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, 1989, S. 2. 13 Siehe hierzu näher Klaus Goutier, Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre (Fn. 12), S. 3 ff.

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Dreigliedrig ist ein Sprachmodell, in dem Sprachlaute, also Wörter, mit diesen Wörtern verknüpfte Denk- und Bewusstseinsinhalte, vor allem Begriffe, und Bezugsgegenstände unterschieden werden, auf die sich solche Begriffe und Sprachlaute beziehen. Lassen sich diese Bezugsgegenstände als Lebewesen, Sachen, Sacheigenschaften oder Merkmale an sonstigen beobachtbaren Gegenständen nachweisen, ist ein aus ihnen gebildeter Sachverhalt real. Er besteht aus wirklichen Seinsgegebenheiten. Bei einer in einem Presseartikel enthaltenen Beleidigung ist dies z.B. der tatsächliche aus dem Artikel selbst belegbare Umstand, dass dort ein eine andere Person herabsetzender Satz aufgestellt und verbreitet worden ist. Ob sich dieser beleidigende Satz seinerseits auf eine verifizierbare oder nicht-verifizierbare Begebenheit bezieht, darauf kommt es für die Realität des Beleidigungssachverhalts nicht an. Das Sachverhaltsverständnis dieses Sprachmodells führt zu zwei interessanten Besonderheiten. Zum einen können Sachverhaltsgegebenheiten ungeachtet der Sprachform, die sie zu ihrer Darstellung und „Vermittlung“ benötigen, im Prinzip problemlos falsifiziert oder verifiziert werden. Der bloße Sprachbefund schafft zwar eine Realitätsannäherung, aber keine abschließende Sachverhaltsrealität. Hiermit hängt eng die zweite Besonderheit zusammen. Der sprachlichen Sachverhaltsbeschreibung stehen vielfältige Darstellungsmöglichkeiten offen, die alle zu demselben Ergebnis führen können: einer verbreiteten Verständigung über den betreffenden Sachverhalt. Hiernach gibt es eine Sachverhaltsidentität trotz vielfältigster Sprachabweichungen. Zweigliedrige Sprachmodelle innerhalb der juristischen Methodik führen demgegenüber zu einem gänzlich anderen Sachverhaltsverständnis. In ihrem von Wittgenstein begründeten Grundmuster14 bedeutet schon die sprachliche Bezeichnung den Gegenstand. Zwischen Gegenstand und Bedeutung wird nicht unterschieden. Im einfachsten Satz, dem Elementarsatz, wird das Bestehen eines Sachverhalts behauptet. Die sprachlichen Elemente eines Elementarsatzes stellen eine namentliche Verkettung, einen textlichen Sprachzusammenhang dar. In diesem Sprachmodell werden die Gegenstände unmittelbar ihrer sprachlichen Benennung zugeordnet. Für den Sachverhalt liegt hierin die Vorstellung begründet, dass schon die Sprachform des betreffenden Sachverhalts unmittelbar, eben durch sprachliche Benennung, einen Bedeutungsgehalt begründet, der im Rahmen einer ganz entsprechenden Bedeutungsfeststellung auf der Gesetzesebene einen direkten Bedeutungsabgleich ermöglicht. Hierfür soll neben den jeweiligen Sprachfassungen, also den juristisch maßgeblichen Bedeutungsgrundlagen in Gesetz und Sachverhalt, nur noch der Vorgang einer logischen Ableitung (Subsumtion) der ___________ 14 Ludwig Wittgenstein, Die Welt ist alles, was der Fall ist, Tractatus logico-philosophicus, Vorwort und Sätze 1-2.225.

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gesuchten Rechtslösung aus dem Gesetz erforderlich sein. In diesem zweigliedrigen Sprachmodell enthält das Gesetz in seiner abstrakten Sprache die vorgeprägte Wirklichkeit für alle vom Gesetz bedeutungsmäßig erfassten Sachverhalte. Der Sachverhalt ist nach diesem zweigliedrigen Modell das konkretisierte sprachliche Gesetzessubstrat, aus dem sich die Lösung des Rechtsfalles durch „logische“ Operation ableiten lässt. Auf die ungeheure Bedeutungsvielfalt von Gesetzestexten und Sachverhaltsdarstellungen in ihrem jeweiligen Wirklichkeitskontext geht das zweigliedrige Modell nicht unmittelbar ein. Die Bedeutungsebene für die juristische Arbeit erschließt sich in diesem Modell nur textlich, nämlich normtextlich und sachverhaltstextlich. In dieser normativistischen Textgebundenheit sind nach der juristischen Methodik auch alle – immanent miteinander verknüpften – Bedeutungsebenen von Gesetz und Sachverhalt eingeschlossen. Die spezifische Eigenart des zweigliedrigen Modells liegt hierbei darin, dass zwischen den beiden jeweils sprachgeformten Bedeutungsebenen des Gesetzes und des Sachverhalts ein unmittelbarer Konkretisierungszusammenhang hergestellt wird. Die Sprache des Gesetzes bezeichnet unmittelbar die Gegenstände des Rechts, die ihrerseits die vorgeformte Rechtswirklichkeit der Sachverhaltsebene enthalten. Eine dritte Ebene, auf welcher die realen Wahrnehmungen und hiervon denkmäßig hergeleiteten Begriffsbildungen stattfinden, auf die sich dann ihrerseits die Sprachsätze und Texte beziehen, ist im zweigliedrigen Sprachmodell des Rechts nicht erforderlich.

3. Im Umgang mit dem Sachverhalt begründete studentische Fehlleistungen Der Sachverhalt sind die konkreten Daten des Rechtsfalles, in denen der jeweilige Rechtsstreit bzw. die jeweilige konkrete Rechtsfrage begründet ist. Mit dem Ausdruck „Rechtsfall“ oder ganz einfach „Fall“ wird ein nach Ort, Zeit und individuellen Personen, Personengemeinschaften oder Organisationen bestimmbares Szenarium bezeichnet, in dem Handlungserfolge, enttäuschte Handlungserwartungen und Zustände in einer Weise aufeinander treffen, die mit den Vorstellungen der Beteiligten von ihren Rechten untereinander unvereinbar ist. Der Rechtsfall beschränkt sich hierbei nicht auf beobachtbare Schädigungshandlungen oder den aus dem Sachverhalt erkennbaren Nichteintritt geschuldeter Maßnahmen und Leistungen. Der Fall kann ebenso aus frustrierten Vorstellungen der Beteiligten über eine nicht vorhandene, aber rechtlich gebotene Verteilung von Vermögensgegenständen und Vermögensvorteilen bestehen. Welche Sachverhaltskonstellationen hierbei im Einzelnen möglich und daher denkbar sind, folgt den grundlegenden Strukturen des Rechts schlechthin, nämlich interpersonalen Beziehungen zwischen Personen und Organisationen

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im Rahmen konkreter Sachverhalte, die ein gegenseitiges Einwirken auf die beteiligten Akteure und Betroffenen oder auf ihre äußeren Lebensumstände mit konkreten Aus- und Rückwirkungen auf diese Akteure und Betroffenen möglich machen. Zu Sachverhalten in diesem Sinne dringt die juristische Methodik nicht durch. Im Gegenteil, sie läuft Gefahr, den Blick für eine unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit ausgerichtete empirisch ermittelte Bedeutung des Sachverhalts zu verstellen. Dieser Einwand richtet sich jedenfalls gegen diejenigen Versionen der juristischen Methodik, die dem zweigliedrigen Modell der Rechtssprache mit ihrem Verständnis des Gesetzes als rechtssatzmäßig – normativ – vorgeprägter Wirklichkeit folgen. Dreigliedrige Sprachmodelle sind von ihrem Ansatz her eher geeignet, diesem Einwand zu entgehen. Sie weisen neben dem Gesetz sowie der empirischen Ermittlung und konkreten Beschreibung des Sachverhalts eine wiederum empirisch gewonnene dritte Ebene aus systematisch geleiteter Erfahrungssammlung und hieraus gewonnener Begriffsbildung auf. Dieser dritten Ebene kommt eigenständige Funktion bei der rechtlichen Bedeutungsermittlung zu. Zunächst, im Bereich des konkreten Sachverhalts, ist diese Bedeutung nicht allein von den gegebenen Daten des formulierten Sachverhalts her, sondern vor allem auch vom konkreten Kontext her zu gewinnen, dem die Daten für die Sachverhaltsformulierung entnommen worden sind. Die Sprachfassung des Sachverhalts – wie übrigens jede juristische Textfassung gleichgültig auf welcher Ebene – muß den Regeln der Kontextzugänglichkeit folgen. Das ist in sprachlichen Vermittlungszusammenhängen immer nur bis zu einem gewissen Grad möglich. Entscheidend ist die Offenheit in Sprache gefasster Beobachtungs- und Wahrnehmungsergebnisse für den Kontext des Sachverhalts. Erst der Sachverhaltskontext erhält den Zugang zum wirklichen und zum vollständigen Sachverhalt, der vom Beobachter und vom Berichterstatter immer nur abstrahierend und somit unvollständig verarbeitet werden kann. Dreigliedrige Sprachmodelle eröffnen darüber hinaus die Möglichkeit, die Kontextabhängigkeit der Sachverhaltsbedeutung in die Auslegungsarbeit an der Bedeutung des Gesetzestextes einfließen zu lassen. Erst hiermit ist gewährleistet, dass die abstrakte Sprachfassung des Rechtsgesetzes ihren Wirklichkeitsbezug nicht verliert. Der deutlich erschwerte, wenn nicht verstellte Zugang zu möglichst unmittelbarer kontextbezogener juristischer Fallbearbeitung in zweigliedrigen Sprachmodellen begünstigt spezifische Fehlleistungen in der Fallbearbeitung, unter denen die juristische Ausbildung bis heute leidet. Hier wird die These vertreten, dass diese von ihren zentralen Stichworten her wohlbekannten Fehlleistungen in Fehlvorstellungen vom konkreten Sachverhalt als solchem und

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von seiner Bedeutung für die Fallösung begründet sind. Sie können von diesem Ansatz her geradezu aufgeschlüsselt werden.

a) Verkennung der Aufgabenstellung des Falles Vor allem generalisierende Fragestellungen am Ende einer universitären Fallaufgabe, etwa „Wie ist die Rechtslage“ etc., enthalten für Bearbeiter ohne klare Vorstellung von der Bedeutung des konkreten Sachverhalts für das verlangte Gutachten erhebliche Risiken. Sie bestehen darin, nicht zu erkennen, dass aufgrund der mangelnden Spezifizierung der weiträumigen Fragestellung zunächst einmal sämtliche streitigen Rechtsbeziehungen und hiermit verbundenen konkreten Rechtsfragen ermittelt werden müssen, die sich aus der vorgegebenen Sachverhaltskonstellation ergeben. Im vorgegebenen Sachverhalt selbst gibt es also auf der Grundlage der generellen Frage nach „der Rechtslage“ im eigentlichen Sinne überhaupt keine Fallfrage. Vielmehr müssen alle streitigen und daher fraglichen Rechtsbeziehungen des Falles vom Bearbeiter in einem ersten Arbeitsgang selbst zusammengestellt und formuliert werden. Wer hier nicht konkret ermittelnd und analysierend, sondern assoziativ arbeitet, assoziativ im Sinne von unmittelbaren (nicht im Sachverhalt verankerten) abstrakten Rechtsfragen in Anlehnung an Rechtsstichworte aus der Fallformulierung, hat das Rennen oft schon im Ansatz verloren. Er findet schon vom methodischen Ansatz her keinen Zugang zu einer konkreten Fallösung, weil die konkreten Fallfragen nicht ermittelt worden sind.

b) Verkennung gutachterlich relevanter Fragestellungen Wem die generelle Aufgabenstellung des Falles keinerlei Schwierigkeiten bereitet, wer also sozusagen das gesamte gutachterliche Bearbeitungsprogramm im Griff hat, dem können dennoch Bearbeitungsfehler „auf der Strecke“ unterlaufen. Dieses Risiko ist bekannt. Die Fallfrage, die am Ende des Falles steht, der den Studierenden in DIN A 4-Form ausgehändigt wird, liefert nur die Grundlage – mitunter auch nur den Rahmen – für weitergehende spezifischere Fragestellungen, die auf dem Weg zur Fallösung Schritt für Schritt erarbeitet werden müssen. Gutachterlich relevant sind nur diejenigen Fragestellungen, welche zu gesicherten Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Beantwortung der Fallfrage führen. Auch hier gilt: den Maßstab für gutachterliche Relevanz liefert allein der konkrete Sachverhalt, nicht das Gesetz. Auf das Gesetz darf erst zurückgegriffen werden, wenn dieser Maßstab formuliert ist, wenn also sozusagen die jeweilige konkrete Fragestellung steht. Sonst werden leicht falsche Zusammen-

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hänge hergestellt und der Fallbezug geht verloren. Kann beispielsweise ein Notarzt, der zu einer Patientin gerufen wird, die plötzliche heftige Schmerzen in der Herzgegend hat, sein Grundstück mit seinem PKW nicht verlassen, weil er verkehrsordnungswidrig zugeparkt wurde, haben herbeigerufene Polizeibeamte eine Gefahrensituation auf der Grundlage der einschlägigen Polizeigesetze zu bereinigen. Entsteht hieraus Streit über eine durchgeführte Abschleppmaßnahme, so ist die einschlägige Polizeigefahr nicht etwa der drohende Tod der Patientin, weil ihr keine rechtzeitige Hilfe zukommt. Einschlägig ist allein die Behinderung des Arztes, die diesem verkehrsordnungswidrig und im Widerspruch zu seinen persönlichen Anliegerrechten die Möglichkeit des Zugangs zum Straßenverkehr nimmt. Eine vom Gesetz verlangte konkrete Gefahrenlage liegt im Hinblick auf beide Situationen vor, die Verkehrslage an der Grundstücksausfahrt und den bedrohlichen Gesundheitszustand der Patientin. Letztere ist rechtlich für den Fall jedoch nicht relevant, weil ihr jeder Begründungszusammenhang mit der Abschleppmaßnahme und den hieraus entstandenen Kosten fehlt. Dieses Ergebnis lässt sich in punkto konkrete Gefahr nur aus den Daten des Sachverhalts begründen, nicht aus dem Gesetz.

c) Falsche Rechtsgrundlage Den Vorwurf, mit einer falschen Rechtsgrundlage zu arbeiten, handeln sich Bearbeiter ein, die eine die konkret fragliche Rechtsbeziehung nicht oder nicht hinreichend abdeckende Gesetzesgrundlage oder sonstige allgemeine Rechtsregel heranziehen. Das mag banal klingen. Die Häufigkeit des Fehlers, insbesondere im Umgang mit nicht hinreichend passenden Rechtsgrundlagen, lässt jedoch auf ein tiefer liegendes ungelöstes Probleme schließen. Sieht man sich einschlägige Fälle genauer an, stößt man immer wieder auf dieselbe Fehlerquelle. Es fehlt das Verständnis dafür, dass es allein die konkret im Streit befindliche Rechtsbeziehung ist, und zwar in dem von der jeweiligen Streitpartei bestimmten Umfang, die den Maßstab dafür liefert, ob eine herangezogene allgemeine Rechtsgrundlage passt, nicht passt oder nur im Ansatz passt, also durch weitere allgemeine Rechtsgrundlagen ergänzt werden muß. Wenn beispielsweise der Herausgeber einer finanzrechtlichen Zeitschrift vom Präsidenten des Bundesfinanzhofs zeitgleiche und regelmäßige Überlassung von Gerichtsurteilen verlangt, die Richter dieses Gerichts aufgrund privatrechtlicher Verträge dem Verleger einer konkurrierenden Finanzzeitschrift regelmäßig überlassen, dann passt der Informationszugangsanspruch nach § 4 Abs.1 des Informationsfreiheitsgesetzes nur im Ansatz. Mit diesem antragsabhängigen Informationsüberlassungsanspruch werden nur individualisierte einzelne Informationsüberlassungsvorgänge erfasst. Konkret streitig ist aber darüber hinaus eine Gleichbehandlung mit der dauernden und regelmäßigen Überlassung von Urteilen an einen Konkurrenten. § 4 Abs. 1 IFG greift also nur in Verbindung mit dem

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Nachweis einer ständigen Verwaltungspraxis, von der ohne sachlichen Grund im Einzelfall abgewichen wird. Das hatten in einer Examenshausarbeit, aus der diese Fragestellung stammt, sämtliche Bearbeiter übersehen.

d) Begründungsmängel Begründungsmängel sind der häufigste Grund dafür, dass an sich brauchbare Arbeiten nicht über ein unteres oder mittleres Leistungsniveau hinausgelangen. Die Erscheinungsformen von Begründungsmängeln sind vielfältig. Es kann sich um für eine tragfähige Begründung irrelevante Ausführungen handeln. Oberflächliche Begründungen bleiben vielfach in bloßen Behauptungen stecken, lassen also den Nachweis vermissen, dass der konkrete Sachverhalt ein zu begründendes gesetzliches Tatbestandselement wirklich erfüllt. Nicht überzeugende Begründungen enthalten zwar eine gewisse argumentative Substanz, gehen also über bloße Behauptungen, ein gesetzliches Erfordernis sei erfüllt, hinaus. Es fehlt aber die sachliche Stringenz des Begründungszusammenhangs, die zu der Überzeugung führt, dass gesetzliche Voraussetzungen wirklich erfüllt sind. Auch diese Begründungsmängel, so unterschiedlich sie im Einzelnen sein mögen, lassen sich aus Defiziten im Umgang mit dem konkreten Sachverhalt schlüssig erklären. Es gibt keinen anderen Weg, eine im konkreten Fall streitige Rechtsbeziehung nach Maßgabe des Streitstandes unter den Beteiligten korrekt zu beschreiben und Schritt für Schritt mit Hilfe allgemeiner Rechtsregeln nachzuweisen oder zu widerlegen, als über die Analyse des Sachverhalts. Die Begründung einer streitigen Rechtsbeziehung ist geglückt, wenn sie als im konkreten Fall wirklich gegeben nachgewiesen ist. Das Gesetz oder die sonstige allgemeine Rechtsregel stellt die hierfür erforderlichen Instrumente zur Verfügung. Erneut ist es der Sachverhalt, der den konkreten Stoff liefert und zugleich den Gegenstand, der begründet werden muß. Aus dem abstrakten Gesetz heraus kann niemand von der Existenz einer konkreten Rechtsbeziehung überzeugt werden. So wichtig die Gesetzesauslegung ist, sie bleibt für sich genommen „dünn“. Bei den genannten Begründungsmängeln handelt es sich sozusagen um Spiegelbilder von im Gesetz stecken gebliebenen, nicht oder nur unzureichend zum Sachverhalt durchgedrungenen Argumentationsbemühungen. Einen Begründungsmangel ganz anderer Art stellt der umgekehrte Fall bloßer Sachverhaltswiederholung dar. Hier fehlt die Verbindung zum einschlägigen Gesetz, oft auch der Zusammenhang mit der konkreten fraglichen Rechtsbeziehung. Die Ausführungen können die Begründung der fraglichen Rechtsbeziehung nicht voranbringen, weil schon die Nachweisgrundlagen für die Rechtsfindung nicht bestimmt worden sind.

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e) Mangelnder Fallbezug Einen krassen Fall der Sachverhaltsverfehlung sind Ausführungen ohne Fallbezug. Sie kommen auch in gelungenen Arbeiten immer wieder „auf der Strecke“ vor. Das heißt, selbst gute Bearbeiterinnen und Bearbeiter, die tragfähige Prüfungsansätze formuliert haben, sind nicht davor gefeit, den Faden zu verlieren. „Der Faden“ ist hierbei der Begründungs- und Argumentationszusammenhang, der aus der streitigen Rechtsbeziehung, den tatsächlichen Gegebenheiten des Falles, die den Rechtskontext bilden, sowie den Instrumenten der Rechtsfindung, den Gesetzen und allgemeinen Rechtsregeln, gebildet wird. Mangelnder Fallbezug liegt typischerweise bei lehrbuchhaften Ausführungen vor. Sie sind selbst als abstrakte Fragmente der Gesetzesauslegung dann nicht brauchbar, wenn die Frage offen bleibt, warum es gerade auf diesen dogmatischen Auslegungsaspekt für den Nachweis der streitigen Rechtsbeziehung ankommt.

f) Verfehlte Schwerpunktsetzung im Gutachten Auch verfehlte Schwerpunktsetzungen im Gutachten lassen sich auf Mängel im Umgang mit dem Sachverhalt zurückführen. Zum Sachverhalt gehören neben den tatsächlichen Gegebenheiten, dem Kontext des Falles, das Begehren und der hierfür maßgebliche Rechtsstandpunkt der beteiligten Streitparteien. Dieser von den Parteien geprägte rechtliche Streitstoff bestimmt nicht nur den gutachterlichen Prüfungsumfang, sondern auch die Schwerpunkte der rechtlichen Erörterung.15 Sie sind das Ergebnis einer Wechselbeziehung aus streitigem Rechtsbegehren, hierin eingeschlossenen konkreten Fallfragen und rechtlichen Begründungswegen, die aus den einschlägigen Gesetzes- und Rechtsgrundlagen entwickelt werden müssen. Zwar haben Rechtsgutachter Gestaltungsmöglichkeiten bei dieser Entwicklungsaufgabe. Die Bearbeitungsschwerpunkte bleiben jedoch im Streitstoff und in den verfügbaren Begründungswegen begründet. Sie sind dem Gestaltungsermessen der Gutachter entzogen.

II. Der Sachverhalt – die rechtswissenschaftliche Dimension Ein Sachverhalt sind alle gegebenen Einzelheiten eines Falles. Als „Fall“ kann man den jeweiligen Wirklichkeitsausschnitt bezeichnen, der unter einem bestimmten Erkenntnis- oder Verhandlungsinteresse relevant ist. Wer sich – wie der Autor dieser Zeilen – von diesen Prämissen her der Sachverhaltspro___________ 15 So der Sache nach zutreffend Siegfried Broß/Michael Ronellenfitsch, Besonderes Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozeßrecht, 5. Aufl. 1997, S. 3.

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blematik nähert, kommt letztlich zu einer empirisch-realistischen Rechtstheorie.16 In einer von diesen Prämissen her entwickelten Rechtsontologie bleibt für einen normativistischen Gesetzespositivismus kein Raum mehr. Entsprechend umfassend und tiefgreifend sind die Veränderungen, welche die Bedeutung des Sachverhalts im Rahmen eines solchen empirisch-realistischen Rechtskonzepts erfährt. Der Sachverhalt wird von einer konstruktiv aus dem Gesetz hergeleiteten Arbeitsplattform zur ontologischen Daseinsform des Rechts. Nur die konkreten Rechtsbeziehungen des Sachverhalts sind mit den Mitteln und Methoden der Rechtsfindung als Recht auffindbar und nachweisbar. Das Gesetz liefert die Instrumente, die Arbeitsgrundlagen hierfür. Um dies leisten zu können, muß das Gesetz geeignete rechtliche Strukturen aufweisen.

