Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände 9783110498660, 9783110500080

Is a lake’s surface made of water or air? When two extended objects are in contact, do their boundaries coincide? Is a n

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German Pages 335 [336] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil 1: Der systematische Rahmen
1 Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen
2 Ausgedehnte Gegenstände
2.1 Teile
2.2 Zusammenhang
2.3 Eine Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände
2.4 Materielle Gegenstände
3 Grenzen als Teile
3.1 „Dicke“ oder „dünne“ Grenzen? – Zur Teilbarkeit von Grenzen
3.2 Gegenstände ohne Grenze
3.3 Wie verhält sich die These zu den Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen?
3.4 Das Problem der Zugehörigkeit: Vier Optionen
3.5 Option 1: Die Grenze als gemeinsamer Teil
3.6 Option 2: Die Grenze als Teil nur eines Gegenstandes
3.7 Option 3: Die neutrale Grenze
3.8 Option 4: Koinzidierende Grenzen
3.9 Grenzen als Teile: eine Zwischenbilanz
Teil 2: Zwei einflussreiche Theorien
4 Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper
4.1 Bolzanos Theorie der Ausdehnung: das Bolzanosche Kontinuum
4.2 Bolzanos Naturphilosophie
4.3 Bolzano über die Grenze eines Körpers
4.4 Ein grundsätzliches Problem der Bolzanoschen Theorie
4.5 Korrektur der Bolzanoschen Theorie
4.6 Einordnung in den systematischen Rahmen
5 Francisco Suárez über Punkte, Linien und Oberflächen
5.1 Der Begriff der Quantität in der scholastischen Tradition und bei Suárez
5.2 Die aristotelische Definition des Quantums und ihre Deutung durch Suárez
5.3 Vergleich mit der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände
5.4 Fünf verschiedene Ansichten über Punkte, Linien und Oberflächen in den Körpern
5.5 Einordnung in den systematischen Rahmen
5.6 Suárez zum Problem der Spaltung
5.7 Suárez zum Problem des Kontaktes
5.8 Zusammenfassung und Kritik der Suárezianischen Theorie der Grenzen
Teil 3: Die moderne Debatte
6 Überblick über die moderne Debatte
6.1 Realist theories
6.2 Eliminativist theories
7 Mereotopologie
7.1 Mereotopologie in der Bolzanoschen Tradition
7.2 Mereotopologie in der Brentanoschen Tradition
7.3 Gemischte Ansätze
7.4 Fundamentale Kritik an der Mereotopologie
8 Alternative Ansätze
8.1 „Locologie“ statt Topologie
8.2 Kontinuumsmechanik
Teil 4: Ein neuer Lösungsvorschlag
9 Grenzen als Teile: Die Ursache der Probleme
10 Eine allgemeine Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände
10.1 Ein neuer Vorschlag
10.2 Was leistet der neue Vorschlag?
10.3 Zum Status dünner Teile ausgedehnter Gegenstände
10.4 Die berechtigten Anliegen der vier Optionen
Literaturverzeichnis
Sachregister
Personenregister
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Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände
 9783110498660, 9783110500080

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Lukas Benedikt Kraus Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände

Philosophische Analyse/ Philosophical Analysis

Herausgegeben von/Edited by Rafael Hüntelmann, Christian Kanzian, Uwe Meixner, Richard Schantz, Erwin Tegtmeier

Band/Volume 72

Lukas Benedikt Kraus

Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände

ISBN 978-3-11-050008-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049866-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049728-1 ISSN 2198-2066 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung | 1

Teil 1: Der systematische Rahmen  1

Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen | 9

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Ausgedehnte Gegenstände | 16 Teile | 17 Zusammenhang | 18 Eine Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände | 20 Materielle Gegenstände | 27

3 3.1

Grenzen als Teile | 35 „Dicke“ oder „dünne“ Grenzen? – Zur Teilbarkeit von Grenzen | 36 Gegenstände ohne Grenze | 42 Wie verhält sich die These zu den Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen? | 45 Das Problem der Zugehörigkeit: Vier Optionen | 48 Option 1: Die Grenze als gemeinsamer Teil | 55 Option 2: Die Grenze als Teil nur eines Gegenstandes | 63 Option 3: Die neutrale Grenze | 69 Option 4: Koinzidierende Grenzen | 80 Grenzen als Teile: eine Zwischenbilanz | 85

3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9

Teil 2: Zwei einflussreiche Theorien  4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper | 95 Bolzanos Theorie der Ausdehnung: das Bolzanosche Kontinuum | 97 Bolzanos Naturphilosophie | 106 Bolzano über die Grenze eines Körpers | 116 Ein grundsätzliches Problem der Bolzanoschen Theorie | 124 Korrektur der Bolzanoschen Theorie | 127 Einordnung in den systematischen Rahmen | 136

VI | Inhalt

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8

Francisco Suárez über Punkte, Linien und Oberflächen | 145 Der Begriff der Quantität in der scholastischen Tradition und bei Suárez | 147 Die aristotelische Definition des Quantums und ihre Deutung durch Suárez | 151 Vergleich mit der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände | 158 Fünf verschiedene Ansichten über Punkte, Linien und Oberflächen in den Körpern | 162 Einordnung in den systematischen Rahmen | 170 Suárez zum Problem der Spaltung | 179 Suárez zum Problem des Kontaktes | 184 Zusammenfassung und Kritik der Suárezianischen Theorie der Grenzen | 192

Teil 3: Die moderne Debatte  6 6.1 6.2

Überblick über die moderne Debatte | 207 Realist theories | 211 Eliminativist theories | 213

7 7.1 7.2 7.3 7.4

Mereotopologie | 216 Mereotopologie in der Bolzanoschen Tradition | 219 Mereotopologie in der Brentanoschen Tradition | 232 Gemischte Ansätze | 245 Fundamentale Kritik an der Mereotopologie | 256

8 8.1 8.2

Alternative Ansätze | 262 „Locologie“ statt Topologie | 263 Kontinuumsmechanik | 273

Teil 4: Ein neuer Lösungsvorschlag  9

Grenzen als Teile: Die Ursache der Probleme | 285

10

Eine allgemeine Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände | 289 Ein neuer Vorschlag | 289

10.1

Inhalt | VII

10.2 10.3 10.4

Was leistet der neue Vorschlag? | 295 Zum Status dünner Teile ausgedehnter Gegenstände | 303 Die berechtigten Anliegen der vier Optionen | 310

Literaturverzeichnis | 315 Sachregister | 321 Personenregister | 327

Einleitung Bereits ein kurzes Nachdenken über Grenzen ausgedehnter Gegenstände wirft einige sehr schwierige Fragen auf, die im Laufe der Geschichte immer wieder Anlass zu philosophischen Spekulationen geboten haben. So beschäftigte sich beispielsweise Leonardo da Vinci angesichts einer Wasseroberfläche mit der Frage, woraus diese Grenze zwischen Wasser und Luft bestehe: Ist sie ein Teil des Wassers, ein Teil der Luft, oder ein eigenständiges Ding dazwischen?1 In „The Logic of Quantity“ betrachtet Charles Sanders Peirce einen schwarzen Tintenfleck auf einem weißen Blatt Papier und stellt die Frage, von welcher Farbe die Punkte auf der Grenzlinie zwischen dem Fleck und seiner Umgebung sind. Sind sie schwarz oder weiß, beides zusammen, oder keines von beiden?2 Ähnliche Fragen betreffen die äußeren Grenzen, also die Oberflächen von Festkörpern: Wie können zwei Körper miteinander in Kontakt stehen? Ist direkter Kontakt überhaupt möglich, wenn jeder der beiden Körper eine abschließende Oberfläche hat? Nehmen die beiden Oberflächen an der Kontaktstelle denselben Ort ein? Oder darf dort nur einer der beiden beteiligten Körper eine Oberfläche haben? Ein damit verwandtes Problem betrifft die Spaltung eines Körpers: Entstehen hier neue Grenzen? Kommt eine „innere“ Grenze ans Licht, die sich vor der Spaltung zwischen den Teilen des zusammenhängenden Körpers befunden hatte? Wird diese innere Grenze bei der Spaltung vernichtet und entstehen durch die Spaltung zwei neue äußere Grenzen, die die neuen Oberflächen der beiden voneinander getrennten Teile bilden? Bleibt einer der beiden resultierenden Teile ohne Oberfläche? Unter den zahlreichen Versuchen, befriedigende Antworten auf die angeführten Fragen zu den Grenzen ausgedehnter Gegenstände zu finden, ragen die Beiträge von Francisco Suárez und Bernard Bolzano aufgrund ihrer Wirkmächtigkeit für die spätere Diskussion in besonderer Weise heraus. Auch in der modernen analytischen Philosophie werden diese Fragen intensiv diskutiert. Hier sind vor allem Beiträge von Roderick Chisholm, Barry Smith, Achille Varzi und Dean Zimmerman zu nennen.

|| 1 Vgl. Leonardo da Vinci 1940, S. 12f. 2 Vgl. Peirce 1933, S. 98.

2 | Einleitung

In der vorliegenden Arbeit soll zunächst untersucht werden, ob die verschiedenen bisher vorgebrachten Vorschläge zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände zufriedenstellende Antworten auf die angesprochenen Fragen geben können. Dazu wird im ersten Teil der Arbeit ein allgemeiner systematischer Rahmen zur Verfügung gestellt, in den sich die existierenden Ansätze einordnen lassen. Als Ausgangspunkt wird eine semantische Untersuchung gewählt: Es geht im ersten Kapitel zunächst um eine möglichst allgemeine Bestimmung der Bedeutung des Ausdrucks „Grenze“ in der deutschen Sprache. Aus dem Ergebnis dieser Untersuchung werden sodann vier Grundintuitionen, die allgemein mit dem Phänomen „Grenze“ verbunden werden, extrahiert und weiter präzisiert. Im zweiten Kapitel wird eine Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände erarbeitet, die einerseits möglichst allgemein sein soll, aber dennoch präzise genug, um Ansatzpunkte zur Formulierung von Vorschlägen zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände zu bieten. Die gewonnene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände wird sodann mit unterschiedlichen Verständnissen des Begriffs „materieller Gegenstand“ verglichen und in Beziehung gesetzt. Dadurch soll einerseits weiter verdeutlicht werden, was in dieser Arbeit unter einem ausgedehnten Gegenstand im Allgemeinen verstanden werden soll, und andererseits der Begriff des materiellen Gegenstandes soweit geklärt werden, dass im Folgenden materielle Gegenstände als wichtiges Beispiel für ausgedehnte Gegenstände angeführt werden können. Auf diesen Grundlagen aufbauend wird im dritten Kapitel ein Gedanke ausgeführt, der den meisten der bisher vorgeschlagenen Theorien zu den Grenzen ausgedehnter Gegenstände zugrunde liegt: die Ansicht, Grenzen seien Teile der Gegenstände, deren Grenzen sie sind. Diese Ansicht führt sogleich auf das Problem der Zugehörigkeit der Grenze: Welchem von zwei aneinander grenzenden ausgedehnten Gegenständen gehört ihre gemeinsame Grenze als Teil an? Es stellt sich heraus, dass diese Frage im Wesentlichen auf vier verschiedene Weisen beantwortet werden kann. Die vier Lösungsoptionen für das Problem der Zugehörigkeit der Grenze bilden den systematischen Rahmen, in den die historisch und aktuell vertretenen Theorien eingeordnet werden sollen. Die beiden mit Abstand wirkmächtigsten historisch vertretenen Ansätze zur Ontologie der Grenzen sind Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit. Es handelt sich dabei um die Theorie der Grenzen physikalischer Körper, die Bernard Bolzano in seinen Paradoxien des Unendlichen dargelegt hat, und um die Ansichten über Punkte, Linien und Oberflächen, die Francisco Suárez in der Disputatio XL seiner Disputationes Metaphysicae entwickelt hat. Beide Texte sind für die moderne Debatte ungemein bedeutsam, da die darin entwickelten Ansichten als

Einleitung | 3

wichtige Inspirationsquellen für viele moderne Positionen dienen. Sie wurden jedoch in der systematischen Debatte bisher kaum genauer untersucht. Insbesondere wird der spezielle metaphysische Kontext, in dem diese Ansätze jeweils formuliert sind, meist nicht beachtet. Die Einbettung in ein im 19. bzw. im späten 16. Jahrhundert vertretenes metaphysisches und naturphilosophisches System macht die Texte für den heutigen Leser schwer zugänglich. Diese Einbettung bietet aber auch Vorteile: Es wird dadurch verständlich, wie sich eine Entscheidung beispielsweise für eine der vier Lösungsoptionen des Problems der Zugehörigkeit der Grenze im größeren Kontext auswirkt. Argumente aus anderen Bereichen, und hier vor allem aus der Naturphilosophie und Metaphysik, können bestimmte Lösungsoptionen als plausibler oder weniger plausibel erscheinen lassen. Vor allem aber wird anhand der metaphysischen und naturphilosophischen Einbettung der jeweiligen Theorien zu den Grenzen ausgedehnter Gegenstände klar, dass die im ersten Teil erarbeitete Systematik nicht „in der Luft hängt“, sondern sich auf tatsächlich vertretene Ansichten beziehen lässt und als nützliches Werkzeug zur Analyse und Bewertung weitergehender metaphysischer und naturphilosophischer Theorien dienlich ist. In den Kapiteln 4 und 5 werden die genannten beiden Texte in ihrem Kontext ausführlich dargestellt und in den im ersten Teil entwickelten systematischen Rahmen eingeordnet. Dabei wird besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie die Autoren jeweils mit den auftretenden Schwierigkeiten umgehen. Die so ermittelten Theorien zur Ontologie der Grenzen werden schließlich im Lichte der Ergebnisse des ersten Teils der Arbeit einer ausführlichen Kritik unterzogen. Im dritten Teil werden einige zentrale Beiträge der aktuellen Debatte über Grenzen ausgedehnter Gegenstände behandelt. Die Problematik wird in der modernen analytischen Ontologie spätestens seit den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts intensiv diskutiert. Dabei gibt es immer wieder auch Rückbezüge zu den im zweiten Teil vorgestellten Lösungsansätzen von Bernard Bolzano und Francisco Suárez, sowie auch zu Ideen von Franz Brentano, die dem Suárezianischen Ansatz nahestehen. Ein großer Teil der modernen Debatte wird mit den Mitteln der formalen Ontologie geführt und konzentriert sich um eine Gruppe von einander verwandter Theorien, die unter der Bezeichnung „Mereotopologie“ bekannt geworden sind. Kapitel 6 bietet zunächst einen kurzen Überblick über die vielfältigen in der modernen Debatte vertretenen Positionen. Auf eine Auswahl wichtiger mereotopologischer Ansätze wird dann in Kapitel 7 näher eingegangen. Dabei soll nicht nur klar werden, wie sich die verschiedenen Lösungsvorschläge aufeinander beziehen, sondern auch, wie sie sich in den im ersten Teil der Arbeit entwickelten systematischen Rahmen einordnen lassen und wie dabei jeweils

4 | Einleitung

versucht wird, die dort beschriebenen Probleme zu lösen. In Kapitel 8 werden schließlich zwei Ansätze vorgestellt, die sich ausdrücklich als Alternativen zur Mereotopologie verstehen. Im abschließenden vierten Teil der Arbeit geht es schließlich darum, die Lehren aus den angestellten Untersuchungen zu ziehen und für einen neuen Vorschlag zur Ontologie der Grenzen fruchtbar zu machen. Es stellt sich heraus, dass die im ersten Teil geprüfte Grundthese, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, nicht nur bestimmend ist für die beiden im zweiten Teil besprochenen historisch wirkmächtigen Theorien von Bernard Bolzano und Francisco Suárez, sondern auch den allergrößten Teil der im dritten Teil vorgestellten modernen Debatte zur Ontologie der Grenzen prägt. Die verschiedenen untersuchten Theorien lassen sich daher auch alle ohne Schwierigkeiten in den im ersten Teil der Arbeit entwickelten systematischen Rahmen einordnen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Variationen und Kombinationen der vier Lösungsoptionen zum Problem der Zugehörigkeit der Grenze. Es zeigt sich allerdings, dass diese vier Lösungsoptionen jeweils mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet sind, die sich auch durch weitere Ausarbeitung und durch Kombination der vier Optionen nicht vollständig überwinden lassen. Vielmehr erwecken einige Beiträge der modernen Debatte den Eindruck, dass sich bestimmte Ansichten nur durch erheblichen Aufwand und durch ad hoc vorgebrachte Zusatzüberlegungen noch halbwegs sinnvoll vertreten lassen. Einige Autoren haben vor den Problemen kapituliert und gestehen offen ein, dass alle bisherigen Ansätze unbefriedigend sind und die Ontologie der Grenzen problematisch bleibt.3 Andere sehen sich dazu veranlasst, zunehmend radikalere Lösungswege vorzuschlagen, bis hin zur Abschwächung des Nichtwiderspruchsprinzips und zur Anwendung einer parakonsistenten Logik.4 In Kapitel 9 soll noch einmal im Sinne eines Fazits aus den ersten drei Teilen der Arbeit gezielt aufgezeigt werden, in welcher Weise die Grundthese von den Grenzen als Teilen diese Schwierigkeiten verursacht. Anschließend wird in Kapitel 10 ein neuer Lösungsvorschlag vorgestellt, der zwar ebenfalls „radikal“ genannt werden kann, allerdings nicht in dem Sinne, dass dabei fest verankerte Grundüberzeugungen, die weit über das Gebiet der Ontologie der Grenzen hinaus Bedeutung haben, aufgegeben werden müssten. Der hier vorgestellte Vorschlag ist „radikal“ in dem Sinne, dass dabei gewissermaßen die Axt an die gemeinsame Wurzel der verschiedenen bisher vorgelegten Theorien gelegt wird, indem die allen diesen Theorien gemeinsame Grundthese, dass Grenzen Teile || 3 In diesem Sinne z. B. Hudson 2005, S. 86. 4 Vgl. Weber und Cotnoir 2015.

Einleitung | 5

ausgedehnter Gegenstände sind, negiert wird. Damit wird zugleich auch die Wurzel der diversen Schwierigkeiten, mit denen diese Theorien behaftet sind, beseitigt. Mit einer relationalen Konzeption von Grenzen soll eine neue grundlegende These zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände vorgeschlagen werden, womit, um im Bild zu bleiben, eine neue, gesunde Wurzel gepflanzt wird. Wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben vor allem Edmund Runggaldier und Winfried Löffler durch zahlreiche konstruktive Rückmeldungen sowie hilfreiche Kommentare und Empfehlungen während des Entstehungsprozesses. Ihnen sei an dieser Stelle ein besonderer Dank ausgesprochen. Für Hinweise und Anregungen zum Kapitel 4 über Bernard Bolzanos Theorie der Grenzen physikalischer Körper danke ich Winfried Löffler, Edgar Morscher und Benjamin Schnieder. Bei der Erschließung der Philosophie des Francisco Suárez hat mir Otto Muck mit einigen wertvollen Hinweisen und Übersetzungsvorschlägen sehr geholfen. Für die Korrektur der Übersetzungen aus dem Lateinischen in Kapitel 5 bin ich Barbara Hagemeister sehr zu Dank verpflichtet. Für ihr Interesse, ihre Unterstützung und für zahlreiche kritische Diskussionen danke ich insbesondere Christian Kanzian, Georg Gasser, Johannes Grössl, Daniel Saudek, Marco Benasso, Gerti Schrötter, Tina Röck, Robert Deinhammer und Dominikus Kraschl. Meiner Mutter, Gisela Kraus, danke ich für das Korrekturlesen des Textes und für ihre beständige Unterstützung und Ermutigung.

| Teil 1: Der systematische Rahmen

1 Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen Im Hinblick auf eine genauere Beschreibung des Phänomens „Grenze“ sollen zunächst einige Grundintuitionen herausgestellt werden. Um diese in den Blick zu bekommen, lohnt es sich, die Bedeutung des Wortes „Grenze“ in der deutschen Sprache zu betrachten. Im Deutschen Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm ist unter dem Stichwort „GRENZE“1 die folgende Hauptbedeutung angegeben: A. im eigentlichen sinne bezeichnet grenze die gedachte linie, die zur scheidung von gebieten der erdoberfläche dient; der sprachgebrauch vergröbert vielfach den begriff, indem er ihn überträgt auf die äuszeren merkmale, denen die grenze folgt, z. b. wälle, wasserläufe, gebirgszüge […] Grimm 1935, Sp. 127.

Die dafür genannten Beispiele beziehen sich auf privaten Landbesitz („vielleicht der ursprünglichste gebrauch des wortes“2), politische Gebilde („diese verwendung gewinnt allmählich die herrschaft“3), dabei insbesondere Länder und Staaten, sowie allgemein auf „locale bezirke jeder art“4 ohne Berücksichtigung des Eigentumsaspektes. Im übertragenen Sinn werden auch Grenzgebiete oder Gebiete schlechthin mit dem Wort „Grenze“ bezeichnet (diese Verwendung des Wortes „Grenze“ ist allerdings veraltet).5 Außerdem sei der Ausdruck „aus dem localen in jüngerer zeit ins temporale übertragen“6 worden und trete „auch sonst vielfach in der sphäre des abstracten, […] im Sinne von ‚grenzlinie‘“7 auf. Darüber hinaus gibt es noch eine Nebenbedeutung des Wortes „Grenze“, die so charakterisiert wird: B. während der begriff der grenze im ursprünglichen sinne auf der vorstellung eines raumes diesseits und jenseits der scheidelinie fuszt, entwickelt sich wesentlich erst seit dem 18. jh. ein gebrauch, der von dem raum jenseits der grenze mehr oder weniger absieht und das wort so den bedeutungen ‘schranke, abschlusz, ziel, ende‘ nähert; der echte begriff noch in KANTS

|| 1 Grimm 1935, Sp. 124 – 148. 2 Ebd., Sp. 127. 3 Ebd., Sp. 128. 4 Ebd., Sp. 130. 5 Vgl. ebd., Sp. 130ff. 6 Ebd., Sp. 132. 7 Ebd., Sp. 133.

10 | Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen

definition: grenzen (bei ausgedehnten wesen) setzen immer einen raum voraus, der auszerhalb einem gewissen bestimmten platze angetroffen wird und ihn einschlieszt […]; doch kennt die philosophische sprache auch die jüngere nüance: die äuszern enden der ausdehnung heiszen gränzen MENDELSSOHN […] zum festen begriff wird diese bedeutung in der mathematik, die unter grenze diejenige grösze versteht, der sich das verhältnis zweier gröszen unbeschränkt annähert (der bruch 1/3 ist z. b. die grenze, der sich das decimalverhältnis 0,3 um so mehr nähert, je unbeschränkter man es als 0,33, 0,333 u. s. w. fortsetzt).8 Grimm 1935, Sp. 134 f.

Die für das Wort „Grenze“ in der Nebenbedeutung angegebenen Verwendungsbeispiele sind zunächst hauptsächlich aus dem Bereich des Räumlichen genommen (sowohl im eigentlichen als auch im bildlichen und übertragenen Sinne).9 Dabei wird darauf hingewiesen, „dasz grenze in dem specialsinn als ‘ende eines ausgedehntenʼ (s. o. B) in der regel die endgrenze bezeichnet“10 und nur in seltenen Fällen für die Anfangsgrenze steht. „der begriff des endes“ werde aber „besonders fühlbar […] neben gewissen abstracten“11. Hier geht es um die Grenzen der Liebe, die Grenze der Tragfähigkeit, die Grenze des Möglichen, die Grenze des Denkbaren, usw. Besonders hervorzuheben sei dabei der Gebrauch des Wortes „Grenze“ in Bezug auf die „begrenztheit menschlicher kräfte, namentlich des erkenntnisvermögens“12. Zu den aus mehreren Worten zusammengesetzten Ausdrücken und Wendungen, in denen das Wort „Grenze“ vorkommt, wird folgendes festgestellt: C. die ungewöhnlich zahlreichen verbalen verbindungen, in denen grenze erscheint, zeigen ein starkes verflieszen der verschiedenen bedeutungen, selbst innerhalb derselben formel, und zwar besonders bei uneigentlichem gebrauch. Grimm 1935, Sp. 140. bei denjenigen wendungen, die von einem markieren der grenze sprechen, hat der uneigentliche gebrauch, der vielfach die bedeutung des subst. umgefärbt hat, den eigentlichen groszentheils ganz verdrängt. Grimm 1935, Sp. 140.

Zum einen sind also die jeweils innerhalb der Haupt- bzw. der Nebenbedeutung vorkommenden Bedeutungsnuancen nicht besonders stark voneinander abge-

|| 8 Die hierin enthalten Zitate stammen aus Kant 1903 (Prol AA 04), S. 352f und Mendelssohn 1844, S. 115. 9 Vgl. Grimm 1935, Sp. 135. 10 Ebd., Sp. 136. 11 Ebd. 12 Ebd.

Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen | 11

grenzt und fließen häufig ineinander. Zum anderen gibt es in der Sprachentwicklung auch einen fließenden Übergang von der Haupt- zur Nebenbedeutung, was darauf hindeutet, dass eine Grenze gemäß der Hauptbedeutung ohne größere Schwierigkeiten auch als Grenze gemäß der Nebenbedeutung interpretiert werden kann. Diese Bedeutungsverschiebung erfolgt insbesondere beim „Markieren der Grenze“. Zusammenfassend kann man festhalten, dass sich aus den zahlreichen im Deutschen Wörterbuch angeführten Verwendungsbeispielen des Wortes „Grenze“ im Wesentlichen zwei Bedeutungen ermitteln lassen: eine Hauptbedeutung und eine (historisch jüngere) Nebenbedeutung. Beide Bedeutungen beziehen sich vor allem auf Räumliches, kommen aber auch in Bezug auf Zeitliches und gewisse „Abstracta“ (v. a. Fähigkeiten und Eigenschaften) vor. Gemeinsames Element ist dabei, dass dasjenige, auf das sich das Wort „Grenze“ jeweils bezieht, in irgendeinem Sinn als ausgedehnt gelten kann.13 Die Hauptbedeutung von „Grenze“ ist: eine Linie, die zwei benachbarte Gebiete eines Raumes voneinander trennt.

bzw. allgemeiner: etwas, das zwei benachbarte ausgedehnte Dinge bzw. zwei Teile eines Ausgedehnten voneinander trennt.

Die Nebenbedeutung ist: ein äußerstes Ende, bzw. der Abschluss eines Ausgedehnten.

Auffallend an diesen verallgemeinerten Beschreibungen der beiden Wortbedeutungen ist zunächst, dass in der ersten Bedeutung außer der Grenze selbst zwei ausgedehnte Gegenstände genannt werden, nämlich die beiden Gebiete bzw. Teile, die die Grenze voneinander trennt, während in der zweiten eine Grenze nur mit einem ausgedehnten Gegenstand in Verbindung gebracht wird, nämlich mit dem, dessen Ende, Abschluss oder Ziel die Grenze ist. Um etwas zu Recht

|| 13 Bei den „aus der Sphäre des Abstrakten“ angegebenen Beispielen ist der Bezug zu irgendeiner Art von Ausdehnung oft nicht eindeutig erkennbar, ist aber in den meisten Fällen dennoch aufzeigbar. Im Beispiel von der „Grenze der Tragfähigkeit“ steht die „Tragfähigkeit“ etwa für eine Eigenschaft einer Brücke, die diese bei geringer Belastung unzweifelhaft besitzt, bei höherer Belastung immer noch besitzt, aber ab einer bestimmten Belastung dann nicht mehr besitzt. Das Beispiel ist also auf einen kontinuierlich ausgedehnten Bereich wachsender Belastung bezogen.

12 | Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen

eine Grenze nennen zu können, muss man offenbar entweder die Existenz von zwei ausgedehnten Gegenständen voraussetzen, die durch die Grenze voneinander getrennt werden, oder aber die Existenz von nur einem ausgedehnten Gegenstand, dessen Ende die Grenze ist. In beiden Fällen ist also eine Grenze eine abhängige Entität, sie ist von mindestens einem ausgedehnten Gegenstand abhängig in dem Sinne, dass ihre Existenz die Existenz dieses ausgedehnten Gegenstandes bzw. dieser ausgedehnten Gegenstände voraussetzt. Zur Hauptbedeutung von „Grenze“ ist zu ergänzen, dass eine Grenze, die zwei ausgedehnte Dinge bzw. zwei Teile eines ausgedehnten Dinges voneinander trennt, auch als dasjenige angesehen werden kann, das diese beiden Dinge bzw. Teile miteinander verbindet. Im Deutschen Wörterbuch sind zwar explizit keine eindeutigen Verwendungsbeispiele dafür angeführt,14 allerdings widerspricht offenbar auch eine Aussage wie „die beiden Staaten sind durch eine gemeinsame Grenze miteinander verbunden“ nicht unserem Sprachgebrauch. Der Aspekt der Verbindung zweier ausgedehnter Gegenstände ist in der oben angegebenen Charakterisierung der Hauptbedeutung von „Grenze“ in dem Ausdruck „benachbart“ enthalten: Eine Grenze trennt zwei benachbarte ausgedehnte Dinge. Um benachbart zu sein, müssen diese Dinge zumindest durch eine Nachbarschaftsrelation miteinander verbunden sein. Im räumlichen Fall besteht diese in einer direkten räumlichen Verbindung. Zur Nebenbedeutung ist noch zu bemerken, dass ein „Ende“ durch einen Wechsel der Blickrichtung auch als „Anfang“ angesehen werden kann. Es ist dann immer noch dasselbe Objekt gemeint, allerdings aus einer anderen Perspektive gesehen. Bei räumlich ausgedehnten Gegenständen ist dieser Wechsel der Blickrichtung leicht nachzuvollziehen. Bei Zeitintervallen ergibt sich dagegen aus der Gerichtetheit der Zeit eine eindeutige Zuordnung von „Anfang“ und „Ende“ zu den beiden Grenzen des Zeitintervalls. Hier würde dem Wechsel der Blickrichtung eine Umkehr der Zeitrichtung entsprechen. Lässt man diese zumindest gedanklich zu, dann wäre auch hier eine Deutung des „Endes“ als „Anfang“ möglich. Auch im Deutschen Wörterbuch wird die Möglichkeit, dass der Ausdruck „Grenze“ sowohl „Ende“ als auch „Anfang“ bedeuten kann, erwähnt, wenn es mit Blick auf die Nebenbedeutung heißt: es ist zu beachten, dasz grenze in dem specialsinn als ‚ende eines ausgedehnten‘ (s. o. B) in der regel die endgrenze bezeichnet; seltener für die anfangsgrenze. Grimm 1935, Sp. 136.

|| 14 Es lässt sich höchstens das Zitat „weiszt du mir wohl die grenze zu nennen, wo jede tugend mit dem verwandten laster zusammenflieszt? MEISZNER Alcibiades (1781) 1, 227“ (Grimm 1935, Bd. 9, Sp. 133) in diesem Sinne deuten.

Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen | 13

Man kann die beiden Bedeutungen von „Grenze“ sprachlich dann am klarsten voneinander unterscheiden, wenn sie mit Ausdrücken der Form „die Grenze zwischen A und B“ bzw. „die Grenze von A“ beschrieben werden. Stehen diese beiden Bedeutungen aber für gänzlich unterschiedliche Phänomene? Oder handelt es sich nur um zwei Betrachtungsweisen ein und desselben Phänomens? Die Tatsache, dass sich in vielen Wendungen eine Verschiebung von der Hauptbedeutung zur Nebenbedeutung feststellen lässt, kann man so deuten, dass es sich in vielen Fällen tatsächlich um zwei Betrachtungsweisen desselben Phänomens handelt. Wenn beispielsweise durch Setzen eines Grenzsteins zwischen zwei Grundstücken jedem der beiden Grundstücke jeweils „eine Grenze gesetzt“ wird, dann markiert der Grenzstein nicht bloß die trennende Grenze zwischen dem einen Grundstück und seinem Nachbargrundstück, sondern zugleich auch das Ende des einen sowie auch das Ende des anderen Grundstückes. Hier treffen also beide Beschreibungen dieselbe Sache, nur jeweils aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet. Die Grenze ist Ende und Trennung zugleich. Allgemein ist leicht einzusehen, dass eine trennende bzw. verbindende Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen A und B immer auch zugleich ein Ende von A und auch ein Ende von B ist. Eine Grenze, die zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander trennt bzw. miteinander verbindet, ist immer auch ein Ende eines der beiden Gegenstände. Eine Grenze gemäß der Hauptbedeutung ist immer auch eine Grenze gemäß der Nebenbedeutung des Wortes „Grenze“. Umgekehrt ist die Lage nicht so eindeutig. Wenn man in der Nebenbedeutung vom „Raum jenseits der Grenze absieht“, wie sich Grimm ausdrückt, dann heißt das, dass es diesen Raum jenseits der Grenze zumindest in einem gewissem Sinn gibt, denn sonst könnte man in der sprachlichen Bezugnahme auf die Grenze nicht von ihm absehen. Somit wäre es also möglich, die Grenze, an der ein ausgedehnter Gegenstand endet, als trennende Grenze zwischen diesem Gegenstand und dem ihn umgebenden Raum anzusehen. Insbesondere in den Fällen, bei denen es sich um in einen umgebenden Raum eingebettete ausgedehnte Gegenstände handelt, scheint dies unproblematisch zu sein. Das bei Grimm erwähnte Beispiel der Verwendung des Ausdrucks „Grenze“ in der Mathematik lässt sich jedoch nicht in dieser Weise deuten. Da die Zahlenfolge 0,3, 0,33, 0,333, usw. unendlich ist, liegt auch ihre Grenze sozusagen im Unendlichen: Nach einer endlichen Anzahl von Folgengliedern, so groß diese Anzahl auch sein mag, ist die Grenze immer noch nicht erreicht. Es kann daher

14 | Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen

auch nichts „jenseits der Grenze“ geben.15 Die Grenze ist in diesem Fall schlechthin ein Ende, und es ist nicht möglich, sie als trennende bzw. verbindende Grenze anzusehen. Es gibt dann nämlich nur einen Gegenstand (nämlich die Zahlenfolge) und sein „Grenze“ genanntes Ende, und keine zwei Gegenstände, die durch eine Grenze voneinander getrennt bzw. miteinander verbunden sein könnten. Dies könnte man so interpretieren, dass hier offenbar die beiden Bedeutungen von „Grenze“ auseinandertreten: Es gibt etwas, das sich u. U. noch im Sinne der Nebenbedeutung als „Grenze“ bezeichnen lässt, nicht aber im Sinne der Hauptbedeutung. Zu diskutieren wäre hier jedoch, inwiefern eine Zahlenfolge überhaupt ein ausgedehnter Gegenstand ist. Zahlenfolgen fallen jedenfalls nicht unter den Begriff des ausgedehnten Gegenstandes, wie er im folgenden Kapitel charakterisiert wird. Dies deutet darauf hin, dass im Fall der „Grenze“ einer Zahlenfolge tatsächlich eine weitere, sehr spezielle Bedeutung des Ausdrucks „Grenze“ vorliegt, die mit der gerade herausgearbeiteten Hauptund Nebenbedeutung nur noch wenig gemein hat. Eine ähnliche Problematik tritt auf, wenn sich die betrachtete Grenze nicht innerhalb eines Raumes befindet, sondern an dieser Grenze der Raum selbst endet. Die Frage, ob und in welchem Sinne es ein solches schlechthinniges Ende des Raumes, d. h. salopp gesprochen ein Ende „hinter dem nichts mehr kommt“, überhaupt geben kann, kann hier nicht abschließend geklärt werden. In die entsprechenden Überlegungen gehen jedenfalls viele Voraussetzungen insbesondere über das zugrundeliegende Raumverständnis ein. Es steht auch hier zu vermuten, dass die „Grenze des Raumes“ nicht mehr viel mit dem Alltagsverständnis von Grenzen zu tun hat. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass jede trennende Grenze stets auch eine beendende Grenze ist, und dass dies gewöhnlich auch umgekehrt gilt: Jede beendende Grenze ist auch eine trennende Grenze. Ausgehend von der Untersuchung der Bedeutung des deutschen Wortes „Grenze“ konnten somit bereits einige grobe Züge einer systematischen Beschreibung des Phänomens „Grenze“ skizziert werden. Zusammenfassend lassen sich diese vier allgemeinen Aussagen über Grenzen herauslesen:

|| 15 Die Tatsache, dass sich die Folge ihrem Grenzwert 1/3 nur von einer Seite aus annähert, ist hier unerheblich und lediglich in der speziellen Wahl des Beispiels begründet. Die Zahl 0,34 liegt in dem hier gemeinten Sinn jedenfalls nicht „jenseits der Grenze“. Deutlich wird das, wenn man die Folge -0,1, 0,01, -0,001, 0,0001, -0,00001, usw. betrachtet. Die Folge nähert sich hier im Gegensatz zum vorigen Beispiel von beiden Seiten ihrem Grenzwert 0 an. Auch hier gibt es nichts „jenseits der Grenze der Folge“. Der Ausdruck „jenseits der Grenze“ bezieht sich hier auf den Raum der Folgenglieder und nicht auf die Zahlengerade.

Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen | 15

Abhängigkeit: Eine Grenze ist stets von mindestens einem ausgedehnten Gegenstand abhängig. Trennung: Eine Grenze trennt zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander. Verbindung: Eine Grenze verbindet zwei ausgedehnte Gegenstände (bzw. zwei ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes) miteinander. Ende: Eine Grenze ist das Ende oder der Abschluss eines ausgedehnten Gegenstandes. Mit jeder dieser vier Aussagen wird jeweils eine grundlegende Intuition formuliert. Wie diese vier Grundintuitionen im Detail zu verstehen sind und ob sie einander widerstreiten oder problemlos miteinander vereinbar sind, ist ohne weitere Konkretisierung noch nicht klar. Erläuterungsbedürftig ist dabei zunächst und vor allem der Ausdruck „ausgedehnter Gegenstand“. Sodann muss näher erläutert werden, was mit „Abhängigkeit“, „Trennung“, „Verbindung“ und „Ende“ genau gemeint ist. Jeder Vorschlag zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände kann jedenfalls daran gemessen werden, wie gut er den genannten vier Grundintuitionen jeweils gerecht wird. Dabei gehen die beiden Aufgaben Präzisieren der Grundintuition und Überprüfen, ob der Vorschlag der Grundintuition gerecht wird faktisch Hand in Hand: Erst durch die Ausformulierung eines Vorschlages zur Ontologie der Grenze wird klar, wie die Grundintuitionen im Detail verwirklicht sein könnten, d. h. was z. B. der Fall sein muss, damit eine Grenze zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander trennt. Und erst wenn das klar ist, kann beurteilt werden, ob der Vorschlag der jeweiligen Grundintuition auch gerecht wird. Fällt das Urteil unbefriedigend aus, dann kann das Ergebnis der Untersuchung Hinweise darauf liefern, wie der Vorschlag abzuändern ist, damit er den Grundintuitionen besser gerecht wird. Erst wenn dieses Verfahren bei verschiedenartigen Vorschlägen keine befriedigenden Ergebnisse liefert, sollte man überlegen, eine oder mehrere der Grundintuitionen infrage zu stellen.16

|| 16 In diesem Sinne soll hier eher eine deskriptive als eine revisionäre Ontologie entwickelt werden. Vgl. dazu Runggaldier/Kanzian 1998, S. 43 und S. 51.

2 Ausgedehnte Gegenstände In unserer Alltagssprache werden viele und teilweise höchst unterschiedliche Gegenstände als „ausgedehnt“ bezeichnet. Ausgedehnte Gegenstände können räumlich (beispielsweise materielle Gegenstände unserer Alltagswelt wie Möbel) oder zeitlich (beispielsweise Lebensdauern bzw. Lebensgeschichten von Artefakten bzw. Lebewesen oder auch Ereignisse wie ein Fußballspiel) sein. In einigen Fällen kann man auch bei abstrakten Gegenständen davon sprechen, dass diese in gewisser Weise ausgedehnt sind (Beispiele sind hier vor allem die zusammenhängenden Punktmengen in der Topologie, man spricht aber auch von der Ausdehnung (bzw. „Breite“, „Extension“) eines Fachgebietes oder eines Begriffes). Zeitliche und abstrakte Gegenstände sind dabei mit einer je eigenen Problematik behaftet: Beispielsweise ist es abhängig davon, welche Ontologie der Zeit man vertritt, ob man überhaupt sinnvoll von zeitlich ausgedehnten Ereignissen sprechen kann. Auch bei abstrakten Gegenständen ist die Frage, in welchem Sinn diese als ausgedehnt gelten können, nicht einfach zu beantworten. Am klarsten scheint man bei räumlichen Gegenständen von einer Ausdehnung derselben sprechen zu können. Räumlich ausgedehnte Gegenstände sollen daher in dieser Arbeit als paradigmatisch gelten. Nichtsdestotrotz ist es ein Anliegen dieser Arbeit, die Überlegungen so allgemein wie möglich zu halten, so dass sie sich auch auf den zeitlichen wie den abstrakten Fall übertragen lassen sollten. Zur Formulierung der Fragestellung soll daher auch weniger das spezifisch räumliche als das allgemein ausgedehnte der Gegenstände betont werden. Es geht im Folgenden um eine Verständigung darüber, was ausgedehnte Gegenstände unterschiedlicher Arten zu ausgedehnten Gegenständen macht. Dazu wird eine Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände vorgeschlagen und gegen verschiedene Einwände verteidigt. Um das Konzept eines ausgedehnten Gegenstandes weiter zu verdeutlichen wird darüber hinaus geklärt, in welchem Verhältnis räumlich ausgedehnte Gegenstände zu materiellen Gegenständen stehen. Obwohl materielle, räumlich ausgedehnte Einzeldinge1 die Idee eines ausgedehnten Gegenstandes am klarsten verkörpern, ist das hier verfolgte Konzept des ausgedehnten Gegenstandes nicht auf diese beschränkt. Ausgedehnte Gegenstände im hier vertretenen Sinne sind nicht notwendigerweise Einzeldinge. Beispielsweise sollen im Folgenden auch der Raum selbst und

|| 1 Etwa die „particulars“ bei Peter Strawson (vgl. Runggaldier/Kanzian 1998, S. 46f).

Teile | 17

ausgedehnte Regionen des Raumes zu den ausgedehnten Gegenständen zählen. Außerdem sollen auch ausgedehnte Teile von materiellen Einzeldingen als ausgedehnte Gegenstände gelten.

2.1 Teile Zentrale Eigenschaft alles Ausgedehnten ist seine unendliche Teilbarkeit.2 In Abgrenzung zum Punkt, der dadurch definiert ist, dass er keine (echten) Teile hat,3 und der genau aus diesem Grund nicht ausgedehnt ist, hat jeder ausgedehnte Gegenstand echte Teile, in die er prinzipiell geteilt werden kann. Hier geht es nicht um eine real durchgeführte Teilung, sondern es ist bloß die Möglichkeit zur Teilung gemeint. Es reicht aus, die Teile4 gedanklich zu bestimmen bzw. theoretisch anzunehmen.5 Die Teile, die aus einer solchen Teilung resultieren, sind einander ähnlich. Sie können nicht völlig verschiedenartig sein (wie beispielsweise die „Teile“ eines Sachverhaltes, der als aus einem Träger und einer Eigenschaft bestehend angenommen werden kann). Die Teile dürfen einander nicht überlappen und müssen zusammen genommen wieder den ganzen Gegenstand ausmachen, d. h. sie bilden eine Partition des Gegenstandes.6 Zu jedem ausgedehnten Gegenstand gibt es mindestens eine Partition dieses Gegenstandes. Damit die Teilbarkeit des Ausgedehnten eine unendliche Teilbarkeit genannt werden kann, müssen sämtliche Teile, die aus einer (gedanklichen) Teilung resultieren, auch selbst wiederum teilbar sein, und auch die daraus resultierenden Teile müssen wiederum teilbar sein, und dies muss sich unendlich weit fortsetzen lassen. Auch hier geht es nur darum, dass eine weitere Teilung stets möglich bleibt, ohne dass diese auch tatsächlich durchgeführt werden

|| 2 Vgl. Euler 1926, S. 24: „Alles, was ausgedehnt ist, ist theilbar, und gehet zugleich die Theilbarkeit ohne Ende immer weiter fort“. 3 Vgl. Euklid: Die Elemente, Buch I, Definition 1. 4 Unter „Teil“ ist hier und im Folgenden, sofern nicht explizit anders gekennzeichnet, stets ein echter Teil zu verstehen. 5 Vgl. dazu z. B. Descartes 1965, S. 40: „Denn was in Gedanken geteilt werden kann, ist auch teilbar“, sowie Euler 1926, S. 24. 6 Vgl. Simons 1987, S. 327: „if w is any object, a division of it is any class of parts completely exhausting it […] while a partition is a disjoint division“. Die Teile in einer Partition müssen also paarweise disjunkt sein.

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muss.7 „Unendliche Teilbarkeit“ bedeutet auch nicht, dass es eine Art „unendlichen Teilungsprozess“ geben muss, der ein definitives Resultat im Sinne eines „Grenzwertes“ hätte. Es soll dadurch nicht mehr behauptet werden, als dass jeder endliche Teilungsprozess stets noch durch eine weitere Teilung fortgesetzt werden kann. Die aus der Teilung einer Teilung resultierenden Teile sind natürlich auch selbst wieder Teile des ausgedehnten Gegenstandes. Man denkt bei der unendlichen Teilbarkeit des Ausgedehnten also an zunehmend feinere (d. h. in der Anzahl der Teile ansteigende und ineinander „verschachtelte“) Partitionen, d. h. an Klassen von Teilen, die jeweils gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen und darüber hinaus disjunkt sind, d. h. sich nicht gegenseitig überlappen.

2.2 Zusammenhang Die Teile eines ausgedehnten Gegenstandes können nicht beliebig „verstreut“ sein. Sie liegen nicht einzeln und unverbunden vor. Es ist nicht allein die mereologische Summe der Teile, die den ausgedehnten Gegenstand ausmacht, sondern es muss noch eine Bedingung hinzukommen: Die Teile müssen miteinander zusammenhängen.8 Was ist aber damit genau gemeint? Zusammenhang ist zunächst einmal eine Relation zwischen zwei oder mehreren Gegenständen bzw. Teilen eines Gegenstandes. Diese Relation soll ausdrücken, dass die beteiligten Gegenstände bzw. Teile in irgendeiner Weise miteinander verbunden sind. Eine Verbindung zwischen zwei Teilen eines Gegenstandes kann direkt oder indirekt sein: Die Hand eines Menschen ist direkt mit seinem Arm verbunden, aber nur indirekt, nämlich vermittelt über den Arm, mit seinem Oberkörper. Direkte Verbundenheit ist zudem eine graduelle Angelegenheit: Sie kann mehr oder weniger eng sein. Besonders eng verbunden sind zwei Teile, wenn sie einander überlappen, d. h. wenn sie jeweils selbst wiederum (echte) Teile haben, von denen zumindest einer ein gemeinsamer Teil ist. In Bezug auf den Zusammenhangsbegriff können wir Folgendes festhalten:

|| 7 Vgl. Euler 1926, S. 24: „Allein hier ist nicht die Rede von dem, was wirklich bewerkstelligt werden kann, sondern von der blossen Möglichkeit, die Zertheilung noch immer weiter zu treiben.“ 8 Zur Frage, was allgemein „integral wholes“ von bloßen mereologischen Summen unterscheidet, vgl. Simons 1987, S. 292 und S. 324–360. Simons diskutiert dabei auch mehrere verschiedene Definitionen von Zusammenhang als derjenigen Eigenschaft, durch die sich räumliche Gegenstände, die „an einem Stück“ („all of a piece“) vorliegen, unterscheiden von solchen, die in zwei oder mehreren Stücken zerteilt sind. Vgl. ebd., S. 327f; vgl. auch ebd., S. 291.

Zusammenhang | 19

Eine Klasse von Teilen heißt zusammenhängend, wenn ihre Teile jeweils paarweise direkt oder indirekt miteinander verbunden sind, und zwar so, dass jeder der Teile mit mindestens einem anderen Teil direkt verbunden und mit allen übrigen Teilen zumindest indirekt verbunden ist.9 Zwei Teile x und y sind indirekt miteinander verbunden, wenn es eine Kette von Teilen gibt, deren erstes Glied x und deren letztes Glied y ist, und bei der jedes Glied mit seinem Nachfolger direkt verbunden ist. Um direkt miteinander verbunden zu sein, ist es für zwei Teile hinreichend, dass sie einander überlappen. Die Bedingung, dass die beiden Teile sich überlappen, d. h. einen gemeinsamen Teil haben, ist offenbar nicht notwendig für das Vorliegen einer direkten Verbindung zwischen ihnen. Zumindest gibt es eine starke Intuition, die besagt, dass eine direkte Verbindung auch ohne Überlappung möglich sein sollte. Wieso sollten beispielsweise die zwei Hälften eines (unzerschnittenen) Apfels einander überlappen? Widerspricht eine Überlappung der beiden Hälften nicht bereits der Definition des Begriffs „Hälfte“? Dass es disjunkte, aber dennoch miteinander direkt verbundene Teile geben kann, ist jedenfalls Voraussetzung dafür, dass die Teile, die eine Partition eines ausgedehnten Gegenstandes bilden, miteinander zusammenhängen. Es ist keine einfache Aufgabe, eine notwendige Bedingung für die direkte Verbindung zweier Teile anzugeben. Die Frage nach der richtigen Bedingung für die direkte Verbindung zweier Teile eines ausgedehnten Gegenstandes wird sich als zentral für das Thema dieser Arbeit erweisen. Für den Moment soll dazu lediglich festgehalten werden, dass es für eine direkte Verbindung zweier Teile eines ausgedehnten Gegenstandes in jedem Fall ausreicht, dass diese wiederum einen gemeinsamen Teil haben, dass aber darüber hinaus eine direkte Verbindung auch ohne das Vorliegen eines gemeinsamen Teiles möglich ist. Auch die Frage nach dem Kontakt zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen spielt eine zentrale Rolle in dieser Arbeit. Bei einem Kontakt zweier ausgedehnter Gegenstände liegt ebenfalls eine direkte Verbindung vor. Es hindert daher zunächst nichts daran, die beiden in Kontakt stehenden ausgedehnten Gegenstände als einen einzigen ausgedehnten Gegenstand anzusehen, dessen Teile die beiden ursprünglichen Gegenstände sind. In der Tat soll es mit der hier vorgeschlagenen Charakterisierung möglich sein, sowohl die Teile eines ausgedehnten Gegenstandes für sich genommen als auch die Summe zweier in direk-

|| 9 Vgl. dazu Chisholm 1992/93: „The constituents that exist within a continuous body are such that each is in indirect contact with all the others and each in direct contact with some of the others.“

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tem Kontakt stehender ausgedehnter Gegenstände selbst jeweils wiederum als ausgedehnten Gegenstand ansehen zu können. Dennoch ist die Frage nach einer Bedingung für die direkte Verbindung zweier Teile eines ausgedehnten Gegenstandes zu unterscheiden von der Frage nach einer Bedingung für den Kontakt zwischen zwei verschiedenen ausgedehnten Gegenständen. Im Alltag möchten wir jedenfalls unterscheiden können zwischen dem Fall zweier benachbarter ausgedehnter Teile eines ausgedehnten Einzeldinges und dem Fall zweier ausgedehnter Einzeldinge, die einander berühren. Dass eine direkte Verbindung zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen vorliegt, kann nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür sein, dass diese beiden Gegenstände Teile desselben Dinges sind. Es können sich nämlich zwei verschiedene Dinge auch bloß kurzzeitig berühren, ohne dass sie bereits deshalb auch schon für die Dauer des Kontaktes gemeinsam ein neues Ding bilden. Diese Überlegungen legen es nahe, verschieden enge direkte Verbindungen zwischen ausgedehnten Gegenständen anzunehmen.10 Zwei benachbarte Teile eines Dinges stehen in engerer Verbindung zueinander als zwei einander berührende Dinge. Ganz gleich, wie genau man hier den Unterschied letztlich bestimmt, bleibt festzuhalten, dass sich die vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände in jedem Fall mit verschieden engen Zusammenhangsrelationen verträgt. Es soll hier nicht weiter auf die Ontologie der Einzeldinge eingegangen werden. Ausgedehnte Einzeldinge werden im Folgenden vornehmlich unter der Rücksicht betrachtet, dass sie ausgedehnte Gegenstände sind, und nicht unter der Rücksicht, dass sie Einzeldinge sind. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollten somit auch mit einer großen Bandbreite von konkret ausformulierten Vorschlägen zur Ontologie materieller Einzeldinge verträglich sein.

2.3 Eine Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände Ein ausgedehnter Gegenstand kann also zumindest gedanklich in echte Teile geteilt werden, die miteinander zusammenhängen, und die selbst wiederum miteinander zusammenhängende echte Teile haben. Dieser gedankliche Teilungsprozess lässt sich unendlich fortsetzen. Damit ein solcher unendlicher Teilungsprozess möglich ist, müssen die auf jeder Stufe resultierenden Teile jeweils wieder dieselbe Struktur haben wie der gesamte Gegenstand. Die Teile

|| 10 Vgl. dazu Runggaldier/Kanzian 1998, S. 139f.

Eine Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände | 21

müssen daher selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sein.11 Als Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände kann also festgehalten werden: Ein ausgedehnter Gegenstand hat paarweise disjunkte, gleichartige echte Teile, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen, die miteinander zusammenhängen, und die selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind.

Diese Charakterisierung soll nun näher erläutert und gegen Einwände verteidigt werden. a) Die hier vorgelegte Charakterisierung könnte man als Explikationsversuch des Ausdrucks „ausgedehnter Gegenstand” verstehen. Behauptet wird demnach, dass ein „ausgedehnter Gegenstand“ etwas ist, das paarweise disjunkte, gleichartige echte Teile hat, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen, die miteinander zusammenhängen, und die selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind. Dabei fällt auf, dass die Charakterisierung eine gewisse Zirkularität aufweist: Ausgedehnte Gegenstände werden u. a. dadurch charakterisiert, dass sie Teile haben, die selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind. Brauchbare Explikationen müssen sich aber berechtigterweise der Forderung nach nicht-Zirkularität stellen.12 Ist die Zirkularität also ein Mangel der hier vorgeschlagenen Charakterisierung? Hierzu ist zunächst einmal zu sagen, dass die Explikation trotz ihrer Zirkularität alles andere als uninformativ ist. Man erfährt, dass ein ausgedehnter Gegenstand paarweise disjunkte, gleichartige echte Teile hat, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen und die miteinander zusammenhängen. Die zirkuläre Bestimmung, dass diese Teile selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind, wurde darüber hinaus eingeführt, um die unendliche Teilbarkeit eines ausgedehnten Gegenstandes auf elegante Weise auszudrücken. Somit liefert auch sie einen informativen Beitrag. Die Zirkularität wirkt sich allerdings noch in einer anderen Weise aus: Sie verhindert, dass man mithilfe der vorgeschlagenen Charakterisierung bezüglich eines vorliegenden Gegenstandes in einem Verfahren von endlich vielen Schritten entscheiden kann, ob dieser ein ausgedehnter Gegenstand ist. Erwartet man

|| 11 Eine ähnliche Aussage trifft auch Dean Zimmerman, wenn er als eine grundlegende Bedingung für jede adäquate Metaphysik ausgedehnter Objekte festhält: „Every extended object has a left and a right half which are discrete and are themselves extended objects.“ (Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 8). Dass die Teile miteinander zusammenhängen kann daraus erschlossen werden, dass Zimmerman sie als „rechte“ und „linke Hälfte“ des Gegenstandes bezeichnet. 12 Vgl. Löffler 2008, S. 14.

22 | Ausgedehnte Gegenstände

von einer brauchbaren Explikation, dass sich ein solches „Testverfahren“ angeben lässt, dann wird die vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände dieser Erwartung nicht gerecht. Die Charakterisierung enthält somit zwar durchaus (einzeln notwendige und gemeinsam hinreichende) Bedingungen dafür, was der Fall sein muss, damit etwas ein ausgedehnter Gegenstand ist, sie liefert allerdings kein praktisch brauchbares Kriterium, um dies von einem gegebenen Gegenstand zweifelsfrei festzustellen. Für die Zwecke dieser Arbeit ist das Fehlen eines solchen Kriteriums jedoch nicht weiter relevant, da es hier nicht darum gehen soll, ausgedehnte Gegenstände als solche zu identifizieren und deren Existenz zu belegen, sondern darum, die Eigenschaften von als gegeben angenommenen ausgedehnten Gegenständen zu untersuchen. b) Die vorgeschlagene Charakterisierung behauptet die Existenz von Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes, die dann näher bestimmt werden, u. a. als ausgedehnte Teile. Es fragt sich nun, ob alle Teile eines ausgedehnten Gegenstandes selbst wiederum ausgedehnt sind, oder ob ein ausgedehnter Gegenstand zusätzlich zu seinen ausgedehnten Teilen auch nicht-ausgedehnte, einfache Teile haben kann. Hierzu gibt es verschiedene Auffassungen. Zum einen kann man der Meinung sein, dass jeder Teil eines ausgedehnten Gegenstandes selbst ausgedehnt ist und auch selbst wieder ausgedehnte Teile hat. Es gibt also keine „Atome“, keine einfachen, unteilbaren Bestandteile ausgedehnter Gegenstände. Für eine derartige mereologische Struktur hat David Lewis den Ausdruck „atomless gunk“ geprägt.13 Alternativ dazu kann die Meinung vertreten werden, dass es zusätzlich auch Teile ausgedehnter Gegenstände gibt, die selbst nicht mehr ausgedehnt sind und keine weiteren Teile mehr haben.14 Diese Ansicht kann man weiter radikalisieren und behaupten, dass alle ausgedehnten Gegenstände letztlich nur aus solchen „Atomen“ bestehen.15 Bei der Argumenta|| 13 „atomless gunk: an individual whose parts all have further proper parts“ (Lewis 1991, S. 20). Vgl. auch Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 150f. Die Meinung, dass alles Ausgedehnte diese Struktur hat, ist auch von René Descartes (vgl. Descartes 1965, S. 40) und Leonhard Euler vertreten worden: „Ungeachtet ferner ein Körper wegen seiner Theilbarkeit als ein zusammengesetztes Ding anzusehen ist, so ist derselbe doch keineswegs aus einfachen Dingen zusammengesetzt; denn wenn er aus einfachen Dingen zusammengesetzt wäre, so wäre er nicht unendlich theilbar und also nicht ausgedehnt.“ (Euler 1926, S. 26). Zimmerman argumentiert dafür, dass ausgedehnte Gegenstände zumindest teilweise aus „atomless gunk“ bestehen (vgl. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 8). 14 Eine solche Auffassung ist von Francisco Suárez (vgl. Abschnitt 5.4) und in moderner Zeit im Anschluss an Franz Brentano von Roderick Chisholm vertreten worden (vgl. Chisholm 1992/93, S. 12: „spatial objects have points, lines and surfaces as constituents“). 15 Diese Ansicht ist diejenige Bernard Bolzanos sowie vieler moderner Vertreter der analytischen Ontologie (vgl. Kapitel 6 und 7).

Eine Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände | 23

tion für oder gegen eine dieser drei Ansichten16 ist darauf zu achten, dass man die Rede von der unendlichen Teilbarkeit der Gegenstände nicht in unzulässiger Weise mit der Vorstellung der Zusammensetzung der Gegenstände aus Teilen vermengt. Aus der unendlichen Teilbarkeit ausgedehnter Gegenstände folgt nur, dass diese ausgedehnte Teile haben. Ob sie aber letztlich nur aus ausgedehnten Teilen bestehen, ist damit noch überhaupt nicht entschieden. Man kann zwar durch fortgesetzte Teilung niemals auf nicht-ausgedehnte Teile kommen, allerdings heißt das nicht, dass es solche einfachen Teile, als Bestandteile verstanden, nicht doch geben kann. Hier wird der Ausdruck „Teil“ mehrdeutig verwendet: einmal als Produkt eines Teilungsprozesses und einmal als konstituierendes Element eines komplexen Gegenstandes.17 Auf die Frage nach den Produkten einer (gedachten) Teilung eines ausgedehnten Gegenstandes könnte unter Umständen eine andere Antwort angemessen sein als auf die Frage nach den konstituierenden Elementen eines ausgedehnten Gegenstandes. Genauer betrachtet sind die Produkte eines (gedachten) Teilungsprozesses stets auch Konstituenten des Gegenstandes, aber es ist unklar, ob alle seine Konstituenten auch Produkte eines Teilungsprozesses sind. Mit der oben angegebenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände sind jedenfalls alle drei genannten Auffassungen über die mereologische Struktur dieser Gegenstände vereinbar.18 c) Peter Simons hat für räumlich ausgedehnte, materielle Gegenstände auch noch eine vierte Option vorgeschlagen: Seiner Ansicht nach gibt es zwar letzte, unteilbare Bestandteile ausgedehnter Gegenstände, diese sind aber selbst auch noch ausgedehnt.19 Nimmt man die Existenz solcher „extended simples“ an, dann ist die Ausdehnung eines ausgedehnten Gegenstandes nicht mehr an die || 16 Dean Zimmerman nennt die geschilderten drei Auffassungen über ausgedehnte Gegenstände „anti-indivisibilism“, „moderate indivisibilism“ und „indivisibilism“, je nachdem, ob und wenn ja ob ausschließlich unteilbare Grundbestandteile angenommen werden. Alle drei Meinungen wurden seit dem Mittelalter vertreten. Vgl. Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 149. 17 In dieser Weise ist wohl auch die Chisholmsche Unterscheidung zwischen „Teilen“ und „Konstituenten“ zu verstehen (vgl Chisholm 1983, S. 88). 18 Nimmt man Atome als Bestandteile ausgedehnter Gegenstände an, dann müssen diese so in den ausgedehnten Teilen dieser Gegenstände enthalten sein, dass ein solcher Gegenstand allein durch eine Klasse von geeigneten ausgedehnten Teilen „vollständig ausgeschöpft“ wird. Die Atome füllen also keine „Lücken“, die von den ausgedehnten Teilen noch frei gelassen wurden. Würden sie „Lücken“ auffüllen, dann könnte es keine Division eines ausgedehnten Gegenstandes in ausgedehnte Teile geben und die angegebene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände wäre somit falsch. 19 Vgl. Simons 2004.

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Existenz von echten Teilen dieses Gegenstandes gekoppelt: Ein Gegenstand kann ausgedehnt sein, ohne echte Teile zu haben. Ist dies nun ein gravierender Einwand gegen die oben vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände? Ist die Charakterisierung „zu eng“? Die Annahme von extended simples zieht einige ungewöhnliche, wenn nicht bizarre Konsequenzen nach sich.20 Aber auch dann, wenn man diese Konsequenzen als unproblematisch einschätzt, bleibt die Frage zu beantworten, worin eigentlich die Ausdehnung eines extended simple besteht. Erstaunlich an Simons‘ Vorschlag ist, dass er für diesen zwar die Bezeichnung „Extended Simples Principle (ESP)“21 einführt, dass er dann aber bei der Explikation dieses Prinzips nicht mehr den Ausdruck „extended simples“ benutzt, sondern stets von „physically basic simples“ spricht und die Qualifizierung „extended“ vermeidet. Die simples sollen nämlich nicht in dem Sinne ausgedehnt sein, dass sie sich über eine Raumregion erstrecken („to be extended over a region“)22, sondern in dem Sinne, dass sie eine ausgedehnte Raumregion (in holistischer Weise) einnehmen („to occupy an extended region“).23 Extended simples sind also nur insofern ausgedehnt als die Raumregion, die sie einnehmen, ausgedehnt ist. Worin besteht nun aber die Ausdehnung einer ausgedehnten Region des Raumes? Die meisten Theorien des Raumes stimmen jedenfalls darin überein, dass eine ausgedehnte Region miteinander zusammenhängende, echte Teile hat, und zwar unabhängig davon, ob man einen diskreten oder einen kontinuierlichen Raum annimmt.24 Dann kann man aber auch einem extended simple in gewisser Weise Teile zuordnen: nämlich die Teile der Raumregion, die es einnimmt. Ein extended simple gilt also nur deshalb als ausgedehnt, weil es untrennbar mit einem aus Teilen bestehenden Ganzen verbunden ist. Betrachtet man ein extended simple losgelöst von der Raumregion, die es einnimmt, dann fällt jeder Grund weg, es als „ausgedehnt“ zu bezeichnen. Vielmehr kann es dann nur noch mit einem Punkt identifiziert werden, da es selbst keine Teile hat und auch in keiner Weise mehr mit einem aus zusammenhängenden Teilen

|| 20 Vgl. Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 154; sowie Simons 2004, S. 376f. 21 Simons 2004, S. 376. 22 „It is […] wrong to think of P as being really smoothly spread out over R in the way that a rug is spread out over a floor. The idea of being extended over a region is precisely that of having different parts covering different subregions. It is [… this] view, which is just what is being denied.“ (Simons 2004, S. 377). 23 „Every physically basic item (simple) occupies at any time an extended region“ (Simons 2004, S. 376); „We have to think of P’s occupation of R as a holistic fact“ (S. 377). 24 Vgl. Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 152f.

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bestehenden Ganzen verbunden ist. Ausdehnung hat also auch bei extended simples mit der Existenz von Teilen zu tun. Wenn auch ein extended simple selbst keine Teile hat, dann hat doch wenigstens die Raumregion, die es einnimmt, Teile. Somit ist auch die Annahme von extended simples kein ausreichendes Argument dafür, von der oben vorgeschlagenen Charakterisierung von ausgedehnten Gegenständen wesentlich abzuweichen. Extended simples sind nur in einem abgeleiteten Sinne ausgedehnte Gegenstände: Ihre Ausdehnung beruht auf der Ausdehnung der Raumregion, die sie einnehmen. Und eine ausgedehnte Raumregion besteht aus miteinander zusammenhängenden Teilen. d) Ein weiterer Einwand gegen die vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände besteht darin, dass diese die „Doctrine of Arbitrary Undetached Parts (DAUP)“ voraussetze, welche umstritten ist und von einigen Philosophen abgelehnt wird. Peter van Inwagen hat die DAUP, bezogen auf räumlich ausgedehnte, materielle Gegenstände, so formuliert: For every material object M, if R is the region of space occupied by M at time t, and if sub-R is any occupiable sub-region of R whatever, there exists a material object that occupies the region sub-R at t.25 Van Inwagen 1997, S. 191.

Eine andere, davon etwas abweichende Formulierung der DAUP findet sich bei Peter Simons: „Proper parts of material objects […] exist even while still attached to (i.e. undetached from) their wholes.“26 Die DAUP wird von van Inwagen abgelehnt. Ihm geht es dabei vor allem um die Beliebigkeit und die Konkretheit bzw. Materialität der Teile. Er lehnt es beispielsweise ab, dass die nördliche Hälfte des Eiffelturms in demselben Sinne ein konkreter materieller Gegenstand ist wie es auch der ganze Eiffelturm ist.27 Van Inwagens Position ist jedoch vielfach als kontraintuitiv und zu radikal kritisiert worden.28 In der Formulierung von Simons ist die DAUP tatsächlich Voraussetzung für die vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände. Für Simons stellt dies jedoch kein Problem dar, dann er lehnt, im Gegensatz zu van Inwagen, die DAUP nicht ab.29 In der von van Inwagen gewählten Formulierung

|| 25 Van Inwagen 1997, S. 191. 26 Simons 1987, S. 119. 27 Vgl. van Inwagen 1997, S. 192. 28 So z. B. Simons: „Van Inwagen’s position seems not only to fly in the face of common sense (which he recognizes), but to be unnecessarily radical“. (Simons 1987, S. 121). 29 Vgl. Simons 1987, S. 121.

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hängt es dagegen davon ab, was unter „material object“ genau verstanden wird, ob die DAUP relevant für die vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände ist. Ähnlich wie bei den oben angesprochenen extended simples nehmen auch die material objects bei van Inwagen eine ausgedehnte Raumregion ein. Und diese Raumregion hat selbstverständlich echte Teile („subregions“), wie auch van Inwagen zugesteht. Was er ablehnt ist die These, dass es für beliebige Teile dieser Raumregion auch Teile des materiellen Gegenstandes gibt, die diese Teilregionen besetzen und die auch selbst wieder materielle Gegenstände sind. Für von Inwagen sind materielle Dinge entweder einfache Atome oder komplexe Zusammensetzungen dieser einfachen Atome, deren gemeinsame Aktivitäten ein „Leben“ konstituieren.30 Er versteht daher auch unter einem „Teil eines materiellen Gegenstandes“ etwas anderes als einfach eine beliebige von Materie erfüllte Teilregion derjenigen Region, die der materielle Gegenstand einnimmt: Ein Teil eines materiellen Gegenstandes muss zusätzlich noch eine natürlich abgegrenzte, „organische Einheit“ sein. Diese Art von Teilen ist jedoch in der hier vorgeschlagenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände nicht gemeint.31 Teile ausgedehnter Gegenstände im hier vertretenen Sinne haben im Wesentlichen keine anderen Eigenschaften als die Teile von Raumregionen. Insbesondere gibt es, abgesehen vom gegenseitigen Zusammenhang, kein weiteres integrierendes Prinzip, das die Teile erst zu einem Ganzen macht. Als sub-regions kennt auch van Inwagen eine solche Art von Teilen. Und für diese gilt offenbar auch bei ihm ein zur DAUP äquivalentes Prinzip: Raumregionen haben beliebige echte Teile, und diese existieren auch ohne dass sie von der Gesamtregion „abgetrennt“ vorliegen. Van Inwagen kann die DAUP für materielle Gegenstände überhaupt erst formulieren, weil es beliebige, nicht-abgetrennte Teile von Raumregionen gibt. Er müsste also eigentlich zugeben, dass es diese Art von Teilen auch für materielle Gegenstände gibt, einfach deshalb, weil diese Gegenstände ausgedehnte Raumregionen einnehmen. Es bleibt ihm allerdings unbenommen, den Begriff „Teil eines materiellen Gegenstandes“ anders zu definieren und strengere Existenzbedingungen für die so definierten Teile zu fordern. Dann behandelt er allerdings auch ein anderes Thema, und seine Ausführungen sind kein Einwand gegen die hier vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände.

|| 30 Vgl. van Inwagen 1990, S. 82. 31 Vgl. dazu auch Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 8: „However I cannot but think that such objectors are using the word ‘part’ in a special sense to mean something like ‘organically unified part’ or ‘naturally demarcated part’.“

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e) In vielen Kontexten werden nur räumlich dreidimensional ausgedehnte Gegenstände als „ausgedehnt“ bezeichnet. Zwei- und eindimensional ausgedehnte Gegenstände gelten dann im Vergleich zu diesen als „nicht ausgedehnt“, obwohl auch sie aus miteinander zusammenhängenden ausgedehnten Teilen bestehen. Spricht dies nun gegen die vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände? Ist die Charakterisierung „zu weit“? Hier handelt es sich um einen verkürzenden Sprachgebrauch, bei dem eine bestimmte Art von räumlicher Ausdehnung bevorzugt wird: Unter „Ausdehnung“ wird ausschließlich räumlich dreidimensionale Ausdehnung verstanden. Eine solche begriffliche Festsetzung ist natürlich immer möglich, und in einigen Kontexten auch angemessen. In diesen Fällen ist dann die Charakterisierung um die Forderung nach Dreidimensionalität zu ergänzen, damit sie als nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung für ausgedehnte Gegenstände gelten kann. Es treten allerdings auch Kontexte auf, in denen man beispielsweise nicht nur Körper, sondern auch Flächen und Linien als „ausgedehnt“ bezeichnen können möchte. Hier sollte dann wieder auf die ursprüngliche Charakterisierung zurückgegriffen werden. Allgemein gilt: Jeder ausgedehnte Gegenstand von Dimension n hat miteinander zusammenhängende ausgedehnte Teile von Dimension n. Die Charakterisierung ist also so zu interpretieren, dass die Ausdehnung der darin erwähnten Teile von derselben Dimension ist wie die des ganzen Gegenstandes. Es ist jedoch nicht von vornherein klar, ob ein n-dimensional ausgedehnter Gegenstand darüber hinaus auch noch ausgedehnte Teile von niedrigerer Dimension (n-1 oder niedriger) hat. Angewandt auf das Beispiel eines dreidimensionalen Körpers stellt sich die Frage, ob ein solcher Körper ausschließlich dreidimensionale Teile hat oder darüber hinaus auch noch Flächen, Linien und Punkte als Teile hat.32 Die Existenz solcher niedrigdimensionaler Teile wird in der oben vorgeschlagenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände nicht gefordert, aber auch nicht ausgeschlossen. Wichtig ist jedenfalls, wie bereits gesagt, dass die in der Charakterisierung erwähnten ausgedehnten Teile dieselbe Dimension haben wie der gesamte Gegenstand, dessen Teile sie sind.