1. Von den Sachverhalten zu den allgemeinen Rechtsgesetzen Es ist hier nicht der Ort, den vielfältigen Schwierigkeiten nachzugehen, wie man über die ungeheure Vielfalt von Einzelheiten der Sachverhalte zur Erkenntnis allgemeiner Rechtsgesetze und gesetzmäßiger Rechtsstrukturen kommt. So viel kann als gesichert festgehalten werden: Eine wissenschaftliche Begründung des Rechts, die bei den konkreten Sachverhalten ansetzt, steht vor ungleich komplexeren und schwieriger zu bewältigenden Aufgaben als normativ beim abstrakt formulierten Parlamentsgesetz ansetzende Rechtstheorien.17 Dennoch gibt es sehr gute Gründe, diesen deutlich schwierigeren Weg bei der Arbeit an den Grundlagen des Rechts zu gehen. Alle bisherigen positivistischen Rechtslehren sind an imaginären und wirklichkeitsfremden kategorialen Gegensätzen von Sein und Sollen rechtstheoretisch wie rechtspraktisch gescheitert. Wer dagegen durchgängig den Sachverhalt zum Mittelpunkt juristischer Arbeit erhebt, in der Informationserhebung über die wirklich streitigen Rechtsbeziehungen, in der wissenschaftlich-systematischen Arbeit an Rechtsregeln, die sich aus der Vielzahl ähnlicher Sachverhalte ermitteln lassen sowie in einer ___________ 16

Von dieser in der Rechtstheorie nur vereinzelt vertretenen Grundlage geht die Reale Rechtslehre Ernst Wolfs aus (Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 3. Aufl. 1984; ders., Die Reale Rechtslehre und ihre Grundlagen, in: Ernst Wolf/Gerhard Wolf, Rechtsphilosophie – ein Irrweg!, 2002). 17 Ein aufschlussreicher Beleg hierfür sind die von einem allgemeinen ontologischen Ansatz her entwickelten Ausführungen von David Malet Armstrong, „Sachverhalte, Sachverhalte. State of Affairs“ (2005) und ders., „Was ist ein Naturgesetz? Law of Nature“ (2005). Während die Darstellung in „Was ist ein Naturgesetz?“ trotz ihres hohen Abstraktionsgrades problemlos lesbar ist, gehören die in „Sachverhalte, Sachverhalte“ unterbreiteten Überlegungen mit zum Schwierigsten, was die analytische Philosophie zur Zeit zu bieten hat. Das hat nichts mit einer mangelnden Durchdringung der Materie zu tun. Ganz im Gegenteil. Was Armstrong ausführt, gehört sicherlich zum Besten, was je zu dieser Thematik publiziert wurde.

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methodisch gesicherten Rückführung allgemeiner Regelstrukturen auf vielfältige neue Sachverhalte, der bleibt in allem, was er macht, gleich auf welcher Stufe der Rechtspraxis oder der Rechtstheorie, in der Realität des Rechts.

2. Allgemeines Rechtsgesetz und Parlamentsgesetz Wenn die konkreten Sachverhalte in ihren personalen Beziehungen und in ihrem faktischen Kontext die Daseinsform „des Rechts“ bilden, nämlich einzelner, in der Regel miteinander verschränkter rechtlicher Verhältnisse unter den Beteiligten, dann müssen sich auch die Rechtsgesetze aus den Sachverhalten erklären lassen.18 Das gilt jedenfalls für die allgemeinen Rechtsgesetze. Sie können hier grob als durch Abstraktion auf ausreichender empirischer Basis gewonnene wissenschaftlich gesicherte Zusammenhänge umschrieben werden, die ihrerseits weitergehende rechtliche Erkenntnisgrundlagen schaffen. „Im Prinzip“ bleibt das auf diese Weise gewonnene allgemeine Rechtsgesetz aber genauso falsifizierbar wie der konkrete Richterspruch im Einzelfall oder die Rechtmäßigkeit des behördlichen Verwaltungsaktes. Die wissenschaftliche Datenbasis und oft über Jahrhunderte hinweg reichende Systemarbeit, die dem allgemeinen Rechtsgesetz in seiner ganzen Breite zugrunde liegt, ist zwar ein deutlich erheblicheres Argument für die Stimmigkeit des allgemeinen Rechtsgesetzes im Vergleich zum Richterspruch oder zum Verwaltungsakt – aber eben wissenschaftlich kein prinzipieller Ausschluß der Falsifizierbarkeit. Wie verhält sich das Parlamentsgesetz zum allgemeinen Rechtsgesetz und was bedeuten hierin liegende Unterschiede zur jeweiligen Positionierung des Sachverhalts? Das deutschsprachige Rechtsdenken und die hiervon geprägte Parlamentsgesetzgebung sind in starkem Maße von Rechtsprinzipien geprägt. Über die Herkunft solcher Rechtsprinzipien wird – außerhalb der parlamentarisch-politischen Praxis – philosophiert und spekuliert. Empirisch begründete oder auch nur begründbare Ansätze zur Untersuchung solcher Prinzipien fehlen jedoch weitgehend. Sie sind vom rechtswissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet auch wenig aussichtsreich, weil nahezu alle für die Grundlagendiskussion maßgeblichen normativen Rechtsprinzipien auf außerjuristischen Prämissen beru-

___________ 18 Dies ist auch die Denkrichtung des common law. „It is the merit of the common law“ nach den Worten Oliver Wendell Holmes, „that it decides the case first and determines the principle afterwards“, Codes and the Arrangement of the Law, 5 American Law Review 1 (1870), reprinted in Sheldon M. Novick, ed. 1, The collected Works of Justice Holmes 212 (Chicago 1995).

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hen.19 Dies gilt in hohem Maße auch für die Praxis der parlamentarischen Gesetzgebung. Ihre Orientierungsgrundlage sind neben den tradierten allgemeinen Rechtsgesetzen zunehmend politische Gestaltungsprinzipien, soziale Verteilungsmaßstäbe, im demokratischen Prinzip begründete Verfahrensregeln, der – zum Teil hektische – Versuch einer Eindämmung unbewältigter Technologiefolgen und technologischer Risiken sowie – meist vordergründig bleibende – Antworten auf Umstrukturierungen der Staatlichkeit in einer sich globalisierenden Welt. Zwischen einem wissenschaftlich nachgewiesenen allgemeinen Rechtsgesetz und der gängigen Praxis laufender Parlamentsgesetzgebung liegen somit Welten. Das ist nicht nur in der Wissenschaft bekannt, sondern das ist wohl auch in der politischen Gesetzgebungspraxis weitgehend akzeptiert. Die parlamentarische Gesetzgebungspraxis bemüht sich gar nicht um Errungenschaften im Bereich allgemeiner Rechtsgesetze. Jedenfalls bleiben solche Bemühungen statistisch gesehen krasse Ausnahmen, etwa bei den wenigen neuen Kodifikationsvorhaben. Dennoch bleibt die parlamentarische Gesetzgebung dem wissenschaftlichen Vorbild des allgemeinen Rechtsgesetzes verhaftet, jedenfalls, soweit sie ihre verfassungsrechtliche Legislativfunktion im Staatsorganisationssystem ernst nimmt. Geht man von der parlamentarischen Gesetzgebungspraxis aus, dann muß die professionelle juristische Perspektive auf das Verhältnis Parlamentsgesetz und allgemeines Rechtsgesetz in etwa so formuliert werden: das Parlamentsgesetz, das nicht reine Verlängerung kurzfristiger politischer Programmatik ist, kann sich nur in seiner Gesamtkonzeption, nicht in seinen Einzelbestimmungen, den vorhandenen allgemeinen Rechtsgesetzen annähern. Das ist auf verschiedenen Wegen unter unterschiedlichen Zielsetzungen möglich. Dem ist hier nicht näher nachzugehen. Auf den wissenschaftlichen Umgang mit dem Sachverhalt haben diese Unterschiede zwischen allgemeinem Rechtsgesetz und Parlamentsgesetz Auswirkungen, denen hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann. Es muß bei einem allgemeinen Ausblick bleiben.

III. Ausblick Der Sachverhalt, um dies abschließend zu wiederholen, sind die Einzelheiten des Falles. Diese tatsächlichen Einzelheiten schließen alle Rechtmäßigkeiten und Rechtswidrigkeiten des Falles ein. Eine Maßstabsfunktion des Rechts, die sprachlich in Form von „Rechtmäßigkeit“ und „Rechtswidrigkeit“ ausgedrückt ___________ 19 Siehe hierzu die Ausführungen von Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 119 ff. zur Interessenjurisprudenz und zur Wertungsjurisprudenz.

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wird, setzt die Einzelheiten des Falles gesamthaft mit rechtlichen Erkenntnisgrundlagen in Bezug, insbesondere allgemeinen Rechtsgesetzen. Der Sinn dieser gedanklichen Operation ist die gesicherte Antwort auf die Frage, ob eine rechtlich fragliche personale Beziehung in ihrem konkreten Fallbezug rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Auf der Grundlage eines einschlägigen Parlamentsgesetzes kann diese Frage auf einer ersten Stufe beantwortet werden. In den weitaus meisten Fällen sind diese Antworten abschließend gesichert. Hält das Parlamentsgesetz den generalisierungsfähigen Sachverhaltsgegebenheiten nicht stand, auf die der gesetzliche Tatbestand gründet, entsteht mit anderen Worten ein Widerspruch zu einem allgemeinen Rechtsgesetz, kann das parlamentarische Gesetz keinen Bestand haben, falls es jemals wirksam geworden ist. Mit diesen Fragen befasst sich das Verfassungsrecht, das aber seinerseits keine klare Linie zwischen verfassungsrechtlich reklamiertem allgemeinem Rechtsgesetz und Parlamentsgesetz aufweist. Wer dieses Dilemma lösen will, wird wohl nicht umhin kommen, sich systematisch koordinierten Sachverhaltsanalysen zu widmen.

Verfassung und Konstitutionalisierung – Zur Reichweite des Verfassungsbegriffs im Konstitutionalisierungsprozess Von Dieter Wyduckel, Dresden

I. Begrifflich-systematische und funktionale Voraussetzungen 1. Verfassung und Verfassungsbegriff Verfassung ist – dem viel zitierten Wort Werner Kägis folgend – rechtlichnormative Grundordnung des Staates.1 Es geht demnach nicht um eine rechtliche Regelung von allem und jedem oder gar Beliebigem, sondern um die rechtliche Verankerung grundlegender Fragen geordneten menschlichen Zusammenlebens in staatlicher Gemeinschaft. Nicht von ungefähr werden die diesbezüglichen rechtlichen Regelungen von ihrer Genese her auch als Fundamentalgesetze – fundamental laws, lois fondamentales – oder in lateinischer Fassung als leges fundamentales bezeichnet. Diese Terminologie wirkt bis heute nach, wenn Verfassungen Grundgesetze genannt werden, so – aus nachvollziehbaren historischen Gründen – in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch in anderen Ländern, wenn man etwa an die niederländische Bezeichnung der Verfassung als grondwet oder an die schwedische Terminologie denkt, der zufolge Verfassungsgesetze grundlagar genannt werden.2 Die inhaltliche Bestimmung dessen, was unter der rechtlichen Grundordnung eines staatlichen Gemeinwesens zu verstehen sei, ist im geschichtlichen Wandel über die Zeiten hinweg durchaus verschieden interpretiert und beantwortet worden. In heutigen Verfassungen wird i. d. R. zwischen drei großen ___________ 1 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Nachdruck der Ausgabe Zürich 1945, ebd. 1971. 2 Vgl. Leonard Besselink, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Niederlande, in: Handbuch Ius publicum europaeum, hg. von Armin von Bogdandy (u. a.), I, Heidelberg 2007, § 6, Rn. 1; Hans-Heinrich Vogel, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Schweden, ebd., Rn. 71.

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Regelungsbereichen oder Normkomplexen differenziert: zum einen den Regeln, die den Aufbau und die Organisation des staatlichen Gemeinwesens betreffen, zum anderen den der Rechtsstellung des Einzelnen, insbesondere seinen Rechten und Pflichten zugewandten Bestimmungen sowie schließlich den der Festlegung übergreifender Staatsziele oder Prinzipien dienenden Normen, in denen unter allgemeinerem Aspekt die großen Linien und Grundsätze der jeweiligen politisch-sozialen Ordnung niedergelegt sind. Die betreffenden Regelungen sind im Allgemeinen schriftlich fixiert und können in einem einzigen Text, der Verfassungsurkunde, enthalten, aber auch in mehreren Rechtsdokumenten niedergelegt sein, die zu unterschiedlichen Zeiten, ja über Jahrhunderte hinweg ergangen sind, wie dies in besonderer Weise im Vereinigten Königreich ausgehend von der Magna Charta 1215 bis hin zum Human Rights Act von 1998 der Fall ist. In der ersteren Variante wird begrifflich-systematisch von der Verfassung im formellen, in der letzteren von der Verfassung im materiellen Sinne gesprochen.3 Legt man dieses letztere und weitere Verständnis zu Grunde, so kann von Verfassung überall da gesprochen werden, wo eine rechtliche Grundordnung für die politische Struktur eines Gemeinwesens bestimmend wird. Die Unterscheidung der beiden Verfassungsbegriffe dient vor allem der geltungstheoretischen Differenzierung und schließt nicht aus, dass formeller und materieller Verfassungsbegriff sich überschneiden können, nicht zuletzt deshalb, weil und insofern die Verfassung im formellen Sinne eben auch rechtliche Grundordnung des staatlichen Gemeinwesens ist und sein will.4 Die schriftlich-normative Fixierung für sich genommen reicht freilich nicht aus, um Begriff und Inhalt einer Verfassung zu erschließen. Hinzu kommen i. d. R. mehr oder minder etablierte verfassungsgewohnheitsrechtliche Bräuche und Übungen, ohne die eine verfassungsrechtliche Ordnung dem normativem Beobachter unverständlich bliebe, wie vor allem, aber keineswegs ausschließlich am Beispiel der Verfassung des Vereinigten Königreichs abzulesen ist.5 Bei alldem ist zu bedenken, dass Verfassungen dem Wandel unterliegen, also nicht ein für allemal abgeschlossen, sondern stets im Werden sind, mithin prozesshaften Charakter tragen. Verfassungen sind so zeitlich an der Nahtstelle von Vergangenheit und Zukunft angesiedelt. Sie unterliegen einerseits der Änderung, um sich gewandelten politischen und sozialen Konstellationen anzupassen, sind andererseits aber zugleich darauf angewiesen, sich ihrer Identität ___________ 3

Ingo von Münch, Staatsrecht Bd. 1, 6. Aufl., Stuttgart 2000, Rn. 12; Reinhold Zippelius/ Thomas Würtenberger, Deutsche Staatsrecht, 31. Aufl., München 2005, S. 37. 4 So für das Grundgesetz Christoph Degenhart, Staatsrecht I, 23. Aufl., Heidelberg 2007, Rn. 13. 5 Siehe zu den Constitutional Conventions Eric Barendt, An Introduction to Constitutional Law, Oxford 1998, S. 40 ff.

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zu versichern, indem bestimmte Grundsätze auf Dauer gestellt werden, d. h. dem kurzzeitigen Wandel weitgehend entzogen bleiben sollen. Es geht mithin um einen schwierigen Balanceakt, der darauf zielt, wie unter den Bedingungen der Positivität, d. h. der strukturellen Variabilität des Rechts, zugleich verfassungsrechtliche Dauer und Stabilität gewährleistet werden kann6. Dass eine so verstandene Verfassung nicht toter Buchstabe ist, sondern ‚lebt‘, d. h. ungeachtet ihrer originär-textuellen Form dem Wandel Rechnung tragen kann und darf, ja muss, wird anschaulich im US-amerikanischen Wort von der ‚living constitution‘ deutlich. Danach ist die Verfassung von ihrem Selbstverständnis her nicht punktuell auf den Ursprungstext gleichsam ‚festgenagelt‘, sondern kann unter Bewahrung der in ihr enthaltenen Grundsätze und Prinzipien sehr wohl ein gewisses Maß an Flexibilität und Anpassung verbürgen, ohne dabei ihre Identität zu verlieren.7 Kaum eine Verfassung kann ohne ihren gegenständlichen Bezugspunkt, m. a. W. das politisch-soziale Substrat recht verstanden werden. Für Kägi war klar, ja selbstverständlich, dass dieser Bezugspunkt das staatliche Gemeinwesen, m. a. W. der Staat sei. Dies dürfte auch weiter Geltung besitzen, insoweit der Staat, vor allem im deutschen Sprach- und Kulturraum, als die rechtlich verfasste Gemeinschaft angesehen und verstanden wird.8 Es ist allerdings nicht unproblematisch, den Verfassungsbegriff in dieser Weise ausschließlich auf den Staat herkömmlicher Prägung zu beziehen, zumal wenn dies in der schematischen Engführung auf die Drei-Elemente-Lehre Jellineks hin geschieht. So kann es schwierig werden, andere Formen rechtlich geordneten Gemeinschaftslebens begrifflich-systematisch angemessen zu erfassen, die sich – sei es in der historischen Gestalt des Reiches oder des Bundes, sei es in der gegenwärtigen Form der Europäischen Gemeinschaften oder der Europäischen Union – angesichts eines derart verengten Staatsbegriffs als eigentümlich sperrig erweisen oder diesem gar verweigern. Will man die so entstandenen begrifflichterminologischen Nöte vermeiden, bietet es sich an, sowohl die Begrifflichkeit Jellineks als auch die Kägis zu flexibilisieren, indem das Gemeinwesen nicht ausschließlich als ‚staatlich‘ im herkömmlichen Sinne verstanden, sondern weiter gefasst wird. Konrad Hesse hat einem solchen Verständnis den Weg gebahnt, indem er – an Kägi zugleich anschließend wie seinen Ansatz weiterführend – die Verfassung als ‚rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens‘ identifizierte und so ___________ 6

Niklas Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt a.M. 1999, S. 113 ff. (130 f., 145). 7 Vgl. am Beispiel der US-amerikanischen Verfassung Keith E. Whittington, Constitutional Interpretation, Lawrence, Kansas 1999, S. 196. 8 Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht (Fn. 3), S. 13.

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begrifflich-systematisch über das rein Staatliche eines rechtlich organisierten Gemeinschaftslebens hinauswies.9 Hesse wollte damit nicht einen überwölbenden Verfassungs- und Staatsbegriff bilden, der imstande schien, alle vorfindlichen, insbesondere auch historischen Formen menschlichen Gemeinschaftslebens einzuschließen, doch ging es ihm im Anschluss vor allem an Rudolf Smend, aber auch an Hermann Heller, darum, die Momente des Geschichtlichen, der strukturellen Offenheit und des Dynamischen stärker einzufangen, als dies bislang der Fall war.10 Dieser Gemeinwesen- wird ebenso wie der zugehörige Verfassungsbegriff im Folgenden im Hinblick auf seine verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Leistungsfähigkeit hin zu prüfen sein, wobei zu fragen ist, worin seine geschichtliche ebenso wie seine zukunftsgerichtete Dimension besteht und weiter, wie beides gewährleistet werden kann, ohne dass dabei die begrifflich-systematischen Konturen undeutlich werden oder verschwimmen. Im juristischen Verständnis gilt die Verfassung in erster Linie als Verfassungsgesetz. Sie kann aber auch – dem älteren Bild der Verständigung, Einigung und Vereinbarung folgend – als Verfassungsvertrag verstanden werden, in dem das der Verfassung eigene Ausgleichen und Aushandeln, m. a. W. ihr Kompromisscharakter zum Ausdruck kommt.11 Verfassung erschöpft sich bei alldem nicht im rein Rechtlichen, wie Hans Kelsen meinte, sondern hat auch eine politische Erstreckung, die stets mitzudenken ist. Jede Verfassung trägt in der Tat auch den Charakter einer politischen Entscheidung, die sich allerdings nicht verkürzend im Sinne der Verfassungslehre Carl Schmitts allein im Akt der politischen Dezision zum Ausdruck kommt.12 Verfassung ist vielmehr zugleich auch grundlegende normative Ordnung und Sinnorientierung,13 kann also ohne die Frage nach ihren Gründen, d. h. ihrer Symbolik und ihrer Legitimation, zureichend nicht erfasst werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Frage nach dem ‚Das‘ die des ‚Wie‘ und ‚Wofür‘ so überlagert, dass andere Probleme gar nicht erst in den Blick kommen. Kägi hatte gerade diesen Aspekt ebenso klarsichtig wie kritisch ins Auge gefasst, indem er auf die von ihm – freilich etwas unscharf – als materiell verstandene Seite der Verfassung, also ihren Inhalt und ihre Idee abzielte.14 Dabei ging es, ohne dass der Legitimationsbegriff explizit angesprochen wurde, genau darum, nämlich die Frage, ob ___________ 9 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschlands, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Neudr. ebd. 1999, Rn. 17. Siehe auch Hasso Hofmann, Vom Wesen der Verfassung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N. F. 51 (2003); S. 1 ff. (14). 10 Hesse, Grundzüge (Fn. 9), Rn. 4. 11 Peter Badura, Staatsrecht, 3. Aufl., München 2003, A 7. 12 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 9. Aufl., Berlin 2003, S. 23. 13 Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht (Fn. 3), S. 38. 14 Kägi, Verfassung (Fn. 1), S. 39 ff.

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im Zweifel, d. h. auf entsprechende Fragen, gute Gründe für eine Verfassung und ihre inhaltliche Gestaltung vorgebracht werden können. Was ihre Genese betrifft, so entstehen Verfassungen nicht von ungefähr, sondern kommen i. d. R. im Gefolge von politischen Konflikten und politischsozialen Umbrüchen, von Revolution und Krieg, also im Zuge von Machtprozessen zustande, werden von Menschen für Menschen gemacht und sind z. T. mit schmerzlichen Geburtswehen verbunden. Es ist ein mitunter brüchiges Eis, auf dem eine Verfassungsordnung sich entfaltet, deren Existenz und Dauerhaftigkeit keineswegs von vornherein feststeht, sondern u. U. sehr gefährdet sein kann, vor allem dann, wenn sie bei formalem Fortbestand manifest oder latent einem sukzessiven Auszehrungs- und Aushöhlungsprozess unterworfen ist. Es mag durchaus sein, dass Verfassungen evolutionäre Errungenschaften darstellen – so Niklas Luhmann –, hinter die ein Rückfall unwahrscheinlich ist.15 Doch gilt dies – wenn überhaupt – nur für eine sehr formale Betrachtungsweise von Verfassungen im zeitlichen Ablauf. Ein einmal gegebener inhaltlicher Stand kann nämlich sehr wohl auch regredieren, d. h. hinter einen bereits erreichten Entwicklungsstatus zurückfallen, wie nicht zuletzt die deutsche Verfassungsgeschichte leidvoll zeigt. Die moderne Verfassungsbewegung und ihre Verfassungen werden inhaltlich wie normativ im Allgemeinen auf das Zeitalter der Aufklärung und der Amerikanischen und Französischen Revolution zurückgeführt. Dies ist insoweit zutreffend, als vieles von dem, was wir einer modernen Verfassung zuschreiben, hier seinen Ursprung hat.16 In der Tat lassen sich die formale Gestalt ebenso wie der normative Gehalt von Verfassungen, so wie wir sie heute verstehen, kaum mehr ohne Rekurs auf Aufklärung und Revolution begreifen, freilich mit der Folge, dass Verfassung und Verfassungsdenken, was ihre Genese angeht, mehr oder minder auf diese Epoche beschränkt zu werden pflegen. In der Tat lässt sich hierfür einiges anführen: zum einen tritt das Volk mit Nachdruck in die Geschichte von Recht und Verfassung ein. Es erscheint als bewegende Kraft, meldet sich entschieden zu Wort – We the people17 – oder – Les représentants du peuple français ... ont résolu18 – und fordert seine Rechte gegenüber den bestehenden Autoritäten ein. Zum anderen wird der Begriff der Verfassung revolutionär neu definiert und normativ zugespitzt, weil und insofern gemäß Art. 16 der Französischen Menschenrechtserklärung das Vorliegen einer ___________ 15 Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 8 (1989), S. 176 ff. 16 Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Josef Isensee u. Paul Kirchhof, Bd. I, Heidelberg 2003, Rn. 1 ff. 17 Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787. 18 Art. 16 der Französischen Menschenrechtserklärung von 1789.