2.4 Materielle Gegenstände Besonders naheliegende Beispiele für ausgedehnte Gegenstände sind die vielen verschiedenen materiellen Gegenstände unserer Alltagswelt. Dagegen fällt es

|| 32 Mit dieser Frage hat sich explizit Francisco Suárez beschäftigt. Siehe dazu Abschnitt 5.4.

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nicht ganz so leicht, auf Anhieb überzeugende Beispiele für ausgedehnte Gegenstände anzugeben, die nicht materiell sind. Man könnte also vermuten, dass räumlich dreidimensionale Ausdehnung und Materialität in irgendeiner Weise zusammenhängen. In Bezug auf das wechselseitige Verhältnis von räumlich dreidimensional ausgedehnten und materiellen Gegenständen sind im Wesentlichen vier verschiedene Ansichten möglich. Erstens kann man räumlich dreidimensionale Ausdehnung und Materialität einander gleichsetzen: Alle materiellen Gegenstände sind dreidimensional ausgedehnt, und alle dreidimensional ausgedehnten Gegenstände sind materiell. Wesentliches Kennzeichen materieller Gegenstände ist dann deren dreidimensionale Ausdehnung.33 Bemerkenswert ist, dass es gemäß dieser Ansicht keinen „leeren Raum“ geben kann, da jede Raumregion dreidimensional ausgedehnt ist und somit materiell sein muss.34 Nimmt man einen unendlichen Weltraum an, dann ist dieser ein unbegrenzter und unendlich weit ausgedehnter materieller Gegenstand. Einer zweiten Ansicht zufolge sind materielle Gegenstände zwar stets räumlich dreidimensional ausgedehnt, es sind aber auch dreidimensional ausgedehnte Gegenstände, die nicht materiell sind, sowie ein dreidimensional ausgedehnter „leerer Raum“ denkbar.35 Wesentliches Kennzeichen für die Materialität eines Gegenstandes ist gemäß dieser Ansicht nicht dessen dreidimensionale Ausdehnung allein, sondern auch noch eine andere Eigenschaft, die zur Aus-

|| 33 Nach René Descartes ist etwas genau dann ein materieller Gegenstand wenn es räumlich dreidimensional ausgedehnt ist. Vgl. Descartes 1965, S. 32: „Wir […] erkennen, daß die Natur der Materie oder des Körpers überhaupt nicht in Härte, Gewicht, Farbe oder einer anderen sinnlichen Eigenschaft besteht, sondern nur in seiner Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe.“ 34 Vgl. Descartes 1965, S. 38: „Denn da man schon aus der Ausdehnung des Körpers nach Länge, Breite und Tiefe richtig folgert, daß er eine Substanz ist, weil es widersprechend ist, daß das Nichts eine Ausdehnung habe, so muß dasselbe auch von dem Raume gelten, der als leer angenommen wird, nämlich daß, da eine Ausdehnung in ihm ist, notwendig auch eine Substanz in ihm sein muß.“ 35 Ein bekannter Vertreter dieser Ansicht ist Leonhard Euler. Vgl. Euler 1926, S. 22: „Die erste allgemeine Eigenschaft der Körper besteht in der Ausdehnung, dergestalt, dass alles, was keine Ausdehnung hat, auch für keinen Körper gehalten werden kann. […] CARTESIUS ist auch so weit gegangen, dass er das Wesen der Körper in der Ausdehnung gesetzt; wir werden aber weiter unten sehen, dass dieses keineswegs mit Recht geschehen kann; denn obgleich alle Körper ohne Zweifel ausgedehnt sind, so folget nicht, dass alle Dinge, welche ausgedehnt sind, sogleich zu Körpern werden. Ein leerer Raum mag möglich sein oder nicht, so ist doch gewiss, dass der Begriff eines leeren Raumes, welcher unstreitig möglich ist, von dem Begriff der Körper abgesondert werden muss; woraus erhellet, dass unser Begriff von den Körpern noch etwas mehreres als die Ausdehnung allein in sich schliesse.“

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dehnung hinzukommt. Häufig wird hier die Undurchdringlichkeit der Materie angeführt. Damit ist gemeint, dass keine zwei materiellen Gegenstände sich gegenseitig vollständig überlagern, d. h. denselben Ort einnehmen können, und dass auch kein Teil des einen von einem Teil des anderen überlagert werden kann.36 Vertreter eines empiristischen Ansatzes verlangen zusätzlich zur dreidimensionalen Ausdehnung und zur Undurchdringlichkeit noch Wahrnehmbarkeit bzw. Beobachtbarkeit als unterscheidendes Kennzeichen materieller Gegenstände.37 In allen Varianten dieser Ansicht wird jedenfalls betont, dass alle materiellen Gegenstände notwendigerweise dreidimensional ausgedehnt sind, aber dass nicht alles, was dreidimensional ausgedehnt ist, deshalb auch schon materiell ist. Als dritte Ansicht ist die umgekehrte Abhängigkeit denkbar: Räumlich dreidimensional ausgedehnte Gegenstände sind dieser dritten Ansicht zufolge stets materiell, darüber hinaus gibt es aber auch noch materielle Gegenstände, die nicht ausgedehnt sind, also etwa „materielle Punkte“. Ein leerer Raum ist hier, wie in der ersten Ansicht, nicht möglich.38 Schließlich ist auch noch die vierte Ansicht zu nennen, nach der Materialität und räumlich dreidimensionale Ausdehnung völlig unabhängig voneinander sind. Es kann dieser Ansicht nach nicht nur ausgedehnte materielle Gegenstände geben, sondern genauso auch ausgedehnte Gegenstände, die nicht materiell sind, sowie materielle Gegenstände, die nicht ausgedehnt sind. Ein

|| 36 Vgl. Euler 1926, S. 45f: „Ein jeglicher Körper muss in dem Raume einen besonderen Ort einnehmen, und es ist unmöglich, dass zwei Körper zugleich an eben demselben Orte sein könnten. Unser Begriff von den Körpern schliesst die Undurchdringlichkeit so nothwendig in sich, dass Niemand ein Ding, welches mit dieser Eigenschaft nicht begabt ist, für einen Körper halten würde. […] Hierin besteht auch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem blossen Raume und einem Körper“; sowie ebd., S. 49: „Alles, was undurchdringlich ist, gehört in das Geschlecht der Körper, und daher besteht das Wesen der Körper in der Undurchdringlichkeit, in welcher folglich alle übrigen Eigenschaften ihren Grund haben müssen.“ 37 So beispielsweise Anthony Quinton: „A material thing is not just extension, it is a piece of observable extension, a visibly or tangibly characterised region of space.“ (Quinton 1964, S. 344). Auch für Quinton sind, im Anschluss an Locke und Descartes, materielle Gegenstände undurchdringlich (vgl. ebd., S. 341f). Allerdings hält er die Undurchdringlichkeit nur für eine notwendige und nicht für eine hinreichende Bedingung für Materialität (vgl. ebd., S. 343). 38 Man könnte, mit Einschränkungen, Bolzano als einen Vertreter dieser Ansicht nennen: Für ihn sind alle „wirklichen“ ausgedehnten Gegenstände aus punktförmigen (materiellen) Substanzen zusammengesetzt. Es gibt auch keinen leeren Raum. Als rein abstrakten Gegenstand kennt allerdings auch Bolzano einen nichtmateriellen ausgedehnten Raum.

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ausgedehnter „leerer Raum“ ist genauso möglich wie ausdehnungslose „materielle Punkte“.39 In Bezug auf die Frage, ob auch Linien und Flächen materiell sein können, sind ebenfalls unterschiedliche Ansichten möglich. Diese kann man als „Zwischenpositionen“ zu den gerade genannten vier Ansichten auffassen. Setzt man beispielsweise in Abwandlung der zuerst geschilderten Position Materialität nicht mit dreidimensionaler Ausdehnung gleich, sondern mit einer allgemeineren Art von Ausdehnung wie sie im vorigen Abschnitt skizziert wurde, dann sind sowohl dreidimensional, als auch zwei- und eindimensional ausgedehnte materielle Gegenstände möglich, jedoch keine materiellen Punkte. Auch weitere Kombinationen sind denkbar: Beispielsweise dass es dreidimensionale materielle Körper und zweidimensionale materielle Flächen gibt, allerdings keine materiellen Linien und Punkte.40 In dieser Arbeit soll grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass räumlich dreidimensionale Ausdehnung und Materialität nicht in eins fallen und daher nicht beliebig austauschbar sind. Darüber hinaus soll angenommen werden, dass es sowohl materielle als auch immaterielle Gegenstände gibt, die räumlich dreidimensional ausgedehnt sind. Insbesondere gibt es einen dreidimensionalen „leeren Raum“. Ob es außerdem noch materielle Punkte sowie einund zweidimensional ausgedehnte materielle Gegenstände gibt, soll hier nicht vorentschieden werden. Aussagen über solche niedrigdimensionalen materiellen Gegenstände haben daher im Folgenden stets hypothetischen Charakter. Ebenso offen bleibt zunächst, wie die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit materieller Gegenstände genau interpretiert werden soll. Die meisten Autoren der bisherigen Beiträge zur Problematik der Grenzen ausgedehnter Gegenstände räumen dem Verhältnis von Ausdehnung und Mate|| 39 Eine solche Ansicht verteidigt Theodore Sider: „[I]t is surely undeniable that point-like material objects are possible […] any region of space is possibly occupied by material simples […] for any region of space, there is a possible world in which that region is occupied by simples, and no point not in that region is occupied.“ (Sider 2000, S. 585). Der Raum besteht demnach aus Punkten, die entweder unbesetzt oder mit punktförmigen, materiellen Simples besetzt sein können. Ausgedehnte materielle Gegenstände sind zusammenhängende Raumregionen, deren Punkte vollständig von materiellen Simples besetzt sind. Genauso gibt es ausgedehnte leere Raumregionen, deren Punkte sämtlich unbesetzt sind. (Sider betont, dass dies nicht seine tatsächliche Ansicht über materielle Gegenstände ist. Er verteidigt lediglich, dass es widerspruchsfrei möglich ist, den Ausdruck „material object“ in der beschriebenen Weise zu verwenden. Vgl. ebd., S. 590.) 40 Suárez geht in großer Ausführlichkeit auf alle diese Positionen ein. Er selbst spricht sich für die reale (d. h. materielle) Existenz sowohl von Körpern, Oberflächen und Linien als auch von Punkten aus. Vgl. das Kapitel über Suárez in dieser Arbeit.

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rie eine prominente Stelle in ihrer Argumentation ein. Insbesondere die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit materieller Gegenstände wird dabei häufig als einer der bestimmenden Faktoren identifiziert.41 Die Argumentationslinien können dabei prinzipiell in zwei verschiedene Richtungen verlaufen: Entweder es wird von einer bestimmten Position zum Verhältnis von Materialität und Ausdehnung ausgegangen, woraus sich dann Einschränkungen für zulässige Vorschläge zur Ontologie der Grenzen ergeben.42 Oder es wird von der Plausibilität bestimmter Vorschläge zur Ontologie der Grenzen auf die Angemessenheit oder Unangemessenheit verschiedener Positionen zum Verhältnis von Materialität und Ausdehnung geschlossen.43 Im Unterschied zu diesen Beiträgen zur aktuellen Debatte soll der Gegenstandsbereich der Untersuchung nicht bereits zu Beginn auf materielle Gegenstände eingeschränkt werden.44 Stattdessen sollen Vorschläge zur Ontologie der Grenzen zunächst und vor allem danach beurteilt werden, ob sie bezogen auf ausgedehnte Gegenstände insgesamt plausibel sind. Die Materialität der Gegenstände spielt dabei erst einmal eine untergeordnete Rolle. Allerdings gelten materielle ausgedehnte Gegenstände auch in dieser Arbeit als naheliegende und wichtige Beispiele für ausgedehnte Gegenstände. Es ist insofern durchaus relevant, ob ein bestimmter Vorschlag zur Ontologie der Grenzen auch für diese Beispielklasse plausibel ist. Dort, wo die Materialität der Gegenstände einen Unterschied für die Plausibilitätsbetrachtung macht, soll jeweils darauf hingewiesen werden. Obwohl die Betrachtung materieller ausgedehnter Gegenstände, wie gesagt, in dieser Arbeit eine weniger zentrale Rolle spielt als in vielen anderen Beiträgen, soll auch hier davon ausgegangen werden, dass materielle ausgedehnte Gegenstände, also insbesondere räumlich dreidimensionale materielle Körper, existieren und dass diese eine wichtige Klasse der uns in unserer Alltagswelt umgebenden Objekte darstellen. Gegen die Annahme der Existenz räumlich dreidimensional ausgedehnter materieller Gegenstände wird aber vielfach eingewandt, dass diese der Materievorstellung der modernen Physik widersprä-

|| 41 Vgl. z. B. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 2 und Smith, S. 2007, S. 504. 42 So argumentieren beispielsweise Richard Cartwright (Cartwright 1975) und Roderick Chisholm (Chisholm 1992/93). 43 So argumentiert beispielsweise Dean Zimmerman in seinen beiden Aufsätzen aus dem Jahr 1996. 44 Diese Einschränkung nehmen ausdrücklich beispielsweise Zimmerman, Sider und S. Smith vor (vgl. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 2f, Sider 2000, S. 590 und Smith, S. 2007, S. 509). Sie wird jedoch implizit auch in vielen anderen Beiträgen vorgenommen.

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chen. Die Feinstruktur der physikalischen Realität werde vielmehr nur von der Quantenmechanik korrekt beschrieben, die keine ausgedehnten Körper und noch nicht einmal präzise lokalisierte Partikel kenne.45 Daraus wird geschlossen, dass die Rede von ausgedehnten materiellen Gegenständen im Lichte der heutigen Physik unangemessen sei und keinen Bezug zur Realität der materiellen Welt habe. Hierzu ist erstens zu sagen, dass es bis heute umstritten ist, welche Metaphysik die für die Quantenmechanik passende ist. Es ist also auch noch nicht endgültig ausgemacht, dass die Quantenmechanik die Existenz ausgedehnter Gegenstände im hier skizzierten Sinne ausschließt.46 Zweitens sind von einem empirischen Standpunkt aus betrachtet die Entitäten der theoretischen Physik konzeptionell abhängig von der Existenz von räumlich ausgedehnten materiellen Alltagsdingen. Entitäten der theoretischen Physik können nur in Analogie zu Alltagsdingen als „materiell“ bezeichnet werden. Zudem geschieht ein experimenteller Nachweis der Existenz dieser Entitäten über Messapparaturen, die Teil unserer Alltagswelt sind. Vom empirischen Standpunkt aus ist also die Existenz ausgedehnter materieller Gegenstände vorauszusetzen, um überhaupt auf Entitäten der theoretischen Physik schließen zu können.47 Drittens stellt sich hier die Frage nach dem Realitätsbezug der Naturwissenschaft. Einerseits liefern uns die Naturwissenschaften unbestreitbar sehr präzise und verlässliche Kenntnisse über die materielle Wirklichkeit. Andererseits haben diese Kenntnisse stets den Charakter von abstrakten Modellen, die der Wirklichkeit nur mehr oder weniger ähnlich sind und die die jeweils interessierenden Züge der Wirklichkeit nur näherungsweise abbilden. Das Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung kann nie ein „direkter“ Zugang zur Realität

|| 45 Diese Entwicklung der Materievorstellung der modernen Physik wird häufig unter dem Schlagwort „dematerialization of matter“ zusammengefasst. Vgl. dazu Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 166f, Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 3f und Smith, S. 2007, S. 508. 46 Vgl. Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 167, insbes. Anm. Nr. 109. 47 Vgl. Quinton 1964, S. 346: „These common visible or tangible objects provide the indispensable basis for the analogical arguments by which material status is ascribed to the objects of the theoretical kind. Furthermore the fundamental evidence for the existence and nature of theoretical objects must all consist of statements about common objects, the literally perceptible pointers and mercury-columns, reports of which constitute the scientist’s basic experimental findings. Common objects, then, are doubly presupposed by theoretical ones; they are the basis of the analogies from which theoretical statements derive their meaning and the subject-matter of the reports to which theoretical statements owe their confirmation.“

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sein, sondern immer nur ein durch abstrakte Modelle vermittelter. Dementsprechend sind beispielsweise sowohl die Quantenmechanik als auch die klassische Kontinuumsmechanik Modelle, deren Zweck es ist, jeweils bestimmte Aspekte der materiellen Wirklichkeit möglichst getreu abzubilden. In Bezug auf die Mikrostruktur der Materie hat sich dabei die Quantenmechanik als das angemessenere Modell herausgestellt. Für die Beschreibung des Verhaltens makroskopischer Gegenstände der Alltagswelt ist die Quantenmechanik hingegen kein angemessenes Modell, da es einerseits enorme Rechenleistung erfordern würde, um zu Ergebnissen zu kommen, und andererseits diese Ergebnisse nur einen sehr begrenzten Erkenntniswert hätten, da die wesentlichen Merkmale makroskopischer Gegenstände nicht aus der riesigen Fülle an Details hervortreten würden.48 In der Kontinuumsmechanik wird dagegen von den zahlreichen Details der Mikrostruktur abstrahiert, um die wesentlichen Züge des Verhaltens makroskopischer materieller Gegenstände umso deutlicher hervortreten zu lassen.49 Materielle Gegenstände werden dabei durch zusammenhängende kompakte Mengen von Punkten modelliert50 – sie werden also als (kontinuierlich) ausgedehnte Gegenstände betrachtet. Das kontinuumsmechanische Modell materieller Gegenstände hat sich für makroskopische Gegenstände als das bisher angemessenste herausgestellt und wird bis heute in den entsprechenden Teilgebieten der Physik und besonders auch in den Ingenieurswissenschaften breit angewendet.51 Die Frage nach der einen Art von Physik, die die „wahre“ Realität abbildet, ist unangemessen. Es gibt vielmehr eine Auswahl verschiedener Modelle, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit herausheben und diese möglichst genau darstellen. Viertens stellt sich die Frage, ob es, selbst wenn man den Einwand zugeben würde, nicht doch sinnvoll sein kann, über ausgedehnte materielle Gegenstände nachzudenken. Reicht es nicht aus, dass solche Gegenstände zumindest möglich sind, um ein interessantes Untersuchungsobjekt abzugeben, wenn

|| 48 Vgl. Smith, S. 2007, S. 508: „However, one would never model real-world macroscopic bodies via quantum mechanics since that would involve an enormous n-body problem that is less likely to reveal the salient features of, say, actual billiard ball collisions“. 49 Vgl. Smith, S. 2007, S. 508f: „Thus, a modelling of billiard ball collisions that wants to take into account and predict the largest range of the features of actual billiard balls – such as their deformation and constitutive responses including thermodynamic responses – will tend to be formulated within classical continuum mechanics.“ 50 Vgl. Becker und Bürger 1975, S. 9. 51 Vgl. Smith, S. 2007, S. 509, Fn. 9.

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auch nur in der Weise einer hypothetischen Fragestellung?52 Für diese Sichtweise spricht, dass ausgedehnte materielle Gegenstände unbestreitbar Teil unserer Alltagsvorstellungen über die uns umgebende Welt sind. In unseren Handlungen, bei denen wir mit der Umwelt interagieren, setzen wir implizit bereits „Theorien“ (im Sinne einer „commonsense notion“53) über räumlich ausgedehnte materielle Gegenstände voraus. Es ist also für uns von Interesse, etwas über solche Gegenstände herauszufinden, auch unabhängig davon, ob es diese Gegenstände tatsächlich gibt oder nicht. Wir lernen dann zumindest etwas über die Struktur unserer Vorstellungen über die materielle Außenwelt.54 Somit ist es auch vor dem Hintergrund der Ergebnisse, die die Quantenmechanik zur Frage nach der Natur der Materie liefert, gerechtfertigt, über räumlich ausgedehnte materielle Gegenstände im oben angeführten Sinn nachzudenken.

|| 52 Vgl. Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 167f und Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 4. 53 Stroll 1988, S. 11: „By the ‘commonsense notion’, I mean a concept that is pretechnical or at least nontechnical. In a nonpejorative sense of the term, we can say that it is a concept that belongs to folk physics or folk semantics.“ 54 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 1.

3 Grenzen als Teile Im zweiten Kapitel wurde als Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände folgendes festgehalten: Ein ausgedehnter Gegenstand hat paarweise disjunkte, gleichartige echte Teile, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen, die miteinander zusammenhängen, und die selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind.

Betrachtet man als Beispiel für einen konkreten ausgedehnten Gegenstand einen Apfel, dann kann man als Teile des Apfels etwa sein Kerngehäuse, das Fruchtfleisch und die Schale ansehen. In einer anderen Hinsicht sind aber auch die vier Viertel, in die sich der Apfel durch Aufschneiden teilen lässt, Teile des Apfels. In diesen beiden sowie auch in vielen anderen möglichen Betrachtungsweisen zeigt sich, dass der Apfel Teile hat, die gemeinsam den ganzen Apfel ausmachen, miteinander zusammenhängen, und jeweils ausgedehnt sind. Es wird nun gesagt, dass ein Apfel nicht nur Teile, sondern auch eine Grenze habe. Wie kann man sich dieses „Haben“ der Grenze näher vorstellen? Eine naheliegende Möglichkeit ist es, anzunehmen, dass ein Apfel eine Grenze genau so hat, wie er im oben beschriebenen Sinne Teile hat. Der Apfel hat dann eine Grenze in dem Sinne, dass es einen Teil des Apfels gibt, den man seine Grenze nennt. Vorgeschlagen wird also, eine Grenze als einen (echten) Teil desjenigen ausgedehnten Gegenstandes, dessen Grenze sie ist, zu verstehen. Man könnte dabei etwa an die Schale des Apfels denken, die ein Teil des Apfels ist und die als dessen Grenze angesehen werden kann. Es ist klar, dass nicht jeder Teil eines ausgedehnten Gegenstandes eine Grenze dieses Gegenstandes sein kann. Innere Teile, also Teile, die sich vollständig im Inneren des Gegenstandes befinden, d. h. rundherum von anderen Teilen des Gegenstandes umgeben sind, wird man nicht als Grenzen dieses Gegenstandes auffassen.1 Es kommen dafür vielmehr nur äußerste Teile infrage, d. h. Teile, die zwar noch zum Gegenstand gehören, aber keine inneren Teile

|| 1 Es ist allerdings möglich, dass ein Teil im Inneren eines Gegenstandes eine Grenze eines weiteren, echten Teiles dieses Gegenstandes ist. In diesem Zusammenhang spricht man verkürzend oft von den inneren Grenzen des Gegenstandes. Eigentlich sind damit aber im Inneren des Gegenstandes befindliche Grenzen von Teilen des Gegenstandes gemeint.

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sind. Die äußersten Teile bilden sozusagen den (noch zum Gegenstand gehörenden) „Rand“ eines Gegenstandes in Bezug auf seine Umgebung. Sie stehen sowohl mit anderen Teilen des Gegenstandes als auch mit der Umgebung in direkter Verbindung. Der präzisierte Vorschlag lautet also: Eine Grenze ist ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes.

Diese These zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände soll nun weiter ausgefaltet und auf Plausibilität geprüft werden. Dabei geht es zunächst um die Frage, ob die als Teile ausgedehnter Gegenstände bestimmten Grenzen Teile von derselben Dimension sind, wie der Gegenstand, dessen Grenze sie jeweils sind, oder ob sie Teile von niedrigerer Dimension sind. Im Zusammenhang damit wird auch diskutiert, inwieweit als Teile bestimmte Grenzen auch selbst wieder teilbar sind. Anschließend geht es um die Frage, ob jeder ausgedehnte Gegenstand eine Grenze als einen ihm zugehörenden äußersten Teil hat, oder ob es auch ausgedehnte Gegenstände gibt, die überhaupt keine solchen Grenzen als Teile besitzen. Nach diesen Vorarbeiten kann untersucht werden, inwieweit die hier zu prüfende These über die Grenzen ausgedehnter Gegenstände den zu Beginn dieser Arbeit ermittelten Grundintuitionen über Grenzen gerecht wird. Es ergeben sich dabei vier verschiedene mögliche Antworten auf die Frage, wie eine Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen zugleich ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes sein kann. Diese vier Optionen werden anschließend ausführlich diskutiert und jeweils auf Plausibilität geprüft.

3.1 „Dicke“ oder „dünne“ Grenzen? – Zur Teilbarkeit von Grenzen Betrachtet man erneut das gerade erwähnte Beispiel des Apfels, dann ist ohne Zweifel festzustellen, dass die Schale eines Apfels ein äußerster Teil des Apfels ist. Ist die Schale des Apfels aber auch dessen Grenze? Hier könnte man gleich einwenden, dass die Schale des Apfels, genauso wie auch der Apfel selbst, dreidimensional ausgedehnt ist. Es gibt aber eine starke Intuition, nach der nur eine zweidimensionale Oberfläche Grenze eines dreidimensionalen Körpers sein kann. Jeder dreidimensional ausgedehnte Gegenstand hätte demnach aus-

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schließlich zweidimensionale Grenzen.2 Folgt man dieser Intuition, dann kann die Schale des Apfels nicht dessen Grenze sein, denn die Schale ist ja selbst noch dreidimensional ausgedehnt, sie ist „dick“. Die Grenze des Apfels ist vielmehr eine zweidimensional ausgedehnte Fläche, die den Apfel umhüllt. Kann aber diese zweidimensionale Fläche noch ein Teil des Apfels sein? Falls unter „Teil“ stets „dreidimensional ausgedehnter Teil“ verstanden wird, dann ist dies nicht möglich. In diesem Fall wäre die These, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenständen sind, falsch. Genauer betrachtet und etwas verallgemeinert besteht der hier formulierte Einwand gegen die These, dass Grenzen äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind, darin, dass behauptet wird, dass die folgenden vier Aussagen nicht alle zugleich wahr sein können, dass aber die Aussagen (1), (3) und (4) sehr plausibel sind, und dass deshalb die vorgeschlagene These über Grenzen (Aussage (2)) aufgegeben werden muss: (1) Es gibt Grenzen. (2) Grenzen sind Teile ausgedehnter Gegenstände. („Alle Grenzen sind Teile.“) (3) Alle n-dimensional ausgedehnte Gegenstände haben ausschließlich (n-1)dimensional ausgedehnte Grenzen. („Alle Grenzen sind dünn.“) (4) Alle n-dimensional ausgedehnte Gegenstände haben ausschließlich n-dimensional ausgedehnte Teile. („Alle Teile sind dick.“) Dabei wird eine (n-1)-dimensionale Grenze eines n-dimensionalen Gegenstandes als dünne Grenze bezeichnet, während eine n-dimensionale Grenze eines ndimensionalen Gegenstandes dicke Grenze genannt wird. Entsprechende Bezeichnungen gelten auch für die Teile eines Gegenstandes.3 Das System der Aussagen (1), (2), (3) und (4) enthält einen Widerspruch, falls alle vier Aussagen zugleich wahr sind, und ist widerspruchsfrei, falls höchstens drei der Aussagen wahr sind. Man muss also auf die Behauptung der Wahrheit von (mindestens) einer der vier Aussagen verzichten. Aussage (1) soll hier nicht infrage gestellt werden. Aussage (2) ist die gerade vorgeschlagene Hypothese, die nun weiter untersucht werden soll. Soll diese nicht aufgegeben || 2 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 1.4: „A fourth source of concern relates to the intuition […] that boundaries are lower-dimensional entities, i.e., have at least one dimension fewer than the entities they bound. The surface of a (continuous) sphere, for example, is two-dimensional (it has no ‘substance’ or ‘divisible bulk’) […]. This intuition is germane to much of what we ordinarily say about boundaries.” 3 Die hier eingeführten Bezeichnungen „dicke“ und „dünne Grenzen“ sowie „dicke“ und „dünne Teile“ sind natürlich nicht zu verwechseln mit David Armstrongs Begriffsbildung der „thick“ und „thin particulars“ (vgl. dazu Runggaldier/Kanzian 1998, S. 127).

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werden, dann kann nur höchstens eine der beiden Aussagen (3) und (4) wahr sein. Ist es aber plausibel, eine dieser beiden Aussagen aufzugeben? Reicht es aus, eine der Aussagen abzuschwächen, um den Widerspruch aufzulösen? Aussage (3) erscheint, wie bereits eingangs erwähnt, intuitiv plausibel. Es ist daher wünschenswert, Aussage (3) nicht völlig aufzugeben. Will man zumindest noch die Möglichkeit der Existenz dünner Grenzen behaupten, dann könnte man Aussage (3) durch die folgende, sehr viel schwächere Aussage (3') ersetzen: (3') Es ist möglich, dass ein n-dimensional ausgedehnter Gegenstand eine (n-1)dimensional ausgedehnte Grenze hat. („Dünne Grenzen sind möglich.“) Dadurch wird allerdings der Widerspruch noch nicht aufgelöst. Die Aussage kann aber nicht sinnvoll weiter abgeschwächt werden. Solange Aussage (4) unverändert angenommen wird, verschwindet der Widerspruch also erst, wenn man auch Aussage (3') noch aufgibt und stattdessen fordert, dass alle ndimensionalen Gegenstände ausschließlich n-dimensionale Grenzen haben: (3'') Alle n-dimensionalen ausgedehnten Gegenstände haben ausschließlich ndimensional ausgedehnte Grenzen. („Alle Grenzen sind dick.“) Alternativ dazu könnte man Aussage (3) in ihrer ursprünglichen Form bewahren und versuchen, stattdessen Aussage (4) abzuschwächen. Für Aussage (4) spricht zunächst, dass man bei dem Ausdruck „Teile eines ausgedehnten Gegenstandes“ zuallererst einmal an Hälften, Viertel, usw. denkt, also an Teile, die die gleiche Dimension haben wie der Gegenstand selbst und die aus einem (gedanklichen) Teilungsprozess hervorgehen. Teile von niedrigerer Dimension kommen einem erst einmal nicht in den Sinn. Auch Aussage (4) ist also zunächst intuitiv plausibel. Die oben angegebene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände lässt es allerdings offen, von welcher Dimension die Ausdehnung der Teile des Gegenstandes ist; und sie lässt außerdem offen, ob ein ausgedehnter Gegenstand zusätzlich zu seinen ausgedehnten Teilen auch (Bestand-)Teile hat, die überhaupt nicht ausgedehnt sind (d. h. Teile, die bloße Punkte sind, und die dennoch zur Konstitution des ausgedehnten Gegenstandes beitragen). Aussage (4) lässt sich also abschwächen, ohne dass man damit der oben angegebenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände widerspricht. Lässt man zu, dass ein n-dimensionaler Gegenstand neben seinen n-dimensionalen Teilen auch (n-1)-dimensionale Teile haben kann, dann verschwindet der Widerspruch. Aussage (4) wird dabei durch die Aussage (4') ersetzt:

„Dicke“ oder „dünne“ Grenzen? – Zur Teilbarkeit von Grenzen | 39

(4') n-dimensional ausgedehnte Gegenstände können neben ihren ndimensional ausgedehnten Teilen auch (n-1)-dimensional ausgedehnte Teile haben. („Es gibt dicke Teile“ und „dünne Teile sind möglich“.) Im Folgenden wird, um die Möglichkeit dünner Grenzen zuzulassen und dennoch dem Einwand begegnen zu können, Aussage (4') angenommen, d. h. es wird davon ausgegangen, dass ausgedehnte Gegenstände Teile von niedrigerer Dimension haben können.4 Damit ist jedoch zunächst noch in keiner Weise festgelegt, dass tatsächlich alle Grenzen dünn sind, ja noch nicht einmal, dass es tatsächlich dünne Grenzen gibt. Sowohl das Aussagensystem (1), (2), (3), (4') als auch das System (1), (2), (3'), (4') und das System (1), (2), (3''), (4') sind offensichtlich widerspruchsfrei. Die Annahme der Existenz niedrigdimensionaler Teile erlaubt sowohl dünne als auch dicke Grenzen. Die Unterscheidung in dicke und dünne Grenzen hängt zusammen mit der Teilbarkeit von Grenzen, die nun etwas genauer betrachtet werden soll. Eine dicke Grenze eines n-dimensional ausgedehnten Gegenstandes ist selbst wiederum ein n-dimensional ausgedehnter Gegenstand. Entsprechend ist eine solche Grenze auch in gleicher Weise teilbar wie der Gegenstand, dessen Grenze sie ist. Außerdem kann eine solche Grenze durch einen endlichen Teilungsprozess von diesem Gegenstand abgespalten werden. Eine dünne Grenze eines n-dimensionalen Gegenstandes ist dagegen nur (n-1)-dimensional ausgedehnt und daher gemäß einer Dimension unteilbar, in der der Gegenstand teilbar ist. Sie kann auch nicht durch einen endlichen Teilungsprozess von diesem Gegenstand abgespalten werden. Beispielsweise ist die zweidimensionale Oberfläche eines dreidimensionalen Körpers im Gegensatz zu diesem gemäß der Tiefe unteilbar. Sie ist aber immer noch gemäß der Länge sowie gemäß der Breite teilbar. Es ist zudem unmöglich, durch einen endlichen Teilungsprozess diese dünne Oberfläche gewissermaßen „abzuschälen“. Entsprechendes gilt auch für die eindimensionalen, dünnen Grenzen von zweidimensionalen Gegenständen, d. h. für die Linien, die eine Fläche begrenzen: Sie sind gemäß der Tiefe und der Breite unteilbar, aber immer noch gemäß der Länge teilbar. Eine Spezialfall ist

|| 4 Die Frage nach der Existenz von Teilen von niedrigerer Dimension hängt zusammen mit der oben (Abschnitt 2.1) diskutierten Frage nach der mereologischen Struktur ausgedehnter Gegenstände. Die Aussage (4‘) erlaubt jedenfalls die Existenz von Atomen, legt allerdings nicht fest, ob es tatsächlich Atome gibt und ob alles Ausgedehnte letztlich nur aus ausdehnungslosen Atomen zusammengesetzt ist.

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die dünne Grenze eines eindimensionalen Gegenstandes: sie ist ein Punkt und damit schlechthin unteilbar. Wenn man von den punktförmigen, dünnen Grenzen eindimensionaler Gegenstände absieht, dann sind sowohl dicke als auch dünne Grenzen selbst wieder ausgedehnte Gegenstände im oben beschriebenen Sinne, haben also zusammenhängende, ausgedehnte Teile. Während eine dicke Grenze in gleicher Weise teilbar ist wie der Gegenstand, dessen Grenze sie ist, gilt dies für dünne Grenzen nicht. Eine dünne Grenze ist gemäß einer Dimension unteilbar, gemäß der der Gegenstand, dessen Grenze sie ist, teilbar ist. Dünne Grenzen können auch nicht durch einen endlichen Teilungsprozess von den Gegenständen, deren Grenzen sie jeweils sind, abgespalten werden. Manche Teile der Grenzen eines Gegenstandes sind selbst wiederum Grenzen desselben Gegenstandes. Bei dünnen Grenzen sind zumindest alle diejenigen Teile, die dieselbe Dimension haben wie die Grenze, deren Teile sie sind (d. h. alle dicken Teile der dünnen Grenze), unzweifelhaft selbst wiederum dünne Grenzen des Gegenstandes. Beispielsweise ist die Oberfläche eines Körpers dessen zweidimensionale, dünne Grenze. Alle zweidimensionalen Teile dieser Oberfläche sind selbst wiederum dünne Grenzen des Körpers. In Bezug auf dünne Grenzen ist es in einigen Fällen sinnvoll, zwischen der Grenze eines ausgedehnten Gegenstandes und einer beliebigen Grenze desselben Gegenstandes zu unterscheiden. Mit dem Ausdruck „die Grenze eines Gegenstandes“ meint man dann die gesamte dünne Grenze des Gegenstandes, verstanden als einen maximalen Teil in dem Sinne, dass jede beliebige dünne Grenze des Gegenstandes ein (echter oder unechter) Teil der gesamten dünnen Grenze des Gegenstandes ist. Im Folgenden lässt sich dort, wo die Unterscheidung überhaupt relevant ist, stets aus dem Kontext erschließen, ob die Grenze oder eine beliebige Grenze des Gegenstandes gemeint ist. Da auch dünne Grenzen (mit Ausnahme der punktförmigen dünnen Grenzen von Linien) ausgedehnte Gegenstände sind, können auch diese selbst wiederum Grenzen haben. Als illustrierendes Beispiel betrachte man einen Würfel und seine sechs Seitenflächen. Jede dieser Seitenflächen ist eine dünne Grenze des Würfels. Eine solche Grenze ist aber selbst auch ein (zweidimensional) ausgedehnter Gegenstand, der wiederum eindimensionale Grenzen hat: Die vier Kanten des Würfels, die die äußersten Teile der Seitenfläche sind. Außerdem ist jede der Kanten des Würfels selbst ein (eindimensional) ausgedehnter Gegenstand, der wiederum punktförmige Grenzen hat: die zwei Ecken des Würfels, die mit der jeweiligen Kante zusammenhängen. Dünne Grenzen müssen aber selbst keine Grenzen haben: Die gesamte Grenze des Würfels bestehend aus allen

„Dicke“ oder „dünne“ Grenzen? – Zur Teilbarkeit von Grenzen | 41

sechs Seitenflächen hängt in der Weise mit sich selbst zusammen, dass sie keine Grenze hat. In Bezug auf dicke Grenzen und ihre Teile stellt sich die Lage etwas komplizierter dar. Betrachtet man als Beispiel wieder die bereits erwähnte Apfelschale als eine dreidimensional ausgedehnte, dicke Grenze eines Apfels, dann kann man sich diese Schale gemäß ihrer Länge und Breite in Teile zerlegt denken. Diese Teile weisen immer noch dieselbe Ausdehnung gemäß der Tiefe auf wie die gesamte Schale. Sie sind selbst wieder dicke Grenzen des Apfels. Allerdings sind nicht alle dicken Teile der Grenze auch selbst wieder Grenzen. Teilt man die Schale nicht nur gemäß ihrer Länge und Breite, sondern auch gemäß ihrer Tiefe, dann sind zwar einige der resultierenden Teile zugleich äußerste Teile des Apfels, die weiter innen liegenden sind jedoch innere Teile des Apfels, und diese weiter innen liegenden Teile können daher nicht seine Grenzen sein. Nur die Teile, die sowohl äußerste Teile der Schale als auch äußerste Teile des Apfels sind, kommen auch als Grenzen des Apfels infrage. Es ist kaum zu bestreiten, dass diese Teile auch wirklich Grenzen des Apfels sind. Es ist jedenfalls schwerlich einzusehen, wieso einerseits die Schale in ihrer vollen Dicke eine Grenze des Apfels sein soll, andererseits aber eine weniger dicke Schicht dieser Schale, die ebenso ein äußerster Teil des Apfels ist, keine Grenze des Apfels sein soll. Im Gegenteil, es liegt sogar nahe, den weniger dicken äußersten Teil der Schale als „eigentliche“ Grenze des Apfels zu betrachten. Die Schale in ihrer vollen Dicke wäre demnach noch „zu dick“, da sie noch zu viele von den inneren Teilen des Apfels enthält. Die eigentliche Grenze des Apfels wäre dann die Außengrenze seiner Schale. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann tritt jedoch eine Art Regressproblem auf: Ist nämlich auch die Außengrenze der Schale wieder dreidimensional, d. h. eine dicke Grenze, dann hat auch diese selbst wieder eine (dicke) Außengrenze, und von dieser Außengrenze kann mit noch größerem Recht behauptet werden, die eigentliche Grenze des Körpers zu sein. Sind alle Grenzen dreidimensional ausgedehnt, dann setzt sich das Ganze immer weiter fort: Stets gibt es noch eine weniger dicke Schicht, von der mit noch größerem Recht behauptet werden kann, Grenze des Körpers zu sein. Der Regress wird nur dadurch gestoppt, dass man zu einer zweidimensionalen, d. h. dünnen Grenze übergeht. Das Regressproblem kann umgangen werden, wenn man sich dazu entschließt, alle dicken äußersten Teile eines ausgedehnten Gegenstandes, unabhängig von deren jeweiliger Dicke, mit gleichem Recht als dessen Grenzen anzusehen. Ein Körper hätte dann stets viele ineinander verschachtelte Grenzschichten unterschiedlicher Dicke. In Kauf zu nehmen wäre dann aller-

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dings eine enorme Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „Grenze“: Unter jedem Teil der (zweidimensional verstandenen) Oberfläche eines Körpers läge dann nicht nur eine dicke Grenze, sondern unendlich viele Grenzen von verschiedener Dicke, die allesamt ineinander verschachtelt wären. Außerdem taucht hier ein weiteres Problem auf: Konsequenterweise wäre dann nämlich auch beispielsweise die Hälfte eines Apfels eine Grenze des Apfels, denn sie ist zweifellos ein dicker äußerster Teil, wenn auch ein im Vergleich zum gesamten Apfel besonders dicker. Das erscheint aber äußerst kontraintuitiv. Niemand würde auf die Idee kommen, die Hälfte eines Apfels dessen Grenze zu nennen. Will man diese stark kontraintuitiven Fälle ausschließen, dann muss man zwei Klassen von dicken äußersten Teilen unterscheiden: zum einen solche, die Grenzen sind, und zum anderen solche, die zu dick sind, um Grenzen sein zu können. Welche dicken äußersten Teile aber als „zu dick“ gelten sollen, und welche noch als Grenzen toleriert werden können, ist alles andere als klar. Man handelt sich hier ein nicht unerhebliches Vagheitsproblem ein.5 Bei dünnen Grenzen treten alle diese Probleme nicht auf. Das Regressproblem stellt sich nicht, da eine dünne Grenze keine „Dicke“ hat, d. h. in der relevanten Dimension unteilbar ist. Aus demselben Grund gibt es auch keine gemäß der relevanten Dimension ineinander verschachtelten Grenzen und kein Vagheitsproblem. Dünne Grenzen sind also in dieser Hinsicht konzeptionell deutlich weniger problematisch als dicke Grenzen. Allerdings sind dünne Grenzen im Vergleich zu dicken mit einer größeren ontologischen Verpflichtung verbunden: Dünne Grenzen setzen zusätzlich zur Existenz dicker Teile auch die Existenz dünner Teile voraus, für dicke Grenzen reicht es dagegen, nur dicke Teile anzunehmen.

3.2 Gegenstände ohne Grenze Die hier zu untersuchende These besagt, dass jede Grenze ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes ist. Es gibt also zu jeder Grenze einen ausgedehnten Gegenstand, dessen äußerster Teil sie ist. Man könnte nun fragen, ob es auch umgekehrt zu jedem ausgedehnten Gegenstand eine Grenze gibt, die || 5 Ist man der Ansicht, dass Grenzen grundsätzlich mit einer gewissen Vagheit behaftet sind, dann kann man diese Eigenschaft dicker Grenzen auch als Vorteil ansehen in dem Sinne, dass eine Theorie der Grenzen diese Vagheit widerspiegeln sollte. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass die oben festgestellte Vagheit dicker Grenzen nicht unbedingt mit dem korrespondieren muss, was man mit „Vagheit der Grenze“ im Allgemeinen meint. Zum Thema Vagheit von Grenzen vgl. auch Varzi 2013, Abschnitt 1.3.

Gegenstände ohne Grenze | 43

ein äußerster Teil dieses Gegenstandes ist. Ist ein ausgedehnter Gegenstand denkbar, dem keine Grenze als dessen äußerster Teil angehört? Ein solcher Gegenstand hätte entweder überhaupt keine äußersten Teile, oder seine äußersten Teile wären allesamt keine Grenzen. Zum letzteren Punkt ist zu sagen, dass es natürlich immer möglich ist, den Begriff der Grenze eines ausgedehnten Gegenstandes weiter einzuschränken, so dass nur bestimmte äußerste Teile eines ausgedehnten Gegenstandes auch Grenzen sind, während andere äußerste Teile keine Grenzen sind. Die hier zu untersuchende These lässt dies zu. Es wäre dann auch möglich, dass alle äußersten Teile eines bestimmten Gegenstandes keine Grenzen sind, und dieser Gegenstand somit überhaupt keine Grenzen hätte. Es stellt sich dann aber die Frage, nach welchem Kriterium man äußerste Teile, die Grenzen sind, von solchen, die es nicht sind, unterscheiden kann, und ob diese Unterscheidung auch sinnvoll ist. Wenn eine solche Einschränkung des Begriffs auch nicht dem Wortlaut der These widerspricht, so steht sie doch sicherlich der Intention entgegen, die bei der Aufstellung der These, dass Grenzen äußerste Teile von Gegenständen sind, leitend war. Warum sollte beispielsweise eine einem Würfel als äußerster Teil angehörende Oberfläche nicht dessen Grenze sein, wenn man sich denn schon einmal grundsätzlich darauf verständigt hat, dass Grenzen äußerste Teile von Gegenständen sind? In systematischer Hinsicht wesentlich interessanter ist daher die Frage, ob es ausgedehnte Gegenstände gibt, die überhaupt keine äußersten Teile haben, und die deswegen auch keine Grenzen im hier gemeinten Sinne haben können. Ein triviales Beispiel für einen ausgedehnten Gegenstand, der keine äußersten Teile hat, ist der gesamte, unbeschränkte Raum. Fasst man den Raum als ausgedehnten Gegenstand im oben beschriebenen Sinne auf, dann hat dieser keine äußersten Teile, da er in keiner Weise beschränkt ist und es für ihn daher auch keine Umgebung gibt, in die er eingebettet sein könnte und in Bezug auf die es äußerste Teile geben könnte. Wenn der Raum aber keine äußersten Teile hat, dann kann er auch keine Grenzen im hier beschriebenen Sinne haben.6 Insofern gibt es also einen ausgedehnten Gegenstand, dem keine Grenze als äußerster Teil angehört, und zwar einfach deswegen, weil der Gegenstand insgesamt unbeschränkt ist und daher weder äußerste Teile noch Grenzen hat. Interessanter wird die Frage nach ausgedehnten Gegenständen ohne äußerste Teile erst, wenn man sie auf räumlich beschränkte ausgedehnte Gegen-

|| 6 Wem das Beispiel Bauchschmerzen bereitet, weil er den Raum nicht als „Gegenstand“ aufgewertet sehen will, der kann sich stattdessen einen Gegenstand denken, der den gesamten Raum restlos ausfüllt.

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stände bezieht. Bei ausgedehnten Gegenständen, die mindestens eine Region des Raumes nicht ausfüllen (also insbesondere bei den räumlich beschränkten Gegenständen unserer Alltagswelt), gibt es stets zumindest dicke äußerste Teile. Dies folgt aus der Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände: Jeder ausgedehnte Gegenstand hat paarweise disjunkte echte Teile, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen, die miteinander zusammenhängen und die selbst wieder (in gleicher Dimension) ausgedehnte Gegenstände sind. Wenn nun ein ausgedehnter Gegenstand nicht den gesamten Raum einnimmt, dann gibt es stets einen echten, ausgedehnten Teil dieses Gegenstandes, der von gleicher Dimension wie der Gegenstand selbst ist und sowohl mit anderen Teilen des Gegenstandes zusammenhängt als auch in Kontakt zu einer Raumregion steht, die nicht von dem Gegenstand ausgefüllt wird. Allerdings wird man, selbst wenn man dicke Grenzen zulässt, nicht alle diese dicken äußersten Teile Grenzen nennen wollen: Wie im vorigen Abschnitt bereits besprochen wurde, ist beispielsweise eine Hälfte eines Apfels zwar ein äußerster Teil des Apfels, aber die Apfelhälfte auch als eine Grenze des Apfels zu bezeichnen wäre äußerst kontraintuitiv. Hierin ist ein grundsätzliches Problem dicker Grenzen zu erkennen: Dicke Grenzen können offenbar nicht „beliebig dick“ sein. In welchem quantitativen Verhältnis die Ausdehnung einer dicken Grenze zur Ausdehnung des gesamten Gegenstandes, dessen Teil und Grenze sie ist, stehen sollte, ist, wie bereits oben gesagt, alles andere als klar. In jedem Fall ist es aber sehr plausibel, anzunehmen, dass es zu jedem begrenzten ausgedehnten Gegenstand dicke äußerste Teile gibt, deren relative quantitative Ausdehnung derart ist, dass sie durchaus als Grenzen gelten können. Dass es auch dicke äußerste Teile gibt, die intuitiv nicht als Grenzen angesehen werden, und auch solche, die weder klar zur ersten noch klar zur zweiten Kategorie gehören, ändert an diesem Befund nichts. Man kann also in Bezug auf die gegebene Fragestellung festhalten, dass jeder beschränkte ausgedehnte Gegenstand zumindest dicke äußerste Teile hat, die ohne größere Schwierigkeiten als dessen (dicke) Grenzen angesehen werden können. Anders sieht es aus, wenn man nur dünne Grenzen zulässt. Es ist theoretisch nicht ausgeschlossen, dass ein beschränkter ausgedehnter Gegenstand keine dünnen äußersten Teile hat. Die Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände, auch in der durch Aussage (4‘) ergänzten Version, lässt dies jedenfalls zu. Beispiele für solche Gegenstände finden sich unter den offenen Mengen der Topologie. Man betrachte beispielsweise in einem metrischen Raum eine offene Kugel vom Radius 1, also die Menge aller Punkte, die von einem gegebenen Mittelpunkt einen Abstand kleiner als 1 haben. Punkte, die vom Mittelpunkt einen Abstand von genau 1 haben, gehören nicht mehr zur Kugel. Die offene

Wie verhält sich die These zu den Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen? | 45

Kugel ist ein ausgedehnter Gegenstand, der keinen dünnen äußersten Teil hat. Als dünne äußerste Teile kämen nämlich nur zweidimensionale Teile der Sphäre mit Radius 1 um denselben Mittelpunkt infrage, da nur diese sowohl mit inneren Teilen der Kugel als auch mit der Umgebung in Kontakt stehen. Aber gerade diese Sphäre gehört ja gemäß Definition nicht mehr zur Kugel, die Teile der Sphäre können also keine äußersten Teile der Kugel sein. Jede Sphäre mit einem Radius kleiner als 1 und demselben Mittelpunkt liegt aber bereits vollständig im Inneren der Kugel. Die Kugel hat also keine Oberfläche, die ihr als äußerster Teil angehört. Eine offene Kugel hat in diesem Sinne keine dünne Grenze. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwar jeder beschränkte ausgedehnte Gegenstand dicke äußerste Teile hat (und zwar solche, die man ohne Schwierigkeiten als dessen dicke Grenzen ansehen kann), dass aber nicht jeder beschränkte ausgedehnte Gegenstand auch dünne äußerste Teile haben muss. Vertritt man also eine Theorie der dicken Grenzen, dann hat jeder beschränkte ausgedehnte Gegenstand äußerste Teile, die man als dessen Grenzen ansehen kann. Vertritt man dagegen eine Theorie der dünnen Grenzen, dann sind auch beschränkte ausgedehnte Gegenstände möglich, die überhaupt keine als Grenzen interpretierbare äußerste Teile haben.

3.3 Wie verhält sich die These zu den Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen? Nachdem in den voranstehenden Abschnitten die These, dass Grenzen äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind, etwas detaillierter ausgefaltet wurde, soll nun diese These auf ihre Plausibilität hin untersucht werden. Dabei spielen insbesondere die Ergebnisse der Untersuchung zum allgemeinen Begriff der Grenze, die zu Beginn dieser Arbeit angestellt wurde, eine wesentliche Rolle. Dort wurden aus den beiden Bedeutungen des Wortes „Grenze“ als „etwas, das zwei benachbarte ausgedehnte Dinge voneinander trennt“ und als „äußerstes Ende bzw. Abschluss eines Ausgedehnten“ die folgenden vier Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen herausgearbeitet: Abhängigkeit: Eine Grenze ist stets von mindestens einem ausgedehnten Gegenstand abhängig. Trennung: Eine Grenze trennt zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander. Verbindung: Eine Grenze verbindet zwei ausgedehnte Gegenstände (bzw. zwei ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes) miteinander. Ende: Eine Grenze ist das Ende oder der Abschluss eines ausgedehnten Gegenstandes.

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Wie verhält sich nun die These, dass Grenzen äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind, zu diesen vier Grundintuitionen? Der Intuition Abhängigkeit wird die These vollkommen gerecht, denn eine Grenze, die äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes ist, ist jedenfalls ontologisch abhängig von dem ausgedehnten Gegenstand, dessen Teil sie ist. Zu beachten ist, dass diese Abhängigkeit eine bloß generische7 ist: Die Grenze könnte auch äußerster Teil eines anderen Gegenstandes sein. Sie wäre dann dessen Grenze und von diesem Gegenstand abhängig. Wichtig ist jedenfalls, festzustellen, dass es keinen äußersten Teil geben kann, ohne dass nicht auch ein ausgedehnter Gegenstand existiert, dessen äußerster Teil dieser ist. In diesem Sinn kann es also keine Grenze geben ohne einen ausgedehnten Gegenstand, dessen Grenze sie ist. Auch der Intuition Ende wird die These offensichtlich gerecht. Als äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes ist die Grenze derjenige Teil des Gegenstandes, in dem der Gegenstand endet. Es gibt keinen Teil des ausgedehnten Gegenstandes, der sich noch über diesen äußersten Teil hinaus erstreckt. Die Grenze ist ein Ende des Gegenstandes. Problematisch scheinen allerdings bereits auf den ersten Blick die beiden übrigen Intuitionen Trennung und Verbindung zu sein. Es ist in der Formulierung der These nämlich nur ein Gegenstand erwähnt, nämlich der, dessen Teil die Grenze ist, und es ist unklar, von welchem zweiten Gegenstand die Grenze diesen trennen könnte bzw. mit welchem zweiten Gegenstand die Grenze diesen verbinden könnte. Diese beiden Grundintuitionen, die aus der Hauptbedeutung des Wortes „Grenze“ als „etwas, das zwei benachbarte ausgedehnte Dinge voneinander trennt“ folgen, wurden offensichtlich bei der Aufstellung der These nicht berücksichtigt. Stattdessen wurde nur die Nebenbedeutung von „Grenze“ als „äußerstes Ende bzw. Abschluss eines Ausgedehnten“ berücksichtigt. Die These scheint also eher auf abschließende Grenzen von ausgedehnten Gegen-

|| 7 Zum Begriff der generischen Abhängigkeit vgl. Simons 1987, S. 297. Zu räumlichen Grenzen als abhängige Entitäten vgl. Chisholm 1983, S. 87. Chisholm verwendet in seinem Artikel das Wort „Teil“ in einer leicht abweichenden Bedeutung: Er unterscheidet zwischen Teilen und Konstituenten. Teile sind stets auch Konstituenten, aber nicht jeder Konstituent ist ein Teil. Grenzen sind für Chisholm zwar keine Teile, aber dennoch Konstituenten von Dingen („particulars“): „[W]e say that things may have two types of constituent – parts and boundaries. And we will say that a part of a thing is a constituent which is not a boundary.“ (ebd., S. 88). Chisholm definiert Grenzen als abhängige Entitäten, d. h. Entitäten, die notwendigerweise Konstituenten von etwas anderem sind und deren Konstituenten ebenfalls alle notwendigerweise Konstituenten von etwas anderem sind (vgl. ebd., S. 90). Zu Chisholms Theorie der Grenzen als abhängige Entitäten vgl. auch Runggaldier / Kanzian 1998, S. 38ff.

Wie verhält sich die These zu den Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen? | 47

ständen bezogen zu sein, und weniger auf trennende bzw. verbindende Grenzen zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass die zu prüfende These nicht doch mit den Intuitionen Trennung und Verbindung verträglich ist. Können abschließende Grenzen, die äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind, zugleich auch trennende und verbindende Grenzen sein? Um dies zu klären, ist es nötig, eine Situation zu betrachten, in der nicht nur ein ausgedehnter Gegenstand und seine abschließende Grenze vorkommen. Vielmehr sollten in der zu betrachtenden Situation zwei direkt benachbarte ausgedehnte Gegenstände sowie die Grenze zwischen ihnen vorkommen. Eine solche Situation tritt z. B. ein, wenn zwei ausgedehnte materielle Gegenstände einander berühren bzw. miteinander in Kontakt stehen, so dass es eine Grenze zwischen ihnen gibt. Man kann sich etwa zwei Billardkugeln vorstellen, die aneinanderstoßen. Oder eine Kugel, die auf einem ebenen Untergrund liegt. Oder ein Buch, das auf einer Tischplatte liegt. Weitere Beispiele ergeben sich, wenn man die Umgebung eines ausgedehnten Gegenstandes selbst wieder als ausgedehnten Gegenstand interpretiert. Man betrachte etwa die Grenze zwischen einem Apfel und seiner Umgebung (z. B. der Luft, die den Apfel umgibt, wenn er am Baum hängt). Außerdem kann man, wenn man die ausgedehnten Teile eines ausgedehnten Gegenstandes selbst als ausgedehnte Gegenstände interpretiert, auch noch eine dritte Art von Beispielen für die fragliche Situation angeben: Etwa die Grenze zwischen dem Fruchtfleisch des Apfels und seinem Kerngehäuse, oder die Grenze zwischen den beiden Hälften des Apfels bevor dieser durch einen Schnitt halbiert wird. Es gibt also insgesamt drei verallgemeinerte Situationen, deren Betrachtung hier relevant ist: a) zwei ausgedehnte Gegenstände, die einander berühren, b) ein ausgedehnter Gegenstand und seine Umgebung, c) zwei direkt benachbarte ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes. Für alle drei Fälle ist es eine naheliegende allgemeine Beschreibung, jeweils von einer „Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen“ (bzw. spezieller von einer „Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung“ oder einer „Grenze zwischen zwei ausgedehnten Teilen eines Gegenstandes“) zu sprechen. Diese Grenze trennt die beiden Gegenstände (bzw. den Gegenstand und seine Umgebung oder die beiden Teile) voneinander und ver-

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bindet sie zugleich miteinander.8 Außer der Grenze befindet sich nichts Weiteres zwischen den beiden Gegenständen. Es fragt sich nun, ob eine solche Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen im Sinne der Grundthese als Teil eines ausgedehnten Gegenstandes interpretiert werden kann, und wenn ja, ob sie den vier Grundintuitionen und den drei gerade genannten Situationen gerecht wird. Dies wird in den folgenden Abschnitten untersucht.

3.4 Das Problem der Zugehörigkeit: Vier Optionen Kann man den Ausdruck „die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen“ so interpretieren, dass dabei der These, dass eine Grenze ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes ist, nicht widersprochen wird? Es bieten sich dafür vier Optionen an: Option 1: Die Grenze als gemeinsamer Teil. Die Grenze zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen ist sowohl äußerster Teil des einen als auch äußerster Teil des anderen Gegenstandes. Die beiden Gegenstände haben also einen gemeinsamen Teil. Dieser gemeinsame Teil ist nicht nur die Grenze zwischen den beiden Gegenständen, sondern zugleich auch abschließende Grenze des einen sowie abschließende Grenze des anderen Gegenstandes. Option 2: Die Grenze als Teil nur eines Gegenstandes. Die Grenze zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen gehört nur einem der beiden Gegenstände als Teil an, und zwar als dessen äußerster Teil. Sie ist nicht Teil des anderen Gegenstandes. Die Grenze zwischen den beiden Gegenständen ist also zugleich abschließende Grenze des einen Gegenstandes, aber nicht zugleich auch abschließende Grenze des anderen Gegenstandes. Der andere Gegenstand hat an der Berührstelle keine ihm als äußerster Teil angehörende abschließende Grenze. Option 3: Die neutrale Grenze. Die Grenze zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen gehört weder dem einen noch dem anderen Gegenstand als Teil an. Keiner der beiden Gegenstände hat eine ihm als äußerster Teil angehörende abschließende Grenze an der Berührstelle. Die Grenze ist jedoch in Bezug auf die beiden ausgedehnten Gegenstände so angeordnet, dass sie für jeden der

|| 8 Die oben verwendeten Ausdrücke „direkt benachbart sein“, „in Kontakt stehen“ und „berühren“ werden also alle in dieser Weise interpretiert: Es gibt zwei ausgedehnte Gegenstände, die durch eine zwischen ihnen liegende Grenze zugleich voneinander getrennt und miteinander verbunden sind.

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beiden ausgedehnten Gegenstände die Stelle eines äußersten Teiles einnimmt, ohne tatsächlich ein solcher äußerster Teil zu sein. Option 4: Zwei koinzidierende Grenzen. Es gibt in Wirklichkeit nicht nur eine Grenze zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen. Was als Grenze zwischen den beiden Gegenständen angesehen wird, sind eigentlich zwei Grenzen. Statt der einen Grenze zwischen den beiden Gegenständen gibt es tatsächlich zwei abschließende Grenzen: eine abschließende Grenze des einen Gegenstandes und eine abschließende Grenze des anderen Gegenstandes. Jede dieser beiden Grenzen ist äußerster Teil jeweils eines der beiden Gegenstände. Diese beiden äußersten Teile der beiden Gegenstände überlagern sich gegenseitig vollständig, sie koinzidieren. Die ersten drei Optionen ergeben sich aus der Überlegung, dass, wenn die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen selbst als ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes interpretiert werden soll, der Gegenstand, dessen äußerster Teil sie sein soll, bestimmt werden muss. Die Grenze könnte entweder beiden Gegenständen zugleich (Option 1) oder nur einem der beiden Gegenstände (Option 2) oder keinem der beiden Gegenstände als äußerster Teil angehören (Option 3). Bei Option 3 stellt sich dann natürlich die weitergehende Frage nach einem dritten Gegenstand, dem die Grenze als äußerster Teil angehört. Option 4 ergibt sich aus der weiteren Überlegung, dass eine „Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen“ nicht als eine eigene Entität existieren muss, sondern dass stattdessen dieser Ausdruck auf den Sachverhalt verweisen könnte, dass zwei abschließende Grenzen der beiden Gegenstände koinzidieren. Jede dieser beiden Grenzen wäre dann ein äußerster Teil desjenigen Gegenstandes, dessen abschließende Grenze sie ist.

3.4.1 Sind die vier Optionen vollständig? Die vier Optionen sind in dem Sinne vollständig, dass es sich dabei um die einzig sinnvollen vier möglichen Antworten auf die Frage handelt, welchem der beiden Gegenstände die Grenze als ein äußerster Teil zugehörig ist: beiden zugleich (Option 1), nur einem von beiden (Option 2), keinem von beiden (Option 3), jedem von beiden (da es eigentlich zwei Grenzen sind) (Option 4). Die Optionen 1, 2 und 3 stellen unter der Voraussetzung, dass es nur eine Grenze gibt, die den beiden Gegenständen auf irgendeine Weise zuzuordnen ist, alle möglichen Antworten dar. Option 4 ergänzt diese drei möglichen Antworten durch eine vierte Möglichkeit, nach der das Zuordnungsproblem in der Weise gelöst wird, dass dieses erst gar nicht auftritt: Es gibt hier nämlich eigentlich zwei Grenzen

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für zwei Gegenstände, und daher hat auch jeder der beiden Gegenstände eine eigene Grenze. Bei Option 4 kann man aber berechtigterweise danach fragen, ob die beiden Grenzen notwendigerweise koinzidieren müssen, oder ob sie auch in einem anderen Verhältnis zueinander stehen können. In diesem Fall würden sich entsprechend weitere Optionen ergeben. Um diese Frage zu klären, sind wieder dünne und dicke Grenzen getrennt zu betrachten. Für dünne Grenzen ist tatsächlich die Koinzidenz der beiden Grenzen die einzig sinnvolle Möglichkeit. Denn würden die Grenzen nicht koinzidieren, dann gäbe es eine ausgedehnte „Lücke“ zwischen ihnen, und die beiden Gegenstände würden einander nicht berühren. Es tritt also in diesem Fall gar keine der oben genannten drei Situationen ein, bei denen man berechtigterweise von einer „Grenze zwischen zwei Gegenständen“ reden kann. Es lässt sich auch kaum rechtfertigen, zwei abschließende Grenzen zweier Gegenstände, die eine ausgedehnte „Lücke“ zwischen sich haben, gemeinsam als „eine Grenze zwischen zwei Gegenständen“ zu bezeichnen. Für dünne Grenzen bleibt es daher bei den vier Optionen. Für dicke Grenzen scheint es aber zunächst durchaus auch noch weitere Möglichkeiten zu geben: Die beiden dicken Grenzen könnten (i) nur teilweise koinzidieren (d. h. die beiden dicken Grenzen überlagern sich nur teilweise gegenseitig, d. h. ein dicker äußerster Teil der einen Grenze koinzidiert mit einem dicken äußersten Teil der anderen Grenze), (ii) einen dicken Teil gemeinsam haben, (iii) direkt benachbart sein, ohne dass sie im Sinne von (i) teilweise koinzidieren oder im Sinne von (ii) einen dicken Teil gemeinsam haben. Sieht man sich diese drei Möglichkeiten aber genauer an, dann zeigt sich, dass es sich dabei durchweg um Varianten der vier oben beschriebenen Optionen handelt: Wenn zwei dicke Grenzen im Sinne von (i) teilweise koinzidieren, dann gibt es für jede der beiden Grenzen jeweils einen dicken äußersten Teil, der vollständig mit einem dicken äußersten Teil der jeweils anderen Grenze koinzidiert. Diese äußersten Teile der Grenzen sind aber auch äußerste Teile der jeweiligen Gegenstände (vgl. Abschnitt 3.2) und können genauso auch als dicke abschließende Grenzen der beiden Gegenstände gelten. Diese beiden dicken Grenzen koinzidieren vollständig im Sinne von Option 4. Haben die beiden dicken Grenzen einen dicken Teil gemeinsam (Möglichkeit (ii)), dann ist dieser gemeinsame Teil ebenfalls jeweils ein dicker äußerster Teil für jede der beiden Grenzen. Er ist aber auch ein dicker äußerster Teil für

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jeden der beiden Gegenstände und kann daher auch als dicke abschließende Grenze für jeden der beiden Gegenstände gelten. Die beiden Gegenstände haben demnach eine dicke Grenze als gemeinsamen Teil, wie in Option 1 beschrieben. Sind die beiden dicken Grenzen schließlich direkt benachbart im Sinne von (iii), dann sind somit zwei dicke äußerste Teile der jeweiligen Gegenstände direkt benachbart. Genau dies tritt aber auch bei Option 2 ein, mit dem einzigen Unterschied, dass dort einer der beiden dicken äußersten Teile nicht als „Grenze“ bezeichnet wird. Es kann nämlich, wie bereits in Abschnitt 3.2 festgestellt wurde, keinen ausgedehnten Gegenstand ohne einen dicken äußersten Teil geben. Dies gilt auch für den Gegenstand, der gemäß Option 2 an der Berührstelle keine Grenze als äußersten Teil hat. Es gibt dort zwar keine dicke Grenze, aber zumindest einen dicken äußersten Teil, den man ohne Probleme als dicke abschließende Grenze des Gegenstandes bezeichnen könnte. Aber selbst, wenn man diese Bezeichnung nicht wählt, steht fest, dass die Anordnung der Teile der beiden Gegenstände bei (iii) und bei Option 2 identisch ist. Insofern kann man (iii) auch als Variante von Option 2 ansehen. Die Möglichkeit (iii) kann aber auch noch in einem anderen Sinn auf die vier Optionen zurückgeführt werden: Sind nämlich zwei dicke Grenzen „direkt benachbart“, dann könnte man fragen, was genau mit diesem Ausdruck gemeint ist. Um dies zu beantworten, ist zu bemerken, dass es sich bei den beiden dicken Grenzen selbst wieder um ausgedehnte Gegenstände von derselben Dimension, wie die Gegenstände, deren Grenzen sie sind, handelt. Hier sind also wiederum zwei ausgedehnte Gegenstände direkt benachbart. Die Ausgangssituation reproduziert sich also in Bezug auf die dicken Grenzen. Als Lösung bieten sich wieder die vier Optionen an. Es gibt also auch für dicke Grenzen über die genannten vier Optionen hinaus keine weitere Option als sinnvolle Antwort auf die Frage nach der Zugehörigkeit einer Grenze zwischen zwei Gegenständen.

3.4.2 Die vier Optionen in Bezug auf dicke Grenzen Betrachtet man die vier Optionen in Bezug auf dicke Grenzen, dann stellt sich sehr bald heraus, dass alle vier mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sind und sich nicht konsequent durchhalten lassen. Wird Option 1 in Bezug auf dicke Grenzen formuliert, dann wird behauptet, dass die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen ein beiden Gegenständen gemeinsamer, dicker Teil ist. Diese Grenze steht nun aber auf beiden Seiten jeweils mit weiteren dicken Teilen in Kontakt, die keine gemeinsamen Teile der beiden Gegenstände sind,

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sondern jeweils nur einem der beiden Gegenstände angehören. Wie ist aber ein solcher Kontakt möglich? Sowohl die Grenze selbst als auch die weiteren beteiligten Teile sind als dicke Teile ebenfalls wieder ausgedehnte Gegenstände derselben Dimension, und da sie miteinander in Kontakt stehen, gibt es auch eine Grenze zwischen ihnen. Allerdings darf diese Grenze kein gemeinsamer Teil mehr sein, da es sonst einen Teil gäbe, der sowohl beiden Gegenständen gemeinsam wäre, als auch ausschließlich zu einem der beiden Gegenstände gehören würde. Man darf also für diese Grenze nicht wiederum Option 1 wählen, da sich sonst ein Widerspruch ergeben würde. Option 1 kann also in Bezug auf dicke Grenzen nicht konsequent durchgehalten werden. Man muss für die sich ergebenden weiteren Grenzen entweder eine andere Option wählen, oder gleich von Anfang an von dünnen Grenzen ausgehen. Bei Option 2, verstanden in Bezug auf dicke Grenzen, wird behauptet, dass die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen ein dicker äußerster Teil des einen der beiden Gegenstände ist. Der zweite Gegenstand steht mit dem ersten Gegenstand in Kontakt, und zwar indem er mit der Grenze in Kontakt steht. Als dicker Teil ist nun aber die Grenze selbst ebenfalls ein ausgedehnter Gegenstand. Da der zweite Gegenstand mit der Grenze in Kontakt steht, stellt sich hier die Frage nach einer weiteren Grenze, und zwar zwischen der Grenze und dem zweiten Gegenstand. Wählt man hier wieder Option 2, dann gerät man in einen Regress. Dieser lässt sich nur stoppen, wenn man eine andere Option wählt oder zu dünnen Grenzen übergeht. Option 3 führt in Bezug auf dicke Grenzen entgegen der Annahme dazu, dass sich die beiden ausgedehnten Gegenstände überhaupt nicht berühren, denn es liegt eine dicke Grenze als neutraler ausgedehnter Gegenstand zwischen ihnen. Zudem stellt sich auch hier das Problem, wie denn die neutrale, dicke Grenze mit den beiden Gegenständen in Kontakt stehen soll. Hier reproduziert sich das Ausgangsproblem noch einmal und es ergibt sich, ähnlich wie bei Option 2, ein Regress. Gestoppt wird der Regress nur, wenn man irgendwann eine andere Option wählt oder zu dünnen Grenzen übergeht. Bei Option 4 wird mit Bezug auf dicke Grenzen behauptet, dass sich zwei Gegenstände, die sich berühren, auch bereits durchdringen, und zwar in der Weise, dass zwei dicke äußerste Teile der beiden Gegenstände koinzidieren. Für materielle Gegenstände ist das aber schon von vornherein sehr wenig plausibel, zumindest dann, wenn man von der Undurchdringlichkeit der Materie ausgeht. Aber auch, wenn man ein gegenseitiges Durchdringen ausgedehnter Gegenstände zulässt, zeigen sich erhebliche Schwierigkeiten: Das In-KontaktKommen zweier ausgedehnter Gegenstände müsste dann beispielsweise stets plötzlich und sprungartig vor sich gehen, denn entweder sind die beiden Ge-

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genstände noch gar nicht in Kontakt und es gibt einen ausgedehnten Gegenstand bzw. einen ausgedehnten, leeren Teil des Raumes zwischen ihnen, oder sie überlagern sich gegenseitig in der Weise, dass zwei dicke äußerste Teile koinzidieren. Der Zwischenzustand, in dem die beiden Gegenstände einander berühren und dennoch nicht durchdringen, ist nicht möglich. Nähern sich also zwei Gegenstände auf einem Kollisionskurs einander an, dann müsste zumindest einer von ihnen im Moment ihres Kontaktes einen räumlichen Sprung machen. Da darüber hinaus auch nicht festgelegt ist, wie groß die koinzidierenden Teile sind, ist zudem unklar, wie tief die Durchdringung gehen kann. Prinzipiell scheint es hier keinen Halt zu geben. Gegenstände auf Kollisionskurs könnten sich daher im Prinzip auch vollständig durchdringen, anstatt irgendwann zum Stehen zu kommen. Geht die Durchdringung zweier Gegenstände allerdings sehr weit (relativ zur Gesamtgröße der beteiligten Gegenstände), dann fragt es sich, ob in einem solchen Fall überhaupt noch angemessen von einer Grenze zwischen zwei Gegenständen gesprochen werden kann. Insgesamt zeigt sich also, dass unter der Voraussatzung dicker Grenzen bei den Optionen 1, 2 und 3 die Frage nach der Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen strenggenommen gar nicht beantwortet wird, da das Problem bei diesen drei Optionen nur reproduziert wird. Auch bei Option 4 ist mit Bezug auf dicke Grenzen die vorgeschlagene Lösung mit enormen Schwierigkeiten verbunden und letztlich nicht plausibel. Die These, dass Grenzen dicke äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind, ist also mit Blick auf die Beschreibung einer Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen abzulehnen.9 Bei der weiteren Untersuchung der vier Optionen wird daher im Folgenden die These vorausgesetzt, dass Grenzen dünne äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind.

3.4.3 Drei Probleme Es ist klar ersichtlich, dass sich die vier Optionen wechselseitig ausschließen: Man kann nicht ein und dieselbe Grenze durch zwei oder mehr der vier Optionen zugleich interpretieren. Nimmt man also die Charakterisierung von Grenzen als äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände ernst, dann ergibt sich die Not-

|| 9 Bereits an anderer Stelle habe ich dafür argumentiert, dass die Grenzen materieller Gegenstände als dünne Grenzen anzusehen sind (vgl. Kraus 2012). Auch Reinhard Kleinknecht kommt in seiner „Mereotopologie“ zu dem Schluss, dass Grenzen, welche Teile des von ihnen Begrenzten sind, dünne Grenzen sein müssen (vgl. Kleinknecht 1992, S. 47).

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wendigkeit, sich für eine der vier Optionen zu entscheiden. Da sich die vier Optionen im Wesentlichen dadurch unterscheiden, welchem Gegenstand die Grenze jeweils als Teil zugeordnet wird, wird dieses Entscheidungsproblem auch das Problem der Zugehörigkeit der Grenze genannt.10 Im Folgenden sollen die vier Optionen in Bezug auf dünne Grenzen näher erläutert werden und ihre jeweiligen spezifischen Vorteile und Probleme herausgestellt werden. Dabei wird geprüft, wie gut die entsprechende Option den vier Grundintuitionen Abhängigkeit, Trennung, Verbindung und Ende jeweils gerecht wird und inwiefern durch sie die drei oben angeführten typischen Situationen ((a) zwei sich berührende ausgedehnte Gegenstände, (b) ein ausgedehnter Gegenstand und seine Umgebung und (c) zwei benachbarte ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes) angemessen beschrieben werden können. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Überlegungen, ob und wie die beiden Vorgänge der Spaltung eines ausgedehnten Gegenstandes und des In-KontaktKommens zweier ausgedehnter Gegenstände durch die jeweilige Option verstehbar werden. Diese beiden Erklärungsprobleme werden Problem der Spaltung und Problem des Kontaktes genannt.11 Es handelt sich dabei jeweils um einen Wechsel von einer der drei gerade genannten typischen Situationen zu einer anderen der drei Situationen: Beim Problem der Spaltung findet ein Wechsel von Situation (c) zu Situation (b) statt, beim Problem des Kontaktes ein Wechsel von Situation (b) zu Situation (a). Wird die These vertreten, dass Grenzen äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind, dann müssen auch diese Ereignisse plausibel beschrieben werden. Keines der drei genannten und miteinander zusammenhängenden Probleme (Problem der Zugehörigkeit, Problem des Kontaktes und Problem der Spaltung) kann ignoriert werden. Ob es plausible Lö|| 10 Zum Problem der Zugehörigkeit der Grenze vgl. Varzi 2013, Abschnitt 1.1. Die vier Optionen werden von Varzi unter Abschnitt 2.1 erwähnt. Varzi zählt dabei auch diverse Autoren auf, die die jeweilige Option beschrieben bzw. selbst vertreten haben. Eine Untersuchung ausgewählter historischer und moderner Ausformulierungen der vier Optionen ist Inhalt der folgenden beiden Teile der vorliegenden Arbeit. 11 Zum Problem des Kontaktes in Bezug auf materielle Gegenstände vgl. Kline und Matheson 1987. Das Problem des Kontaktes wird auch von Zimmerman explizit erwähnt und in seinen historisch-systematischen Kontext eingeordnet (vgl. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 8ff und Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 156). Auf das Problem der Spaltung geht Zimmerman ebenfalls ein, allerdings nur im Zusammenhang mit der Ontologie der Grenzen nach Suárez (vgl. ebd., S. 24 bzw. S. 159). Etwas speziellere Versionen der Probleme der Zugehörigkeit, des Kontaktes und der Spaltung werden auch von Daisuke Kachi als Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit der von Casati und Varzi vorgeschlagenen Theorie (Casati und Varzi 1999) gewählt. Er nennt die drei Probleme „Puzzle of Inner Boundary“, „Puzzle of Collision“ und „Puzzle of Fission“ (Kachi 2009, S. 87).

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sungen zu diesen drei Problemen gibt, soll im Folgenden für jede der vier Optionen im Einzelnen untersucht werden.

3.5 Option 1: Die Grenze als gemeinsamer Teil Gemäß Option 1 ist die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen ein dünner, gemeinsamer Teil dieser beiden Gegenstände. Dieser gemeinsame Teil ist zugleich sowohl äußerster Teil des einen als auch äußerster Teil des anderen Gegenstandes. Die gemeinsame Grenze ist auch abschließende Grenze des einen sowie abschließende Grenze des anderen Gegenstandes. Es wird hier eine klare Antwort auf das Problem der Zugehörigkeit gegeben: die Grenze gehört beiden Gegenständen zugleich als gemeinsamer Teil an. Wird Option 1 aber auch allen vier Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen gerecht und werden dadurch die drei Situationen angemessen beschrieben? Bietet diese Option plausible Lösungen für die Probleme der Spaltung und des Kontaktes?

3.5.1 Option 1 und die vier Grundintuitionen Da die Grenze gemäß Option 1 ein äußerster Teil sowohl des einen als auch des anderen der beiden Gegenstände ist, kann es eine solche Grenze nur geben, wenn es auch die beiden Gegenstände gibt, deren gemeinsamer Teil sie ist. Die Grenze ist also von etwas anderem abhängig. Somit wird Option 1 der Intuition Abhängigkeit vollkommen gerecht. Da die Grenze ein gemeinsamer Teil der beiden Gegenstände ist, ist es offensichtlich, dass die beiden Gegenstände durch die Grenze miteinander verbunden sind. Der Intuition Verbindung wird Option 1 also ebenfalls gerecht, und dies in besonders deutlicher Weise. Die Grenze ist aber nicht nur gemeinsamer Teil der beiden Gegenstände, sondern auch ein äußerster Teil für jeweils einen der beiden Gegenstände. Jeder der beiden Gegenstände endet in diesem äußersten Teil. Option 1 wird also auch der Intuition Ende gerecht. Problematisch ist die Intuition Trennung. Liegen überhaupt zwei getrennte Gegenstände vor, wenn diese einen gemeinsamen Teil haben? Kann eine Trennung vermittelst eines gemeinsamen Teils erfolgen? Dies erscheint höchst fraglich. Dem üblichen Verständnis nach sind jedenfalls zwei Gegenstände gerade dann nicht voneinander getrennt, wenn sie einen gemeinsamen Teil haben. Der Intuition Trennung wird Option 1 also nicht gerecht.

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3.5.2 Option 1 und die drei Situationen Wenn zwei Gegenstände einander berühren, dann haben sie eine gemeinsame Grenze. Ist diese Grenze aber auch schon ein gemeinsamer Teil der beiden Gegenstände, wie es bei Beschreibung von Situation (a) durch Option 1 behauptet werden muss? Sind zwei sich berührende Gegenstände wirklich schon so sehr „zusammengewachsen“, dass sie einen gemeinsamen Teil haben? Das ist wohl stark übertrieben. In diesem Fall handelt es sich eher um zwei Teile eines einzigen Gegenstandes, als um zwei sich berührende Gegenstände. Weitere Probleme ergeben sich insbesondere dann, wenn es sich bei den beiden ausgedehnten Gegenständen um zwei materielle Gegenstände unterschiedlicher Art oder von unterschiedlichem Material handelt. Besteht beispielsweise einer der Gegenstände vollständig aus Holz und der andere vollständig aus Eisen, dann bestehen offensichtlich auch alle ihre Teile aus dem jeweiligen Material. Die Grenze als beiden Gegenständen gemeinsamer Teil müsste dann aber sowohl aus dem einen als auch aus dem anderen Material bestehen. Sie wäre im wahrsten Sinne ein „hölzernes Eisen“. Eine Beschreibung der Grenze durch Option 1 führt in einem solchen Fall also auf einen offenen Widerspruch. Aber auch in den Fällen, in denen zwei ausgedehnte Gegenstände gleichen Materials vorliegen oder die beiden ausgedehnten Gegenstände immateriell sind, ist Option 1 wegen der zu engen Verbindung der beiden Gegenstände wenig geeignet zur Beschreibung von Situation (a). Ist die Grenze zwischen einem Gegenstand und seiner Umgebung ein gemeinsamer Teil des Gegenstandes und seiner Umgebung? Üblicherweise neigt man dazu, Teile entweder dem Gegenstand oder seiner Umgebung zuzuordnen. Ein Gegenstand und seine Umgebung verhalten sich in diesem Sinne komplementär zueinander. Was der Umgebung als Teil angehört, gehört per definitionem gerade nicht dem Gegenstand als Teil an. Solange man den Ausdruck „Umgebung“ so definiert, kann es also gar keinen gemeinsamen Teil von Gegenstand und Umgebung geben. Denkt man an materielle Gegenstände, dann ergibt sich zudem die gleiche Widerspruchsproblematik wie bei Situation (a): Besteht die gemeinsame Grenze zwischen Apfel und umgebender Luft aus organischer Materie oder aus Luft? Noch klarer fällt der Widerspruch ins Auge, wenn es sich um einen Festkörper im Vakuum handelt: Die Grenze zwischen dem Festkörper und dem umgebenden leeren Raum wäre ein dünner Teil des Raumes, der sowohl leer als auch mit Materie erfüllt sein müsste. Option 1 ist aus diesen Gründen völlig unangemessen zur Beschreibung von Situation (b). Am besten passt Option 1 zu Situation (c). In Bezug auf zwei einander benachbarte Teile eines Gegenstandes überwiegt eindeutig die Intuition, dass

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diese beiden Teile miteinander verbunden sind. Es erscheint daher zunächst auch nicht unpassend zu behaupten, dass die beiden Teile des Gegenstandes durch einen ihnen gemeinsamen Teil miteinander verbunden sind. Da die Teile im Fall von materiellen Gegenständen auch aus dem gleichen Material bestehen, besteht hier auch kein Widerspruch, wenn man die Grenze als gemeinsamen dünnen Teil ansieht. Allerdings ist zu beachten, dass damit streng genommen die oben angenommene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände nicht mehr zutrifft. Sind nämlich sämtliche ausgedehnte Teile dadurch miteinander verbunden, dass sie mit den jeweils direkt benachbarten Teilen jeweils einen dünnen Teil gemeinsam haben, dann kann es keine Partition dieses Gegenstandes in ausgedehnte Teile geben. Es ist dann nicht möglich, dass es eine Klasse einander paarweise disjunkter, ausgedehnter (dicker) Teile gibt, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen. Man muss also, um Option 1 auf Situation (c) anwenden zu können, die Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände in der Weise abschwächen, dass die genannten Teile nicht mehr disjunkt sein müssen, sondern sich überlappen können, wobei die Überlappungen jeweils höchstens in einem dünnen Teil stattfinden dürfen.

3.5.3 Option 1 und das Problem der Spaltung Das Problem der Spaltung betrifft den Übergang von Situation (c) zu Situation (b). Trotz der gerade geschilderten Schwierigkeiten in Bezug auf Situation (c), soll als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen eine Grenze gemäß Option 1 zwischen zwei benachbarten ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes angenommen werden, also eine Grenze, die ein den beiden benachbarten ausgedehnten Teilen gemeinsamer dünner Teil ist. Für Situation (b) ist Option 1, wie bereits gesehen, völlig unangemessen. Es bleibt daher zunächst offen, wie die Grenzen zwischen den nach der Spaltung vorliegenden Gegenständen und deren jeweiliger Umgebung korrekt beschrieben werden können. Wird ein ausgedehnter Gegenstand gespalten, dann liegen nach der Spaltung zwei ausgedehnte Gegenstände separat voneinander vor, d. h. die beiden Produkte der Spaltung sind so weit auseinander getreten, dass sie einander nicht mehr berühren. Den beiden Produkten der Spaltung entsprechen vor der Spaltung zwei zusammenhängende Teile des ursprünglichen, nicht gespaltenen Gegenstandes. Was geschieht bei der Spaltung mit der (als gemeinsamer Teil verstandenen) Grenze zwischen diesen beiden Teilen? Da dieser gemeinsame

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Teil der beiden Teile des Gegenstandes nicht einfach „verschwinden“ kann,12 gibt es nur diese drei Möglichkeiten: (i) Die vormals gemeinsame Grenze bleibt an genau einem der beiden Produkte der Spaltung haften. (ii) Die vormals gemeinsame Grenze wird auf die beiden Produkte der Spaltung aufgeteilt. (iii) Die vormals gemeinsame Grenze existiert von den beiden Produkten der Spaltung abgetrennt und separat als ein drittes Produkt der Spaltung weiter. Möglichkeit (iii) impliziert die wenig plausible Behauptung, dass jede Spaltung immer drei Produkte hervorbringt und dass keine Spaltung eines Gegenstandes in zwei Spaltprodukte möglich ist. Da von dünnen Grenzen ausgegangen wird, würde hier zudem eine eigenständige, abgetrennte Existenz eines vormaligen dünnen Teils eines Gegenstandes behauptet werden, was aber insbesondere im Fall von materiellen, dreidimensionalen Gegenständen nur schwer vorstellbar ist. Die Aufteilung der Grenze bei Möglichkeit (ii) kann, da es um dünne Grenzen geht, nur so verstanden werden, dass einige Teile der Grenze an dem einen Produkt der Spaltung haften bleiben, während andere am anderen Produkt der Spaltung verbleiben, und zwar in der Weise, dass dort, wo das eine Spaltprodukt einen Teil der Grenze behält, das andere keinen dünnen äußersten Teil hat, und umgekehrt. Eine Aufteilung in dem Sinne, dass beiden Produkten der Spaltung jeweils ein äußerster Teil verbleibt, der sich über die gesamte ehemalige Kontaktstelle erstreckt, ist dagegen bei dünnen Grenzen nicht möglich. Damit ist aber Möglichkeit (ii) eigentlich ein verallgemeinerter Fall von Möglichkeit (i): Lokal gesehen (d. h. auf die einzelnen Teile der Grenze bezogen, die alle auch selbst wieder Grenzen des Gegenstandes sind) verbleibt die vormals gemeinsame Grenze ganz an einem der beiden Produkte der Spaltung als dessen äußerster Teil und abschließende Grenze. Das andere Produkt der Spaltung hat an der ehemaligen Berührstelle keinen äußersten Teil. Da Möglichkeit (iii) sehr wenig plausibel ist und Möglichkeit (ii) sich auf Möglichkeit (i) zurückführen lässt, genügt es, nur Möglichkeit (i) näher zu betrachten. Zumindest lokal tritt nur dieser Fall auf. Es ist somit klar, dass eine

|| 12 Ein plötzliches und nicht weiter begründetes Entstehen oder Vergehen von Teilen ausgedehnter Gegenstände soll hier und in den folgenden Abschnitten nicht in Betracht gezogen werden. Ist man zur Aufrechterhaltung eines Lösungsvorschlages darauf angewiesen, so etwas ad hoc anzunehmen, dann spricht das eindeutig gegen diesen Lösungsvorschlag.

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Spaltung gemäß Option 1 immer ein (zumindest lokal) asymmetrisches Resultat hat: Ein vormals beiden Gegenständen gemeinsamer Teil verbleibt eben nur bei einem der beiden Produkte der Spaltung. Diese Asymmetrie hat einige problematische Konsequenzen. So bleibt zum Beispiel fraglich, wieso der vormals gemeinsame Teil an genau diesem und nicht an dem anderen Produkt der Spaltung haften bleibt. Für das andere Produkt der Spaltung ergeben sich zudem weitere Schwierigkeiten: Nennt man die beiden Teile vor der Spaltung des Gegenstandes A und B und die beiden daraus resultierenden Produkte der Spaltung A‘ und B‘, dann haben zwar A und A‘ dieselben Teile, aber B‘ fehlt ein Teil, den B vor der Spaltung noch hatte. Es ist allerdings wenig plausibel, dass bei einer Spaltung ein Teil „verlorengeht“.13 Da dünne Grenzen vorausgesetzt werden, könnte man hier zwar noch sagen, dass der Verlust eines dünnen äußersten Teiles unwesentlich ist, da B‘ ja immer noch genauso groß ist wie B – der dünne äußerste Teil trägt nichts zum „quantitativen Aspekt“ der Ausdehnung bei. Allerdings hat der Verlust eines dünnen äußersten Teiles zur Folge, dass B‘ an der neu entstandenen Außenseite überhaupt keinen dünnen äußersten Teil mehr hat. Es kann auch kein vormals innerer Teil diesen ersetzen, sofern man nicht von einem topologisch problematischen und stark erklärungsbedürftigen „Umordnen“ von Teilen ausgeht. Die Spaltung lässt also eines ihrer Produkte (zumindest teilweise) „offen“, d. h. ohne einen dünnen äußersten Teil, zurück.14 Durch Spaltungen können so insgesamt drei Sorten von ausgedehnten Gegenständen entstehen: Solche, die eine vollständige Grenze als dünnen äußersten Teil haben; solche, denen an einigen Stellen dünne äußerste Teile fehlen; und solche, die überhaupt keine dünnen äußersten Teile und somit auch keine Grenze haben. Die Existenz von Gegenständen ohne dünne äußerste Teile widerspricht jedoch nicht nur einer weit verbreiteten Intuition, nach der alle beschränkten, dreidimensional ausgedehnten Körper zweidimensionale Oberflächen an ihren Außenseiten besitzen, sondern sie verursacht auch noch weitere Schwierigkeiten, welche sich im Zusammenhang mit dem Problem des Kontaktes zeigen.

|| 13 Insgesamt sind natürlich nach der Spaltung genauso viele Teile vorhanden wie vor der Spaltung. Da aber der A und B gemeinsame Teil später nur noch zu A‘ und nicht mehr zu B‘ gehört, hat B‘ gegenüber B einen Teil verloren. 14 Dass ausgedehnte Gegenstände ohne dünne äußerste Teile möglich sind, wurde bereits oben festgestellt (Abschnitt 3.3).

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3.5.4 Option 1 und das Problem des Kontaktes Beim Problem des Kontaktes geht es um den Übergang von Situation (b) zu Situation (a). Es wurde oben bereits erwähnt, dass Option 1 als Beschreibung für Situation (a) wenig geeignet ist, da es kaum plausibel ist, dass jeder Kontakt zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen gleich die Existenz gemeinsamer Teile impliziert. Wählt man trotz dieser Bedenken Option 1 zur Beschreibung von Situation (a), dann stellt sich das Problem, wie zwei räumlich voneinander getrennte ausgedehnte Gegenstände gemäß Option 1 überhaupt erst miteinander in Kontakt kommen können. Bezogen auf die als Resultat von Spaltungen möglichen drei Sorten von ausgedehnten Gegenständen zeigt sich, dass ein Kontakt nur möglich ist, wenn an der Kontaktstelle genau einer der beiden Gegenstände einen dünnen äußersten Teil und somit eine Grenze hat, während der andere Gegenstand genau dort keinen dünnen äußersten Teil haben darf. In diesem Fall wird im Moment des Kontaktes der dünne äußerste Teil des einen der beiden Gegenstände zur gemeinsamen Grenze zwischen den beiden Gegenständen. Der zweite Gegenstand gewinnt also durch den Kontakt einen dünnen äußersten Teil hinzu. (Bei materiellen Gegenständen muss dafür natürlich die Voraussetzung gelten, dass die beiden Gegenstände von gleichem Material sind.) Bewegen sich dagegen zwei ausgedehnte Gegenstände aufeinander zu, die beide einen dünnen äußersten Teil an der Stelle haben, an der sie miteinander in Kontakt treten würden, dann stehen sich die beiden dünnen äußersten Teile sozusagen „im Weg“. Es gibt hier nur zwei Möglichkeiten: Entweder, die beiden Gegenstände haben noch einen leeren, dicken Teil des Raumes zwischen sich, oder ihre dünnen äußersten Teile befinden sich bereits am selben Ort. Im ersteren Fall ist kein Kontakt zustande gekommen, im letzteren Fall müssten die beiden dünnen äußersten Teile auf irgendeine Weise zu einem einzigen, gemeinsamen Teil „fusionieren“, damit ein Kontakt im Sinne von Option 1 hergestellt wäre: Aus zwei verschiedenen dünnen Teilen müsste plötzlich ein einziger dünner Teil werden. Dies ist jedoch äußerst unklar und wenig plausibel. Ein Kontakt ist hier also offenbar unmöglich. Bewegen sich zwei n-dimensional ausgedehnte Gegenstände aufeinander zu, die beide keinen dünnen äußersten Teil an der Stelle haben, an der sie miteinander in Kontakt treten würden, dann können sie sich einander zwar maximal annähern in dem Sinn, dass kein leerer, n-dimensionaler Teil des Raumes mehr zwischen ihnen liegt, allerdings haben sie dann immer noch keinen gemeinsamen Teil, wie in Option 1 gefordert. Vielmehr gibt es eine dünne, (n-1)dimensionale „Lücke“ zwischen ihnen, die erst noch durch einen gemeinsa-

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men, dünnen Teil ausgefüllt werden müsste. Ein Kontakt im Sinne von Option 1 kann also nur zustande kommen, wenn dieser gemeinsame Teil von irgendwoher hinzukommt bzw. neu entsteht. Dies ist aber kaum plausibel. Ein Kontakt kommt also auch hier nicht zustande. Zwei ausgedehnte Gegenstände können also offenbar nur dann miteinander gemäß Option 1 in Kontakt kommen, wenn an der zukünftigen Kontaktstelle genau einer der beiden Gegenstände einen dünnen äußersten Teil hat, der andere jedoch nicht. Es gibt somit ausgedehnte Gegenstände, die prinzipiell nicht miteinander in Kontakt kommen können, und es ist stark von der Struktur der Oberfläche der beteiligten Gegenstände abhängig, ob ein Kontakt überhaupt zustande kommen kann. Dies widerspricht jedoch der Alltagserfahrung in Bezug auf materielle ausgedehnte Gegenstände, nach der beliebige Gegenstände miteinander in Kontakt kommen können, unabhängig von deren Oberflächenstruktur und deren Material. Könnten sich die Oberflächenstrukturen zweier Gegenstände, die zunächst nicht für einen Kontakt geeignet sind, im Augenblick ihres Kontaktes plötzlich in der Weise verändern, dass der Kontakt doch noch möglich wird? Im Fall, dass zwei Gegenstände, bevor sie miteinander in Kontakt kommen, jeweils einen dünnen äußersten Teil haben, müsste dann einer der beiden Gegenstände im Augenblick des Kontaktes an der Berührstelle seinen äußersten Teil verlieren. Es bleibt aber erklärungsbedürftig, warum denn gerade der eine der beiden Gegenstände beim Kontakt einen Teil verliert, während der andere intakt bleibt. Außerdem ist unklar, wie der überflüssige Teil den beiden Gegenständen rechtzeitig „aus dem Weg gehen“ soll, und wie überhaupt ein dünner Teil abgetrennt von einem ausgedehnten Gegenstand weiter existieren kann. Im Fall, dass die beiden Gegenstände vor dem Kontakt jeweils keinen dünnen äußersten Teil an der vorgesehenen Kontaktstelle haben, müsste ihnen in dem Augenblick, in dem sie einander maximal nahe sind, ein neuer, gemeinsamer dünner Teil zuwachsen. Aber wo sollte dieser herkommen? Auch ein spontanes „Umsortieren“ der Teile der Gegenstände im Augenblick des Kontaktes, das dazu führen könnte, dass die Oberflächen zueinander passen, ist wenig plausibel und topologisch gesehen höchst fragwürdig. Zudem widerspricht diese Lösung stark der Intuition, dass die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes sich nicht durch jeden Kontakt mit einem anderen Gegenstand verändern sollte. Mit Blick auf das oben beschriebene Szenario der Spaltung bleibt nämlich bei einer erneuten Trennung der beiden Gegenstände genau einer von ihnen mit und der andere ohne einen dünnen äußersten Teil an der vormaligen Kontaktstelle zurück. Hatten die Gegenstände vor dem Kontakt beide einen dünnen äußersten Teil, dann würde durch einen kurzzeitigen Zusammenstoß bei einem der beiden Gegenstände ein

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Teil herausgeschlagen und es bliebe eine „Narbe“ zurück. Hatten die Gegenstände vor dem Kontakt beide keinen dünnen äußersten Teil, dann würde bei einem der beiden Gegenstände nach dem Zusammenstoß ein zusätzlicher dünner äußerster Teil an der Kontaktstelle zurückbleiben. Übrigens ist auch in dem Fall, in dem die Oberflächenstrukturen der beiden Gegenstände für einen Kontakt geeignet sind, nicht klar, dass bei einer erneuten Trennung der beiden Gegenstände der kurzzeitig gemeinsame Teil bei seinem vormaligen „Besitzer“ bleibt. Durch einen kurzzeitigen Zusammenstoß könnte ein dünner äußerster Teil von einem auf den anderen Gegenstand überwechseln. All diese Überlegungen zu einer befriedigenderen Lösung des Problems des Kontaktes erscheinen insgesamt äußerst kompliziert, wenn nicht gar aussichtslos.

3.5.5 Zusammenfassung Insgesamt bleibt festzustellen, dass Option 1 zwar sehr gut zu den Intuitionen Abhängigkeit, Verbindung und Ende passt, aber mit der Intuition Trennung kaum vereinbar ist. Option 1 stellt zudem auch keine angemessene Beschreibung der drei Situationen dar: In Situation (a) die beiden sich berührenden Gegenstände zu eng miteinander verbunden. Sie sind geradezu zu einem einzigen Gegenstand „zusammengewachsen“ und in keiner Weise mehr voneinander getrennt. In Situation (b) wird das komplementäre Verhältnis zwischen Gegenstand und Umgebung nicht angemessen berücksichtigt. In Bezug auf materielle Gegenstände führt Option 1 sogar auf offene Widersprüche im Zusammenhang mit den Situationen (a) und (b). Mit Situation (c) gibt es zunächst die wenigsten Schwierigkeiten, da bei zwei zusammenhängenden Teilen eines einzigen ausgedehnten Gegenstandes eindeutig der Aspekt ihrer gegenseitigen Verbindung überwiegt, und diese durch den bei Option 1 geforderten gemeinsamen Teil klarerweise gegeben ist. Problematisch ist aber, dass diese Lösung der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände widerspricht. Weder das Problem der Spaltung noch das Problem des Kontaktes können durch Option 1 befriedigend gelöst werden. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten sind vielfältig, und alle Versuche, mit diesen Schwierigkeiten angemessen umzugehen, ziehen offenbar noch größere Unklarheiten und Schwierigkeiten nach sich. Bei einer Spaltung entsteht zwangsläufig ein asymmetrisches Resultat, was dazu führt, dass drei verschiedene Sorten von ausgedehnten Gegenständen mit jeweils unterschiedlicher Oberflächenstruktur angenommen werden müssen. Nicht alle diese Gegenstände können aber ohne weiteres miteinander in Kontakt treten. Ein Kontakt ist nur dann möglich, wenn zwei Ge-

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genstände mit ganz bestimmten Oberflächenstrukturen aufeinander treffen. Will man dennoch daran festhalten, dass beliebige Gegenstände miteinander in Kontakt kommen können, dann muss man eine plötzliche Veränderung der Oberflächenstrukturen im Augenblick des Kontaktes annehmen, was jedoch zu weiteren Schwierigkeiten führt. Insgesamt wirkt die Beschreibung eines Spaltungs- oder eines Kontaktereignisses unter der Voraussetzung von Option 1 unangemessen kompliziert. Letztlich bleiben alle Antwortversuche auf die beiden Fragen, was mit dem gemeinsamen Teil bei einer Spaltung geschieht bzw. wie das In-Kontakt-Kommen zweier Gegenstände unter allgemeinen Bedingungen möglich sein kann, unbefriedigend.

3.6 Option 2: Die Grenze als Teil nur eines Gegenstandes Bei Option 2 gehört die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen genau einem der beiden Gegenstände als Teil an. Als dessen dünner, äußerster Teil ist sie zugleich auch eine abschließende Grenze dieses Gegenstandes. Die Grenze ist jedoch kein Teil des anderen Gegenstandes. Der andere Gegenstand hat an der Kontaktstelle keine ihm als Teil angehörende abschließende Grenze. Das Problem der Zugehörigkeit wird hier also derart gelöst, dass die Grenze genau einem der beiden Gegenstände als Teil angehört.

3.6.1 Option 2 und die vier Grundintuitionen Auch bei Option 2 ist die Grenze von etwas abhängig, nämlich von dem Gegenstand, dessen äußerster Teil und dessen abschließende Grenze sie ist. Darüber hinaus ist sie als äußerster Teil dieses Gegenstandes auch dessen Ende. Den Intuitionen Abhängigkeit und Ende wird Option 2 also gerecht. Wie steht es um die Intuitionen Verbindung und Trennung? Hier ist die Lage nicht so eindeutig. Einerseits könnte man diese beiden Intuitionen durchaus in Bezug auf Option 2 als zutreffend ansehen. Bei einer Grenze im Sinne von Option 2 gibt es nämlich nichts Drittes zwischen den beiden Gegenständen. Die beiden Gegenstände sind sich also in diesem Sinne maximal nahe, und von daher könnte man es rechtfertigen, sie als miteinander verbunden anzusehen. Die beiden Gegenstände haben darüber hinaus auch keinen gemeinsamen Teil, was dafür spricht, sie als voneinander getrennt anzusehen. Andererseits könnte man beide Tatsachen auch umgekehrt bewerten: Die beiden Gegenstände haben keinen Teil gemeinsam, können also nicht miteinander verbunden sein. Und es liegt nichts Drittes als etwas Trennendes zwischen ihnen, sie können

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also nicht voneinander getrennt sein. Hier liegt eine eigenartige Ambivalenz vor. Reicht es als Bedingung für die Verbundenheit zweier Gegenstände aus, dass nichts Drittes zwischen ihnen liegt? Für die Verbundenheit der beiden Teile ausreichen würde es jedenfalls, wenn sie einen gemeinsamen Teil hätten. Diesen gemeinsamen Teil gibt es aber hier nicht. Und reicht es als Bedingung für das Getrenntsein zweier Gegenstände aus, dass sie keinen gemeinsamen Teil haben? Muss es nicht auch noch etwas Drittes geben, das als Trennung zwischen ihnen fungiert? Dieses Dritte gibt es aber hier nicht. Festzuhalten bleibt, dass es bei Option 2 nicht völlig klar ist, ob die Bedingungen für Verbundenheit und Getrenntsein jeweils erfüllt sind. Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch die bereits angesprochene Asymmetrie von Option 2: Die Grenze gehört genau einem der beiden Gegenstände als Teil an. Kann man dann noch sagen, dass es die Grenze ist, die die beiden Gegenstände miteinander verbindet? Wenn die Grenze noch ganz zu dem einen Gegenstand gehört, dann muss diese selbst auch irgendwie mit dem anderen Gegenstand verbunden sein. Denn ist sie es nicht, dann sind auch die Gegenstände offenbar nicht miteinander verbunden. Aber wodurch soll diese Verbindung der Grenze mit dem anderen Gegenstand zustande kommen? In ähnlicher Weise kann man fragen, ob die beiden Gegenstände wirklich durch die Grenze voneinander getrennt sind, wenn die Grenze selbst doch noch ganz einem der beiden Gegenstände als Teil angehört. Angesichts dieser Einwände kann man die beiden Intuitionen Verbindung und Trennung bei Option 2 nur mit Einschränkung als zutreffend ansehen.

3.6.2 Option 2 und die drei Situationen In der allgemeinen Beschreibung von Situation (a) ist zunächst nur die Rede von zwei ausgedehnten Gegenständen, die einander berühren. Keiner der beiden sich berührenden Gegenstände ist hier gegenüber dem jeweils anderen ausgezeichnet. Ohne zusätzliche Information erscheint die Situation also vollkommen symmetrisch. Gemäß Option 2 besitzt aber nur einer der beiden Gegenstände an der Kontaktstelle eine abschließende Grenze als äußersten Teil. Option 2 ist also von einer grundlegenden Asymmetrie geprägt. Wird Option 2 nun zur genaueren Beschreibung von Situation (a) gewählt, dann behauptet man damit, dass es keinen symmetrischen Kontakt zwischen zwei Gegenständen geben kann. Diese Einschränkung scheint aber wenig plausibel zu sein. Wieso sollten sich zwei im Wesentlichen gleichartige Gegenstände nicht in symmetri-

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scher Weise berühren können? Schon deshalb erscheint Option 2 als wenig plausible Beschreibung für Situation (a). Aus der Asymmetrie von Option 2 erwächst aber noch eine weitere Schwierigkeit im Zusammenhang mit Situation (a): Gemäß Option 2 ist die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen ein dünner äußerster Teil von genau einem der beiden Gegenstände. Das ist aber nur dann möglich, wenn der zweite Gegenstand an der Berührstelle keinen dünnen äußersten Teil hat. Dies kann man wie folgt begründen: Angenommen, der zweite Gegenstand hätte einen solchen dünnen äußersten Teil. In Bezug auf diesen sind nur die folgenden drei Möglichkeiten denkbar: entweder, er ist identisch mit dem dünnen äußersten Teil des ersten Gegenstandes, der die Grenze ist; oder er koinzidiert mit diesem; oder er ist von diesem durch einen leeren, dicken Teil des Raumes getrennt. Eine direkte Nachbarschaft zweier dünner äußerster Teile oder zwei dünne äußerste Teile mit nur einem dünnen leeren Zwischenraum kann es nicht geben, es gibt also keine weitere Möglichkeit. Ist aber der dünne äußerste Teil des zweiten Gegenstandes identisch mit dem entsprechenden dünnen äußersten Teil des ersten Gegenstandes, dann läge nicht Option 2, sondern Option 1 vor. Gäbe es zwei koinzidierende dünne äußerste Teile, dann läge Option 4 vor. Gäbe es zwei dünne äußerste Teile mit einem leeren, dicken Teil des Raumes dazwischen, dann würden sich die Gegenstände überhaupt nicht berühren. Option 2 verträgt sich also nicht damit, dass der zweite Gegenstand einen dünnen äußersten Teil hat. Will man an Option 2 festhalten, dann darf der zweite Gegenstand an der Kontaktstelle keinen dünnen äußersten Teil haben. Option 2 setzt somit voraus, dass es sowohl ausgedehnte Gegenstände mit dünnen äußersten Teilen gibt, als auch ausgedehnte Gegenstände, die zumindest stellenweise keine dünnen äußersten Teile haben. Die Existenz von ausgedehnten Gegenständen ohne dünne äußerste Teile widerspricht aber unseren Alltagsintuitionen über Körper und ihre Oberflächen und es ergeben sich darüber hinaus auch hier, ähnlich wie bei Option 1, erhebliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Problem des Kontaktes, worauf weiter unten noch eigens eingegangen wird. Auf Situation (b) scheint die Beschreibung durch Option 2 dagegen deutlich besser zu passen, da diese Situation von vornherein asymmetrisch deutbar ist: Der Gegenstand wird normalerweise gegenüber seiner Umgebung bevorzugt. Man ist daher auch geneigt, die Grenze eher dem Gegenstand als seiner Umgebung als Teil zuzuordnen. Die Beschreibung durch Option 2 scheint also auf den ersten Blick durchaus angemessen zu sein. Es gibt allerdings Fälle, bei denen

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nicht von vornherein klar ist, was der Gegenstand und was dessen Umgebung ist. Dies wird an folgendem Beispiel15 besonders deutlich: Betrachtet man die Oberfläche des Meeres, dann wird man intuitiv wohl das Wasser als Gegenstand und die darüberstehende Luftschicht als Umgebung ansehen. Gemäß Option 2 hat dann das Wasser einen äußersten Teil als abschließende Grenze dort, wo es an die Luftschicht stößt, während die Luftschicht dort keinen äußersten Teil hat. Gegenüber dem felsigen Meeresboden wird man dagegen den Felsen als Gegenstand und das Wasser als Umgebung ansehen. Der Fels hat einen äußersten Teil als abschließende Grenze, während das Wasser dort keinen äußersten Teil hat. Was geschieht nun an einer felsigen Meeresküste, wo Felsen, Wasser und Luft aufeinandertreffen und die Situation in ständiger Bewegung ist? Wozu gehört die Küstenlinie? Das Wasser ist dort wechselnd von Luft und vom Felsen umgeben. Genauso könnte man aber auch sagen, dass der Felsen wechselnd von Luft und Wasser umgeben ist. Es ist jedenfalls in dieser Situation alles andere als klar, was Gegenstand und was Umgebung ist. Folgt man Option 2, dann ist entsprechend auch unklar, wozu die Grenzen zwischen Felsen, Wasser und Luft als Teile jeweils gehören. Andererseits sollte aber die Zugehörigkeit von Teilen zu Gegenständen klar zu entscheiden sein. Somit ist auch die Beschreibung von Situation (b) durch Option 2 alles andere als unproblematisch. In Situation (c) liegt, ähnlich wie bei den beiden sich berührenden Gegenständen in Situation (a), eigentlich eine grundlegende Symmetrie vor. Eine Beschreibung durch die asymmetrische Option 2 ist also auch hier von vornherein weniger plausibel. Ein Vertreter von Option 2 wird behaupten müssen, dass zwei ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes niemals auf symmetrische Weise zusammenhängen können: Einer der Teile besitzt die Grenze, der andere nicht. Abgesehen davon ist eine Beschreibung von Situation (c) durch Option 2 allerdings durchaus im Einklang mit der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände.

3.6.3 Option 2 und das Problem der Spaltung Gibt man zu, dass von zwei zusammenhängenden, ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes genau einer die gemeinsame Grenze als dünnen äußersten Teil besitzt, dann zeigt sich, dass das Problem der Spaltung eines Gegenstandes deutlich weniger Schwierigkeiten verursacht, als dies bei Option 1 der Fall war. Die beiden Gegenstände können einfach auseinandertreten, ohne || 15 Vgl. dazu ein sehr ähnliches Beispiel in Varzi 2011, S.135f.

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dass dabei die Zugehörigkeit von vormals gemeinsamen Teilen zu den Spaltprodukten entschieden werden muss. Da klar ist, dass die Grenze nur einem der beiden Teile selbst als Teil angehört, ist auch klar, welchem der beiden Spaltprodukte sie nach der Spaltung als Teil angehört. Keiner der beiden Teile des Gegenstandes verliert bei der Spaltung einen Teil. Klar ist aber auch, dass jede Spaltung eines Gegenstandes eines der beiden Produkte der Spaltung ohne einen dünnen äußersten Teil an der vormaligen Berührstelle zurücklässt. Es liegt also nach der Spaltung ein Gegenstand vor, bei dem die Umgebung dort einen dünnen äußersten Teil besitzt, wo der Gegenstand keinen dünnen äußersten Teil hat. Dies widerspricht aber der oben erwähnten sich für Situation (b) anbietenden Lösung, gemäß der es genau umgekehrt sein sollte: Der Gegenstand besitzt den dünnen äußersten Teil, und nicht seine Umgebung. Zudem ist zu bemerken, dass durch fortgesetzte Spaltungen auch hier, genau wie bei Option 1, insgesamt drei verschiedene Sorten ausgedehnter Gegenstände entstehen: Solche, die eine vollständige Grenze als dünnen äußersten Teil haben; solche, denen an einigen Stellen dünne äußerste Teile fehlen; und solche, die überhaupt keine dünnen äußersten Teile und somit auch keine Grenze haben. Die Existenz von Gegenständen aller dieser drei Sorten führt auch hier zu Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Problem des Kontaktes.

3.6.4 Option 2 und das Problem des Kontaktes Wie können zwei Gegenstände unter der Voraussetzung dünner Grenzen gemäß Option 2 miteinander in Kontakt kommen? Wie erfolgt hier ein Wechsel von Situation (b) zu Situation (a)? Genau wie bei Option 1 ist ein solcher Wechsel offenbar nur dann möglich, wenn genau einer der beiden Gegenstände an der Kontaktstelle einen dünnen äußersten Teil hat, während dem anderen dort ein dünner äußerster Teil fehlt. Im Unterschied zu Option 1 wächst durch den Kontakt hier jedoch keinem der beiden Gegenstände ein Teil zu. Die beiden Gegenstände haben vor und während des Kontaktes jeweils dieselben Teile. Bewegen sich aber zwei ausgedehnte Gegenstände aufeinander zu, die (im Einklang mit der Beschreibung von Situation (b) durch Option 2) beide einen dünnen äußersten Teil an der Stelle haben, an der sie miteinander in Kontakt treten würden, dann stehen sich auch hier die beiden dünnen äußersten Teile sozusagen „im Weg“. Es gibt hier zwei Möglichkeiten: Entweder, die beiden Gegenstände haben noch einen leeren, dicken Teil des Raumes zwischen sich,

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oder sie durchdringen sich bereits in ihren dünnen äußersten Teilen. Im ersteren Fall ist kein Kontakt zustande gekommen, im letzteren Fall müsste einer der beiden dünnen äußersten Teile plötzlich verschwinden, damit ein Kontakt im Sinne von Option 2 hergestellt wäre. Letzteres ist aber nicht plausibel. In diesem Fall kommt also offenbar kein Kontakt zustande. Bewegen sich zwei n-dimensional ausgedehnte Gegenstände ohne dünne äußerste Teile aufeinander zu, dann können sie sich einander ohne gegenseitige Durchdringung maximal nur so weit annähern, dass es zwar keinen leeren, n-dimensional ausgedehnten Teil des Raumes mehr zwischen ihnen gibt, dass aber immer noch eine (n-1)-dimensionale „Lücke“ zwischen ihnen vorhanden ist. Diese „Lücke“ müsste erst noch durch einen dünnen Teil, der auch noch zu genau einem der beiden Gegenstände gehören sollte, ausgefüllt werden, damit ein Kontakt im Sinne von Option 2 zustande käme. Aber wo soll dieser Teil plötzlich herkommen? Es gibt also auch in diesem Fall offenbar keinen Kontakt. Die Möglichkeit des In-Kontakt-Kommens zweier Gegenstände ist somit auch bei Option 2 stark abhängig von der Oberflächenstruktur der beteiligten Gegenstände. Wie bereits oben bemerkt, widerspricht dies jedoch der Alltagserfahrung in Bezug auf materielle ausgedehnte Gegenstände. In Bezug auf die Möglichkeit einer plötzlichen Änderung der Oberflächenstruktur im Augenblick des Kontaktes gilt auch hier dasselbe, was bereits im vorigen Abschnitt im Zusammenhang mit Option 1 gesagt wurde: Diese Lösung ist nicht nur sehr kompliziert und wenig plausibel, sondern es muss darüber hinaus auch behauptet werden, dass die Oberflächenstrukturen ausgedehnter Gegenstände durch den kurzzeitigen Kontakt mit anderen Gegenständen u. U. nachhaltig verändert werden können, was aber höchst fragwürdig ist. Es bleibt also dabei, dass ein Wechsel von Situation (b) zu Situation (a) in Form eines Kontaktereignisses nur dann möglich ist, wenn genau einer der beiden beteiligten Gegenstände an der Kontaktstelle einen dünnen äußersten Teil hat. Aber auch in diesem Fall liegt noch eine Inkonsistenz vor, denn die Tatsache, dass dem zweiten Gegenstand ein dünner äußerster Teil fehlt, widerspricht der Beschreibung von Situation (b) durch Option 2.

3.6.5 Zusammenfassung Insgesamt ist festzuhalten, dass Option 2 zwar gut zu den Intuitionen Abhängigkeit und Ende passt, den Intuitionen Verbindung und Trennung aber weniger gut gerecht wird. Die grundlegende Asymmetrie von Option 2 führt zwar einerseits dazu, dass Situation (b) recht angemessen beschrieben werden kann, indem die

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Bevorzugung des Gegenstandes vor seiner Umgebung durch die Zuordnung der Grenze zum Gegenstand deutlich gemacht wird (wenn auch gesagt werden muss, dass auch das nicht ganz unproblematisch ist). Die Asymmetrie wirkt sich jedoch auf der anderen Seite störend auf die Beschreibung der symmetrisch angelegten Situationen (a) und (c) aus. Bei der Beschreibung von Situation (a) mithilfe von Option 2 muss darüber hinaus vorausgesetzt werden, dass es ausgedehnte Gegenstände gibt, denen wenigstens stellenweise dünne äußerste Teile fehlen, was kontraintuitiv ist. Die Existenz dieser Gegenstände ergibt sich darüber hinaus auch aus der näheren Untersuchung des Problems der Spaltung. Die Spaltung eines Gegenstandes ist zwar mithilfe von Option 2 leichter erklärbar als mithilfe von Option 1, da nämlich hier kein vormals gemeinsamer Teil einem der beiden Spaltprodukte zugeordnet werden muss. Aber auch bei Option 2 entsteht zwangsläufig ein asymmetrisches Resultat der Spaltung, was dazu führt, dass auch hier drei verschiedene Sorten von ausgedehnten Gegenständen mit jeweils unterschiedlicher Oberflächenstruktur angenommen werden müssen. Die Existenz ausgedehnter Gegenstände, denen ein dünner äußerster Teil fehlt, widerspricht aber der oben angenommenen Beschreibung von Situation (b), nach der die Grenze stets dem Gegenstand als äußerster Teil angehört, und nicht der Umgebung. Das Problem des Kontaktes stellt sich bei Option 2 sehr ähnlich wie bei Option 1. Auch hier können Gegenstände nicht ohne weiteres mit beliebigen anderen Gegenständen in Kontakt treten. Ein Kontakt ist nur dann möglich, wenn zwei Gegenstände mit ganz bestimmten Oberflächenstrukturen aufeinander treffen. Die Schwierigkeiten, mit denen dies verbunden ist, entsprechen denen, die schon bei Option 1 zu beobachten waren. Auch bei Option 2 wirken die vorgeschlagenen Beschreibungen für ein Kontaktereignis unangemessen kompliziert.

3.7 Option 3: Die neutrale Grenze Bei Option 3 wird das Problem der Zugehörigkeit in der Weise beantwortet, dass die Grenze hier weder ein Teil des einen noch ein Teil des anderen der beiden ausgedehnten Gegenstände ist. Wie kann man sich diese „neutrale“ Grenze genauer vorstellen? Es gibt hier im Wesentlichen zwei verschiedene Möglichkeiten. Zum einen könnte die Grenze einfach ein dünner, leerer „Zwischenraum“ sein, also ein (n-1)-dimensionaler Teil des Raumes, der von keinem der beiden n-dimensional ausgedehnten Gegenstände besetzt ist. Bezogen auf das Beispiel eines auf einer Tischplatte liegenden Buches ergäbe sich so als Grenze zwischen Tischplatte und Buch eine zweidimensionale Fläche, die ein dünner Teil des Raumes ist. An der einen Seite dieser Fläche befindet sich die Tischplatte, an

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der anderen Seite das Buch, und zwar so, dass weder ein Teil der Tischplatte noch ein Teil des Buches den Teil des Raumes einnimmt, der die Grenze zwischen ihnen ist. Alternativ dazu könnte die Grenze selbst ein (n-1)-dimensional ausgedehnter Gegenstand sein, der einen Teil des Raumes einnimmt. Der dünne „Zwischenraum“ zwischen den beiden Gegenständen wäre dann nicht leer, sondern von einem dritten Gegenstand besetzt, der sich hauptsächlich dadurch von diesen unterscheidet, dass er im Vergleich zu ihnen „dünn“ ist, d. h. dass die Dimensionszahl seiner Ausdehnung um eins niedriger ist. Im Beispiel wäre dann die Grenze zwischen der Tischplatte und dem Buch eine zweidimensionale, materielle Fläche, also ein materieller Gegenstand, der einen zweidimensionalen Teil des Raumes einnimmt, und der beiden Gegenständen benachbart ist. Betrachtet man die ausgedehnten Teile des Raumes selbst wiederum als ausgedehnte Gegenstände, dann verschwindet der Unterschied. Sowohl eine Grenze erster Art als auch eine Grenze zweiter Art ist in dieser Hinsicht ein (n-1)dimensional ausgedehnter Gegenstand, der sich zwischen zwei n-dimensional ausgedehnten Gegenständen befindet. Um die Plausibilität von Option 3 besser beurteilen zu können, soll im Folgenden jedoch nicht nur von dieser abstrakteren Sichtweise ausgegangen werden, sondern es soll auch auf die spezifischen Unterschiede zwischen den beiden Arten von Grenzen eingegangen werden.

3.7.1 Ist Option 3 überhaupt ein Ansatz im Sinne der Grundthese? Bei Option 3 stellt sich zuallererst die Frage, ob eine Grenze gemäß Option 3 überhaupt noch im Sinne der zugrunde liegenden These ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes ist. Auf den ersten Blick wird die Grundthese hier eindeutig in Frage gestellt: Die Grenze ist weder Teil des einen, noch Teil des anderen Gegenstandes, und es ist zunächst auch kein weiterer Gegenstand erkennbar, dessen äußerster Teil sie sein könnte. Geht es, wie bei der zuerst beschriebenen Art von Grenze, um ausgedehnte Gegenstände, die Regionen in einem leeren Raum einnehmen, dann kann die Grenze offenbar allein deshalb schon kein äußerster Teil eines der beiden Gegenstände sein, weil sie selbst ein leerer Teil des Raumes und kein Teil eines Gegenstandes im Raum ist. Als leerer Teil des Raumes kann sie einem derartigen Gegenstand nicht als Teil angefügt werden, denn die Teile eines ausgedehnten Gegenstandes sollen, nach der hier vertretenen Charakterisierung, „gleichartig“ sein. In diesem Sinne kann die Grenze auch kein „potentieller äußerster Teil“ dieses Gegenstandes sein.

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Im Gegensatz dazu ist bezogen auf die zweite Art von Grenze festzustellen, dass eine solche Grenze, da sie selbst ebenso wie die beiden Gegenstände jeweils einen Teil des Raumes einnimmt, so beschaffen und darüber hinaus auch in Bezug auf die beiden Gegenstände so angeordnet ist, dass man sie jeweils einem der beiden Gegenstände ohne Veränderung der räumlichen Anordnung als einen äußersten Teil hinzufügen könnte. Eine Grenze der zweiten Art ist also eine Entität, die dazu fähig ist, ein äußerster Teil eines der beiden Gegenstände zu sein. Man könnte sie in diesem Sinne als einen „potentiellen äußersten Teil“ bezeichnen. Akzeptiert man darüber hinaus die These, dass die mereologische Summe zweier benachbarter Gegenstände selbst wieder ein ausgedehnter Gegenstand ist, dann ist die Grenze nicht nur ein potentieller äußerster Teil, sondern auch im eigentlichen Sinne ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes, wenn auch nicht eines der beiden ursprünglichen Gegenstände. Beiden Arten von Grenze gemäß Option 3 gemeinsam ist, dass die Grenze und die beiden Gegenstände genau so angeordnet sind, dass die Grenze die Stelle des (nicht vorhandenen) dünnen äußersten Teiles für jeden der beiden Gegenstände einnimmt. Die Grenze ist entweder derjenige Teil des Raumes, der von einem dünnen äußersten Teil eines der beiden Gegenstände eingenommen werden würde, wenn es einen solchen Teil gäbe, oder sie ist ein dritter Gegenstand, der diesen Teil des Raumes tatsächlich einnimmt, ohne selbst ein Teil eines der beiden Gegenstände zu sein. In jedem Fall lässt sich eine Grenze gemäß Option 3 als ein (n-1)-dimensional ausgedehnter Gegenstand auffassen, der in Bezug auf zwei n-dimensional ausgedehnte Gegenstände so angeordnet ist, dass er die Stelle eines (nicht vorhandenen) dünnen äußersten Teiles für jeden der beiden n-dimensional ausgedehnten Gegenstände einnimmt. Eine Grenze gemäß Option 3 ist zwar im Allgemeinen tatsächlich kein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes und lässt sich auch nicht in jedem Fall sinnvoll als potentieller äußerster Teil eines solchen Gegenstandes auffassen. Allerdings ist sie auch nicht etwas, das überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem äußersten Teil eines ausgedehnten Gegenstandes hätte. Die Grundthese ist somit bei Option 3 noch in abgeschwächter Form gültig: Eine Grenze ist zwar kein dünner äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes, aber sie ist ein (n-1)-dimensional ausgedehnter Gegenstand, der in Bezug auf zwei ndimensional ausgedehnte Gegenstände so angeordnet ist, dass er die Stelle eines (nicht vorhandenen) dünnen äußersten Teils für jeden dieser beiden Gegenstände einnimmt.

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3.7.2 Option 3 und die vier Grundintuitionen Gemäß Option 3 ist eine Grenze kein Teil eines der beiden ausgedehnten Gegenstände. Eine solche Grenze ist aber deswegen keinesfalls unabhängig von den beiden Gegenständen. Weil eine Grenze gemäß Option 3 in der gerade beschriebenen speziellen Anordnungsrelation zu den beiden ausgedehnten Gegenständen stehen muss, ist sie damit auch von diesen beiden Gegenständen abhängig. Gäbe es keine solchen Gegenstände, dann gäbe es auch keine Grenze gemäß Option 3. Im Fall, dass es sich um eine Grenze erster Art handelt, d. h. um einen dünnen Teil des Raumes, der von keinem Gegenstand besetzt ist, gibt es diesen Teil des Raumes natürlich auch unabhängig von der Existenz der beiden Gegenstände. Allerdings würde es sich nicht um eine Grenze gemäß Option 3 handeln, wenn es diese beiden Gegenstände nicht geben würde. Als Grenze gemäß Option 3 ist der dünne Teil des Raumes somit abhängig von den beiden Gegenständen. Im Fall, dass es sich bei der Grenze um einen Gegenstand handelt, der einen dünnen Teil des Raumes einnimmt, kommt diesem Gegenstand ebenfalls eine gewisse Eigenständigkeit zu in dem Sinne, dass er kein Teil eines anderen Gegenstandes ist. Es ist allerdings höchst fraglich, ob ein solcher dünner, (n-1)dimensional ausgedehnter Gegenstand auch abgetrennt und losgelöst von sämtlichen n-dimensional ausgedehnten Gegenständen existieren kann. Würden die beiden Gegenstände nicht existieren, dann wäre der dünne Gegenstand, falls er überhaupt existieren sollte, jedenfalls keine Grenze. Es gilt also auch hier, dass dieser Gegenstand als Grenze gemäß Option 3 von den beiden benachbarten Gegenständen abhängig ist. Der Intuition Abhängigkeit wird Option 3 also gerecht, wenn auch in einer anderen Weise als dies bei den Optionen 1 und 2 der Fall ist. Eine Grenze gemäß Option 3 nimmt in Bezug auf jeden der beiden Gegenstände die Stelle ein, an der sich ein dünner äußerster Teil befinden würde. Die beiden Gegenstände haben dort jeweils keinen dünnen äußersten Teil. Man kann aber dennoch klarerweise sagen, dass die beiden Gegenstände jeweils an der Grenze enden. Ist die Grenze aber auch deren jeweiliges Ende? Gibt man die Forderung auf, dass jedes Ende ein Teil genau desjenigen Gegenstandes ist, dessen Ende es ist, dann wird eine Differenzierung zwischen intrinsischen und extrinsischen Enden möglich: ein intrinsisches Ende gehört dem jeweiligen Gegenstand noch als Teil an, ein extrinsisches Ende ist dagegen nicht mehr Teil

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des Gegenstandes, dessen Ende es ist.16 Mithilfe dieser Unterscheidung lässt sich feststellen, dass eine Grenze gemäß Option 3 ein extrinsisches Ende für jeden der beiden Gegenstände ist.17 Mit der Einschränkung, dass die Grenze hier bloß ein extrinsisches und kein intrinsisches Ende ist, wird Option 3 auch der Intuition Ende gerecht. Der Intuition Trennung wird Option 3 sehr klar gerecht, denn die beiden Gegenstände sind eindeutig durch die neutrale Grenze zwischen ihnen voneinander getrennt. Dies gilt sowohl für eine Grenze erster Art als auch für eine Grenze zweiter Art: Es macht dabei keinen Unterschied, ob die beiden Gegenstände durch einen leeren, dünnen Teil des Raumes oder durch einen dritten im Raum befindlichen dünnen Gegenstand voneinander getrennt sind. Problematisch ist bei Option 3 vor allem die Intuition Verbindung. Können zwei ausgedehnte Gegenstände überhaupt miteinander verbunden sein, wenn es ein neutrales Drittes zwischen ihnen gibt? Das kann man zu Recht infrage stellen. Insbesondere im Fall einer Grenze erster Art scheint dies eindeutig nicht möglich zu sein: Wenn zwei ausgedehnte Gegenstände einen leeren Teil des Raumes zwischen sich haben, dann sind sie eindeutig nicht miteinander verbunden. Bezogen auf Grenzen erster Art wird Option 3 also der Intuition Verbindung nicht gerecht. Im Fall einer Grenze zweiter Art, also einer Grenze, die selbst ein einen dünnen Teil des Raumes einnehmender Gegenstand ist, kann dieser Gegenstand als „Brücke“ zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen fungieren, und so zumindest eine indirekte Verbindung herstellen. Jeder der beiden ausgedehnten Gegenstände ist dann jeweils direkt mit der neutralen Grenze verbunden, aber nur indirekt mit dem anderen Gegenstand. Eine direkte Verbindung der beiden Gegenstände ist nicht gegeben. Der Intuition Verbindung wird Option 3 jedenfalls auch hier nicht in voller Weise gerecht.

3.7.3 Option 3 und die drei Situationen Bei Situation (a) geht es um zwei einander berührende, ausgedehnte Gegenstände. Wird die Grenze zwischen ihnen als Grenze gemäß Option 3 aufgefasst,

|| 16 Diese Unterscheidung findet sich bereits bei Suárez (vgl. den entsprechenden Abschnitt in dieser Arbeit). 17 Entsprechend ist eine Grenze gemäß Option 2 ein intrinsisches Ende des einen und ein extrinsisches Ende des anderen Gegenstandes. Eine Grenze gemäß Option 1 ist ein intrinsisches Ende sowohl des einen als auch des anderen Gegenstandes.

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dann ist diese Grenze neutral, d. h. sie gehört weder dem einen noch dem anderen Gegenstand als Teil an. Die beiden Gegenstände sind somit klar durch die Grenze voneinander getrennt. Aber berühren sich die beiden Gegenstände auch tatsächlich? Dafür spricht zunächst, dass die Grenze dünn ist, und sich die beiden n-dimensional ausgedehnten Gegenstände somit in dem Sinne maximal nahe sind, dass kein dritter, n-dimensional ausgedehnter Gegenstand und auch kein leerer, n-dimensionaler Teil des Raumes zwischen ihnen liegt. Andererseits liegt eindeutig die dünne Grenze als etwas Drittes zwischen ihnen. Im Fall, dass die Grenze eine Grenze erster Art, also ein leerer, (n-1)-dimensionaler Teil des Raumes ist, stehen die beiden Gegenstände überhaupt nicht in Kontakt miteinander. Diese Variante von Option 3 ist also eher unangemessen zur Beschreibung von Situation (a). Im Fall, dass die Grenze eine Grenze zweiter Art ist, also ein (n-1)-dimensional ausgedehnter Gegenstand, der einen (n-1)-dimensionalen Teil des Raumes einnimmt, liegt immerhin ein indirekter Kontakt vor: der Kontakt ist vermittelt über die Grenze als einen dritten Gegenstand. Man kann jedoch auch hier nicht von einer direkten gegenseitigen Berührung der beiden Gegenstände sprechen, weshalb die zweite Variante von Option 3 nur unter der Voraussetzung, dass man indirekten Kontakt als hinreichende Bedingung für die Berührung zweier ausgedehnter Gegenstände gelten lässt, zur Beschreibung von Situation (a) vertretbar ist. In beiden Varianten kann allerdings ein Kontakt gemäß Option 3 offenbar nur dann auftreten, wenn beide Gegenstände an der Berührstelle jeweils keinen dünnen äußersten Teil haben. Will man also Option 3 zur Beschreibung von Situation (a) nutzen, dann muss man die Existenz von offenen oder zumindest teilweise offenen Gegenständen anerkennen. Dies widerspricht aber, wie bereits mehrfach betont wurde, unseren Alltagsintuitionen über Körper und ihre Oberflächen. Option 3 ist also als Beschreibung von Situation (a) nur unter bestimmten Voraussetzungen angemessen und auch dann nicht ganz unproblematisch. Wird Option 3 zur Beschreibung von Situation (b) herangezogen, dann ergibt sich auch hier, ähnlich zu Option 1, dass ein Gegenstand und seine Umgebung nicht komplementär zueinander sind: Gegenstand und Umgebung füllen zusammengenommen nicht den ganzen Raum aus. Es muss noch die Grenze zwischen ihnen als neutraler dritter Teil hinzugenommen werden, um den ganzen Raum zu erhalten. Dies widerspricht aber dem üblichen Verständnis von „Umgebung“. Option 3 ist also unangemessen zur Beschreibung von Situation (b). Bei Situation (c) befindet sich gemäß Option 3 zwischen zwei benachbarten ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes eine neutrale Grenze. Wäre diese eine Grenze erster Art, d. h. ein leerer, (n-1)-dimensionaler Teil des

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Raumes, dann hingen die beiden Teile nicht miteinander zusammen, was aber der Voraussetzung widerspricht, dass sie benachbarte ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes sind. Wären sämtliche ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes von den jeweils benachbarten ausgedehnten Teilen durch Grenzen erster Art getrennt, dann wäre der ausgedehnte Gegenstand durch und durch von dünnen „Lücken“ durchzogen und es würde somit gar keinen Zusammenhang zwischen den Teilen geben. Letzteres ist aber eine der charakteristischen Eigenschaften ausgedehnter Gegenstände. Grenzen erster Art können also zwischen den ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes nicht auftreten. Diese Variante von Option 3 ist also unangemessen zur Beschreibung von Situation (c). Im Gegensatz dazu könnte eine Grenze zweiter Art dem ausgedehnten Gegenstand als Ganzem als dünner Teil angehören, zugleich aber weder Teil des einen noch Teil des anderen der beiden benachbarten dicken ausgedehnten Teile des Gegenstandes sein. Auf diese Weise ist die Grenze in Bezug auf die beiden ausgedehnten Teile neutral und es treten dennoch keine „Lücken“ im Gegenstand auf. Allerdings stehen die beiden ausgedehnten Teile des Gegenstandes auch hier nicht in direktem Kontakt miteinander, da ihr Kontakt durch einen dritten Teil des Gegenstandes vermittelt ist. Außerdem gibt es, wenn sämtliche dicken Teile eines ausgedehnten Gegenstandes durch dünne Teile voneinander getrennt sind, keine Klasse von dicken Teilen, die gemeinsam den ganzen Gegenstand ausschöpfen. Es müssen stets noch die entsprechenden dünnen Teile hinzugenommen werden, damit der ganze Gegenstand ausgeschöpft ist. Dies widerspricht aber der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände. Schwierigkeiten gibt es auch noch in Bezug auf das Problem der Spaltung, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden wird. Somit kann auch diese Variante von Option 3 nicht als angemessene Beschreibung von Situation (c) gelten.

3.7.4 Option 3 und das Problem der Spaltung Wäre die Grenze zwischen zwei benachbarten ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes eine Grenze erster Art, also eine leere, dünne „Lücke“, dann wäre eine Spaltung problemlos möglich: Die beiden Teile müssten dazu einfach weiter auseinandertreten. Keines der beiden Spaltprodukte hat durch die Spaltung gegenüber dem jeweils entsprechenden vormaligen Teil des Gegenstandes einen Teil eingebüßt: An der Stelle, an der die beiden dicken, ausgedehnten Teile des Gegenstandes zusammenhingen, besaß keiner von ihnen

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einen dünnen äußersten Teil. Genauso besitzen auch die beiden Produkte der Spaltung an der vormaligen Berührstelle jeweils keinen äußersten Teil. Der dünne Teil des Raumes, der die vormalige Grenze zwischen den beiden Teilen war, bliebe natürlich als solcher bestehen, wäre aber nach der Spaltung keine Grenze mehr. Das Problem der Spaltung wäre im beschriebenen Fall einfach deswegen gelöst, weil der Gegenstand im Grunde bereits von vornherein gespalten wäre. Die Teile waren nämlich gar nicht in Kontakt miteinander und konnten deshalb auch problemlos auseinandertreten. Wie bereits erläutert wurde, widerspricht allerdings die Voraussetzung, dass es leere, dünne „Lücken“ zwischen den ausgedehnten Teilen eines solchen Gegenstandes gibt, der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände. Nimmt man dagegen an, dass die Grenze eine Grenze zweiter Art ist, also ein dünner Teil des Gegenstandes, der keinem der beiden benachbarten dicken Teile als Teil angehört, dann stellt sich der Vorgang der Spaltung anders dar. Die beiden dicken Teile könnten zwar auch hier, ebenso wie im gerade beschriebenen Fall einer Grenze erster Art, ohne Verlust auseinandertreten. Aber was geschieht dabei mit der neutralen, dünnen Grenze zwischen ihnen? Diese gehörte vor der Spaltung zwar keinem der beiden dicken Teile, aber sehr wohl dem gesamten, unversehrten Gegenstand als Teil an. Da sie nicht einfach verschwinden kann, bleiben die folgenden beiden Möglichkeiten: Entweder existiert die Grenze als eigenständiger, (n-1)-dimensional ausgedehnter Gegenstand getrennt von den beiden Spaltprodukten weiter, oder sie schließt sich einem der Spaltprodukte als Teil an. In Bezug auf die erste Möglichkeit ist einzuwenden, dass es höchst fraglich ist, ob es dünne Gegenstände überhaupt eigenständig und von anderen Gegenständen abgetrennt geben kann. Zudem würde bei dieser Lösung eine Spaltung in zwei Spaltprodukte unmöglich sein: Bei jeder Spaltung würden stets drei Produkte zurückbleiben. Dies widerspricht jedoch der Alltagsintuition, dass man ausgedehnte Gegenstände gewöhnlich ohne Rest in zwei Teile spalten kann. Der Begriff der Spaltung üblicherweise gerade mit einer Zweiteilung eines Gegenstandes verbunden. Nimmt man die zweite Möglichkeit als Lösung an, dann ergeben sich ebenfalls Probleme: Eine Spaltung wäre stets asymmetrisch, da die Grenze nur an einem der beiden Produkte haften bleiben kann. Es ist unklar, an welchem sie haften bleibt, und warum an diesem und nicht an dem anderen. Zudem würde einer der beiden Teile durch seine Abspaltung vom Rest des Gegenstandes „größer“ werden: Er gewinnt einen dünnen äußersten Teil hinzu. All dies wirkt eher kontraintuitiv. Schließlich ist zu bedenken, dass durch eine solche Spaltung zwei Gegenstände mit unterschiedlicher Oberflächenstruktur entstehen würden: Eines der beiden Produkte der Spaltung hätte einen dünnen, äußersten Teil, das andere nicht. Die Existenz

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von Gegenständen mit unterschiedlicher Oberflächenstruktur führt aber zu einer Verschärfung des Problems des Kontaktes, wie sogleich gezeigt werden wird.

3.7.5 Option 3 und das Problem des Kontaktes Eine Grenze im Sinne von Option 3 gibt es zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen nur dann, wenn diese jeweils an der Berührstelle keinen dünnen äußersten Teil haben. Gegenstände mit äußersten Teilen können daher entweder dort, wo sich diese äußersten Teile befinden, nicht mit anderen Gegenständen in Kontakt kommen, oder sie müssen diese äußersten Teile unmittelbar vor der Berührung verlieren. Im ersteren Fall wäre die Möglichkeit des In-KontaktKommens zweier Gegenstände von der Oberflächenstruktur dieser Gegenstände abhängig, was aber kontraintuitiv ist. Aber auch das Verlieren von Teilen im Falle eines Kontaktes zweier Gegenstände ist keine besonders plausible Lösung. Etwas genauer betrachtet verhält es sich so: i) Im Fall, dass die beiden n-dimensional ausgedehnten Gegenstände jeweils keinen dünnen äußersten Teil an der Berührstelle haben, müssen sich diese nur maximal nahe kommen in dem Sinne, dass kein leerer, ndimensionaler Teil des Raumes mehr zwischen ihnen liegt, damit es eine Grenze im Sinne von Option 3 zwischen ihnen gibt. Die Grenze ist dann eine Grenze erster Art, d. h. ein leerer, (n-1)-dimensionaler Teil des Raumes. Wie bereits oben bemerkt wurde, bleibt es dabei aber fraglich, ob die Existenz einer solchen Grenze zwischen den beiden Gegenständen das ist, was tatsächlich gemeint ist, wenn man von zwei sich berührenden Gegenständen spricht. Streng genommen haben die beiden Gegenstände nämlich keine Verbindung zueinander. Das Problem des Kontaktes wird hier also dadurch „gelöst“, dass eigentlich gar kein Kontakt zustande kommt. Zumindest eine indirekte Verbindung zwischen den beiden Gegenständen gäbe es aber in dem Fall, dass es sich um eine Grenze zweiter Art handelte, d. h. um einen (n-1)-dimensional ausgedehnten Gegenstand, der sich zwischen den beiden n-dimensionalen Gegenständen befände. Es fragt sich hier nur, wo ein solcher Gegenstand im Augenblick des Kontaktes herkommen soll. ii) Im Fall, dass genau einer der beiden n-dimensional ausgedehnten Gegenstände einen dünnen äußersten Teil an der Berührstelle hat, wäre genau dieser dünne äußerste Teil ein Kandidat für eine Grenze zweiter Art. Dazu müsste sich im Augenblick des Kontaktes dieser dünne äußerste Teil von seinem Gegenstand lösen in dem Sinne, dass er ab diesem Zeitpunkt kein Teil mehr von

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ihm ist. Die Möglichkeit zu einem solchen Kontakt wäre dabei natürlich stark abhängig davon, welche Oberflächenstruktur die beteiligten Gegenstände haben. Problematisch ist außerdem, dass einer der beiden Gegenstände im Augenblick des Kontaktes einen Teil verlieren müsste, und so durch den Kontakt „kleiner“ werden würde. Es ist zudem fraglich, was bei einem späteren Lösen des Kontaktes geschieht. Schließt sich die Grenze wieder dem ursprünglichen Gegenstand als Teil an? Wieso nicht dem anderen? Oder bleibt sie als selbständiger, (n-1)-dimensionaler Gegenstand abgetrennt von den beiden n-dimensional ausgedehnten Gegenständen bestehen? Es ist jedenfalls nicht klar, ob ein solcher Kontakt wieder gelöst werden kann, ohne dass dabei einer der beiden Gegenstände eine Veränderung in seiner Oberflächenstruktur erleidet. Eine Veränderung der Oberflächenstruktur ist aber höchst problematisch, vor allem im Blick darauf, dass die Möglichkeit zu einem Kontakt dieser Art stark von der Oberflächenstruktur der beteiligten Gegenstände abhängt. Die Fähigkeit eines Gegenstandes, mit bestimmten anderen Gegenständen in Kontakt treten zu können, würde sich mit jedem kurzzeitigen Kontaktereignis verändern. In diesem zweiten Fall gibt es also erhebliche Schwierigkeiten, die die Möglichkeit eines Kontaktes als wenig plausibel erscheinen lassen. iii) Treffen zwei Gegenstände aufeinander, die beide an der Berührstelle jeweils einen dünnen äußersten Teil haben, dann stehen sich diese beiden äußersten Teile gegenseitig im Weg. Für einen Kontakt im Sinne von Option 3 muss in diesem Fall mindestens einer der beiden Gegenstände seinen dünnen äußersten Teil verlieren (in dem Sinne, dass dieser dann gar nicht mehr vorhanden ist), damit eine Grenze erster oder zweiter Art möglich ist. Es ist aber völlig unklar, wie bzw. wohin diese dünnen äußersten Teile „verschwinden“ sollen. Ein Kontakt zwischen solchen Gegenständen ist also offenbar nicht möglich. Insgesamt wird somit das Problem des Kontaktes im Sinne von Option 3 am schlüssigsten dadurch gelöst, dass von vornherein überhaupt kein Gegenstand einen dünnen äußersten Teil hat. Dann können alle Gegenstände miteinander in der Weise des gerade geschilderten Falles (i) in Kontakt kommen, indem sie eine Grenze erster Art, also einen dünnen, leeren Teil des Raumes zwischen sich haben. Problematisch ist hierbei allerdings erstens, wie bereits mehrfach betont, dass die beiden Gegenstände dann streng genommen gar nicht miteinander in Kontakt stehen, und zweitens, dass die oben ermittelte plausibelste Lösung für das Problem der Spaltung wiederum dazu führt, dass durch Spaltungen Gegenstände mit dünnen äußersten Teilen entstehen, für die ein erneuter Kontakt nicht mehr unproblematisch möglich ist. Es bleibt also auch dieser Lösungsvorschlag am Ende unbefriedigend.