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Verfassung daran gebunden wird und gebunden sein soll, dass die Verbürgung der Rechte – gemeint sind die Menschenrechte! – gesichert und die Gewaltenteilung festgelegt ist. Das verfassungsrechtlich Neue erscheint so in aufklärerisch hellem und zukunftsweisendem Licht. Die darin enthaltene normative Forderung gilt heute, obwohl in ihrem Ursprung europäisch-atlantisch und zugleich abendländisch, als weithin, wenngleich keineswegs universal akzeptiert, und ist trotz ersichtlicher Mängel, was die menschenrechtliche Umsetzung und Effektivität angeht, aufs Ganze gesehen wohl kaum hintergehbar. Es fragt sich gleichwohl, ob es angeht und praktisch sinnvoll ist, den zugrunde gelegten Verfassungsbegriff, was seine strukturelle und instrumentelle Reichweite betrifft, in dieser Weise zu beschränken, vor allem deshalb, weil es so schwierig wird, ja kaum möglich ist, älteren Gemeinwesenbildungen, die die genannten Voraussetzungen nicht erfüllen, Verfassungsstatus zuzubilligen. Von Verfassung kann, nimmt man Art. 16 und das daran anknüpfende Verfassungsdenken beim Wort, in der Tat nämlich nur dann die Rede sein, wenn die genannten Voraussetzungen gegeben sind. Die deutsche Verfassungsgeschichte würde in diesem Fall außerhalb Deutschlands, nämlich 1776 mit der Unabhängigkeitserklärung der neuenglischen Kolonien beginnen – so der Titel einer einschlägigen Darstellung, nach der die Verfassung als geschichtliches Novum des ausgehenden 18. Jahrhunderts begriffen wird.19 Der Terminus Verfassung wäre so gleichsam ‚verbraucht‘ und für die ältere Zeit in seinem vollen Sinne kaum mehr anwendbar. Die vorrevolutionäre Epoche erschiene verfassungsrechtlich und verfassungsgeschichtlich als ein Aliud, das von der als neu empfundenen Verfassungsentwicklung durch eine Zäsur getrennt wäre. Schon im Hinblick auf die englische Verfassung als constitution wäre dies problematisch, die ohne die Einbeziehung ihrer Jahrhunderte langen Verfassungsentwicklung schwer zugänglich bliebe. Aber auch das Alte Reich würde sich in seiner komplexen rechtlichinstitutionellen Struktur so zureichend kaum erschließen. Gleichwohl ist der seinerzeit erreichte verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Durchbruch in seiner weitreichenden Bedeutung kaum zu überschätzen. Anderes gilt für den zu Grunde gelegte Verfassungsbegriff, nicht was seinen normativen Gehalt, wohl aber was seine strukturelle und instrumentelle Reichweite angeht. Die politisch-rechtliche und normative Neuerung der Verfassungen der Aufklärungs- und Revolutionszeit soll damit nicht in Abrede gestellt werden, freilich ohne damit die Verfassungsfähigkeit und Verfassungswürdigkeit älterer voraufgehender politisch-rechtlicher Gemeinschaftsbildungen grundsätzlich zu leugnen. Dabei ist es weniger wichtig, wie man die Epo___________ 19 Vgl. Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaates bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt a. M. 1988 (u. ö.), hier Vorwort u. S. 10 ff.

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chen im Sinne des Alten und Neuen, des Davor und Danach klassifikatorisch unterscheidet, also die anbrechende Epoche als ‚Moderne‘ und die vorhergehende als ‚Vormoderne‘ bezeichnet oder aber, was ebenso gut möglich wäre, letztere als ‚Frühmoderne‘ stärker einzubeziehen sucht. Wichtig ist vielmehr, übergreifende institutionelle Sachprobleme zu identifizieren und zu benennen, um dann darauf zu kategorialen Einteilungen und Schlussfolgerungen zu kommen. Im Folgenden wird auf diesem Hintergrund der Verfassungsbegriff heuristisch an Verfassungsbildungen und Verfassungsformen sowohl vor als auch nach 1776/1789 anzulegen sein. Dabei sollte und kann der Verfassungsbegriff nicht zu eng gefasst werden, um seine Leistungsfähigkeit und Reichweite nicht schon im Zugriff zu sehr zu beschneiden, und dies sowohl was die Geschichte als auch was die Zukunft der Verfassung angeht. Damit ist nicht ausgeschlossen, gegebene normative Defizite und Schwächen zu benennen, ohne freilich, dass die betreffenden Verfassungen und Verfassungsformen als den vorausgesetzten Anforderungen nicht entsprechend von vornherein aus der verfassungswissenschaftlichen Betrachtung ausgegrenzt werden.

2. Die rechtliche, politische und symbolische Funktion der Verfassung Verfassungen bedürfen nicht nur der begrifflich-systematischen Erschließung, sondern sind auch auf ihre Funktion zu befragen, d. h. daraufhin, welche Ordnungsvorstellungen ihnen zu Grunde liegen und welche Ordnungsleistungen erbracht werden bzw. erbracht werden sollen.20 Dabei ist in Ansatz zu bringen, dass Verfassungsordnungen als rechtliche Instrumente nicht (nur) für sich stehen, sondern stets auf eine politisch-soziale Gemeinschaft bezogen sind, der sie Regelungsimpulse geben, in wechselbezüglichem Verhältnis wiederum aber auch empfangen können. Eine Verfassung kann und wird i. d. R. ordnungsstiftend wirken wie umgekehrt eine politisch-soziale Ordnung nicht ohne ein bestimmtes Maß an je schon bestehender oder doch vorausgesetzter Ordnung vorzustellen ist. Die Ordnungsidee ist für sich genommen freilich noch zu allgemein, um die Funktion oder die Funktionen einer Verfassung zureichend zu erklären. Sie bedarf vielmehr weiterer Präzisierung, weil und insofern Teilfunktionen unterschieden werden können, wobei die der Herrschaftsbegründung zum einen, die der Herrschaftsbegrenzung oder -limitierung zum anderen von besonderer Bedeutung sind.21 ___________ 20 Siehe zur Ordnungsfunktion Hans Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte, 2. Aufl., München 2004, S. 9 f. 21 Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht (Fn. 3), S. 37.

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Was die Herrschaftsbegründung angeht, so wird eine normativ-konstitutive Aussage oder Klarstellung der Verfassung darüber zu erwarten sein, wem die Herrschafts- oder Staatsgewalt zukommt und wie sie institutionalisiert ist. Sofern dies geklärt ist, werden darauf Umfang und Art der Herrschaftsausübung und damit auch die Grenzen der Herrschaftsgewalt zu bestimmen sein. Gerade Letzteres ist schon deshalb wichtig, weil die Zuschreibung absoluter, d. h. umfassender Herrschaftsgewalt ohne Bindung an die Gesetze zur Verfassungsstaatlichkeit und zum Verfassungsgedanken in direkten Widerspruch stünde. Aber auch individuelle Rechte, insbesondere Freiheitsrechte, sind nur dann vorstellbar, wenn die Herrschaftsgewalt sich in ihrem Machtanspruch zurücknimmt, also entsprechenden Entfaltungsraum auch für andere Akteure freigibt. Individuelle Rechte in Form von Grund- und Menschenrechten werden von daher nicht von ungefähr als negative Kompetenzen der Staatsgewalt bezeichnet.22 Dies ist keineswegs nur eine Errungenschaft moderner Verfassungen. Vielmehr ist die Gewährung individueller Rechte eng mit der Limitierung staatlicher Herrschaftsgewalt verbunden, wie sich in besonderer Weise im englischen Constitutionalism in der Form des limited government23 zeigt. Aber auch im Alten Reich lässt sich im Laufe der Frühen Neuzeit ein allmählicher Übergang zu Formen gemäßigter Herrschaft beobachten, die nach leidvollen kriegerischen Auseinandersetzungen in eine herrschaftsbeschränkende fundamentalgesetzliche Ordnung einmünden, wie sie im Gefolge der Gewährung – freilich begrenzter – religiöser Toleranzrechte im Augsburger Religionsfrieden von 1555, vor allem aber im Westfälischen Frieden24 zum Ausdruck kommt. Auch wenn es zu weit gehen würde, Grund- und Menschenrechte schlechthin aus dem Kern religiöser Freiheit herzuleiten, so besteht doch ein genetischer Zusammenhang, weil andere Grundfreiheiten, wie z. B. der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, in diese eingebettet sind und aus ihr heraus begründet werden können.25 Verfassungen kommt darüber hinaus eine symbolische Funktion zu, wie freilich erst in jüngerer Zeit stärker in den Blick geraten ist.26 Die symbolische ___________ 22

Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 26. Aufl., Heidelberg 2007 Rn. 73. Nach wie vor thematisch Charles Howard McIlwain, Constitutionalism. Ancient and Modern, Ithaca, New York 1940, Indianapolis 2007, hier zit.nach der revid. Ausg. 1947, S. 21 f., 90. 24 Vgl. Artt. V, VII des Osnabrücker Friedensinstruments. 25 So Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 6. Aufl., Stuttgart 2003, S. 112 ff. (115) am Beispiel der frühen neuenglischen Kolonien. 26 Jürgen Gebhardt, Die Idee der Verfassung: Symbol und Instrument, in: Adolf Kimmel (Hg.), Verfassungen als Fundament und Instrument der Politik, Baden-Baden 1995 (Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, Bd. 13), S. 9 ff.; Hans Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung. Perspektiven einer 23

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Funktion ergibt sich nicht allein schon aus der normativ-regulativen Kraft, die der Verfassung innewohnt. Sie zielt vielmehr auf Ordnungsbehauptungen, die sich nicht von selbst einlösen, sondern im „Ineinander gesatzter, gedachter und gelebter Ordnung“ in Geltung erwachsen oder doch erwachsen können.27 Dieser komplexe Vorgang kann auch in Verfassungsfesten und damit verbundenen Herrschaftsinszenierungen Ausdruck finden, reicht in seiner Bedeutung aber weit darüber hinaus. Die symbolische Repräsentation einer Verfassung überschneidet sich insoweit mit der Legitimationsfunktion, die darauf gerichtet ist, die bestehende Verfassungsordnung als gut und gerecht zu erweisen, in der Annahme, dass im Zweifel gute Gründe vorgebracht werden können, die sie als gerechtfertigt erscheinen lassen. In diesem Kontext gewinnen auch die Verfassungen eigenen Zielvorstellungen besonderes Gewicht, d. h. Leitideen und Grundsätze, wie sie für Präambeln, Vorsprüche und Eingangsformeln charakteristisch sind. Dies gilt keineswegs nur für postrevolutionäre Verfassungen, sondern ist auch den älteren Fundamental- und Grundgesetzen nicht fremd. Das Ziel, eine beständige Ordnung auf der Grundlage von Recht und Frieden zu errichten, kann hier als Beispiel genannt werden, zumal wenn diese durch eine Invocatio Dei gestützt wird, die symbolisch den Anspruch repräsentiert, reichsgrundgesetzlich auch vor höherer Warte gerechtfertigt zu sein. Die Berufung auf Recht und Frieden, ja auf freundschaftliche Einigung, spielt in der Tat eine herausragende Rolle, wie in besonderer Weise der Westfälische Frieden von Münster und Osnabrück 1648 zeigt, mit dem die Formel vom Frieden als höchstem Gut – Pax optima rerum – aufs engste verbunden ist28. Dem Westfälischen Frieden kommt so eine politische und rechtliche Doppelfunktion zu. Er ist zum einen Friedensschluss, der das Ende langandauernder europäischer religiöser und politischer Auseinandersetzungen markiert, zum anderen ein damit verbundenes Reichsgrundgesetz, das – rechtlich in den Frieden eingelagert – die inneren Verhältnisse des Reiches, insbesondere die Be-

___________ kultur-wissenschaftlich-internationalistischen Verfassungstheorie, in: Politik und Recht, hg. v. Michael Becker u. Ruth Zimmerling, Wiesbaden 2006 (Politische Vierteljahressschrift, Sonderh. 36), S. 229 ff., bes. S. 237 ff.; Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache im Alten Reich, München 2008. 27 Vgl. Vorländer, Die Verfassung als symbolische Ordnung (Fn. 26), S. 237. 28 Werner Krawietz, Pax optima rerum – Das politische und rechtliche System des Westfälischen Friedens von 1648 als Vorlaufentwicklung des modernen Europa, in: Der Westfälische Frieden in rechts- und staatstheoretischer Perspektive, hg. v. Olav Moorman van Kappen u. D. Wyduckel, Berlin 1998 (Sonderheft Westfälischer Frieden RECHTSTHEORIE 29, 1998, Heft 2), S. 137 f.

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ziehungen von Kaiser, Reich und Ständen regelt.29 Das Alte Reich erhält so eine tragfähige verfassungsrechtliche Grundlage, die ihm für mehr als anderthalb Jahrhunderte Halt und Struktur zu geben vermochte. Der komplexe Friedenschluss gewinnt damit den Charakter eines „Schlüsseldokuments“,30 auf das sich nahezu alle bedeutsamen staats- und völkerrechtlichen Regelungen des Reiches bis zu seinem Ende immer wieder beziehen. Gewiss sind die in Verfassungen und Grundgesetzen erhobene Geltungsansprüche darauf angewiesen, auch eingelöst zu werden oder der Einlösung doch fähig zu sein. Dies ist schon deshalb bedeutsam, da instrumentelle und symbolische Verfassungsfunktion sich wechselseitig bedingen.31 Vollständige Deckungsgleichheit der Funktionen wird dabei wohl kaum erreicht werden können. Wird die angestrebte oder behauptete Ordnung in ihrem identitätsstiftenden Sinn allerdings verfehlt oder findet sie keine Akzeptanz, dann kann die symbolische Repräsentation ebenso wie die angestrebte Legitimation misslingen und das gesamte Ordnungsarrangement in eine schwer beherrschbare Schieflage geraten. Beide Verfassungsfunktionen dürfen demnach nicht zu weit auseinander klaffen, soll das je bestehende Ordnungsgefüge den gestellten Geltungsanforderungen gerecht werden.

II. Grundlagen und Ursprünge der Konstitutionalisierung 1. Die Lex regia als Grundmodell der Konstitutionalisierung Die Verfassung als politisch-rechtliche Institution steht im größeren Zusammenhang der Konstitutionalisierung, einer Bewegung, die auf Konstitutionalität, d. h. Verfasstheit zielt und damit nicht (nur) einen bestimmten Status des Gemeinwesens, sondern die Prozesshaftigkeit eines längerfristigen institutionellen Vorgangs versinnbildlicht.32 Der Sache nach ist von Verfassung oder ___________ 29

Georg Schmidt, Der Westfälische Friede als Grundgesetz des komplementären Reichs-Staats, in: 1648 – Krieg und Frieden in Europa. Textbd. 1, hg. v. Klaus Bußmann u. Heinz Schilling, München 1998, S. 447 ff.; Wyduckel, Reichsverfassung und Reichspublizistik vor der institutionellen Herausforderung des Westfälischen Friedens, ebd., S.77 ff. 30 Vgl. Heinz Duchhardt, Der Westfälische Friede. Ein Schlüsseldokument der neueren Geschichte, in: „...zu einem stets währenden Gedächtnis“, hg. v. Karl Georg Kaster u. Gerd Steinwascher, Bramsche 1997, S. 11 ff. 31 Gebhardt, Die Idee der Verfassung (Fn. 26), S. 23. 32 Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, München 2002, S. 191 ff. (191); zum Prozesscharakter von Verfassung und Verfassungsvorstellung siehe Vorländer, Emergente Institution. Warum die Verfassung ein Prozess ist, in: Politik der Integration. Symbols, Repräsentation, In-

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Verfasstheit seit den Anfängen politisch-rechtlichen Lebens und seiner Reflektion die Rede. Die griechische Stadtstaatenwelt, wie sie sich in Gestalt der Polis darstellt und in der ‚Politik’ des Aristoteles bleibenden Ausdruck erhalten hat, gilt nicht zu Unrecht als frühes Beispiel verfasster politischer Gemeinwesen. Wenn auch begründete Zweifel bestehen, ob es die vielfach erwähnte aristotelische Sammlung griechischer (Polis)-Verfassungen wirklich gibt oder doch gegeben hat, von der offenbar nur das erhalten ist, was uns in der Aristoteles zugeschriebenen kleinen Schrift über den ‚Staat der Athener’ als Überlieferungsrest vorliegt33, so kommt seinem politischen Werk in der Genealogie des Zusammenlebens der Menschen in verfasster Gemeinschaft doch ein Rang zu, der sich über die Jahrhunderte und den Wandel der Zeiten sowie Brüche hinweg klassischen Status bewahrt hat. Der spezifisch rechtliche Aspekt tritt bei Aristoteles zu Gunsten der Fokussierung auf Fragen politischer Institutionalisierung allerdings zurück. Das Verdienst, die Verfassung als politisch-rechtliches Instrument erkannt und genauer in den Blick genommen zu haben, kommt demgegenüber vor allem den Juristen und politischen Denkern Roms zu. Zwar verbinden wir das römische Recht bis in unsere Tage in erster Linie mit dem Zivilrecht als Inbegriff individueller Rechtsbeziehungen, doch ist der römischen Jurisprudenz auch die Vorstellung eines Öffentlichen Rechts durchaus nicht fremd, das sich als ius publicum auf die Ordnung des römischen Gemeinwesens als eines institutionellen Ganzen bezieht34. Vor allem in der römischen Kaiserzeit finden sich dahingehende rechtliche Formeln und Begriffe, die die institutionelle politische Ordnung und Struktur des Imperium Romanum als eines Macht- und Herrschaftsgebildes rechtlich abbilden und einzufangen suchen. Die Rede ist im vorstehenden Zusammenhang nicht oder doch nicht in erster Linie von den einschlägigen, die Stellung des Herrschers heraushebenden kaiserrechtlichen Regeln, wie sie in den Formeln Princeps legibus solutus est oder Quod principi placuit legis habet vigorem35 sinnfälligen Ausdruck gefunden haben, sondern vielmehr von der damit zusammenhängenden, aber sehr viel weitergehenden Vorstellung, dass die darin zum Ausdruck kommenden Regeln und Prinzipien, was ihre Geltung angeht, auf eine über sie selbst hinausweisende legitimierende Rechtsgrundlage verweisen, die sich von ihrer Funktion her als frühes Verfassungsäquivalent begreifen lässt. ___________ stitution. Festschrift für Gerhard Göhler zum 65. Geburtstag, hg. v. Hubertus Buchstein u. Rainer Schmalz-Bruns, Baden-Baden 2006; ders., Verfassung (Fn. 20), S. 13; ders., Die Verfassung als symbolische Ordnung (Fn. 26), S. 238. 33 Aristoteles, Der Staat der Athener, übers. u. hg. v. Martin Dreher, Stuttgart 2006, S. 5 ff. 34 Inst. 1.1.4; Dig. 1.1.1.2 Siehe hierzu Wyduckel, Ius Publicum. Grundlagen und Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Berlin 1984, S. 47 ff. 35 Dig. .1.3.31 bzw. Dig. 1.4.1.

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Dies lässt sich in besonderer Weise am Beispiel der Quod-principi-placuitFormel zeigen. Die darin dem Herrscher zugesprochene Rechtsetzungskompetenz wird nämlich nicht einfach nur festgestellt oder gar behauptet, sondern aus einem Königsgesetz, der Lex regia, hergeleitet. Danach soll das Volk alle Macht auf den Herrscher übertragen haben, wie der auf den spätklassischen Juristen Ulpian zurückgehenden Formel zu entnehmen ist.36 Zwar ist durchaus fraglich, ob es dieses Königsgesetz überhaupt gegeben hat,37 aber auch dann, wenn dies nicht der Fall sein sollte, ist es ebenso bemerkenswert wie bedeutsam, dass man offenbar meinte, die herrscherlichen Rechte auf einer gleichsam höheren Rechtsebene fundieren und zugleich legitimieren zu müssen. Damit wird ein außerordentlich folgenreiches rechtliches Modell für die Rekonstruktion wie Legitimation von Macht und Herrschaft in den politisch-rechtlichen Diskurs eingeführt, das zwei charakteristische Merkmale aufweist und miteinander verbindet: Zum einen die Vorstellung und ausdrückliche Benennung einer legitimierenden höheren rechtlichen Norm, nämlich die des Königsgesetzes, zum anderen den damit verbundenen und zugleich inhaltlich darauf gestützten Herrschaftstransfer unter Angabe der Herkunft und Herleitung der herrscherlichen Macht. Der Übertragungsvorgang oder Übertragungsakt selbst wird dabei nicht näher erläutert. So bleibt unklar oder doch unausgeführt, ob nach der besagten Lex regia das Volk abdikativ-endgültig auf seine – im Übrigen unbestrittene – ursprüngliche Macht verzichtet habe oder ob es nicht doch begleitende rechtliche Bedingungen oder Einschränkungen gebe, an die der Übertragungsakt geknüpft sei oder geknüpft sein solle. Aber auch wenn diese Frage offen bleibt, so wird doch eine Grundkonstellation vor Augen geführt, nach der Macht und Herrschaft nicht einfach als selbstverständlich rechtlich gegeben erscheinen, sondern auf einer gleichsam zweiten Ebene einer rechtsförmigen Begründungs- und Legitimationspflicht unterworfen werden. In der Bezeichnung der zu Grunde liegenden Norm als einem königlichem Gesetz klingt zugleich ein symbolisches Moment an, in dem manifest wird, dass es – zwei Jahrhunderte nach dem Ende der römischen Republik – offenbar wieder möglich war, an Vorstellung und Begriff des Königlichen zu appellieren, freilich mit dem Zugeständnis, dass die erteilte Herrschaftsgewalt – gleichsam als Abglanz und Widerschein der Republik – letztlich auf das Volk zurückgehe. Darin wie in dem rechtlichen Übertragungsakt kann man in der Tat ___________ 36

Die Formel lautet im Zusammenhang: Quod principi placuit legis habet vigorem utpote cum lege regia quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat. 37 Siehe zur möglichen Herkunft aus der Lex de imperio Vespasiani, der zufolge es nicht um eine vollständige Machtübertragung ging, sondern – jedenfalls ursprünglich – nur darum, den Herrscher von der Bindung an bestimmte Gesetze zu befreien. Siehe hierzu näher Wyduckel, Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979, S. 43 f., 48 ff.

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ein frühes konstitutionelles Moment sehen, das in seiner Bedeutung und Folgewirkung kaum zu überschätzen ist38.