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3.7.6 Zusammenfassung Option 3 kann in zwei Varianten vertreten werden: Die neutrale Grenze zwischen den beiden n-dimensional ausgedehnten Gegenständen ist entweder ein leerer, (n-1)-dimensionaler Teil des Raumes oder ein dritter Gegenstand, der (n1)-dimensional ausgedehnt ist. In beiden Varianten stimmt streng genommen die Grundthese, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, nicht mehr. Es gilt allerdings noch eine abgeschwächte Form der Grundthese: Eine Grenze ist ein (n-1)-dimensional ausgedehnter Gegenstand, der in Bezug auf zwei n-dimensional ausgedehnte Gegenstände so angeordnet ist, dass er die Stelle eines (nicht vorhandenen) dünnen äußersten Teils für jeden dieser beiden Gegenstände einnimmt. Somit wird Option 3 auch der Intuition Abhängigkeit gerecht, denn damit es eine Grenze gemäß Option 3 geben kann, muss es auch die beiden ausgedehnten Gegenstände geben, zu denen sie in der gerade geschilderten Anordnungsrelation steht. Die Intuition Ende wird Option 3 dagegen nur insofern gerecht, als man zulässt, dass es neben intrinsischen auch extrinsische Enden geben kann, also Enden, die dem Gegenstand, dessen Ende sie jeweils sind, nicht als Teil angehören. Zur Intuition Trennung passt Option 3 wiederum sehr gut, denn die neutrale Grenze trennt eindeutig die beiden Gegenstände voneinander. Probleme bereitet allerdings die Intuition Verbindung: Dieser wird die erste Variante (Grenze als leerer Teil des Raumes) sicher nicht gerecht. Auch in der zweiten Variante sind die beiden Gegenstände nicht direkt miteinander verbunden, die Grenze stellt aber hier zumindest eine indirekte Verbindung her. Keine der drei Situationen wird durch eine Grenze gemäß Option 3 letztlich in befriedigender Weise beschrieben. Bei Situation (a) werden die beiden einander berührenden Gegenstände einerseits durch eine solche Grenze zwar ausreichend gut voneinander getrennt, es ist allerdings unklar, ob sie sich auch tatsächlich berühren: Bei der ersten Variante liegt noch ein leerer Teil des Raumes zwischen ihnen, bei der zweiten Variante ein dritter Gegenstand, so dass ihr gegenseitiger Kontakt wenn er überhaupt gegeben ist, dann höchstens indirekt ist. Bei Situation (b) führt die Annahme einer neutralen Grenze dazu, dass Gegenstand und Umgebung nicht mehr komplementär zueinander sind. Situation (b) kann also nicht angemessen beschrieben werden. Wird Situation (c) mithilfe von Option 3 beschrieben, dann sind die beiden ausgedehnten Teile eines ausgedehnten Gegenstandes zu stark voneinander getrennt und es müssen „Lücken“ oder „neutrale“ dünne Teile innerhalb des Gegenstandes angenommen werden, was aber der Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände widerspricht.

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Die Probleme der Spaltung und des Kontaktes sind nur dann einigermaßen sinnvoll lösbar, wenn alle ausgedehnten Gegenstände und alle ausgedehnten Teile offen sind, d. h. keine äußersten Teile haben. Die „Lösung“ der Probleme besteht dann allerdings genau genommen darin, dass der Gegenstand eigentlich bereits von vornherein gespalten ist bzw. die beiden Gegenstände gar nicht wirklich in Kontakt kommen.

3.8 Option 4: Koinzidierende Grenzen Option 4 unterscheidet sich von den ersten drei Optionen grundlegend dadurch, dass hier nicht mehr von einer Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen die Rede ist, sondern von zwei Grenzen: Jeder der beiden ausgedehnten Gegenstände hat eine abschließende Grenze an der Kontaktstelle, und die beiden Grenzen sind nicht miteinander identisch. Dabei ist jede dieser beiden Grenzen jeweils ein äußerster Teil desjenigen Gegenstandes, dessen Grenze sie ist. Diese beiden dünnen äußersten Teile der beiden Gegenstände überlagern sich gegenseitig vollständig, sie koinzidieren. „Koinzidenz“ bedeutet hier also vollständige gegenseitige Überlagerung.18 Jeder im Raum befindliche materielle Gegenstand koinzidiert beispielsweise mit der Raumregion, die er einnimmt. Zwei räumlich ausgedehnte Gegenstände koinzidieren, wenn sie exakt dieselbe Raumregion einnehmen, ohne dabei über gemeinsame Teile zu verfügen. Auch auf rein zeitliche Gegenstände ist der Begriff der Koinzidenz anwendbar.19 Problematisch erscheint an Option 4 zunächst, dass man dort, wo man nach dem Alltagsverständnis eine Grenze erwartet, die Existenz von zwei Grenzen behaupten muss, die (im Fall von materiellen Gegenständen) epistemisch nicht voneinander unterscheidbar sind und die sich auch geometrisch nicht unterscheiden. Dies könnte man als Verletzung des ontologischen Sparsamkeitsprinzips deuten.

|| 18 Abzugrenzen ist dies von anderen Verwendungsweisen des Ausdrucks „Koinzidenz“: Simons benutzt beispielsweise den Ausdruck „coincident“ für zwei Gegenstände, die sämtliche Teile gemeinsam haben, d. h. einander vollständig überlappen (vgl. Simons 1987, S. 210). Für Koinzidenz im hier gemeinten Sinne verwendet er dagegen den Ausdruck „superposition“. Zum Begriff „Koinzidenz“ in der Mereologie vgl. auch Kanzian 1994. 19 Zu zeitlicher Koinzidenz vgl. z. B. Kleinknecht 1992, S. 52.

Option 4: Koinzidierende Grenzen | 81

3.8.1 Option 4 und die vier Grundintuitionen Grenzen gemäß Option 4 sind abhängig von denjenigen Gegenständen, deren Ende sie jeweils sind. Den Intuitionen Abhängigkeit und Ende wird Option 4 also in vollem Umfang gerecht. Nicht ganz so eindeutig ist zu entscheiden, ob die beiden Gegenstände durch ihre koinzidierenden Grenzen auch in ausreichendem Maß voneinander getrennt sind. Dagegen spricht zunächst, dass sie sich gegenseitig durchdringen, wenn auch nur in ihren äußersten Teilen. Die Gegenstände sind sich in dieser Hinsicht also gegenseitig genauso nahe wie bei Option 1, bei der die beiden Gegenstände eindeutig nicht voneinander getrennt sind. Andererseits haben die beiden Gegenstände, im Gegensatz zu Option 1, bei Option 4 keine Teile gemeinsam. Sie sind also nicht „zusammengewachsen“ und können somit auch nicht als ein einziger ausgedehnter Gegenstand angesehen werden. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, sie als getrennt voneinander zu betrachten. Sind es aber ihre jeweiligen Grenzen, die die beiden Gegenstände voneinander trennen? Das scheint nicht der Fall zu sein, denn die Grenzen gehören ja selbst noch jeweils einem der beiden ausgedehnten Gegenstände als Teil an. Der Intuition Trennung wird Option 4 also nicht vollständig gerecht: Die beiden Gegenstände sind zwar durchaus als voneinander getrennt anzusehen, allerdings sind es offenbar nicht ihre Grenzen, die sie voneinander trennen. Der Intuition Verbindung wird Option 4 dagegen besser gerecht. Die Tatsache, dass sich die beiden ausgedehnten Gegenstände in ihren äußersten Teilen durchdringen, rechtfertigt es davon zu sprechen, dass die beiden Gegenstände in diesem Sinne miteinander verbunden sind. Die Verbindung wird dabei durch die beiden koinzidierenden Grenzen hergestellt.

3.8.2 Option 4 und die drei Situationen Situation (a) (zwei einander berührende ausgedehnte Gegenstände) wird durch Option 4 im Grunde recht gut beschrieben: Es sind eindeutig zwei verschiedene Gegenstände, die einander berühren, ohne dass es etwas Drittes zwischen ihnen gibt und ohne dass sie gemeinsame Teile haben. Beide Gegenstände haben jeweils einen dünnen äußersten Teil, der ihre jeweilige abschließende Grenze ist. Man muss keine offenen Gegenstände annehmen. Somit treten die Schwierigkeiten, mit denen die ersten drei Optionen zu kämpfen haben, hier nicht auf. Problematisch ist allerdings, dass auch bei materiellen Gegenständen eine gegenseitige Durchdringung gefordert werden muss (wenn auch nur in einem dünnen Teil). Wird eine strikte Auffassung von der Undurchdringlichkeit der

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Materie vertreten, dann ist Option 4 natürlich nicht akzeptabel. Unklar ist auch, wie hier mit unterschiedlichen empirischen Eigenschaften der beiden Gegenstände umgegangen werden soll: Haben die beiden Gegenstände beispielsweise unterschiedliche Farben (etwa blau und rot), dann könnte man die Frage stellen, in welcher Farbe ihre koinzidierenden äußersten Teile dem Beobachter erscheinen. Setzt sich hier eine der beiden Farben gegenüber der anderen durch? Oder erscheinen sie in einer anderen Farbe bzw. farblos? Hierauf scheint es zumindest keine naheliegenden Antworten zu geben. Obwohl Option 4 zur Beschreibung von Situation (a) auf den ersten Blick angemessener zu sein scheint als die ersten drei Optionen, ist sie dennoch nicht frei von Schwierigkeiten. Wird die Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung (Situation (b)) mithilfe von Option 4 beschrieben, dann muss man ein gegenseitiges Durchdringen des Gegenstandes mit seiner Umgebung annehmen. Dies widerspricht aber stark der üblichen Bedeutung des Ausdrucks „Umgebung“. Option 4 ist also unangemessen zur Beschreibung von Situation (b). Soll Situation (c) mithilfe von Option 4 beschrieben werden, dann muss angenommen werden, dass jeder n-dimensional ausgedehnte Teil eines ndimensional ausgedehnten Gegenstandes einen dünnen (d. h. (n-1)dimensional ausgedehnten) äußersten Teil an den Stellen hat, an denen er mit anderen n-dimensional ausgedehnten Teilen des Gegenstandes in Kontakt steht. Die jeweiligen dünnen äußersten Teile zweier benachbarter ndimensional ausgedehnter Teile des Gegenstandes koinzidieren jeweils. Somit sind die beiden benachbarten Teile so miteinander verbunden, dass es weder gemeinsame Teile noch eine „Lücke“ oder etwas Drittes zwischen ihnen gibt. Dies entspricht auch der Forderung, dass es ausgedehnte Teile ausgedehnter Gegenstände geben soll, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen. Außerdem sind die beiden Teile disjunkt in dem Sinne, dass sie keinen Teil gemeinsam haben. Mit dem Wortlaut der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände gibt es also offenbar kein Problem. Allerdings ist die spezielle Art der Zusammenhangsrelation, die bei Option 4 zwischen den ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes herrscht, bei genauerer Betrachtung fragwürdig: Liegt hier anstatt eines einzigen, homogenen Gegenstandes nicht vielmehr eine Vielzahl selbständiger ausgedehnter Gegenstände vor, die sich mit den jeweils benachbarten Gegenständen jeweils in einem dünnen Teil durchdringen? Kurz gesagt, besteht der Verdacht, dass die über koinzidierende Teile gegebene Zusammenhangsrelation „zu schwach“ ist in dem Sinne, dass sie die Eigenständigkeit der miteinander verbundenen Teile zu stark

Option 4: Koinzidierende Grenzen | 83

betont und somit der Homogenität des aus diesen Teilen bestehenden ausgedehnten Gegenstandes nicht gerecht wird. Eine weitere Schwierigkeit könnte darin gesehen werden, dass man bei Anwendung von Option 4 auf Situation (c) womöglich gegen das ontologische Sparsamkeitsgebot verstößt: Jeder ausgedehnte Gegenstand wäre durchsetzt von einer unüberschaubaren Vielzahl einander überlagernder dünner Teile. Bei einem eine Region des Raumes einnehmenden materiellen Gegenstand würde an jedem Raumpunkt eine Vielzahl von „materiellen Punkten“ anzutreffen sein. Es ist unklar, ob die Vorteile von Option 4 diese enorme Vervielfältigung der Entitäten rechtfertigen.

3.8.3 Option 4 und das Problem der Spaltung Nimmt man trotz der gerade geschilderten Schwierigkeiten Option 4 als Beschreibung von Situation (c) an, dann erweist sich das Problem der Spaltung als leicht lösbar. Da es keine gemeinsamen Teile gibt, können zwei ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes einfach auseinandertreten, ohne dass die Zusammensetzung der Spaltprodukte eine andere wäre als die der jeweils entsprechenden ausgedehnten Teile vor der Spaltung. Zudem haben hier, im Unterschied zu Option 3, beide Spaltprodukte jeweils einen dünnen äußersten Teil. Einziger Einwand ist, wie bereits erwähnt, der Verdacht, dass die beiden Teile bereits vor der Spaltung nur schwach miteinander verbunden waren, so dass hier im eigentlichen Sinn von einer „Spaltung“ gar nicht die Rede sein kann, sondern nur von einem Auseinandertreten zweier bereits in gewissem Sinne als Einzelgegenstände vorliegender Teile.

3.8.4 Option 4 und das Problem des Kontaktes Auch das Problem des Kontaktes erscheint zunächst als leicht lösbar. Man braucht dazu keine offenen oder teilweise offenen Gegenstände annehmen und es gibt nie „zu viele“ oder „zu wenige“ dünne äußerste Teile. Bei einem Kontaktereignis nähern sich zwei ausgedehnte Gegenstände einander soweit an, dass ihre jeweiligen äußersten Teile an der Berührstelle koinzidieren. Ein Einwand ist hier allerdings, wie ebenfalls bereits bemerkt, dass man gezwungen ist, auch bei materiellen Gegenständen eine Durchdringung, wenn auch nur in einem dünnen Teil, anzunehmen. Nimmt man dies an, dann ist unklar, warum die Durchdringung bei einem dünnen Teil anhält und nicht weiter voranschreitet. Was hält zwei Gegenstände, die sich bereits in einem dünnen Teil durch-

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dringen, davon ab, sich auch in einem dicken Teil und schließlich vollständig zu durchdringen? Lässt man dies aber zu, dann hat man sich offenbar vom üblichen Begriff eines materiellen Gegenstandes vollkommen verabschiedet. Auch allgemeiner bezogen auf ausgedehnte Gegenstände, für die es keine strenge Undurchdringlichkeitsforderung gibt, tritt hier ein Problem auf: Wird die Durchdringung im Vergleich zur Gesamtgröße der beteiligten Gegenstände sehr groß, dann ist es schließlich gar nicht mehr gerechtfertigt, von zwei einander berührenden Gegenständen zu sprechen.

3.8.5 Zusammenfassung Option 4 unterscheidet sich insbesondere dadurch von den drei anderen Optionen, dass hier anstelle von einer Grenze zwischen zwei Gegenständen, zwei koinzidierende Grenzen angenommen werden. Dies wirft die Frage auf, ob man hier nicht mehr Entitäten als notwendig annimmt, insbesondere angesichts der Tatsache, dass es problematisch ist, die beiden Grenzen durch empirische oder andere Mittel voneinander zu unterscheiden. Den Intuitionen Abhängigkeit und Ende und auch der Intuition Verbindung wird Option 4 jedenfalls in vollem Umfang gerecht. Der Intuition Trennung wird Option 4 zwar einerseits insofern gerecht, dass die beiden Gegenstände hier eindeutig voneinander getrennt sind, jedoch andererseits auch wiederum nicht gerecht in der Hinsicht, dass es hier nicht die Grenze ist, die die beiden Gegenstände voneinander trennt. Größere Schwierigkeiten treten in Bezug auf die drei Situationen auf. Dabei wird Situation (a) noch vergleichsweise treffend beschrieben. Die Schwierigkeiten, mit denen die ersten drei Optionen behaftet sind, treten hier jedenfalls nicht auf. Dafür gibt es einen gewichtigen Einwand, insofern es um materielle Gegenstände geht: Es muss nämlich angenommen werden, dass sich materielle Gegenstände, wenn auch nur in einem dünnen Teil, gegenseitig durchdringen können. Dies widerspricht aber der üblicherweise angenommenen gegenseitigen Undurchdringlichkeit materieller Gegenstände. Die Forderung nach gegenseitiger Durchdringung lässt Option 4 auch als ungeeignet zur Beschreibung der Grenze zwischen einem Gegenstand und seiner Umgebung (Situation (b)) erscheinen. Auch bezogen auf Situation (c) lassen sich Einwände gegen eine Beschreibung mithilfe von Option 4 erheben: Die ausgedehnten Teile eines ausgedehnten Gegenstandes erscheinen hier wie eigenständige Gegenstände, die zwar durchaus miteinander verbunden, aber nicht zu einem einzigen Gegen-

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stand „zusammengewachsen“ sind. Zudem lässt sich auch hier fragen, ob das ontologische Sparsamkeitsgebot in angemessener Weise beachtet wurde. Die Probleme der Spaltung und des Kontaktes sind bei Option 4 zunächst einmal sehr viel leichter lösbar als bei den übrigen drei Optionen. In Bezug auf das Problem der Spaltung fragt sich allerdings, ob dies nicht einfach daran liegt, dass die Teile bereits vor der Spaltung schon eine ausreichende Selbständigkeit besitzen, so dass der Gegenstand in gewissem Sinne bereits von vornherein gespalten ist. In Bezug auf das Problem des Kontaktes kann der Einwand erhoben werden, dass es keinen Grund gibt, warum eine Durchdringung bei einem dünnen Teil anhalten und nicht weiter voranschreiten soll. In einem solchen Fall wäre aber die Rede von zwei einander berührenden Gegenständen nicht mehr gerechtfertigt.

3.9 Grenzen als Teile: eine Zwischenbilanz In diesem Kapitel wurde die folgende Grundthese erläutert und auf Plausibilität untersucht: Eine Grenze ist ein äußerster Teil eines ausgedehnten Gegenstandes.

Mit „Teil“ könnte hierbei zunächst einmal ein Teil des ausgedehnten Gegenstandes gemeint sein, der selbst wiederum ein ausgedehnter Gegenstand derselben Dimension ist. Eine Grenze wäre dann ein Teil, der ganz den in der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände erwähnten Teilen entspricht. Man könnte die Grenze somit durch einen endlichen Teilungsprozess von dem Gegenstand, dessen Teil sie ist, abspalten. Die Behauptung, dass eine Grenze ein n-dimensional ausgedehnter Teil eines n-dimensional ausgedehnten Gegenstandes sei, hat sich allerdings als in vielfacher Hinsicht problematisch herausgestellt. Die Annahme solcher „dicken Grenzen“ widerspricht nicht nur einer weit verbreiteten Intuition, nach der jeder n-dimensionale Gegenstand nur (n-1)-dimensionale, d. h. „dünne“ äußerste Teile als Grenzen hat, sondern führt auch auf diverse Eindeutigkeits-, Regress- und Vagheitsprobleme. Insbesondere mit Blick auf den Fall einer Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen ist die Annahme dicker Grenzen daher abzulehnen. Falls Grenzen überhaupt Teile von ausgedehnten Gegenständen sind, dann sind sie dünne Teile. Falls ein Gegenstand in mehr als einer Dimension ausgedehnt ist, dann sind seine dünnen Teile ebenfalls ausgedehnte Gegenstände, deren Dimensionszahl allerdings um eins niedriger ist. Dünne Teile sind demnach in einer Dimension

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unteilbar, in der der Gegenstand, dessen Teil sie jeweils sind, teilbar ist. Mit Ausnahme der punktförmigen Grenzen von Linien sind demnach alle Grenzen selbst ausgedehnte Gegenstände und somit teilbar, wenn auch nicht in derselben Weise wie die Gegenstände, deren Teil und Grenze sie jeweils sind. Dünne Grenzen lassen sich, im Gegensatz zu dicken Grenzen, nicht durch einen endlichen Teilungsprozess von den Gegenständen abspalten, deren Teile sie jeweils sind. Die Annahme dünner Grenzen führt allerdings dazu, dass es logisch möglich ist, dass es beschränkte ausgedehnte Gegenstände ohne Grenze gibt. Es handelt sich dabei um Gegenstände, die einerseits beschränkt im Sinne von „nicht unendlich“ sind, die aber andererseits auch keine dünnen äußersten Teile haben. Beispiele hierfür sind unter den offenen Mengen der Topologie zu finden: Eine offene Kugel ist beschränkt, hat aber keinen dünnen äußersten Teil. Sie hat somit auch keine Grenze, die ihr als Teil angehört. Um die Grundthese, dass Grenzen dünne äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände sind, auf ihre Plausibilität hin zu prüfen, wurde untersucht, inwieweit sie den zu Beginn der Arbeit herausgestellten vier Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen gerecht wird. Klar ist, dass die Grundthese den Intuitionen Abhängigkeit und Ende vollkommen gerecht wird. Um zu prüfen, ob sie auch den Intuitionen Trennung und Verbindung gerecht wird, sind Situationen zu betrachten, in denen nicht nur ein ausgedehnter Gegenstand vorliegt, sondern in denen es zwei ausgedehnte Gegenstände und eine Grenze zwischen ihnen gibt. Genauer betrachtet können drei Arten von Situationen auftreten, in denen es zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen eine Grenze gibt: a) zwei ausgedehnte Gegenstände die einander berühren, b) ein ausgedehnter Gegenstand und seine Umgebung, c) zwei direkt benachbarte ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes. Soll auch für eine Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen (bzw. zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung sowie zwischen zwei ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes) die Grundthese gelten, dann muss der Gegenstand identifiziert werden, deren Teil die Grenze ist. Zu diesem Problem der Zugehörigkeit der Grenze gibt es genau vier Antwortoptionen: Option 1: Die Grenze ist gemeinsamer Teil der beiden Gegenstände, Option 2: Die Grenze ist Teil nur eines der beiden Gegenstände, Option 3: Die Grenze gehört weder dem einen noch dem anderen Gegenstand als Teil an, sie ist „neutral“,

Grenzen als Teile: eine Zwischenbilanz | 87

Option 4: Es liegen statt einer Grenze hier in Wirklichkeit zwei koinzidierende Grenzen vor, die jeweils einem der beiden Gegenstände als Teil angehören. Es ist zu bemerken, dass die Grundthese bei Option 3 nur noch in eingeschränkter Weise gültig ist: Die Grenze ist hier streng genommen kein Teil eines ausgedehnten Gegenstandes, sie ist aber in Bezug auf die beiden benachbarten ausgedehnten Gegenstände so angeordnet, dass sie die Stelle einnimmt, die ein jeweiliger dünner äußerster Teil einnehmen würde, wenn einer der Gegenstände dort einen solchen Teil hätte. Aus dem Problem der Zugehörigkeit ergeben sich im Kontext der drei Situationen zwei weitere Probleme: das Problem der Spaltung und das Problem des Kontaktes. Dabei geht es um die Frage, was mit einer als Teil eines ausgedehnten Gegenstandes verstandenen Grenze geschieht, wenn ein Wechsel von Situation (c) zu Situation (b) bzw. von Situation (b) zu Situation (a) stattfindet, d. h. wenn ein ausgedehnter Gegenstand gespalten wird bzw. zwei ausgedehnte Gegenstände miteinander in Kontakt kommen. Jede Antwort auf das Problem der Zugehörigkeit sollte danach beurteilt werden, ob sie den vier Grundintuitionen über Grenzen gerecht wird, wie gut sie die drei Situationen (a), (b) und (c) beschreibt, und ob sie angemessene Lösungen für das Problem der Spaltung und das Problem des Kontaktes bieten kann. Eine eingehende Untersuchung der vier Optionen brachte das Ergebnis, dass alle vier Optionen den Intuitionen Abhängigkeit und Ende gerecht werden, wenn auch bei Option 3 in einer anderen Weise als bei den übrigen Optionen. Der Intuition Trennung werden nur Option 3 und, mit Einschränkung, Option 4 gerecht, der Intuition Verbindung nur Option 1 und Option 4, während sich Option 2 ambivalent zu diesen beiden Intuitionen verhält. Keine der vier Optionen wird somit allen vier Grundintuitionen gleichermaßen in voller Weise gerecht. Am besten schneidet hier noch Option 4 ab. Option 4 bietet auch die angemessenste Beschreibung von Situation (a): Die beiden Gegenstände haben hier jeweils eine abschließende Grenze, sie berühren sich tatsächlich gegenseitig und in symmetrischer Weise, und sind dabei doch klarerweise getrennt voneinander. Keine der übrigen Optionen vereint alle diese Vorteile auf sich: Bei den Optionen 2 und 3 müssen Gegenstände ohne abschließende Grenze angenommen werden, bei Option 3 berühren sich die Gegenstände streng genommen gar nicht, und bei Option 1 sind sie zu einem einzigen Gegenstand zusammengewachsen. Bei Option 2 kommt noch das Problem hinzu, dass nur ein asymmetrischer Kontakt möglich ist. Betrachtet man speziell materielle ausgedehnte Gegenstände, dann zeigt sich, dass Situation (a) durch Option 1 gar nicht widerspruchsfrei beschrieben

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werden kann. Aber auch bei Option 4 gibt es hier eine erhebliche Schwierigkeit, denn es muss angenommen werden, dass sich materielle Gegenstände zumindest in dünnen Teilen gegenseitig durchdringen können. Somit ist auch Option 4 in Bezug auf Situation (a) nicht frei von Problemen. Situation (b) kann überhaupt nur durch Option 2 einigermaßen angemessen beschrieben werden. Nur bei einer Beschreibung durch Option 2 sind Gegenstand und Umgebung auch tatsächlich komplementär zueinander. Eine Schwierigkeit ergibt sich jedoch daraus, ob im Einzelfall jeweils immer klar ist, was Gegenstand und was Umgebung ist. Eine Entscheidung hierüber ist zwingend erforderlich, da bei Option 2 nur der Gegenstand über eine abschließende Grenze als Teil verfügt. Für Situation (c) bietet keine der vier Optionen eine völlig zufriedenstellende Beschreibung. Option 1 trifft zwar sehr gut den Aspekt, dass die beiden benachbarten Teile stark miteinander verbunden und Teile eines einzigen Gegenstandes sind. Allerdings widerspricht die Beschreibung durch Option 1 der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände: Es gibt hier keine Klasse disjunkter, ausgedehnter Teile, die den Gegenstand vollkommen ausschöpfen; man muss Überlappungen der Teile annehmen, wenn sie zusammenhängen und gemeinsam den Gegenstand ganz ausschöpfen sollen. Bei Option 2 wird eine Asymmetrie der Teile behauptet, was eine starke Einschränkung darstellt. Option 3 widerspricht der Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände noch eklatanter als Option 1: Die ausgedehnten Teile hängen hier entweder überhaupt nicht mehr zusammen, oder sie schöpfen den Gegenstand nicht vollständig aus und müssen durch zusätzliche, dünne Teile miteinander verbunden werden. Bei Option 4 besteht ebenfalls der Verdacht, dass die Teile nicht in ausreichendem Maß miteinander verbunden sind, um einen einzigen, kontinuierlich ausgedehnten Gegenstand zu bilden. Außerdem ist bei Beschreibung aller inneren Grenzen mithilfe von Option 4 zu beachten, dass eine Vielzahl von koinzidierenden dünnen Teilen angenommen werden muss, was als Verstoß gegen das ontologische Sparsamkeitsgebot angesehen werden könnte. Ein weiterer Prüfstein für eine angemessene Beschreibung von Situation (c) ist es, eine plausible Lösung für das Problem der Spaltung zu finden. Bei den Optionen 1 und 2 ergibt sich bei einer Spaltung zwangsläufig ein asymmetrisches Resultat. Es entstehen so Gegenstände, denen dünne äußerste Teile fehlen. Gegenstände ohne abschließende Grenze sind jedoch kontraintuitiv und verschärfen das Problem des Kontaktes. Option 3 bietet unter Umständen eine sehr einfache „Lösung“ des Problems der Spaltung, die jedoch darin besteht, dass die Teile bereits von vornherein voneinander getrennt waren. Ähnliches

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gilt in abgeschwächter Weise auch für Option 4. Völlig zufriedenstellend lösen kann das Problem der Spaltung keine der vier Optionen. Das Problem des Kontaktes ist bei den Optionen 1 und 2 sowie, in geringerem Ausmaß, bei Option 3 mit enormen Schwierigkeiten verbunden. Im Kern ist dabei unklar, wie aus zwei Grenzen eine Grenze werden kann. Bei den Optionen 1 und 2 ist es zudem unvermeidlich, dass drei unterschiedliche Arten von Gegenständen vorliegen, die sich gemäß ihrer Oberflächenstruktur voneinander unterscheiden: Es gibt Gegenstände mit vollständiger abschließender Grenze, solche, denen eine abschließende Grenze teilweise fehlt, und solche, die überhaupt keine abschließende Grenze haben. Ein Kontakt kann aber jeweils nur zustande kommen, wenn Gegenstände mit einer ganz bestimmten Kombination von Oberflächenstrukturen zusammentreffen. Diese Abhängigkeit des Kontaktes von der Oberflächenstruktur der beteiligten Gegenstände ist aber kontraintuitiv. Sie kann auch nicht in plausibler Weise „wegerklärt“ werden. Bei Option 3 gibt es dagegen den Ausweg, dass sämtliche Gegenstände überhaupt keine abschließenden Grenzen haben, womit gesichert ist, dass alle ausgedehnten Gegenstände problemlos miteinander gemäß Option 3 in Kontakt kommen können. Allerdings ist es hier, wie bereits gesagt, fraglich, ob sich die Gegenstände dabei auch tatsächlich berühren. Option 4 nimmt hier wieder eine Sonderstellung ein. Da bei Option 4 auch bei einander berührenden Gegenständen jeder der beiden Gegenstände noch jeweils über eine eigene Grenze als äußersten Teil verfügt, können alle Gegenstände miteinander in Kontakt kommen. Es gibt aber auch hier Einwände: Zum einen muss selbst für materielle Gegenstände ein gewisses Maß an gegenseitiger Durchdringung angenommen werden; zum anderen ist auch in Bezug auf immaterielle Gegenstände unklar, wieso die Durchdringung bei einem dünnen Teil stoppen soll und nicht noch weiter voranschreitet. Insgesamt hat sich damit herausgestellt, dass alle vier Optionen mit erheblichen Problemen behaftet sind. Keine der vier Optionen wird allen vier Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen im Allgemeinen gleichermaßen und in voller Weise gerecht. Probleme verursachen dabei insbesondere die Intuitionen Trennung und Verbindung. Mit Bezug auf die drei möglichen Situationen, in denen eine Grenze zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander trennt bzw. miteinander verbindet, wurde festgestellt, dass keine der vier Optionen für alle drei Situationen eine gleichermaßen angemessene Beschreibung darstellt. Vielmehr ist jede der vier Optionen für mindestens eine der drei Situationen vollkommen unangemessen. Es gibt also keine allgemeine Lösung des Problems der Zugehörigkeit der Grenze in dem Sinne, dass für alle drei Situationen dieselbe Option gewählt werden könnte.

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Festzuhalten ist allerdings auch, dass jede der vier Optionen spezifische Vorteile mit sich bringt. So ist Option 1 vergleichsweise gut dazu geeignet, Situation (c) zu beschreiben. Option 2 beschreibt als einzige Situation (b) korrekt. Option 4 kommt mit Situation (a) am besten zurecht, zumindest wenn es sich dabei nicht um materielle Gegenstände handelt. Für materielle Gegenstände in Situation (a) scheint dagegen Option 3 die vergleichsweise beste Wahl zu sein. Es liegt daher der Gedanke nahe, auf eine allgemeine Lösung des Problems der Zugehörigkeit zu verzichten und stattdessen eine spezifische Lösung für jede der drei Situationen zu wählen. So könnte man beispielsweise für Situation (a) Option 4, für Situation (b) Option 2, und für Situation (c) Option 1 wählen, um die jeweiligen spezifischen Vorteile auszunutzen.20 Bei einer anderen Gewichtung von Vor- und Nachteilen der einzelnen Optionen könnte man jedoch auch eine andere Kombination wählen. Außerdem ist eine getrennte Betrachtung von materiellen und immateriellen ausgedehnten Gegenständen möglich. In diesem Sinne könnte man beispielsweise Situation (a) für materielle ausgedehnte Gegenstände durch Option 2 und für immaterielle ausgedehnte Gegenstände durch Option 4 beschreiben.21 Ein Kriterium dafür, ob die jeweils gewählte Kombination der Optionen eine plausible Lösung des Problems der Zugehörigkeit darstellt, ist dabei stets die Frage, ob damit auch das Problem der Spaltung und das Problem des Kontaktes angemessen gelöst werden können. Der Übergang von einer der drei Situationen zu einer anderen, der dabei jeweils thematisiert wird, muss durch die gewählte Kombination der Optionen befriedigend erklärt werden können. Einige dieser „gemischten“ Lösungsansätze sollen im Zuge der Besprechung historischer und aktueller Theorien zur Ontologie der Grenze in den folgenden Kapiteln genauer betrachtet werden. Aber auch ein „gemischter“ Lösungsansatz ist schwerlich zur Gänze frei von Schwierigkeiten. Es kann sich dabei nur um einen Versuch handeln, in den entsprechenden Umständen die vergleichsweise beste Lösung zu wählen. Zudem könnte man, wenn man sich einmal grundsätzlich auf eine solche Vorgehensweise eingelassen hat, dazu geneigt sein, bei auftretenden Schwierigkeiten immer noch weitere Differenzierungen vorzuschlagen. So könnte am Ende eine Vielzahl von verschiedenen Grenztypen stehen, die mit jeweils unterschiedlichen Kombinationen der vier Optionen beschrieben werden. Ein solches Ergebnis wäre aber nicht nur höchst unübersichtlich, sondern auch fragwürdig, was seinen Erkenntnisgehalt betrifft. Steht als Erkenntnisziel die Aufdeckung der

|| 20 Tatsächlich vertritt Suárez diese Lösung, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden wird. 21 Diese Lösung wurde von Barry Smith und Achille Varzi vorgeschlagen (vgl. Smith/Varzi 2000).

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wesentlichen Züge allgemeiner Grundstrukturen im Zentrum, dann hat eine solche stark differenzierte Antwort nur einen sehr eingeschränkten Wert. Über die Merkmale, die der Struktur „Grenze“ im Allgemeinen zukommen, weiß man dann am Ende doch nur sehr wenig. Wird aber eine allgemeine Antwort auf die Frage nach den Grenzen ausgedehnter Gegenstände angestrebt, dann führt offenbar die gewählte Grundthese, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, nicht weiter. Diese Grundthese ist nämlich, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, untrennbar mit dem Problem der Zugehörigkeit der Grenze verbunden, das sich jedoch im Rahmen der Grundthese nicht allgemein lösen lässt. Hier legt sich nun eine Infragestellung der Grundthese nahe. Einen ersten Hinweis darauf, dass mit der Grundthese etwas nicht stimmen kann, liefert bereits die Beobachtung, dass die Grundthese zwar problemlos den Intuitionen Abhängigkeit und Ende gerecht wird, sich aber ohne weitergehende Überlegungen kaum mit den Intuitionen Trennung und Verbindung vereinbaren lässt. Offenbar waren bei der Aufstellung der Grundthese nur die beiden Intuitionen Abhängigkeit und Ende leitend. Mit Blick auf die zu Beginn dieser Arbeit festgestellte Bedeutung des Ausdrucks „Grenze“ ließe sich sagen, dass hier nur die Nebenbedeutung „äußerstes Ende oder Abschluss eines Ausgedehnten“ berücksichtigt wurde, wobei die Hauptbedeutung („etwas, das zwei Ausgedehnte voneinander trennt“) nicht beachtet wurde. Es könnte also sein, dass mit der zu Beginn getroffenen Annahme, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, der wesentliche Zug des allgemeinen Phänomens „Grenze“ verkannt worden ist. Zu prüfen wäre dann, ob es alternative Vorschläge zur Ontologie von Grenzen gibt, bei denen Grenzen keine Teile sind. Dies soll im letzten Kapitel dieser Arbeit versucht werden.

| Teil 2: Zwei einflussreiche Theorien

4 Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper In der modernen Debatte über die Grenzen ausgedehnter Gegenstände wird gerne auf Bernard Bolzano verwiesen, wenn es um eine bestimmte Sichtweise auf die Grenzen ausgedehnter Gegenstände geht.1 Bolzanos Theorie der Grenzen physikalischer Körper wird dabei mit dem aus der mengentheoretischen Topologie stammenden Konzept der Grenzen zusammenhängender Punktmengen identifiziert. Für die Grenze einer zusammenhängenden Punktmenge lassen sich demnach drei Fälle unterscheiden: entweder ist die Grenze vollständig in dieser Menge enthalten, oder sie ist vollständig im Komplement dieser Menge enthalten, oder sie gehört teilweise zur Menge und teilweise zum Komplement. Entsprechendes gilt den modernen Autoren zufolge auch für die Grenzen ausgedehnter Gegenstände, wenn man sie im Sinne der Bolzanoschen Theorie interpretiert: Entweder ist die Grenze vollständig Teil desjenigen Gegenstandes, dessen Grenze sie ist, oder sie ist Teil der Umgebung dieses Gegenstandes, oder es gehören Teile der Grenze noch dem Gegenstand an, während andere Teile der Grenze bereits der Umgebung des Gegenstandes zuzurechnen sind. Es gibt somit „abgeschlossene“ Gegenstände, die im Besitz ihrer gesamten Grenze sind, „offene“ Gegenstände, denen ihre Grenze nicht angehört, sowie Gegenstände, denen ihre Grenze nur stückweise zuzurechnen ist. Zwei Gegenstände können gemäß dieser Theorie nur dann direkt benachbart sein, wenn einer der beiden Gegenstände an der Berührstelle eine Grenze als Teil besitzt, während der andere dort keine Grenze hat. Zwischen zwei benachbarten Gegenständen befindet sich also nur eine Grenze, die genau einem der beiden Gegenstände als dessen äußerster Teil angehört. Das Problem der Zugehörigkeit wird hier also eindeutig im Sinne von Option 2 gelöst. Damit handelt sich dieser Ansatz aber auch alle spezifischen Probleme von Option 2 ein, die bereits in Abschnitt 3.6 beschrieben wurden und die hier noch einmal kurz in Erinnerung gerufen werden sollen. Problematisch ist zunächst die diesem Ansatz inhärente Asymmetrie. Symmetrische Situationen wie zwei einander berührende ausgedehnte Gegenstände und zwei benachbarte ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes können offenbar nicht ange|| 1 Vgl. Chisholm 1983, S. 89; Simons 1991, S. 92; Varzi 1997, S. 27; Casati und Varzi 1999, S. 72; Smith und Varzi 2000, S. 406; Kachi 2009, S. 89; Varzi 2011, S. 134; Varzi 2013, Abschnitt 2.1.2.

96 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

messen beschrieben werden. Kontraintuitiv erscheint zudem die Behauptung, dass es offene Gegenstände gibt, d. h. ausgedehnte Gegenstände ohne dünne äußerste Teile.2 Diese Behauptung ist allerdings wesentlich für den geschilderten Ansatz und kann nicht einfach weggelassen werden, denn die Existenz solcher Gegenstände ist einerseits eine notwendige Konsequenz aus der Annahme von Spaltungsprozessen und andererseits eine notwendige Voraussetzung dafür, dass es Gegenstände gibt, die einander berühren können. Letzteres ist nämlich nur zwischen Gegenständen möglich, deren Oberflächenstrukturen sich voneinander unterscheiden: Einer der Gegenstände muss an der Berührstelle eine Grenze als äußersten Teil haben, der andere darf dort keine Grenze haben. Gegenstände ohne Grenze müssen also zwingend angenommen werden, wenn Kontakt zwischen Gegenständen überhaupt möglich sein soll. Allerdings hat die gerade geschilderte starke Abhängigkeit der Möglichkeit eines Kontaktes von den Oberflächenstrukturen der beteiligten Gegenstände zur Folge, dass das Problem des Kontaktes durch diesen Ansatz insgesamt nicht befriedigend gelöst werden kann.3 Die mit dem Namen Bolzanos assoziierte Theorie der Grenze erweist sich somit als höchst problematisch. In der modernen Debatte über Grenzen erscheint Bolzano heute als Vertreter der gerade skizzierten Position, ohne dass dabei auf eine korrekte Rekonstruktion der tatsächlichen Ansichten Bolzanos zu diesem Thema besonderer Wert gelegt würde.4 Ein solches ahistorisches Vorgehen kann zwar im Interesse einer klareren systematischen Darstellung durchaus legitim sein. In Anbetracht der hochproblematischen Position, die Bolzano dabei zugeschrieben wird, erscheint jedoch dessen ursprüngliche Theorie nicht zuletzt auch aus systemati-

|| 2 In diesem Zusammenhang wird in der modernen Debatte zuweilen auf Franz Brentano verwiesen, der Bolzano in diesem Punkt vehement kritisierte (vgl. Simons 1991, S. 92, und Varzi 2013, Abschnitt 2.1.4). Brentano bezeichnete Bolzanos Ansicht, dass es Körper ohne Oberfläche gebe, als eine „monströse Lehre“ (Brentano 1976, S. 174). Eine ähnliche Kritik an dieser Ansicht Bolzanos findet sich auch bei Bergmann 1909, S. 207f. 3 Brentano bemerkt genau diese Schwierigkeiten, die die Bolzanosche Theorie im Zusammenhang mit dem Problem des Kontaktes aufweist, und folgert schließlich daraus, „daß die ganze Auffassung der Linie und anderer Kontinua als Punktmengen dem Begriffe der Berührung zuwiderläuft und darum das, was gerade das Wesen des Kontinuums ausmacht, aufhebt.“ (Brentano 1976, S. 174). Er lehnt also Bolzanos Theorie der Körper und ihrer Grenzen und die zugrundeliegende Theorie des Kontinuums ausdrücklich deshalb ab, weil das Problem des Kontaktes damit nicht befriedigend gelöst werden kann. 4 Als Quelle wird jeweils auf die Paragraphen 66 und 67 in Bolzanos Paradoxien des Unendlichen (Bolzano 2012) verwiesen. Von den oben erwähnten Autoren gehen nur Chisholm und Simons kurz auf Bolzanos Terminologie ein, um seine Theorie dann aber sogleich mit der Sichtweise der modernen Topologie zu identifizieren.

Bolzanos Theorie der Ausdehnung: das Bolzanosche Kontinuum | 97

schem Interesse einer genaueren Betrachtung wert. Insbesondere ist dabei die Frage interessant, wie Bolzano selbst mit den oben geschilderten Problemen umgegangen ist. Im Folgenden soll daher eine genauere Rekonstruktion der Bolzanoschen Theorie zu den Grenzen ausgedehnter Gegenstände versucht werden. Dazu ist es zunächst nötig, ausführlich auf die im Hintergrund stehenden mathematisch-topologischen sowie metaphysisch-naturphilosophischen Ideen Bolzanos, wie er sie vor allem in seinen Paradoxien des Unendlichen5 dargestellt hat, einzugehen. Anschließend erfolgt eine genauere Analyse der in den Paragraphen 66 und 67 der PdU skizzierten Theorie der „Grenze eines Körpers“, worauf die Frage beantwortet werden kann, ob in Bolzanos ursprünglicher Theorie das Problem der Zugehörigkeit auch tatsächlich im Sinne von Option 2 gelöst wird und wie dabei mit den skizzierten Problemen umgegangen wird. Bei der Rekonstruktion der Bolzanoschen Theorie der Grenzen physikalischer Körper taucht zusätzlich zu diesen bekannten Problemen auch noch ein weiteres, dieser Theorie immanentes Problem auf, das zur Folge hat, dass es die von Bolzano definierten Grenzen so gar nicht geben kann. Es wird daraufhin eine Modifikation der Bolzanoschen Theorie vorgeschlagen, die dieses Problem vermeidet und dabei möglichst kohärent an die Bolzanosche Naturphilosophie insgesamt anschließt. Schließlich wird diese modifizierte Theorie im Hinblick auf die im ersten Teil vorgestellte Problematik analysiert.

4.1 Bolzanos Theorie der Ausdehnung: das Bolzanosche Kontinuum Eine Theorie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände setzt voraus, dass zunächst zumindest in groben Zügen der Begriff der Ausdehnung geklärt ist. Für Bolzano ist dabei der Gedanke zentral, dass alles Ausgedehnte letztlich aus einfachen Teilen, d. h. aus Teilen, die selbst keine Ausdehnung haben, zusammengesetzt ist.6 Der Raum und die Zeit bestehen aus ausdehnungslosen Punkten. Die ausdehnungslosen Teile von wirklichen, ausgedehnten Gegenständen7 nennt Bolzano Atome bzw. einfache Substanzen. Die These, dass alles Ausgedehnte aus einfachen, ausdehnungslosen Teilen zusammengesetzt ist, ist je-

|| 5 Bolzano 2012. Im Folgenden zitiert als PdU. 6 Vgl. PdU § 38, S. 108. 7 Zum Begriff der „wirklichen Gegenstände“ siehe den folgenden Abschnitt über Bolzanos Metaphysik und Naturphilosophie.

98 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

doch durchaus nicht selbstverständlich, wie Bolzano selbst einräumt.8 Im Folgenden soll Bolzanos Antwort auf die Frage, auf welche Weise das Ausgedehnte aus ausdehnungslosen Punkten zusammengesetzt ist, vorgestellt werden. Dabei spielt der Begriff des Bolzanoschen Kontinuums eine zentrale Rolle, auf den deshalb zunächst kurz eingegangen werden soll.9 Es kann schließlich gezeigt werden, dass es Bolzano mit seiner Definition des Kontinuums gelingt, widerspruchsfrei zu erklären, wie Ausgedehntes aus ausdehnungslosen Teilen zusammengesetzt sein kann. Allerdings ist sein Begriff der „stetigen Ausdehnung“ (d. h. des Kontinuums) etwas weiter als der hier in Kapitel 2 charakterisierte Begriff des ausgedehnten Gegenstandes.

4.1.1 Bolzanos Kontinuumsbegriff Für die These, dass alles Ausgedehnte aus ausdehnungslosen Punkten zusammengesetzt ist, argumentiert Bolzano in § 38 der PdU, indem er zunächst feststellt, dass eine Beschaffenheit, die die Teile nicht haben, dennoch dem aus diesen Teilen gebildeten Ganzen zukommen kann. Allerdings sei zuzugestehen, dass durch „jede bloß endliche Menge [von Punkten] noch kein Ausgedehntes erzeugt wird“10. Wer die Existenz von aktual unendlichen Vielheiten ablehnt,11 muss daran festhalten, dass aus einfachen Teilen niemals etwas Ausgedehntes werden kann. Bolzano ist jedoch ein entschiedener Befürworter der These von der Existenz aktual unendlicher Vielheiten, wie er in § 13 und § 14 ausführlich darlegt.12 Aber selbst eine unendliche Menge von Punkten reicht für Bolzano noch nicht dazu aus, ein Ausgedehntes zu erzeugen, „wenn diese Punkte nicht zugleich die gehörige Anordnung haben“13. Eine unendliche Menge von Punkten im Raum

|| 8 Für Bolzano handelt es sich dabei jedoch um eine Diskussion über „scheinbare Widersprüche“ (vgl. PdU § 38, S. 108). Die Frage wird bereits seit der Antike diskutiert. Eine gute Systematisierung der verschiedenen in der Philosophiegeschichte vertretenen Ansätze bietet Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects. Vgl. dazu auch Abschnitt 2.3.b dieser Arbeit. 9 Für eine detailliertere Darstellung des Bolzanoschen Kontinuumsbegriffes und die entsprechende Diskussion in der Sekundärliteratur verweise ich auf Kraus 2014. 10 PdU § 38, S. 109 (Hervorhebung im Original). 11 Diese Ansicht ist u. a. für die Scholastik und Neuscholastik charakteristisch. Vgl. z. B. Donat 1938, S. 29 – 39. 12 PdU, S. 50 – 57. Vgl. dazu auch Krickel 1995, S. 251f. 13 PdU § 38, S. 109 (Hervorhebung im Original).

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oder in der Zeit (bzw. eine unendliche Menge von einfachen Substanzen), die die „gehörige Anordnung“ hat, um ein Ausgedehntes zu bilden, nennt Bolzano eine stetige Ausdehnung bzw. ein Kontinuum. Er definiert diesen Begriff wie folgt: Versuchen wir nämlich, uns den Begriff, den wir mit den Benennungen »eine stetige Ausdehnung oder ein Kontinuum« bezeichnen, zu einem deutlichen Bewusstsein zu bringen: so können wir nicht umhin zu erklären, dort, aber auch nur dort sei ein Kontinuum vorhanden, wo sich ein Inbegriff von einfachen Gegenständen (von Punkten in der Zeit oder im Raume oder auch von Substanzen) befindet, die so gelegen sind, dass jeder einzelne derselben für jede auch noch so kleine Entfernung wenigstens einen Nachbar in diesem Inbegriffe habe.14 PdU § 38, S. 109

Unter einem „Inbegriff“ versteht Bolzano in diesem Zusammenhang ein mereologisches Ganzes, das letztlich aus einfachen Teilen zusammengesetzt ist.15 Die besondere Anordnung der einfachen Teile des Kontinuums (die vereinfachend als Punkte bezeichnet werden können) besteht darin, dass es zu jedem Punkt des Kontinuums eine bestimmte Entfernung gibt, so dass in dieser und jeder kleineren Entfernung jeweils mindestens ein weiterer Punkt des Kontinuums zu finden ist. Dies führt auf die folgende Definition: Ein Bolzanosches Kontinuum ist ein aus (räumlichen, zeitlichen oder materiellen) Punkten bestehendes Ganzes, bei dem es zu jedem darin enthaltenen Punkt eine bestimmte Entfernung gibt, so dass in dieser und jeder kleineren Entfernung jeweils mindestens ein weiterer Punkt dieses Ganzen zu finden ist.16

Bolzano erläutert den Begriff des Kontinuums weiter, indem er den Begriff des isolierten Punktes zu Hilfe nimmt: Wenn dieses nicht der Fall ist, wenn sich z. B. unter einem gegebenen Inbegriffe von Punkten im Raume auch nur ein einziger befindet, der nicht so dicht umgeben ist von Nachbarn, dass sich für jede – nur klein genug genommene Entfernung ein Nachbar für

|| 14 Hervorhebungen im Original. 15 Bolzano erläutert die Bedeutung von „Inbegriff“ in § 3 der PdU (S. 40f). Inbegriffe sind demnach Vereinigungen mehrerer unterschiedlicher Gegenstände zu einem Ganzen (vgl. Tapp 2012 Anmerkungen, S. 170). In § 50 (S. 145) schreibt er, dass Inbegriffe von Substanzen stets aus einfachen Substanzen als ihren Teilen zusammengesetzt sind. Zur mereologischen Interpretation von Bolzanos Inbegrifftheorie vgl. insbesondere Krickel 1995. 16 Diese Definition ist nahezu wortgleich aus Kraus 2014, S. 28f, übernommen worden. Dort wird auch genauer begründet, dass es sich dabei tatsächlich um den von Bolzano in seinen Schriften einheitlich gebrauchten Begriff des Kontinuums handelt.

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ihn nachweisen lässt: so sagen wir, dass dieser Punkt vereinzelt (isoliert) dastehe, und dass jener Inbegriff eben deshalb kein vollkommenes Kontinuum darbiete.17 PdU § 38, S. 109

Ein Kontinuum ist somit ein Inbegriff von Punkten (genauer von Punkten in Raum und Zeit bzw. von einfachen Substanzen), der keinen isolierten Punkt enthält.18 Für einen isolierten Punkt p gilt, dass sich zu jeder beliebig klein gewählten Entfernung ε eine kleinere Entfernung η angeben lässt, so dass kein Punkt des Kontinuums von p genau den Abstand η hat.19 Zu bemerken ist, dass ein isolierter Punkt keineswegs völlig „allein“ stehen muss: Es kann durchaus weitere Punkte des Kontinuums in seiner Nähe geben. Es kann sogar eine unendliche Folge von Punkten mit immer kleineren Abständen von ihm geben.20 Allerdings gibt es stets auch eine Folge von immer kleineren Abständen, in denen sich jeweils kein weiterer Kontinuumspunkt befindet. Als Definition des isolierten Punktes kann festgehalten werden: Ein isolierter Punkt ist ein Punkt eines aus (räumlichen, zeitlichen oder materiellen) Punkten bestehenden Ganzen, für den sich zu jeder beliebig klein gewählten Entfernung eine kleinere Entfernung angeben lässt, in der sich kein weiterer Punkt dieses Ganzen befindet.21

Bolzano weist am Ende von § 38 schließlich noch die Auffassung, „dass jeder Punkt einen habe, den er unmittelbar berührt“22, als widersprüchlich zurück: [W]ann doch wollt ihr sagen, dass ein Paar Punkte einander berühren? Vielleicht wenn die Grenze des einen (etwa die rechte Seite desselben) mit der Grenze des anderen (etwa der linken Seite desselben) zusammenfällt? Aber Punkte sind ja einfache Teile des Raumes, sie haben somit keine Begrenzungen, keine rechte und linke Seite. Hätte der eine nur einen Teil gemein mit dem anderen, so wäre er schon durchaus derselbe mit ihm; und soll er etwas von ihm verschiedenes haben, so müssen beide ganz auseinander liegen, und es muss somit Raum da sein für einen zwischen ihnen liegenden Punkt; ja, weil von diesem mittleren im Vergleiche zu jenen beiden das Nämliche gilt, für eine unendliche Menge von Punkten.23 PdU § 38, S. 110.

|| 17 Hervorhebung im Original. 18 Vgl. Kraus 2014, S. 29. 19 Vgl. Kraus 2014, S. 31f. 20 Vgl. Kraus 2014, S. 17. 21 Ebenfalls wortgleich übernommen aus Kraus 2014, S. 29. 22 PdU § 38, S. 110 (Hervorhebung im Original). 23 Hervorhebung im Original.

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Zwei Punkte können sich nur dadurch voneinander unterscheiden, dass sie einen Abstand größer als Null voneinander haben. Haben sie aber einen solchen positiven Abstand voneinander, dann hat auch ein weiterer Punkt, ja dann haben sogar unendlich viele weitere Punkte zwischen ihnen Platz. Die beiden Punkte sind somit nicht „direkt benachbart“, sie grenzen nicht direkt aneinander. Es kann also überhaupt keine zwei einander direkt benachbarten Punkte geben. Im modernen Verständnis könnte man ein Bolzanosches Kontinuum als Menge24 von Punkten eines metrischen Raumes auffassen, für die gilt, dass es für jeden in der Menge enthaltenen Punkt p eine Entfernung ε gibt, so dass sich in dieser und jeder kleineren Entfernung jeweils mindestens ein weiterer Punkt der Menge befindet.25 Eine solche Punktmenge hat u. a. die folgenden Eigenschaften: – Jeder Punkt eines Bolzanoschen Kontinuums ist auch ein Häufungspunkt dieses Kontinuums.26 Ein Punkt p einer Menge M heißt Häufungspunkt von M, wenn es zu jeder Entfernung ε von p mindestens einen von p verschiedenen Punkt aus M gibt, dessen Abstand von p kleiner als ε ist.27 Anschaulich gesprochen „häufen“ sich die Punkte von M um den Punkt p. Eine Menge, die ausschließlich aus Häufungspunkten besteht, nennt man auch eine in sich dichte Menge. Jedes Bolzanosche Kontinuum ist eine in sich dichte Menge.28 – Kein Punkt eines Bolzanoschen Kontinuums hat einen direkten Nachbarpunkt. – Es ist möglich, dass ein Bolzanosches Kontinuum punktförmige „Leerstellen“ enthält.29 – Ein Bolzanosches Kontinuum kann beschränkt oder unbeschränkt sein. – Ein Bolzanosches Kontinuum kann eine offene oder eine abgeschlossene Menge sein, d. h. seine Randpunkte30 müssen ihm nicht notwendigerweise

|| 24 „Menge“ wird hier im in der modernen Mathematik üblichen Sinne verstanden. Der Bolzanosche Begriff der Menge weicht geringfügig davon ab (vgl. Tapp 2012 Anmerkungen, S. 170), was aber für das Folgende nicht weiter relevant ist. Wenn Bolzano von einer „Menge“ spricht, dann meint er damit jedenfalls einen Inbegriff, bei dem es nicht auf die Anordnung der Teile untereinander ankommt (vgl. PdU § 4, S. 41f und Krickel 1995, S. 94ff.). 25 Vgl. Kraus 2014, S. 31. 26 Vgl. Kraus 2014, S. 33. 27 Vgl. Kuratowski 1966, S. 76. 28 Vgl. Kraus 2014, S. 33. 29 Bolzano konstruiert ein entsprechendes Beispiel in § 41.3 der PdU (S. 118f; vgl. auch Kraus 2014, S. 21f).

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angehören.31 Es ist auch möglich, dass ein Kontinuum weder offen noch abgeschlossen ist. Dann gehören ihm nur einige seiner Randpunkte an. Ein Bolzanosches Kontinuum kann aus mehreren nicht zusammenhängenden Stücken bestehen.32

Außerdem lässt sich feststellen, dass der gesamte metrische Raum ein Bolzanosches Kontinuum ist, genauso ist auch beispielsweise jedes beliebige echte Intervall auf der reellen Zahlengeraden ein Bolzanosches Kontinuum.

4.1.2 Kann Ausgedehntes allein aus Punkten bestehen? Bolzano behauptet, dass jeder ausgedehnte Gegenstand „zuletzt doch aus nichts anderem als aus Punkten und wieder nur Punkten hervorgehen könne“33. Diese Behauptung ist alles andere als selbstverständlich. Unabhängig davon, ob die reale Existenz ausdehnungsloser Punkte zugestanden wird, stellt sich die Frage, ob die Behauptung nicht von vornherein in sich widersprüchlich ist. Wie soll Ausgedehntes aus Ausdehnungslosem bestehen können? Die Ansicht, dass dies schlicht nicht möglich ist, hat eine lange Tradition, die bis auf Zenon von Elea zurückreicht.34 Zur Verteidigung Bolzanos ist aufzuzeigen, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen die Behauptung, etwas Ausgedehntes bestünde allein aus Punkten, überhaupt sinnvoll vertretbar ist. Sodann ist zu fragen, ob Bolzanos Kontinuumsdefinition diesen Bedingungen entspricht. Wie Bolzano selbst schreibt, ist ein naheliegender Einwand gegen die Ansicht, dass Punkte ein Ausgedehntes bilden können, leicht dadurch zu beantworten, dass die Teile eines Ganzen durchaus eine Eigenschaft besitzen können, die dem Ganzen nicht zukommt.35 Ebenso kann das Ganze eine Eigenschaft haben, die den Teilen nicht zukommt. Im vorliegenden Fall besteht nun allerdings die Schwierigkeit, dass zwei oder endlich viele Punkte zusammengenommen tatsächlich nie etwas anderes als eine Menge von unverbundenen, aus-

|| 30 Ein Randpunkt einer Punktmenge in einem metrischen Raum ist dadurch definiert, dass sich in beliebig kleiner Entfernung von diesem Punkt sowohl Punkte der Menge als auch Punkte ihres Komplementes befinden. Vgl. Kuratowski 1966, S. 55 und S. 62. 31 Vgl. Kraus 2014, S. 35f. 32 Vgl. Kraus 2014, S. 36. 33 PdU § 38, S. 111. 34 Einen kurzen historischen Überblick zu dieser Frage bieten Grünbaum 1967, S. 115ff und Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 154f. 35 Vgl. PdU § 38, S. 108.

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dehnungslosen Punkten sein können, der auch als ein Ganzes genommen keine Ausdehnung zukommt. Sind zwei Punkte nämlich voneinander verschieden, dann haben sie auch einen positiven Abstand voneinander. Falls es insgesamt nur endlich viele Punkte sind, gibt es unter den möglichen Abständen zwischen je zwei Punkten der Menge einen kleinsten. Innerhalb dieses kleinsten Abstandes um einen beliebigen Punkt der Menge herum gibt es jeweils keinen weiteren Punkt der Menge. Die Punkte liegen also alle isoliert voneinander und es kann somit kein Ausgedehntes vorliegen. Eine der Bedingungen, unter denen es überhaupt denkbar sein könnte, dass Punkte ein Ausgedehntes bilden, ist also deren unendliche Anzahl. Diese Bedingung ist allerdings viel zu schwach, denn auch unendlich viele Punkte können noch in einer Weise angeordnet sein, dass jeder einzelne dieser Punkte isoliert steht. (Man denke beispielsweise an die unendliche Menge der Punkte, die die ganzen Zahlen auf dem Zahlenstrahl repräsentieren.) Auch das Vorliegen nur eines einzigen Häufungspunktes in der Menge, an dem sich unendlich viele Punkte seiner Umgebung „konzentrieren“, weist die Punktmenge noch nicht als ein Ausgedehntes aus. Erst wenn die Punkte eine in sich dichte Menge bilden, d. h. jeder Punkt ein Häufungspunkt der Menge ist, ist sichergestellt, dass es keine ausgedehnten „Lücken“ in dem aus den Punkten gebildeten Ganzen gibt. Eine weitere Bedingung ist also, dass die Punkte als in sich dichte Menge angeordnet sein müssen, um ein Ausgedehntes bilden zu können. Aber auch wenn diese Bedingungen erfüllt sind, lässt sich noch dafür argumentieren, dass die Punkte zusammen genommen immer noch kein Ausgedehntes bilden müssen. Dies lässt sich am Beispiel einer linearen Ausdehnung zeigen.36 Man betrachte eine Menge von Punkten, die sämtlich in gerader Linie zwischen zwei Endpunkten liegen (beispielsweise zwischen den Punkten „Null“ und „Eins“ auf der Zahlengeraden). Ordnet man einem einzelnen Punkt die Länge Null zu, dann kann man die Gesamtlänge der Punktmenge, ähnlich wie bei der Aneinanderreihung von ausgedehnten Strecken zu einer größeren Gesamtstrecke, als Summe der Längen der einzelnen Punkte definieren. Diese ist für endlich viele Punkte immer noch Null. Aber auch für abzählbar unendlich viele Punkte bleibt die Gesamtlänge, als Grenzwert der Partialsummen, Null. Es gibt also Mengen, die zwar aus unendlich vielen in sich dicht liegenden Punkten bestehen, denen man aber dennoch die Länge Null zuordnen muss. Ein Beispiel dafür ist die Menge der Punkte auf der Zahlengeraden, die die rationalen Zahlen zwischen Null und Eins repräsentieren. Man ist zwar einerseits versucht, aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine in sich dichte Menge han|| 36 Vgl. für das folgende Grünbaum 1967, S. 119–124 sowie Grünbaum 1973, S. 158–176.

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delt, dieser die Länge Eins, also den Abstand zwischen den beiden Endpunkten, zuzuordnen. Andererseits zeigt die gerade angestellte Überlegung, dass man ihr konsequenterweise die Länge Null zuordnen muss, da sie nur abzählbar unendlich viele Punkte umfasst. Wie muss eine Menge von linear angeordneten Punkten beschaffen sein, dass man den einzelnen Punkten jeweils die Länge Null, der gesamten Menge aber eine endliche, von Null verschiedene Länge zuordnen kann? Adolf Grünbaum37 hat diese Frage unter Verweis auf die Cantorsche Konstruktion des linearen Kontinuums dahingehend beantwortet, dass die Punkte nicht nur in sich dicht liegen müssen, sondern dass darüber hinaus auch die Mächtigkeit der Punktmenge derjenigen der Menge der reellen Zahlen entsprechen muss: es müssen überabzählbar unendlich viele Punkte sein. Dies muss zudem auch für alle „Teilintervalle“ gelten: Zwischen je zwei verschiedenen Punkten der Punktmenge muss es überabzählbar unendlich viele weitere Punkte der Punktmenge geben. Eine „Summe“ von überabzählbar unendlich vielen Längen lässt sich nicht konsistent definieren. Die Länge eines linearen Kontinuums, d. h. einer Punktmenge, die aus überabzählbar unendlich vielen Punkten besteht, kann daher auch nicht die Summe der Null-Längen der einzelnen Punkte sein. Vielmehr stellt sich heraus, dass die Länge eines linearen Kontinuums überhaupt keine Funktion der Kardinalität der Menge der darin enthaltenen Punkte ist. Die Länge eines linearen Kontinuums ist allein durch den Abstand zwischen seinen Endpunkten gegeben und lässt sich nicht additiv aus den Null-Längen der einzelnen Punkte zusammensetzen. Das lineare Kontinuum hat somit eine positive Länge, ist also etwas Ausgedehntes, und besteht zugleich ausschließlich aus ausdehnungslosen Punkten. Es gibt also etwas Ausgedehntes, das ausschließlich aus ausdehnungslosen Punkten besteht. Diese Punktmenge muss in sich dicht sein und in der gerade skizzierten Weise überabzählbar unendlich viele Punkte umfassen. Wie sich leicht nachprüfen lässt, ist jedes Bolzanosche Kontinuum eine in sich dichte Menge.38 Es lässt sich darüber hinaus zeigen, dass jedes Bolzanosche Kontinuum auch überabzahlbar unendlich viele Punkte enthält, und zwar weil es lokal die Struktur der reellen Zahlen, d. h. des linearen Kontinuums, aufweist.39 Der oben rekonstruierten Definition des Bolzanoschen Kontinuums entsprechend gibt es nämlich um jeden Punkt des Kontinuums eine sphärische

|| 37 Grünbaum 1967, S. 115–140, insbes. S. 129f. 38 Vgl. Kraus 2014, S. 33. 39 Vgl. Kraus 2014, S. 36 und S. 85.

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Umgebung mit einem bestimmten Radius ε, die mindestens so viele Kontinuumspunkte enthält wie es reelle Zahlen zwischen 0 und ε gibt. Die Menge der reellen Zahlen zwischen o und ε entspricht aber genau dem linearen Kontinuum. Das Bolzanosche Kontinuum erfüllt somit zumindest lokal die von Grünbaum genannte Bedingung. Die Tatsache, dass es ausschließlich aus Punkten besteht, kann also nicht als Einwand gegen die Behauptung vorgebracht werden, dass das Bolzanosche Kontinuum tatsächlich ausgedehnt ist.40

4.1.3 Sind alle Bolzanoschen Kontinua ausgedehnte Gegenstände? In Kapitel 1.2 dieser Arbeit wurde die folgende Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände vorgeschlagen und gegen Einwände verteidigt: Ein ausgedehnter Gegenstand hat paarweise disjunkte, gleichartige echte Teile, die gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen, die miteinander zusammenhängen, und die selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind.

Trifft diese Charakterisierung auch auf das Bolzanosche Kontinuum zu? Klar ist, dass z. B. das Intervall zwischen Null und Eins auf der reellen Zahlengeraden sowohl ein Bolzanosches Kontinuum als auch ein ausgedehnter Gegenstand im hier vertretenen Sinne ist.41 Es gibt also Bolzanosche Kontinua, die ausgedehnte Gegenstände sind. Ist aber auch jedes Bolzanosche Kontinuum ein ausgedehnter Gegenstand? In Bezug auf diese Frage ist vor allem eine der genannten Eigenschaften des Bolzanoschen Kontinuums relevant: Ein Bolzanosches Kontinuum kann unter Umständen aus mehreren nicht miteinander zusammenhängenden Stücken bestehen. Andererseits ist es zumindest nach der hier vertretenen Charakterisierung ein wesentliches Merkmal ausgedehnter Gegenstände, zusammenhängend zu sein, d. h., nicht in mehrere voneinander getrennte Teile zu zerfallen.42 Bolzanosche Kontinua, die aus mehreren nicht miteinander zusammenhängenden Teilen bestehen, können daher keine ausgedehnten Gegenstände im hier vertretenen Sinne sein.

|| 40 Unklar bleibt allerdings, ob sich Bolzano der Tatsache bewusst war, dass das von ihm definierte Kontinuum mehr als abzählbar unendlich viele Punkte umfasst, und dass genau dies auch der eigentliche Grund dafür ist, weshalb der Einwand gegen die Möglichkeit der Zusammensetzung des Ausgedehnten allein aus Punkten nicht greift. Vgl. Kraus 2014, S. 36f. 41 Das sieht man beispielsweise, wenn man eine geeignete Zerlegung in Intervalle betrachtet. 42 Vgl. dazu Abschnitt 2.2 in dieser Arbeit.

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Sind wenigstens die voneinander getrennten Teile, in die ein solches Bolzanosches Kontinuum zerfällt, ausgedehnte Gegenstände? Hierzu kann festgestellt werden, dass ein einzeln stehender Punkt nicht Teil eines Bolzanoschen Kontinuums sein kann. Ein solcher Punkt wäre nämlich ein isolierter Punkt im oben beschriebenen Sinne, und die Punkte eines Bolzanoschen Kontinuums sind gerade dadurch charakterisiert, keine isolierten Punkte zu sein. Die voneinander getrennten Stücke, aus denen ein Bolzanosches Kontinuum bestehen kann, können also nicht punktförmig sein. Im Gegenteil müssen sich in der Umgebung jedes Kontinuumspunktes überabzählbar unendlich viele weitere Punkte befinden, die zusammengenommen die Struktur der reellen Zahlen aufweisen. Diese Menge von Punkten in der Umgebung entspricht aber der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände, da sie eine entsprechende Zerlegung in disjunkte, zusammenhängende Teile (bei linearen Kontinua beispielsweise in disjunkte Intervalle) zulässt. Jeder Kontinuumspunkt ist auf diese Weise in einen ausgedehnten Gegenstand eingebettet. Dieser ist zwar unter Umständen sehr klein, was aber an der Tatsache seiner Ausgedehntheit nichts ändert. Man kann also sagen, dass die nicht miteinander zusammenhängenden Stücke, aus denen ein Bolzanosches Kontinuum bestehen kann, jedenfalls für sich und einzeln genommen durchaus ausgedehnte Gegenstände im hier vertretenen Sinne sind.