2. Die Wahlkapitulation als Lex regia des Alten Reiches Die Reichsgrund- oder Fundamentalgesetze des Alten Reiches sind ebenso wie die Wahlkapitulation in ihrer Relevanz für die Entwicklung von Verfassung und Verfassungsbegriff noch längst nicht hinreichend ausgelotet. Zwar ist an Schrifttum zur politisch-rechtlichen Struktur des Alten Reichs kein Mangel,39 doch reicht die Forschungsperspektive kaum über die Zeit des Reiches hinaus, wird vor allem aber der Bedeutung nicht hinreichend Rechnung getragen, die der Verfassung des Reichs und seinen Institutionen für den umfassenderen Konstitutionalisierungsprozess zukommt. Dass dem Alten Reich eine Verfassung ebenso wie eine Verfassungsvorstellung im Rechtssinne zugeschrieben werden kann, dürfte inzwischen außer Zweifel stehen.40 Dies lässt sich vor allem an seinen grundlegenden rechtlichen Regelungen ablesen, die sich über Jahrhunderte hinweg herausgebildet haben. Sie sind schon für sic genommen bedeutsam, bilden darüber hinaus aber einen inneren Zusammenhang, der es rechtfertigt, vom Reich als einer institutionell verfassten rechtlichen Ordnung zu sprechen. Hierzu zählen vor allem das Wahlgesetz der Goldenen Bulle, der die konfessionellen Auseinandersetzungen abschließende Westfälische Frieden mit seinen reichsrechtlichen Regelungen sowie nicht zuletzt die Wahlkapitulationen, die die künftigen Herrscher auf die bestehende rechtliche Ordnung und ihre Einhaltung verpflichten. Fasst man die unterschiedlichen Regelungen einschließlich des Verfassungsgewohnheitsrechts, der Observanz, zusammen – wie dies auch die zeitgenössische Reichspublizistik getan hat – so kann man dem Alten Reich durchaus eine Verfassung im materiell-inhaltlichen Sinne zuschreiben, etwa in der Weise, wie dies – übrigens bis heute – für Großbritannien mit seiner seit der Magna Charta über Jahrhunderte gewachsenen und gelebten Verfassungsordnung der Fall ist. ___________ 38 Siehe hierzu auch Karl Loewenstein, The Governance of Rome, The Hague 1973, S. 271 ff. (273). 39 Siehe nur: Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Wiesbaden 1984; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, München 1999; Matthias Schnettger, (Hg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002. 40 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 5. Aufl., München 2005, S. 1 ff. m. w. N.

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Die Reichsgrundgesetze weisen in der Tat für Verfassungen charakteristische Ordnungsmerkmale, wie die der Herrschaftsbegründung ebenso wie der Herrschaftsbegrenzung, auf. Dem Charakter des Reichs als eines Wahlreichs entsprechend steht, was die Herrschaftsbegründung angeht, an erster Stelle die die Herrscherwahl und die Wahlprozedur regelnde Goldene Bulle von 1356. Der Herrschaftsbegrenzung dienen vor allem die erst in jüngerer Zeit als Forschungsgegenstand stärker hervorgetretenen Wahlkapitulationen.41 Sie machen das Insgesamt der Bedingungen aus, die der künftige Herrscher für seine Herrschaftsführung als verbindlich anerkennt, werden eidlich bekräftigt und sind wesentlicher Teil der rechtlich verfassten Ordnung des Reichs. Die Wahlkapitulation gewinnt damit als Inbegriff der Herrschaftsbegrenzung herausragende Bedeutung. Sie bedurfte freilich der rechtssystematischen Einordnung. Hier wird bezeichnenderweise auf das Modell und den Deutungsrahmen der römischrechtlichen Lex regia zurückgegriffen. Dies konnte, wollte man der herrschaftsbeschränkenden Funktion der Wahlkapitulation gerecht werden, jedoch nicht unmittelbar geschehen. Die Lex regia bedurfte vielmehr, um auf das Alte Reich und seine Herrschaftsstrukturen anwendbar zu sein, der politisch-rechtlichen Umdeutung. Das entscheidende Signal gibt der Jenaer Jurist und Historiker Friedrich Hortleder, indem er die Lex regia mit der Wahlkapitulation identifiziert, die so zum Königsgesetz der Deutschen avanciert und zum Inbegriff der dem Herrscher auferlegten Bedingungen und Beschränkungen wird.42 Diesem Verständnis hatte die spätmittelalterliche Legistik, das wiederentdeckte römische Recht kommentierend, vorgearbeitet. Hier war nicht von ungefähr der Vorgang der Herrschaftsübertragung genauer in den Blick gefasst und in schöpferischer Anwendung auf die gewandelte politische und rechtliche Realität der Zeit nicht als Entäußerung und Aufgabe der ursprünglichen Herrschaftsmacht durch das Volk gedeutet, sondern vielmehr als Überlassung zur bedingten Ausübung, d. h. als Konzession verstanden worden.43 Die Wahlkapitulation erscheint in diesem Licht als der Inbegriff von Beschränkungen, die dem künftigen Herrscher im Rahmen und im Kontext der Wahl auferlegt werden und von ihm als verbindlich anzuerkennen sind. Um welche Konditionen es sich hierbei im Einzelnen handeln sollte, war zunächst unscharf oder doch nicht schriftlich fixiert, bis – beginnend mit der Wahl Karls ___________ 41 Im Anschluss vor allem an Gerd Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen und Funktion, Karlsruhe 1968. 42 Friedrich Hortleder, De Capitulatione Regia [1609], abgedr. bei Melchior Goldast, Politica Imperialia sive Discursus politici, Frankfurt a. M. 1614, S. 612 ff. 43 Odofredus de Denariis, Interpretatio in undecim primos Pandectarum libros, Lyon 1550, lib. I, tit. III, 1, 32 n.7. Dazu näher Wyduckel, Princeps Legibus Solutus (Fn 37), S. 156.

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V. 151944 – die den künftigen Herrschern vorgelegten Wahlkapitulationen den Charakter eines schriftgelegten Dokuments erhielten und damit zum einen genaueren inhaltlichen Aufschluss, zum anderen und vor allem aber Interpretationen und Kommentierungen ermöglichten. Hier haben sich, was die nähere Bestimmung der Herrschaftsbegründung in Verbindung mit der Herrschaftsbegrenzung angeht, vor allem die Rechtslehrer der Jenaer Schule des Reichsstaatsrechts, insbesondere Dominicus Arumaeus und Johannes Limnaeus, bedeutende Verdienste erworben.45 Nicht von ungefähr hat Arumaeus den Beitrag Hortleders zur Wahlkapitulation in seine für das Jus publicum des Reiches wegweisende Sammlung der Discursus academici de jure publico aufgenommen.46 Aber auch die sonst weniger beachteten Wittenberger Reichspublizisten, zunächst und vor allem die aus Wittenberg stammenden und hier gemeinsam promovierten Gebrüder Benedikt und Conrad Carpzov, später vor allem Jacob Karl Spener, sich um die Klärung der Frage von Grund und Grenzen der Herrschaftsgewalt im Reich verdient gemacht.47 Als zentral erweist sich hier in der politischen Theorie wie in der Reichspublizistik die Frage, wie mit der Souveränitätsbegriff einzuordnen sei, den Jean Bodin als essentielles Merkmal des Staates in die Diskussion eingeführt hatte und der als Leitkategorie das politisch-rechtliche Denken auch im Reich weithin bestimmen sollte. Bodin hatte die souveräne Gewalt als eine von den Gesetzen gelöste absolute Gewalt definiert, die er nicht der Gesamtheit des Volkes, sondern – übrigens unter Hinweis auf die Lex regia – dem mit dem Gemeinwesen weitgehend identifizierten Herrscher zuschrieb.48 Fraglich und erörterungsbedürftig war vor allem, wie die als absolute Gewalt definierte Souveränität mit der Vorstellung rechtlicher Bindung vereinbart werden könne. Bodin hatte nicht geleugnet, dass es ungeachtet des Souveränitätsdogmas gleichwohl eine Bindung an grundlegende Gesetze, die leges Imperii, geben könne. Den Widerspruch, der sich damit zwischen einer auf Absolutheit setzenden herrschaftlichen Gewalt und ihrer Bindung auftat, hatte er indessen nicht schlüssig ausräumen können. ___________ 44 Vgl. den Abdruck bei Karl Zeumer (Hg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl., Tübingen 1913, S. 309 ff. 45 Wyduckel, Ius Publicum (Fn. 34), S. 163 ff. 46 U.d.T: Decades quatuor Excerptarum ex Sleidano, in: Arumaeus, Discursus, vol. 1, Jena 1620, Nr. 26, Bl. 247 r - 252 v. 47 Wyduckel, Wittenberger Vertreter des Ius publicum, in: Heiner Lück/Heinrich de Wall (Hg.), Wittenberg. Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und Rechtskultur, Köln 2006, S. 291 ff. (345 ff.). 48 Jean Bodin, De Republica libri sex, ed. Frankfurt a. M. 1594, lib.I cap. 8, S. 123 ff. (128).

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Dies gelang plausibler seinem jüngeren Zeitgenossen Johannes Althusius, für den anders als in der rechtlichen und politischen Lehre des aufsteigenden Absolutismus jegliche Herrschaftsgewalt sich als eine immer schon gebundene und rechtlich vorgeformte darstellte49. Auch Althusius leugnet die Notwendigkeit einer souveränen Gewalt im Gemeinwesen keineswegs, konzipiert sie aber als eine rechtliche, die innerhalb des Gemeinwesens nur als limitierte, fundamentalgesetzlich beschränkte Herrschaftsgewalt vorstellbar ist. Er spricht deshalb bewusst nicht von Souveränität schlechthin, sondern vom Recht der Souveränität50. Dieses Recht kommt im Gemeinwesen regelmäßig nicht unmittelbar zum Ausdruck, sondern ist ihm als eine statuierende bzw. konstituierende Gewalt gleichsam vorgelagert51. Es steht den Gliedern des Gemeinwesens zu und ist für seinen Bestand und seine rechtliche Ordnung grundlegend. Von der Lex regia im eigentlichen oder ursprünglichen Sinne ist dabei nicht mehr die Rede, kann nicht die Rede sein, weil das Volk stets Inhaber der eigenen Rechte bleibt, derer es sich nicht entäußern kann. Es kommt demnach nur eine Überlassung zur Ausübung, also eine Konzession in Betracht. Dies entsprach der herrschaftsvertraglichen Tradition und wurde als Alternative zum Souveränitätsbegriff in Frontstellung gegen Bodin vorgetragen und entwickelt. Zentrale Bedeutung kommt in diesem Konzept der vertragliche Züge tragenden lex fundamentalis zu, die an die Stelle der Lex regia tritt. Im Zeichen dieses grundlegenden Gesetzes ist die staatliche Gemeinschaft eingerichtet, auf dieses stützt sie sich wie auf ein Fundament, das Inbegriff der die Herrschaft begründenden und begrenzenden rechtlichen Regeln ist52. Die lex fundamentalis hat darüber hinaus zugleich eine für das Reich und seine gegliederte Struktur bedeutsame föderale Funktion. Sie ist Althusius folgend nämlich Inbegriff von Verträgen, die die regionalen Gliederungen des Reichs – das sind vor allem Städte und Provinzen – mit dem erklärten Ziel eingehen, ein und dasselbe Gemeinwesen zu bilden und dieses mit Rat und Tat, Schutz und Hilfe aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. So gelingt es, hierarchisch-vertikale und föderalhorizontale Gemeinschaftsbildung im Zeichen einer für das gesamte Reich grundlegenden Fundamentalnorm rechtlich miteinander zu verknüpfen. Auf diese Weise kann das Souveränitätspostulat aufrechterhalten und in modifizierter Form sowohl mit dem Ansatz einer gegliederten Ordnung als auch mit dem Gedanken rechtlicher und fundamentalgesetzlicher Bindung vereinbart werden. Hier, und nicht im Souveränitätskonzept Bodins, sind die Anfänge eines spezi___________ 49 D. h. als potestas limitata, potestas alligata. Vgl. Althusius, Politica methodice digesta, Herborn, 3. Aufl. ebd. 1614, cap. XVIII § 106, deutsche Übers. von Heinrich Janssen, hg. v. D. Wyduckel, Berlin 2003, ebd., S. 188. 50 Althusius, Politica (FN 49), cap. IX § 18. 51 Althusius, Politica (FN 49), cap. IX § 16. 52 Althusius, Politica (FN 49), cap. XIX 49.

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fisch verfassungsrechtlichen Denkens zu suchen.53 Hier werden zugleich die rechts- und politiktheoretischen Voraussetzungen eines föderalen Konzepts formuliert, das es ermöglicht, die verschiedenen Gemeinschaftsbildungen strukturell einzufangen und sowohl rechtlich als auch politisch einzuordnen.54 Der verfassungsrechtliche Denk- und Argumentationsansatz wird in der Reichspublizistik vor allem in der Jenaer Schule des Öffentlichen Rechts, aber auch in Wittenberg aufgenommen und ausgebaut. Auch hier spielt die Frage, wie Souveränitätsbegriff und rechtliche Bindung aufeinander zu beziehen und miteinander zu vereinbaren seien eine entscheidende Rolle. Dabei rückt die Wahlkapitulation zusehends in den Mittelpunkt, zu der Benedikt Carpzov, der bedeutendere der beiden Carpzov-Brüder und spätere Senior des Leipziger Schöffenstuhls, einen einflussreichen Kommentar verfasst hat55. Schon in der gemeinsam mit seinem Bruder Conrad vorgelegten Wittenberger Dissertation war der Gedanke der Begründung ebenso wie der der Bindung und Beschränkung souveräner Herrschaftsgewalt Thema und Problem gewesen56. Im Kommentar zur Wahlkapitulation vertieft Benedikt Carpzov diese Vorstellung, indem er den Souveränitätsgedanken mit der Idee rechtlicher Bindung verknüpft. Die Souveränität wird hierbei funktional als majestas duplex aufgegliedert mit der Folge, dass dem Herrscher als dem personalen Subjekt souveräner Herrschaftsgewalt zwar wesentliche Herrschaftsrechte verbleiben, die reale Souveränität aber dem Reichsganzen zugeordnet wird, so dass der Kaiser in eine gleichsam organartige Stellung einrückt. Die kaiserlichen Herrschaftsbefugnisse werden so rechtlich unterfangen. Sie ergeben sich aus den Fundamentalgesetzen, genauer: dem bedeutsamsten Fundamentalgesetz, der Wahlkapitulation57. ___________ 53 Wyduckel, Einleitung zur deutschen Übersetzung der Politica (FN 49), S. XXIV. Anders Michael Stolleis, Die Idee des souveränen Staates, in: Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens, 1996 (Beihefte zu „Der Staat“, H. 11), S. 63 ff. Siehe dazu meine Diskussionsbemerkung ebd. S. 89 f. sowie die Rezension in: Archiv des öffentlichen Rechts 124 (1999), S. 707 ff. 54 Vgl. Giuseppe Duso/Werner Krawietz/D. Wyduckel (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1997 (RECHTSTHEORIE, Beih. 7), bes. S. 209 ff.; Thomas Hüglin, Der sozietale Föderalismus des Johannes Althusius. Die politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1991; Corrado Malandrino, Federalismo. Storia, idee, modelli, Rom, 1998, S. 25 ff.; ders., Foedus (Confoederatio), in: Il Lessico della Politica di Johannes Althusius, a cura di Francesco Ingravalle e Corrado Malandrino, prefazione di D. Wyduckel, Firenze 2005, S. 187 ff. 55 De Capitulatione Caesarea sive de Lege regia Germanorum tractatus, Bicurgicorum Metropoli [d. i. Erfurt] 1622, 2. Aufl. Leipzig 1640. 56 Dissertatio politico juridica De Regalibus quam publico examini subiiciunt Conradus & Benedictus Carpzovii, Wittenberg 1618. Auch in: Dominicus Arumaeus, Discursuum academicorum de jure Publico vol. III/1, Jena 1621, Discursus Nr. 15, S. 524 ff. 57 B. Carpzov, De capitulatione Caesarea Commentarius in Legem regiam Germanorum sive capitulationem Imperatoriam juridico-historico-politicus, (zuerst 1622),

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Jacob Karl Spener geht zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch einen Schritt weiter. In seinem Teutschen Ius publicum wird schon die Lex-regiaTerminologie entschieden abgelehnt. Die römisch-kaiserrechtliche Legitimation, die schon in der Jenaer Schule in Zweifel gezogen worden war, gilt nun als Grundlage herrschaftlicher Gewalt nicht länger als maßstabgebend. Dies drückt sich im Zeichen der beginnenden Aufklärung zunehmend auch im Gebrauch der deutschen Sprache aus. Spener spricht denn auch mit Bedacht weniger vom Ius publicum als vielmehr vom Staatsrecht oder Reichsstaatsrecht und dürfte einer der Ersten gewesen sein, der die ‚Staats-Rechts-Lehre‘ als einen besonderen Teil der Rechtslehre identifiziert hat, nämlich denjenigen, dem die Aufgabe zukommt, den öffentlichen Zustand eines besonderen Staates nach seinen Grundgesetzen zu erfassen, zu beurteilen und fall- und anwendungsbezogen gründlich und schlüssig zu erschließen, wobei wiederum der Wahlkapitulation tragende Bedeutung zukommt.58 Was sich auf der rechtswissenschaftlichen Beobachtungsebene manifestiert, ist auch auf der Rechtsquellenebene festzustellen. So tritt seit dem Westfälischen Frieden zunehmend das Bestreben hervor, die Wahlkapitulation ihres situativen, auf den jeweiligen Herrscherwechsel bezogenen Charakters zu entkleiden, um sie in Form einer Capitulatio perpetua, also einer Ständigen Wahlkapitulation, auf Dauer zu stellen, für alle künftigen Wahlen verpflichtend zu machen, d. h. zu verstetigen. Es geht m. a. W. darum, einen Rechtszustand ‚in Verfassung zu stellen und darinnen beständig [zu] erhalten‘, wie dies – in Bezug auf die Reichskreise – in den Entwurf einer Beständigen Wahlkapitulation von 1711 einfließt.59 Wenn auch aus der Beständigen Wahlkapitulation am Ende kein Reichstagsschluss, also keine formelle lex Imperii publica geworden ist, so wurde sie doch praktisch prägend, vor allem aber Ausdruck eines Denkens und Handelns, das für den Übergang von einem personalen Herrschaftsverständnis zu einer personunabhängigen Ordnungskonzeption steht, die mit Geltungsanspruch für alle Herrscherwechsel und die in diesem Zusammenhang sich typischer Weise stellenden politisch-rechtlichen Fragen auftritt, d. h. materiell Verfassungscharakter gewinnt. Damit einhergehend gewinnen auch die Reichs- oder Staatsgrundgesetze als Leitbegriff weiter an Bedeutung, zu denen neben der Goldenen Bulle zentrale ___________ 2. Aufl. u. d. T.: Commentarius in Legem regiam Germanorum sive Capitulationem Imperatoriam, Leipzig 1640, hier zitiert in der Ausgabe Leipzig 1651, cap. XIII sectio I Rn.. 9 ff, S. 868 f.; cap. I, S. 3 Rn. 11 i. V. m. S. 2 Rn. 1. 58 Spener, Teutsches Ius publicum oder des Heiligen Römisch-Teutschen Reichs vollständige Staats-Rechts-Lehre, Frankfurt a. M./Leipzig 1723 – 1733., Teil I, Buch I, Vorrede, Bl. 3 r ; cap, 1, § 11, S. 19; Teil I, Buch I, cap, 4, § 4, S. 78. 59 Projekt einer beständigen Wahlkapitulation vom 8. Juli 1711, Art, XII, abgedr. bei Arno Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich, 2. Aufl., Baden-Baden 1994, Teil II, S. 273 ff. (292).

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Reichsabschiede, wie der von Augsburg 1555, sodann der Westfälische Frieden, aber auch die Wahlkapitulationen gezählt werden. Diese Gesetze haben öffentlichrechtlichen Charakter, sind anders als die übrigen Reichsgesetze in besonderer Weise auf den status publicus des Reichs bezogen, betreffen und begründen seine Form, sein Wesen und seine Regierung, setzen beständiges Recht, stellen m. a. W., wie Spener sagt, den Inbegriff seiner Verfassung oder, wie es auch heißt, seiner ordentlichen Verfassung dar.60 Sieht man in der Macht- und Herrschaftsbegrenzung ein wesentliches Element von Verfassungsdiskursen, so ist hier sowohl auf der Rechtsquellen- als auch auf der Diskursebene ein verfassungsrechtliches Moment am Werk, in dem die Wahlkapitulationen funktional als Instrumente der Herrschaftsbegrenzung erscheinen. Es geht hierbei nicht nur um Bewahrung und Deskription des rechtlichen Status quo. Die Reichsgrundgesetze tragen zwar auch retrospektiven Charakter, haben zugleich aber eine prospektive, also zukunftsgerichtete Funktion. Sie stehen an der Wegscheide von Vergangenheit und Zukunft, oszillieren mithin zwischen Anschlussrationalität und Normprojektion Dies ergibt sich schon aus dem normativen Charakter allen Rechts, das sich nicht allein auf seine durchaus vorhandene deskriptiv-bewahrende Funktion beschränken lässt, will es nicht seine Rechtsqualität und damit seine Normativität einbüßen. Die Reichsgrundgesetze haben eben nicht nur die Vergangenheit und das gute alte Recht, sondern auch die Zukunft, d.h. neue, im Einzelnen noch nicht voll absehbare politisch-rechtliche Konstellationen im Blick. Schon die Goldene Bulle verfolgt nach ihrem Vorspruch das Ziel, mit der Festlegung des Wahlverfahrens und der Wahlprozedur künftigen Ursachen von Streit vorzubeugen61 und der Westfälische Frieden will im Inneren wie im Äußeren die Einhaltung eines allgemeinen Friedens zukunftsgerichtet dauerhaft vorschreiben und sichern (Art. I).62 In seinem Osnabrücker Teil, der die für die Reichsverfassung wichtigen Bestimmungen enthält, nimmt Art. XVII nicht von ungefähr prospektiv die Rechtswirkungen des Friedens und seine Rechtsnatur in den Blick, schreibt sich selbst den Charakter eines Reichsgrundgesetzes zu und ordnet an, dass seine Bestimmungen dem nächsten Reichsabschied und der nächsten kaiserlichen Wahlkapitulation einverleibt werden sollen.63 Die Reichsgrundgesetze stellen nach allem eine Schicht besonderer Rechtsregeln dar, die für das Gemeinwesen konstitutiv sind, erhöhte Bestandskraft be___________ 60 Jacob Carl Spener, Teutsches Ius Publicum oder des Heiligen Römisch-Teutschen Reichs vollständige Staats-Rechts-Lehre, Frankfurt u. Leipzig 1723, Teil I. Buch I, cap. IV. § 1, S. 72. 61 Vgl. die deutsche Ausgabe bei Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich (Fn. 59), Teil I, S. 110. 62 Deutsche Ausgabe ebd., Teil II, S. 11 ff. (17). 63 Ebd. Art. XVII §§ 1 ff. (2), S. 101 f.

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sitzen und ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen der Disposition einzelner, auch und vor allem des Herrschers, entzogen bleiben. Sie können aufgrund ihres Zustandekommens von den einfachen Reichsgesetzen unterschieden werden, jedoch ohne dass eine klare Vorrangregel bestünde. Die Reichsstaatsrechtslehre ordnet die Reichsgrundgesetze ihrer Rechtsnatur nach in doppelter Weise, nämlich sowohl der Kategorie des Vertrages als auch der des Gesetzes zu: Ersteres was Errichtung und Verbindlichkeit, Letzteres was die inhaltliche Bezogenheit auf den öffentlichen Reichszustand angeht. Dies entspricht ihrer Herkunft aus der Tradition der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrschaftsverträge,64 schließt die Wahlkapitulation ein, die zugleich als pactio et lex verortet wird,65 sucht aber auch dem frühneuzeitlichen Gesetzesnormbegriff und seinem Befehlscharakter Rechnung zu tragen. Inhaltlich gehören zu den zentralen Themen der Reichsgrundgesetze und der sie erschließenden und interpretierenden Reichsstaatsrechtslehre Fragen nach den Rechtsgrundlagen, der Reichweite und den Grenzen der Herrschaftsgewalt, nach der Rechtsstellung des Kaisers im Verhältnis zum Reich und zu den Reichsständen, sowie schließlich die nach der rechtlichen und politischen Institutionalisierung und Verortung des Reiches insgesamt. Dabei wird dem zeitgenössischen Rechts- und Staatsverständnis entsprechend die Einbindung des gesamten Rechts in den Rahmen des natürlichen und göttlichen Rechts als unmittelbar einsichtig und verpflichtend vorausgesetzt, doch ist zugleich unverkennbar, dass die Begründung und Begrenzung souveräner Herrschaftsgewalt zunehmend als eine Frage positiven Rechts begriffen und erörtert wird. Die zunehmende Verrechtlichung der Macht geht dabei eine Verbindung mit herrschaftsbegrenzendem Denken ein und bildet im Alten Reich so eine Alternative zum Staats- und Souveränitätsbegriff des aufsteigenden Absolutismus. Die Vorstellung der Absolutheit herrschaftlicher Gewalt gegenüber den Gesetzen gerät auf diese Weise schon früh unter erheblichen Begründungsdruck, ja in die Nähe der Tyrannis.66 ___________ 64 Vgl. Spener, Teutsches Ius Publicum (Fn. 60), Teil: I, Buch I, cap. I, § 2, S. 2: Mit den Staats-Verträgen fieng sich nun das öffentliche Staats-Recht sofort an. Siehe zum Problem mit weiteren Einblicken nach wie vor Rudolf Vierhaus (Hg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977: ferner Heinz Mohnhaupt, Konstitutionen, Status, leges fundamentales von der Antike bis zur Aufklärung, in: ders./Dieter Grimm, Verfassung, 2. Aufl., Berlin 2002, S. 1 ff. (63 ff.) sowie Hasso Hoffmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht – Politik – Verfassung. Studie zur Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1986, S. 261 ff. (269 ff.). 65 B. Carpzov, Commentarius in Legem regiam Germanorum (Fn. 57), cap. I, S. 3 Rn. 11.

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nis.

Althusius, Politica (Fn. 49 ), cap. XXXVIII Rn. 9: absoluta potestate uti est tyran-

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Zur Mäßigung des obrigkeitlichen Herrschaftsanspruchs im Reich haben ungeachtet der Religionsstreitigkeiten nicht zuletzt seine Institutionen, vor allem der Reichstag und die Reichsgerichtsbarkeit wesentlich beigetragen. Insbesondere der Reichsgerichtsbarkeit kommt für die Wahrung von Recht und Frieden hohe Bedeutung zu. Dies gilt weniger für den kaiserlich dominierten Reichshofrat als vielmehr für das von den Reichsständen mitbestimmte Reichskammergericht, das in besonderer Weise auf die Verwirklichung von Sicherheit und Frieden durch Recht angelegt war und, wie jüngere Forschungen zeigen, auch dem Gemeinen Mann Hilfe und Schutz bieten konnte.67 Die gemäßigte Herrschaftsform des Reichs mit ihren Begrenzungen bot zugleich Ansatzpunkte und Entfaltungsraum für individuelle Rechte, die im Gewande der Freizügigkeit im Augsburger Religionsfrieden ein – wenn auch bescheidenes – Maß an religiöser Freiheit gewährleisteten,68 das dann in erweiterter Form in Ansätzen reichsverfassungsrechtlicher Toleranz im Westfälischen Friedens Ausdruck fand.69 Das Alte Reich war schon aufgrund seiner komplexen Struktur auf eine flexible Verfassung angewiesen, ja, musste eine solche ausbilden, um politischrechtlich überlebensfähig zu sein, sollte nicht ein Scheitern und Auseinanderbrechen riskiert werden. Freilich kann eine Verrechtlichung politischer Institutionen, wie sie am Beispiel der Verfassung des Alten Reiches zu beobachten ist, auch zu Erstarrung und Unbeweglichkeit führen, wenn sie zu weit getrieben wird. Das Reich war von derartigen Tendenzen in der Tat nicht frei, kann aber gleichwohl nicht als ein nur statisches Gebilde angesehen werden. Hiervon zeugen nicht zuletzt zahlreiche Reformansätze, die das Reich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zu seinem Ende prägen, freilich im Rahmen eines ‚intergouvernementalen Diskurses‘70 bleiben, ohne dabei größere praktischpolitische Wirksamkeit zu entfalten. Dies ändert indessen nichts daran, dass ___________ 67

Helmut Gabel, „Daß ihr künftig von aller Widersetzlichkeit, Aufruhr und Zusammenrottung gänzlich abstehet.“ Deutsche Untertanen und das Reichskammergericht, in: Frieden durch Recht, Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hg. von Ingrid Scheurmann, Mainz 1994, S. 273 ff.; Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälftte des 18. Jahrhunderts, Köln 1999, S. 10 ff. 68 Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl., München 2006, S. 12. 69 Art. V §§ 9, 34 ff., 52 des Osnabrücker Friedensinstruments. Siehe zur reichsverfassungsrechtlich verankerten Toleranz auch Wyduckel, Reichsverfassung und Reichspublizistik vor den institutionellen Herausforderungen des Westfälischen Friedens, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hg.), 1648 – Krieg und Frieden ín Europa, Textbd. 1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft , München 1998, S. 77 ff. (77). 70 Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998, S. 502.

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dem Alten Reich eine Verfassung zugeschrieben werden kann, die politischrechtlich wirkungsmächtiger war, als mitunter angenommen wird.

3. Das Urteil Pufendorfs: Das Reich ein Monstrum? Es wäre gleichwohl zu kurz gegriffen, das Alte Reich allein unter dem Verfassungsaspekt im Sinne einer Beschränkung und Begrenzung herrschaftlicher Macht zu betrachten. In die Überlegungen einzubeziehen sind vielmehr auch gegenläufige Tendenzen, die sich sowohl gegen das Konzept positivrechtlich verfasster Herrschaft als auch gegen eine damit verbundene Herrschaftslimitierung richten, wie sowohl in der Reichspolitik als auch im begleitenden politisch-rechtlichen Diskurs zu diagnostizieren ist. So stellt die kaiserliche Reichsstaatsrechtslehre anders als die reichsständisch geprägte auf die Lex regia in ihrem wörtlichen Sinne einer Stärkung von Herrscher und herrschaftlicher Gewalt ab71. Grundlage der darauf zielenden Argumentation ist die Souveränitätsund Staatsformenlehre Bodins, der zufolge es unter Legitimitätsgesichtspunkten nur reine Staatsformen geben könne, also ausschließlich zwischen Monarchie, Aristokratie und – zumindest theoretisch – auch Demokratie zu unterscheiden sei. Das Alte Reich konnte diesen Reinheitsanforderungen so nicht gerecht werden, war es – vor allem seit dem Westfälischen Frieden – staats- und verfassungstheoretisch doch auf dem Wege, zu einer – im Sinne Bodins – unzulässigen rechtlich beschränkten Monarchie, einer monarchia mixta zu werden. Hinzukam, dass die gegliederte Struktur des Reiches mit dem Souveränitätsdogma und der Vorstellung einer in einem Punkt identifizierbaren einheitlichen Herrschaftsgewalt schwerlich vereinbar war. Unter diesen Voraussetzungen unternimmt es Pufendorf 1667, den Status des Reichs einer kritischen Prüfung zu unterziehen.72 Er kommt dabei zu einem für das Reich nicht sehr wohl wollenden Urteil: Es erscheint ihm als ein irregulärer, einem Monstrum ähnlicher Körper – irregulare aliquod corpus et monstro simile,73 der von seiner Struktur her disharmonisch, ungeordnet, krank, ja degeneriert ist.74 Pufendorf folgt dabei nicht unmittelbar Bodin, sondern vielmehr Thomas Hobbes, der die Staats- und Souveränitätslehre rational zugespitzt und in vertragstheoretische Kategorien mit starker Akzentuierung herr___________ 71 So Theodor (Dietrich) Reinking, Tractatus de regimine saeculari et ecclesiastico, 3. Aufl., Marburg 1641, bes. lib. I, cl. 2, cap. 3, Nr. 23, S. 48. 72 In seiner 1667 unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano erschienen Schrift ‚ De statu Imperii Germanici. 73 Die Verfassung des deutschen Reiches, hg. u. übers. v. Horst Denzer, Frankfurt a. M. 1994, Kap. VI, § 9. 74 Ebd. sowie Kap. VII, § 7.

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schaftlicher, ja absoluter Macht übersetzt hatte. Das Reich wollte sich dieser staatstheoretischen Vorstellung jedoch nicht fügen, ja konnte sich ihr nicht fügen, da es aufgrund seiner föderal strukturierten Gliederung Staatlichkeit auf mehr als einer Ebene ausgebildet hatte, vor allem aber dem Bild einer absoluten Monarchie nicht entsprach. Pufendorf verhehlt nicht, welches Staatsbild er dabei vor Augen hat: Er orientiert sich am Modell des souveränen absoluten Staates, wie er sich vor allem in Frankreich zur Zeit Ludwigs XIV. ausgebildet hatte, das für ihn in vielem vorbildhaft war.75 Gewiss ist das Bild des absoluten Staates, wie es Pufendorf vor Augen hatte, ein gegenüber dem Hobbes’schen gemäßigtes. Auch war der Begriff des Monstrums seinerzeit nicht so pejorativ, wie es auf den ersten Blick scheint.76 Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass Pufendorf später zu einem abgewogeneren Urteil gefunden hat, dem zufolge das Reich zumindest ein System von Staaten darstelle oder ihm doch sehr nahe komme.77 Gleichwohl bleibt es insgesamt bei einem normativen Unwerturteil, das für die Reichspublizistik in vielem prägend wurde, freilich seinerseits auch auf Gegenkritik stieß.78 Dieses Unwerturteil beruht letztlich auf einem Zwiespalt, ja Widerspruch zwischen der normativen Vorstellung von einem natur- und vernunftrechtlich ‚richtigen‘ Staat, die Pufendorf nicht aufgeben wollte oder konnte und einer hiermit nicht konsistent in Einklang zu bringenden politischen und rechtlichen Wirklichkeit. Ungeachtet des Pufendorf’schen Votums hat die Reichsstaatsrechtslehre im Zeichen der beginnenden Aufklärung schließlich dann doch zu einer positiveren Einstellung der Reichsverfassung gefunden, ja den Verfassungsbegriff auch im Titel staatsrechtlicher Lehrbücher und Schriften zum Ausdruck gebracht.79 Inhaltlich ist man dabei über einen mehr oder minder aufgeklärten Absolutismus allerdings nicht hinausgekommen.

___________ 75

Ebd., Kap. VII, § 5. Vgl. Roeck, Reichssystem (Fn. 39), S. 26. 77 Pufendorf, Die Verfassung (Fn. 73), Kap.VI, § 9 Zur Verortung des Reichs mit Hilfe des Systembegriffs siehe Roeck, Reichssystem (Fn. 39), S. 26 ff. 78 Roeck, Reichssystem (Fn. 39), S. 49 ff. 79 Vgl. Johann Jacob Moser, Grund-Riss der heutigen Staats-Verfassung des Teutschen Reichs, Nachdr. d. 7. Aufl., Tübingen 1754, Goldbach 2001. 76

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III. Ausblick: Verfassung und Verfassungsbegriff im Zeichen transnationaler Herausforderungen 1. Konstitutionalismus und Constitutionalism Verfassung und Verfassungsbegriff stehen nicht für sich allein, sondern erschließen sich zureichend erst dann, wenn sie ins Verhältnis zum verfassten oder zu verfassenden Bezugsobjekt gesetzt werden. Dies ist nach herkömmlichem Verständnis das rechtlich organisierte Gemeinschaftsleben im Staat, genauer: im modernen Staat, wie er sich als souveräner Nationalstaat herausgebildet hat und darstellt. In Deutschland erfolgt der Durchbruch zum formell verfassten Staat im Zeitalter des Konstitutionalismus, d. h. in der Epoche, in der die deutschen Einzelstaaten im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen mehrerer Verfassungswellen, ausgehend von Süd- und Mitteldeutschland, zu Staaten mit schriftgelegten Verfassungsurkunden werden.80 Der Begriff des Konstitutionalismus ist seither in Deutschland mit dieser verfassungshistorisch-zeitgebundenen Konnotation weithin verbunden geblieben, ohne dass eine systematisch übergreifende Bedeutung ausgebildet worden wäre, wenn man von der Binnenunterscheidung eines frühen Konstitutionalismus bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts und eines darauf folgenden Spätkonstitutionalismus bismarcksch-wilhelminischer Prägung einmal absieht. Es blieb so im deutschen wissenschaftlichen und politisch-rechtlichen Sprachgebrauch weitgehend bei einem Konstitutionalismus-Begriff, der auf das ‚lange‘ 19. Jahrhundert beschränkt blieb und ungeachtet der konstitutionellen Prägung der Monarchie obrigkeitlich-autoritäre Züge trug, vor allem aber einer dynamischen Komponente entbehrte, die ihn im Davor und Danach angemessen hätte verankern können. Demgegenüber ist das angelsächsische Verständnis des Konstitutionalismus als Constitutionalism nicht auf eine bestimmte historische Epoche begrenzt, sondern stellt als true constitutionalism – so McIlwain – eine der ältesten Traditionen rechtlich begrenzter Herrschaft – limitation of government by law – dar.81 Auch wenn dieses Bild etwas zu glatt und linear erscheint, vor allem in der überzogenen Parallelisierung des englischen Rechts- und Verfassungssystems mit dem des republikanischen Rom,82 so ist im Kern doch zutreffend gesehen, dass alle Verfassung darauf beruht, Gesetz, Recht und Rechtsprechung im Zweifel gegenüber Willkür und Macht zu behaupten und behaupten zu kön___________ 80

Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., München 2007, S. 132 ff. 81 McIlwain, Constitutionalism (Fn. 23), S. 22. 82 McIlwain, Constitutionalism (Fn. 23), S. 41 ff.

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nen.83 Allgemeiner gefasst kann man sagen, dass im englischen Verständnis Magna Charta, Common Law, Rule of Law und Parliamentary Supremacy ein Insgesamt von Prinzipien – set of principles – bilden, das den Kern dessen ausmacht, was mit Constitution oder Constitutionalism gemeint ist und zwar ohne dass dies im Ganzen in einem schriftgelegten Dokument, also einer Verfassungsurkunde, niedergelegt ist oder zwingend niedergelegt sein müsste.84 2. Modelle europäischer Verfassungs- und Gemeinschaftsbildung Verfassungen, ob im Zeichen des Konstitutionalismus oder des Constitutionalism, befinden sich in einem weiterem Sinne stets im Wandel und zwar sowohl was die je einzelne Verfassung als auch was deren zeitliche Aufeinanderfolge und Zukunft angeht. Darüber hinaus eignet jeder Verfassung wie allem Recht ein normatives Moment, das darauf gerichtet ist, etwas Uneingelöstes einzulösen, also (noch) nicht oder nicht angemessen Verfasstes in Verfassungsstand zu setzen. Das damit bezeichnete Problem sucht der Begriff der Konstitutionalisierung einzufangen, von dem noch unklar ist, ob es sich um einen Leitbegriff oder einen Allerweltsbegriff handelt oder ob er sich gar bereits auf dem ‚Siegeszug‘ befindet.85 Gemeint ist damit offenbar der Verfassungen eigene Prozesscharakter, d. h. ihre Betrachtung und Erschließung unter dem Aspekt des Ablaufs der Zeit. Konstitutionalisierung, in diesem Sinne verstanden, kann sich einmal auf den innerstaatlichen Bereich, also eine bestimmte, in Geltung befindliche Verfassung beziehen. Dabei geht es vor allem um den Grad der Verfassungsprägung oder Verfassungsgeprägtheit des Gesetzesrechts. Dieser Aspekt ist im Rahmen des Stufenbaus des innerstaatlichen Rechts von hoher Bedeutung, stellt aber doch nur einen Aspekt der Konstitutionalisierung dar.86 Ebenso bedeutsam, wenn nicht bedeutsamer ist die Konstitutionalisierung im außer- und überstaatlichen Bereich, vor allem auf europäischer Ebene und hier insbesondere im Hinblick auf die im Diskurs des Für und Wider stehende ‚Verfassung‘ der Europäischen Union. Schon die Bezeichnung ist streitig und oszilliert zwischen Verfassung, Verfassungsvertrag und – so der vorläufig letzte Stand – schlichtem Vertrag oder Reform-Vertrag.87 Dies ist nicht nur ein Streit um Worte, weil es auch um umstrittene Sachfragen geht. Dabei dürfte, von den anstehenden rechtlichen Sachproblemen einmal abgesehen, nicht zuletzt der ___________ 83

McIlwain, Constitutionalism (Fn. 23), S. 140 f. Vgl. zum englischen Verfassungsverständnis Barendt, Constitutional Law (Fn. 5), S. 1 ff. (4 ff.). 85 Vgl. Wahl, Konstitutionalisierung (Fn. 32), S. 191. 86 Wahl, Konstitutionalisierung (Fn. 32), S. 192 ff. 87 Gemeint ist der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, in: Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 306 vom 17. Dezember 2007, S. 1. 84

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mangelnde Wille oder ein gespürtes Unbehagen dafür ausschlaggebend sein, Namen und Begriff der Verfassung einem anderen Subjekt als dem Staat zukommen zu lassen. Gerade die deutsche politisch-rechtliche Debatte scheint hierbei weniger auf die Verfassung und ihre Bezeichnung unmittelbar als vielmehr ihren Regelungsgegenstand zu zielen. Legt man das Verständnis der Staatslehre des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zugrunde, dann erscheint der Staat gleichsam als einzig akzeptierte oder akzeptable Form rechtlich organisierten menschlichen Zusammenlebens, wobei ‚Staat‘, verstanden im Sinne des DreiElemente-Staats, und ‚Souveränität‘, verstanden als Ausdruck von Selbstbestimmtheit, Selbstorganisationsfähigkeit und Macht in enger begrifflichsystematischer Verbindung stehen. Einem explizit überstaatlichen Gebilde Verfassungscharakter i. S. e. Verfassungsurkunde zuzusprechen, liegt von daher eher fern. So ist die Haltung der Staatsrechtslehre in dieser Frage nicht von ungefähr vorsichtig skeptisch-zurückhaltend.88 Dabei steht nicht länger das Pufendorf’sche Monstrum Pate, auf das nur mehr beiläufig verfremdet Bezug genommen wird,89 sondern sind differenziertere Sprachverwendungen in Gebrauch, die sich einerseits auf die Organisationsform der Europäischen Union, andererseits auf ihre Verfasstheit beziehen. So ist die Rede von der Union als einer ‚Zwischenform eigener Art‘ oder als ‚zukunftsoffenem Staatenverbund‘,90 wird von ihrem Verfassungsstatus als einer ‚Vertragsverfassung‘,91 einer ‚Verfassungsgemeinschaft eigener Art‘ oder als einem ‚konstitutionellem Mosaik‘92 gesprochen, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei wird z. T. durchaus angenommen, dass der Europäischen Union nicht nur eine Verfassung, sondern im Hinblick auf die Europäischen Verträge sogar eine formelle Verfassung zugesprochen werden kann.93 Die Konstitutionalisierung ließe sich auf diesem Hintergrund in der Tat als Phänomen des allmählichen Entstehens einer „neuen Rechtsschicht“ verstehen, wobei das intergouvernementale Handeln sich zunehmend zu verselbständigen scheint.94 Von demokratischen Bezügen ist dabei eher seltener die Rede. Hier ___________ 88 Vgl. nur Thomas Oppermann, Die Europäische Union von Lissabon, in: Deutsches Verwaltungsblatt 123 (2008), S. 473 ff. (476 ff.). 89 Oppermann, Die Europäische Union (Fn. 88), S. 476. 90 Vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., München 2005, § 1 Rz. 46. 91 Oppermann, Europarecht (Fn. 90), § 1 Rz. 45. 92 Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl., Baden-Baden 2008, S. 209. 93 Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: Armin von Bogdandy (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, Berlin 2003, S. 1 ff. (36). 94 Möllers, Verfassungsgebende Gewalt (Fn 93), S. 47 f.

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dürfte noch ein langer und weiter Weg zu durchschreiten sein.95 Es sollte dabei im Gedächtnis bleiben, dass dem eingangs genannten Lex-regia-Modell zufolge alle Herrschaftsgewalt ursprünglich unbestritten beim Volke angesiedelt ist, auch wenn dieses dann im angenommenen Herrschaftsübertragungsakt bekanntlich seinen Verzicht erklärt haben soll.96 Inzwischen erscheint mehr denn je als fraglich, ob der auf seine Souveränität bedachte nationale Einheitsstaat schlechthin als Maßstab für alle politischen Gemeinschaftsbildungen dienen kann. Ist doch der Staat im Zeichen wachsender politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Interdependenzen längst nicht mehr einziger Akteur auf der Ebene politischer Gemeinschaftsbildung. Herkömmliche, als feststehend betrachtete Kompetenzen werden sowohl unter regionalem Aspekt nach unten als auch unter supranationalem und internationalem Aspekt nach oben abgegeben. Gleichwohl dauert eine Betrachtungsweise fort, in der eine substanzhafte Staatsvorstellung wirksam ist, die die eingetretenen Veränderungen nur partiell verarbeitet. Wie stark die überkommene Vorstellungswelt gleichwohl noch wirksam ist, zeigt sich in besonderer Weise, wenn der Eindruck genährt wird, Staatlichkeit werde im Rahmen überstaatlicher Institutionalisierungen nur ‚heraufgezont‘, würde sich m. a. W. auf einer höheren Ebene wiederholen, ansonsten aber in überkommener Form erhalten bleiben97. Die diesbezügliche Diskussion steht in der Tat im Zeichen einer gleich doppelten etatistischen Verengung, die zur merkwürdigen Paradoxie führt, sich die künftige Europäische Union zum einen nur staatsartig vorstellen zu können, während der zu Grunde liegende Etatismus gerade dies verbietet.98 Die etatistische Sichtweise erscheint unter supra- und internationalem Aspekt aber auch deshalb wenig einleuchtend, weil der Staat im tradierten Sinne begrifflich und funktional auf ganz bestimmte Problemlagen bezogen ist, die sich so nicht unbesehen verallgemeinern lassen. Eine ‚Heraufzonung‘ von Staatlichkeit wäre schließlich auch vom Standpunkt der klassischen Staatsmerkmale problematisch, weil die unterschiedlichen, sozio-kulturell und historisch geprägten Begriffe von Volk und Nation sich auf überstaatliche Gemeinschaftsbildungen nicht ohne Bedeutungs- und Sinnverluste übertragen lassen. Dies gilt besonders für einen ethnisch und national überformten Volksbegriff, der im Blick auf ein ___________ 95

Hartmut Bauer, Demokratie in Europa – Einführende Problemskizze, in: ders. (u. a. Hg.), Demokratie in Europa, Tübingen 1995, S. 1 ff. 96 Siehe oben unter Punkt 2 b). 97 Hierzu kritisch Christian Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration. Maastricht ad infinitum?, in: Deutsches Verwaltungsblatt 111 (1996), S. 1073 ff. (1074). 98 So Roland Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung. Die etatistische Renaissance nach Maastricht und ihre Bedeutung für das Verhältnis von Staat und Bundesstaat, in: Der Staat 36 (1997), S. 189 ff. (192 f.).