4.2 Bolzanos Naturphilosophie Um Bolzanos Theorie der Grenzen physikalischer Körper angemessen zu interpretieren, genügt es nicht, sie allein in abstrakt-mathematischer Hinsicht zu betrachten. Ein solches Vorgehen ist nicht nur historisch unangemessen, da Bolzano einer Zeit angehörte, in der mathematische und metaphysischnaturphilosophische Überlegungen noch nicht klar voneinander getrennt wurden,43 sondern es birgt auch die Gefahr, den systematischen Sinn seiner Aussagen zu verfehlen. Um ein korrektes systematisches Verständnis von Bolzanos Theorie der Grenzen zu gewinnen, ist eine Auseinandersetzung mit seiner Na-

|| 43 Detlef Spalt spricht in diesem Zusammenhang von einem „ontologischen Umbruch“ in der Mathematik, „der mit der Entwicklung der Mengenlehre und der (versuchten) Umgestaltung der Mathematik zu nichts anderem als Mengenlehre erfolgte.“ (Spalt 1990, S. 196). Bolzano sieht er als Repräsentanten für die Zeit vor diesem Umbruch, „weil er nicht nur mathematischer, sondern zugleich auch philosophischer Denker war, dem es wie Leibniz um die Einheit, den Zusammenhang dieser Denkweisen ging.“ (Ebd.)

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turphilosophie unerlässlich. Auf diese soll daher nun näher eingegangen werden. Bolzano hat wesentliche Teile seiner Naturphilosophie in den Paragraphen 50 bis 70 der PdU zusammengefasst. Erste Ansätze finden sich bereits in dem Aufsatz Zur Physik44 von 1827 (enthalten in den Miscellanea Mathematica), eine detailliertere Ausarbeitung in den Aphorismen zur Physik45 von 1841 sowie in den Notizheften Zur Physik46 aus den Jahren 1827 bis 1847. Im Folgenden wird jedoch hauptsächlich auf die entsprechenden Passagen der PdU Bezug genommen. Nach einigen grundlegenden Bemerkungen zu Bolzanos Ontologie soll vor allem die atomare Struktur aller wirklichen Dinge, wie Bolzano sie sich vorstellt, genauer betrachtet werden. Sein Grundgedanke, dass alles Ausgedehnte aus ausdehnungslosen Punkten zusammengesetzt ist, wirkt sich hier deutlich aus: physikalische Körper bestehen für ihn letztlich allein aus punktförmigen Teilen, den Atomen. Neben dem Begriff des Atoms wird als zweiter und insbesondere für die gegebene Fragestellung wesentlicher Aspekt von Bolzanos Naturphilosophie der Begriff der Kraft behandelt. Schließlich soll darauf eingegangen werden, wie aus dem Zusammenspiel der Atome und ihrer Kräfte die ausgedehnten, physikalischen Körper resultieren. Hierbei wird besonders deutlich, auf welche Weise Bolzanos Naturphilosophie auf seinem speziellen Begriff des Kontinuums aufbaut.

4.2.1 Bolzanos Ontologie Wirkliche Dinge gehören in Bolzanos Ontologie stets einer von zwei Grundkategorien an: Sie sind entweder Substanzen oder Adhärenzen. Einschlägig ist dazu eine Stelle aus Bolzanos Athanasia: Alles, was ist, d. h. was in der Wirklichkeit bestehet, in dieser Wirklichkeit für immer oder auch nur für eine gewisse Zeit bestehet, gehöret zu einer von folgenden zwei Arten: es ist und bestehet entweder an etwas Anderem, als eine Beschaffenheit desselben; oder es ist nicht eine bloße Beschaffenheit an etwas Anderem, sondern bestehet, wie man zu sagen

|| 44 Bolzano GA 2B12/1, S. 55–71. 45 Bolzano GA 2A12/3, S. 113–148. 46 Bolzano GA 2B19 und 2B20.

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pflegt, für sich. […] Die Wirklichkeiten der erstern Art pflegen die Weltweisen mit einem lateinischen Worte auch Adhärenzen, jene der letztern aber Substanzen zu nennen.47 Bolzano 1827, S. 9f.

Als Beispiele für Adhärenzen nennt Bolzano an dieser Stelle „Farbe, Geruch, Gewicht eines Körpers“48, als Beispiel für eine Substanz die „Materie, aus welcher der Körper zusammengesetzt ist“49. Auch in den PdU betont Bolzano an mehreren Stellen die Lehre von den zwei Grundkategorien des Wirklichen, wenn er beispielsweise schreibt: „Weder die Zeit noch der Raum ist etwas Wirkliches; denn sie sind weder Substanzen, noch auch Beschaffenheiten an den Substanzen“50. Man kann also die folgenden beiden Definitionen festhalten:51 Eine Adhärenz ist ein Wirkliches, das eine Beschaffenheit52 an etwas anderem ist. Eine Substanz ist ein Wirkliches, das keine Beschaffenheit an etwas anderem ist.

Den meisten Interpreten zufolge vertritt Bolzano neben der gerade genannten zuweilen auch noch eine engere Substanzdefinition, der zufolge Substanzen nicht nur keine Beschaffenheiten, sondern darüber hinaus auch noch einfache Entitäten sind:53 Eine Substanz im engeren Sinne ist ein Wirkliches, das einfach ist und das keine Beschaffenheit an etwas anderem ist.

Wird die engere Substanzdefinition angenommen, dann ergibt sich keine Zweiteilung, sondern mindestens eine Dreiteilung der wirklichen Dinge in Substanzen, Adhärenzen und Inbegriffe von Substanzen.54 Insbesondere in den hier || 47 Ähnliche Definitionen finden sich auch in Bolzanos Religionswissenschaft und Wissenschaftslehre, vgl. Runggaldier 2003, S. 73. 48 Bolzano 1827, S. 9. 49 Ebd. 50 PdU § 17, S. 60. Ähnlich auch PdU § 39, S. 112: „Man warf die Frage auf, ob die Zeit etwas Wirkliches sei, und wenn dieses, ob Substanz oder Adhärenz“. 51 Vgl. Morscher 1973, S. 48; Berg 1992, S. 88; Krickel 1995, S. 27; Textor 1996, S. 66ff; Künne 1998, S. 235f; Textor 1999, S. 271f; Schnieder 2002, S. 175 u. S. 206; Runggaldier 2003, S. 73f; Krause 2004, S. 47f; Schnieder 2008, S. 97. Vgl. auch Přihonský 2003, S. 242. 52 Zum Begriff der Beschaffenheit bei Bolzano vgl. Textor 1996, S. 56–73 und Schnieder 2002, Kap. I.1 und I.2, S. 31–97. 53 Vgl. Morscher 1973, S. 48; Krickel 1995, S. 27; Textor 1996, S. 69; Künne 1998, S. 259; Schnieder 2002, S. 229f; Runggaldier 2003, S. 78; Krause 2004, S. 51–55; Schnieder 2008, S. 103. Vgl. auch Přihonský 2003, S. 242. 54 Vgl. dazu Schnieder 2001, Abschnitt 3.3, insbes. S. 228f.

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relevanten Passagen der PdU geht Bolzano von dieser engeren Substanzdefinition aus. Was zählt Bolzano alles zu den „wirklichen Dingen“? Bei der Diskussion der Frage, ob die Zeit etwas Wirkliches sei, listet Bolzano explizit all das auf, was seiner Ansicht nach Wirklichkeit beanspruchen kann: Meinen Begriffen zufolge ist die Zeit allerdings nichts Wirkliches im eigentlichen Sinne des Wortes, wo wir nur den Substanzen und ihren Kräften Wirklichkeit beilegen. Ich halte sie also auch weder für Gott selbst noch für eine geschaffene Substanz, noch auch für eine Adhärenz weder an Gott, noch an irgend einer geschaffenen Substanz, oder an einem Inbegriffe mehrerer.55 PdU § 39, S. 112

Hier scheint Bolzano zu vertreten, dass alle Adhärenzen als Kräfte angesehen werden können.56 Zumindest aber sind Kräfte eine sehr bedeutsame Art von Adhärenzen: Etwas Wirkliches ist nur aufgrund seiner Kräfte überhaupt wirklich. Wirkliche Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, dass sie wirken: „Was immer wirklich ist, das muss ja auch wirken, und somit Kräfte zum Wirken haben.“57 Die Auflistung der wirklichen Dinge umfasst Gott, geschaffene Substanzen, Adhärenzen an Gott, Adhärenzen an geschaffenen Substanzen und Adhärenzen an Inbegriffen von geschaffenen Substanzen. (Aus dem letzten Punkt wird klar, dass auch Inbegriffe von geschaffenen Substanzen wirklich sind.) Der Unterschied zwischen Gott und den geschaffenen Substanzen besteht darin, dass letztere in ihrer Existenz von etwas anderem abhängen, sie sind bedingte Substanzen, während Gott die einzige unbedingte Substanz ist.58 Die geschaffenen Substanzen nennt Bolzano in den PdU auch Atome. Die für das hier behandelte

|| 55 Hervorhebungen im Original. 56 So interpretiert es beispielsweise Jan Berg (vgl. Berg 1992, S. 88). Vgl. auch Krause 2004, S. 51. Bolzano selbst schreibt an einer weiteren Stelle in den PdU: „Kräfte nennen wir dem herrschenden Sprachgebrauche zufolge alle diejenigen Beschaffenheiten dieser Substanzen, die wir als nächsten (d. h. unmittelbaren) Grund irgendeines anderen in oder außerhalb der es bewirkenden Substanz voraussetzen müssen.“ (PdU § 57, S. 151). Vgl. auch Versuch einer objectiven Begründung der Lehre von der Zusammensetzung der Kräfte § 17 (Bolzano GA 1/18, S. 25). 57 PdU § 51, S. 147. Bolzano setzt zwar die Begriffe Wirksamkeit und Wirklichkeit einander nicht gleich, jedoch haben sie denselben Umfang: Jeder wirkliche Gegenstand wirkt und alles, was wirkt, hat auch Wirklichkeit. Vgl. Morscher 1973, S. 45 und Schnieder 2002, S. 24. Vgl. dazu auch Krause 2004, S. 28ff. 58 Zu Bolzanos Begriff der bedingten Substanz vgl. Krause 2004, S. 142ff. Zur unbedingten Substanz vgl. Krause 2004, Kap. IV., S. 303 – 361.

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Thema relevanten Arten wirklicher Dinge sind Atome und deren Kräfte sowie Inbegriffe von Atomen.

4.2.2 Atome Die ausdehnungslosen Teile von wirklichen, ausgedehnten Dingen nennt Bolzano Atome. In den PdU definiert er Atome als „[einfache] Substanzen im Weltall auf dem Gebiete der Wirklichkeit“59. Atome sind in ihrer Existenz von etwas anderem verursacht und insofern nicht ontologisch unabhängig: als geschaffene und somit bedingte Substanzen sind sie von Gott, der einzigen ungeschaffenen und unbedingten Substanz, abhängig.60 Dies drückt Bolzano durch die Qualifizierung „im Weltall“ aus. Mit „Weltall“ bezeichnet Bolzano den Inbegriff aller bedingten Substanzen, d. h. aller Substanzen mit Ausnahme Gottes.61 Den Atomen kommt insbesondere die Eigenschaft der Einfachheit zu. Bolzano nennt die Atome „schlechterdings einfach“62, meint damit allerdings vor allem ihre mereologische Einfachheit. Eine einfache Substanz ist nach Bolzano in einem vierfachen Sinn einfach: sie hat keine Adhärenzen und keine Substanzen als (echte) Teile und weder räumlich ausgedehnte noch zeitlich ausgedehnte Teile.63 Wie bereits angedeutet wurde, ist nicht ganz klar, ob für Bolzano überhaupt alle Substanzen von vornherein einfach sind oder ob dies speziell nur den Atomen zukommt.64 Im ersten Fall wäre der Ausdruck „einfache Substanz“, den Bolzano häufig anstelle von Atom verwendet, ein Pleonasmus65 und alle Substanzen im Weltall wären Atome.66 Zumindest für die hier relevanten Passagen der PdU scheint diese Deutung durchaus angemessen zu sein. Die Frage braucht im Übrigen hier nicht abschließend geklärt zu werden, da die Substanzialität der aus Atomen zusammengesetzten Körper für das hier zu un-

|| 59 PdU § 38, S. 108. 60 Vgl. Bolzano 1827, S. 81 und S. 83f. 61 Vgl. Krause 2004, S. 209. 62 PdU § 38, S. 108. 63 Vgl. Krause 2004, S. 62. 64 Die Einfachheit aller Bolzanoscher Substanzen vertritt insbesondere Andrej Krause (Krause 2004, S. 62ff). Widersprochen hat dieser Deutung Benjamin Schnieder (Schnieder 2008). 65 Vgl. Morscher 1973, S. 48. 66 Die aus Atomen zusammengesetzten Körper sind in diesem Sinne keine Substanzen. Edmund Runggaldier identifiziert die Bolzanoschen Atome daher auch als das „materielle Substrat“ aristotelischer Substanzen (Runggaldier 2003, S. 79).

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tersuchende Thema keine Relevanz hat. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass Atome einfache Substanzen sind. Es gibt nach Bolzano nicht „zwei einander durchaus gleiche Atome […] im Weltall“67, so wie es überhaupt keine zwei einander völlig gleiche Dinge gibt.68 Es können auch keine zwei Atome am selben Raumpunkt vorkommen.69 Zudem nimmt Bolzano an, dass sich in jedem Raumpunkt zu jeder Zeit ein Atom befindet.70 Es existiert für Bolzano also kein Vakuum, der gesamte Raum ist durch einfache Substanzen erfüllt.71 Atome sind darüber hinaus, wie jede Substanz, anfangslos und unvergänglich.72 Es können sich also auch nicht durch Auslöschung von Atomen „Lücken“ in der Menge der Atome ergeben. Die Menge aller Atome im Weltall ist daher in jedem Augenblick genauso strukturiert wie der gesamte Raum, sie ist somit ein Bolzanosches Kontinuum. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Atome als bedingte Substanzen in ihrer Existenz von etwas anderem abhängig sind, und dass sie darüber hinaus anfangslos, unvergänglich und in dem Sinne einzigartig sind, dass es keine zwei einander völlig gleichen Atome im Weltall gibt. Vor allem aber sind Atome mereologisch einfach und durch ihre Kräfte wirksam in der Welt.

|| 67 PdU § 50, S. 143 (Hervorhebung im Original). 68 Dies entspricht dem Leibnizschen Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren. Vgl. Tapp 2012 Anmerkungen, S. 212. 69 Vgl. PdU § 54, S. 149 und § 59, S. 152. 70 Vgl. PdU § 59, S. 152. Noch klarer geht das aus Bolzanos Notizen Zur Physik II hervor (§ 200, 1): „Nach meiner Ansicht gibt es und muß es in jedem Puncte des Raumes eine Substanz eine einfache nämlich einen Atom geben, der diesen Punct erfüllt, und dieß in jedem Augenblick der Zeit.“ (Bolzano GA 2B20, S. 140). 71 Ausdrücklich schreibt Bolzano dies in Zur Physik II, § 188 (Bolzano GA 2B20, S. 123), den Miscellanea Mathematica (Bolzano GA 2B12/1, S. 58), sowie in den Aphorismen zur Physik, § 14 (Bolzano GA 2A12/3, S. 124). Vgl. Berg 2003 Einleitung, S. 11. 72 Vgl. Bolzano 1827, S. 69 – 90. Vgl. auch Krause 2004, Kap. II.4 und Runggaldier 2003, S. 80. Im Zusammenhang mit dem Geschaffensein der Atome ergibt sich die Frage, wie die Atome in ihrer Existenz von etwas anderem verursacht und dabei dennoch anfangslos sein können. In Bolzanos Verständnis muss eine Ursache jedoch nicht zeitlich früher als ihre Wirkung sein. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Verursachung der Substanzen durch Gott (vgl. Bolzano 1827, S. 75). Bolzano versteht die Schöpfung nicht als zeitlichen Anfang der Welt (vgl. Bolzano 1827, S. 74ff).

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4.2.3 Kräfte Die Veränderung der Gegenstände in der Welt wird nach Bolzano dadurch erklärt, dass die Atome „veränderlich sind und sich fortwährend verändern“73. Die Veränderungen sind dabei keineswegs nur Ortsveränderungen sondern finden auch „im Inneren“74 der Atome statt. Damit meint Bolzano eine Veränderung der inneren Beschaffenheiten der Atome und insbesondere ihrer schon erwähnten Kräfte, mit denen sie aufeinander einwirken.75 Die ständige Veränderung der Gegenstände in der Welt wird letztlich auf die Wirkungen der Kräfte der Atome zurückgeführt. Bolzano schreibt dazu: Auf alle diese Fragen [nach der Veränderung der Dinge in der Welt] lässt sich nur vernünftig antworten, wenn wir den einfachen Substanzen – nämlich denjenigen, welche nicht allvollkommen sind, also der Kräfte mehrere, als sie schon haben, annehmen können – eben deshalb die Fähigkeit einer Veränderung durch gegenseitiges Einwirken aufeinander zugestehen, und ihre Orte als diejenige Bestimmungen an denselben betrachten, welche den Grund enthalten, warum sie bei dem Besitze gerade dieses Maßes von Kräften in einem Zeitraume gerade diese und nicht eine größere oder geringere Veränderung die eine in der anderen bewirken.76 PdU § 50, S. 146

Der Grad der Veränderung, die ein Atom in einem anderen bewirkt, hängt also von den Kräften der beiden Atome sowie von dem Abstand zwischen ihnen ab. Zwischen den Kräften zweier Atome besteht ein Gradunterschied,77 man kann sie also betragsmäßig miteinander vergleichen. Die Atome wirken vor allem durch Anziehungs- und Abstoßungskräfte aufeinander ein,78 aber auch andere Arten von quantifizierbaren Kräften sind für Bolzano offenbar nicht ausgeschlossen.79 Die gegenseitige Einwirkung ist eine actio in distans, […] aus dem ganz einfachen Grunde, weil je zwei verschiedene Substanzen in jedem Augenblicke auch zwei verschiedene einfache Orte einnehmen, also eine Entfernung zwischen sich haben müssen. PdU § 53, S. 148f.

|| 73 PdU § 50, S. 143 (Hervorhebung im Original). 74 PdU § 50, S. 146. 75 Vgl. Tapp 2012 Anmerkungen, S. 212 (Anmerkung zu § 50). 76 Hervorhebungen im Original. 77 Vgl. auch PdU § 63, S. 156. 78 Vgl. PdU § 63, S. 156f. 79 Vgl. PdU § 50, S. 146.

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Dabei steht jedes Atom im Weltall mit jedem anderen in Wechselwirkung. Bolzano schreibt dazu, […] dass jede Substanz in der Welt mit jeder anderen in stetem Wechselverkehr stehe, doch so, dass die Veränderung, welche die eine in der anderen bewirkt, umso geringer wird, je größer der zwischen ihnen liegende Abstand; und dass das Gesamtergebnis des Einflusses aller auf jede einzelne eine Veränderung ist, die – abgesehen von dem Falle, wo ein unmittelbares Einwirken Gottes statt hat – nach dem bekannten Gesetze der Stetigkeit vorgeht.80 PdU § 60, S. 153f

Die Abhängigkeit der Kraftwirkung vom Abstand ist also derart, dass die Wirkung umso kleiner ist, je größer der Abstand ist. Die Gesamtwirkung aller auf ein Atom einwirkenden Kräfte gehorcht dem „Gesetz der Stetigkeit“. Was damit genau gemeint ist, erklärt Bolzano an dieser Stelle nicht. Es wird später noch darauf zurückzukommen sein.

4.2.4 Herrscheratome Atome unterscheiden sich untereinander dadurch, dass sie unterschiedlich große Kräfte haben. Bolzano teilt die Atome nach ihren Kräften in zwei verschiedene Klassen ein. Er geht dabei von der These aus, dass „zwischen je zwei Substanzen im Weltall zu jeder Zeit irgendein Unterschied von endlicher Größe stattfinden muss“81. Es gebe daher zu jeder Zeit Substanzen, die in ihren Kräften bereits so herangewachsen sind, dass sie eine Art von Übermacht über alle in einem, sei es auch noch so kleinen Umfange, um sie herum liegenden Substanzen ausüben. PdU § 61, S. 154.

Diese Substanzen nennt er herrschende Substanzen. In den nachfolgenden Abschnitten der PdU verwendet Bolzano anstelle des Ausdrucks herrschende Substanz auch die Ausdrücke ausgezeichnete Substanz und Herrscheratom, wobei stets dasselbe gemeint ist. Alle übrigen Atome nennt er Ätheratome. Es können also die folgenden Definitionen festgehalten werden:

|| 80 Hervorhebungen im Original. 81 PdU § 61, S. 154.

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Ein Atom a heißt Herrscheratom, wenn es eine reelle Zahl ε gibt, so dass die Kraft des Atoms a größer ist als die Kraft jedes einzelnen Atoms, dessen Abstand von a kleiner ist als ε. Ein Atom heißt Ätheratom, wenn es kein Herrscheratom ist.

Ein Herrscheratom übertrifft die Kraft jedes einzelnen der von ihm beherrschten Atome stets nur um einen endlichen Betrag.82 Es muss nicht die Summe aller Kräfte der beherrschten Atome übersteigen, sondern der Kräftevergleich findet stets zwischen zwei einzelnen Atomen statt. Hat ein Herrscheratom eine doppelt so große Kraft wie ein von ihm beherrschtes Atom, dann wirkt es auch doppelt so stark auf dieses ein, als dieses auf es zurückwirkt.83 Die Herrschaft, die ein Herrscheratom über die Ätheratome in seiner Umgebung ausübt, besteht (zumindest) darin, dass seine Anziehungskraft auf diese stärker ist als deren Bestreben, sich von ihm zu entfernen.84 Nicht in jedem beliebigen Raum bzw. Inbegriff von Atomen gibt es ein Herrscheratom: Eine unendliche Menge von Atomen mit paarweise unterschiedlichen Kräften kann so beschaffen sein, dass es kein Atom gibt, dessen Kraft die Kräfte aller übrigen übersteigt.85 Da jedes Herrscheratom beherrschte Atome in einer „Hülle“86 von endlichem Durchmesser um sich hat, können in einem Umkreis von endlichem Durchmesser höchstens endlich viele Herrscheratome vorkommen.87

|| 82 Vgl. PdU § 61, S. 154f. 83 Bolzano scheint somit im Bereich der Atome das Dritte Newtonsche Axiom (actio = reactio) abzulehnen. Vgl. Tapp 2012 Anmerkungen, S. 218 (Anmerkung zu § 61). So kann Bolzano übrigens auch an der Unveränderlichkeit Gottes festhalten, obwohl Gott in der Welt wirkt: Weil die Kraft Gottes die der Atome, auf die er einwirkt, unendlich übersteigt, ist die Rückwirkung der Atome auf Gott unendlich klein, d. h., es gibt sie gar nicht. Im Bereich der Festkörper gilt jedoch offenbar auch für Bolzano das Dritte Newtonsche Axiom (vgl. Zur Physik I, Bolzano GA 2B19, S. 17). Vgl. Berg 2003 Einleitung, S. 18. 84 Vgl. PdU § 64, S. 159. 85 Vgl. PdU § 62, S. 155. 86 Die Hülle muss nicht immer kugelförmig sein, sie muss aber stets eine kugelförmige Umgebung enthalten, wie in der Definition des Herrscheratoms angegeben. Vgl. dazu auch Zur Physik II § 200.4, Bolzano GA 2B20, S. 140, sowie Aphorismen zur Physik § 29, Bolzano GA 2A12/3, S. 130. 87 Vgl. PdU § 63, S. 155.

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4.2.5 Körper Wenn der gesamte Raum gleichmäßig von punktförmigen Substanzen erfüllt ist, dann stellt sich die Frage, wie in diesem Fall die makroskopischen Strukturen, die wir in der Welt beobachten können, zustande kommen. Insbesondere ist zu erklären, wie ein aus Atomen zusammengesetzter, ausgedehnter Körper überhaupt „zusammenhalten“ kann. Diese Frage kann Bolzano nun mit Hilfe der Herrscheratome beantworten: Diese herrschenden Substanzen […] sind es nun, welche vereinigt in Haufen von endlicher Größe das bilden, was wir die mannigfaltigen in der Welt vorkommenden Körper (gasförmigen sowohl als tropfbar flüssigen, festen, organischen usw.) nennen. Im Gegensatze mit ihnen nenne ich den ganzen noch übrigen Weltstoff, der, ohne ausgezeichnete Atome zu besitzen, alle noch sonstwo vorhandenen Räume erfüllt und somit alle Körper verbindet, den Äther.88 PdU § 63, S. 155f.

Bolzano präzisiert die Begriffe Körper und Äther weiter, indem er feststellt, […] dass alle Körper eigentlich aus nichts anderem als aus einer unendlichen Menge von Äther bestehen, in welchem eine gegen diese Menge ganz verschwindende Anzahl von ausgezeichneten Atomen sich befindet. PdU § 63, S. 158.

Man kann also festhalten: Die Gesamtheit aller Ätheratome heißt Äther. Ein Körper besteht aus einer endlichen Anzahl von Herrscheratomen sowie allen Ätheratomen, die von diesen beherrscht werden.

Unter Verwendung der im vorhergehenden Abschnitt entwickelten Begriffe ergibt sich nun, dass jedes Herrscheratom ein isolierter Punkt in der Menge der Herrscheratome ist. Die Menge der Herrscheratome ist also kein Bolzanosches Kontinuum. Der Äther dagegen ist ein Bolzanosches Kontinuum.89 Es gibt punktförmige „Leerstellen“ in ihm (was ja nach der Definition des Bolzano|| 88 Hervorhebungen im Original. 89 Dies kann man wie folgt zeigen: In einer Kugel mit endlichem Durchmesser um ein beliebiges Ätheratom a herum gibt es nur endlich viele Herrscheratome. Von diesen gibt es eines, das den kleinsten Abstand von a hat. Nenne diesen Abstand ε. Dann besteht die ε-Kugel um a ausschließlich aus Ätheratomen. a ist also im Äther nicht isoliert. Da a beliebig gewählt war, gibt es im Äther keine isolierten Atome. Der Äther ist somit ein Bolzanosches Kontinuum.

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schen Kontinuums möglich ist): die Stellen, an denen Herrscheratome sitzen. Ein Körper ist ebenfalls ein Bolzanosches Kontinuum. Es kann in einem Körper aber, im Gegensatz zum Äther, keine punktförmigen „Leerstellen“ geben, da sowohl die Herrscheratome als auch die von ihnen beherrschten Ätheratome dazugehören. Nach der hier angegebenen Definition ist es möglich, dass ein Körper aus mehreren, unzusammenhängenden Teilen besteht. In den PdU scheint Bolzano jedoch nur zusammenhängende Körper zu betrachten. Als zusammenhängendes Bolzanosches Kontinuum ist ein zusammenhängender Körper jedenfalls ein ausgedehnter Gegenstand im in dieser Arbeit vertretenen Sinne. Ein nicht-zusammenhängender Körper könnte immerhin noch als mereologische Summe von mehreren ausgedehnten Gegenständen angesehen werden.

4.3 Bolzano über die Grenze eines Körpers Die am Ende des vorigen Abschnitts zitierte Bolzanosche Definition des Körpers legt zunächst noch nicht fest, was genau die Grenze eines Körpers ist und ob diese Grenze dem Körper als Teil angehört. Die Definition des Bolzanoschen Kontinuums lässt in Bezug auf dessen topologischen Rand90 jedenfalls verschiedene Möglichkeiten zu: es gibt sowohl abgeschlossene als auch offene Bolzanosche Kontinua, sowie solche, die weder offen noch abgeschlossen sind. Ob aber alle diese Fälle auch für Körper eintreten können, ist zunächst noch nicht klar. Darauf geht Bolzano dann aber ausdrücklich in § 66 PdU ein. Dieser Abschnitt fast am Ende des Buches enthält eine Definition der Grenze sowie einige grundlegende Eigenschaften von Grenzen. Im darauf folgenden § 67 geht Bolzano dann auf das Problem des Kontaktes zweier Körper ein. Im Folgenden sollen diese beiden Abschnitte der PdU ausführlich besprochen und analysiert werden. Ziel ist es dabei, Bolzanos Theorie der Grenze im Kontext seiner Naturphilosophie angemessen zu rekonstruieren und ihren systematischen Gehalt herauszustellen.

|| 90 Der (topologische) Rand einer Punktmenge M ist die Menge aller Punkte, für die sich in beliebig kleiner Entfernung sowohl Punkte aus M als auch Punkte aus dem Komplement von M befinden. Vgl. Kuratowski 1966, S. 55 und S. 62. Eine abgeschlossene Menge enthält alle ihre Randpunkte, eine offene Menge keinen ihrer Randpunkte.

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4.3.1 Definition und Eigenschaften der Grenze eines Körpers bei Bolzano Bolzano behandelt in § 66 der PdU die „Frage über die Grenzen der Körper: wo eigentlich ein Körper aufhöre und ein anderer anfange?“91. Gleich zu Beginn bringt er eine Definition der Grenze eines Körpers: Ich verstehe aber unter der Grenze eines Körpers den Inbegriff jener äußersten Ätheratome, die noch zu ihm gehören, d. h. die von den ausgezeichneten Atomen desselben stärker angezogen werden, als es von anderen, in der Nachbarschaft befindlichen Herrscheratomen geschieht; dergestalt, dass sie, sofern der Körper seine Stellung zu seiner Nachbarschaft verändert (z. B. sich von ihr entfernt), mit ihm fortziehen werden, wenn vielleicht nicht mit derselben Geschwindigkeit, doch so, dass keine Trennung und kein Dazwischentritt fremder Atome statt hat.92 PdU § 66, S. 160f.

Hier legt sich Bolzano eindeutig darauf fest, dass die Grenze eines Körpers aus Atomen besteht, die noch zum Körper gehören. Es sind gerade die äußersten Atome des Körpers, die dessen Grenze bilden. Eine Grenze gehört also nach Bolzanos Verständnis dem Körper, dessen Grenze sie ist, als Teil an. Man kann somit die folgende Definition der Grenze eines Körpers festhalten: Die Grenze eines Körpers ist die mereologische Summe seiner äußersten Atome.

Welche Atome zur Grenze gehören ist darüber hinaus ein Ergebnis der Wirkung der Kräfte der Herrscheratome des Körpers: die Ätheratome, die von den Herrscheratomen des Körpers gerade noch stärker angezogen werden als von anderen Herrscheratomen außerhalb des Körpers, bilden die Grenze. Ein weiteres Kriterium für Grenzatome ergibt sich aus der Bewegung des gesamten Körpers: Grenzatome sind die Ätheratome, die sich gerade noch mit dem Körper gemeinsam fortbewegen, wenn dieser seine Position verändert. Festzuhalten ist: Äußerste Atome eines Körpers sind diejenigen Ätheratome, die von den Herrscheratomen des Körpers gerade noch stärker angezogen werden, als von den außerhalb des Körpers befindlichen Herrscheratomen.

Bolzano betont direkt im Anschluss an die gerade zitierte Passage eine wesentliche Eigenschaft der Grenze eines Körpers:

|| 91 PdU § 66, S. 160 (Hervorhebung im Original). 92 Hervorhebungen im Original.

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Diesen Begriff einer Grenze vorausgesetzt, zeigt es sich alsbald, dass die Begrenzung eines Körpers etwas sehr Wandelbares sei, ja sich beinahe fortwährend ändere, sowie nur irgendeine Veränderung teils in ihm selbst, teils in den nachbarlichen Körpern vorgeht, weil alle dergleichen Veränderungen begreiflich auch gar manche Änderung wie in der Größe, so auch in der Richtung der Anziehung bewirken können, die die Atome eines Körpers, nicht nur die dienenden, sondern selbst seine herrschenden erfahren. PdU § 66, S. 161.

Grenzen sind also veränderlich. Ihre Veränderlichkeit resultiert aus der Veränderlichkeit der die Grenze bestimmenden Kräfte. Da die Größe und Richtung der auf die Grenzatome einwirkenden Anziehungskräfte einem ständigen Wandel unterliegt, verändert sich auch die Grenze ständig. Bolzano verdeutlicht die Art der Veränderung an einem Beispiel: So werden z. B. gewiss mehrere Teilchen von diesem Kiele, welche noch kurz zuvor von dessen übriger Masse stärker als von der umgebenden Luft angezogen wurden, also zu ihm noch gehörten, jetzt von meinen Fingern stärker als von der Masse des Kieles angezogen und sind demselben somit entrissen. PdU § 66, S. 161.

Einige Grenzatome des Schreibgerätes wechseln in dem Moment, indem Bolzano dieses in die Hand nimmt, auf seine Finger über und sind nun Grenzatome seiner Finger. Die Atome der Grenze eines Dinges können also u. U. im nächsten Moment der Grenze eines anderen Dinges zugehören. Bedenkt man dabei die Kontinuumsstruktur des Äthers, so ergibt sich eine weitere Konsequenz für das Verhältnis zwischen einem Körper und seiner Grenze: Genauer erwogen, zeigt sich, dass mancher Körper an gewissen Stellen auch gar keine Grenzatome, d. h. gar keine Atome aufweisen könne, welche die äußersten sind unter denjenigen, die ihm noch zugehören und noch mit ihm zögen, wenn seine Stellung sich verändern würde. Denn in der Tat, so oft der eine von zwei nachbarlichen Körpern ein äußerstes, mit ihm fortziehendes Atom an einer Stelle besitzt, kann eben deshalb der andere keines dergleichen äußerstes haben, weil alle hinter jenem befindlichen Ätheratome schon diesem zugehören.93 PdU § 66, S. 161.

Hier zieht Bolzano aus der Eigenschaft der Kontinuumspunkte, jeweils keinen direkten Nachbarn zu haben, die Konsequenz, dass es Körper ohne Grenze geben muss. Von zwei sich berührenden Körpern A und B kann nur jeweils einer ein bestimmtes Grenzatom g besitzen. Besitzt es der Körper A, dann existiert

|| 93 Hervorhebung im Original.

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kein direkt benachbartes Atom, das dem Körper B zuzurechnen wäre. Alle Ätheratome, die im Vergleich mit g näher an den Herrscheratomen von B liegen, gehören zwar eindeutig dem Körper B an. Es gibt aber kein „erstes“ bzw. „äußerstes“ unter ihnen. Der Körper B hat dort also gar kein Grenzatom. Im Extremfall kann es auf diese Weise Körper geben, die überhaupt keine Grenzatome haben. Es ist somit klar, dass für Bolzano die Grenze eines Körpers nicht notwendig dessen gesamter topologischer Rand ist, sondern unter Umständen nur ein Teil davon. Alle drei Arten Bolzanoscher Kontinua (abgeschlossene Kontinua, offene Kontinua, sowie Kontinua, die weder abgeschlossen noch offen sind) können bei den Körpern auftreten: Es gibt (1) abgeschlossene Körper, die eine „vollständige Grenze haben“, d. h. Körper, deren gesamter topologischer Rand Teil des Körpers ist; (2) offene Körper, die überhaupt keine Grenze haben, d. h. deren topologischer Rand vollständig zur Umgebung des Körpers gehört; und (3) Körper, die nur teilweise eine Grenze haben, d. h. deren topologischer Rand nur teilweise zum Körper gehört. Über die in § 66 enthaltenen Überlegungen Bolzanos hinaus ist die Frage interessant, ob die Grenze eines Körpers selbst wieder ein Bolzanosches Kontinuum ist. Dies ist offenbar nicht notwendigerweise der Fall. Es könnte nämlich vorkommen, dass ein Körper z. B. nur über ein einziges Grenzatom verfügt. Dieses ist dann natürlich kein Bolzanosches Kontinuum. Die Grenze beispielsweise eines abgeschlossenen, würfelförmigen Körpers ist dagegen ein Bolzanosches Kontinuum. Auch in dem Fall, dass der würfelförmige Körper nur Grenzatome an zwei gegenüberliegenden Seiten besitzt und sonst über keine Grenzatome verfügt, handelt es sich bei der Grenze um ein Bolzanosches Kontinuum, das allerdings aus zwei räumlich voneinander getrennten Stücken besteht. Diese Beispiele werden im nächsten Abschnitt noch eine Rolle spielen.

4.3.2 Bolzano zum Problem des Kontaktes Es fragt sich nun, wie Bolzano mit seiner Konzeption der Grenzen der Körper das Problem des Kontaktes zweier Körper löst. Auf dieses Problem geht er in § 67 PdU ausdrücklich ein: Hiermit beantwortet sich auch noch die Frage, ob und wann Körper in einer unmittelbaren Berührung miteinander stehen oder durch einen Zwischenraum getrennt sind? Erlaube ich mir nämlich (wie mir das zweckmäßigste deucht) die Erklärung, dass ein Paar Körper einander berühren, wo immer die äußersten Atome, die nach der Erklärung des vorigen §. dem einen zugehören, mit gewissen Atomen des anderen eine stetige Ausdehnung bilden:

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so wird sich gewiss nicht ableugnen lassen, dass es gar viele Körper gebe, welche sich gegenseitig berühren;94 PdU § 67, S. 161f.

An dieser Stelle ist zunächst daran zu erinnern, dass der von Bolzano gebrauchte Ausdruck „stetige Ausdehnung“ in § 38 PdU als Synonym zu „Kontinuum“ eingeführt wurde. Das Zitat lässt auf den ersten Blick unterschiedliche Deutungen zu. Nach einer möglichen Interpretation schlägt Bolzano hier das folgende Kriterium für den Kontakt zwischen zwei Körpern vor: Zwei Körper stehen miteinander in Kontakt genau dann, wenn es zu der Menge der von Atomen des anderen Körpers Grenzatome des einen der beiden Körper eine Menge gibt, so dass ∪ ein Bolzanosches Kontinuum ist.

Dieses Kriterium erweist sich allerdings als zu weit. Man betrachte zwei abgeschlossene würfelförmige Körper A und B, die einen gewissen Abstand voneinander haben (sich also nicht berühren). Dann ist bereits die Menge der Grenzatome von A allein ein Bolzanosches Kontinuum. Damit ist aber auch die Menge der Grenzatome von A vereinigt mit der Menge aller Atome von B ein Bolzanosches Kontinuum, wenn auch ein unzusammenhängendes. Nach dem genannten Kriterium sollten sich also A und B berühren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Man könnte nun das Kriterium modifizieren, indem man anstelle eines allgemeinen Bolzanoschen Kontinuums spezieller ein zusammenhängendes Bolzanosches Kontinuum verlangt. Dies kann man auch gut rechtfertigen, denn in § 48 PdU kündigt Bolzano an, im Rest des Buches nur noch zusammenhängende Kontinua zu betrachten.95 Das gerade genannte Beispiel würde nun korrekt als zwei Körper, die sich nicht berühren, identifiziert. Allerdings kann man zeigen, dass das so modifizierte Kriterium zu eng ist. Man betrachte dazu wieder zwei würfelförmige Körper A und B, wobei Körper A nur an zwei einander gegenüberliegenden Seiten jeweils eine vollständige Fläche von Grenzatomen hat, während die übrigen vier Seiten „offen“ sind, d. h., es befinden sich dort überhaupt keine Grenzatome. Körper B sei ein vollständig offener Würfel ohne Grenze. Sind diese beiden Würfel nun so positioniert, dass eine der beiden Grenzflächen von A direkt an eine der (offenen) Seiten von B anschließt, dann stehen die beiden Würfel ohne Zweifel miteinander in Kontakt. Allerdings ergibt das modifizierte Kriterium hier etwas anderes: Die (gesamte) Menge der Grenzatome von

|| 94 Hervorhebung im Original. 95 Vgl. PdU § 48, S. 130f.

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A ist für sich genommen ein nicht zusammenhängendes Bolzanosches Kontinuum, und selbst wenn man alle Atome von B hinzufügen würde, entstünde daraus kein zusammenhängendes Kontinuum. Dem modifizierten Kriterium zufolge stünden die beiden Körper also nicht in Kontakt miteinander, was aber eindeutig falsch ist. Es gibt noch eine weitere Deutung der oben zitierten Stelle aus § 67 PdU. Liest man das darin vorkommende Wort „wo“ als Ortsangabe, dann ist nicht von der gesamten Grenze die Rede, sondern nur von bestimmten Atomen der Grenze. Deutlicher wird dieser Sinn, wenn man das Wort „dort“ ergänzt: „… dass ein Paar Körper einander dort berühren, wo immer die äußersten Atome […] mit gewissen Atomen des anderen eine stetige Ausdehnung bilden…“ Aber auch ohne diese Ergänzung kann man die Stelle in diesem Sinn interpretieren. Ein Kontakt ist dann überall dort gegeben, wo sich ein Grenzatom befindet, das die angegebenen Eigenschaften hat. Man erhält so das folgende Kriterium: Zwei Körper stehen miteinander in Kontakt genau dann, wenn es ein Grenzatom des einen Körpers und eine Menge von Atomen des anderen Körpers gibt, so dass { } ∪ ein Bolzanosches Kontinuum ist.

Dieses Kriterium passt nun für beide oben erwähnte Beispielfälle. Die Einschränkung auf zusammenhängende Kontinua ist hier nicht mehr nötig, das Kriterium greift auch im Fall von aus mehreren nicht zusammenhängenden Teilen bestehenden Körpern. Welche Körper können miteinander in Kontakt stehen? Bolzano schreibt, dass der Kontakt zwischen zwei Körpern nicht nur dann stattfindet, wenn einer oder gar beide flüssig, sondern auch, wenn sie fest sind, sofern nur erst die im gewöhnlichen Zustande auf Erden ihnen anhängende Luft durch starkes Andrücken oder auf sonst eine Weise zwischen ihnen fortgeschafft ist. PdU § 67, S. 162.

Kontakt kann also zwischen flüssigen, festen und gasförmigen („Luft“) Körpern sowie beliebigen Kombinationen davon stattfinden. Aus der schon besprochenen Ansicht Bolzanos, dass es kein Vakuum gibt, wird von ihm nun eine weitere Konsequenz gezogen: Wenn ein Paar Körper einander nicht berühren: so muss, weil es doch keinen ganz leeren Raum gibt, der Zwischenraum durch irgendeinen anderen Körper, oder wenigstens durch bloßen Äther ausgefüllt werden. Somit lässt sich behaupten, dass eigentlich jeder Körper nach allen Seiten mit irgend einigen anderen Körpern, oder in Ermangelung derselben mit bloßem Äther in Berührung stehe. PdU § 67, S. 162.

122 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

Es gibt also keinen Körper, der an irgendeiner Stelle nicht mit einem anderen Körper oder mit dem Äther in Kontakt stehen würde. Alle Körper stehen nach allen Seiten hin mit anderen Körpern oder mit dem Äther in Kontakt. Damit enden Bolzanos Ausführungen über die Grenzen der Körper. Auf das Problem der Spaltung geht er nicht ein.

4.3.3 Wie geht Bolzano mit den bekannten Problemen um? Nach der Rekonstruktion von Bolzanos ursprünglicher Theorie der Grenzen physikalischer Körper kann nun die Frage beantwortet werden, ob diese Theorie tatsächlich das Problem der Zugehörigkeit der Grenze im Sinne von Option 2 löst. Option 2 wurde in Abschnitt 3.4 wie folgt beschrieben: Die Grenze zwischen zwei einander berührenden ausgedehnten Gegenständen gehört nur einem der beiden Gegenstände als Teil an, und zwar als dessen äußerster Teil. Sie ist nicht Teil des anderen Gegenstandes. Die Grenze zwischen den beiden Gegenständen ist also zugleich abschließende Grenze des einen Gegenstandes, aber nicht zugleich auch abschließende Grenze des anderen Gegenstandes. Der andere Gegenstand hat an der Berührstelle keine ihm als äußerster Teil angehörende abschließende Grenze.

Ersetzt man darin den Ausdruck „ausgedehnter Gegenstand“ durch den Ausdruck „Körper“, dann wird klar, dass all dies tatsächlich auch auf die Grenze zwischen zwei einander berührenden Körpern, wie sie Bolzano beschreibt, zutrifft. Nicht nur die von den modernen Autoren Bolzano zugeschriebene Theorie der Grenzen, sondern auch die von Bolzano ursprünglich intendierte Theorie kann daher zu Recht als Variante von Option 2 bezeichnet werden. Allerdings weist Bolzanos Theorie der Grenzen der Körper einige Besonderheiten auf im Vergleich zu der ihm von den modernen Autoren zugeschriebenen Ansicht, welche im Wesentlichen der in Abschnitt 3.6 genauer untersuchten Option 2 entspricht. Bolzano behandelt nicht beliebige ausgedehnte Gegenstände, sondern nur dreidimensional ausgedehnte, physikalische Körper im Raum. Außerdem hat Bolzano nur die Außengrenzen dieser Körper im Blick, über „innere Grenzen“, also Grenzen zwischen Teilen dieser Körper, schreibt er nichts. Bolzanos Theorie ist also in ihrem Gültigkeitsbereich eingeschränkt. Diese Einschränkung eröffnet ihm jedoch, wie sogleich gezeigt werden wird, die Möglichkeit, mit den auftretenden Problemen besser umzugehen. Wesentlichen Anteil daran haben seine speziellen Ansichten zur Naturphilosophie. Die asymmetrische Zugehörigkeit der Grenze zu genau einem von zwei Körpern bleibt bei Bolzano nicht vollkommen ohne Erklärung, sondern ergibt sich als Wirkung der Kräfte der beteiligten Herrscheratome: Das Grenzatom wird

Bolzano über die Grenze eines Körpers | 123

eben von einem der Herrscheratome des einen Körpers stärker angezogen, als von den Herrscheratomen des anderen Körpers. Verbunden mit der von Bolzano betonten Veränderlichkeit der Grenze gewinnt seine Sichtweise auf diese Weise deutlich an Plausibilität. Eine kleine Änderung der Abstände zwischen den Herrscheratomen führt zu einer Änderung der Kraftwirkungen und somit auch sofort zu einer Änderung der Grenzen. Grenzatome können gemäß Bolzanos Sichtweise problemlos „die Seiten wechseln“, und sie tun das auch ständig. Auch wenn bei einer vorliegenden Berührung zwischen zwei Körpern jedes Grenzatom momentan genau einem der beiden Körper zugeordnet werden muss, so ist damit noch nicht gesagt, dass dieses auch einen kurzen Augenblick später noch demselben Körper zugehört. Somit wird Situation (a) (zwei einander berührende ausgedehnte Gegenstände) durch Bolzanos Theorie offenbar sehr viel plausibler beschrieben. Auch die Schwierigkeiten mit Situation (b) (ein ausgedehnter Gegenstand und seine Umgebung) werden damit deutlich abgemildert, denn dort, wo nicht klar ist, was Gegenstand und was Umgebung ist, muss auch nicht an einer fixen Zuordnung der Grenze festgehalten werden. Über Situation (c) (eine „innere“ Grenzen zwischen zwei benachbarten Teilen eines Gegenstandes) sagt Bolzano nichts. Seine Theorie bezieht sich offensichtlich ausschließlich auf die (Außen-)Grenzen von Körpern hin zu benachbarten Körpern bzw. zur Umgebung. Die von Bolzano behauptete Variabilität der Grenze entschärft auch das Problem des Kontaktes weitgehend. Für ein Paar von Körpern mit zunächst „unpassender“ Oberflächenstruktur ist es so nämlich ohne weiteres möglich, dass sie einander schließlich doch noch berühren: Der ständig ablaufende Vorgang des Verlustes bzw. Hinzugewinns von Grenzatomen sorgt dafür, dass unmittelbar vor dem Kontakt die „passende“ Kombination von Oberflächenstrukturen vorliegt. Genauer gesagt gibt es überhaupt keine Paare von Körpern mit dauerhaft „unpassender“ Oberflächenstruktur, da sämtliche Grenzen ständig in Bewegung sind. Auch das Problem der Spaltung ist mit der von Bolzano vorgeschlagenen Theorie besser lösbar: ein allmähliches Auseinandertreten verschiedener Herrscheratome desselben Körpers führt dazu, dass deren Kräfte irgendwann nicht mehr alle dazwischenliegenden Ätheratome binden. Der Körper ist dann auf diese Weise in zwei Teile gespalten. Ob die Teile selbst wieder Grenzen haben oder nicht, hängt ganz von den momentan und lokal herrschenden Kräften ab. Theoretisch kann jedes Ätheratom, das zu einem Körper gehört, zu einem Grenzatom des Körpers werden. Umgekehrt ist es auch für jedes Grenzatom möglich, zu einem „inneren“ Atom des Körpers zu werden. Die „Produktion“

124 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

neuer Grenzen und die „Vernichtung“ von Grenzen sind damit vollkommen unproblematisch. Insgesamt ergibt sich so der Eindruck, dass Bolzano mit den Schwierigkeiten, denen alle Ansätze gemäß Option 2 ausgesetzt sind, sehr viel besser umgehen kann als es die ihm von den modernen Autoren zugeschriebene verallgemeinerte und um ihre naturphilosophischen Besonderheiten verkürzte Theorie nahelegt. Bolzanos Theorie scheint in dieser Hinsicht sozusagen besser zu sein als ihr Ruf. Allerdings wirken sich die gerade skizzierten Vorzüge von Bolzanos Theorie offensichtlich nur in Bezug auf physikalische Körper aus, und auch nur dann, wenn man sich auf die naturphilosophischen Vorstellungen Bolzanos einlässt und wenn sich diese als kohärent und angemessen herausstellen. Bolzanos Theorie der Grenze kann also nur im Kontext seiner Naturphilosophie beurteilt werden. Dabei stellt sich zum einen die Frage, ob die Bolzanosche Naturphilosophie insgesamt eine angemessene Beschreibung der materiellen Welt leistet, zum anderen ist noch unklar, ob sich die Bolzanosche Definition der Grenze eines Körpers überhaupt kohärent und sinnvoll in seine übrige Naturphilosophie eingliedert. Findet mindestens eine dieser beiden Fragen eine negative Antwort, dann wäre die von Bolzano vorgeschlagene Theorie, trotz ihrer gerade geschilderten Vorteile, nicht sinnvoll vertretbar. Eine Diskussion der Angemessenheit der Bolzanoschen Naturphilosophie insgesamt kann hier nicht geleistet werden. Die Kohärenz der Bolzanoschen Definition der Grenze im Kontext seiner eigenen Naturphilosophie soll im folgenden Abschnitt im Fokus der Untersuchung stehen.

4.4 Ein grundsätzliches Problem der Bolzanoschen Theorie Es ist nun also zu untersuchen, ob sich Bolzanos Theorie der Grenzen physikalischer Körper in seine Naturphilosophie insgesamt kohärent einfügt, oder ob, im Gegenteil, die von ihm in § 66 PdU gegebene Definition der Grenze eines Körpers mit anderen naturphilosophischen Überzeugungen Bolzanos im Widerspruch steht. Gemäß der Definition aus § 66 ist ein Grenzatom g ein äußerstes Ätheratom des Körpers, also ein Ätheratom, das gerade noch von einem Herrscheratom h des Körpers effektiv angezogen wird, während alle von h ausgehend in derselben Richtung weiter entfernt liegende Atome nicht mehr angezogen werden. Damit g noch von h angezogen wird, muss auf g eine kleine, aber eindeutig positive, effektive Kraft F in Richtung auf h wirken. Betrachtet man die effektive Kraft auf die Atome auf einer von h ausgehenden geraden Linie durch g, dann hat die auf h gerichtete Komponente einen Sprung bei g: Für alle Atome zwischen h und g (einschließlich g) ist die effektive Anziehungskraft

Ein grundsätzliches Problem der Bolzanoschen Theorie | 125

positiv und größer als ein minimaler Wert C; für alle Atome, die von h weiter entfernt liegen als g, ist die effektive Anziehungskraft gleich Null oder negativ. Wie bereits angedeutet wurde, betont Bolzano jedoch, […] dass die Veränderung, welche die eine [Substanz] in der anderen bewirkt, umso geringer wird, je größer der zwischen ihnen liegende Abstand; und dass das Gesamtergebnis des Einflusses aller auf jede einzelne eine Veränderung ist, die […] nach dem bekannten Gesetze der Stetigkeit vorgeht.96 PdU § 60, S. 153f.

Man kann das so interpretieren, dass die effektive Kraft97 auf ein gegebenes Ätheratom eine stetige Funktion98 der Abstände zu den umgebenden Herrscheratomen ist.99 Insbesondere ist dann auch die in eine bestimmte Richtung wirkende Komponente dieser Kraft, d. h. in unserem Fall die auf das Ätheratom wirkende effektive Anziehungskraft in Richtung auf h, eine stetige Funktion des Abstands von h. Stetige Funktionen weisen aber keine Sprünge auf. Das eben skizzierte Profil der Anziehungskraft kann also so nicht stimmen. Für eine stetige Funktion gilt, dass sie, wenn sie an einer bestimmten Stelle einen positiven Wert hat, auch in der Umgebung dieser Stelle positiv ist.100 Auf

|| 96 Hervorhebungen im Original. 97 Mit dem Ausdruck „effektive Kraft“ soll hier das bezeichnet werden, was Bolzano das „Gesamtergebnis des Einflusses aller [Atome]“ auf ein bestimmtes einzelnes Atom nennt. Die effektive Kraft, die auf ein Atom wirkt, ist selbstverständlich nicht zu verwechseln mit der Kraft dieses Atoms, mit der dieses Atom auf andere Atome wirkt. 98 Bolzano gilt als einer der ersten Mathematiker, der den modernen Begriff der stetigen Funktion kannte (vgl. Bolzano 1817, S. 11). Vgl. Berg 2003 The Importance of Being Bolzano, S. 161; Berg 2001, S, 23; Hischer und Scheid 1995, S. 145f; Kolman 1963, S. 51. 99 Das physikalische Gesetz der Stetigkeit in der Welt wird von Bolzano an anderen Stellen seines Werkes mit Bezug auf Funktionen der Zeit (insbes. Änderung der Kraftwirkung in der Zeit, vgl. Versuch einer objectiven Begründung der Lehre von der Zusammensetzung der Kräfte §19, Bolzano GA 1/18, S. 25f; Zur Physik II §127 und §132 (Bolzano GA 2B20, S. 70f und S. 73f)) erklärt. Im hier vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch offensichtlich um Stetigkeit in Bezug auf den Ort. 100 Für eine im Intervall ( , ) stetige Funktion , die an einer Stelle ∈ ( , ) einen positiven Wert ( ) = > hat, gibt es stets eine Umgebung von , in der überall positiv ist:

∃ >

∀ ∈ ( , ) (| − |
).

Dies folgt direkt aus der Definition der stetigen Funktion: ist stetig im Intervall ( , ) genau dann, wenn

∃ > ∀ ∈ ( , ) (| − | < → | ( ) − ( )| < ). ∈ ( , ) mit ( ) = > und für = : ∃ > ∀ ∈ ( , ) (| − | < → | ( ) − | < ). Aus | ( ) − | < folgt ( ) > . Vgl. auch Heuser 2009, S. 214 (Satz 34.2). ∀

∈( , ) ∀ >

Insbesondere gilt für ein

126 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

die Funktion der Anziehungskraft in Abhängigkeit vom Abstand von h bezogen ergibt sich daraus, dass diese auch noch in einer ganzen Umgebung um das Atom g herum positiv ist. Es gibt also auf jeden Fall Atome, die von h in derselben Richtung weiter entfernt sind als g, und die dennoch eine (positive) Anziehungskraft in Richtung h erfahren. g kann also kein äußerstes Ätheratom sein, das gerade noch von h angezogen wird. Es gibt überhaupt kein äußerstes Ätheratom in diesem Sinne. Jedes Ätheratom, das von einem Körper angezogen wird, ist vollständig umgeben von weiteren Ätheratomen, die allesamt ebenfalls angezogen werden. Nimmt man die Stetigkeitsforderung ernst, die Bolzano in § 60 PdU an die Auswirkungen der Kräfte der Atome stellt, dann muss man feststellen, dass Grenzen im Bolzanoschen Sinne, wie sie in § 66 PdU definiert sind, nicht existieren! Es gibt keine äußerste, gerade noch zum Körper gehörende Ätheratome. Die Definition der Grenze als die mereologische Summe der äußersten, gerade noch zum Körper gehörenden Ätheratomen passt also nicht zu dem „Gesetz der Stetigkeit in der Welt“101, das eine zentrale Rolle in der Naturphilosophie Bolzanos spielt. Hält man am Gesetz der Stetigkeit fest, dann gibt es die von Bolzano definierten Grenzen der Körper nicht. Am Gesetz der Stetigkeit sollte aber nicht nur deshalb festgehalten werden, weil es noch einige Paragraphen zuvor in den PdU von Bolzano selbst vertreten wird, sondern weil Bolzano offenbar seine Gültigkeit auch in § 66 implizit voraussetzen muss: Der Übergang eines Grenzatoms von einem Körper zu einem benachbarten anderen Körper lässt sich nämlich viel plausibler erklären, wenn die effektive Kraft auf dieses Grenzatom (als Funktion der Zeit) stetig ist. Auf das fragliche Atom wirkt dann zunächst eine effektive Anziehungskraft in Richtung des ersten Körpers, die allmählich schwächer wird, bis es gar nicht mehr von diesem Körper angezogen wird, worauf dann eine effektive Anziehungskraft in Richtung des zweiten Körpers einsetzt und allmählich stärker wird. Der Wechsel von einem zum anderen Körper findet in diesem Fall also deshalb statt, weil die effektive Anziehungskraft ihr Vorzeichen wechselt. Dieses Ereignis definiert auch den Zeitpunkt und den Ort dieses Wechsels. Wäre die Kraftwirkung dagegen keine stetige Funktion der Zeit, dann gäbe es einen sprunghaften und plötzlichen Wechsel von einer Anziehungskraft in Richtung auf den einen Körper auf eine Anziehungskraft in Richtung auf den anderen Körper. Warum dieser Wechsel gerade dort und zu diesem Zeitpunkt stattfindet, bliebe ohne Erklärung. Verzichtet man auf das Gesetz der Stetigkeit, dann wird damit also nicht nur eine naturphilosophische Grundüberzeugung Bolzanos aufgegeben. Auch die || 101 Zur Physik II, § 127 (Bolzano GA 2B20, S. 70).

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von Bolzano vorgeschlagene Lösung des Problems des Kontaktes verliert an Plausibilität: Der Übergang eines Grenzatoms von einem zum anderen Körper, wie ihn Bolzano in § 66 PdU beschreibt, ist dann ein sprunghaftes Ereignis, das sich einer weiteren Erklärung entzieht. Wieso ein Wechsel eines Grenzatoms gerade jetzt und hier stattfindet oder nicht stattfindet, lässt sich nicht mehr an den beteiligten Kräften und Atomabständen ablesen. Somit verliert Bolzanos Lösung des Problems des Kontaktes stark an Plausibilität, wenn man das Gesetz der Stetigkeit aufgibt. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Definition der Grenze, wie Bolzano sie in § 66 der PdU aufgestellt hat, mit dem Gesetz der Stetigkeit, das ein wesentlicher Bestandteil seiner Naturphilosophie ist, unvereinbar ist. Das Gesetz der Stetigkeit bewirkt, dass der gemäß der Definition von § 66 festgelegte Begriff der Grenze inhaltsleer ist: Es kann überhaupt keine solchen Grenzen geben. Die von Bolzano vorgeschlagene Theorie der Grenzen physikalischer Körper insgesamt ist also so, wie sie in den PdU präsentiert wird, nicht sinnvoll vertretbar. Um sicherzustellen, dass Grenzen nach Bolzanos Definition überhaupt möglich sind, müsste man auf das Gesetz der Stetigkeit verzichten. Allerdings ist auch dies nicht sinnvoll, denn erstens ist das Gesetz der Stetigkeit ein wesentlicher Bestandteil der Bolzanoschen Naturphilosophie und zweitens beruht die Problemlösekraft von Bolzanos Theorie der Grenze gerade auf dem Gesetz der Stetigkeit. Es ist also tatsächlich in erster Linie Bolzanos Definiton der Grenze, und nicht so sehr seine übrige Naturphilosophie, die sich als nicht sinnvoll vertretbar herausgestellt hat.

4.5 Korrektur der Bolzanoschen Theorie Die Spannung zwischen Bolzanos Definition der Grenze eines Körpers und seiner übrigen Naturphilosophie kann nicht sinnvoll aufgelöst werden, solange man an dieser Definition festhält. Verwirft man nun diese Definition, dann ist das eindeutig ein Abweichen von Bolzanos ursprünglicher Ansicht über Grenzen. Das Ziel der folgenden Ausführungen kann daher nicht mehr eine getreue Rekonstruktion der Bolzanoschen Ideen sein. Allerdings soll weiterhin soweit wie möglich im Sinne Bolzanos vorgegangen werden, und zwar indem die ursprüngliche Definition der Grenze behutsam so modifiziert wird, dass sie sich in Bolzanos übrige Naturphilosophie besser einfügt.

128 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

4.5.1 Korpuskeln und ihre Grenzen Um eine neue, angemessene Definition der Grenze eines Körpers zu gewinnen, wird zunächst der einfachste denkbare Körper (gemäß der von Bolzano vorgeschlagenen Definition des Körpers) betrachtet: ein einzelnes Herrscheratom gemeinsam mit der es umgebenden Hülle der von ihm beherrschten Ätheratome. Ein solcher Körper kann mit dem Ausdruck „Korpuskel“ bezeichnet werden. Korpuskeln können in gewisser Weise den (ausgedehnten) Atomen der modernen Physik und Chemie gleichgesetzt werden. Jeder Körper besteht aus Zusammenschlüssen einer endlichen Anzahl von Korpuskeln. Leitende Idee für die Definition der Grenze einer Korpuskel ist der Gedanke, dass es von dem Herrscheratom einer Korpuskel ausgehend in einer bestimmten Richtung zwar kein letztes, äußerstes Ätheratom gibt, das noch von diesem Herrscheratom angezogen wird, aber dafür ein erstes, das nicht mehr angezogen wird. Die Existenz dieses ersten Ätheratoms, das nicht mehr angezogen wird, ist eine Konsequenz aus der folgenden Eigenschaft stetiger Funktionen: Ist die Funktion auf dem Intervall [ , ] stetig und ist überdies an der Stelle positiv und an der Stelle null oder negativ, so gibt es ein in ( , ] derart, dass an der Stelle eine Nullstelle hat und dass für alle reellen Zahlen im Intervall [ , ) positiv ist.

Diese Eigenschaft stetiger Funktionen hängt eng mit dem in der Analysis bekannten Zwischenwertsatz zusammen. Bemerkenswerterweise war es Bolzano selbst, der als erster einen Beweis für diesen Satz vorlegte.102 Dieser Beweis enthält als einen wesentlichen Schritt den folgenden Lehrsatz, der ebenfalls von Bolzano bewiesen wurde: Wenn eine Eigenschaft M nicht allen Werthen einer veränderlichen Größe x, wohl aber allen, die kleiner sind als ein gewisser u, zukömmt: so gibt es allemahl eine Größe U, welche die größte derjenigen ist, von denen behauptet werden kann, daß alle kleineren x die Eigenschaft M besitzen.103 Bolzano 1817 § 12, S. 41.

|| 102 Der Beweis des Zwischenwertsatzes ist Inhalt von Bolzano 1817. Die Formulierung des Satzes findet sich in § 15 (S. 51). Vgl. Hischer und Scheid 1995, S. 145f und Tapp 2012 Einleitung, S. 23. Der Zwischenwertsatz ist in der modernen Analysis auch unter dem Namen „Zwischenwertsatz von Bolzano“ bekannt (z. B. Heuser 2009, S. 223). 103 Hervorhebungen im Original. Im Wesentlichen handelt es sich bei diesem Satz um das sogenannte Supremumsprinzip, vgl. Heuser 2009, S. 73.

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Mit Hilfe dieses Lehrsatzes lässt sich nun auch die obige Eigenschaft stetiger Funktionen beweisen: Man nehme dazu als Prämissen an, dass die Funktion auf dem Intervall [ , ] stetig ist und dass an der Stelle positiv und an der Stelle null oder negativ ist. Sei nun M die Eigenschaft einiger reeller Zahlen im Intervall [ , ], einen positiven Funktionswert zu haben. Diese Eigenschaft kommt nicht allen reellen Zahlen im Intervall [ , ] zu, da gemäß den Prämissen zumindest der Funktionswert an der Stelle null oder negativ sein soll. Da ebenfalls gemäß den Prämissen an der Stelle positiv und stetig ist, gibt es eine ganze Umgebung von , in der positiv ist. Es gibt also insbesondere eine reelle Zahl im Intervall ( , ], so dass alle mit < < die Eigenschaft M haben. Gemäß dem zitierten Lehrsatz gibt es dann auch eine reelle Zahl ! im Intervall ( , ], welche die größte unter denjenigen reellen Zahlen in ( , ] ist, für die gilt, dass alle reellen Zahlen mit < < ! die Eigenschaft M haben. Welchen Wert hat nun an der Stelle !? Wäre der Funktionswert an der Stelle ! positiv, dann gäbe es aufgrund der Stetigkeit von auch eine ganze Umgebung von !, in der der Funktionswert positiv ist. Insbesondere gäbe es dann eine reelle Zahl !‘ > !, so dass auch für alle mit ! < < !‘ der Funktionswert positiv ist. Damit hätten auch alle reellen Zahlen mit < < !‘ die Eigenschaft M. ! wäre nicht maximal, was aber einen Widerspruch zur Definition von ! gemäß dem obigen Lehrsatz darstellt. Der Funktionswert kann also an der Stelle ! nicht positiv sein. Wäre andererseits der Funktionswert an der Stelle ! negativ, dann gäbe es aufgrund der Stetigkeit von auch eine ganze Umgebung von !, in der der Funktionswert negativ wäre.104 Insbesondere gäbe es eine reelle Zahl zwischen und ! mit ( ) < #. Es gäbe dann also eine reelle Zahl mit < < !, die die Eigenschaft M nicht hätte, was wiederum im Widerspruch zur Definition von ! gemäß dem obigen Lehrsatz steht. Der Funktionswert an der Stelle ! kann also nur Null sein: ! ist eine Nullstelle von . Da nach der Definition von ! und nach der Voraussetzung gilt, dass für alle reellen Zahlen im Intervall [ , !) positiv ist, ist die obige Eigenschaft stetiger Funktionen damit bewiesen.105 Die gerade bewiesene Eigenschaft stetiger Funktionen soll nun auf die effektive Anziehungskraft eines Herrscheratoms auf die Atome in seiner Umgebung, verstanden als stetige Funktion des Ortes, bezogen werden. Man betrach-

|| 104 Dass diese bereits mehrfach erwähnte Eigenschaft stetiger Funktionen entsprechend auch für negative Funktionswerte gilt, ergibt sich aus der einfachen Überlegung, dass, wenn die Funktion stetig ist, auch die Funktion (– ) stetig sein muss. 105 Um die Variablennamen entsprechend anzupassen ersetze man als letzten Schritt noch ! durch .

130 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

te dazu die Ätheratome, die von dem Herrscheratom h einer Korpuskel ausgehend in einer bestimmten Richtung liegen. Auf jedes dieser Ätheratome wirkt eine effektive Kraft. Innerhalb der Korpuskel ist dies im Wesentlichen eine Anziehungskraft in Richtung des Herrscheratoms h. Für Ätheratome außerhalb der Korpuskel ergibt sich eine Kraftwirkung in eine andere Richtung. Sei &(') die effektive Kraft auf das Atom mit Abstand ' von h. & ist dabei eine stetige, vektorwertige Funktion. Sei ( die Komponente von & in Richtung auf h. ( ist eine auf dem Intervall [ , ] stetige Funktion, wobei der Abstand eines zur Korpuskel gehörenden Ätheratoms ist und der Abstand eines außerhalb der Korpuskel liegenden Ätheratoms. Es gilt dann ( ( ) > und ( ( ) ≤ . Nach dem oben bewiesenen Satz gibt es einen Abstand zwischen und , so dass ( ( ) = und ( ( ) > für alle mit < < ist. D. h. es gibt einen Abstand von h, in dem sich das erste Ätheratom befindet, das effektiv keine Anziehung von h erfährt. Nachdem die Existenz eines solchen Atoms gesichert ist, kann Folgendes definiert werden: Ein Ätheratom g heißt Grenzatom der Korpuskel K, wenn es von dem Herrscheratom h von K aus gesehen in Richtung von g das erste Atom ist, das effektiv nicht mehr von h angezogen wird. Die mereologische Summe aller Grenzatome der Korpuskel K heißt Grenze von K.

Für ein Grenzatom gilt, dass es effektiv weder von h angezogen, noch von ihm weggezogen wird. Allerdings kann bereits eine winzige Änderung der auf das Grenzatom einwirkenden Kräfte dieses mehr in Richtung h oder mehr von ihm wegziehen. Aus diesem Grund lässt sich ein Grenzatom nur momentan als ein solches bestimmen. Ein Atom, das zu einem Zeitpunkt Grenzatom ist, kann kurz darauf bereits kein Grenzatom mehr sein. Die Grenze ist hoch variabel. Ob sich ein Grenzatom mit der Korpuskel fortbewegt, wenn sich diese fortbewegt, ist nicht allein aus der Tatsache, dass es ein Grenzatom ist, zu entscheiden, sondern hängt wesentlich von der Gesamtwirkung aller auf dieses Atom einwirkenden Kräfte ab, wobei geringste Änderungen die Bewegungsrichtung verändern können. Besonders bemerkenswert an dieser Definition der Grenze einer Korpuskel ist, dass gemäß der in Abschnitt 2.5 festgehaltenen Definition des Körpers ein Grenzatom nicht Teil der Korpuskel ist, deren Grenzatom es ist. Alle Korpuskeln sind somit offene Kontinua.

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Als Kriterium dafür, wann zwei Korpuskeln miteinander in Kontakt stehen, kann das von Bolzano in § 66 PdU erwähnte und hier in Abschnitt 3.2 besprochene Kriterium unverändert übernommen werden: Zwei Korpuskeln stehen miteinander in Kontakt genau dann, wenn es ein Grenzatom der einen Korpuskel und eine Menge von Atomen der anderen Korpuskel gibt, so dass { } ∪ ein Bolzanosches Kontinuum ist.

Instruktiver ist allerdings ein anderes, mit dem gerade genannten äquivalentes Kriterium: Zwei Korpuskeln stehen miteinander in Kontakt genau dann, wenn es ein Ätheratom gibt, das sowohl Grenzatom der einen Korpuskel als auch Grenzatom der anderen Korpuskel ist.

Dass die beiden Kriterien äquivalent sind, kann man aus der folgenden Überlegung ersehen: Einerseits kann ein Grenzatom g der ersten Korpuskel, das gemeinsam mit einer Menge von Atomen der zweiten Korpuskel ein Bolzanosches Kontinuum bildet, aus ebendiesem Grund in diesem Kontinuum nicht isoliert stehen. Ist es aber in diesem Kontinuum, das fast vollständig aus Punkten der zweiten Korpuskel besteht, nicht isoliert, dann gibt es in jeder beliebig kleinen Umgebung zu g nicht nur Atome der ersten, sondern auch der zweiten Korpuskel. Da g effektiv weder vom Herrscheratom der einen noch vom Herrscheratom der anderen Korpuskel angezogen wird, gehört g keiner der beiden Korpuskeln an. Somit ist g für beide Korpuskeln jeweils das erste Atom, das effektiv nicht mehr angezogen wird. g ist Grenzatom für beide Korpuskeln. Wenn also die Bedingung für das erste Kriterium eintritt, dann tritt notwendigerweise auch die Bedingung für das zweite Kriterium ein. Umgekehrt gilt für ein Atom g, das Grenzatom für beide Korpuskeln ist, dass es in beliebig kleiner Entfernung zu g sowohl Atome der ersten Korpuskel als auch Atome der zweiten Korpuskel gibt. Somit steht g sowohl in einer Menge vereinigt mit den Atomen der ersten Korpuskel als auch in einer Menge vereinigt mit den Atomen der zweiten Korpuskel nicht isoliert. Beide Mengen sind somit Bolzanosche Kontinua. Wenn also die Bedingung für das zweite Kriterium eintritt, dann tritt notwendigerweise auch die Bedingung für das erste Kriterium ein. Insgesamt ist damit erwiesen, dass die beiden Kriterien äquivalent sind.