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gesamteuropäisches Unionsvolk schwerlich verallgemeinerungsfähig wäre, von noch weitergehenden, ins Globale zielenden Überlegungen ganz zu schweigen. Von daher ist begründete Kritik an der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geübt worden, die in diesem Punkt in der Tat nicht ohne Widersprüche argumentiert.99 Eine transnationale Gemeinschaftsbildung erscheint vor diesem Hintergrund gleichwohl durchaus vorstellbar, zumal sich in der europäischen Diskussion der Begriff der Verfassung vom Staat weitgehend gelöst hat, ja der „Verfassungsbegriff grundsätzlich über den Staat hinaus verfügbar geworden ist“.100 Darauf, dass entsprechende Systemkonturen auch im Lissaboner Vertrag erkennbar sind, ist inzwischen hingewiesen worden.101 Zudem dürfte nicht ohne Bedeutung sein, dass in dem genannten Zusammenhang weniger auf den Staats- als auf den – weiteren – Gemeinwesenbegriff Bezug genommen und die Vorstellung eines transnationalen Gemeinwesens assoziiert wird.102 Der Konstitutionalisierungsprozess dauert insoweit an, ohne dass man schon jetzt sagen könnte, welchen Weg er im Einzelnen nehmen wird und auf welches Ziel er hinsteuert. Seine Ursprünge reichen tief in die Vergangenheit zurück und beziehen die vorrevolutionäre Zeit, insbesondere die des Alten Reiches durchaus ein. Gewiss bricht mit dem Revolutionszeitalter eine in vielem neue Ära an, vor allem, was die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte betrifft. Doch dürfen darüber die diesbezüglichen Rechtsgrundlagen des Alten Europa nicht hintangestellt werden, will man nicht einer Zäsurideologie das Wort reden, die schon Tocqueville nicht ohne Grund in Frage gestellt hat. Zweifellos stand, was das Alte Reich angeht, der organisationsrechtliche Aspekt institutionell und verfassungsrechtlich im Vordergrund, wodurch der Prozess der Verrechtlichung herrschaftlicher Macht und Gewalt entschieden vorangetrieben worden ist. Individuelle Rechte stehen demgegenüber zurück, doch sollten dahingehende Ansätze vor allem im Bereich der Religions- und Gewissensfreiheit, nicht übersehen werden. Hier ist über das Alte Reich hinausgehend nicht zuletzt auf die englische Entwicklung des Constitutionalism hinzuweisen, die – ___________ 99 BVerfGE 89 (1989), S. 155 ff. Siehe hierzu Jochen Abr. Frowein, Das MaastrichtUrteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit (1994), in: ders., Völkerrecht – Menschenrechte – Verfassungsfragen Deutschlands und Europas. Ausgewählte Schriften, Berlin 2004, S. 433 ff. (438 ff.). 100 Wahl, Konstitutionalisierung (Fn. 32), S. 198, spricht hier mit Grund von einem „folgenreiche(n) Schritt“. 101 Vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon auf der Systemspur des Europäischen Primärrechts, in: integration. Vierteljahresschrift des Instituts für europäische Politik in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis europäische Integration 31 (2008), S. 123 ff. (142 ff.). 102 Müller-Graff, Der Vertrag von Lissabon (Fn. 101), S. (142).

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wenngleich zunächst ständisch eingebunden – wesentlich dazu beigetragen hat, den Weg zu individuellen Freiheitsrechten zu bahnen. Was die Europäische Union und ihre verfassungsrechtlichen Strukturen angeht, erscheint es nicht eben leicht, in die Zukunft weisende Entwicklungslinien aufzuzeigen, zumal hier ganz unterschiedliche Pfade in Betracht gezogen werden können, die ihrerseits wiederum von den historischen und nationalen Traditionen der einzelnen Gemeinwesen abhängig sind. Der Nationalstaat im Sinne des 19. Jahrhunderts erscheint hier als Modell oder gar als Vorbild nach allem weniger geeignet als die eher ‚weichen‘ Verfassungsstrukturen, wie sie etwa das Alte Reich ausgebildet hat.103 Ein Anknüpfen an imperiale Traditionsbestände und ihr ideelles und politisches Umfeld ist damit ersichtlich nicht gemeint. Es könnte aber ebenso gut auch ein modifiziertes CommonwealthModell in Betracht gezogen werden, wie es in die europäische Diskussion längst eingebracht ist.104 All dies wäre verfassungsrechtlich und verfassungstheoretisch in den deliberativen Rahmen eines komplexen Modells multipler Konstitutionalismen einzubringen, das im Rahmen eines europäischen Mehrebenensystems seine Tauglichkeit freilich erst unter Beweis zu stellen hätte.105 Etwaigen Ängsten gegenüber einer übermächtigen europäischen Zentralinstanz könnte ein wohl verstandenes Subsidiaritätsprinzip106 abhelfen, das im Lissabonner Vertrag nicht in Zweifel gezogen, ja im Gegenteil gestärkt ist,107 allerdings mehr denn je auch beim Wort genommen werden müsste. Ein Stein der Weisen wäre auch dies nicht, wohl aber einen Versuch wert, wenn uns an Europa und seiner Verfassung wirklich gelegen ist.

___________ 103

Vgl. Wyduckel, Das Alte Reich – Modell europäischer Gemeinschaftsbildung?, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 48 (1999), Heft 4: Europa – Herausforderung einer Fiktion, S. 13 ff. 104 Vgl. Neil MacCormick, Democracy, Subsidiarity, and Citizenship in the ‚European Commonwealth’, in: ders. (Hg.), Constructing Legal Systems, Dordrecht 1997, S. 1 ff. 105 Hans Vorländer, Europas multiple Konstitutionalismen, in: Zeitschrift für Staatsund Europawissenschaften 5 (2007), S. 160 ff. (171 ff.); Christian Joerges, Das Recht im Prozess der Konstitutionalisierung Europas, Badia Fiesolana 2001 (European University Institute, Working Papers in Law 2001, 6), S. 38 ff. 106 Siehe hierzu Peter Blickle (u. a. Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, Berlin 2002 (RECHTSTHEORIE, Beih. 20). 107 Vgl. Art. 3b i.V.m. Art. 8c (Fn. 87).

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Friedrich E. Schnapp sowie Autorenverzeichnis

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Friedrich E. Schnapp (Stand: 30. Juni 2008)

I. Selbständige Schriften und Beiträge zu Sammelwerken 1.

Die Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht (Band 1 der Schriftenreihe „Kommunal- und Landesrecht“, hrsg. von H. Weber und G. Bocks), Herford 1972.

2.

Beamtenstatus und Streikrecht (Band 3 der Schriftenreihe „Kommunalund Landesrecht“), Herford 1972.

3.

Zuständigkeitsverteilung zwischen Kreis und kreisangehörigen Gemeinden (Band 5 der Schriften zum deutschen Kommunalrecht, hrsg. von Christian-Friedrich Menger und Albert von Mutius), Frankfurt 1973.

4.

Amtsrecht und Beamtenrecht. Eine Untersuchung über normative Strukturen des staatlichen Innenbereichs, Berlin 1977.

5.

Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren, Neuwied 1991 (zusammen mit Peter Krause, Albert von Mutius und Joachim Siewert).

6.

Sozialversicherungsrecht; in: Achterberg/Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band II, Heidelberg 1992, S. 809-879, 2. Aufl. 2000, S. 798-879.

7.

Jura Übungen im Sozialrecht, Berlin/New York 1992 (zusammen mit Jochem Schmitt).

8.

Selbstverwaltung der pharmazeutischen Unternehmen. Gesetzentwürfe für die Errichtung einer Kassenpharmazeutischen Vereinigung und einer Pharmakammer, Aulendorf 1995 (zusammen mit Peter J. Tettinger).

9.

Verfassungsrechtliche Fragen der „Friedensgrenze“ zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung, Berlin 2001 (zusammen mit Markus Kaltenborn).

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Friedrich E. Schnapp

10. Stilfibel für Juristen, Münster 2004. 11. Logik für Juristen (Fortführung des von Egon Schneider begründeten Werkes), 6. Auflage, München 2006.

II. Aufsätze und Beiträge 1.

Zum 150. Geburtstag von Heinrich Eduard Pape – Erster Präsident des Reichsoberhandelsgerichts, Vorsitzender der Ersten Kommission für das Bürgerliche Gesetzbuch, Deutsche Richterzeitung 1965, S. 365-367.

2.

Zur Tenorierung bei natürlicher Tateinheit und Fortsetzungszusammenhang, Deutsche Richterzeitung 1966, S. 187-193.

3.

Die vorgreifliche Anordnung der Aufsichtsbehörde in der Sozialversicherung, Die Betriebskrankenkasse 1969, S. 97-103.

4.

Gebührenfreiheit der Kirchen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren in den ehemals preußischen Ländern, Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht 1969, S. 361-364.

5.

Der Anspruch auf aufsichtsbehördliche Genehmigung von Satzungen und Satzungsänderungen in der Krankenversicherung, Die Betriebskrankenkasse 1969, S. 194-201.

6.

Gemeinden als Grundrechtsträger, Der Städtetag 1969, S. 534-538.

7.

Die Stellung der Sozialversicherungsträger in der Verfassungsordnung, Soziale Sicherheit 1970, S. 199-203.

8.

Die Amtshilfe der Krankenkassen gegenüber Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung 1971, S. 65-72, 98-106 (zusammen mit Karlheinz Rode).

9.

Zum Funktionswandel der Staatsaufsicht, Deutsches Verwaltungsblatt 1971, S. 480-484.

10. Die Ersatzvornahme in der Kommunalaufsicht als Verwaltungsakt, Die Öffentliche Verwaltung 1971, S. 659-665. 11. Erhöhte Verantwortung der Allgemeinheit für Personenschäden als Problem sozialer Sicherung, Juristen-Zeitung 1972, S. 474-478 (zusammen mit Wolfgang Gitter). 12. Staatliche Entschädigung und Sozialgesetzgebung, in: Das neue Sozialgesetzbuch (Band 3 der Schriftenreihe „Rechtspolitik und Gesetzgebung“, herausgeben von E. Gessler, R. Herzog, A. Kaufmann, B. Rüthers u.a.), Frankfurt 1972 (2. Aufl. 1974), S. 144-170.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

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13. Beamtenstreik – Eine Zwischenbilanz, Die Öffentliche Verwaltung 1973, S. 32-40, nachgedruckt in: Rechte der Lehrer, Rechte der Schüler, Rechte der Eltern (hrsg. von Knut Nevermann und Ingo Richter), München 1977, S. 76-89. 14. Zur Entwicklung von sozialen Rechten in der Sozialgesetzgebung. Eine rechtstheoretische und rechtssystematische Untersuchung, Deutsche Rentenversicherung 1973, S. 66-80 (zusammen mit Wolfgang Meyer). 15. Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Zugleich eine Besprechung von: Friedrich Becker, Kommentar zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Neuwied und Berlin 1973, Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht 1973, S. 593-594. 16. Verfassungswidrigkeit ohne Grundrechtsverletzung? Zur Verfassungsmäßigkeit von § 8 RuStG, §§ 2 und 7 AuslG, Die Öffentliche Verwaltung 1973, S. 593-594. 17. Kommentierung von Art. 16 GG, in: Grundgesetz-Kommentar 1 (hrsg. von Ingo von Münch), Frankfurt 1974, S. 539-554, 2. Aufl., München 1981, S. 633-652, 3. Aufl., München 1985, S. 705-731, 4. Aufl., München 1992, S. 917-944, 5. Aufl., München 2000, S. 965-975. 17a. Kommentierung von Art. 16 a GG, ebenda, S. 977-1003. 18. Kommentierung von Art. 20 GG ebenda, S. 621-649, 2. Aufl., S. 721-750, 3. Aufl., S. 813-844, 4. Aufl., S. 1039-1072, ab der 5. Auflage in Band 2, S. 1-34. 19. Zur Gleichstellung der Frau im Arbeits- und Sozialrecht, Juristische Rundschau 1974, S. 316-320. 20. Zum Rechtsschutz der Ortskrankenkassen gegen Organisationsverordnungen im Gefolge kommunaler Neugliederung, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1974, S. 191-213. 21. Perspektiven des Rechts der sozialen Entschädigung Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht 1975, S. 359-362 (zusammen mit Wolfgang Meyer). 22. Praktische Konkordanz von Grundrechten und Sonderstatusverhältnis des Beamten, Zeitschrift für Beamtenrecht 1977, S. 208-214. 23. Möglichkeiten und Grenzen von Aufklärung, Beratung, Auskunft nach dem AT-SGB aus rechtswissenschaftlicher Sicht, Zeitschrift für Sozialreform 1977, S. 449-466. 24. Die Aufklärungs-, Beratungs- und Auskunftspflichten nach dem Sozialgesetzbuch Die Ortskrankenkasse 1977, S. 889-895.

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25. Beschleunigung des Asylverfahrens, Neue Juristische Wochenschrift 1978, S. 1726-1728. 26. Das Institut der Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Unfallversicherung – eine kritische Bestandsaufnahme Die Berufsgenossenschaft 1978, S. 525-530. 27. Zu Dogmatik und Funktion des staatlichen Organisationsrechts, Rechtstheorie 1978, S. 275-300. 28. Grenzen der Grundrechte, Juristische Schulung 1978, S. 729-735. 29. Auswirkungen des KVKG auf die Gliederung der Krankenversicherung, Die Ersatzkasse 1978, S. 497-509. 30. Pflichten des Leistungsträgers im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren, Die Angestelltenversicherung 1978, S. 538-545; 1979, S. 9-15. 31. Sozialrecht und Verwaltungsrecht, Die Sozialgerichtsbarkeit 1979, S. 200206. 32. Kriegsfolgenrecht, in: Deutscher Sozialgerichtsverband e.V. (Hrsg.), Sozialrechtsprechung – Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, Köln/Berlin/Bonn/München 1979, Bd. 2, S. 607-625. 33. Kommentierung der §§ 5, 13-16, 24, 30, 31, 34, 35, 37, in: Bochumer Kommentar zum Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil (hrsg. von Wilhelm Wertenbruch), Berlin/New York 1979. 34. Soziale Entschädigung in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart (hrsg. von Georg Wannagat), Berlin 1979, S. 219-226. 35. Grundbegriffe des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, S. 68-75. 36. Der beteiligte Bürger im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren, Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht 1980, S. 87-91 nachgedruckt in: Sozialgesetzbuch X, Textausgabe mit 7 einführenden Aufsätzen, Neuwied 1981, S. 95-113. 37. Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, S. 293-303. 38. Öffentliche Interessen und private Belange im Verfahren der Sozialleistungsträger, Die Sozialgerichtsbarkeit 1980, S. 177-182. 39. Soziale Selbstverwaltung im Spannungsfeld zwischen staatlichem Reglement und gesellschaftlicher Autonomie, Die Rentenversicherung 1980, S. 122-127.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

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40. Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 105 (1980), S. 243-278. 41. Die Selbstverwaltung in der Rentenversicherung, Amtliche Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz 1980, S. 447-453. 42. Amtshilfe, behördliche Mitteilungspflichten und Geheimhaltung, Neue Juristische Wochenschrift 1980, S. 2165-2169. 43. Lösung der Asylproblematik durch Verfahrensbeschleunigung?, Neue Juristische Wochenschrift 1980, S. 2608-2611. 44. Grenzen staatlichen Engagements in der Sozialpolitik?, Die Betriebskrankenkasse 1980, S. 253-257. 45. Geschichtliche Entwicklung und heutige Bedeutung der Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Die Krankenversicherung 1980, S. 249-255. 46. Die soziale Entschädigung in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart (hrsg. von Georg Wannagat), Berlin 1980, S. 201-208. 47. Zum Begriff der „Ausbauabsichten“ in § 9 Abs. 3 Bundesfernstraßengesetz, Deutsches Verwaltungsblatt 1981, S. 10-15. 48. Grenzen der Amtshilfe in der Sozialversicherung, in: Gitter/Thieme/Zacher (Hrsg.), Festschrift für Georg Wannagat, Köln 1981, S. 449-471. 49. Hundert Jahre Deutsche Krankenversicherung, Die Betriebskrankenkasse 1981, S. 345-353. 50. Die soziale Entschädigung in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart Bd. 3 (1981), S. 203-215. 51. Selbstverwaltung der Sozialleistungsträger – Zuständigkeiten der Selbstverwaltungsorgane, Die Ersatzkasse 1982, S. 125-134. 52. Prüfungskompetenz und Rechtsschutz bei Streitigkeiten über Amtshilfeverpflichtungen, Neue Juristische Wochenschrift 1982, S. 1422-1430 (zusammen mit Heinz-Josef Friehe). 53. Soziale Selbstverwaltung zwischen Autonomie und Fremdbestimmung, Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken 1982, S. 499-508. 54. Grenzfragen des allgemeinen Ausländerrechts, Neue Juristische Wochenschrift 1983, S. 973-980.

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55. Die Sozialgerichtsbarkeit als anspruchsbildende Instanz, Schriftenreihe „Ordnungspolitik im Gesundheitswesen“ (hrsg. von Philipp Herder-Dorneich und Alexander Schuller), Band 3, Stuttgart 1983, S. 78-95. 56. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Verwaltungsverfahrensrecht, in: Achterberg/Krawietz/Wyduckel (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel, Festschrift für Hans Ulrich Scupin, Berlin 1983, S. 899-922. 57. Die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, Juristische Schulung 1983, S. 850-855. 58. Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung in: von Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, Festschrift für GeorgChristoph von Unruh, Heidelberg 1983, S. 881-899. 59. Betrieb und Betriebskrankenkassen als Solidargemeinschaft heute, Die Betriebskrankenkasse 1983, S. 325-328. 60. Zum Behördenbegriff im Kassenarztrecht, in: Sozialverwaltung und Sozialverfassung, Festgabe für Wilhelm Wertenbruch, Wiesbaden 1984, S. 140-154. 61. Hans Kelsen und die Einheit der Rechtsordnung, Bemerkungen zur Relativität juristischer Qualifikationen, Rechtstheorie Beiheft 5 (1984), S. 381407. 62. Artikel „Grundrechtsschranken“, Lexikon des Rechts, Neuwied 1984, Abt. 5/350 (2. Auflage 1996). 63. Artikel „Grundrechtsträger“, Lexikon des Rechts, Neuwied 1984, Abt. 5/360 (2. Auflage 1996). 64. Der Verwaltungsvorbehalt, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 43 (1985), S. 172-201. 65. Parteiöffentlichkeit bei Tatsachenfeststellungen durch den Sachverständigen?, in: Erichsen (Hrsg.), System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian-Friedrich Menger, Köln 1985, S. 557571. 66. Das Verwaltungsverfahren im Kassenarztrecht Die Sozialgerichtsbarkeit 1985, S. 89-94. 67. Toleranzidee und Grundgesetz, Juristen-Zeitung 1985, S. 857-863. 68. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragen des allgemeinen Ausländerrechts, Jura 1986, S. 28-37. 69. Staat, Gesellschaft und Individuum unter dem Grundgesetz, Jura 1986, S. 113-118.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

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70. Individual Rights under German Constitutional Law, Saint Louis University School of Law Public Forum 1986, S. 113-124. 71. Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, Die Öffentliche Verwaltung 1986, S. 811-819. 72. Betriebliche Krankenversicherung zwischen Bestandssicherung und Weiterentwicklung, in: Betriebskrankenkassen-Tag 1986, S. 141-148. 73. Grundzüge des Asyl- und Asylverfahrensrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Jura 1987, S. 1-6. 74. Zum Anwendungsbereich der Amtshilfevorschriften insbesondere im „ressortüberschreitenden" Amtshilfeverkehr, Deutsches Verwaltungsblatt 1987, S. 561-565. 75. Staatsaufsicht über die Studentenwerke, in: Albert von Mutius (Hrsg.), Autonomie öffentlicher Unternehmen in Anstaltsform, Baden-Baden 1987, S. 165-183, nachgedruckt in: Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsverwaltung, Wissenschaftsförderung 1987, S. 97-111. 76. Der Streit um die Sitzungsöffentlichkeit im Kommunalrecht – Zugleich ein Beitrag zum subjektiven öffentlichen Recht im organisatorischen Binnenbereich, Verwaltungs-Archiv Bd. 78 (1987), S. 407-458. 77. Bundesstaatlichkeit, Länderstaatlichkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1987, S. 41-46. 78. Novellierung des Krankenhausgesetzes von Nordrhein-Westfalen, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1988, S. 65-70. 79. Anzeigepflicht der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen beim Verdacht auf sogenannten Abrechnungsbetrug?, Neue Juristische Wochenschrift 1988, S. 738-741 (zusammen mit Ruth Düring). 80. Die Folgen von Verfahrensfehlern im Sozialrecht, Die Sozialgerichtsbarkeit 1988, S. 309-315. 81. Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, Politik und Kultur Heft 6/1988, S. 22-23. 82. Die Einheitsfunktion der Aufsichts- und Versicherungsbehörden, in: Sozialversicherung – Organisatorische Gliederung und funktionale Einheit der Sozialverwaltung (Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Band XXXI), Wiesbaden 1988, S. 116-152. 83. Kommentierung zu Art. 73 Nr. 2 GG (Die Staatsangehörigkeit im Bunde), Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung 1988. 84. Die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt, Juristische Schulung 1989, S. 1-8.