132 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

4.5.2 Die Grenze eines Körpers Man könnte jetzt die Grenze eines Körpers einfach als Summe aller Grenzatome aller Korpuskeln, aus denen der Körper besteht, definieren. Für Körper, die aus mehreren, unzusammenhängenden Korpuskeln bestehen, scheint dies auch durchaus angemessen zu sein. Bei komplexen, zusammenhängenden Körpern ergibt sich allerdings ein Problem: da die Korpuskeln, aus denen ein solcher Körper besteht, miteinander in Kontakt stehen, gibt es Ätheratome, die Grenzatome mehrerer Korpuskeln des Körpers zugleich sind. Beispielsweise besteht die Kontaktfläche zweier benachbarter Korpuskeln des Körpers aus Grenzatomen beider Korpuskeln. Diese Atome liegen gewissermaßen im Inneren des Körpers, sie sind nur von zum Körper gehörenden Ätheratomen sowie von weiteren Grenzatomen des Körpers umgeben. Zählt man diese „inneren“ Grenzatome mit zur Grenze des Körpers, dann wäre der Körper in seinem Inneren von Teilen seiner Grenze durchzogen. Dies widerspricht deutlich einer Grundintuition, die berechtigterweise in Bezug auf Grenzen von Körpern vertreten wird: Die Grenze eines Körpers kann nicht im Inneren des Körpers liegen.106 Um diese unerwünschte Konsequenz zu vermeiden, muss die Definition der Grenze eines Körpers weiter präzisiert werden: Sei K ein aus mehreren Korpuskeln bestehender Körper. Die Menge derjenigen Ätheratome, die Grenzatom von mindestens einer der Korpuskeln des Körpers sind, und die darüber hinaus nicht vollständig von Atomen und Grenzatomen der Korpuskeln des Körpers umgeben sind, heißt die Grenze des Körpers K.

Die Grenze eines Körpers ist, genau wie die Grenze einer einzelnen Korpuskel, kein Teil des Körpers. Bei einem zusammenhängenden Körper gehören allerdings nicht nur dessen Grenze, sondern darüber hinaus auch die gemeinsamen, im Inneren des Körpers liegenden Grenzen seiner Korpuskeln nicht zum Körper. Ein solcher Körper ist also durchzogen von Flächen, die nicht zum Körper gehören. Um diese etwas kontraintuitive Folge der modifizierten Definition der Grenze zu vermeiden, bietet es sich an, zusätzlich noch die Definition des Körpers leicht anzupassen, und zwar so, dass die im Körperinneren liegenden Grenzen zwischen den Korpuskeln eines Körpers doch als Teile des Körpers gelten:

|| 106 Wohl aber die Grenze eines Teils des Körpers, wie beispielsweise die Grenze einer Korpuskel eines komplexen, zusammenhängenden Körpers.

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Ein Körper besteht aus einer endlichen Menge von Korpuskeln sowie denjenigen Grenzatomen dieser Korpuskeln, die vollständig von Atomen und Grenzatomen der Korpuskeln des Körpers umgeben sind.

Die zuvor angegebene Definition der Grenze des Körpers verträgt sich problemlos auch mit dieser Variante der Definition des Körpers. Es bleibt damit auch weiterhin gültig, dass jeder Körper ein offenes Bolzanosches Kontinuum ist, seine Grenze ihm also nicht als Teil angehört. Die Grenze des Körpers besteht gemäß der modifizierten Definition des Körpers, etwas lose gesprochen, aus den ersten Ätheratomen, die dem Körper gerade nicht mehr angehören.107 Die Grenze ist der topologische Rand des Körpers, der diesem jedoch nicht als Teil angehört. Wie bereits oben für zwei miteinander in Kontakt stehende Korpuskeln beschrieben wurde, gilt auch allgemeiner für den Kontakt zwischen zwei Körpern das folgende Kriterium: Zwei Körper stehen miteinander in Kontakt genau dann, wenn es ein Ätheratom gibt, das Grenzatom sowohl des einen als auch des anderen Körpers ist.

Das in diesem Kriterium genannte Grenzatom ist zwar Grenzatom für beide Körper zugleich, allerdings ist es weder ein Teil des einen noch ein Teil des anderen Körpers. Allgemeiner gesagt, ist die Grenze zwischen zwei einander berührenden Körpern, d. h. die Menge ihrer gemeinsamen Grenzatome, einerseits unzweifelhaft eine gemeinsame Grenze der beiden Körper, andererseits gehört sie weder dem einen noch dem anderen Körper als Teil an.

4.5.3 Kohärenz der modifizierten Theorie Nachdem nun die modifizierte Definition der Grenze eines Körpers und das damit verbundene Kriterium für Kontakt zwischen zwei Körpern vorgestellt wurde, kann man natürlich fragen, ob diese neue Theorie der Grenze auch tatsächlich besser mit den naturphilosophischen Ansichten Bolzanos vereinbar ist. Ziel war es ja, eine Theorie der Grenze anzugeben, die zu Bolzanos übriger Naturphilosophie kohärent ist. Ein Einwand gegen die Behauptung der Kohärenz

|| 107 Dabei klingt, der Struktur nach, die ursprüngliche Definition Bolzanos durch, und es wird dennoch der Unterschied deutlich: Die Grenze war bei Bolzanos ursprünglicher Definition der „Inbegriff jener äußersten Ätheratome [des Körpers], die noch zu ihm gehören“ (PdU § 66, S. 160f).

134 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

läge dann vor, wenn ein konkreter Aspekt der Bolzanoschen Naturphilosophie angegeben wird, der mit der modifizierten Theorie zumindest in einem Spannungsverhältnis steht. Das Gesetz der Stetigkeit kann hierzu nicht herangezogen werden, denn dieses ist mit der modifizierten Theorie der Grenze problemlos vereinbar. Die modifizierte Definition der Grenze ist ja gerade in einer Weise formuliert worden, dass sie mit dem Gesetz der Stetigkeit vereinbar ist. Um den Einwand aufrechtzuerhalten, müsste man also einen anderen Aspekt der Bolzanoschen Naturphilosophie finden, der im Zusammenhang mit der neuen Definition der Grenze problematisch ist. Dass es solche Aspekte geben kann, ist nicht auszuschließen. Allerdings kann festgehalten werden, dass die modifizierte Theorie immerhin einen Widerspruch zur übrigen Naturphilosophie Bolzanos vermeidet, den seine eigene, ursprüngliche Theorie der Grenze noch aufwies. Insofern ist die modifizierte Theorie zumindest als ein Fortschritt in Richtung Kohärenz anzusehen. Ein gravierender Einwand gegen die Behauptung der Kohärenz der modifizierten Theorie ergibt sich allerdings aus einer Stelle aus einem anderen Werk Bolzanos: In der Athanasia lehnt Bolzano das Kriterium der gemeinsamen Grenze für den Kontakt zwischen zwei Körpern ausdrücklich ab. Er schreibt: Die Geometer pflegen von ihren Körpern zu sagen, daß sie einander berühren, wenn sie irgend eine gemeinschaftliche Grenze haben, z. B. die einer Fläche oder auch nur eines einzigen Punctes. Allein vermögen auch ein Paar wirkliche Körper einander auf diese Art zu berühren? Gewiß nicht; […]108 Bolzano 1838, S. 67.

Das Kriterium der gemeinsamen Grenze lässt Bolzano nach diesem Zitat nur für geometrische Körper gelten, nicht jedoch für „wirkliche“, physikalische Körper. Bolzano müsste demnach auch die modifizierte Theorie der Grenze ablehnen. Wesentlicher Bestandteil dieser Theorie ist nämlich das Kriterium, dass Körper genau dann einander berühren, wenn sie eine gemeinsame Grenze haben. Bei dieser Überlegung wurde allerdings nicht berücksichtigt, dass Bolzano auch in der Athanasia, genau wie in den PdU, selbstverständlich davon ausgeht, dass Grenzen Teile der Körper sind, deren Grenze sie sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang die an die zitierte Stelle direkt anschließende Begründung seiner Ablehnung des Kriteriums der gemeinsamen Grenze: […] denn da sie [die beiden Körper, L. K.] wenigstens kurz vor dem Stoße der eine noch ganz außerhalb des andern lagen, und somit nicht einen einzigen Theil mit einander ge-

|| 108 Hervorhebung im Original.

Korrektur der Bolzanoschen Theorie | 135

mein hatten, so kann auch jetzt kein Theil derselben als gehörig zu beiden angesehen werden. Sollten sie also gleichwohl einander berühren im geometrischen Sinne des Wortes, so müßten wir in der Stelle der Berührung, in jenen Puncten des Raumes, in welchen sich etwas von beiden befinden soll, Theile des einen sowohl als des andern vorhanden annehmen, also voraussetzen, daß sie einander durchdringen können. Wenn aber dieses, dann wäre kein Grund vorhanden, warum der eine den andern aus seinem Ort verdrängte. Bolzano 1838, S. 67f.

Bolzano versteht hier offenbar unter einer „gemeinschaftlichen Grenze“ zweier Körper das gleichzeitige Vorhandensein von Teilen beider Körper an derselben Raumstelle.109 Dies ist auch durchaus im Einklang mit seiner ursprünglichen Definition der Grenze eines Körpers in den PdU: Nach der ursprünglichen Definition gehört eine Grenze stets einem Körper als Teil an. Körper, die über eine gemeinsame Grenze verfügten, müssten sich dann zwangsläufig durchdringen. Die Möglichkeit einer gegenseitigen Durchdringung gesteht Bolzano aber nur abstrakten, geometrischen Körpern zu, nicht jedoch konkreten, materiellen Körpern.110 Das ist auch durchaus nachvollziehbar, wenn man die weit verbreitete Ansicht zugrunde legt, nach der materielle Gegenstände undurchdringlich sind.111 Bolzanos Ablehnung des Kriteriums der gemeinsamen Grenze in Bezug auf wirkliche Körper basiert also u. a. auf der Voraussetzung, dass Grenzen Teile der Körper sind, deren Grenze sie jeweils sind. Nach der hier vorgeschlagenen neuen Definition der Grenze ist ersteres jedoch nicht der Fall. Eine gemeinsame Grenze ist weder ein Teil des einen noch ein Teil des anderen Körpers. Es liegt kein Fall einer Durchdringung zweier Körper vor. Wird von der modifizierten Definition der Grenze ausgegangen, dann entfällt der Grund, den Bolzano gegen das Kriterium der gemeinsamen Grenze in Bezug auf wirkliche Körper anführt. Im Gegenteil ergibt sich aus dem Zitat aus der Athanasia sogar ein Argument für das Kriterium der gemeinsamen Grenze, da dieses, wie Bolzano selbst schreibt, ja von den „Geometern“ für ihren Gegenstand weithin anerkannt ist. Mit der modifizierten Definition der Grenze wird es möglich, das Kriterium auch auf wirkliche Körper anzuwenden. Geometrie und Naturphilosophie passen so besser zusammen.

|| 109 Insofern hat Bolzano hier einen Ansatz gemäß Option 4 im Sinn. 110 Bolzano lehnt demnach Option 4 für wirkliche Körper ab und hält einen solchen Ansatz höchstens in der Geometrie für brauchbar. 111 Vgl. dazu Abschnitt 2.4 in dieser Arbeit.

136 | Bernard Bolzano über die Grenzen physikalischer Körper

Die Zurückweisung dieses Einwandes soll an dieser Stelle genügen, um die These von der Vereinbarkeit der modifizierten Theorie der Grenze mit der übrigen Naturphilosophie Bolzanos zu stützen.

4.6 Einordnung in den systematischen Rahmen Wie wird in der modifizierten Theorie das Problem der Zugehörigkeit der Grenze gelöst? In Bezug auf zwei einander berührende Körper kann es sich nicht mehr um eine Lösung im Sinne von Option 2 handeln, denn gemäß der modifizierten Theorie kann eine Grenze einem Körper nicht als Teil angehören. Diese Tatsache deutet aber bereits stark in Richtung Option 3. Zur Erinnerung sei hier noch einmal die Beschreibung von Option 3 aus Abschnitt 3.4 angeführt: Die Grenze zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen gehört weder dem einen noch dem anderen Gegenstand als Teil an. Keiner der beiden Gegenstände hat eine ihm als äußerster Teil angehörende abschließende Grenze an der Berührstelle. Die Grenze ist jedoch in Bezug auf die beiden ausgedehnten Gegenstände so angeordnet, dass sie für jeden der beiden ausgedehnten Gegenstände die Stelle eines äußersten Teiles einnimmt, ohne tatsächlich ein solcher äußerster Teil zu sein.

Ersetzt man hier wieder den Ausdruck „ausgedehnter Gegenstand“ durch den Ausdruck „Körper“, dann bleiben alle in dieser Beschreibung enthaltenen Aussagen wahr. Die vorgeschlagene Modifikation der Theorie der Grenze hat also dazu geführt, dass die Frage nach der Zugehörigkeit der Grenze bei zwei einander berührenden Körpern nun nicht mehr im Sinne von Option 2, sondern stattdessen im Sinne von Option 3 beantwortet wird. Bei der genaueren Untersuchung von Option 3 wurden in Abschnitt 3.7 zwei Varianten unterschieden. Nach der ersten dieser beiden Varianten ist die Grenze ein dünner, leerer Teil des Raumes, nach der zweiten Variante ist sie selbst ein Gegenstand, der einen dünnen Teil des Raumes einnimmt. Weil nach Bolzano der Raum lückenlos mit Atomen angefüllt ist, gibt es keine leeren Stellen im Raum, und es kann sich hier allenfalls um die zweite Variante handeln. Die Grenze besteht aus Atomen, die jeweils einen Raumpunkt einnehmen. Die Raumregion, die von den Grenzatomen ausgefüllt wird, ist notwendigerweise „dünn“. Dies resultiert daraus, dass die fraglichen Atome ja Grenzatome beider Körper zugleich sind, und dass jedes einzelne dieser Grenzatome sowohl vereinigt mit einer Menge von Atomen aus dem einen der beiden Körper als auch vereinigt mit einer Menge von Atomen aus dem anderen der beiden Körper ein Bolzanosches Kontinuum bilden. Für jedes Grenzatom gibt es also in beliebig kleiner Umgebung Atome des einen genauso wie Atome des anderen Körpers. Die Grenze hat also die

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„Dicke“ eines Atoms, und damit gar keine Dicke, denn Atome sind punktförmig. Somit ist klar, dass das Problem der Zugehörigkeit der Grenze bei zwei einander berührenden Körpern eindeutig im Sinne der zweiten Variante von Option 3 gelöst wird. In Bezug auf einen Körper und seine Umgebung stellt sich ebenfalls das Problem der Zugehörigkeit der Grenze. Definiert man als Umgebung eines Körpers die Menge aller Ätheratome, die nicht zu diesem Körper gehören, dann kann die so definierte Umgebung selbst kein Körper sein, denn sie enthält notwendigerweise Atome, die weder zu einer Korpuskel gehören, noch gemeinsame Grenzatome zweier ihr vollständig angehörenden Korpuskeln sind.112 Und weil die Umgebung selbst kein Körper ist, gilt für ihre Grenze auch nicht die Definition der Grenze eines Körpers. Was ist nun aber die Grenze der Umgebung? Die einzig sinnvolle Antwort hierauf ist es, dass die Grenze der Umgebung der Inbegriff genau derjenigen Atome ist, die Grenzatome des Körpers sind, um dessen Umgebung es geht. Die Grenze eines Körpers und die Grenze seiner Umgebung sind also in dem Sinne identisch, dass sie aus exakt denselben Atomen bestehen. Da aber die Grenze eines Körpers nach der modifizierten Definition kein Teil des Körpers ist, sondern vollständig seiner Umgebung als Teil angehört, ist klar: Das Problem der Zugehörigkeit wird in Bezug auf einen Körper und seine Umgebung nach wie vor im Sinne von Option 2 gelöst. Schließlich tritt das Problem der Zugehörigkeit der Grenze auch noch einmal in Bezug auf zwei benachbarte, ausgedehnte Teile ein und desselben Körpers auf. In der ursprünglichen Bolzanoschen Theorie wurde dieser Fall überhaupt nicht behandelt. In der modifizierten Theorie werden zwar ebenfalls keine beliebig abgeteilten ausgedehnten Teile eines Körpers behandelt, aber immerhin ist die Rede von den Korpuskeln, die einen komplexen Körper zusammensetzen. Somit tritt also wenigstens dieser Spezialfall des Falls zweier benachbarter ausgedehnter Teile eines Körpers in der modifizierten Theorie auf. Die Grenze zwischen zwei benachbarten Korpuskeln ein und desselben Körpers ist einer Grenze zwischen zwei einander berührenden Körpern sehr ähnlich. Sie gehört weder der einen noch der anderen Korpuskel als Teil an. Es wird daher auch hier eine Lösung im Sinne von Option 3 angeboten. Genauer handelt sich hier auch ebenfalls um die zweite Variante von Option 3: Die Grenze ist kein leerer Teil des Raumes, sondern selbst ein Gegenstand, der einen dünnen Teil

|| 112 Zu den genannten Atomen gehören auf jeden Fall die Grenzatome des Körpers, um dessen Umgebung es geht. Ist der Körper zumindest stellenweise von reinem Äther umgeben, d. h. von ausgedehnten Bereichen des Äthers, die keine Herrscheratome enthalten, dann gehören auch die darin enthaltenen Atome dazu.

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des Raumes einnimmt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Grenze zwischen zwei benachbarten Korpuskeln desselben Körpers in der modifizierten Definition des Körpers dem Körper als Teil zugeschlagen wurde. Es gibt daher keine „Lücken“ im Körper. Eine Grenze zwischen zwei benachbarten Korpuskeln desselben Körpers ist zwar „neutral“ in Bezug auf die beiden Korpuskeln (in dem Sinne, dass sie keiner von beiden als Teil angehört), sie ist aber andererseits durchaus ein Teil des Körpers als Ganzem. Insgesamt kann also festgestellt werden, dass das Problem der Zugehörigkeit der Grenze in der modifizierten Theorie im Fall zweier einander berührender Körper und im Fall zweier benachbarter Korpuskeln ein und desselben Körpers im Sinne von Option 3 gelöst wird, während es im Fall eines Körpers und seiner Umgebung im Sinne von Option 2 gelöst wird. Die modifizierte Theorie kann damit als ein „gemischter“ Lösungsansatz im Sinne der Schlussüberlegung des ersten Teils dieser Arbeit (Abschnitt 3.9) gelten. Wie geht die modifizierte Theorie mit den bekannten Problemen um? Um diese Frage zu beantworten, soll hier ganz ähnlich wie im Kapitel 1.3 vorgegangen werden, und zunächst untersucht werden, inwieweit die modifizierte Theorie den zu Beginn dieser Arbeit ermittelten Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen gerecht wird. Sodann werden die drei Situationen, in denen eine Grenze zwischen zwei Gegenständen vorkommen kann, noch einmal genauer betrachtet, bevor schließlich die Probleme der Spaltung und des Kontaktes untersucht werden.

4.6.1 Die modifizierte Theorie und die vier Grundintuitionen Der Intuition Abhängigkeit wird die modifizierte Theorie klarerweise gerecht, weil eine Grenze ja bereits als abhängig von dem Körper, dessen Grenze sie ist, definiert wurde: Ein Atom kann nur Grenzatom sein, wenn es auch einen Körper gibt, dessen Grenzatom es ist. Der Intuition Ende wird die modifizierte Theorie dann gerecht, wenn man zulässt, dass es extrinsische Enden gibt: Grenzen sind nach dieser Theorie stets extrinsische Enden: Sie bestehen aus den Atomen, die „gerade nicht mehr“ zum jeweiligen Körper gehören. Die Grenze eines Körpers ist jedoch nicht nur Ende dieses Körpers. Man kann die Grenze mit gleichem Recht auch als ein Ende der Umgebung des Körpers ansehen. Hierbei handelt es sich um ein intrinsisches Ende. Bei zwei einander berührenden Körpern ist die Grenze sowohl ein (extrin-

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sisches) Ende des einen als auch ein (extrinsisches) Ende (bzw. ein Anfang) des anderen Körpers.113 Der Intuition Trennung wird die modifizierte Theorie zumindest im Falle zweier einander berührender Körper gerecht, da dort, wo sich die beiden Körper berühren, die Grenze des einen Körpers identisch mit der Grenze des anderen Körpers ist, dabei jedoch weder dem einen noch dem anderen Körper als Teil angehört. Die Grenze ist also eine „neutrale“, die beiden Körper voneinander trennende Atomschicht. Ähnliches gilt für den Fall zweier benachbarter Korpuskeln ein und desselben Körpers. Für den Fall eines Körpers und seiner Umgebung bleibt es bei der in Abschnitt 3.6 herausgearbeiteten Ambivalenz in Bezug auf die Intuition Trennung, die allen Lösungsvorschlägen gemäß Option 2 eigen ist. Diese Ambivalenz betrifft auch die Intuition Verbindung. Im Fall eines Körpers und seiner Umgebung ist also nicht ganz klar, inwiefern die modifizierte Theorie der Intuition Verbindung gerecht wird. Im Fall zweier einander berührender Körper wird die modifizierte Theorie der Intuition Verbindung nur insofern gerecht, als die Grenze zwischen zwei Körpern diese indirekt miteinander verbindet, denn die Körper stehen nicht in einer direkten Verbindung miteinander. Zwei verschiedene Körper können nach dieser Theorie aber andererseits auch überhaupt nicht in einer direkten Verbindung miteinander stehen, da sämtliche Körper offen sind. Die einzig mögliche Art der Verbindung ist also eine indirekte; und die engste Form der indirekten Verbindung ist diejenige, bei der nur noch ein ausdehnungsloser, neutraler Punkt zwischen den beiden Körpern steht. Genau diese Art von Verbindung stellt die Grenze gemäß der neuen Definition her. Gleiches gilt im Fall zweier einander berührender Korpuskeln ein und desselben Körpers.

4.6.2 Die modifizierte Theorie und die drei Situationen In Abschnitt 3.7 wurde festgestellt, dass Option 3 als Beschreibung der Situation zweier einander berührender ausgedehnter Gegenstände (Situation (a)) nur dann vertretbar ist, wenn man indirekten Kontakt als hinreichend für das Auftreten einer wechselseitigen Berührung zweier Gegenstände ansieht. Dies gilt

|| 113 Insofern passt die hier vorgeschlagene modifizierte Definition der Grenze eines Körpers recht gut als Antwort auf die Frage, die Bolzano zu Beginn von § 66 der PdU die „Frage über die Grenzen der Körper“ nennt: „wo eigentlich ein Körper aufhöre und ein anderer anfange?“ (PdU § 66, S. 160).

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unverändert auch für die modifizierte Bolzanosche Theorie. Wer indirekten Kontakt hier nicht für ausreichend hält, für den kann Situation (a) in dieser Theorie nicht angemessen beschrieben werden, denn eigentlicher, d. h. direkter Kontakt kann gemäß dieser Theorie zwischen zwei Körpern überhaupt nicht auftreten: Auch wenn sich zwei Körper maximal nahe sind, gibt es immer noch eine neutrale Grenze zwischen ihnen. Nicht vertretbar ist die modifizierte Bolzanosche Theorie natürlich auch für diejenigen, die die Existenz offener Gegenstände grundsätzlich ablehnen. Bezüglich der Situation eines Gegenstandes und seiner Umgebung (Situation (b)) wurde in Abschnitt 3.6 ein Problem beschrieben, das immer dann auftritt, wenn nicht eindeutig festzustellen ist, was Gegenstand und was Umgebung ist. Es ist in diesen Fällen unklar, wozu die Grenze als Teil gehört. Dieses Problem betrifft die modifizierte Bolzanosche Theorie nicht, da die Umgebung eines Körpers niemals selbst ein Körper sein kann, genauso wie auch ein Körper niemals die Umgebung eines anderen Körpers sein kann. Was Körper und was Umgebung ist, liegt daher stets von vornherein fest. Hier ist die modifizierte Bolzanosche Theorie also „besser“ als eine allgemeiner formulierte Theorie nach Option 2. Die Beschreibung von Situation (b) durch die modifizierte Theorie ist in einer anderen Hinsicht jedoch kontraintuitiv. Normalerweise wird intuitiv der Gegenstand vor seiner Umgebung bevorzugt, und man neigt deshalb dazu, die Grenze dem Gegenstand zuzuschlagen und nicht der Umgebung. Dies ist hier genau umgekehrt: Die Grenze gehört zur Umgebung. Es bleibt noch, Situation (c) zu betrachten: eine Grenze zwischen zwei benachbarten Teilen eines Gegenstandes. Diese Situation wird in der modifizierten Bolzanoschen Theorie nur in Bezug auf den Fall zweier benachbarter Korpuskeln ein und desselben Körpers berücksichtigt. Dies ist einerseits eine Einschränkung, andererseits bewahrt diese Einschränkung die modifizierte Theorie vor einem Problem, das den allgemeinen Ansatz gemäß Option 3 betrifft. In Abschnitt 3.7 wurde beschrieben, dass es, wenn sämtliche ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes zu ihren jeweils benachbarten Teilen Grenzen gemäß der zweiten Variante von Option 3 haben, keine Klasse von ausgedehnten, dicken Teilen gibt, die den Gegenstand gemeinsam vollständig ausschöpfen. Dies widerspricht aber der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände. Ein Vertreter der modifizierten Bolzanoschen Theorie könnte hierauf antworten, dass Grenzen gemäß Option 3 ausschließlich zwischen benachbarten Korpuskeln des Körpers auftreten können. Wird der Körper aber nicht entlang der Korpuskelgrenzen, sondern auf eine andere Art in ausgedehnte Teile zerlegt, dann sagt die modifizierte Theorie nichts darüber,

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wie diese Teile aneinander grenzen. Eine Lösung, die die Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände respektiert, ist also hier immer noch möglich.

4.6.3 Die modifizierte Theorie und das Problem der Spaltung Die einzigen inneren Grenzen, die in der modifizierten Theorie vorkommen, und an denen ein Körper möglicherweise gespalten werden könnte, sind die gemeinsamen Grenzen von einander benachbarten Korpuskeln desselben Körpers. Die Spaltung eines Körpers an einer solchen gemeinsamen Korpuskelgrenze lässt sich am einfachsten so denken, dass die beiden Korpuskeln auseinander treten, wobei sie jeweils die ihnen zugehörigen Atome im Wesentlichen (d. h. bis auf die unabhängig von der Spaltung ständig ablaufenden Verluste und Zugewinne durch Änderung der Kräfte) behalten. Interessant ist nun die Frage, was mit den Atomen, aus denen vor der Spaltung die gemeinsame Korpuskelgrenze bestanden hat, geschieht. Diese Atome haben zwar keiner der beiden Korpuskeln als Teil angehört, waren aber dennoch ein Teil des Körpers als Ganzem. Wenn die beiden Korpuskeln aber in ihrer atomaren Zusammensetzung gleich bleiben sollen, dann müssen die Atome der gemeinsamen Grenze nach der Spaltung „übrigbleiben“ in dem Sinne, dass diese Atome, die zwar vor der Spaltung dem Körper als Teil angehört haben, nach der Spaltung weder dem einen noch dem anderen Spaltprodukt als Teil angehören können. Liegt hier also das in Abschnitt 3.7 beschriebene Problem vor, dass eine Spaltung stets mehr als zwei Spaltprodukte zurücklässt? Ein Vertreter der modifizierten Theorie könnte darauf Folgendes antworten: Selbst wenn man zugestehen muss, dass der Körper durch die Spaltung Atome verliert, dass es also Atome gibt, die vor der Spaltung dem Körper angehört haben, die den späteren Spaltprodukten jedoch nicht mehr angehören, ist dies kein gravierendes Problem. Denn erstens ändert die Abgabe einer dünnen Atomschicht nicht die (quantitative) Ausdehnung eines Körpers, da die (quantitative) Ausdehnung eines Bolzanoschen Kontinuums nicht vom Verlust oder Zugewinn einer Punktmenge vom Maß Null beeinflusst wird,114 und zweitens findet bereits unabhängig von der Spaltung ständig eine rege Aufnahme und Abgabe von Atomen statt. Die durch die Spaltung abgegebenen Atome der ehemaligen inneren Grenze können auch gar keinen eigenständigen, „dünnen“ Körper bilden, denn es können sich ja keine

|| 114 Dass die (quantitative) Ausdehnung eines ausgedehnten Dinges sich durch die Hinzunahme oder Wegnahme seiner Grenze nicht ändert stellt Bolzano in PdU § 40 (S. 117) fest. Dies gilt auch für die modifizierte Bolzanosche Theorie.

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Herrscheratome darunter befinden. Vielmehr sind sie dem Wechselspiel der Kräfte der sie umgebenden Herrscheratome ausgeliefert. So könnte jedes einzelne dieser Atome schließlich entweder doch noch in eines der beiden Spaltprodukte, in den reinen Äther, oder aber in einen dritten Körper, der sich zwischen die beiden Spaltprodukte gedrängt hat (wie beispielsweise ein Messer, das einen Laib Brot zerteilt, sowie die dem Messer nachströmende Luft) integriert werden. Das Problem eines „dünnen Gegenstandes“, der abgelöst von jedem „dicken“, ausgedehnten Gegenstand weiterexistiert, kann gar nicht erst auftreten, denn ein solcher Gegenstand würde sich bereits im Moment seines Entstehens wieder auflösen. Hieran wird auch noch ein weiterer Aspekt der modifizierten Theorie deutlich (der auch bereits in der ursprünglichen Theorie angelegt war): Grenzen sind immer nur momentan festgelegt. Sobald sich Kräfte, Abstände, etc. ändern, gibt es auch andere Grenzen, die aus anderen Atomen bestehen. So ist das „Verschwinden“ einer (gemeinsamen) Grenze und das „Auftauchen“ zweier neuer Grenzen unproblematisch und ohne Entstehen und Vergehen von Atomen erklärbar. Einige Atome der vormaligen Grenze werden zu neuen Grenzatomen, andere zu Korpuskelatomen, wieder andere zu Atomen des reinen Äthers. Die Spaltung eines Körpers an einer gemeinsamen Korpuskelgrenze ist also aufgrund der hohen Variabilität der Grenzen leicht erklärbar. Die einschlägigen Probleme des allgemeinen Ansatzes gemäß Option 3 treten hier nicht auf. Sind auch Spaltungen an anderen Stellen des Körpers möglich? Hierzu sagt die modifizierte Theorie zunächst nichts. Plausibel ist es jedoch, anzunehmen, dass Spaltungen letztlich nur an gemeinsamen Korpuskelgrenzen möglich sind. Eine Spaltung an anderen Stellen des Körpers wäre somit erst dann möglich, wenn sich die Kräfte und Abstände der beteiligten Herrscheratome so geändert haben, dass sich eine Korpuskelgrenze an dieser Stelle befindet.115

|| 115 Diese Einschränkung der Spaltbarkeit eines Körpers passt übrigens gut zu dem heute geläufigen Bild eines physikalischen Festkörpers als Verband von (modernen, physikalischen) Atomen. Die modernen physikalischen Atome werden in der modifizierten Bolzanoschen Theorie durch die Korpuskeln repräsentiert. Ein Festkörper kann mit geringem Aufwand so zerteilt werden, dass man seine physikalischen Atome voneinander löst. Eine Zerteilung der physikalischen Atome selbst ist dagegen mit enormem Aufwand verbunden und unter gewöhnlichen Umständen nicht möglich.

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4.6.4 Die modifizierte Theorie und das Problem des Kontaktes Gemäß der modifizierten Theorie besitzt kein Körper seine Außengrenze als Teil, alle Körper sind „offen“. Da für einen Kontakt gemäß Option 3 beide der beteiligten Gegenstände offen sein müssen, ist Kontakt somit zwischen beliebigen Körpern möglich, ohne dass sich dazu erst die Oberflächenstruktur der beteiligten Körper ändern müsste. Die gemeinsame Grenze zwischen zwei miteinander in Kontakt stehenden Körpern ist eine „dünne“ (d. h. zweidimensionale) Schicht aus Atomen, die weder dem einen noch dem anderen Körper als Teil angehören. In Abschnitt 3.7 wurde angemerkt, dass es unklar sei, woher dieser dünne, neutrale Gegenstand, der die gemeinsame Grenze zwischen den beiden Körpern bildet, im Augenblick des Kontaktes herkommen sollte. Die Herkunft der neutralen Grenzatome kann in der modifizierten Bolzanoschen Theorie jedoch ganz einfach dadurch erklärt werden, dass alle Körper sowieso in reinem Äther „schwimmen“. Dieser wird bei Annäherung zweier Körper entsprechend verdrängt und zusammengedrückt, bis nur noch die dünne Schicht von Grenzatomen übrig bleibt. Sieht man von dem bereits erwähnten Umstand ab, dass der schließlich erreichte Zustand des Kontaktes lediglich ein indirekter, weil durch eine neutrale Grenze vermittelter Kontakt ist, dann betrifft keine der in Abschnitt 3.7 erwähnten Schwierigkeiten bezüglich des Problems des Kontaktes die modifizierte Bolzanosche Theorie.

4.6.5 Zusammenfassung Als „gemischter Ansatz“ kombiniert die modifizierte Theorie Option 3 und Option 2. Für Grenzen zwischen einander berührenden Körpern sowie für im Körperinneren liegende gemeinsame Grenzen von Korpuskeln ist eine Lösung des Problems der Zugehörigkeit gemäß der zweiten Variante von Option 3 vorgesehen. Für die Außengrenzen von Körpern wird eine Lösung gemäß Option 2 vorgeschlagen. Die modifizierte Theorie kann mit den aus Kapitel 3 bekannten Schwierigkeiten vergleichsweise gut umgehen. Es bleiben jedoch drei kontraintuitive Konsequenzen bestehen: Die reale Existenz offener Körper, der nur als indirekter Kontakt mögliche Kontakt zwischen Körpern bzw. Korpuskeln, und die Tatsache, dass die Außengrenze eines Körpers zu seiner Umgebung Teil der Umgebung des Körpers ist und nicht, wie man intuitiv vermuten könnte, Teil des Körpers. Die übrigen mit Ansätzen gemäß den Optionen 3 und 2 im Allgemeinen verbundenen Schwierigkeiten können zum einen aufgrund des hier vorliegen-

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den gemischten Ansatzes umgangen werden, zum anderen führt die Einbettung in die spezielle, Bolzanosche Naturphilosophie dazu, dass sich gewisse Schwierigkeiten weit weniger auswirken bzw. erst überhaupt nicht auftreten. Beispielsweise führen die Existenz des Äthers und die hohe Variabilität der Grenze dazu, dass die Probleme der Spaltung und des Kontaktes entschärft werden können. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die modifizierte Bolzanosche Theorie keine allgemeine Theorie der Grenze ist, sondern erstens auf physikalische Körper beschränkt bleibt und zweitens auf speziellen naturphilosophischen Voraussetzungen fußt, die nicht ohne weiteres an heutige Auffassungen über die materielle Welt anschlussfähig sind.

5 Francisco Suárez über Punkte, Linien und Oberflächen Neben der Bernard Bolzano zugeschriebenen Sichtweise auf die Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände, nach der es sowohl offene als auch abgeschlossene Gegenstände gibt und Grenzen stets nur einem von zwei einander berührenden Gegenständen als Teil angehören, wird in der modernen Debatte auch noch auf eine andere Sichtweise und deren Vertreter in der Philosophiegeschichte verwiesen, nach der jeder ausgedehnte Gegenstand abgeschlossen ist, d. h. seine Grenze als Teil enthält, und nach der die Grenzen einander berührender Gegenstände koinzidieren. Es handelt sich hierbei um einen Ansatz im Sinne der hier vorgestellten Option 4. Als Hauptvertreter werden Franz Brentano und Francisco Suárez genannt, wobei Brentanos Ansichten stark von Suárez beeinflusst sind.1 In die moderne Debatte eingebracht wurde diese Sichtweise durch Roderick Chisholm2, der sich um eine Formulierung der Grundidee dieses Ansatzes im Anschluss an die moderne Mereologie und Topologie verdient gemacht hat. Es bietet sich aus mehreren Gründen an, hier auf die von Suárez vorgeschlagene Theorie genauer einzugehen. Zum einen ist diese direkt oder indirekt die Quelle und das Vorbild sowohl der Ideen Brentanos als auch der in der heutigen Debatte vorkommenden Ansichten nach Art von Option 4. Zum anderen wurde die Detailfülle und systematische Vollständigkeit, mit der Suárez diese Ansicht in der Disputatio XL seiner Disputationes metaphysicae ausfaltet und gegen konkurrierende Ansichten verteidigt, bis heute wohl nicht wieder erreicht.3 Suárez fasst in diesem Text den Diskussionsstand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Debatte zu diesem Thema zusammen und geht auf eine Vielzahl von Argumenten für und wider die verschiedenen Sichtweisen ein. Seine eigene Theorie wird als bedeutender Fortschritt in der Debatte angesehen und enthält eine Vielzahl neuer und kreativer Ideen.4 Für Suárez steht zudem || 1 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1, und Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 158. 2 Chisholm 1983 und Chisholm 1992/93. Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1. 3 Vgl. Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 24: „Suarez’s exploration of the metaphysics of extension and contact is perhaps the most thorough and subtle that has ever been carried out.“ 4 Vgl. Mahieu 1921, S. 310.

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ein explizit ontologisches Erkenntnisinteresse im Vordergrund, was seine Überlegungen im Kontext der hier gewählten Fragestellung besonders interessant macht. Die Tatsache, dass der Text noch kaum übersetzt wurde,5 hat es bisher erschwert, ihn in größerem Stil für die systematische Debatte fruchtbar zu machen.6 Da eine Sichtweise nach Art von Option 4, wie im ersten Teil ausführlich gezeigt wurde, mit diversen Schwierigkeiten verbunden ist, ist es für die systematische Debatte von großem Interesse, herauszufinden, wie Suárez mit diesen Schwierigkeiten umgegangen ist. Insbesondere in Anbetracht der Vollständigkeit und Detailfülle seiner Überlegungen besteht die Hoffnung, hier auf fruchtbare Hinweise zu stoßen. Im Folgenden soll zunächst auf die metaphysischen Hintergründe der von Suárez vorgestellten Theorie näher eingegangen werden. Insbesondere sind dabei die Begriffe der Quantität und des Quantums erläuterungsbedürftig. Wie sich herausstellen wird, lassen sich hier ausreichend Parallelen zu der in der vorliegenden Arbeit vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände feststellen, so dass der Text von Suárez auch tatsächlich als Antwort auf die in dieser Arbeit interessierende Fragestellung gelesen werden kann. Den Hauptteil dieses Abschnittes umfasst eine Darstellung der Sectio 5 der Disputatio XL, in der Suárez zunächst fünf verschiedene philosophische Ansichten zur Existenz von Punkten, Linien, Oberflächen in den Körpern vorstellt, wovon er eine als „die aristotelische“ kennzeichnet, weiter erläutert und gegenüber den übrigen vier Ansichten verteidigt. Die sich daraus ergebende Theorie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände wird anschließend in den im ersten Teil dieser Arbeit entwickelten systematischen Rahmen eingeordnet. Sodann wird genauer betrachtet, wie Suárez mit diversen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Problemen der Spaltung und des Kontaktes umgeht. Den Abschluss bildet eine

|| 5 Es liegt eine spanische Übersetzung der gesamten Disputationes metaphysicae (und somit auch der Disputatio XL) von Sergio Rabade Romeo, Salvador Caballero Sánchez und Antonio Piucerver Zanón (Madrid, 1960-1966) vor, sowie eine englische Übersetzung der Sectio 2 der Disputatio XL von Robert Pasnau, veröffentlicht unter: http://spot.colorado.edu/~pasnau/research/suarez%20dm40-2.pdf (abgerufen am 24.02.2015). 6 Ausführlich rezipiert wurde der Originaltext in jüngerer Zeit bisher nur von Dean Zimmerman, das jedoch gezielt im Hinblick auf die Fragestellung, ob ausgedehnte Gegenstände ausschließlich aus einfachen Teilen bestehen können (vgl. Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts? und Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects). Zimmerman lagen dabei nur der lateinische Originaltext und offenbar eine Arbeitsübersetzung von Teilen des Textes durch Alfred J. Freddoso vor (vgl. Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 168, Danksagung).

Der Begriff der Quantität in der scholastischen Tradition und bei Suárez | 147

Zusammenfassung und Kritik der Suárezianischen Theorie der Grenze, insbesondere auch im Lichte der Ergebnisse des ersten Teils der vorliegenden Arbeit.

5.1 Der Begriff der Quantität in der scholastischen Tradition und bei Suárez In der aristotelisch-scholastischen Philosophietradition werden ausgedehnte Gegenstände im Zusammenhang mit der aristotelischen Kategorie der Quantität behandelt. Seit Aristoteles ist dabei die Einteilung in kontinuierliche und diskrete Quantität geläufig.7 Mit der im hier gegebenen Zusammenhang einzig relevanten quantitas continua befasst sich Suárez in der Disputatio XL seiner Disputationes metaphysicae. Bevor nun genauer darauf eingegangen wird, wie Suárez den Begriff der „(kontinuierlichen) Quantität“ versteht, soll hier zunächst die Bedeutung, die dem Begriff allgemein in der scholastischen Tradition zukommt, näher erläutert werden. Die Darstellung folgt dabei den entsprechenden Ausführungen Anneliese Maiers in ihren Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik. Die Bedeutung, die der Ausdruck „quantitas“ bzw. „quantitas continua“ in der scholastischen Tradition hat, weicht deutlich ab von dem, was im modernen Sinne unter „Quantität“ verstanden wird. Diesen Bedeutungsunterschied stellt Maier sehr deutlich heraus: [W]ir [müssen] uns zunächst fragen, was die traditionelle scholastische Philosophie unter dem Begriff quantitas versteht, oder genauer – denn darum allein geht es in den einschlägigen Problemen – unter der quantitas continua et permanens. Für sie meint der Terminus nicht die eigentliche Quantität im modernen Sinn, d. h. nicht die in abstracto betrachtete messbare oder gemessene Größe, und auch nicht die mathematische Struktur als kategoriales Moment, sondern die Raumerfüllung der materiellen Substanz mit allem, was dieser Begriff in sich schliesst: nämlich einerseits die räumliche Ausdehnung mit ihren Folgemomenten – das habere partes extra partes und die sich daraus ergebende Teilbarkeit – und andererseits jene gegenständliche Besonderheit, die später das 17. Jahrhundert als soliditas bezeichnete und für die in der Scholastik zunächst noch ein allgemein rezipierter terminus technicus fehlte: d.h. die dynamische Raumerfüllung, die die gegenseitige Undurchdringlichkeit der Körper bedingt. Das eigentliche quantitative Moment tritt daneben fast in den Hintergrund und wird von manchen Denkern sogar ausdrücklich aus dem Begriff der quantitas ausgeschlossen. So ist es etwa eine geläufige Auffassung, dass bei dem

|| 7 Die genannte Einteilung der Kategorie der Quantität nimmt Aristoteles in Kap. 6 der Kategorienschrift vor (Aristoteles: Kategorien, 4b20-6a35). Ein weiterer Beleg dafür ist in der Metaphysik Buch V, Kap. 13 (Aristoteles: Metaphysik, 1020a6-1020a32) zu finden. Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 1.

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Vorgang der Verdichtung oder Verdünnung, wenn also eine körperliche Substanz ihr Volumen vergrößert oder verkleinert, ohne dass Materie hinzukommt oder verloren geht, sich nicht die quantitas der betreffenden Substanz ändert, sondern ihre extensio, die ein Modus oder eine Eigenschaft der ‚Quantität‘ ist. Maier 1955, S. 141f.

Mit „quantitas continua“ ist also nicht eine kontinuierliche, messbare Größe oder die Struktur des mathematischen Kontinuums gemeint. Der Begriff wird vielmehr auf materielle Substanzen bezogen und bezeichnet all das, was mit deren Teilbarkeit in räumlich voneinander unterschiedene Teile sowie mit deren Undurchdringlichkeit für andere materielle Substanzen zusammenhängt. Die räumliche Ausdehnung im Sinne eines bestimmten dreidimensionalen Volumens, also der im modernen Sinne „quantitative“ Aspekt der materiellen Substanz, wird dagegen mit „extensio“ bezeichnet und ist der quantitas continua nachgeordnet. Über die quantitas im Allgemeinen schreibt Maier: 8 Die ‚Quantität‘ ist […] nach der traditionellen Auffassung der Scholastik ein formartiges kategoriales Moment, ein dem Subjekt inhärierendes Akzidens, das ihm eine qualitätsartige Bestimmtheit verleiht. Maier 1955, S. 143.

„Subjekt“ wird hier verstanden als das „Darunterliegende“, also dasjenige, dem eine Bestimmung zukommt. Quantität kommt also einem quantitativen Ding als dessen Akzidens zu. Sie ist der Grund dafür, dass das Ding teilbar ist. Insofern ist sie „formartig“. Speziell bezogen auf die quantitas continua erklärt Maier darüber hinaus, dass diese ein „zweischichtiger Begriff“ sei, der einerseits die Quantitätskategorie in ihrer Anwendung auf die räumliche Ausdehnung [bedeutet], andererseits aber zugleich diese räumliche Ausdehnung selbst (und zwar in einem sehr komplexen Sinn).9 Maier 1955, S. 143f.

Diese „Zweischichtigkeit“ des Begriffs wirkt sich in einer eigenartigen Vermengung von allgemeiner und konkreter Bedeutung aus. „Quantitas continua“ kann einmal allgemein so etwas wie „kontinuierliche Raumerfüllung“ bedeuten, während ein anderes Mal die konkrete Raumerfüllung z. B. eines bestimmten materiellen Dinges gemeint ist. || 8 Vgl. dazu auch Secada 2012, S. 80. 9 Maier 1955, S. 143f.

Der Begriff der Quantität in der scholastischen Tradition und bei Suárez | 149

Bezogen auf die zweite dieser Bedeutungen stellt Maier zunächst fest, dass die quantitas continua „die räumliche Ausdehnung, das longum, latum et profundum der körperlichen Substanzen“ sei. Zugleich sei sie aber auch „die Raumerfüllung im physikalischen Sinn“, d. h. sie stelle „das Moment dar, das die Undurchdringlichkeit der materiellen Substanzen ausmacht.“ 10 Verschiedene kontinuierliche Quantitäten können sich prinzipiell nicht durchdringen, sie können sich nicht am selben Ort befinden. Räumliche Ausdehnung und Undurchdringlichkeit stehen für die scholastischen Denker in einem festen, „apriorischen Zusammenhang“11: Die Scholastiker haben […] die Formel [von Averroes übernommen], dass die Undurchdringlichkeit der Körper aus dem Wesen und aus der Natur der Körperlichkeit folgt, aus der räumlichen Dimensionalität, und nicht aus den qualitativen Akzidentien, die wenn auch nicht tatsächlich, so doch begrifflich wohl zu trennen sind von der Körperlichkeit als solcher. Maier 1955, S. 147.

Maier bezieht sich in ihren Studien hauptsächlich auf den Diskussionsstand des 13. und 14. Jahrhunderts. Die gerade zitierten Bemerkungen zur Bedeutung des Ausdrucks „quantitas continua“ haben jedoch im Wesentlichen auch noch für Suárez Gültigkeit und bilden den von ihm aus der aristotelisch-scholastischen Tradition übernommenen begrifflichen Rahmen.12 Aus der aristotelischscholastischen Tradition übernimmt Suárez auch die Annahme, dass es drei verschiedene Arten der kontinuierlichen Quantität gebe: Linien, Oberflächen und Körper.13 Der Punkt sei demnach keine kontinuierliche Quantität. Er sei jedoch das „erste Prinzip“ der Linie, der Oberfläche und des Körpers.14 In den Sectiones 2, 3 und 4 der Disputatio XL bespricht Suárez einige Eigenschaften der quantitas molis, also der Quantität, die an den massiven, dreidimensionalen Körpern zu beobachten ist und die auch „quantitativer Körper“ || 10 Maier 1955, S. 145f. 11 Maier 1955, S. 146. 12 Vgl. Dazu auch Secada 2012, S. 80: „Although separated from each other by millennia and by substantive cultural differences, Suárez and Aristotle shared a similar, pre-Cartesian approach to the examination of the structure of space, time and matter. Indeed on these issues Suárez stood at the end of the road on which Aristotle started and on the threshold of that inaugurated by Descartes. Though clearly Scholastic, the discussion of quantity in the Metaphysical Disputations did not diverge significantly from Aristotle’s own treatment as to the fundamental conceptual resources employed.“ 13 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 14 sowie Aristoteles Metaphysik, Buch V, Kap. 13 (1020a13f). 14 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 1.

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genannt werde.15 Suárez argumentiert dafür, dass die quantitas molis nicht mit der jeweiligen materiellen Substanz identisch ist. Die materielle Substanz und ihre Quantität seien real voneinander verschieden. Er begründet dies hauptsächlich mit theologischen Prinzipien und insbesondere mit dem Mysterium der Eucharistie: Dabei trenne Gott die Quantität von den Substanzen von Brot und Wein ab und erhalte sie im Dasein während er die Substanzen von Brot und Wein in seinen Leib und sein Blut wandle. Dies sei nur dann möglich, wenn Quantität und Substanz real voneinander verschieden sind.16 Wie verhält sich die quantitas molis zur Ausdehnung? Suárez unterscheidet drei Arten von Ausdehnung: Zum einen die entitative Ausdehnung („extensio entitativa“), die darin besteht, dass ein Ding mehrere, voneinander real verschiedene Teile hat. Die zweite Art der Ausdehnung ist die aktuale lokale (bzw. situale) Ausdehnung („extensio localis seu situalis in actu“), die darin besteht, dass ein mit dieser Ausdehnung ausgestatteter Körper einen Ort einnimmt, den zugleich kein anderer, ähnlicher Körper einnehmen kann. Die dritte Art der Ausdehnung ist schließlich die quantitative Ausdehnung („extensio quantitativa“), die Suárez auch „extensio situalis aptitudine“ nennt, was man mit „die Fähigkeit, situal ausgedehnt zu sein“17 übersetzen könnte.18 Dass etwas entitative Ausdehnung hat, hat nach Suárez nichts damit zu tun, ob dem entsprechenden Gegenstand auch Quantität zukommt oder nicht. Die entitative Ausdehnung sei keine von der Quantität hervorgebrachte Wirkung. Dass die Teile einer Substanz voneinander real verschieden sind, sei bereits eine Folge der verschiedenen Seinscharaktere der Substanz und ihrer Teile.19 Die aktuale lokale Ausdehnung und die quantitative Ausdehnung eines Gegenstandes haben dagegen sehr wohl damit zu tun, ob dem Gegenstand Quantität zukommt. Die aktuale lokale Ausdehnung sei „später“ als die Quantität, und zwar in dem Sinne, dass sie die „formale Wirkung“ („effectus formalis“) der Quantität sei. Die quantitative Ausdehnung sei dagegen der „formale Grund“ („ratio formalis“) bzw. das Wesen der Quantität.20

|| 15 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 2, n. 1. 16 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 2, n. 8. Vgl. auch Specht 1997, S. 30f und Mahieu 1921, S. 306f, sowie zu den Hintergründen dieser Lehre Maier 1955, S. 153ff, sowie S. 176–223. 17 Vgl. Specht 1997, S. 30. Rainer Specht liest hier „extensio localis in aptitudine“ und übersetzt dies mit „capacité d’être étendue localement“. Mahieu schreibt von der „extension en puissance, ‚en aptitude‘“. 18 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 4, n. 15 sowie Specht 1997, S. 29f. 19 Vgl. Mahieu 1921, S. 307f. 20 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 4, n. 15 sowie Specht 1997, S. 29f und Mahieu 1921, S. 308.

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Suárez bestimmt also das Wesen der (kontinuierlichen, dreidimensionalen) Quantität unter Bezugnahme auf eine Art Disposition bzw. Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit eines Körpers, für andere Körper undurchdringlich zu sein. Das Wesen der Quantität sei es, diejenige Form zu sein, die den Dingen „körperliche Masse“21 („corporea moles“) bzw. körperliche Ausdehnung verleiht. Was es aber für einen Körper heißt, „körperliche Masse“ zu haben, könne man nur erklären unter Bezugnahme auf die Fähigkeit, für andere Körper undurchdringlich zu sein. Diese Fähigkeit sei somit die eigentliche Bedeutung der Quantität.22 Ein Ding, dessen Form die Quantität ist, hat also nach Suárez die Fähigkeit, lokal ausgedehnt zu sein. Im gewöhnlichen Naturzusammenhang sei ein solches Ding dann auch tatsächlich aktual lokal ausgedehnt. Es sei allerdings durch die absolute Macht Gottes unter Umständen auch möglich, dass etwas zwar mit Quantität ausgestattet ist, aber nicht aktual lokal ausgedehnt ist, sondern bloß die Hinneigung bzw. Fähigkeit zur lokalen Ausdehnung hat.23

5.2 Die aristotelische Definition des Quantums und ihre Deutung durch Suárez Es sollen nun die von Suárez bereits in Sectio 1 der Disputatio XL angegebene Definition der quantitas im Allgemeinen und der quantitas continua im Besonderen sowie die von ihm dazu gegebenen Erklärungen genauer betrachtet werden.24 Suárez zitiert dort zunächst die aristotelische Definition des Quantums aus der Metaphysik25 und macht sich diese in der Folge dann auch zu eigen: Ex sententia igitur Aristotelis dicendum est, quantum esse quod est divisibile in ea quae insunt, quorum utrumque vel unumquoque, unum quid et hoc aliquid aptum est esse;

|| 21 Gemeint ist hier die Eigenschaft von Körpern, kontinuierlich und dreidimensional ausgedehnt zu sein. (Vgl. engl.: „bulk“.) 22 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 4, n. 16. 23 Vgl. Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 4, n. 16. Suárez verweist in diesem Zusammenhang auf das Mysterium der Eucharistie. 24 Vgl. dazu auch Mahieu 1921, S. 305ff. 25 Aristoteles: Metaphysik, Buch V, Kapitel 13, 1020a7-8. „Quantitatives nennt man dasjenige, was in immanente zwei oder mehrere Teile teilbar ist, deren jeder seiner Natur nach etwas Eines und Bestimmtes ist.“ (Übersetzung Seidl/Bonitz).

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Ausgehend von der Ansicht des Aristoteles muss also gesagt werden, dass das Quantum das ist, was teilbar ist in diejenigen, die darinnen sind, und von denen beide oder jedes einzelne „etwas Eines und dieses Etwas“ zu sein fähig ist;26 Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 2.

Dass hier, um den (abstrakten) Begriff der Quantität im allgemeinen zu klären, das konkrete Quantum, also das mit Quantität ausgestattete, konkrete Ding definiert wird, erklärt Suárez damit, dass uns das Konkrete besser bekannt sei als das Abstrakte und dass wir aus der Definition des konkreten Quantums ablesen könnten, was ein Quantum zu einem Quantum mache, und dass uns dies bereits die Bedeutung und das Wesen der Quantität zeige.27 Ein konkretes Quantum könne man als eine aus Form und Materie zusammengesetzte Substanz betrachten. Die Form des Quantums, die dafür verantwortlich ist, dass das Quantum ein ausgedehntes und teilbares Ding ist, sei nun selbst wiederum ausgedehnt und teilbar. Man könne daher die Quantität sowohl auf abstrakte als auch auf konkrete Weise beschreiben: Indem man sie einerseits als abstrakte Form eines Quantums ansieht, und indem man andererseits darauf hinweist, dass diese Form selbst wiederum ein Quantum ist. In der zuletzt genannten Hinsicht werde die Quantität selbst ebenfalls „Quantum“ genannt.28 Suárez erklärt im Anschluss die einzelnen Teile der aristotelischen Definition des Quantums genauer. Zunächst bezieht er sich darauf, dass ein Quantum „teilbar ist in diejenigen die darinnen sind“. Suárez interpretiert dies so, dass „diejenigen, die darinnen sind“ in dem Quantum der Form nach und in Wirklichkeit („formaliter et realiter“) enthalten sein müssen. Dadurch werde das Quantum von der Mischung unterschieden, in der die Elemente nur ihrer Wirkkraft nach („virtute“) enthalten sind. Beim Auflösen einer Mischung gehen zwar die Elemente daraus hervor, aber diese waren nicht vorher schon formaliter et realiter in der Mischung enthalten. In einem Quantum seien im Gegensatz dazu tatsächlich Teile enthalten, in die das Quantum geteilt werden könne. Es stimme zwar, dass die Teile eines Quantums nicht bereits vor der Teilung jeweils „etwas Eines und dieses Etwas“ seien, allerdings werden sie durch die Teilung zu je|| 26 Hervorhebung im Original. Übersetzung: L.K. (Letzteres gilt auch für alle im Folgenden in deutscher Übersetzung angegeben Zitate aus den Disputationes Metaphysicae.) 27 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 5. 28 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 6. Im Hinblick auf die Zwecke der vorliegenden Arbeit ist es vorteilhaft, dass Suárez sein Augenmerk auf das konkrete Quantum, d. h. den quantitativen Gegenstand, und im speziellen dann auch das konkrete kontinuierliche Quantum, d. h. den (kontinuierlich) ausgedehnten Gegenstand, legt, da es auch in der vorliegenden Arbeit weniger um abstrakte Quantität im Allgemeinen geht, sondern vielmehr um konkrete ausgedehnte Gegenstände

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weils einem solchen. Als Teile29 seien sie bereits vor der Teilung wirklich und der Form nach im Quantum enthalten.30 Die in der Definition genannten Teile werden weiter qualifiziert dadurch, dass nach der Teilung jeder dieser Teile „etwas Eines und dieses Etwas“ ist. Suárez interpretiert dies so, dass die Teile nach der Teilung selbständige, bestimmte Einzelgegenstände sind, die jeweils vollkommen von den übrigen Produkten der Teilung getrennt sind. Damit seien diejenigen Komposita ausgeschlossen, die zwar in gewisser Weise in ihre Komponenten aufgelöst werden können, jedoch nicht so, dass nach der Teilung jede Komponente für sich als selbständiger Einzelgegenstand weiterexistieren kann, was er später im Zusammenhang mit der Vereinigung von Materie und Form in der Substanz und mit der Teilbarkeit akzidenteller materieller Formen weiter erläutert. Außerdem werde durch die genannte Qualifizierung gesagt, dass ausnahmslos jedes Quantum in dieser Weise teilbar sei. Es gebe daher auch kein minimales kontinuierliches Quantum: Konsequenterweise sei nämlich jedes der Teilungsprodukte eines kontinuierlichen Quantums selbst wiederum ein kontinuierliches Quantum und somit teilbar. Diese fortgesetzte Teilbarkeit könne nicht beendet werden, es sei denn, die Teilung führe zu Teilungsprodukten, die keine Quanta sind. Letzteres könne aber nur bei diskreten Quantitäten (d. h. bei endlichen Mengen von abzählbaren Einzeldingen) geschehen. Bei der kontinuierlichen Quantität kann dagegen der Teilungsprozess ohne Ende fortgesetzt werden, weil diese notwendigerweise aus zahllosen Vereinigungen von quantitativen Teilen bestehe.31 Im Weiteren geht Suárez auf einige Einwände und Gegenbeispiele gegen die aristotelische Definition ein, welche er bereits zu Beginn der Disputation kurz skizziert hat. Er beginnt mit dem Einwand, die Definition sei zu weit, es fielen also Gegenstände darunter, die nicht quantitativ bzw. irgendwie groß sind. Als Beispiel dafür wird zunächst die Substanz genannt: Materie und Form seien auf formale Weise in ihr, seien von der Substanz auch real verschieden und die Substanz sei aus ihnen zusammengesetzt. Die Definition des Quantums sei hier also erfüllt. Dennoch sei die Substanz kein Quantum und Materie und Form seien keine Teile der Substanz.32 Suárez antwortet darauf, dass die Substanz

|| 29 Suárez schreibt: „partes quanti […] esse in ipso quanto secundum suasmet entitates partiales“, d. h., die Teile des Quantums sind in diesem gemäß ihres „teilartigen Seinscharakters“ enthalten. (Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 7.) 30 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 7. 31 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 8. 32 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 3.

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nicht unter die aristotelische Definition falle, da nach der Teilung der Substanz in Materie und Form diese jeweils nicht etwas Eines sein könnten, denn zumindest die Form ginge sofort zugrunde. Beim Tod eines Menschen blieben zwar beide Teile separat erhalten, allerdings bliebe der materielle Teil (d. h. der Körper) nicht für sich allein als etwas Eines übrig, sondern sei dann Teil einer anderen Zusammensetzung.33 Keine Rolle spiele hier, dass Gott in der Lage sei, die beiden Teile getrennt voneinander zu erhalten. Aristoteles ginge es in seiner Definition nämlich nur um die Teilbarkeit, die ein Ding aus seiner Natur heraus hat.34 Als zweites angebliches Gegenbeispiel gegen die Definition wird die Zerteilung einer materiellen Substanz in ihre „integrierenden Teile“ genannt. Der Einwand lautet, dass es hier nicht richtig sei, zu sagen, dass die Substanz aufgrund der Quantität teilbar sei. Die Substanz wäre nämlich auch dann noch in ihre integrierenden Teile teilbar, wenn man sie sich ohne Quantität im Sein erhalten vorstellte. Auch eine Substanz ohne Quantität fiele unter die aristotelische Definition. Ähnliches gelte für akzidentelle materielle Formen wie beispielsweise die Weiße eines materiellen Dinges. Diese seien offenbar in zweierlei Weise teilbar: Zum einen gemäß der Ausdehnung (extensio), zum anderen gemäß der Steigerung (intensio). Die zweite Art der Teilbarkeit habe die akzidentelle Form aus sich heraus und nicht aus der Quantität. Es gebe also eine Art Teilbarkeit, die nicht mit Quantität zusammenhänge.35 Suárez antwortet auf diesen Einwand mit einer Differenzierung. Im eigentlichen Sinne könne eine materielle Substanz nicht in Teile geteilt werden. Die Definition des Quantums beziehe sich im engeren Sinne allein auf die Quantität selbst, im weiteren Sinne aber auf alle Dinge, denen Proportion zukommt. Im ersten Fall spricht Suárez von einem „quantum per se“, d. h. einem Quantum, das an sich und mit Bezug auf sich selbst teilbar ist. Zusätzlich dazu gebe es aber auch noch „quanta per accidens“, d. h. Quanta, die nur mit Bezug auf etwas anderes teilbar sind. Unter letztere subsumiert er materielle Substanzen, Qualitäten und andere materielle Akzidenzien. Diese seien alle mit Quantität verbunden und nur deshalb teilbar, weil die mit ihnen verbundene Quantität teilbar ist. Suárez geht darüber hinaus auch noch kurz auf den „übernatürlichen Fall“ ein, bei dem Gott die materielle Substanz ohne Quantität im Sein erhalte,

|| 33 Vermutlich ist damit gemeint, dass der ehemalige menschliche Körper, dessen Form zu Lebzeiten die menschliche Seele war, nach dem Tod des Menschen nicht ohne jede Form ist, sondern sogleich eine neue Form annimmt: die Form einer Leiche. 34 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 9. 35 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 3.

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und diese Substanz dabei dennoch teilbar sei.36 Dieser Fall sei allerdings irrelevant, da es Aristoteles nur um auf natürliche Weise (d. h. durch physische oder natürliche Handlungen) durchgeführte Teilungen ginge. Diese Art der Teilung setze stets Quantität voraus. Suárez nennt sie „quantitative Teilung im eigentlichen Sinne“.37 Als dritte Gruppe von angeblichen Gegenbeispielen gegen die aristotelische Definition werden „substanzielle und akzidentelle Modi“ vorgebracht. Diese seien ebenfalls teilbar, jedoch nicht quantitativ. Als Beispiele werden die Vereinigung der Seele mit dem Körper und die Anwesenheit eines Engels an einem Ort genannt. Werde ein Teil des Körpers entfernt, dann werde zugleich damit auch ein entsprechender Teil der Vereinigung entfernt, während die übrigen Teile der Vereinigung bestehen blieben. Auch von der „Anwesenheit“ (praesentia) eines Engels könne ein Teil weggenommen werden, während der übrige Teil der Anwesenheit zurückbliebe. Weil diese Modi sich auf Geistiges beziehen, seien sie nicht quantitativ.38 Suárez weist diese Beispiele zurück, indem er darauf hinweist, dass in diesen Fällen gar keine quantitative Teilbarkeit auftrete. Die Modi könnten zwar wachsen oder kleiner werden, jedoch nicht im eigentlichen Sinne, d. h. im Sinne der aristotelischen Definition geteilt werden. Eigentlich geteilt werden könnten Dinge dann, wenn nach der Teilung beide Produkte der Teilung getrennt voneinander bestehen blieben. Werde aber einer der beiden Teile beim Lösen ihrer gegenseitigen Verbindung zerstört, dann handele es sich nicht um eine Teilung. Suárez vergleicht das mit der „latitudo intensiva“ einer Qualität. Von einer steigerbaren und verminderbaren („intensiven“) Qualität könne man einen Grad wegnehmen, und in diesem weiten Sinne könne man sie „teilbar“ nennen. Es könnten aber nicht zwei Grade derselben Qualität auf natürliche Weise so voneinander getrennt werden, dass jeder von beiden in der Wirklichkeit und als Qualität erhalten bliebe. Die Weise der Teilbarkeit, die bei der Qualität aufgrund der Intension Anwendung findet, sei also sehr verschieden von der Weise der Teilbarkeit, die bei der Quantität aufgrund der Ausdehnung Anwendung findet. Ganz ähnlich sei es bei der Vereinigung der Seele mit dem Körper und bei der Anwesenheit eines Engels. Diese hätten zwar durchaus irgendeine Art von Ausdehnung oder Teilbarkeit, denn sie könnten vermindert werden, indem sie einen Teil verlieren, während der andere Teil bestehen bleibt. Im eigentlichen Sinne teilbar, so dass die beiden Produkte der

|| 36 Vermutlich bezieht er sich dabei auf ein Problem im Zusammenhang mit der Transsubstantiationslehre. 37 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 10. 38 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 3.

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Teilung getrennt voneinander bestehen blieben, seien sie jedoch nicht. Es könne nämlich weder eine Seele zugleich zwei nicht zueinander passende und völlig voneinander getrennte Vereinigungen beibehalten, noch ein Engel zwei in keiner Weise miteinander verbundene „Anwesenheiten“. Suárez fügt hinzu, dass die Teilbarkeit dieser Modi letztlich darauf beruht, dass sie sich in irgendeiner Weise zu einem quantitativen Ding verhalten, dessen Teilbarkeit auf den Modus übertragen wird. Beim Modus der Vereinigung der Seele ist dies der Körper, beim Modus der Anwesenheit des Engels der wirkliche oder imaginäre Raum, in dem der Engel anwesend ist.39 Ein weiterer Einwand gegen die aristotelische Definition des Quantums besteht in der Behauptung, diese Definition sei zu eng, es gebe also Gegenstände, die zwar Quanta sind, die aber nicht auf die in der Definition beschriebene Weise teilbar sind. Als Beispiele dafür werden zunächst der Himmel und das natürliche Minimum40 angegeben. Der Einwand lautet hier, dass beide Quanta seien, jedoch nicht geteilt werden könnten. Außerdem genannt wird der heterogene Körper eines selbständigen Lebewesens. Würde dieser geteilt, dann wäre zumindest einer der beiden resultierenden Teile nicht mehr dieses Etwas, das es vorher war.41 Suárez antwortet darauf wieder mit einer Differenzierung. Etwas könne in zweifacher Weise teilbar sein: Zum einen in der Sache selbst und in Ausführung („re ipsa et executione“), zum anderen nur gedanklich („mentis designatione“). Nur die zweite Art der Teilbarkeit entspreche der Teilbarkeit eines Quantums. Ein Quantum sei teilbar insofern darin ein Teil als außerhalb von einem anderen befindlich bestimmt werden könne. (In dieser Hinsicht sei die kontinuierliche Quantität eher Ausdehnung als Teilbarkeit.) Die gedankliche Teilbarkeit komme jedem Quantum also bereits aus begrifflichen Gründen zu, die tatsächliche Teilbarkeit könne dagegen unter Umständen bei bestimmten Quanta nicht gegeben sein. Zu letzteren gehörten der Himmel und das natürliche Minimum. Beide könnten zumindest nicht durch einen natürlichen Akteur geteilt werden (durch göttliche Kraft sei dies allerdings dennoch mög-

|| 39 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 11. 40 Die Lehre von den minima naturalia hat sich im Mittelalter aus der Interpretation und Verallgemeinerung einer Stelle aus der Physik des Aristoteles entwickelt (Aristoteles: Physik, Buch I, Kap. 4). Demnach können materielle Einzeldinge nicht beliebig klein sein. Die kleinsten in der Natur vorkommenden materiellen Dinge werden minima naturalia genannt. Es fragt sich natürlich, wie sich die Annahme von minima naturalia mit der unendlichen Teilbarkeit des physisch-materiellen Kontinuums verträgt. Dazu sind unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen worden. Vgl. dazu Maier 1949, S. 170–196. Suárez ist jedenfalls der Meinung, dass auch ein minimum naturalium gedanklich teilbar ist (s. u.). 41 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 4.

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lich). Beim heterogenen Körper gebe es hier überhaupt kein Problem, denn jeder heterogene Gegenstand könne selbstverständlich auf natürliche Weise geteilt werden. Dass die resultierenden Produkte der Teilung hierbei in Bezug auf die Substanz nicht mehr von derselben Art seien, sei unerheblich, denn in Bezug auf das Quantum blieben sie von derselben Art.42 Weitere vorgeschlagene Gegenbeispiele sind Zeit, Bewegung, und andere Gegenstände mit linear geordneter Struktur (Suárez nennt sie successiva). Diese seien angeblich Quanta, jedoch seien sie nicht im Sinne der aristotelischen Definition teilbar: Ihre Teile seien nicht in ihnen, vielmehr seien einige zukünftig, andere schon vergangen. Außerdem könnten die Teile der successiva nicht jeder für sich aus sich heraus und als etwas Eines existieren.43 Suárez sagt dazu, dass die successiva nicht per se irgendwie groß sind, sondern nur akzidentell, und außerdem hätten sie keine positive Ausdehnung, weshalb sie nicht unbedingt als Quanta angesehen werden müssten. Sehe man sie aber dennoch als Quanta an, dann wäre die aristotelische Definition gar nicht verletzt, denn in jedem einzelnen Quantum müssten die Teile entsprechend dem Seinsmodus eines solchen Seienden enthalten sein.44 In den successiva seien die Teile eben auf sukzessive Weise enthalten, und in diese Teile sei das Ganze nur gedanklich teilbar. So sei eine Zeit beispielsweise gedanklich in viele Tage teilbar und eine kontinuierliche Bewegung könne zwar in zwei geteilt werden, allerdings nur so, dass die beiden nicht zugleich sind, sondern als diskret aufeinander folgende Bewegungen vorkommen, da dies sonst gegen die Art der successiva wäre.45 Der letzte Einwand gegen die aristotelische Definition bezieht sich auf die Zahl bzw. die diskrete Größe (numerus). Diese sei, so der Einwand, ebenfalls ein gewisses Quantum, jedoch sei sie nicht im Sinne der Definition teilbar, da sie ja bereits aktual geteilt sei und nicht zugleich aktual und potentiell geteilt sein könne. Wäre die Zahl teilbar, dann wäre auch die Zahl der Engel teilbar, diese werde aber allgemein nicht als irgendetwas von einer bestimmten Größe angesehen.46 Hierauf antwortet Suárez, indem er daran erinnert, dass Aristoteles die Quantität in kontinuierliche und diskrete unterteilt und die kontinuierliche Quantität als das bestimmt, was „kontinuierlich teilbar“ sei. „Kontinuierlich

|| 42 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 12. 43 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 4. 44 „in unoquoque quanto debere partes inesse cum proportione et juxta modum essendi talis entis.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 13). 45 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 13. 46 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 4.

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teilbar“ sei hier so zu verstehen, dass die Größe teilbar sei in Teile, die vor der Teilung kontinuierlich zusammenhängen. Nach der Teilung seien die Produkte der Teilung jedoch nicht mehr kontinuierlich zusammenhängend, es sei denn, die Teilung erfolge lediglich gedanklich, oder man verstehe unter „zusammenhängend“, dass die Produkte der Teilung bloß in sich zusammenhängend sind (d. h. selbst aus miteinander zusammenhängenden Teilen bestehen). Miteinander zusammenhängend (continua) seien nach Aristoteles aber diejenigen Dinge, die durch ein gemeinsames Ende miteinander verbunden sind.47 Im Unterschied dazu sei die Zahl bzw. diskrete Quantität nach Aristoteles das, was in Teile geteilt werden kann, die bereits vor der Teilung nicht kontinuierlich zusammenhängen. Suárez gibt zu, dass daraus die genannten Schwierigkeiten erwachsen, indem hier etwas potentiell teilbar sein soll, was bereits aktual geteilt ist. Hierauf könne man aber mit dem Hinweis auf eine rein gedankliche Teilung antworten. Eine diskrete Größe habe nämlich keine Einheit, es sei denn sie würde im Geiste als Einheit betrachtet, und sie sei auch nur im Geiste teilbar und in Einheiten oder Teilgrößen zerlegbar. Kontinuierliche und diskrete Quantität seien daher auf unterschiedliche Weise teilbar. Dieselbe Zahl bzw. diskrete Größe sei aktual in Bezug auf eine kontinuierliche Teilung geteilt und könne zugleich potentiell in Bezug auf eine diskrete Teilung geteilt werden. Dieselbe kontinuierliche Größe sei in Bezug auf eine diskrete Teilung unteilbar, aber durch eine kontinuierliche Teilung teilbar.48 Zur Frage, warum die Zahl der Engel kein Quantum ist, verweist Suárez auf die Disputatio XLI. Er erwähnt im vorliegenden Text nur kurz zwei Gedanken dazu, nämlich, dass eine Vielzahl von Geistern jedenfalls nicht physisch teilbar sei, und dass Aristoteles sage, dass das, was „unendliche Vielheit“ oder „unendliche Größe“ genannt werde, kein Quantum sei.

5.3 Vergleich mit der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände Vergleicht man Suárez‘ Antwort auf die Frage, was die Quantität und im Besonderen die kontinuierliche Quantität sei, mit der in dieser Arbeit im Kapitel 2 entwickelten Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände, dann lassen sich viele Parallelen feststellen. Zunächst einmal fällt auf, dass Suárez ebenfalls das Anliegen hat, eine möglichst allgemeine Definition anzugeben. Auch ihm geht

|| 47 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 14. 48 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 1, n. 15.

Vergleich mit der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände | 159

es darum, festzustellen, was ausgedehnte Gegenstände zu ausgedehnten Gegenständen macht, d. h., die Quantität als Form der ausgedehnten (und teilbaren) Substanzen (Quanta) zu bestimmen. In der Disputatio XL liegt sein Augenmerk, ebenfalls wie hier im Kapitel 2, vor allem auf den räumlich ausgedehnten Gegenständen, die für Suárez diejenigen Dinge sind, denen kontinuierliche Quantität im engeren, eigentlichen Sinne zukommt. Zentral ist in der Definition des Quantums genau wie in der Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände der Verweis auf die Teilbarkeit. Suárez spricht sich in Bezug auf kontinuierliche Quanta klar für eine unendliche Teilbarkeit aus, wobei es im eigentlichen Sinne nur um eine gedankliche Bestimmung der Teile geht, nicht um eine real und physisch durchgeführte Teilung. Dies entspricht genau der hier in 2.1 beschriebenen Variante der Teilbarkeit. Unterscheidendes Merkmal der quantitas continua im Vergleich zur quantitas discreta ist für Suárez der Zusammenhang der Teile. Auch dies passt sehr gut zur Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände und auch zu den in Abschnitt 2.2 dargelegten Überlegungen. Was „Zusammenhang der Teile“ für Suárez genau bedeutet, erläutert er in Sectio 1 der Disputatio XL nur ganz knapp, indem er Aristoteles zitiert, nach dem genau diejenigen Dinge zusammenhängen, die durch ein gemeinsames Ende miteinander verbunden sind. Wie dies genau zu interpretieren ist, behandelt er in Sectio 5, die im Folgenden noch näher analysiert werden wird. Dass die Teile („ea quae insunt“) in der aristotelischen Definition des Quantums dazu fähig sind, jeder für sich „etwas Eines und dieses Etwas“ („unum quid et hoc aliquid“) zu sein, legt Suárez so aus, dass die Teile nach ihrer Abtrennung vom Ganzen vollkommen selbständige Entitäten sind. Speziell deutet Suárez das „hoc aliquid“ so, dass die Teile eines kontinuierlichen Quantums selbst wiederum kontinuierliche Quanta sind. In der hier gewählten Charakterisierung entspricht das dem Aspekt, dass die Teile ausgedehnter Gegenstände selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind. Vor der Teilung liegen die Teile des Quantums noch nicht jeweils als „etwas Eines und dieses Etwas“ vor, sie sind allerdings nichtsdestotrotz von den übrigen Teilen und dem Ganzen real verschieden. Suárez spricht in diesem Zusammenhang vom „teilartigen Seinscharakter“ („entitas partialis“). Außerdem spricht Suárez davon, dass man in einem weiteren Sinne den Ausdruck „Quantum“ auch auf all diejenigen Dinge beziehen könne, denen „Proportion“ zukommt. Mit „Proportion“ meint er dabei offenbar zumindest so etwas wie eine Partition in echte Teile. Nimmt man beide Aspekte zusammen, so kann man hierin eine Parallele erkennen zu den „paarweise disjunkten, gleichartigen Teilen“, die „gemeinsam den Gegenstand vollständig ausschöpfen“, wie es in

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der hier verwendeten Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände formuliert wurde. In Abschnitt 2.2 wurde darüber spekuliert, ob alle Teile eines ausgedehnten Gegenstandes ausgedehnt sein müssen, und gezeigt, dass die vorgeschlagene Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände dies noch nicht festlegt, so dass verschiedene Auffassungen dazu möglich sind. In gleicher Weise legt auch die Suárezianische Auslegung der Definition des Quantums nicht fest, ob ein Quantum auch nicht-Quanta, d. h. Punkte, enthalten kann. Tatsächlich sind die unterschiedlichen Auffassungen zu dieser Frage Hauptgegenstand der noch zu besprechenden Sectio 5 der Disputatio XL. Die ebenfalls diskutierte und hier abgelehnte Möglichkeit von „extended simples“ lehnt auch Suárez ab: räumliche Ausdehnung (extensio localis in actu) sei die formale Wirkung der Quantität, und daher könne es auch nichts räumlich Ausgedehntes geben, das nicht mit Quantität ausgestattet und somit auch teilbar sei. In Bezug auf die Frage nach der Gültigkeit der „doctrine of arbitrary undetached parts“ (DAUP) bietet Suárez aber einen sehr interessanten Ansatz an: Die nicht abgetrennten Teile seien einerseits keine vollkommen selbständigen Dinge (sie sind nicht „unum quid et hoc aliquid“), haben aber andererseits doch so viel Eigenständigkeit, dass sie real von den übrigen Teilen und von dem Ganzen verschieden sind. Die nicht abgetrennten Teile existieren real, allerdings nur als Teile. Sie haben einen „teilartigen Seinscharakter“. Suárez befürwortet also einerseits die DAUP, würdigt aber auch das Argument der Kritiker der DAUP, indem er den Teilen keine vollkommene Selbständigkeit zuerkennt. Auf die Frage, ob nur dreidimensional ausgedehnte Gegenstände ausgedehnt sind, antwortet Suárez vollkommen in Übereinstimmung mit den Ausführungen am Ende von Abschnitt 2.2: Die dreidimensionalen Körper seien die erste und vorzüglichste Art der quantitas continua. Es zählten allerdings auch Flächen und Linien zu den kontinuierlichen Quantitäten. Es ist nicht einfach, Suárez‘ Ansichten zum Verhältnis von ausgedehnten Gegenständen zu materiellen Gegenständen zu rekonstruieren und mit den in Abschnitt 2.4 besprochenen Ansichten zu vergleichen. Dies ist schon allein dadurch schwierig, dass sich das Verständnis von Materie und materiellen Gegenständen zu Beginn der Neuzeit radikal gewandelt hat.49 Daher können hier dazu nur einige skizzenhafte Bemerkungen gemacht werden. Klar ist, dass Suárez räumlich dreidimensionale Ausdehnung und Materialität einander nicht gleichsetzt: Zwischen einer materiellen Substanz und ihrer Quantität (und damit in der Folge auch ihrer lokalen Ausdehnung) besteht ein realer Unter|| 49 Vgl. dazu Secada 2012, S. 84ff.

Vergleich mit der hier vertretenen Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände | 161

schied.50 Suárez hält es für möglich, dass durch göttliche Kraft die Quantität einer materiellen Substanz ohne ihre Substanz im Sein erhalten wird. Bei der Diskussion über die Teilbarkeit der „Anwesenheit“ eines Engels betont Suárez, dass dieser Modus seine Teilbarkeit daher hat, dass er mit einem teilbaren Ding verknüpft ist, was in diesem Falle der „reale oder imaginäre Raum“51 sei, in dem sich der Engel aufhalte. Auf den „realen oder imaginären Raum“ geht Suárez nicht näher ein. Er schreibt allerdings, dass sich dieser wie ein „irgendwie großes Ding“ (res quanta) verhält. Daraus könnte man schließen, dass Suárez die Existenz von nichtmateriellen, ausgedehnten Raumregionen annimmt. (Womit noch nicht gesagt ist, dass Suárez auch die Existenz einer leeren Raumregion, d. h. eines Vakuums, anerkennt.) Es ist für Suárez, im Unterschied zu Euler und vielen anderen neuzeitlichen Denkern, allerdings nicht die Undurchdringlichkeit, die das Hauptkennzeichen materieller Substanzen im Unterschied zu dreidimensional ausgedehnten Gegenständen im Allgemeinen ausmacht. Undurchdringlichkeit komme vielmehr allen aktual lokal ausgedehnten Dingen zu. Suárez nimmt neben dreidimensional ausgedehnten materiellen Gegenständen auch die Existenz materieller Oberflächen und Linien sowie ausdehnungsloser materieller Punkte an. Über die Möglichkeit eines Vakuums spricht Suárez in der Disputatio XL nicht. Es ist allerdings anzunehmen, dass er auch hier der aristotelischen Tradition folgt und diese Möglichkeit ablehnt. Mit Ausnahme des letzten Punktes passen Suárez‘ Ansichten zu in Abschnitt 2.4 beschriebenen Festlegungen, die im systematischen Teil der Arbeit getroffen wurden. Materielle Gegenstände sind für Suárez ebenfalls nur insofern für das Thema interessant, als dass sie die uns lebensweltlich am leichtesten zugänglichen Beispiele für ausgedehnte Gegenstände sind. Ansonsten konzentriert auch er sich eher auf die Untersuchung der Quantität als solcher, sei diese nun einer materiellen Substanz, einer Form oder irgendeinem anderen Gegenstand inhärent.

|| 50 Darin unterscheidet sich seine Ansicht insbesondere auch von der von Descartes vertretenen Lehre der Identifikation von Materie und Ausdehnung. Vgl. Specht 1997, S. 31f. 51 „spatium verum, vel imaginarium, quod se habet ad modum rei quantae“ (Suárez Disp. Met., d. XL, s. 1, n. 11).

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5.4 Fünf verschiedene Ansichten über Punkte, Linien und Oberflächen in den Körpern Die für das Thema dieser Arbeit besonders relevanten Passagen der Disputatio XL finden sich in Sectio 5. Nachdem in Sectio 1 die Definition des Quantums besprochen wurde und in den Sectiones 2, 3 und 4 der Körper im Mittelpunkt stand, geht es in Sectio 5 um die übrigen beiden Arten von kontinuierlichen Quantitäten, nämlich um Oberfläche und Linie, sowie um deren „erstes Prinzip“, den Punkt.52 Suárez stellt dazu zwei Fragen, nämlich erstens, ob Punkte, Linien und Oberflächen wirkliche Dinge sind, und zweitens, ob diese voneinander und vom Körper verschieden sind. Im Verlauf der Argumentation entscheidet sich Suárez dafür, beide Fragen positiv zu beantworten. Im Folgenden sollen seine Ausführungen in Bezug auf die erste der beiden Fragen näher erläutert werden. Wie bei scholastischen Quaestiones üblich, beginnt Suárez die Darstellung damit, einige Gegenargumente gegen die von ihm später verteidigte These vorzubringen. In diesem Fall sind dies Argumente, die belegen sollen, dass es keine Punkte gibt. Falls diese Argumente stichhaltig sind, dann sei damit, so Suárez, aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten und Verhältnisse zwischen Punkten, Linien und Oberflächen bereits gezeigt, dass auch Linien und Oberflächen nicht existieren.53 Bereits bei der Vorstellung der Gegenargumente führt Suárez einige grundlegende Unterscheidungen und Begrifflichkeiten ein. Als erstes begegnet dabei der Ausdruck „Unteilbares“ (indivisibilium). Punkte, Linien und Oberflächen nennt Suárez „Unteilbare“. Ein Punkt sei schlechthin unteilbar, eine Linie in zwei Dimensionen unteilbar und eine Oberfläche in einer Dimension unteilbar.54 Was damit gemeint ist, wird deutlicher, wenn man es so betrachtet: ein Körper ist in drei Dimensionen und damit im vollen Sinne teilbar, eine Oberfläche dagegen nur in zwei Dimensionen teilbar und in einer Dimension unteilbar, eine Linie ist nur in einer Dimension teilbar und in zwei Dimensionen unteilbar, und ein Punkt ist überhaupt nicht teilbar. Als nächstes führt Suárez eine Differenzierung ein: Punkte seien entweder „terminativ“ oder „continuativ“, oder aber beides zugleich. Falls ein Punkt das Ende einer Linie ist, nennt man ihn terminativen Punkt; falls er zwei Linien mit-

|| 52 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 1. 53 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 2. 54 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 2.

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einander verbindet, continuativen Punkt.55 Suárez gibt nun zwei Argumente an, die die Nichtexistenz terminativer Punkte belegen sollen. Diesen folgen acht Argumente, die sich gegen die Existenz von continuativen Punkten richten.56 Bevor Suárez zu seiner eigenen Antwort auf die beiden Ausgangsfragen kommt, beschreibt und kommentiert er fünf verschiedene Ansichten dazu. Zwei davon nennt er „extreme Ansichten“. Diese sind zum einen die vollständige Verneinung der beiden Fragen, d. h. die Meinung, dass es weder Punkte noch Linien noch Oberflächen gibt; und zum anderen die vollständige Bejahung, d. h. die Meinung, dass es Punkte, Linien und Oberflächen wirklich gibt und dass sie sowohl voneinander als auch vom Körper verschieden sind. Die übrigen drei Meinungen ließen sich in der Mitte zwischen diesen beiden einordnen.57

5.4.1 Erste Ansicht: Es gibt weder Punkte, noch Linien, noch Oberflächen Die erste extreme Ansicht führt Suárez u. a. auf Ockham zurück. Dabei werde behauptet, dass es nur dreidimensionale Körper gebe, und dass es in den Körpern nichts gebe, was „Länge ohne Breite“ oder „Breite ohne Tiefe“ habe. Wenn wir von „Linien“ oder „Oberflächen“ reden, dann sei damit stets ein vollständiger, dreidimensionaler Körper gemeint, den wir allerdings nur jeweils im Hinblick auf seine Länge bzw. auf seine Länge und Breite betrachten. Der Punkt sei etwas Privatives, das von uns im Modus des Positiven angesehen werde, und zwar als etwas, das frei von Ausdehnung ist. Einen Kommentar zu dieser Ansicht erspart sich Suárez hier. Die Zurückweisung ihrer einzelnen Aspekte holt er im Rahmen der Diskussion der übrigen Ansichten nach.58

5.4.2 Zweite Ansicht: Es gibt sowohl Punkte, als auch Linien und Oberflächen Die zweite extreme Ansicht sei diejenige des Thomas von Aquin und seiner Schule, zu der u. a. auch Duns Scotus gehöre.59 Diese Ansicht sei bereits bei Aristoteles grundgelegt. Demnach gebe es reale Punkte, Linien und Oberflä|| 55 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 2. 56 Für das Thema dieser Arbeit sind nur wenige dieser Argumente relevant. Auf diese wird später noch einmal gesondert eingegangen (ab Abschnitt 5.6). 57 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 7. 58 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 8. 59 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 9. Ob dies tatsächlich die Ansicht des Thomas ist, ist fraglich. Mahieu 1921 widerspricht hier.

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chen, und zwar sowohl an den Außenseiten der Körper, als auch im Inneren und zwischen den Teilen eines Körpers. Suárez schließt das aus der Interpretation mehrerer verschiedener Stellen aus dem Werk des Aristoteles, insbesondere aus der Physik, der Metaphysik und aus De Anima.60 Für das Thema dieser Arbeit besonders relevant sind dabei die folgenden von Aristoteles übernommenen Konzepte: – Das Kontinuum ist definiert als dasjenige, dessen Teile jeweils in einem gemeinsamen Ende (terminus communis) verbunden sind.61 – Zwei Körper berühren sich, ohne dabei im engeren Sinne miteinander verbunden zu sein, genau dann, wenn „ihre Äußersten beisammen sind“, d. h. wenn ihre Enden koinzidieren. Man nennt zwei solche Körper „direkt benachbart“ (contigua) im Gegensatz zu „verbunden“ (continua).62 – Die Berührung zweier Körper findet in deren „äußersten Enden“ (in extremis terminis) statt.63 Suárez gibt nun einige der in der Tradition üblichen Argumente für diese Ansicht an, die hauptsächlich aus Mathematik und Physik stammen. Das berühmteste davon stamme von Aristoteles und lasse sich auf Euklid zurückführen. Dabei wird Bezug genommen auf eine vollkommen runde Kugel und eine vollkommen ebene Bodenfläche. Liegt die Kugel auf dem Boden, dann berührt sie diesen in genau einem Punkt. Da der Kontakt real ist und in etwas Bestimmtem stattfinden muss, das in keiner Weise teilbar sein darf, handelt es sich um einen real existierenden Punkt.64 Ähnliche Argumente lassen sich in Bezug auf einen perfekten Zylinder mit kreisförmiger Grundfläche oder einen perfekten Würfel angeben, die jeweils die Bodenfläche in genau einer real existierenden Linie berühren (und zwar, wenn die Mantelfläche des Zylinders den Boden berührt, oder der Würfel mit einer seiner Kanten auf dem Boden aufkommt). Auch zwei Festkörper mit vollkommen ebenen Seitenflächen können sich nur in einer real existierenden Oberfläche berühren, sie können sich nicht in etwas Dreidimensionalem durchdringen. Für die Existenz von Oberflächen gibt Suárez zusätzlich noch ein physikalisches Argument an: Wenn man einen weißen Körper sieht, || 60 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 10. 61 „Unde continuum definit esse, cujus partes copulantur termini communi; “ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 10). 62 „Unde continuum definit esse, cujus partes copulantur termini communi; illa vero corpora esse contigua, quorum ultima sunt simul“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 10). 63 „Aristoteles dicit tactum fieri in his extremis terminis“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 10.) 64 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 11. Vgl. dazu auch Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 158.

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dann wird der Blick an einer realen, weißen Oberfläche beendet und dringt nicht in den Körper ein oder durch ihn hindurch. Wenn der Blick in die Tiefe des Körpers eindringen würde, dann wäre der Körper in diesem Maße transparent.65

5.4.3 Dritte Ansicht: Es gibt nur terminative Unteilbare, keine continuativen Die dritte Ansicht ist insofern eine „mittlere Ansicht“, als dass darin behauptet wird, dass es zwar terminative Unteilbare gebe, jedoch keine continuativen. Diese dritte Ansicht werde zuweilen Aristoteles und Thomas von Aquin zugeschrieben. Man könne damit, so die Vertreter dieser Ansicht, alles das retten, was Aristoteles, die Geometrie und die Physik über Punkte, Linien und Oberflächen sagen, und man vermeide dabei dennoch die Schwierigkeiten, die mit continuativen Unteilbaren zusammenhängen. Als besonders schwerwiegender Einwand gegen continuative Unteilbare werde dabei die Existenz eines aktual Unendlichen angesehen, die aus der Annahme von aktual existierenden continuativen Unteilbaren folge. In einer Linie gebe es daher nur zwei aktual existierende Punkte, nämlich die beiden Endpunkte. Punkte innerhalb der Linie könnten höchstens potentiell existieren, in dem Sinne, dass eine Teilung der Linie an diesen Punkten möglich ist, wobei dann je zwei reale terminative Punkte entstünden.66 Suárez widerlegt die dritte Ansicht, indem er feststellt, dass es keine terminativen Punkte und Linien gebe, die nicht zugleich auch continuativ seien. Zu jedem Punkt innerhalb eines Körpers oder auf der äußeren Oberfläche eines Körpers finde man verschiedene zusammenlaufende Linien, die durch den Punkt sowohl verbunden als auch jeweils beendet werden. Ähnliches gelte in Bezug auf Linien: Zu jeder Linie gebe es mindestens zwei Oberflächen bzw. Teile von Oberflächen, die in dieser Linie zusammenkommen. Jede Linie sei somit sowohl terminativ als auch continuativ.67

|| 65 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 12. Vgl. dazu auch Mahieu 1921, S. 310. 66 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 13. 67 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 14.

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5.4.4 Vierte Ansicht: Es gibt nur äußerste, terminative Oberflächen der Körper und sonst keine Unteilbaren Nach der vierten Ansicht gibt es Oberflächen nur als äußerste, rein terminative Oberflächen der Körper. Es gibt aber weder Linien noch Punkte, auch nicht in der äußersten Oberfläche eines Körpers.68 In seinem Kommentar zu dieser Ansicht erkennt Suárez an, dass die äußersten Oberflächen der Körper tatsächlich nicht continuativ, sondern rein terminativ sind. Eine solche Oberfläche beende den Körper nach außen, jedoch verbinde sie ihn nicht mit etwas außerhalb des Körpers gelegenem und es gebe auch nichts außerhalb des Körpers, das durch die Oberfläche beendet wäre. Linien oder Punkte könnten dagegen nicht rein terminativ sein.69 Die Begründung dafür sieht Suárez darin, dass Oberflächen nur nach zwei Seiten hin beendend oder verbindend sein können, Linien und Punkte jedoch in unendlich vielen Richtungen. Bei den äußersten Oberflächen des Körpers gebe es nur auf einer Seite der Oberfläche überhaupt etwas, nämlich den Körper selbst, der durch die Oberfläche beendet wird. Aber auf der anderen Seite der Oberfläche gebe es dagegen nichts, womit der Körper verbunden werden könnte. Die äußerste Oberfläche des Körpers sei somit rein terminativ. Linien und Punkte jedoch, ganz gleich, an welcher Stelle des Körpers sie sich befinden, seien nie nur terminativ, sondern immer auch continuativ: Im Inneren des Körpers verbinden sie Flächen bzw. Linien von allen Richtungen her, innerhalb der äußeren Oberflächen des Körpers verbinden sie immerhin noch Flächen und Linien, die sich innerhalb der Oberfläche befinden oder vom Inneren des Körpers her kommen.70 Die vierte Ansicht sei allerdings falsch, insofern sie real existierende Linien und Punkte ausschließt. Suárez diskutiert die Existenz realer Linien und Punkte sehr breit und geht auf eine ganze Reihe von Einwänden und Gegeneinwänden ein.71 Sein wichtigstes Argument für die Existenz von Linien und Punkten ist das zuvor schon erwähnte Gedankenexperiment des Kontaktes einer perfekten Kugel sowie eines perfekten Zylinders mit einer vollkommen ebenen Bodenfläche.72 Gebe man auf der einen Seite zu, dass ein dreidimensionaler Körper eine zweidimensionale äußerste Oberfläche hat, die den Körper beendet, mithilfe

|| 68 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 15. 69 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 15. 70 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 16. 71 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 17-20. 72 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 18.

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derer der Körper in Kontakt mit anderen Körpern stehen kann und die diverse Akzidenzien aufnehmen kann,73 dann müsse man auf der anderen Seite in Anbetracht des realen Kontaktes zwischen Kugel und Bodenfläche sowie zwischen Zylinder und Bodenfläche auch zugeben, dass in dieser Oberfläche reale Punkte und Linien existieren. Im Zusammenhang mit den Gegeneinwänden spricht Suárez u. a. auch vom „negativen Kontakt“. Damit ist eine Form des Kontaktes gemeint, bei der die in Kontakt stehenden Dinge zwar den Abstand Null voneinander haben, sich jedoch nicht „in einem positiven Ding“ berühren.74 Suárez lehnt diese Form des Kontaktes zwischen Körpern als der Sache nicht angemessen ab.75

5.4.5 Fünfte Ansicht: Es gibt äußerste, terminative Oberflächen der Körper und nur darin auch Punkte und Linien Die fünfte Ansicht schließlich ist mit allen bisher von Suárez gebrachten Einwänden vereinbar, denn es wird darin behauptet, dass es Oberflächen nur als äußerste, beendende Oberflächen der Körper gebe und dass es innerhalb dieser Oberflächen auch Punkte und Linien gebe, allerdings gebe es im Inneren der Körper weder Punkte noch Linien noch Oberflächen.76 Dennoch spricht sich Suárez auch gegen die fünfte Ansicht aus. Es sei inkonsequent, nur in der äußersten Oberfläche Unteilbare zuzulassen, nicht jedoch im Inneren des Körpers. Die Punkte und Linien, die sich innerhalb der äußersten Oberfläche befinden, seien sowohl terminativ als auch continuativ: Sie beenden Teile der Oberfläche und verbinden diese zugleich miteinander. Verbindungen dieser Art finden sich aber auch zwischen Teilen innerhalb des Körpers. Als Beispiel bringt Suárez einen menschlichen Arm, der mit der Hand verbunden ist. Der Arm sei gegenüber der Hand begrenzt, er habe dort ein Ende, auch wenn es zugegebenermaßen kein schlechthinniges Ende sei. Dieses Ende gehöre nicht nur dem Arm allein, sondern es sei ein Ende, das der Arm mit der Hand gemeinsam habe. Es gebe also auch im Inneren des Körpers Oberflächen, die die Teile des Körpers sowohl verbinden als auch jeweils beenden.77 || 73 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 17. 74 „Vel aliter etiam dicunt, globum et planum habere contactum negativum, non positivum; quatenus enim non distant, dicuntur se tangere negative, quia in nulla re positiva se tangunt.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 18.) 75 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 19f. 76 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 21. 77 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 22.

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Seine Argumentation für die Existenz von Unteilbaren im Inneren des Körpers verdeutlicht Suárez noch an weiteren Beispielen. Als erstes erwähnt er einen Zweig, der so geteilt wird, dass dabei von seiner Quantität nichts verlorengeht und dass die resultierenden Teilzweige weiterhin so einander direkt benachbart (contiguae) sind, dass keine Quantität dazwischen liegt. Worin besteht der Unterschied zwischen dem kontinuierlichen Zweig und den beiden direkt benachbarten, aber getrennten Teilzweigen? Suárez‘ Antwort ist: Die Teile des kontinuierlichen Zweiges waren vor der Teilung durch ein gemeinsames Ende miteinander verbunden, das sie nach der Teilung verloren haben. Dieses gemeinsame Ende könne nur eine innerhalb des Körpers existierende Oberfläche sein. Ähnliches gelte für Körper, die aus zwei miteinander verbundenen Kugeln oder aus zwei an einer Kante miteinander verbundenen Pyramiden bestehen. Teile man diese Körper in der oben beschriebenen Weise an der Verbindungsstelle, dann gehe jeweils ein gemeinsames Ende der beiden Kugeln bzw. ein gemeinsames Ende der beiden Pyramiden verloren. Es müsse sich hierbei aber um Punkte bzw. Linien im Inneren der Körper gehandelt haben. Suárez betont in diesem Zusammenhang, dass die Verbindung zweier Teile nicht rein negativ, als Abwesenheit von zwei rein beendenden Unteilbaren bestimmt werden kann.78 Die Verbindung müsse darüber hinaus zwingend ein Unteilbares sein, denn wäre sie teilbar, dann würde sich die Quantität oder die Ausdehnung allein dadurch verringern, dass die Teile miteinander verbunden werden. Die Teile würden sich in diesem Fall nämlich in einem teilbaren Teil durchdringen.79 Schließlich gibt Suárez noch einen physikalischen Grund dafür an, dass es Oberflächen im Inneren eines Körpers geben muss. Sein Beispiel dafür ist die Sonne und die sie umgebende Luft. Die Sonne erleuchte die sie umgebende Luft so, dass diese Wirkung in gleichförmiger Weise (uniformiter difformiter80) mit dem Abstand von der Sonne abnimmt. Man könne also keinen ausgedehnten

|| 78 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 23. 79 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 25. 80 Zur Übersetzung dieses Begriffes vgl. Maier 1952, S. 271: „Wenn etwa ein Körper oder eine Fläche – kurz, in der Terminologie des 14. Jahrhunderts: ein subiectum – von einer Qualität in allen Teilen gleichmässig informiert ist, derart dass alle Punkte des Körpers z. B. denselben Wärmegrad, oder alle Punkte der Fläche die gleiche Helligkeit haben, dann heißt die betreffende Qualität uniformis, und zwar uniformis quoad partes oder uniformis quoad subiectum. Ist das nicht der Fall, sondern weisen die verschiedenen Teile verschiedene Intensitätsgrade auf, so ist die Qualität difform. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Stärke der Qualität gleichmässig über das ganze subiectum hin zu- oder abnimmt: dann ist die Intensitätsverteilung uniformiter difformis.“

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Teil der Luft auszeichnen, der vollkommen gleichmäßig hell ist. Eine Wirkung müsse aber in einem bestimmten Gegenstand stets in einem eindeutig bestimmten Grad auftreten. Also müsse es im Inneren der die Sonne umgebenden Luftmenge unteilbare Oberflächen geben, die das Licht jeweils in einem eindeutig bestimmten Grad aufnehmen.81

5.4.6 Suárez entscheidet sich für die zweite Ansicht und erklärt diese weiter Zusammenfassend schreibt Suárez, dass ihm die drei mittleren Ansichten aus den genannten Gründen allesamt weniger vertrauenswürdig vorkommen als die beiden extremen Ansichten. Aber auch die beiden extremen Ansichten seien mit vielen Schwierigkeiten behaftet. Suárez spricht sich dann jedoch eindeutig für die zweite Ansicht aus, die seiner Meinung nach auch die aristotelische ist. Sie stimme mehr mit den Prinzipien der Geometrie und der Philosophie überein und man könne mehr damit erklären. Die ockhamistische Ansicht hält Suárez für unglaubwürdig und durch die zu den drei mittleren Ansichten angeführten Argumente ausreichend widerlegt.82 Suárez merkt an, dass Aristoteles und Thomas von Aquin von den Unteilbaren im Kontinuum (d. h., von den Unteilbaren im Inneren des Körpers bzw. im Inneren von Oberfläche und Linie) sagen, dass diese potentiell seien. Er selbst scheine jedoch zu lehren, dass sie aktual im Kontinuum seien. Um dies aufzuklären, differenziert er zwischen zwei unterschiedlichen Verständnisweisen des Ausdrucks „in potentia“, bezogen auf die Unteilbaren im Kontinuum. Zum einen könne dieser Ausdruck so verstanden werden, dass damit die reale Existenz der Unteilbaren negiert werde. Zum anderen könne er so verstanden werden, dass damit lediglich die reale Teilung des Kontinuums negiert werde.83 Auf die erste Weise verstünden den Ausdruck die Vertreter der ersten Ansicht sowie auch, in je unterschiedlicher Ausprägung, die Vertreter der drei mittleren Ansichten.84 Suárez zeigt auf, dass diese Verständnisweise des Ausdrucks „in potentia“ problematisch ist, denn es sei nicht klar, wie dabei die Potenz in den Akt überführt werden könne. Möglich sei dies nur, falls die fragli-

|| 81 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 26. 82 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 28. Vgl. dazu auch Mahieu 1921, S. 310. 83 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 29. 84 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 29-33.

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chen Unteilbaren zumindest im Geiste existieren und darüber hinaus ein „fundamentum in re“ haben. Dann existierten sie auf diese Weise aber aktual.85 Suárez versteht den Ausdruck „in potentia“ auf die zweite Weise: Es sei dadurch nicht die reale Existenz der Unteilbaren ausgeschlossen, sondern die reale Teilung des Kontinuums.86 Verstünde man „aktuales Sein“ im Sinne von „realer Existenz“, dann könne man durchaus sagen, dass die Punkte aktual im Kontinuum sind und zugleich, allerdings in einem anderen Sinne, potentiell. Genau dies sei auch die Sichtweise des Aristoteles und des Thomas von Aquin. Suárez zitiert als Beleg dazu einige Stellen aus den Werken beider Philosophen und erklärt die darin enthaltenen scheinbaren Widersprüche, indem er die beiden Verständnisweisen von „in potentia“ zur Interpretation heranzieht. Damit werde auch die Plausibilität der aristotelischen Ansicht weiter gestärkt.87 Die von Suárez favorisierte Antwort fasst er schließlich in folgendem Fazit zusammen: Aus all diesem also scheint die allgemeine Meinung ausreichend erklärt und bestätigt zu sein, nämlich, dass Punkte, Linien und Oberflächen wirklich reale Entitäten sind, die in Größen oder in Körpern existieren, nicht nur in den äußeren Oberflächen bzw. Enden, sondern auch innen zwischen allen Teilen der Größe selbst und zwischen allen ihren Dimensionen.88 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 34.

5.5 Einordnung in den systematischen Rahmen Man kann die Meinung des Suárez zur Existenz von Punkten, Linien und Oberflächen im Hinblick auf den in Kapitel 3 entwickelten systematischen Rahmen so deuten, dass jeder ausgedehnte Gegenstand sowohl nach außen (gegenüber der Umgebung bzw. gegenüber einem anderen ausgedehnten Gegenstand) als auch im Inneren (zwischen den ausgedehnten Teilen des Gegenstandes) real

|| 85 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 29, sowie auch n. 30-32. 86 „Cum ergo haec indivisibilia dicuntur esse in continuo in potentia, non opinor esse intelligendam illam dictionem, in potentia, ut excludit realem existentiam, sed ut excludit realem divisionem.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 34.) (n. 34 ist in der zitierten Ausgabe fälschlicherweise mit „33.“ beziffert worden.) Vgl. dazu auch Mahieu 1921, S. 311. 87 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 34. 88 „Ex his ergo omnibus satis videtur declarata et confirmata communis sententia, nimirum, puncta, lineas et superficies esse veras entitates reales in magnitudinibus vel in corporibus existentes, non tantum in externis superficiebus, seu terminis, sed etiam interne inter omnes partes ipsius magnitudinis et inter omnes dimensiones eius.“

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existierende, „dünne“ Grenzen hat. Die Außengrenzen haben die Funktion, den ausgedehnten Gegenstand zu beenden, die Grenzen im Inneren haben die Funktion, die ausgedehnten Teile des Gegenstandes sowohl miteinander zu verbinden als auch jeweils zu beenden.

5.5.1 Grenzen als Teile Sind Grenzen nach Suárez Teile der Gegenstände, deren Grenzen sie jeweils sind? Zumindest tragen die verbindenden und beendenden Grenzen eines ausgedehnten Gegenstandes zur Konstitution dieses Gegenstandes bei: Für Suárez ist ein Körper nicht nur aus ausgedehnten, teilbaren Teilen, sondern auch aus Unteilbaren zusammengesetzt. Auf die Zusammensetzung der Körper geht Suárez im Zusammenhang mit der von ihm vertretenen These, dass Punkt, Linie und Oberfläche sowohl voneinander als auch vom Körper real unterschieden werden,89 genauer ein. Er schreibt dort, dass eine ausgedehnte Größe zwar nicht ausschließlich aus Unteilbaren bestehen könne,90 Unteilbare aber sehr wohl mit in die Konstitution der kontinuierlichen Quantität eingingen. Jede kontinuierliche Quantität habe nämlich zwei Aspekte: Sie sei zum einen ausgedehnt und zum anderen kontinuierlich. Die Ausdehnung habe sie aus ihren (ausgedehnten) Teilen, die Kontinuität aus den Unteilbaren, die diese Teile verbinden. Suárez illustriert dies am Beispiel der beendenden und verbindenden Punkte einer Linie. Diese seien einerseits eindeutig in der Linie enthalten, d. h. ein Punkt verhalte sich zur Linie wie ein Teil zum Ganzen, andererseits gebe es aber einen realen Unterschied zwischen den Teilen der Linie und den in der Linie enthaltenen Punk-

|| 89 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 35-39. 90 Suárez verweist hier auf einen von Aristoteles in Buch VI der Physik gegebenen Beweis: Unteilbare würden, wenn sie unmittelbar beieinander (immediate) wären, vollständig denselben unteilbaren Raum einnehmen und könnten daher keine ausgedehnte Größe zusammensetzen: „Et satis demonstrat illa ratio, quod cum indivisibilia, quatenus talia sunt, si sint immediata, se tangant secundum se tota, et omnino sint in eodem spatio indivisibili, ex solis illis non excresceret magnitudinis extensio.“ (Suárez, Disp. Met., d. XL, s. 5, n. 35.) Wie schon in Kapitel 4 gezeigt wurde, gilt das jedoch nur für endlich viele Unteilbare. Für unendlich viele Unteilbare stimmt der Satz im Allgemeinen nicht. Der Beweis ist also in dieser Form nicht haltbar. Vgl. dazu auch Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 24: „After Cantor, Suarez’s Zeno-inspired Aristotelian reasons for rejecting the view that extended bodies are made out of simples appear to be groundless.“

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ten.91 Die Punkte seien somit zwar keine Teile der Linie, aber doch auf irgendeine Weise Komponenten der Linie.92 Berücksichtigt man, dass Suárez den Ausdruck „Teil“ hier eindeutig speziell im Sinne von ausgedehnter, teilbarer Teil verwendet, so lässt sich durchaus rechtfertigen, dass er der These, dass Unteilbare im mereologischen Sinne echte Teile ausgedehnter Gegenstände sind, zustimmen würde.93

5.5.2 Die vier Grundintuitionen Inwiefern genügen die Grenzen, die Suárez im untersuchten Text beschreibt, den vier im ersten Teil der Arbeit genannten Grundintuitionen? Zu den Intuitionen Verbindung und Ende finden sich jedenfalls sehr viele Hinweise bei Suárez. Seine Rede von continuativen und terminativen Unteilbaren drückt sehr schön aus, was mit diesen beiden Intuitionen gemeint ist. Alle in einem Körper befindlichen Punkte und Linien sowie die im Inneren des Körpers befindlichen Oberflächen sind nach Suárez sowohl continuativ als auch terminativ. Es handelt sich dabei somit um verbindende und beendende Grenzen. Auffällig ist, dass Suárez den äußersten Oberflächen eines Körpers nur Terminativität und keine Continuativität zuspricht. Hier handelt es sich also um Grenzen, die zwar der Intuition Ende, aber nicht der Intuition Verbindung gerecht werden. Zur Intuition Abhängigkeit, d. h. zu der These, dass Grenzen ontologisch stets von etwas anderem abhängig sind, stellt Suárez einige interessante Überlegungen an. Er behauptet nicht nur, dass Punkte, Linien und Oberflächen real existieren, sondern auch, dass diese voneinander und vom Körper verschieden sind: Sie sind „verae res, inter se et a corpore realiter distinctae“ 94. Damit gewinnen die Unteilbaren eine gewisse Selbständigkeit. Wie weit diese Selbständigkeit geht, wird an den folgenden Überlegungen deutlich: Im Zusammenhang mit der Antwort auf ein Argument gegen continuative Punkte fragt Suárez, ob die Punkte, die die (ausgedehnten) Teile der Linie miteinander verbinden, im Sein erhalten bleiben könnten, während die Teile der Linie zerstört werden. Hier unterscheidet er zwei Fälle: Im ersten Fall bleiben

|| 91 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 35. 92 „licet puncta non sint partes, sunt tamen aliquo modo componentia“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 35). 93 Vgl. dazu auch Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 23f. 94 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, Überschrift.

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nur endlich viele95 Punkte erhalten, im zweiten Fall alle Punkte der Linie. Den zweiten Fall hält Suárez für nicht möglich, schon allein deshalb, weil es dann eine aktual unendliche Vielheit von Punkten gäbe, vor allem aber deshalb, weil beim Zerstören der Teile zwangsläufig auch die in diesen Teilen enthaltenen Punkte zerstört werden würden.96 In Bezug auf den ersten Fall wägt Suárez verschiedene Ansichten gegeneinander ab und kommt zu dem Ergebnis, dass es zwar einerseits nicht vollkommen unplausibel sei, zu sagen, dass „ein Punkt ein in einem solchen Grade verminderter Seinscharakter ist, dass er zu seiner realen Existenz wesentlich eine Verbindung mit einer Linie braucht“97, und dass er daher „auf keine Weise getrennt von der Linie erhalten werden könnte“98. (Gleiches gelte demnach auch von einer Linie in Bezug auf die Oberfläche und von einer Oberfläche in Bezug auf den Körper.) Andererseits sei es, wenn man voraussetze, dass Unteilbare „wahrhafte Realitäten“99 sind, „konsequenter und wahrscheinlicher“100 anzunehmen, dass diese „separat erhalten werden können, sowohl eine Oberfläche ohne den Körper als auch eine Linie ohne Oberfläche und konsequenterweise auch ein Punkt ohne Linie“101. Suárez spricht sich somit eindeutig für die mögliche Existenz einzelner, separater Unteilbarer aus, hat dafür aber keine besonders durchschlagenden Argumente. Es ist letztlich allein seine vorhergehende Entscheidung dafür, dass Punkte, Linien und Oberflächen reale Dinge sind, die ihn zu der Konsequenz führt, die Selbständigkeit der Unteilbaren besonders hoch anzusetzen. Ein Unteilbares, das vollkommen separat existieren kann, ist natürlich nicht abhängig von etwas anderem im Sinne der Intuition Abhängigkeit. Es fragt sich nun allerdings, ob ein separat existierendes Unteilbares, beispielsweise eine einzelne Oberfläche ohne Körper, noch eine Grenze ist. Es gibt ja dann nichts mehr, was diese Oberfläche beenden oder verbinden kann. Die Oberfläche wäre weder terminativ noch continuativ. Ein Abtrennen einzelner

|| 95 „De singulis [punctis], et de qualibet multitudine finita eorum…“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 46). 96 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 47. 97 „punctum esse tam diminutam entitatem, ut ad suam realem existentiam essentialiter requirat coniunctionem cum linea“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 46). 98 „Unde consequenter fit ut punctum nullo modo possit conservari separatum a linea” (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 46). 99 „supponendo has esse veras realitates“(Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 46). 100 „magis consequens ac verisimilior“(Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 46). 101 „posse hoc modo indivisibilia separata conservari, tam superficiem sine corpore, quam lineam sine superficie, et consequenter etiam punctum sine linea“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 46).

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Unteilbarer vom Körper ist nur um den Preis möglich, dass die Unteilbaren ihren Charakter als beendende und verbindende Grenzen verlieren. Insofern könnte man somit die Intuition Abhängigkeit dennoch als gewahrt ansehen: Diejenigen Unteilbaren, die tatsächlich Grenzen sind, sind als Grenzen abhängig von den ausgedehnten Gegenständen, deren innere oder äußere Grenzen sie jeweils sind.102 Klar ist jedoch, dass die Suárezianischen Grenzen damit nur noch in einem schwachen Sinne als abhängige Entitäten gelten können. Zur Intuition Trennung finden sich keine Hinweise bei Suárez. Die Intuition, dass eine Grenze zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander trennt, spielt für ihn offenbar keine Rolle. Dies könnte darin begründet liegen, dass für ihn zwei verschiedene Quanta einfach bereits deshalb voneinander getrennt sind, weil sie verschiedene Quanta sind. Ob sie nun zwei koinzidierende, äußerste unteilbare Enden haben (wie bei zwei Körpern, die einander berühren) oder ein gemeinsames verbindendes Unteilbares haben (wie bei zwei ausgedehnten, benachbarten Teilen eines Körpers), oder durch einen positiven Abstand vollkommen voneinander separiert sind, tut dabei nichts zur Sache. Es ist für Suárez jedenfalls nicht die Grenze, die die Trennung bewirkt.

5.5.3 Die Lösung des Problems der Zugehörigkeit Zum Problem der Zugehörigkeit der Grenze schlägt Suárez einen „gemischten“ Lösungsansatz vor, d. h. für jede der drei verschiedenen Situationen, in denen eine Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen vorkommen kann, wählt er jeweils eine andere Lösungsoption. In Bezug auf Situation (a), d. h. im Fall zweier selbständiger, einander berührender ausgedehnter Gegenstände (Suárez bezieht sich dabei im Wesentlichen auf Körper; er spricht von „corpora contigua“), entscheidet er sich für Option 4: Jeder der beiden Gegenstände hat eine abschließende Grenze. Bei Körpern ist dies eine äußerste, der Tiefe nach unteilbare Oberfläche. An der Berührstelle koinzidieren diese beiden abschließenden Grenzen. Besonders deutlich wird dies im Blick auf die im Folgenden zitierte Textpassage. Suárez argumentiert darin dafür, dass es einen realen Unterschied gibt zwischen einer Quantität und einem diese Quantität beendenden Unteilbaren, speziell zwi-

|| 102 Im Übrigen spielen separat vorliegende Unteilbare außer an der zitierten Stelle in Sectio 5 keine Rolle. Alle Unteilbaren, die im Rest des Textes vorkommen, sind Unteilbare in einem Körper bzw. in einem höherdimensionalen Unteilbaren und sind somit auch (beendende bzw. verbindende) Grenzen.

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schen einem Körper und seiner äußersten, terminativen Oberfläche. Man kann jedoch ohne Probleme von dem eigentlichen Argumentationsziel, das Suárez hier verfolgt, absehen (und ebenso von dem Spezialproblem, was Suárez sich hier genau unter dem „Verörtlichenden“ vorstellt)103 und diese Stelle einfach als Beschreibung des Kontaktes zwischen zwei Körpern lesen. Die Textpassage lautet wie folgt: Zwei Körper, zum Beispiel das Verörtlichende und das im Ort Befindliche, berühren sich in irgendeinem Ding, und in irgendeinem berühren sie sich nicht, und in einem haben sie reale Gleichheit, in dem anderen haben sie sie nicht, also werden jene Dinge, in denen sie sich berühren und Gleichheit haben, real unterschieden von den anderen, in denen sie sich nicht berühren und auch keine Gleichheit haben; da ja jene zwei, in denen sie sich berühren, gleichsam durchdringend und gänzlich beisammen sind; der Rest der Quantität aber, der in dem einen Körper ist, ist vollkommen undurchdringbar durch den, der im anderen ist. Die äußerste Oberfläche ist also eine vom Rest des Körpers verschiedene Sache, und dasselbe entsprechende Argument gilt für ein beliebiges anderes Unteilbares in Bezug auf die Quantität, die es beendet.104 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 37.

Es ergibt sich daraus folgendes Bild: Jeder Körper hat an seiner Außenseite eine zweidimensionale Oberfläche, die ihn vollkommen einhüllt und nach außen hin beendet. Berühren sich zwei Körper, dann gleichen sich an der Berührstelle ihre äußersten Oberflächen. Die beiden Oberflächen „durchdringen“ sich, sie sind „gänzlich beisammen“, man könnte auch sagen: sie koinzidieren. Die gegenseitige Durchdringung geht aber nicht „in die Tiefe“. Die dreidimensionalen Teile der Körper bleiben undurchdringlich. In Bezug auf Situation (c), also im Fall zweier einander direkt benachbarter ausgedehnter Teile desselben Gegenstandes (bei Suárez: „partes continuae“), schließt sich Suárez direkt der Meinung des Aristoteles an, der das „Kontinuum“ definiert als „dasjenige, dessen Teile in einem gemeinsamen Ende verbun-

|| 103 Hier wird die Frage nach dem Wesen und der Existenz des Raumes in der aristotelischen Philosophie berührt. Vgl. dazu z. B. Jeck 1998, woraus auch die hier verwendeten Übersetzungen für „locans“ und „locatum“ stammen (S. 433). 104 „duo corpora, verbi gratia, locans et locatum, in aliqua re se tangunt, et in aliqua se non tangunt, et in una habent aequalitatem realem, in aliis non habent; ergo res illae in quibus se tangunt et aequalitatem habent, distinguuntur realiter ab aliis in quibus non se tangunt neque habent aequalitatem; quandoquidem illa duo in quibus se tangunt sunt quasi penetrative et omnino simul; reliquum vero quantitatis quod est in uno corpore, est omnino impenetrabile cum eo quod est in altero. Est ergo res distincta ultima superficies a reliquo corpore, et eadem proportionalis ratio est de quolibet alio indivisibili respectu quantitatis quam terminat.“

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den werden“105. Diese gemeinsamen Enden müssen aber, genauso wie die koinzidierenden äußersten Enden zweier einander berührender Körper, unteilbar sein, „denn wenn sie teilbar wären, dann könnten sie weder beisammen sein, noch könnte ein und dasselbe Ende beiden Teilen gemeinsam sein“106. Diese Unteilbaren verbinden die beiden Teile und zugleich beenden sie diese.107 Suárez stellt sich Situation (c) also offenbar so vor: Die beiden Teile sind genau deshalb miteinander verbunden, weil sie ein Unteilbares gemeinsam haben. Dieses Unteilbare ist sowohl in dem einen wie auch in dem anderen ausgedehnten Teil enthalten, es ist ein Ende des einen genauso wie ein Ende des anderen Teiles. Er entscheidet sich somit für Option 1: Die beiden Teile haben eine gemeinsame Grenze, sie haben einen („unteilbaren“, also dünnen) Teil gemeinsam, der für jeden der beiden Teile jeweils ein äußerster (dünner) Teil ist. Die Grenze ist verbindende und zugleich abschließende Grenze. Damit hat Suárez in Bezug auf die in Abschnitt 3.3 beschriebenen Situationen (a) und (c) jeweils eine klare Antwort auf das Problem der Zugehörigkeit der Grenze gegeben. Die aristotelische Differenzierung zwischen „contiguum“ und „continuum“ wirkt sich dabei in der Weise aus, dass er für Situation (a) und Situation (c) jeweils unterschiedliche Lösungsoptionen für das Problem der Zugehörigkeit vertritt: Situation (a) wird durch Option 4 beschrieben, Situation (c) durch Option 1. In Bezug auf Situation (b), d. h. den Fall einer Grenze zwischen einem Gegenstand und seiner Umgebung, ist die von Suárez favorisierte Lösungsoption nicht so leicht zu ermitteln. Im Zusammenhang mit der im vorigen Abschnitt zitierten Zurückweisung der vierten Meinung betont Suárez nämlich, dass die äußersten Oberflächen der Körper rein terminativ sind, da es nur auf einer Seite einer solchen Oberfläche überhaupt etwas gebe. Es gebe also nichts, womit die Oberfläche den Körper verbinden könne. Suárez scheint also die Umgebung des Körpers überhaupt nicht so aufzufassen, dass sie auf irgendeine Weise mit dem Körper vergleichbar oder gar selbst ein ausgedehnter Gegenstand sei. Die äußerste Oberfläche ist für ihn nicht die Grenze zwischen Körper und Umgebung, sondern lediglich das Ende des Körpers. Die Frage nach der Zugehörigkeit stellt

|| 105 „continuum definit esse cuius partes copulantur termino communi “ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 10). 106 „nam, si essent divisibiles, nec possent esse simul, nec unus terminus secundum idem posset esse communis utrique parti“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 10). 107 „licet continuando partes eas terminent in suis partialibus quantitatibus“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 42).

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sich also hier erst gar nicht. Situation (b) ist für Suárez kein Spezialfall einer „Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen“. Dennoch kann man aus einer Nebendiskussion, die Suárez anspricht, etwas über die Zugehörigkeit der Grenze in Situation (b) herausfinden. Es geht dabei um die Frage, ob jeder Körper ein Ende hat, und ob dieses Ende ihm als Teil angehört. Suárez geht auf diese Frage ein, indem er die Möglichkeit von Körpern ohne Oberfläche erörtert. Er tut dies im Zusammenhang mit seiner Antwort auf die zu Beginn von Sectio 5 unter den Ziffern 2-6 vorgestellten Argumente gegen terminative und continuative Punkte. Das zweite Argument gegen terminative Punkte lautet wie folgt: Zweitens [gibt es keinen terminativen Punkt], weil es keinen Grund oder keine Notwendigkeit gibt, einen derartigen terminativen Punkt anzunehmen; denn welche Wirkung hat er in der Natur? Du wirst sagen: die Linie zu begrenzen (finire) und zu beenden (terminare). Aber dagegen steht, dass, falls man im Geiste einen solchen Punkt abtrennt, die Linie gleichwohl begrenzt (finita) bleibt, ja sie wird sogar als weder größer noch kleiner als zuvor verstanden, weil die Hinzufügung eines Unteilbaren nicht größer macht, und folglich auch die Abtrennung nicht kleiner macht; also ist ein derartiger Punkt in der Natur überflüssig.108 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 2.

Suárez antwortet darauf, dass, falls die Abtrennung des Punktes nur im Geiste geschehe, im Verstand eine nur negativ begrenzte Linie bliebe, die jedoch nicht als positiv beendet verstanden werden könne. Es gebe aber in der Wirklichkeit keine negativ begrenzte Quantität, die nicht zugleich auch positiv beendet und „in ihre Grenzen eingeschlossen“ wäre.109 Eine tatsächliche Abtrennung des Punktes „in re ipsa“ könne daher gar nicht stattfinden.110 Diese scheinbar so klare Zurückweisung der Möglichkeit einer tatsächlichen Abtrennung eines unteilbaren Endes von einer Quantität relativiert Suárez aber sogleich wieder. Ausgehend von dem Gedanken, dass die äußerste Oberfläche eines Körpers von diesem real verschieden ist, erwägt er, ob nicht „wenigstens Gott aus absoluter Macht heraus jene abtrennen und den Rest der Größe ganz

|| 108 „Secundo, quia nulla est ratio vel necessitas fingendi huiusmodi punctum terminativum; quem enim effectum habet in rerum natura? Dices finire ac terminare lineam. Sed contra, quia, si mente separes tale punctum, linea manebit aeque finita, immo neque maior neque minor quam antea intelligebatur, quia indivisibile additum non facit maius, et consequenter neque ablatum facit minus; ergo superfluum est huiusmodi punctum in rerum natura.“ 109 „quia non potest in re esse quantitas finita negative, id est, non ultra tendens, quin sit etiam positive terminata et suis terminis clausa.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 40). 110 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 40.

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ohne jene bewahren könnte“111. Es gebe zwar hierzu einige Gegeneinwände, diese hält Suárez allerdings nicht für zwingend. Der Körper sei in diesem Fall dann lediglich „begrenzt durch die Negation der positiven Ausdehnung, jedoch nicht durch eine intrinsische und positive Beendigung, die sie gemäß einer naturgemäßen Seinsweise verlangt.“112 Letztlich weicht Suárez auf eine Überlegung „a posteriori“ aus: Ein Körper ohne ihm zugehörige äußerste Oberfläche könnte nicht in physischen Kontakt mit anderen Körpern treten. Er wäre daher auch nicht „in sich vollständig ganz und vollendet gemäß seiner Ausdehnung“113. Aus der „Natur der Sache“ heraus sei also ein Ende notwendig, selbst wenn es möglich sei, es durch absolute Macht abzutrennen. Faktisch habe also jeder Körper eine ihm zugehörende äußerste Oberfläche.114 Mit dem Vorbehalt, dass Suárez Situation (b) nicht genau so versteht, wie sie hier in Abschnitt 3.3 vorgestellt wurde, lässt sich feststellen, dass seine Antwort auf das Problem der Zugehörigkeit hier klarerweise die folgende ist: Die

|| 111 „Sed instabit aliquis, si illa superficies extrema est res realiter distincta, saltem de potentia absoluta poterit Deus illam separare, et reliquam magnitudinem totam sine illa servare;“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 41). 112 „in eo vero casu, quantitatem illam esse finitam per negationem ulterioris extensionis, non tamen per intrinsecam et positivam terminationem quam secundum connaturalem modum essendi requirit.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 41). 113 „Unde neque esset in se perfecte integrum et consummatum secundum suam extensionem.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 41). 114 In der modernen Rezeption dieser Passage wird meist stark betont, dass Suárez es für möglich hält, dass es Körper ohne Oberfläche geben kann, und es wird dabei vernachlässigt, dass dieser Fall auch für Suárez faktisch in der Natur nicht vorkommt. Vgl. dazu Chisholm 1983, S. 87: „Suarez had said, of the outer surfaces of a body, that they are genuine entities distinct from the body itself. And evidently he held that God could preserve the boundaries of a thing in separation from the thing (and also that God could preserve the thing in separation from its boundaries).” sowie auch Bergmann 1909, S. 207f: “Gleich Bolzano nämlich hielt auch Suarez die Grenze für etwas vom Körper real verschiedenes. […] Nun aber wirft er sich die Frage auf, ob denn nicht Gott die Grenzen abtrennen könnte. In der Tat müsse man zugeben, daß Gott das Begrenzte ohne die Grenze (und umgekehrt!) erhalten kann. […] Nun sieht Suarez zwar ein, dass ein Körper ohne Grenzen etwas widersprechendes ist. Aber der Ausweg, den er findet, ist ein kläglicher. Es werde eben ein solcher Körper nicht durch eine innere und positive Grenze, sondern durch das Fehlen einer letzten Ausdehnung begrenzt. Und nur das eine gibt er zu: corpus carens intrinseco termino non esset aptum ad physicum contactum cum aliis corporibus neque ad figuram et alia similia accidentia. […] Die metaphysische Einkleidung, in welcher der Einwand bei Suarez erscheint, ist natürlich völlig belanglos, da ja doch nur gezeigt werden soll, daß das Berührungsproblem bei dieser Auffassung der Körpergrenzen schwerlich gelöst werden kann.“

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Grenze gehört zum Körper. Die Umgebung des Körpers interessiert ihn dabei nicht, und folglich sagt er auch nichts über deren Grenze. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Suárez für die Lösung des Problems der Zugehörigkeit der Grenze die beiden Optionen 1 und 4 miteinander verknüpft. Es gibt nur „abgeschlossene“, d. h. intrinsisch begrenzte Gegenstände. Die Grenze eines Körpers ist also stets ein Teil dieses Körpers. Zwei benachbarte Teile eines Körpers („partes continuae“) haben eine gemeinsame Oberfläche; diese Art des Kontaktes entspricht Option 1. Zwei Körper, die einander berühren („corpora contigua“), haben dagegen keine gemeinsame Oberfläche, sondern stattdessen zwei koinzidierende Oberflächen; diese Art des Kontaktes entspricht Option 4.115

5.6 Suárez zum Problem der Spaltung Das Problem der Spaltung entsteht beim Übergang von Situation (c) zu Situation (b), d. h. beim Übergang von einem einzigen Körper mit zwei zusammenhängenden Teilen hin zu zwei vollkommen getrennten, selbständigen Körpern. Die beiden zusammenhängenden Teile des Körpers sind nach Suárez vor der Spaltung durch ein gemeinsames Unteilbares miteinander verbunden, während die beiden Produkte der Spaltung jeweils ein eigenes, beendendes Unteilbares an der vormaligen Kontaktstelle haben. Es muss also mindestens ein Unteilbares neu entstehen. Da es darüber hinaus keinen Grund gibt, warum das vormalige, die Teile verbindende Unteilbare eher an dem einen als an dem anderen Produkt der Spaltung verbleibt, ist es plausibel anzunehmen, dass dieses Unteilbare bei der Spaltung vernichtet wird, und zwei neue Unteilbare entstehen. Solange diese Unteilbaren nicht subszantiell oder materiell sind, scheint hierin keine größere Schwierigkeit zu liegen: Da die Quantität ein Akzidens ist, sind auch Unteilbare der Quantität akzidentell, und somit ist ihr Entstehen und Vergehen unproblematisch. Nun erfordert allerdings die Suárezianische Theorie der Unteilbaren, dass es auch substanzielle Unteilbare gibt. Daraus ergibt sich dann sehr wohl eine ernstzunehmende Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Problem der Spaltung. Bevor nun auf diese Schwierigkeit und darauf, wie Suárez diese zu lösen versucht, näher eingegangen werden kann, soll zunächst erläutert werden, warum es nach Suárez substanzielle Unteilbare geben muss.

|| 115 Vgl. dazu auch Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 23.

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5.6.1 Substanzielle Unteilbare Einer der von Suárez zu Beginn der Disputatio XL referierten Einwände gegen die Existenz von Punkten lautet, es könne keine Punkte geben, weil es kein angemessenes Subjekt gebe, in dem ein Punkt enthalten sein könne. Vorausgesetzt wird dabei, dass ein Punkt nicht für sich allein existieren kann. Er muss irgendeinem Subjekt anhaften, genauso wie ein Quantum einem ausgedehnten Ding (einer Substanz oder einer ausgedehnten Qualität o. ä.) anhaftet. Suárez führt den Einwand zunächst so aus: Teilbar könne das fragliche Subjekt eines Punktes nicht sein, denn dann wäre es dem unteilbaren Punkt nicht angemessen. Von einem unteilbaren Subjekt aber könne man weiter fragen, ob dieses eine Substanz oder ein Akzidens sei. Ist es ein Akzidens, denn stellt sich wiederum die Frage, welchem weiteren Subjekt dieses anhafte, und es sei daher nichts gewonnen. Ist es aber eine Substanz, dann wäre die Konsequenz, dass es substanzielle Punkte und in der Folge auch substanzielle Linien und Oberflächen in der Materie gibt, was jedoch „unerhört“ („inauditum“) sei.116 In seiner Antwort auf den Einwand stellt Suárez zunächst die allgemein vertretene Antwort darauf vor: Im sechsten Einwand wird danach gefragt, in welchem Subjekt diese Unteilbaren sind, und die allgemeine Antwort pflegt zu sein, dass der Punkt wohl in den Teilen der Linie ist, die er verbindet, und die Linie in den Teilen der Oberfläche; die Oberfläche aber in den quantitativen Teilen des Körpers; dass der Körper selbst aber unmittelbar in der Substanz ist. Und von daher kommt es, dass diese Unteilbaren in keinem adäquaten Subjekt sind, sie haften auch nicht einer Substanz unmittelbar an, sondern allein der Körper ist von der Kategorie der Quantität.117 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 50.

Diese Antwort sei allerdings problematisch, denn die Teile der Substanz sind untereinander so wahrhaft und real vereinigt wie die Teile eines Körpers der Quantität; sie sind aber nicht unmittelbar durch die Quantität vereinigt

|| 116 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 6. 117 „In sexto argumento petitur in quo subiecto sint haec indivisibilia. Et communis responsio esse solet punctum esse proxime in partibus lineae quas continuat, et lineam in partibus superficiei; superficiem vero in partibus corporis quantitativi; corpus autem ipsum esse immediate in substantia. Atque hinc fit ut haec indivisibilia in nullo sint adaequato subiecto, neque substantiae immediate inhaereant, sed solum corpus de praedicamento quantitatis.“

Suárez zum Problem der Spaltung | 181

[…]; also sind sie durch irgendetwas Substanzielles vereinigt, das proportional der Oberfläche entspricht, in der die Teile der Quantität vereinigt werden118. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 50.

Hier wirkt sich aus, dass Suárez die ausgedehnte Substanz und ihre Quantität als real voneinander verschieden ansieht. Wie er sich das Verhältnis von substanziellem Körper und quantitativem Körper genauer vorstellt, beschreibt er wie folgt: Ein substanzieller Körper, der unter einem quantitativen Körper ist, ist so vereint und gleichsam kontinuierlich in seinem Seinscharakter, wie der Körper der Quantität in seinem. Und der Körper der Quantität durchdringt gleichsam zuinnerst den substanziellen Körper und jener ist kontinuierlich mit diesem zusammen ausgebreitet; wo auch immer also irgendetwas eines quantitativen Körpers ist, dort korrespondiert proportional irgendetwas eines substanziellen Körpers; also korrespondieren den Teilen des einen Körpers die Teile des anderen, und den verbindenden Enden des einen Körpers entsprechen die verbindenden Enden des anderen, und anders kann ihre kontinuierliche Ausdehnung nicht verstanden werden.119 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 52.

Es gibt also bei ausgedehnten materiellen Substanzen stets eine Doppelung der Teile und der Unteilbaren: Zu jedem quantitativen Teil und zu jedem quantitativen Unteilbaren gibt es einen korrespondierenden substanziellen Teil bzw. ein korrespondierendes substanzielles Unteilbares. Als Antwort auf den Einwand fasst Suárez dies noch einmal zusammen: So muss folglich zum sechsten Einwand gesagt werden, dass die ganze Quantität ein ihr proportionales Subjekt hat; denn in einem substanziellen Körper gibt es eine integrale Zusammensetzung aus substanziellen Teilen und Enden, die untereinander proportioniert sind, und dieser Körper wird bekleidet (um es so zu sagen) durch einen quantitativen Körper, so dass seine Teile versehen werden mit Teilen der Quantität, und seine Enden mit

|| 118 „partes substantiae sunt inter se tam vere ac realiter unitae, sicut partes corporis quantitatis; non uniuntur autem immediate per quantitatem […]; ergo uniuntur per aliquid substantiale, quod proportionaliter respondet superficiei qua uniuntur partes quantitatis“. 119 „corpus substantiale, quod subest corpori quantitatis, tam est unitum et quasi continuum in sua entitate, sicut corpus quantitatis in sua. Et corpus quantitatis est quasi intime penetrans corpus substantiale, et continue illud coextendit sibi; ergo ubicumque est aliquid corporis quantitativi, correspondet proportionaliter aliquid corporis substantialis; ergo partibus unius corporis correspondent partes alterius, et terminis continuativis unius corporis respondent termini continuativi alterius, nec potest aliter intelligi continuata eorum extensio.“

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Enden der Quantität; und so wird er ausgedehnt und auf natürliche Weise undurchdringlich gemacht in der Hinordnung zum Raum.120 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 54.

5.6.2 Das Problem der Spaltung in Bezug auf substanzielle Unteilbare Suárez bespricht eine Variante des Problems der Spaltung als Einwand gegen die Existenz von substanziellen Unteilbaren. Der Einwand wird so formuliert: Werde ein quantitativer Körper geteilt, dann werde dabei zwangsläufig die Oberfläche zerstört, die die beiden zuvor zusammenhängenden Teile des Körpers miteinander verbunden hatte, und es resultieren zwei neue, rein terminative Oberflächen. Falls es zu den quantitativen Unteilbaren korrespondierende substanzielle Unteilbare gäbe, dann ginge bei einer Teilung des Körpers immer auch ein continuatives substanzielles Unteilbares verloren und es entstünden zwei neue terminative substanzielle Unteilbare. Das scheine aber falsch zu sein, denn die Auslöschung und Neuschaffung von Materie sollte bei der Teilung eines Körpers nicht vorkommen.121 Suárez antwortet auf den Einwand, indem er zunächst zugibt, dass bei der Spaltung eines Körpers ein continuatives substanzielles Unteilbares zerstört wird. Er begründet dies damit, dass das die beiden Teile verbindende Unteilbare nach der Spaltung weder in beiden Produkten der Spaltung zugleich bleiben könne, noch in nur einem von beiden, denn es gebe keinen Grund dafür, dass hier eines der Spaltprodukte dem anderen vorgezogen wird.122 Die beiden Spaltprodukte blieben ferner beide „intrinsisch beendet“, d. h. sie enthalten beide ein äußerstes, rein terminatives substanzielles Unteilbares. Es werde somit auch bei den Spaltprodukten die Zusammensetzung des quantitativen Körpers vom zugehörigen substanziellen Körper genau nachvollzogen. Es entstünden also

|| 120 „Sic igitur ad sextum argumentum dicendum est totam quantitatem habere subiectum sibi proportionatum; nam in corpore substantiali est integralis compositio ex partibus et terminis substantialibus inter se proportionatis, et hoc corpus induitur (ut ita dicem) corpore quantitativo, ita ut partes eius afficiantur partibus quantitatis, et termini eius terminis quantitatis; atque ita redditur extensum et impenetrabile naturaliter in ordine ad spatium.“ 121 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 55. Es wird in dem Einwand nicht weiter begründet, warum eine Auslöschung und Neuerschaffung von materiellen Substanzen nicht möglich sein soll. Suárez schreibt wenig später, dass es „nicht philosophisch“ sei, eine Auslöschung und Neuerschaffung anzunehmen (siehe Zitat unten). 122 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 56.

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tatsächlich auch neue „substanzielle Enden“ der beiden Spaltprodukte.123 Wie dies vonstattengehe, sei jedoch nicht leicht zu erklären. Suárez schreibt dazu: Auf welche Weise aber jene Enden zustande gebracht werden, ist schwierig zu erklären; denn dort irgendeine Schöpfung oder Auslöschung anzunehmen, ist nicht philosophisch. Und folglich scheint man sagen zu müssen, dass jene beendenden, materiellen Unteilbaren durch Resultieren (per resultantiam) von den Teilen der Materie selbst gemacht werden.124 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 56.

Suárez formuliert hier sehr vorsichtig. Es wird dabei nicht ganz klar, was er damit meint, dass die Unteilbaren „durch Resultieren“ von den Teilen der Materie gemacht werden. Suárez selbst bespricht in dem auf die zitierte Passage folgenden Abschnitt einen Einwand gegen diese Formulierung. Darin heißt es, dass das „Resultieren“ jedenfalls irgendeine Wirksamkeit („efficientia“) sei, da dadurch ein neues Ding zu sein beginnt. Diese Wirksamkeit könne aber nicht aus der Materie wie aus einer Wirkursache stammen, da die Materie nicht aktiv sei. Sie könne aber andererseits auch nicht aus den beiden Teilen wie aus einer Materialursache stammen, denn die Teile seien ja nicht das Subjekt der neu entstehenden Enden. Damit ist wohl gemeint, dass die neu hinzukommenden Enden nicht im Sinne einer Materialursache von den Teilen verursacht sein können, da die Teile nicht das „Material“ sind, aus dem die Enden bestehen.125 Suárez antwortet auf diesen Einwand, dass es dennoch nicht unpassend sei, der Materie irgendeine Aktivität „durch Resultieren“ zuzusprechen. Es reiche dazu nämlich aus, dass das neu entstehende Ende in seinem Sein von der Materie, mit der es vereint ist, abhängt und von dieser hervorgebracht wird. Diese Abhängigkeit werde auf die Materialursache bezogen. Zur weiteren Plausibilisierung bringt Suárez ein theologisches Beispiel, das sich auf eine spezielle Frage der Christologie bezieht.126 Außerdem schlägt er eine Deutung vor, nach

|| 123 „Deinde partes illae divisae manent intrinsece terminatae substantialiter sicut partes quantitatis in suo ordine; ergo necesse est ut de novo insurgant substantiales termini, sicut et quantitativi.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 56). 124 „Quomodo autem fiant illi termini, difficile est ad explicandum; nam admittere ibi creationem aliquam, vel annihilationem, non est philosophicum. Et ideo dicendum videtur illa indivisibilia terminantia materialia fieri per resultantiam ab ipsis partibus materiae.“ 125 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 57. 126 Das theologische Beispiel lautet: „Sicut dicunt theologi, quod si Verbum dimitteret corpus humanum, resultaret ab illo subsistentia creata; tunc enim ab ipsa materia resultaret subsistentia partialis per aliqualem activitatem intrinsecam et receptionem propriae subsistentiae.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 57).