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Friedrich E. Schnapp

85. Die Neuregelung der Arzneimittelversorgung nach dem Gesundheitsreformgesetz, Krankenhausarzt 1989, S. 196-197. 86. Wilhelm Wertenbruch zum Gedenken, In Memoriam Wilhelm Wertenbruch 1919-1987, Bochum, 1989, S. 5-10. 87. Intertemporales Recht bei gestreckten Verwaltungsverfahren – Dargestellt an genehmigungspflichtigen Organisationsakten in der Sozialversicherung, Deutsches Verwaltungsblatt 1989, S. 549-552. 88. Braunkohlenplanung in Nordrhein-Westfalen, in: Berg- und Energierecht vor den Fragen der Gegenwart, Festschrift für Fritz Fabricius, Stuttgart 1989, S. 87-98. 89. Errichtung und errichtungsähnliche Organisationsakte in der betrieblichen Krankenversicherung, Die Sozialgerichtsbarkeit 1989, S. 273-278 (zusammen mit Jens Oltermann). 90. Die Aufhebung von sozialrechtlichen Verwaltungsakten mit Dauerwirkung (§ 48 SGB X), Zeitschrift für die Anwaltspraxis 1989, S. 403-412. 91. Das medizinische Gutachten im Sozialgerichtsprozeß, in: Jahrbuch der Fachanwälte für Sozialrecht 1988/89, S. 415-421. 92. Die Rechtsbeziehungen zwischen Kassenzahnarzt und sozialversichertem Patienten nach dem Gesundheits-Reformgesetz, Neue Juristische Wochenschrift 1989, S. 2913-2917 (zusammen mit Ruth Düring). 93. Die Stellung der Zahntechniker im Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung, Die Sozialgerichtsbarkeit 1989, S. 361-364. 94. Der nordrhein-westfälische Braunkohlenausschuß im Gefüge öffentlichrechtlicher Organisationsformen, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1989, S. 425-429. 95. Der On-line-Zugriff des Parlaments auf Datenbestände der Regierung. Verfassungsrechtliche Anmerkungen zur Kontrollfunktion des Parlaments und zum Eigenbereich der Regierung, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1990, S. 186-190. 96. Gesetzesbindung oder behördlicher Beurteilungsspielraum bei der Erteilung der Errichtungsgenehmigung?, Die Betriebskrankenkasse 1990, S. 368-375. 97. Das Institut für Sozialrecht der Ruhr-Universität Bochum und seine Zusammenarbeit mit den Trägern der bergbaulichen Sozialversicherung, Der Kompaß 1990, S. 285-286. 98. Znaczenie norm organizacyjnych i norm postepowania w calosci porzadku prawa posytywnego, Krakowskie Studia Prawnicze 1990, S. 97-11.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

933

99. Verwaltungsrechtliche Probleme der Braunkohlenplanung, in: Tettinger (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht und Energierecht (Bochumer Forschungsberichte zum Berg- und Energierecht, Heft 1), Bochum 1990, S. 27-36. 100. Öffentliche Verwaltung und privatrechtliche Handlungsformen, Die Öffentliche Verwaltung 1990, S. 826-829. 101. Soziale Grundrechte aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: von Maydell (Hrsg.), Soziale Rechte in der EG – Bausteine einer künftigen europäischen Sozialunion, Berlin 1990, S. 5-20. 102. Samorzad jako element polityki porzadku panstwowego, Samorzad terytorialny 1991, S. 3-9. 103. Sachleistung und Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung aus dogmatischer und rechtspolitischer Sicht, Die Ersatzkasse 1991, S. 390-393. 104. Das System des finanziellen Ausgleichs längerfristiger gesundheitsbedingter Leistungsminderungen durch Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ingwer Ebsen (Hrsg.), Invalidität und Arbeitsmarkt, Baden-Baden 1992, S. 12-23. 105. Der Beitrag der Gesetzlichen Unfallversicherung zum Umweltschutz, in: Filipek/Jendroska/Tettinger (Hrsg.), Energieversorgung und Umweltschutz (Bochumer Forschungsberichte zum Berg- und Energierecht, Band 5), Stuttgart 1992, S. 211-239. 106. Les droits fondamentaux sociaux sous l'aspect du droit constitutionnel, in: I diritti sociali in Europa, Affari Sociali Internazionali, 20. Jg. (Milano 1992), S. 261-272. 107. Der Schutz der (Arbeits-)Umwelt durch präventive und reaktive Maßnahmen der Gesetzlichen Unfallversicherung, Zeitschrift für angewandte Umweltforschung 1992, S. 536-547. 108. Das polnische Verwaltungsverfahrensgesetzbuch, Verwaltungsarchiv 83 (1992), S. 409-435 (zusammen mit Andrzej Wasilewski). 109. Rücknahme von Verwaltungsakten, Die Sozialgerichtsbarkeit 1993, S. 17. 110. Samorzad i nadzor panstwowy – antagonizm czy kooperacja? Samorzad terytorialny 1993, nr. 3, S. 74-80. 111. Aspekte der orts- und länderübergreifenden Verwaltungsvollstreckung, Kommunal-Kassen-Zeitschrift 1993, S. 145-149 (zusammen mit Thomas Nolte).

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Friedrich E. Schnapp

112. Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Bestandsschutz sozialrechtlicher Rechtspositionen, Mitteilungen der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken 1993, S. 515-520. 113. Zur Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG, Juristische Schulung 1994, S. 121-125 (zusammen mit Sandra Henkenötter). 114. Het verzekeringsbeginsel in de Duitse sociale verzekering, Feestbundel voor L.J.M. de Leede, Zwolle 1994, S. 427-438. 115. Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung in: Bertram Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, München 1994, S. 1179-1223. 116. Aufsicht und Finanzprüfung in: Bertram Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozial- versicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht, München 1994, S. 1289-1318. 117. Apparat glavy okruznoj administracii v zemljach FRG (Die Behörde des Regierungspräsidenten in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland), Gosudarstwo i prawo 1994, S. 129-135. 118. Organisation und Finanzierung der Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland Jura 1994, S. 617–620. 119. Verwaltungsvorschriften im Umweltrecht als antizipierte Sachverständigengutachten oder unüberprüfbare Normkonkretisierungen?, in: Kieres/ Tettinger (Hrsg.), Entwicklungstendenzen im Umweltschutzrecht (Bochumer Forschungsberichte zum Berg- und Energierecht, Bd. 10), Stuttgart 1994, S. 37-47. 120. Ist der Bundespräsident verpflichtet, verfassungsmäßige Gesetze auszufertigen?, Juristische Schulung 1995, S. 286-291. 121. Sozialversicherung – Begriff ohne Kontur?, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1995, S. 101-115. 122. Honorareinbehalt, Wesentlichkeitstheorie und Satzungsautonomie im Kassenarztrecht, in: Heinze (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter, Wiesbaden 1995, S. 861-873. 123. Rechtsaufsicht und Wirtschaftsaufsicht über Kassenärztliche Vereinigungen – ein systemwidriges Steuerungsinstrument?, in: Detlef Merten (Hrsg.), Die Selbstverwaltung im Krankenversicherungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsaufsicht über Kassen- ärztliche Vereinigungen, Berlin 1995, S. 27-40.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

935

124. Doitsu no shakai hoken shisutemu ni okeru kaigo hoken (Die Pflegeversicherung im System der deutschen Sozialversicherung), Waseda Hogaku (The Waseda Law Review), Vol. LXXI No. 4, 1996, S.109-140 (zusammen mit Teruaki Tayama). 125. Geltung und Auswirkungen des Gesetzesvorbehalts im Vertragsarztrecht, Medizinrecht 1996, S. 418-424. 126. Garzweiler II und die Wesentlichkeitstheorie, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1996, S. 415-418. 127. Organisatie en financiering van de sociale verzekering in de Bondsrepubliek Duitsland, Belgisch Tijdschrift voor Sociale Zekerheid 1996, S. 383391. 128. Organisation et financement de l'assecurance sociale en République Fédérale d'Allemagne, Revue belge de sécurité sociale 1996, S. 369-377. 129. Probleme der Selbstverwaltung, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1996, S. 33-45 = Die Sozialgerichtsbarkeit 1996, S. 621-626. 130. Kompetenzkonflikte durch Normerlaß im Kassenarztrecht, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 1997, S. 152-154. 131. Die Richtlinien im Kassenarztrecht (§ 92 SGB V) auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, in: Gitter (Hrsg.), Festschrift für Otto Ernst Krasney zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 437-462. 132. Muß die Vergabe sog. „Sozialpunkte“ im Juristischen Staatsexamen begründet werden? ,Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1998, S. 4144 (zusammen mit Sandra Henkenötter). 133. Verfassungsentwurf für ein freies Burma (1996), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Band 46 (1998), S. 671- 696. 134. Wie macht man richtigen Gebrauch von seiner Freiheit?, Neue Juristische Wochenschrift 1998, S. 960. 135. Wann und warum fertigt man ein Hilfsgutachten?, Juristische Schulung 1998, S. 420-423. 136. Wilhelm Eduard Albrecht, Neue Juristische Wochenschrift 1998, S. 1541. 137. Wann ist ein Verwaltungsakt fehlerhaft?, Juristische Schulung 1998, S. 524-526, S. 624-630 (zusammen mit Sandra Henkenötter). 138. Soziale Selbstverwaltung vor der Agonie?, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1998, S. 149-162.

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Friedrich E. Schnapp

139. Regelungsinstrumente zur Qualitätssicherung, in: Wienke/Lippert/Eisenmenger (Hrsg.), Die ärztliche Berufsausübung in den Grenzen der Qualitätssicherung, Berlin/Heidelberg 1998, S. 89-99. 140. Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, Juristische Schulung 1998, S. 873-877. 141. Urzad prezydenza regencji Samorzad terytorialny 1998, S. 69-75. 142. Juristische Auslegungsmethoden bei den Talmudgelehrten, Juristen-Zeitung 1998, S. 1153-1158. 143. Welche Rechtsfolgen hat die Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsaktes?, Juristische Schulung 1999, S. 39-44, 147-152 (zusammen mit Axel Cordewener). 144. Aktuelle Rechtsquellenprobleme im Vertragsarztrecht – Am Beispiel von Richtlinien und Einheitlichem Bewertungsmaßstab, Die Sozialgerichtsbarkeit 1999, S. 62-66. 145. Vom Freiberufler zum Dreiviertelbeamten?, Arzt und Wirtschaft 1999, S. 8. 146. Rechtsetzung durch Schiedsämter und gerichtliche Kontrolle von Schiedsamtsentscheidungen, in: Schnapp (Hrsg.), Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil II (Bochumer Schriften zum Sozialrecht, Band 2), Frankfurt am Main u.a. 1999, S. 77-98. 147. Rozwazania nad konstytucyjna zasada panstwa prawa (Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit), in: Adamiak (Hrsg.), Administracja publiczna w panstwie prawa, Festschrift für Jan Jendroska, Wrocáaw 1999, S. 335-345. 148. Das personalvertretungsrechtliche Gruppenprinzip – ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums? Zeitschrift für Beamtenrecht 1999, S. 397-402. 149. Die Nichtigkeit des Verwaltungsakts – Qualität oder Qualifikation? Deutsches Verwaltungsblatt 2000, S. 247-250. 150. Der Doppelpaß: verfassungswidrig?, RUBIN 2000, S.30-33. 151. Die Sozialstaatsklausel – Beschwörungsformel oder Rechtsprinzip?, Die Sozialgerichtsbarkeit 2000, S. 341-345. 152. Friedenswahlen in der Sozialversicherung – vordemokratisches Relikt oder scheindemokratisches Etikett?, in: Epping/Fischer/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Brücken bauen und begehen, Festschrift für Knut Ipsen, München 2000, S. 807-828.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

937

153. Grundrechtsbindung nichtstaatlicher Institutionen, Juristische Schulung 2000, S. 937-943 (zusammen mit Markus Kaltenborn). 154. Zukunftsperspektiven der Sozialrechtslehre, in: Stand und Zukunft der Sozialrechtslehre (Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Band 47), Wiesbaden 2000, S. 117-129. 155. Die gemeinschaftliche Berufsausübung niedergelassener Ärzte aus berufsrechtlicher, vertragsarztrechtlicher und verfassungsrechtlicher Perspektive, Die Sozialgerichtsbarkeit 2001, S. 101 – 108 (zusammen mit Markus Kaltenborn). 156. Gebieten über dem Personalvertretungsrecht stehende Grundprinzipien die Beibehaltung des Gruppenprinzips?, Der Personalrat 2001, S. 149-152. 157. Muß ein Vertragsarzt demokratisch legitimiert sein?, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2001, S. 337-341. 158. Die Reaktion des Rechts auf neue Risiken, in: Friedrich E. Schnapp (Hrsg.), Begutachtungsseminar „Medizin und Recht“, Frankfurt a. M. 2001, S. 51-56. 159. Das Rechtsstaatsprinzip in der Verfassung der Republik Polen, OsteuropaRecht 2001, S. 171-183. 160. Die Garantie der örtlichen Selbstverwaltung in der polnischen Verfassung, Die öffentliche Verwaltung 2001, S. 723-728. 161. Verfassungsrechtliche Anmerkungen zu berufs- und vertragsarztrechtlichen Einschränkungen der Vertragsfreiheit niedergelassener Ärzte bei gemeinsamer Berufsausübung, Der Arzt und sein Recht 2001, S. 108-114. 162. Das Kreuz mit dem Konjunktiv, Jura 2002, S. 32-35163. 163. Artikel „Erwerbsminderung“, „Grundsicherung“, „Hinterbliebenenrente“, „Rentenversicherung“, in: Brockhaus. Die Enzyklopädie digital, Mannheim 2002. 164. Artikel „Erwerbsminderung“, „Grundsicherung“, „Rentenversicherung“, „Witwenrente“, in: Der Brockhaus multimedial 2003, Mannheim 2002. 165. Augen zu und „durch“? Von der Schwierigkeit im Umgang mit Präpositionen, Jura 2002, S. 261-265. 166. Schranken der „Sozialverfassung“ des Grundgesetzes für den Ausbau des europäischen Sozialrechts?, in: Rainer Pitschas (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, Berlin 2002, S. 357-376.

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Friedrich E. Schnapp

167. Geschichtliche Entwicklung des Kassenarztrechts, in: Schnapp/Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts – Das gesamte Kassenarztrecht, München 2002, S. 1-15, 2. Auflage 2006, S. 1-18. 168. Verfassungsrechtliche Determinanten für die vertragsärztliche Tätigkeit, in: Schnapp/Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts – Das gesamte Kassenarztrecht, München 2002, S. 54-82, 2. Auflage 2006, S. 69104. 169. Demographische Entwicklung, soziale Sicherungssysteme und Zuwanderung, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2002, S. 163171 (zusammen mit Peter Kostorz). 170. Kassenschließung trotz fehlerfreier Errichtung? Über die Vergesslichkeit des Sozialgesetzgebers und den Zustand der Kommentarliteratur, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2002, S. 449-454. 171. Das vertrackte „Verbindungs“-Wesen. Zum richtigen Gebrauch von Konjunktionen, Jura 2002, S. 599-602. 172. Der Haushaltsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit – im Sozialrecht und in anderen Rechtsgebieten, in: Boecken/Ruland/Steinmeyer (Hrsg.), Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa, Festschrift für Bernd Baron von Maydell, Neuwied 2002, S. 621-632, nachgedruckt in: Hermann Butzer (Hrsg.), Wirtschaftlichkeit durch Organisations- und Verfahrensrecht, Berlin 2004, S. 109-123. 173. Gesamtverträge und Schiedsverfahren mit Ersatzkassenbeteiligung, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2003, S. 1-5. 174. Krebsübel Substantivitis? Der richtige Umgang mit dem Nominalstil, Jura 2003, S. 173-177. 175. Der bindende rechtswidrige Befehl oder: Hat Johann Friedrich Adolph von der Marwitz sich rechtmäßig verhalten?, in: Anderbrügge/Epping/Löwer (Hrsg.), Dienst an der Hochschule, Festschrift für Dieter Leuze zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, S. 469-485. 176. Die Organisationsreform der Rentenversicherung – verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, Mitteilungen der bayerischen Landesversicherungsanstalten 2003, S. 234-241. 177. Müssen Schiedsämter bei ihren Entscheidungen die Auswirkungen des Risikostrukturausgleichs berücksichtigen?, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2003, S. 337-341. 178. Die Indienstnahme der Apotheker für das „Rabattgeschäft“ durch das Beitragssatzsicherungsgesetz, Apotheke & Recht 2003, S. 87-93. 179. Wie entspricht man dem Gebot der Knappheit?, Jura 2003, S. 602-607.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

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180. Organisationsreform der Rentenversicherung durch Hochzonung der Entscheidungskompetenzen?, Die Öffentliche Verwaltung 2003, S. 965-972. 181. Der Apothekenrabatt – eine Sonderabgabe sui generis?, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 2003, S. 343-362. 182. Da hab ich einen Satz gemacht! Über Bildung und Missbildung von Sätzen, Jura 2004, S. 22-30. 183. Die Schiedsämter gem. § 89 SGB V, in: Schnapp (Hrsg.), Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens. Systematische Gesamtdarstellung der unterschiedlichen Rechtsbereiche mit Beispielen und Mustern, Berlin 2004, S. 21-84. 184. Die Rechtsstellung geöffneter und „virtueller“ Krankenkassen, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2004, S. 113-120. 185. Rechtsschutzgewährleistung und Rechtsschutzsystem in der polnischen Verfassung, Die öffentliche Verwaltung 2004, S. 322-328. 186. Grundfragen des Staatsangehörigkeitsrechts, Jura 2004, S. 167-172 (zusammen mit Michael Neupert). 187. Aktiv oder Passiv? Das Leiden an der Leideform, Jura 2004, S. 526-531. 188. Von der (Un-)Verständlichkeit der Juristensprache, Juristen-Zeitung 2004, S. 473-481. 189. Das Sterbegeld – eine auslaufende Leistung?, Die Sozialgerichtsbarkeit 2004, S. 451-452. 190. Friedrich Schmitthenner – Ahnherr des besonderen Gewaltverhältnisses?, Liber amicorum Hans-Uwe Erichsen, Köln/Berlin/Bonn/München 2004, S. 231-246. 191. Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld zwischen Eigenverantwortung und Fürsorge, Deutsches Verwaltungsblatt 2004, S. 1053-1061. 192. Untergesetzliche Rechtsquellen im Vertragarztrecht am Beispiel der Richtlinien, in: von Wulffen/Krasney (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, Köln/Berlin/ München 2004, S. 497-515. 193. Konkurrenzschutz für niedergelassene Ärzte gegen medizinische Versorgungszentren?, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2004, S. 449-552. 194. Eigentumsschutz, in: Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Zukunft der Rente – Rente der Zukunft?, Speyer 2004, S. 47-69.

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Friedrich E. Schnapp

195. Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht – Legitimation für den Arbeitgeberanteil in der gesetzlichen Rentenversicherung?, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, München 2005, S. 815-829. 196. Die rechtliche Legitimation des Arbeitgeberanteils in der gesetzlichen Krankenversicherung, Die Sozialgerichtsbarkeit 2005, S. 1-8. 197. Privatversicherungsrechtliche Elemente in der gesetzlichen Krankenversicherung – Verfassungsrechtliche Bewertung – , Zeitschrift für das gesamte Medizin- und Gesundheitsrecht 2005, S. 6-14. 198. Reformperspektiven für die zahnmedizinische Versorgung. Ein weiter Weg und viele Schritte, Zahnärztliche Mitteilungen 2005 Nr. 20, S. 34-42. 199. Staatsaufsicht über die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen, in: Schnapp/Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts – Das gesamte Kassenarztrecht, 2. Aufl., München 2006, S. 751-776. 200. Das Gebot der Sachlichkeit Jura 2006, S. 583-586. 201. Die Unzulässigkeit der Aufnahme von Krediten durch die gesetzlichen Krankenkassen, Bank- und Kapitalmarktrecht 2006, S. 360-366 (zusammen mit Stephan Rixen). 202. Darf es von Rechts wegen den „gläsernen Abgeordneten“ geben?, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 2006, S. 401-405. 203. Zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band II, Heidelberg 2006, § 52 (S. 1235-1254). 204. Der Bevölkerungswandel in Deutschland und seine Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, Gesundheits- und Sozialpolitik 2006, S. 1833 (zusammen mit Peter Kostorz). 205. Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Gesundheits- und Sozialpolitik 2006, S. 52-57. 206. Gibt es noch eine Selbstverwaltung in der Sozialversicherung?, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 2006, S. 191-203. 207. Der Arbeitgeberbeitrag in der Sozialversicherung – eine rechtfertigungsbedürftige Sonderabgabe?, Gesundheits- und Sozialpolitik 2007, S. 25-33. 208. Das Schiedsamt (§ 89 SGB V) als Behörde, Gesundheitsrecht 2007, S. 392-396.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

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209. Die Organisation der Sozialversicherung im Bundesstaat – Verfassungsrechtliche Probleme, in: Ennuschat/Geerlings/Mann/Pielow (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft im Staat der Gegenwart, Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, Köln, München 2007, S. 505-517. 210. Die Ablehnung wegen Befangenheit und die Abberufung von Schiedsamtsmitgliedern – verfahrensrechtliche Fragen, Die Sozialgerichtsbarkeit 2007, S. 633-637. 211. Der Einfluss der Schiedsämter auf die kassenärztliche Vergütung – aktuelle Probleme Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2007, S. 561-566. 212. 170 Jahre Protestation der Göttinger Sieben, Jura 2007, S. 823-826. 213. Mischverwaltung in der Sozialversicherung, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 2007, S. 243-262. 214. Mischverwaltung im Bundesstaat nach der Föderalismusreform, Jura 2008, S. 241-244. 215. Der Vertragsarzt – Sachwalter der gesetzlichen Krankenkassen?, in: Putzke/Hardtung/Hörnle u.a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum 70. Geburtstag, Tübingen 2008, S. 795-810. 216. Von der Marwitz oder von Saldern?, in: Forschungen zur brandenbur gischen und preußischen Geschichte, Neue Folge 18 (2008), S. 53-65.

III. Rezensionen, Berichte und Klausurfälle 1.

Anmerkung zum Urteil des VG Saarlouis vom 12.12.1968, Deutsches Verwaltungsblatt 1969, S. 596-599.

2.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 28.4.1967, Deutsches Verwaltungsblatt 1970, S. 291-292.

3.

„Die versehentlich gewährte Krankenhauspflege“ (Klausurfall), Die Fortbildung 1971, S. A 101.

4.

„Folgenreiche Kanalisationsarbeiten“ (Klausurfall), Die Fortbildung 1971, S. A 126-127.

5.

Bericht über die Beratung der Sozialrechtlichen Arbeitsgemeinschaft beim 49. Deutschen Juristentag, Juristen-Zeitung 1972, S. 668-669.

6.

Besprechung von: Dieter Schäfer, Soziale Schäden, soziale Kosten und soziale Sicherung. Argumente für ein Modell zur Integration aller Ausgleichsleistungen für Personenschäden in das soziale Sicherungssystem,

942

Friedrich E. Schnapp

Berlin 1972, Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht 1973, S. 160. 7.

Besprechung von: Dieter Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, München 1973, Recht im Amt 1973, Heft 9, S. II.

8.

Besprechung von: Staat und Recht. Die deutsche Staatslehre im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Martin J. Sattler, München 1972, Recht im Amt 1974, Heft 1, S. II.

9.

Urteilsanmerkung zu BVerwG vom 3.5.1973 (I C 33.72 und IC 20.70), Deutsches Verwaltungsblatt 1974, S. 88-90.

10.

Besprechung von: Siegfried Stange, Die aufenthaltsrechtliche Stellung der Fremden in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Ehe und Familie, Bern und Frankfurt 1973, Deutsches Verwaltungsblatt 1974, S. 386.

11.

Besprechung von: Johannes Rauball und Reinhard Rauball, Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl., München 1974, Recht im Amt, Heft 6/7, S. II.

12.

Besprechung von: Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts (nebst elf Anlagebänden), Baden-Baden 1973, Juristische Rundschau 1976, S. 41-42.

13.

Anmerkung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7.10.1975 (I C 46.59), Neue Juristische Wochenschrift 1976, S. 493-494.

14.

Besprechung von Knopp/Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, 3. Aufl., München 1974, Recht der Arbeit 1976, S. 138.

15.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 8.12.1975 (12 RJ 148/74), Die Sozialgerichtsbarkeit 1976, S. 461-463.

16.

Bericht über die Staatsrechtslehrertagung 1976 (I), Deutsches Verwaltungsblatt 1977, S. 30-33.

17.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 18.12.1975 (12 RJ 88/75), Die Sozialgerichtsbarkeit 1977, S. 307-308.

18.

Besprechung von: Jürgen Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, Darmstadt 1977, Neue Juristische Wochenschrift 1978, S. 803-804.

19.

Besprechung von: Das Düsseldorfer Reformprogramm zum Ausländerrecht (AuslGE'76). Vorgelegt vom Initiativkreis für die Reform des Ausländerrechts beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche im Rheinland, hrsg. von Georg Albrecht, Bonn 1976, Die Öffentliche Verwaltung 1978, S. 418-419.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

943

20.

Anmerkung zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10. 1977 (2 BvR 42/76), Die Sozialgerichtsbarkeit 1978, S. 343-344.

21.

Besprechung von: Bewährungsprobe für ein Grundrecht. Art. 16 II 2 GG: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht (amnesty international), BadenBaden, Zeitschrift für Rechtspolitik 1978, S. 294-295.

22.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.4.1978 (8/3 RK 33/76), Die Sozialgerichtsbarkeit 1979, S. 234-235.

23.

Besprechung von: Frank Luber, Fundstellen und Inhaltsnachweise Arbeits- und Sozialrecht, Deutsches Verwaltungsblatt 1979, S. 476.

24.

Besprechung von: Rolf Stödter/Werner Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa. Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, Tübingen 1977, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 104 (1979), S. 321-323.

25.

Anmerkung zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1.2. 1978 (1 BvR 411/75), Die Sozialgerichtsbarkeit 1979, S. 419-420.

26.

Besprechung von: Dieter Giese und Gerhard Melzer, Beratung in der sozialen Arbeit, 2. Aufl., Frankfurt 1978, Deutsches Verwaltungsblatt 1979, S. 600.

27.

Besprechung von: Anton Knopp/Otto Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, 4. Aufl., München 1979, Deutsches Verwaltungsblatt 1979, S. 793.

28.

Besprechung von: Empfehlungen zur Abgrenzung von Arten der Sozialhilfe untereinander. Mit ergänzenden Anmerkungen von Willi Hoppe, 2. Aufl., Stuttgart 1978, Deutsches Verwaltungsblatt 1979, S. 895-896.

29.

Besprechung von: Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kriegsopferfürsorge. Auszüge, zusammengestellt von Erich Bermel und Sylvia Leßner, Stuttgart 1978, Deutsches Verwaltungsblatt 1979, S. 896.

30.

Besprechung von: Edgar Bosch/Jörg Schmidt, Praktische Einführung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1979, Deutsches Verwaltungsblatt 1980, S. 463.

31.

Besprechung von: Harry Rohwer-Kahlmann/Heinz Ströer, Sozialgesetzbuch, Allgemeiner Teil – SGB I, München 1979, Deutsches Verwaltungsblatt 1980, S. 610.

32.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bde. 46 und 47, Deutsches Verwaltungsblatt 1980, S. 895-896.

33.

Besprechung von: Hans Günter Steinkemper, Amtsträger im Grenzbereich zwischen Regierung und Verwaltung, Frankfurt am Main 1980, Deutsches Verwaltungsblatt 1981, S. 198-199.

944

Friedrich E. Schnapp

34.

Besprechung von: Rolf Stößner, Die Staatsaufsicht in der Sozialversicherung, 2. Aufl., St. Augustin 1978, Neue Juristische Wochenschrift 1981, S. 909-910.

35.

Besprechung von: Handbuch des Asylrechts, Bd. 1, hrsg. von Wolfgang G. Beitz und Michael Wollenschläger, Baden-Baden 1980, Neue Juristische Wochenschrift 1981, S. 1883.

36.

Klausurfall: Rentenversicherungsrecht (mit gerichtlichem Rechtsschutz), in: Hans F. Zacher (Hrsg.), Wahlfach Sozialrecht, 2. Aufl., Heidelberg/ Karlsruhe 1981, S. 149-161.

37.

Besprechung von: Handbuch des Asylrechts, Bd. 2, hrsg. von Wolfgang G. Beitz und Michael Wollenschläger, Baden-Baden 1981, Neue Juristische Wochenschrift 1982, S. 1201-1202.

38.

Anmerkung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1.7.1980 (1 BvR 23/75), Die Sozialgerichtsbarkeit 1982, S. 242-244.

39.

Besprechung von: Hans F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, Deutsches Verwaltungsblatt 1982, S. 909-911.

40.

Besprechung von: Otto Benecke Stiftung (Hrsg.), Grenzfragen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 3. erg. Aufl., Baden-Baden 1982, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 1982, S. 207.

41.

Examensklausur öffentliches Recht Jura 1983, S. 153-165.

42.

Besprechung von: Bernhard Schlink, Die Amtshilfe, Berlin 1982, Neue Juristische Wochenschrift 1983, S. 1412 (zusammen mit Karl-Heinz Rawert).

43.

Besprechung von: Hans Joachim Knack (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., Köln/Berlin/Bonn/München 1982, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 108 (1983), S. 136-142.

44.

Besprechung von: Hans Grüner, Sozialgesetzbuch, Percha 1980, Deutsches Verwaltungsblatt 1984, S. 449.

45.

Besprechung von: Jens Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl., München 1981, Deutsches Verwaltungsblatt 1984, S. 449-450.

46.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 20.10.1983 – 7 RAr 41/82 –, Die Sozialgerichtsbarkeit 1985, S. 35-37.

47.

Besprechung von: Albert von Mutius/Edzard Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Probleme mehrstufiger Erfüllung von Verwaltungsaufgaben auf kommunaler Ebene, Siegburg 1982, Deutsches Verwaltungsblatt 1985, S. 419.

Verzeichnis der Veröffentlichungen

945

48.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bände 48 und 49, Deutsches Verwaltungsblatt 1985, S. 693-694.

49.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bände 50 und 51, Deutsches Verwaltungsblatt 1985, S. 761-762.

50.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bände 52 und 53, Deutsches Verwaltungsblatt 1985, S. 974-976.

51.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Band 54, Deutsches Verwaltungsblatt 1985, S. 1250-1251.

52.

Übungsklausur Öffentliches Recht: Fall aus dem Bereich des Ausländerrechts, Jura 1986, S. 91-98.

53.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.4.1985 – 2 RU 44/84 – , Die Sozialgerichtsbarkeit 1986, S. 259-260.

54.

Der praktische Fall – Öffentliches Recht: Kündigung eines Gemeindeangestellten im Wege der Ersatzvornahme, Juristische Schulung 1986, S. 631-638 (zusammen mit Karl-Heinz Rawert).

55.

Besprechung von: Rupert Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, Berlin 1983, Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 111 (1986), S. 444-455.

56.

Besprechung von: Günther Schroeder-Printzen, Allgemeines Verwaltungsrecht in Leitsätzen, Köln 1986, Deutsches Verwaltungsblatt 1987, S. 387-388.

57.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 3.9.1986 - 9a RV 10/85 -, Die Sozialgerichtsbarkeit 1987, S. 286-288.

58.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bände 55 und 56, Deutsches Verwaltungsblatt 1987, S. 703-705.

59.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bände 57 und 58, Deutsches Verwaltungsblatt 1987, S. 1177-1179.

60.

Besprechung von: Carl August Lückerath (Hrsg.), Berufsbeamtentum und Beamtenorganisation – Geschichtliche Wirklichkeit im Widerspruch? Köln 1987, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1988, S. 255.

61.

Besprechung von: Hermann Hill, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, Heidelberg 1986, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1988, S. 716.

62.

Die öffentlich-rechtliche Aufsichtsarbeit in der Ersten juristischen Staatsprüfung – Der Hilfskraftfall –, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1988, S. 323, 349-352.

946

Friedrich E. Schnapp

63.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 10.9.1987 – 12 RK 49/83 –, Die Sozialgerichtsbarkeit 1988, 467-469.

64.

Besprechung von: Roman Loeser, Das Bundesorganisationsgesetz, BadenBaden 1988, Archiv des öffentlichen Rechts, Band 113 (1988) S. 651-654.

65.

Übersetzung von: Stanislav Frankowski, The Death Penalty in the USA, (Die Todesstrafe in den USA), Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 100 (1988), S. 951-973.

66.

Besprechung von: Peter Selmer und Ingo von Münch (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, Berlin/New York 1987, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1989, S. 35-36.

67.

Besprechung von: Udo Wengst, Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948-1953, Düsseldorf 1988, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1989, S. 346.

68.

Besprechung von: Karl Bayer u.a. (Hrsg.), Zum öffentlichen Dienst- und Disziplinarrecht, Festgabe für Hans Rudolf Claussen, Köln/Berlin/Bonn/ München 1988, Die Verwaltung Bd. 22 (1989), S. 126-127.

69.

Besprechung von: Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bände 59 und 60, Deutsches Verwaltungsblatt 1989, S. 1115-1118.

70.

Besprechung von: Heiko Faber, Verwaltungsrecht, Tübingen, 1. Aufl. 1987, 2. Aufl. 1989, Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 114 (1989), S. 648-651.

71.

Besprechung von: J.J.A. Kooijman, Recht op periodieke Uitkeringen in het Sociaal Zekerheidsrecht, Nijmegen 1989, Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1990, S. 93-94.

72.

Besprechung von: Jakob Jülicher/Ingrid Frey, Das Disziplinarrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 6. Aufl., Siegburg 1989, NordrheinWestfälische Verwaltungsblätter 1990, S. 396.

73.

Besprechung von: Kasseler Kommentar – Sozialversicherungsrecht, München 1990, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1991, S. 143-144.

74.

Besprechung von: Michael App, Verwaltungsvollstreckungsrecht, Köln 1989, Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 116 (1991), S. 279-282.

75.

Besprechung von: Wolfgang Rüfner, Einführung in das Sozialrecht, 2. Aufl., München 1991, Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht 1992, S. 117.

76.

Die öffentlich-rechtliche Klausur in der Zwischenprüfung und im Ersten juristischen Staatsexamen – Tierschutz und Religionsfreiheit –, Nord-

Verzeichnis der Veröffentlichungen

947

rhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1992, S. 375-379 (zusammen mit Frank Dudda). 77.

Besprechung von: Stephan Rolfes/Werner Volkert, Aufgaben und Organisation der öffentlichen Verwaltung, Stuttgart/München/Hannover/Berlin/ Weimar 1992, Deutsches Verwaltungsblatt 1993, S. 1157-1158.

78.

Besprechung von: Peter Eichhorn und Werner Wilhelm Engelhardt (Hrsg.), Standortbestimmung öffentlicher Unternehmen in der Sozialen Marktwirtschaft. Gedenkschrift für Theo Thiemeyer, Baden-Baden 1994, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1995, S. 118.

79.

Besprechung von: Norbert Finkenbusch, Die Träger der Krankenversicherung – Verfassung und Organisation, St. Augustin 1993, Vierteljahresschrift für Sozialrecht 1995, S. 51-53.

80.

Besprechung von: Stanislaw Biernat/Reinhard Hendler/Friedrich Schoch/ Andrzej Wasilewski (Hrsg.), Grundfragen des Verwaltungsrechts und der Privatisierung, Stuttgart usw. 1994, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1995, S. 157-158.

81.

Besprechung von: Klaus Barwig/Gisbert Brinkmann/Berthold Huber/ Klaus Lörcher/Christoph Schumacher (Hrsg.), Vom Ausländer zum Bürger. Festschrift für Fritz Franz und Gert Müller, Baden-Baden 1994, Deutsches Verwaltungsblatt 1995, S. 532-533.

82.

Besprechung von: Hans Joachim Knack (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) Kommentar, 4. Aufl., Köln 1994, Archiv des öffentlichen Rechts, 121. Band (1996), S. 145-148.

83.

Erstes juristisches Staatsexamen – Aufsichtsarbeit im öffentlichen Recht: Änderung der Wählbarkeitsvoraussetzungen für Bundestagsabgeordnete, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1996, S. 359, 403-408 (zusammen mit Sandra Henkenötter).

84.

Erste juristische Staatsprüfung – Aufsichtsarbeit im öffentlichen Recht: Anordnung zur Tötung BSE-infizierter Kälber gegenüber einem Rechtsnachfolger, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 1997, S. 481-484 (zusammen mit Sandra Henkenötter).

85.

Besprechung von: Otto Schulz, Maastricht und die Grundlagen einer Europäischen Sozialpolitik, Köln/Berlin/Bonn/München 1996, Deutsches Verwaltungsblatt 1999, S. 58-59.

86.

Besprechung von: Franz Ruland/Bernd von Maydell/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats. Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1998, Deutsches Verwaltungsblatt 1999, S. 565-567.

948

Friedrich E. Schnapp

87.

Anmerkung zum Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 5.11.1998 – I ZB 50/98 –, Die Sozialgerichtsbarkeit 1999, S. 320-322.

88.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 29.1.1998 – B 12 KR 35/95 R –, Juristenzeitung 1999, S. 621-623.

89.

Besprechung von: Jochen C. K. Ringler, Die Europäische Sozialunion, Berlin 1997, Der Staat 1999, S. 322-324.

90.

Besprechung von: Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998, Der Staat 1999, S. 482.

91.

Besprechung von: Eva Kampmeyer, Protokoll und Abkommen über die Sozialpolitik der Europäischen Union, Köln u.a. 1999, Deutsches Verwaltungsblatt 2000, S. 727-728.

92.

Aufsichtsarbeit aus dem Öffentlichen Recht: Die Kündigung eines Gemeindeangestellten im Wege der Ersatzvornahme, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 2000, S. 271-276 (zusammen mit Uwe Mühlhoff).

93.

Besprechung von: Ulrich Battis, Bundesbeamtengesetz mit Erläuterungen, 2. Aufl., München 1997, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 2001, S. 79.

94.

Besprechung von: Otto Fichtner (Hrsg.), Bundessozialhilfegesetz, München 1999, Deutsches Verwaltungsblatt 2001, S. 714-715.

95.

Besprechung von: Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, Berlin 2001, Deutsches Verwaltungsblatt 2001, S. 1741.

96.

Besprechung von: Thomas Strauß, Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum – Zur Bedeutung des Art. 33 Abs. 4 GG, Berlin 2000, NordrheinWestfälische Verwaltungsblätter 2001, S. 159-160.

97.

Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 28.6.2000 - B 6 KA 64/98 R -, MedR 2001, S. 95-103, Medizinrecht 2001, S. 269-271.

98.

Besprechung von: Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, Tübingen 2000, und Andreas Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Berlin/Heidelberg/New York 2001, Archiv des öffentlichen Rechts 128. Band (2003), S. 488-494.

99.

Aufsichtsarbeit im Öffentlichen Recht: Aufenthaltsverbote – ein rechtmäßiges Mittel zur Bekämpfung offener Drogenszenen?, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 2003, S. 484-487 (zusammen mit Uwe Mühlhoff).

Verzeichnis der Veröffentlichungen

949

100. Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. 12. 2002 – B 6 KA 21/01 R –, SGb 2003, S. 630-633, Die Sozialgerichtsbarkeit 2003, S. 633-635. 101. Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. 3. 2002 (Az: III ZR 302/00), Lindenmayer/Möhring H 8/2002 § 839 (A) BGB Nr. 68. 102. Besprechung von: Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, Stuttgart 2003, Die Öffentliche Verwaltung 2005, S. 84. 103. Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 20. 10. 2004 – B 6 KA 30/03 – SGb 2005, 541-547, Die Sozialgerichtsbarkeit 2005, S. 547551. 104. Besprechung von: Bernd Baron von Maydell/Franz Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 3. Aufl., Baden-Baden 2003, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2005, S. 586-587. 105. Anmerkung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. 5. 2005 – B 3 KR 39/04 R – SGb 2005, S. 44-46, Die Sozialgerichtsbarkeit 2006, S. 4749. 106. Besprechung von: Stephan Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht am Beispiel des Leistungserbringerrechts der gesetzlichen Krankenversicherung, Tübingen 2005, Deutsches Verwaltungsblatt 2006, S. 300302. 107. Besprechung von: Dirk Göpffarth/Stefan Greß/Klaus Jacobs/Jürgen Wasem (Hrsg.), Jahrbuch Risikostrukturausgleich, Sankt Augustin 2006, Gesundheitsrecht 2007, S. 46-47.

IV. Herausgeberschaften 1.

Die Auswirkungen des EG-Rechts auf das Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik – Unter besonderer Berücksichtigung der neuen Bundesländer – (Band 12 der Beiträge zur Sozialpolitik und zum Sozialrecht), Berlin 1992 (zusammen mit von Bernd von Maydell).

2.

Bochumer Schriften zum Sozialrecht - Band 1: Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil I, 1999 - Band 2: Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil II, 1999

950

Friedrich E. Schnapp

- Band 3: Reinhard Dettmeyer, Die verfassungsrechtlichen Grenzen für die gesetzliche Einführung einer Verwaltungssektion bei medizinisch unklaren Todesfällen, 1999 - Band 4: Finanzierungsfragen der Sozialversicherung. Am Beispiel des Arbeitsförderungsrechts, 2000 - Band 5: Claudia Bader, Die einmaligen Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz, 2000 - Band 6: Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, Teil III, 2000 - Band 7: Begutachtungsseminar „Medizin und Recht“, 2000 - Band 8: Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip – am Beispiel der Sozialversicherung, 2001 - Band 9: Rechtsfragen der gemeinschaftlichen Berufsausübung von Vertragsärzten, 2002 - Band 10: Thomas Wilk, Die Rechtsbeziehungen im Vertragsarztwesen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsstellung des Belegarztes, 2005 - Band 11: Astrid Windels-Pietzsch, Friedenswahlen in der Sozialversicherung, 2005 - Band 12: Manuela Müller, Reform und Perspektiven des Leistungsrechts im gegliederten Rehabilitationssystem. Eine Untersuchung zur Ausgestaltung der rehabilitationsrechtlichen Leistungskataloge unter besonderer Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Maßgaben, 2007 - Band 13: Ralf Großbölting, Die vertragszahnärztliche Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfung. Unter besonderer Berücksichtigung vergütungsrelevanter Verteilungsmechanismen, 2007 - Band 14: Alexander Sopp, Drittstaatsangehörige und Sozialrecht. Eine Darstellung nationaler, europäischer und menschenrechtlicher Entwicklungen, 2007. - Band 15: Halime-Renk Oguz, Sozialpolitik und Arbeitslosenversicherung in der Türkei. Eine rechtsvergleichende Untersuchung, 2008. 3.

Bochumer Schriften zum Sozial- und Gesundheitsrecht - Band 1: Torsten Wagner, Die Einbeziehung von Sozial- und Jugendhilfeempfängern in die Gesetzliche Krankenversicherung, 2008

Verzeichnis der Veröffentlichungen

951

- Band 2: Katrin Rübsamen, Verfassungsrechtliche Aspekte des Fallpauschalensystems im Krankenhauswesen (DRG-Vergütungssystem), 2008 - Band 3: Peter Kostorz: Sozialstaatliche Interventionen zu Gunsten von Menschen mit Behinderung, 2008 (zusammen mit Stefan Huster und Markus Kaltenborn). 4.

Handbuch des Vertragsarztrechts – Das gesamte Kassenarztrecht, München 2002, 2. Auflage 2006 (zusammen mit Peter Wigge).

5.

Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Berlin 2004.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Peter Axer, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Fachbereich V – Rechtswissenschaften, Universität Trier. Herbert Bethge, Univ.-Prof. (em.) Dr., Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Wirtschaftsverwaltungsrecht und Medienrecht, Juristische Fakultät, Universität Passau. Christoph Brüning, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Martin Burgi, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Öffentliches Recht, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Hermann Butzer, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Recht der staatlichen Transfersysteme, Juristische Fakultät, Gottfried Wilhelm LeibnizUniversität Hannover. Hans-Joachim Cremer, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim. Wolfram Cremer, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Thomas von Danwitz, Univ.-Prof. Dr., D.I.A.P. (ENA, Paris), Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg, Institut für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre, Universität zu Köln. Johannes Dietlein, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre, Zentrum für Informationsrecht, Juristische Fakultät, Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Ruth Düring, Dr., Richterin am Bundessozialgericht, Kassel. Ingwer Ebsen, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Sozialrecht, Fachbereich 1 – Rechtswissenschaft, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Eberhard Eichenhofer, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., Lehrstuhl für Sozialrecht und Bürgerliches Recht, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena.

954

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Wilfried Erbguth, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Verwaltungsrechts, Juristische Fakultät, Universität Rostock. Hans-Uwe Erichsen, Univ.-Prof. (em.) Dr., Kommunalwissenschaftliches Institut, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Wolfgang Gitter, Univ.-Prof. (em.) Dr. Dr. h.c., Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie, Universität Bayreuth. Friedhelm Hase, Univ.-Prof. Dr., Professur für Öffentliches Recht, Sozialrecht, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsrecht, Universität Siegen. Rolf D. Herzberg, Univ.-Prof. (em.) Dr., Lehrstuhl Strafrecht, Strafprozessrecht und Allgemeine Rechtstheorie, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Stefan Huster, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht II: Staats- und Verwaltungsrecht mit besonderer Berücksichtigung des Sozialrechts, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Knut Ipsen, Univ.-Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. mult., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Markus Kaltenborn, Univ.-Prof. Dr., Professur für Öffentliches Recht einschließlich Finanzverfassungsrecht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Franz-Ludwig Knemeyer, Univ.-Prof. (em.) Dr., Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Juristische Fakultät, Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Otto Ernst Krasney, Prof. Dr., Vizepräsident des Bundessozialgerichts a.D., Kassel. Walter Krebs, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Fachbereich Rechtswissenschaft, Freie Universität Berlin. Philip Kunig, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Arbeitsbereich Recht der natürlichen Lebensbedingungen, Fachbereich Rechtswissenschaft, Freie Universität Berlin. Wolfgang Meyer, Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht, Kassel. Stefan Muckel, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Kirchenrecht, Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universität zu Köln. Ingo v. Münch, Univ.-Prof. (em.) Dr. Dr. h.c., Fakultät für Rechtswissenschaften, Universität Hamburg. Joh.-Christian Pielow, Univ.-Prof. Dr., Professur für Recht der Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Ruhr-Universität Bochum.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

955

Bodo Pieroth, Univ.-Prof. Dr., Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Politik, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Rainer Pitschas, Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c., Lehrstuhl für Verwaltungswissenschaft, Entwicklungspolitik und Öffentliches Recht, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Ralf Poscher, Univ-Prof. Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Adelheid Puttler, Univ.-Prof. Dr., LL.M. (University of Chicago), diplomée de l’E.N.A., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Oliver Ricken, Univ.-Prof. Dr., Professur für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Sozialrecht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Daniel Riedel, Wiss. Mitarbeiter, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre, Zentrum für Informationsrecht, Juristische Fakultät, Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Stephan Rixen, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Recht sozialer Dienstleistungen und Einrichtungen, Institut für Sozialpolitik und Organisation Sozialer Dienste, Fachbereich 4 (Sozialwesen), Universität Kassel. Klaus F. Röhl, Univ.-Prof. (em.) Dr., Lehrstuhl für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Wolf-Rüdiger Schenke, Univ.-Prof. (em.) Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim. Edzard Schmidt-Jortzig, Univ.-Prof. (em.) Dr., Bundesminister der Justiz a.D., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Michael Schweitzer, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Europarecht, Juristische Fakultät, Universität Passau. Roman Seer, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Steuerrecht, Juristische Fakultät, RuhrUniversität Bochum. Otfried Seewald, Univ.-Prof. (em.) Dr., Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere Sozialrecht, Juristische Fakultät, Universität Passau. Helmut Siekmann, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Geld-, Währungs- und Notenbankrecht, Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS), Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt a.M. Volker Wahrendorf, Prof. Dr., Vorsitzender Richter am Landessozialgericht NordrheinWestfalen, Essen.

956

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Maximilian Wallerath, Univ.-Prof. (em.) Dr., Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Verwaltungslehre, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, ErnstMoritz-Arndt-Universität Greifswald. Rolf Wank, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschaftsund Arbeitsrecht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Andrzej Wasilewski, Univ.-Prof. Dr., Richter am Obersten Gericht der Republik Polen a.D., Katedra Prawa Ochrony ĝrodowiska, Wydziaá Prawa i Administracji, Uniwersytet Jagiellonski, Kraków. Peter A. Windel, Univ.-Prof. Dr., Lehrstuhl für Prozessrecht und Bürgerliches Recht, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Joachim Wolf, Univ.-Prof. Dr., Professur für Umweltrecht, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, Juristische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum. Dieter Wyduckel, Univ.-Prof. (em.) Dr., Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Forschungsstelle für die Verfassungsgeschichte der Frühen Neuzeit, Technische Universität Dresden.