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der das Resultieren der neu hinzukommenden materiellen Enden in der Handlung gründet, mit der Gott die Materie im Sein erhält. Die Enden seien demnach „gleichwie eine gewisse Mitschöpfung“127, würden allerdings nicht so genannt werden, da sie „aus der Kraft und Schuldigkeit der präexistenten Handlung“128 hervorgebracht werden.129 Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Suárez die Vernichtung und Neuentstehung von substanziellen Unteilbaren bei der Spaltung eines Körpers letztlich nicht schlüssig erklären kann. Das Problem der Spaltung bleibt damit ungelöst.130

5.7 Suárez zum Problem des Kontaktes Das Problem des Kontaktes entsteht beim Übergang von Situation (b) zu Situation (a), d. h. beim Übergang von zwei vollkommen voneinander getrennten Körpern hin zu zwei Körpern, die einander berühren. Suárez geht, wie gesehen, davon aus, dass jeder Körper jeweils eine äußerste, noch zu ihm gehörende Oberfläche hat, unabhängig davon, ob sich der Körper in Kontakt mit anderen Körpern befindet oder nicht. Zwei voneinander getrennte Körper können ohne Schwierigkeiten miteinander in Kontakt kommen. Die beiden äußersten Oberflächen koinzidieren in diesem Fall an der Kontaktstelle. Keine Unteilbaren werden dabei vernichtet, und die beiden Körper wachsen auch nicht zu einem einzigen zusammen. Durchdringung geschieht nur in den beiden Oberflächen, somit gib es also für Suárez, wie oben dargestellt, auch keinen Widerspruch zur Undurchdringlichkeit des Ausgedehnten: In der entsprechenden Dimension sind die Oberflächen nämlich gar nicht ausgedehnt. Das Problem des Kontaktes ist also in der Suárezianischen Theorie offenbar sehr leicht zu bewältigen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Suárez als Hauptargumente für seine Antwort auf die Frage, ob es Punkte, Linien und Oberflächen gibt, Gedankenexperimente anführt, die den Kontakt zwischen Körpern betref-

|| 127 „haec indivisibilia materialia […] esseque veluti quamdam concreationem“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 57). 128 „ex vi et debito praeexistentis actionis“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 57). 129 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 57. 130 Vgl. dazu Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 24f, und Zimmerman 1996, Indivisible Parts and Extended Objects, S. 159.

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fen.131 Seine Theorie ist also gerade im Hinblick auf eine Lösung des Problems des Kontaktes konzipiert worden. Dennoch stellen sich auch bei der Suárezianischen Theorie Schwierigkeiten ein, die denen des Problems des Kontaktes verwandt sind. Diese Schwierigkeiten tauchen in Bezug auf Unteilbare der Form oder der Qualität auf.

5.7.1 Unteilbare der Qualität und der substanziellen Form Oben wurde erläutert, dass es bei jeder ausgedehnten materiellen Substanz sowohl einen quantitativen Körper als auch einen exakt genauso strukturierten substanziellen Körper und exakt einander entsprechende quantitative und substanzielle Unteilbare gibt. In genau derselben Weise gibt es aber auch zu allen Qualitäten, die der ausgedehnten Substanz zukommen und mit ihr gemeinsam ausgedehnt sind, jeweils einen Körper der Qualität mit entsprechenden Unteilbaren. Suárez schreibt dazu: Weil zum Beispiel Weiße in einer Oberfläche kontinuierlich ausgedehnt ist, ist es notwendig, dass einem beliebigen Teil der Oberfläche der Teil der Weiße, der jenem anhaftet, korrespondiert, und dass in den die Teile der Oberfläche verbindenden Linien irgendetwas von der Weiße angenommen wird, das gemäß der Länge ausgedehnt ist, und nicht gemäß der Breite, damit die Teile der Weiße selbst vereinigt werden. […] Und entsprechend ist es in Bezug auf Wärme oder Licht, das kontinuierlich ausgebreitet wird durch einen Körper gemäß dessen Tiefe, notwendig, dass so, wie in den Teilen des Körpers Teile des Lichtes und der Wärme sind, auch in den Verbindenden des Körpers eigene Verbindende des Lichtes oder der Wärme sind, die zu ihren eigenen Gattungen oder Arten gehören […] Also ist es notwendig, dass, so wie den Teilen der Quantität Teile der Qualität korrespondieren, auch den Unteilbaren der Quantität Unteilbare der Qualität korrespondieren.132 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 52.

|| 131 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 11 und n. 12. Eine genauere Darstellung wurde bereits oben in Abschnitt 5.4 im Zusammenhang mit der Darstellung der zweiten Meinung gegeben. 132 „[…] quia albedo, verbi gratia, est continue extensa in superficie, necesse est ut in qualibet parte superficiei correspondeat pars albedinis illi inhaerens, et quod in lineis continuantibus partes superficiei intelligatur aliquid albedinis extensum secundum longitudinem et non secundum latitudinem, quo uniantur partes ipsius albedinis. […] Et proportionaliter, cum calor vel lumen continue extenditur per corpus secundum profunditatem eius, necesse est quod, sicut in partibus corporis sunt partes luminis et caloris, ita in continuativis corporis sint propria continuativa luminis vel caloris, ad sua propria genera vel species pertinentia […] Ergo necesse est ut, sicut partibus quantitatis correspondent partes qualitatis, ita indivisibilibus quantitatis correspondeant indivisibilia qualitatis.“

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Ähnliches gilt in Bezug auf substanzielle Formen. Suárez nennt als Beispiele die Form des Feuers, das sich durch eine brennbare Materie (z. B. Hanf oder Spreu) frisst, sowie die Vernunftseele als Form des menschlichen Körpers: Und dasselbe Argument betrifft entsprechend die substanzielle Form; denn auch der Zuwachs der Substanz geschieht kontinuierlich; wie die Form des Feuers kontinuierlich ausgebreitet wird oder anwächst in der Materie des Hanfes oder der Spreu, wie ich jetzt voraussetze. Und schließlich wird über die Vernunftseele in dieser Weise erklärt: denn jene ist im ganzen menschlichen Körper anwesend; sie ist also ganz nicht nur im ganzen Körper und in seinen einzelnen Teilen, sondern auch in allen seinen Enden oder Verbindenden; anders wäre deren Gegenwart nicht kontinuierlich und ohne Unterbrechung im ganzen Körper; sie ist auch nicht gegenwärtig, wenn sie nicht irgendwo informiert; also entspricht der ganzen Quantität und allen ihren Unteilbaren proportional irgendeine Materie, die durch die Seele informiert werden kann.133 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 53.

Es gibt also nicht nur quantitative und substanzielle Punkte, Linien und Oberflächen, sondern auch Punkte, Linien und Oberflächen der Qualität und der Form.

5.7.2 Das Problem des Kontaktes in Bezug auf ausgedehnte Qualitäten und Formen Suárez formuliert einen Einwand gegen die von ihm behauptete Existenz von Unteilbaren der Qualität und der Form: Diese dürften nicht zugelassen werden, denn sonst gäbe es gegensätzliche Qualitäten oder verschiedene Formen in demselben unteilbaren Subjekt, was aber unmöglich ist. Der Einwand wird an drei Beispielen konkretisiert.134 Als erstes Beispiel wird die kontinuierliche Oberfläche einer Wand vorgestellt, deren eine Hälfte vollkommen weiß und deren andere Hälfte vollkommen schwarz gefärbt ist. Die Oberfläche der Wand ist kontinuierlich, d. h. es gibt ein

|| 133 „Atque haec ratio eadem proportione urget in forma substantiali; nam etiam substantialis aggeneratio continue fit; ut forma ignis continue extenditur seu crescit in materia stuppae, aut paleae, ut nunc suppono. Ac denique in rationali anima in hunc modum declaratur: nam illa est praesens toti corpori humano; est ergo tota non solum in toto corpore et in singulis partibus eius, sed etiam in omnibus terminis seu continuativis eius; alias non esset eius praesentia continua et sine interruptione in toto corpore; non est autem praesens, nisi ubi informat; ergo sub tota quantitate et sub omnibus indivisibilibus eius proportionaliter respondet aliquid materiae, quod potest anima informari.“ 134 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 58.

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verbindendes quantitatives Unteilbares, das die beiden quantitativen Hälften der Oberfläche miteinander verbindet. Diesem quantitativen Unteilbaren müsste nun aber sowohl ein weißes als auch ein schwarzes qualitatives Unteilbares anhaften. Auch das zweite Beispiel bezieht sich auf Unteilbare der Qualität. Es wird ein Stück Holz genannt, das in der einen Hälfte einen anderen Grad von Wärme aufweist als in der anderen. An der die beiden quantitativen Hälften des Holzes verbindenden quantitativen Oberfläche müsste „zugleich Wärme und Kälte“ sein, und zwar das ganze Spektrum der Gradunterschiede zwischen der wärmeren und der kälteren Hälfte des Holzes, allerdings ohne dass die (gemäß der Tiefe unteilbare) Oberfläche auch zu jedem Wärmegrad einen entsprechenden Teil hätte.135 Das dritte Beispiel bezieht sich auf Unteilbare der substanziellen Form. Vorgestellt wird ein kontinuierlich ausgedehnter Zweig, der zum Teil grün und zum Teil trocken ist. Zu der die beiden Teile des Zweiges verbindenden quantitativen Oberfläche gibt es eine entsprechende materielle Oberfläche, die zugleich von beiden substanziellen Formen informiert sein müsste.136 An den drei von Suárez vorgestellten Beispielen erkennt man, dass es sich hier im Kern um eine dem Problem des Kontaktes verwandte Schwierigkeit handelt: Wie soll man miteinander in Kontakt stehende Qualitäten oder substanzielle Formen interpretieren? Suárez diskutiert hierzu zunächst einen möglichen Lösungsvorschlag, dem er aber schließlich doch nicht folgt. Dieser Vorschlag läuft darauf hinaus, in Bezug auf Unteilbare der Qualität schlichtweg zuzugestehen, dass an einem quantitativen Unteilbaren zwei Unteilbare unterschiedlicher Qualitäten anhaften können. Möglich sei dies angeblich deshalb, weil die Qualitäten von nichtsubstanziellen Formen herrührten und verschiedene nicht-substanzielle Formen nur dann widerstritten, wenn sie beide dieselbe ausgedehnte und teilbare Materie informieren. Sie widerstritten jedoch nicht, wenn sie sich nur in einem materiellen Unteilbaren berühren. In Bezug auf Unteilbare substanzieller Formen müsse dagegen daran festgehalten werden, dass zwei verschiedene substanzielle Formen nicht zwei Teile derselben kontinuierlichen Materie informieren können. Über den grünen und trockenen Zweig müsse man daher sagen,

|| 135 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 58 : „in superficie continuante erunt simul calor et frigus secundum totam illam intensionem, quamvis per aliquid indivisibile secundum extensionem.“. 136 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 58 :„[…] ut in eodem termino indivisibili materiae simul sint duae formae substantiales specificae secundum aliquid indivisibile extensive“.

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dass es sich hier eigentlich nicht um einen einzigen kontinuierlichen Zweig sondern vielmehr um zwei einander berührende Zweige handelt, da zwei verschiedene substanzielle Formen und somit auch zwei verschiedene Dinge vorliegen, die nicht kontinuierlich miteinander zusammenhängen. Somit gebe es auch keine gemeinsame materielle Oberfläche sondern vielmehr zwei koinzidierende materielle Oberflächen, und die Schwierigkeit löse sich auf.137 Vorgeschlagen wird also, diese Probleme ganz analog zum Problem des Kontaktes zweier Körper und somit im Sinne von Option 4 zu lösen, wobei in Kauf genommen wird, dass tatsächlich eine Linie sowohl weiß als auch schwarz sein kann und dass ein als kontinuierlich erscheinender Zweig in Wahrheit nicht kontinuierlich ist sondern dass hier zwei einander berührende Zweige vorliegen. Suárez lehnt diesen Lösungsvorschlag ab. Er zweifelt insbesondere daran, dass, wenn die Teile einer ausgedehnten Materie von verschiedenen substanziellen Formen informiert werden, dies notwendigerweise die Diskontinuität der Materie zur Folge haben muss. Er begründet seine Zweifel mit einem Blick auf den Fall, in dem eine der beiden substanziellen Formen kontinuierlich anwächst.138 Auf den Zweig übertragen wäre dies der Fall, wenn der Zweig beispielsweise kontinuierlich weiter austrocknet und so die „trockene“ Form kontinuierlich anwächst während zugleich die „grüne“ Form entsprechend kontinuierlich abnimmt. Jeweils in einem bestimmten Moment sei die zuwachsende Form bis zu einem bestimmten materiellen Unteilbaren vorgerückt, welches dann durch diese Form informiert werde, während die zurückweichende Form in diesem Unteilbaren bereits zerstört sei. Die Teile der Materie blieben dabei im Besitz eines gemeinsamen unteilbaren Endes. Daher liege an der Kontaktstelle der beiden substanziellen Formen auch nur ein materielles Unteilbares vor, und nicht zwei. Die Materie sei nach wie vor eine und kontinuierlich.139 Zwar könnten unterschiedlich geartete Formen tatsächlich nicht kontinuierlich miteinander verbunden sein, dies verhindere jedoch nicht das Bestehen einer kontinuierlichen Verbindung zwischen den (Teil-) Subjekten, in denen sich diese Formen befinden.140 Dennoch sei es korrekt, dass im Fall des grünen und trockenen Zweiges der Zahl nach insgesamt tatsächlich zwei Dinge vorliegen.

|| 137 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 59. 138 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 60. 139 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 60. 140 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 61: „quamvis formae specie differentes inter se continuae esse non possint, […] tamen, quod sint in subiectis partialibus habentibus inter se continuitatem, non repugnat.“

Suárez zum Problem des Kontaktes | 189

Suárez nutzt hier die Differenzierung der Materie in materia prima und materia proxima aus. Er schreibt dazu: Denn obwohl die materia prima eine der Verbindung nach ist, ist dennoch die materia proxima nicht eine, und das insbesondere, weil die numerische Einheit mehr aus der Form als aus der Materie genommen wird.141 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 63.

Im Fall des grünen und trockenen Zweiges liegen also zwei verschiedene Dinge vor, die miteinander in kontinuierlicher materieller Verbindung stehen. Um die Art und Weise, wie die beiden unterschiedlichen Formen in einem kontinuierlichen Subjekt miteinander in Kontakt stehen, genauer zu beschreiben, führt Suárez die Unterscheidung zwischen „intrinsischen“ und „extrinsischen“ Enden ein. Die Formen seien „quasi direkt benachbart“ („quasi contiguae“), jedoch so, dass die eine Form dort ein intrinsisches Ende habe, wo die andere bloß extrinsisch beendet sei.142 Auf das Problem des Kontaktes zwischen substanziellen Formen gibt Suárez damit schließlich die folgende Antwort: Von daher wird also leicht geantwortet auf die erwähnte Schwierigkeit der substanziellen Formen verschiedener Arten, die Teile derselben Materie informieren. Ich sage nämlich, dass in dem jene Teile der Materie verbindenden Ende nur eine von jenen beiden Formen ist, jene nämlich, zu deren Einführung die vis agentis intrinsisch berühren hat können. Die andere aber hat für jetzt kein intrinsisches Ende; und das ist nicht unpassend, weil es von der gegensätzlichen Form oder dem gegensätzlichen agens verhindert wird, dass es resultieren kann. Und so folgt nicht, dass eine Oberfläche in zwei Subjekten ist; denn in jenem die Teile der Materie vereinenden Ende ist nur das, was auch nur durch eine Form oder durch ein Ende einer Form informiert wird, wie gesagt worden ist.143 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 63.

|| 141 „Nam licet materia prima una sit continuatione, tamen materia proxima non est una, et maxime quia unitas numerica magis sumitur a forma quam materia.“ 142 „Quod vero sint in subiecto continuo nihil impedit, quia possunt partes subiecti inter se uniri, etiam si partes formae non uniantur, sed sint quasi contiguae, vel una terminetur extrinsece ubi alia intrinsece terminatur“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 61). 143 „Hinc ergo facile respondetur ad difficultatem tactam de formis substantialibus specie diversis informantibus partes eiusdem materiae. Dico enim in termino continuante illas partes materiae tantum esse alteram ex illis formis , illam, nimirum, ad cujus introductionem potuit vis agentis intrinsece attingere. Altera vero pro tunc caret intrinseco termino; neque hoc est inconveniens, quia impeditur a forma et agente contrariis, ne resultare possit. Atque ita non sequitur unam superficiem esse in duobus subiectis; nam solum est in illo termino uniente partes materiae, qui etiam sola una forma seu termino unius formae informatur, ut dictum est.“

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Man erkennt hier sehr deutlich, dass sich Suárez veranlasst sieht, eine Lösung nach Art von Option 2 vorzuschlagen. Er durchbricht damit die durch die aristotelische Unterscheidung von continuum und contiguum vorgegebene und von ihm bisher bevorzugte Zweiteilung in Lösungen nach Art von Option 1 und nach Art von Option 4. Statt einer symmetrischen Lösung, wie bei den Optionen 1 und 4, schlägt er hier nun eine asymmetrische Lösung vor. Diese Asymmetrie muss allerdings gesondert gerechtfertigt werden, denn es muss einen zureichenden Grund dafür geben, warum gerade die eine Form intrinsisch beendet wird und die andere nicht. Dieser Grund besteht nach Suárez in der „größeren vis agentis oder der Dispositionen“144. Dinge verschiedener Arten verlangten normalerweise, d. h. wenn sie in einem „naturgemäßen Zustand“145 sind, jeweils eigene Enden. Falls aber irgendein Wandel oder eine Vernichtung geschehe, gelte dies nicht mehr uneingeschränkt. Die Kraft eines externen agens könne verhindern, dass ein Ding ein eigenes intrinsisches Ende ausbildet.146 In ganz ähnlicher Weise antwortet Suárez auf das Problem des Kontaktes zwischen unterschiedlichen Qualitäten in derselben Materie. Er hält dabei daran fest, dass Qualitäten, die sich in dreidimensional ausgedehnten Körpern widersprechen, sich genauso auch in Oberflächen, Linien oder Punkten widersprechen müssen. Eine Linie könne also nicht zugleich weiß und schwarz sein und in einer Oberfläche könnten nicht gleichzeitig verschiedene Wärmegrade sein.147 Seine Lösung des Problems lautet wie folgt: Man muss also sagen, dass von jenen zwei Qualitäten die eine intrinsisch beendet wird, die andere extrinsisch, daher wird an jenem die Oberfläche verbindenden Ende das Ende der einen Qualität, zum Beispiel der Weiße, intrinsisch anhaften. Die andere Qualität aber wird dort kein eigenes Ende haben, sondern nur extrinsisch jenes berühren. Wenn aber ein Grund gesucht wird, warum eher die eine als die andere dort beendet wird, dann ist er in der Wirkursache zu suchen, offenbar weil die Wirkursache einer jener Qualitäten erfolgreicher als die andere jenes Ende berühren hat können, und nachdem jene Qualität so

|| 144 „In quo potest esse major ratio unius quam alterius, propter majorem vim agentis, seu dispositionum.“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 63). 145 „in statu connaturali“ (Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 63). 146 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 63. 147 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 64.

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gewirkt hat, widersteht sie auf formale Weise und verhindert, dass die andere dort ihr Ende einbringt. Und dies ist nicht einzigartig oder neu in der Physik der Veränderungen.148 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 65.

Suárez überträgt also die Lösung, die er in Bezug auf substanzielle Formen gefunden hat, nahezu eins zu eins auf den Fall von unterschiedlichen Qualitäten in derselben ausgedehnten Materie. Die Qualitäten würden jeweils von irgendeiner Wirkursache verursacht, und diese reiche jeweils immer genau bis zu einem bestimmten Unteilbaren, es sei denn, eine gegensätzliche Wirkursache verhindere dies.149 Abschließend geht Suárez noch auf einen weiteren Einwand gegen seine Lösung des Problems des Kontaktes in Bezug auf Formen und Qualitäten ein. Es handelt sich dabei um die bereits in Abschnitt 3.6 erläuterte Schwierigkeit, dass unklar ist, wie die beiden Formen bzw. Qualitäten miteinander verbunden sein können, wenn es weder einen gemeinsamen Teil noch koinzidierende Teile gibt. Suárez formuliert den Einwand so: Du wirst aber fragen, auf welche Weise jene Qualitäten oder Formen dann einander nahe (propinquae) sind, da sie nicht benachbart (contiguae) genannt werden können, weil sie keine äußersten Enden beisammen haben, und auch nicht verbunden (continuae) genannt werden können, weil sie kein gemeinsames Ende haben.150 Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 66.

Suárez antwortet darauf, indem er die Art des hier vorliegenden Kontaktes zunächst als verwandt zur contiguitas bezeichnet, da die beiden Formen „kein gemeinsames Ende haben und einander unvermittelt sind“.151 Es handele sich jedoch nicht um contiguitas im eigentlichen Sinne. Suárez nennt die beiden

|| 148 „Dicendum est ergo, ex illis duabus qualitatibus alteram terminari intrinsece, alteram vero extrinsece, unde in illo termino continuante superficiem intrinsece inhaerebit terminus unius qualitatis, albedinis, verbi gratia. Altera vero qualitas nullum habebit ibi proprium terminum, sed extrinsece tantum illuc attinget. Quod si ratio quaeratur cur potius una quam alia ita terminetur, ex causa efficienti petenda est, scilicet, quia causa efficiens unam illarum qualitatum potuit efficacius attingere illum terminum quam alia, et postquam illa qualitas ita effecta est, formaliter resistit et impedit ne altera illic introducat suum terminum. Neque hoc est singulare aut novum in physicis mutationibus;“ 149 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 65. 150 „Sed quaeres quomodo illae qualitates seu formae propinquae tunc sint, quia nec contiguae dici possunt, quia non habent ultimos terminos simul, nec continuae, quia non habent unum terminum communem.“ 151 „Potius ergo accedunt illae duae formae ad contiguitatem, quia non habent communem terminum, et sunt inter se immediatae.“ (Suárez, Disp. met., d. XL, s. 5, n. 66).

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Formen „unmittelbar zusammenhängend (cohaerentes)“ oder „einander nachfolgend (succedentes)“. Es sei nur dann notwendig, dass zwei unmittelbar miteinander in Kontakt stehende Gegenstände entweder nach Art der continuitas oder nach Art der contiguitas miteinander verbunden sind, wenn beide Gegenstände intrinsisch beendet sind. Jedes quantum per se habe stets ein intrinsisches Ende, daher können Quantität und Materie nur entweder kontinuierlich oder nach Art der contiguitas verbunden sein. Formen und Qualitäten seien jedoch quanta per accidens, und als solche könnten sie daran gehindert werden, ein intrinsisches Ende zu haben. In diesem Fall können sie auch auf eine dritte Art miteinander in Kontakt stehen.152 Hieran wird noch einmal sehr deutlich, dass Suarez für die Grenzen materieller Körper nur die Optionen 1 (continuitas) und 4 (contiguitas) vorsieht, während er für Qualitäten und Formen auch Option 2 zulassen muss.153

5.8 Zusammenfassung und Kritik der Suárezianischen Theorie der Grenzen Suárez wird in der modernen Rezeption als einer der Hauptvertreter einer sogenannten „closed-objects metaphysics“ genannt, nach der sämtliche ausgedehnte Gegenstände stets derart beschaffen sind, dass ihre Außengrenze ihnen jeweils als Teil angehört.154 Diese Einordnung ist sicherlich angemessen, denn es ist, wie gezeigt wurde, das zentrale Element der Suárezianischen Theorie, dass jeder Körper (zumindest unter natürlichen Umständen) stets eine vollständige, äußerste Oberfläche hat, welche ein „intrinsisches“ Ende des Körpers ist. Auch

|| 152 Vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 66. 153 Auf Option 3 geht Suárez nicht ein, auch wenn er mit der Differenzierung in extrinsische und intrinsische Enden die nötigen begrifflichen Ressourcen dazu gehabt hätte. Anderer Meinung sind hier Secada (Secada 2012) und evtl. auch Zimmerman (Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 16). Secada behauptet, dass Suárez die Möglichkeit des Kontaktes zweier extrinsisch beendeter Körper in Betracht gezogen hätte (Secada 2012, S. 81). Dies beruht meiner Ansicht nach aber auf einem Übersetzungsfehler. Secada übersetzt den Satz „neque est necesse ut omnia, quae sunt immediata, sint continua aut contigua, nisi utrumque sit intrinsece terminatum“ (Suárez, Disp. met., d. XL, s. 5, n. 66) durch „it is not necessary that all things immediately next to each other be continuous or contiguous, if each of the two is not intrinsically bound“ (Secada 2012, S. 81). Er setzt somit die Negation an die falsche Stelle. Korrekt wäre: „… if not each of the two is intrinsically bound“. Für die zweite Lesart spricht auch die Analyse des Kontextes des Originalsatzes, wie oben dargestellt wurde. 154 Vgl. Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 16f, sowie Hudson 2005, S. 48, Fn. 5.

Zusammenfassung und Kritik der Suárezianischen Theorie der Grenzen | 193

jeder dreidimensional ausgedehnte Teil eines Körpers hat stets eine diesen Teil beendende und ihn zugleich mit den benachbarten Teilen verbindende äußerste Oberfläche. Konsequenterweise wählt Suárez als Lösung des Problems der Zugehörigkeit der Grenze einen Ansatz, bei dem nur „abgeschlossene“, d. h. intrinsisch begrenzte Gegenstände vorkommen. Es handelt sich dabei um einen gemischten Ansatz, der die beiden Optionen 1 und 4 miteinander verknüpft. Suárez greift dabei die aristotelische Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten des Kontaktes zwischen ausgedehnten Gegenständen auf: continuitas und contiguitas. Je zwei benachbarte Teile eines Körpers haben eine gemeinsame Oberfläche. Suárez nennt einander auf diese Weise verbundene Teile „partes continuae“. Diese Art des Kontaktes entspricht Option 1. Bei zwei Körpern, die einander berühren, gibt es dagegen keine gemeinsame Oberfläche, sondern stattdessen zwei koinzidierende Oberflächen. Einander berührende Körper nennt Suárez „corpora contigua“. Diese Art des Kontaktes entspricht Option 4. In der modernen Literatur wird insbesondere auf die zuletzt genannte Art des Kontaktes hingewiesen, wenn von der Suárezianischen Theorie der Grenze die Rede ist.155 Die Hauptaspekte der Suárezianischen Theorie der Grenzen lassen sich somit durch die folgenden drei Aussagen zusammenfassen: 1. Jeder ausgedehnte Gegenstand hat eine äußerste, ihm als Teil zugehörige Grenze. 2. Zwei einander berührende, selbständige Körper haben koinzidierende Oberflächen. 3. Benachbarte, ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes haben eine gemeinsame Grenze, die ihnen als ein gemeinsamer Teil angehört. Die ersten beiden dieser drei Aussagen begründet Suárez durch Gedankenexperimente zum Kontakt zwischen idealen Körpern. Man kann daher sagen, dass zwei der drei Hauptaspekte der Suárezianische Theorie aus dem Bemühen stammen, eine befriedigende Antwort auf das Problem des Kontaktes zu geben. Die dritte Aussage stammt aus Überlegungen zur Natur des Kontinuums. Zwei einander benachbarte, ausgedehnte Teile eines kontinuierlich zusammenhängenden, ausgedehnten Gegenstandes sind genau deshalb miteinander verbunden, weil sie ihre Grenze als „dünnen“ bzw. „unteilbaren“ Teil gemeinsam ha-

|| 155 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1; Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 19, Fn. 31.

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ben. Die gemeinsame Grenze stellt die Verbindung her und ist zugleich das Ende des einen sowie auch das Ende des anderen Teiles. Die Stärken der Suárezianischen Theorie liegen somit darin, dass der Intuition von der Grenze eines Körpers als dünne, äußerste Oberfläche Genüge getan wird, dass das Problem des Kontaktes durch die Behauptung der Koinzidenz von Oberflächen recht elegant gelöst wird, und dass zumindest bei den inneren Grenzen der Doppelaspekt einer Grenze als sowohl zwei Gegenstände verbindende als auch jeden der beiden Gegenstände beendende Entität vollkommen richtig erkannt wird. Die Suárezianische Theorie der Grenzen ist jedoch auch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, von denen einige bereits von Suárez selbst erkannt worden sind. Dies führte dazu, dass er einige „Korrekturvorschläge“ anbringen musste, was nicht zuletzt zu einem etwas unübersichtlichen Gesamteindruck seiner Theorie geführt hat.

5.8.1 Von Suárez selbst behandelte Einwände gegen seine Theorie Von Suárez selbst erkannt wurde zum einen, dass das Problem der Spaltung seine Theorie vor erhebliche Schwierigkeiten stellt. Seine Erklärungsversuche, wie es möglich sein kann, dass bei jeder Spaltung substanzielle Unteilbare vernichtet werden und zugleich neue entstehen, können jedoch nicht recht überzeugen. Außerdem geht Suárez sehr breit auf eine Variante des Problems des Kontaktes ein, die sich daraus ergibt, dass vor allem die erste Art des Kontaktes (nach Art eines continuums) für eine Beschreibung des Falles, in dem zwei miteinander unvereinbare Qualitäten in einer kontinuierlichen Materie aneinanderstoßen, völlig ungeeignet ist: Ein gemeinsamer Teil müsste demnach zugleich und in derselben Hinsicht zwei einander widersprechende Eigenschaften haben. Suárez sieht sich hier gezwungen, eine dritte Art des Kontaktes einzuführen, die einer Lösung nach Option 2 entspricht: Nur einer der beiden in Kontakt stehenden Gegenstände verfügt über seine Grenze als Teil, der andere Gegenstand ist „offen“, bzw., Suárezianisch ausgedrückt, „extrinsisch begrenzt“. Auch wenn man zugeben muss, dass sein diesbezüglicher Lösungsvorschlag in seiner detaillierten Ausarbeitung zweifellos sehr scharfsinnig ist und er sich dabei ausgiebig aller Möglichkeiten bedient, die ihm die aristotelischscholastische Metaphysik und Naturphilosophie bieten, bleibt insgesamt der Eindruck, dass sein ursprüngliches Konzept hier an eine Grenze gestoßen ist. Er kann die Zweiteilung in continua und contigua letztlich nicht konsequent

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durchhalten. Darüber hinaus stellt die Asymmetrie der zusätzlich eingeführten Art des Kontaktes für Suárez ein enormes Erklärungsproblem dar. Hier muss er auf Argumente aus Naturphilosophie und Physik zurückgreifen, die zwar in einigen Fällen eine befriedigende Erklärung liefern mögen, in anderen jedoch eher willkürlich und ad hoc wirken. Wieso sollte beispielsweise bei der schwarzen und weißen Wand die Weiße in ihrer Wirkkraft der Schwärze überlegen sein? Wird schließlich auch noch der Aspekt der Stetigkeit der Naturkräfte (den Suárez zugegebenermaßen noch nicht kannte) hinzugenommen, dann ergeben sich darüber hinaus auch noch ähnliche Einwände wie in Bezug auf die in Kapitel 4 besprochene Theorie Bernard Bolzanos. Schließlich geht Suárez fast ganz am Ende seiner Abhandlung über Punkte, Linien und Oberflächen auf einen weiteren Einwand gegen seine Theorie ein. Es geht dabei um die Frage, auf welche Weise denn ein Unteilbares, das zwei ausgedehnte Teile miteinander verbindet bzw. einen ausgedehnten Teil beendet, mit diesem Teil in Kontakt steht. Konkret wird gefragt, wie denn ein Punkt, der zwei Linien miteinander verbindet, in Kontakt zu jeder der beiden Linien steht.156 Es ist klar, dass hier weder continuitas noch contiguitas in Frage kommen, denn es kann hier weder ein gemeinsames Unteilbares noch zwei koinzidierende Unteilbare geben. Suárez antwortet auf den Einwand, indem er erklärt, dass Punkt und Linie „keinen eigentlichen Kontakt“ haben, sondern „intrinsisch vereint“ werden.157 Er schreibt dazu: Der Punkt verbindet also die Teile der Linie, indem er sich auf unteilbare Weise ganz mit jedem von beiden vereint, er haftet nicht irgendeinem ganzen teilbaren Teil auf bestimmte Weise an, sondern ist jedem der beiden Teile aufs Nächste herantretend.158 Suárez, Disp. met., d. XL, s. 5, n. 67.

Beim Kontakt zwischen Punkt und Linie liegt also noch eine weitere, völlig anders geartete Art von Kontakt vor, auf die Suárez nur sehr knapp eingeht. Es handelt sich dabei jedenfalls um einen Kontakt, der weder durch eine dritte Entität noch durch koinzidierende Unteilbare verwirklicht wird, sondern der sich direkt und unmittelbar zwischen den beiden in Kontakt stehenden Gegen-

|| 156 Vgl. Suárez, Disp. met., d. XL, s. 5, n. 6 und n. 67 157 „[…] respondetur haec indivisibilia copulantia non proprie habere contactum ad partes quas continuant, sed illis intrinsece uniri.“ (Suárez, Disp. met., d. XL, s. 5, n. 67). 158 „Unit ergo punctum partes lineae indivisibiliter sese totum uniens utrique, non adhaerens toti alicui parti divisibili determinate, sed quasi intime assistendo utrique parti.“

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ständen unterschiedlicher Dimension vollzieht.159 Die Notwendigkeit, eine weitere, in gewisser Weise direktere Art von Verbindung zwischen einem ausgedehnten Quantum und einem Unteilbaren anzunehmen, ist nun aber fatal für das zentrale Argument, das Suárez für die Existenz von Punkten, Linien und Oberflächen angeführt hat. Die Existenz von Punkten wurde ja dadurch begründet, dass eine vollkommen runde Kugel eine vollkommen flache Ebene nur dann berühren kann, wenn es in der Kugel und in der Ebene jeweils einen Punkt gibt, deren Koinzidenz die Verbindung herstellt. Ist ein direkter Kontakt zwischen einem Punkt und einer Oberfläche oder zwischen einer Oberfläche und einem Körper möglich, dann könnte diese Art von Kontakt ja auch im Beispiel der auf der Ebene liegenden Kugel vorliegen. Es braucht dann zumindest einer der beiden Punkte nicht zu existieren und es ist dann auch keine Koinzidenz nötig, um den Kontakt zwischen Kugel und Ebene zustande zu bringen. Suárez formuliert den Einwand so: Jedoch kann es nicht geschehen, dass das Unteilbare das Teilbare berührt. Wenn man sagt, dass sie sich nicht in irgendetwas Bestimmtem berühren, und man auf diese Weise der Aussage nicht widerspricht, dass das Unteilbare das Teilbare berührt, (dann ist) gegen dieses […] insbesondere (anzuführen), dass diese Antwort den gewichtigen mathematischen Grund umstürzt, mit dem die Existenz des Punktes bewiesen zu werden pflegt, nämlich daraus, dass eine vollkommen runde Kugel eine vollkommen flache Ebene in einem Punkt berührt.160 Suárez, Disp. met., d. XL, s. 5, n. 6.

Als Antwort auf diesen Einwand bleibt Suárez nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass sein zentrales Argument dadurch erheblich geschwächt wird.161

|| 159 Vgl. dazu auch Zimmerman 1996 Could Extended Objects be Made Out of Simple Parts?, S. 15f. Zimmerman stellt diesbezüglich fest, dass Suárez diese Erkenntnis nicht völlig zufriedenstellte: “Suarez was somewhat disconcerted by this result.” (S. 16, Fn. 23). 160 „[…] at fieri non potest ut indivisibile divisibile tangat. Quod si dicas non tangere in aliquo determinato, et hoc modo non repugnare indivisibile tangere divisibile, contra hoc est […], quia haec responsio evertit potissimam rationem mathematicam qua probari solet dari punctum, scilicet, quia globus perfecte sphaericus tangit perfecte planum in puncto.“ 161 „Fateor tamen hoc argumentum non parum enervare rationem superius factam de tactu globi in punto, aut plani in superficie.“ (Suárez, Disp. met., d. XL, s. 5, n. 6).

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5.8.2 Von Dean Zimmerman vorgebrachte Einwände Man kann die Suárezianische Theorie aber auch bereits in ihrem Grundansatz kritisieren. Für Dean Zimmerman ist vor allem die grundlegende Zweiteilung in continua und contigua fragwürdig.162 Diese sei die Ursache für eine ganze Reihe von Problemen. Als erstes führt Zimmerman in diesem Zusammenhang den bereits oben erwähnten und für Suárez selbst unbefriedigenden Lösungsvorschlag für das Problem der Spaltung an: Suárez müsse annehmen, dass bei jedem Spaltungsvorgang eine verbindende Oberfläche vernichtet wird und zwei neue beendende Oberflächen entstehen, könne jedoch nicht schlüssig erklären, wie dies möglich sein soll. Zimmerman fügt dem noch einen weiteren, seiner Ansicht nach problematischen Aspekt hinzu: Es sei zu beachten, dass bei jeder Spaltung nicht nur zwei, sondern eine riesige Anzahl neuer Entitäten entstehe. Given the fact that there are as many points on a line or in a plane as there are in a threedimensional region, it follows, that every breakage produces enough simples out of nothing to fill the entire universe! Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 25.

Zimmermans zweiter Einwand besteht darin, dass Suárez zulassen muss, dass bestimmte Teile von Körpern zwar miteinander in Kontakt stehen, aber sich dennoch nicht im eigentlichen Sinne berühren. Er verweist hier u. a. auf die oben beschriebenen Schwierigkeiten mit einander widerstreitenden Qualitäten, die Suárez dazu zwängen, extrinsisch beendete ausgedehnte Teile von Körpern anzunehmen. Suárez müsse hier eine dritte Art der Verbindung annehmen, bei der es zwar keinen von Null verschiedenen räumlichen Abstand zwischen den Teilen gibt, bei der die Teile jedoch „weniger eng“ miteinander verbunden sind als bei Verbindungen nach Art von continuität und contiguität. Zimmerman drückt dies so aus: Closed objects in contact fit together more intimately than the open red part and the closed surrounding part of the sphere ever can, so the latter pair cannot be touching. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 25f.

Ein weiterer Einwand Zimmermans gegen die Suárezianische Theorie hängt mit der Reversibilität von Spaltungen zusammen. Zimmerman geht davon aus, dass || 162 Vgl. für das folgende Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 24ff und Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 159.

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Spaltungen zumindest in einigen Fällen reversibel seien. Dies sei allerdings in der Suárezianischen Theorie der continua und contigua nicht vorgesehen. Zimmerman schreibt: Suarez’s metaphysics has highly paradoxical implications. Should not the processes of breaking something in half and then putting the two halves back together at least sometimes be simple mirror images of one another? According to Suarez, two continuous halves, when separated, become two closed objects. The two pieces can thereafter only be contiguous with one another – unless we are to suppose that there is some mechanism whereby one of the newly created skins may be destroyed, absorbed, or scraped off, allowing the contiguous halves to become continuous once more. Can Suarez legitimately introduce a process of division-in-reverse which produces continuous objects out of contiguous ones, or must he admit that, on his view, division is an irreversible process? To accept the irreversibility of breakage would be to adopt a kind of ‘Humpty-Dumpty theory’: once a continuous object falls and ‘cracks’, the broken parts can never be put back together again to form a continuous whole. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 26.

Um die für Zimmerman höchst unplausible „Humpty-Dumpty-Theorie“ zu vermeiden, müsse Suárez zugeben, dass einander berührende Körper manchmal zu einem kontinuierlichen Ganzen „zusammenwachsen“. Da aber die Spaltung, also der Übergang von einer gemeinsamen Grenze zu zwei koinzidierenden Grenzen offensichtlich nicht empirisch nachweisbar sei, müsse konsequenterweise auch der umgekehrte Vorgang, also der Übergang von zwei koinzidierenden Grenzen zu einer gemeinsamen Grenze, empirisch nicht nachweisbar sein. continua und contigua seien daher prinzipiell empirisch nicht voneinander unterscheidbar: [T]he difference between continuous bodies and contiguous bodies becomes in principle indiscernible. In order to retain the reversibility of breakage, Suarez must say that whenever two objects are brought into contact they are either continuous or contiguous, but we cannot possibly tell which. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 27.

Zimmermans Fazit lautet: Suarez’s distinction between continuity and contiguity is both empirically ungrounded and (more importantly) metaphysically disastrous. It does no work and leads to the strange consequences just described: infinities of simples created at every turn, and parts

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that cannot get closer together but yet are not quite touching. Surely Suarez is trying to sell us a difference without a difference here, and one we do best to eschew. Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 27. So Suarez’s theory ends up implying an in principle undetectable difference between pairs of objects in contact: some merely share boundary parts and others have coincident but distinct boundary parts; and objects can go back and forth from one kind of contact to the other, for no empirical or metaphysical rhyme or reason. Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects, S. 159.

Zur Verteidigung der Suárezianischen Theorie gegen Zimmermans Einwände könnte man anführen, dass die Unterscheidung zwischen der Art des Kontaktes bei miteinander kontinuierlich verbundenen ausgedehnten Teilen eines Körpers und der Art des Kontaktes bei zwei einander berührenden Körpern durchaus auf einer nachvollziehbaren Intuition gründet. Im Kern geht es dabei darum, zwischen Körpern und beliebigen Teilen dieser Körper zu unterscheiden. Will man beispielsweise im Sinne einer Alltagsontologie daran festhalten, dass nur ganze, selbständige Körper im eigentlichen Sinne Dinge sind, während beliebige räumliche Teile eines solchen Körpers nicht als Dinge zählen, dann liegt es nahe, die Art der Verbindung zweier ausgedehnter Gegenstände als die entscheidende Bedingung dafür anzusehen, ob es sich bei den beiden fraglichen Gegenständen um zwei Teile eines Dinges oder um zwei selbständige Dinge handelt. Dieser Unterschied in der Art der Verbindung wird durch die Suárezianische Theorie sehr gut beschrieben. In dieser Sichtweise ist zudem auch intuitiv gut nachvollziehbar, dass der Prozess der Spaltung eines Dinges nicht ohne weiteres umkehrbar ist. Es ist nämlich einerseits klar, dass bei der Teilung eines ausgedehnten Dinges zwei ausgedehnte Dinge resultieren. Es ist andererseits aber sehr viel weniger plausibel, dass allein durch den räumlichen Kontakt zweier Dinge diese beiden Dinge bereits zu einem einzigen Ding zusammengewachsen sein sollen. Die „Humpty-Dumpty-Theorie“ ist in dieser Betrachtungsweise also recht gut nachvollziehbar. Auch scheint es nicht zwingend notwendig, dass sich der Unterschied zwischen den beiden Arten von Kontakt auch empirisch feststellen ließe. Die grundlegende Zweiteilung in continua und contigua stellt in diesem Lichte betrachtet eine durchaus angemessene Beschreibung der Wirklichkeit dar. Es ist also nicht unbedingt die prinzipielle Zweiteilung in zwei verschiedene Arten des Kontaktes, die hier problematisch ist, sondern vielmehr die konkrete Ausgestaltung, die diese beiden Arten des Kontaktes in der Suárezianischen

200 | Francisco Suárez über Punkte, Linien und Oberflächen

Theorie aufweisen. Hier hat Zimmerman auf einige sehr problematische Aspekte hingewiesen.

5.8.3 Kritik im Lichte des im ersten Teil entwickelten systematischen Rahmens Im ersten Teil dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die These, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, höchst problematisch ist. Suárez stützt seine Theorie aber genau auf diese These: Dreh- und Angelpunkt seiner Ausführungen ist die Behauptung, dass Punkte, Linien und Oberflächen tatsächlich existieren und in den Körpern sowohl an deren Außenseiten als auch im Innern als Bestandteile enthalten sind. Viele der problematischen Aspekte der These von den Grenzen als Teilen lassen sich auch am Beispiel der Suárezianischen Theorie wiederfinden. Werden Grenzen als Teile ausgedehnter Gegenstände angesehen, dann können die zu Beginn der Arbeit vorgestellten vier Grundintuitionen nicht mehr alle zugleich in angemessener Weise berücksichtigt werden. Das zeigt sich auch in der Suárezianischen Theorie: a) Abhängigkeit. Der Intuition, dass eine Grenze stets von etwas anderem abhängig ist, wird die Suárezianische Theorie durch die Deutung von Grenzen als (Bestand-)Teilen ausgedehnter Gegenstände zunächst recht gut gerecht. Allerdings zeigt sich, dass Suárez den Punkten, Linien und Oberflächen eine sehr große Eigenständigkeit zugestehen muss, so dass er schließlich sogar darüber spekuliert, dass Oberflächen durch göttliche Kraft auch ohne den Körper, den sie begrenzen, im Sein erhalten werden könnten. Diese Oberflächen wären dann von keinem anderen Gegenstand mehr abhängig, allerdings wären sie auch keine Grenzen mehr. Man könnte nun zwar sagen, dass Oberflächen insofern sie Grenzen sind weiterhin abhängige Entitäten bleiben. Allerdings spricht die Möglichkeit, dass Oberflächen getrennt von den Körpern weiter existieren können, doch eindeutig dafür, dass die Intuition Abhängigkeit in der Suárezianischen Theorie nur in einem schwachen Sinne verwirklicht ist. b) Trennung. Die Intuition, dass eine Grenze zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander trennt, spielt für Suárez keine Rolle. Verschiedene Gegenstände sind bereits dadurch voneinander getrennt, dass es eben verschiedene Gegenstände sind. Die Grenze trägt nichts zur Unterscheidung bei. Insbesondere bei continuativen Grenzen wäre dies auch nicht möglich. Eine Grenze als gemeinsamer Teil kann nur schwerlich als trennende Grenze interpretiert werden. c) Verbindung. Der Intuition Verbindung werden die continuativen Grenzen dagegen sehr gut gerecht. Auch die koinzidierenden Grenzen bei contigua kann

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man als verbindende Grenzen interpretieren, wenn auch hier eine schwächere Art der Verbindung vorliegt. Schwieriger ist es, eine extrinsisch begrenzte substanzielle Form oder Qualität als mit dem entsprechenden intrinsisch begrenzten Gegenstück verbunden anzusehen. Dies gelingt nur, weil dabei stets eine darunterliegende, materielle continuative Grenze angenommen wird. Es gibt jedoch auch Grenzen, die von Suárez explizit als nicht-verbindende Grenzen gekennzeichnet werden: die Außengrenzen separat vorliegender Körper. Die äußersten Oberflächen der Körper seien rein terminativ und nicht continuativ. Suárez muss hier die von ihm sonst konsequent durchgehaltene Behauptung, dass Grenzen stets sowohl beendend als auch verbindend sind, einschränken. d) Ende. Sieht man von den nur durch übernatürliche Einwirkung möglichen abgetrennten Oberflächen ab, sind alle Suárezianischen Grenzen Enden. Suárez benutzt sehr häufig das Wort terminus, um Punkte, Linien und Oberflächen zu bezeichnen. Allerdings muss er in Bezug auf die Grenzen von ausgedehnten Qualitäten und substanziellen Formen auch von ihm so genannte „extrinsische Enden“ zulassen. Diese Enden gehören dem Gegenstand, den sie beenden, nicht als Teil an, sondern sind Teil der Umgebung des Gegenstandes. Es muss hier also differenziert werden, was genau jeweils unter einem „Ende“ zu verstehen ist. Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass die Suárezianische Theorie der Intuition Ende sehr gut gerecht wird. Das Problem der Zugehörigkeit der Grenze entsteht, wenn man davon ausgeht, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, und Situationen betrachtet werden, in denen eine Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen beschrieben werden soll. Es ergeben sich dabei die vier bekannten Lösungsoptionen. Jede der vier Optionen hat individuelle Stärken und Schwächen in Bezug auf die Probleme der Spaltung und des Kontaktes. „Gemischte“ Lösungsansätze können die individuellen Stärken verschiedener Optionen kombinieren und die Schwächen dabei abmildern. Genau dies gilt auch für den Suárezianischen Ansatz. Oben wurde ausführlich gezeigt, dass Suárez sich für einen gemischten Ansatz aus den Optionen 1 und 4 entscheidet. Er kann dies jedoch nicht konsequent durchhalten, da er im Zusammenhang mit einem Spezialfall des Problems des Kontaktes zu einer Lösung gemäß Option 2 gezwungen ist. In Bezug auf das Problem der Spaltung zeigen sich noch größere Schwierigkeiten: Bei einer Spaltung müssten substanzielle Unteilbare vernichtet werden und neue substanzielle Unteilbare entstehen, was wenig plausibel ist. Zum Ende des ersten Teils der Arbeit wurde festgestellt, dass Vertreter von gemischten Lösungsansätzen häufig dazu neigen, eine Vielzahl von Differenzierungen einzuführen, was oft zu einem unübersichtlichen Ergebnis führt, welches vor allem auch im Hinblick auf das Ziel, die grundlegenden Merkmale von

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Grenzen im Allgemeinen aufzudecken, wenig hilfreich ist. Die Suárezianische Theorie scheint hierfür ein augenfälliges Beispiel zu sein. Bei einigen Rezipienten hat sie jedenfalls den Eindruck der Unübersichtlichkeit und mangelnden Plausibilität hinterlassen. Neben der bereits zitierten Kritik von Dean Zimmerman ist in diesem Zusammenhang insbesondere das vernichtende Fazit zu nennen, das Léon Mahieu über die Suárezianische Theorie der Grenzen zieht. Er kritisiert insbesondere die zu große Selbständigkeit, die Punkte, Linien und Oberflächen bei Suárez genießen, als einen „übertriebenen Realismus“, der ihn in der Folge dazu gebracht habe, eine höchst fremdartige und inkohärente Theorie zu vertreten: Rien de bizarre, nous semble-t-il, comme le réalisme exagéré dont fait preuve ici Suarez. Nulle part, croyons-nous, son désir d’englober dans une solution unique les vérités ou parcelles de vérité qu’il croyait découvrir en chaque système, ne l’a amené à des solutions plus étranges et moins cohérentes. Mahieu 1921, S. 311.

Nun sollte man zugeben, dass der fremdartige Eindruck, den die Suárezianische Theorie in heutiger Betrachtung erzeugt, zu einem erheblichen Teil auch einfach auf die „metaphysische Einkleidung“163 zurückzuführen ist, in der Suárez seine Theorie formuliert hat. Wie in Abschnitt 5.1 betont wurde, ist beispielsweise der für Suárez zentrale Begriff der Quantität bzw. des Quantums von der heutigen Vorstellung quantitativer Dinge relativ weit entfernt. Versucht man, von dieser Fremdartigkeit der spätscholastischen Metaphysik abzusehen, dann bleibt festzuhalten, dass Suárez auf der Grundlage der These, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, ein weitgehend konsistenter und vor allem den Schwierigkeiten nicht vorschnell ausweichender Lösungsvorschlag gelungen ist. Dass Suárez trotz seines Problembewusstseins und der Kreativität seines Vorschlages dennoch selbst zugeben muss, dass an einigen zentralen Stellen diverse Schwierigkeiten ungelöst bleiben, spricht sehr dafür, dass es hier nicht mehr um kleinere Korrekturen gehen kann, sondern dass vielmehr die Grundthese von den Grenzen als Teilen zu überdenken ist. Diesem Gedanken scheint auch Suárez ganz zum Ende seines Textes nahe gekommen zu sein, wenn er auf die Frage, wie denn ein Punkt, der ein gemeinsamer Teil zweier aneinander grenzender Linien ist, mit jeder der beiden Linien verbunden ist, keine befriedigende Antwort mehr findet, und dadurch sein Hauptargument für die Existenz

|| 163 Bergmann 1909, S. 208.

Zusammenfassung und Kritik der Suárezianischen Theorie der Grenzen | 203

der Punkte, Linien und Oberflächen, die als „verae res“ in den Körpern enthalten sind, erheblich gefährdet sieht.

| Teil 3: Die moderne Debatte

6 Überblick über die moderne Debatte Einen ausführlichen Überblick über die moderne Debatte zur Ontologie der Grenzen, sowohl auf den räumlichen, als auch den zeitlichen und den abstrakten Gegenstandsbereich bezogen, bietet der Artikel „Boundary“1 in der Stanford Encyclopedia of Philosophy. Der Autor Achille Varzi gliedert darin die Debatte in vier Problemfelder:2 1. Owned vs. Unowned Boundaries 2. Natural vs. Artificial Boundaries 3. Sharp vs. Vague Boundaries 4. Bodiless vs. Bulky Boundaries Es ist unschwer zu erkennen, dass sich das erste Problemfeld auf das in der vorliegenden Arbeit so genannte Problem der Zugehörigkeit der Grenze bezieht. Ausgangspunkt ist dabei laut Varzi die folgende Intuition: „a boundary separates two entities (or two parts of the same entity), which are then said to be continuous with each other”3. Varzi bringt als illustrierendes Beispiel für das Problem die Frage, zu welchem Staat die Mason-Dixon-Linie gehöre, welche Maryland von Pennsylvania trennt. Weitere Beispiele sind die Grenze zwischen Wasser und Luft bei einem See (Leonardo da Vinci4) und die Grenze zwischen einem schwarzen Fleck und seinem weißen Hintergrund (Suárez5 und C. S. Peirce6). Eine mögliche Antwort sei eine Figur/Hintergrund-Unterscheidung mit der Festlegung, dass die Grenze stets zur Figur gehört.7 Dieses Vorgehen sei aber in vielen Fällen fragwürdig. Man könne beispielsweise mit der Annahme „that all entities of the same sort be treated alike“8 begründen, dass alle materiellen Körper jeweils im Besitz ihrer eigenen Grenze seien. Dann sei es allerdings frag-

|| 1 Varzi 2013. Vgl. auch Nikolov 2009 (dies ist im Wesentlichen eine nahezu wortgleiche Wiedergabe einer älteren Fassung von Varzi 2013). 2 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 1. 3 Varzi 2013, Abschnitt 1.1. 4 Vgl. Leonardo da Vinci 1940, S. 12f. 5 Vgl. Suárez Disp. met. d. XL, s. 5, n. 58. Tatsächlich geht es bei Suárez um eine zur Hälfte schwarze und zur Hälfte weiße Oberfläche einer Wand. 6 Vgl. Peirce 1933, S. 98. 7 Varzi verweist hier auf Jackendoff 1987. 8 Varzi 2013, Abschnitt 1.1.

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lich, wie solche Körper miteinander in Kontakt kommen können, wenn sie sich nicht durchdringen sollen. Insbesondere in dieser Form werde die Frage breit diskutiert.9 In Bezug auf zeitliche Grenzen erinnert Varzi an das klassische Beispiel von Aristoteles: „When a moving object comes to rest, is it in motion or is it at rest?“10 Selbst dann, wenn man sage, dass es Bewegung oder Ruhe nur in ausgedehnten Intervallen und nicht in einem nicht-ausgedehnten Moment geben könne, bliebe die Frage bestehen, ob der Moment des Übergangs zu dem Bewegungs-Intervall oder zu dem Ruhe-Intervall gehöre. Auch hierzu gebe es eine breite Diskussion.11 Das zweite Problemfeld hänge mit der heute verbreiteten Einschätzung zusammen, dass materielle Gegenstände in Wirklichkeit nicht kontinuierlich seien, sondern vielmehr aus einem Schwarm von subatomaren Partikeln bestünden, denen keine exakte Gestalt und Position zugesprochen werden könne. Somit seien auch die Grenzen makroskopischer, materieller Gegenstände nicht exakt definiert.12 Das Problem der Zugehörigkeit der Grenze entstehe daher erst gar nicht.13 Es stelle sich dann aber sogleich die Frage nach dem ontologischen Status von Grenzen: „Is our boundary talk a mere façon de parler?“14 Varzi führt hier die durch Barry Smith15 geprägte Unterscheidung in bona fide-Grenzen und fiat-Grenzen ein. Natürliche oder bona fide-Grenzen sind in geweisser Weise objektiv, sie gründen in einer physikalischen Diskontinuität oder einer qualitativen Heterogenität zwischen einer Entität und deren Umgebung. Künstliche oder fiat-Grenzen beruhen dagegen nicht auf der autonomen, vom menschlichen Geist unabhängigen Welt, sondern auf der „organizing activity of our intellect“16 oder auf unserer sozialen Praxis. Die Mason-Dixon-Linie ist offensichtlich ein Beispiel für eine fiat-Grenze. Genauer betrachtet zeige sich aber, dass beispielsweise auch die Oberflächen von Äpfeln und Tischen nicht frei von „fiat articulations“17 seien. Man könne daher fragen, ob es überhaupt irgendwelche bona fide-Grenzen gebe. Falls sich herausstelle, dass es ausschließlich fiatGrenzen gebe, könne man damit eine antirealistische Haltung in Bezug auf

|| 9 Varzi verweist hier auf Kline und Matheson 1987, Hazen 1990, Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts? und Kilborn 2007. 10 Varzi 2013, Abschnitt 1.1. 11 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 1.1. 12 Varzi verweist dazu auf Simons 1991, S. 91. 13 Varzi verweist hier u. a. auf Smith, S. 2007. 14 Varzi 2013, Abschnitt 1.2. 15 Smith, B. 1994. 16 Varzi 2013, Abschnitt 1.2. 17 Varzi 2013, Abschnitt 1.2.

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Grenzen rechtfertigen. In der Folge würden dann auch konventionalistische Theorien in Bezug auf gewöhnliche Gegenstände und Ereignisse an Plausibilität gewinnen: „Insofar as (part of) the boundary of a whole is of the fiat sort, the whole itself may be viewed as a conceptual construction“18. Durch fiat-Grenzen begrenzte Gegenstände erhielten zumindest ihre Individualität erst als Resultat unseres fiat, etwa wie bei Keksen, die aus einem Teig ausgestochen werden: Die Objektivität der Kekse sei unabhängig, ihre Individualität jedoch abhängig von der Tätigkeit des Bäckers.19 Die Frage, ob Grenzen exakt („sharp“) oder vage sind, steht im Zentrum eines dritten Problemfeldes innerhalb der modernen Debatte über Grenzen. Als Beispiele für Gegenstände mit vagen räumlichen Grenzen führt Varzi Wolken, Wüsten, Berge und Figuren auf einem impressionistischen Kunstwerk an. Im zeitlichen Bereich könne man beispielsweise bei der industriellen Revolution nicht exakt sagen, wann sie begann und wann sie endete. Auch Begriffe wie „kahlköpfig“ oder „Haufen“ seien nicht exakt begrenzt. Vagheit könne zum einen rein epistemisch verstanden werden. Man könne aber alternativ dazu auch zwischen Vagheit de re und Vagheit de dicto unterscheiden, d. h. zwischen einer ontologischen und einer linguistischen bzw. begrifflichen Deutung der Vagheit. Vagheit de dicto passe besser zu fiat-Grenzen, Vagheit de re passe dagegen besser zu bona fide-Grenzen.20 Ausgangspunkt für das vierte Problemfeld ist die verbreitete Intuition, „that boundaries are lower-dimensional entities, i.e., have at least one dimension fewer than the entities they bound“21. Beispielsweise sei die Oberfläche einer Kugel zweidimensional (sie habe keinen „divisible bulk“), die Mason-DixonLinie sei eindimensional (sie habe „Länge“ aber keine „Breite“), und die Spitze eines Kegels sei nulldimensional (d. h. in keiner Richtung ausgedehnt). Diese Intuition widerspreche nun aber einer Reihe von davon unabhängigen weiteren Intuitionen. Beispielsweise gebe es eine traditionelle Ansicht in Bezug auf das menschliche Erkennen materieller Gegenstände, nach der wir diese nur indirekt sehen können, nämlich indem wir deren Oberflächen sehen. Wie könne man aber etwas sehen, das keine dreidimensionale, materielle Ausdehnung („physical bulk“) hat? Außerdem sprächen wir häufig von Oberflächen wie von materiellen Gegenständen, die körnig oder feucht sein können, und die zerkratzt,

|| 18 Varzi 2013, Abschnitt 1.2. Varzi verweist hier auch auf Smith und Varzi 2000, sowie auf Smith, B. 2001. 19 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 1.2. Varzi verweist hier u. a. auf Varzi 2011. 20 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 1.3. 21 Varzi 2013, Abschnitt 1.4.

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poliert, geschliffen werden können, usw. Es sei unklar, ob solche Prädikate überhaupt auf immaterielle Gegenstände zutreffen können. Hier läge es näher, Oberflächen (und Grenzen im Allgemeinen) als dreidimensionale „dünne Schichten“ („thin layers“) anzusehen, die durch niedrigdimensionale Gegenstände lediglich schematisiert werden könnten.22 Manche Autoren sähen hierin eine irreduzible Ambiguität in unserer Alltagssprache.23 Vorgeschlagen werde aber auch, dass hier eigentlich zwei Konzeptionen von Grenzen vorliegen, von denen nur die eine von den Problemen 1 bis 3 betroffen sei, während die andere frei von diesen Problemen sei: „bulky boundaries can be treated as ordinary, extended parts of the bodies they bound“24. Eine allgemeine Theorie der Grenzen sollte sich aber dennoch mit beiden Konzepten und mit deren wechselseitigem Verhältnis beschäftigen.25 Verwandt sei das vierte Problemfeld darüber hinaus auch mit der Frage, ob es „extended simples“, d. h. mereologisch einfache, aber dennoch ausgedehnte Gegenstände, geben könne. Falls dies der Fall sei, dann seien auch Grenzen möglich, deren mereologische Struktur nicht vollkommen mit der mereologischen Struktur des Teiles des Raumes, den sie jeweils einnehmen, übereinstimmt. Eine punktförmige Grenze könne dann beispielsweise in dem Sinne punktförmig sein, dass sie keine echten Teile hat, sie könne zugleich aber dennoch eine ausgedehnte Region des Raumes einnehmen.26 Varzi fasst seinen Gesamteindruck von der heute diskutierten Problematik in Bezug auf Grenzen wie folgt zusammen: „So boundaries are, on the one hand, central to the common-sense picture of the world and yet, on the other, deeply problematic.“27 Die verschiedenen in der Debatte vertretenen Theorien zur Ontologie der Grenzen teilt Varzi in zwei Arten ein, abhängig davon, ob versucht wird, die Probleme direkt zu lösen („realist theories“), oder ob die Probleme umgangen werden, indem Grenzen als fiktionale Abstraktionen behandelt werden („eliminativist theories“).28

|| 22 Varzi verweist hier auf Jackendoff 1991. 23 Varzi verweist hier auf Stroll 1988. 24 Varzi 2013, Abschnitt 1.4. 25 Varzi verweist hier auf Galton 2007. 26 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 1.4. 27 Varzi 2013, Abschnitt 2. 28 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.

Realist theories | 211

6.1 Realist theories Unter den „realist theories“ bespricht Varzi ausschließlich solche, die Grenzen als „lower-dimensional entities“ ansehen. Die meisten dieser Theorien stimmten in der Ansicht überein, dass Grenzen „ontological parasites“ seien: „points, lines, and surfaces cannot be separated and cannot exist in isolation from the entities they bound“.29 Dahinter stünde die Intuition, dass Grenzen irgendwie „weniger real“ seien als dreidimensional ausgedehnte Gegenstände („bulky entities“). Diese Intuition habe eine lange Tradition und wurde u. a. von Aristoteles, Boethius, Abaelard, Brentano30 und Chisholm31 vertreten. Die realistischen Theorien unterschieden sich darin, wie sich diese ontologisch abhängigen, niedrigdimensionalen Grenzen zu den Gegenständen verhalten, deren Grenzen sie sind. Im Hinblick auf das erste Problemfeld unterscheidet Varzi vier Hauptansichten, die genau den in der vorliegenden Arbeit besprochenen vier Lösungsoptionen für das Problem der Zugehörigkeit entsprechen.32 Als Vertreter der Option 3, d. h. der Ansicht, dass die Grenze „neutral“ sei, führt Varzi Leonardo da Vinci33 an. Heute werde diese Option kaum noch vertreten.34 Option 2, d. h. die Ansicht, dass die Grenze genau einem von zwei aneinander grenzender Gegenstände zugeordnet werden müsse, führt Varzi auf Bernard Bolzano35 zurück. Dies sei zugleich die Sichtweise der Standard-Punktmengentopologie. Varzi fügt hier eine Variante an: Mit Hinweis auf eine semantische oder epistemische Unbestimmtheit könne man im Einzelfall die konkrete Frage, welchem von zwei Gegenständen die Grenze zugeordnet werden soll, unbeant-

|| 29 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1. Wie man unschwer erkennen kann, handelt es sich dabei um die in der vorliegenden Arbeit als Grundintuition Abhängigkeit bezeichnete Intuition. Die Ansicht des Suárez, dass Gott Grenzen abtrennen und separat im Sein erhalten könne, führt Varzi hier als Ausnahme an. 30 Brentano 1976. 31 Chisholm 1983. 32 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1. Varzi wählt eine andere Reihenfolge und Nummerierung. Im Folgenden werden, abweichend von Varzi, die im ersten Teil der vorliegenden Arbeit gewählten Bezeichnungen „Option 1“ bis „Option 4“ verwendet. 33 Leonardo da Vinci 1970, S. 29; vgl. auch Leonardo da Vinci 1940, S. 12f, S. 269 und S. 472. 34 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1, Nr. 1. Varzis Einschätzung ist hier nicht im vollen Sinne zuzustimmen. Man kann zumindest den sehr einflussreichen Artikel von Richard Cartwright (Cartwright 1975) so deuten, dass darin eine Lösung nach Option 3 vertreten wird. 35 Varzi verweist hier direkt auf Bolzanos Paradoxien des Unendlichen (PdU).

212 | Überblick über die moderne Debatte

wortet lassen. Eine solche Theorie wurde von Varzi und Roberto Casati36 ausgearbeitet.37 Die Ansicht, dass die Grenze zu beiden Gegenständen gehört (Option 1), hält Varzi für die Ansicht des Aristoteles. In einigen Fällen beinhalte diese Ansicht allerdings ein „dialethic biting of the bullet“38. Ein möglicher Ausweg sei hier, zu behaupten, dass Grenzen als niedrigdimensionale Gegenstände nicht dieselben Arten von Eigenschaften haben können wie die Körper, deren Grenzen sie sind.39 Die Behauptung, dass es im Fall zweier aneinander grenzender Gegenstände zwei koinzidierende Grenzen gebe (Option 4), führt Varzi zurück auf Suárez40, Brentano41 und Chisholm42. Problematisch sei hier ein möglicher Verstoß gegen die Undurchdringlichkeit materieller Gegenstände, was jedoch dadurch beantwortet werden könne, dass niedrigdimensionale Gegenstände keinen ausgedehnten Raum einnehmen würden („do not take up any space“). Mit diesem Ansatz habe sich insbesondere Barry Smith43 auseinandergesetzt.44 Varzi hält die vier Optionen für einander wechselseitig ausschließend. Es könnte seiner Meinung nach auch noch weitere Optionen geben, jedoch führt er diesen Gedanken nicht weiter aus.45 Durch detailliertere Ausformulierung der Optionen könne auch auf die übrigen eingangs genannten Problemfelder eingegangen werden. Zusammen mit Barry Smith46 habe Varzi einen gemischten Ansatz entwickelt, der die Optionen 2 und 4 kombiniere und dadurch bona fideund fiat-Grenzen unterschiedlich beschreiben könne und auch eine Antwort auf das Problem der Vagheit ermögliche. Hud Hudson47 schlage dagegen eine Kombination aus den Optionen 1, 2 und 3 vor. Weitere Varianten seien denkbar. Schließlich gebe es auch noch die Möglichkeit, „to reject the mereotopological || 36 Casati und Varzi 1999, Kap. 5; und Varzi 2007. 37 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1, Nr. 2. 38 Varzi 2013, Abschnitt 2.1, Nr. 3. Varzi bezieht sich hier auf die parakonsistente Logik von Graham Priest. Einen solchen Ansatz verfolgen auch Zach Weber und Aaron Cotnoir (Weber und Cotnoir 2015). 39 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1, Nr. 3. 40 Suárez, Disp. met., d. XL. 41 Brentano 1976. 42 Chisholm 1983 und Chisholm 1992/93. 43 Smith, B. 1997. 44 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1, Nr. 4. Auch Dean Zimmerman zeigt in seinen beiden Artikeln von 1996 starke Sympathien für Option 4. 45 Im Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, dass die Optionen vollständig sind. 46 Smith und Varzi 2000. 47 Hudson 2005.

Eliminativist theories | 213

setting that leads to the taxonomy above“, um auf diese Weise die Notwendigkeit zur Wahl einer der vier Optionen zu umgehen.48 Varzi verweist hier auf einen Vorschlag von Breysse und De Glas.49

6.2 Eliminativist theories Unter der Bezeichnung „eliminativist theories“ führt Varzi Theorien an, die auf je unterschiedliche Weise beinhalten, dass „talk of boundaries involves some sort of abstraction“50. Je nachdem, ob eine substanzialistische Raumzeit angenommen werde oder nicht, unterscheidet Varzi hier zwei Typen von Theorien. Theorien des ersten Typs sehen materielle Körper als den materiellen Inhalt von Regionen des Raumes bzw. der Raumzeit an. Jede Rede über die Grenzen von Körpern lasse sich zurückführen auf die Grenzen dieser Regionen, der sogenannten „receptacles“. Diese Ansicht gehe auf Descartes zurück. Für die receptacles und ihre Grenzen werde dabei meist ein realistischer Ansatz gewählt, typischerweise im Sinne der Standardtopologie. Varzi nennt in diesem Zusammenhang den einschlägigen Artikel von Richard Cartwright51. Ein Problem sei hier, dass nur bestimmte Raumzeitregionen als receptacles zugelassen werden dürfen. Ein radikalerer Ansatz versuche, auch die Struktur der Raumzeit selbst so zu verstehen, dass sie keine niedrigdimensionalen Grenzen enthalte. Hierzu gebe es eine breite Diskussion.52 Wird die Raumzeit nicht substanzialistisch verstanden, dann könnten Grenzen als Abstraktionen im Sinne von immer dünner werdenden Schichten an der Außenseite des begrenzten Gegenstandes gedeutet werden. Varzi verweist hier auf Alfred North Whiteheads53 Methode der „extensiven Abstraktion“, die eine breite Rezeption gefunden habe. Im engeren Sinne gebe es dieser Ansicht nach Grenzen nicht als „primäre Entitäten“, sondern lediglich als „higherorder entities“, die als Äquivalenzklassen von konvergenten Folgen ineinander verschachtelter Körper verstanden werden.54 Kritisiert werde an diesem Ansatz vor allem, dass es nicht notwendigerweise weniger problematisch sei, die Exis-

|| 48 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.1. 49 Breysse und De Glas 2007. 50 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.2. 51 Cartwright 1975. 52 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.2, Nr. 1. 53 Whitehead 1916. 54 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.2, Nr. 2.

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tenz von Äquivalenzklassen von Körpern anzunehmen, als die Existenz von niedrigdimensionalen Gegenständen.55 Eine dritte Alternative sei ein „operationalistischer“ Ansatz, bei dem Grenzen durch konkrete Messvorgänge („operational tests“) aus Observablen hergeleitet werden. Dies sei allerdings eher eine Erklärung für unser empirisches Wissen als eine Entscheidung über den ontologischen Status von Grenzen.56 Wie Varzis Überblick über die moderne Debatte zur Ontologie von Grenzen zeigt, nimmt das Problem der Zugehörigkeit der Grenze in dieser Debatte einen breiten Raum ein. Die vier Lösungsoptionen eignen sich zudem gut als Ordnungsprinzip, um die verschiedenen vorgeschlagenen Theorien voneinander zu unterscheiden und miteinander in Bezug zu setzen. Auch die übrigen drei von Varzi genannten Problemfelder lassen sich innerhalb dieses Rahmens aufgreifen. Die allermeisten Beiträge zur Debatte, und insbesondere die von Varzi unter der Bezeichnung „realist theories“ zusammengefassten, setzen voraus, dass Grenzen Teile von ausgedehnten Gegenständen sind. Sie unterscheiden sich hauptsächlich darin voneinander, zu welchem Gegenstand eine Grenze, die zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander trennt, jeweils gerechnet wird. Auch diejenigen der „eliminativist theories“, die eine substanzialistische Raumzeit und receptacles annehmen, lassen sich hier einordnen: Das Problem wird dabei nämlich lediglich von materiellen Gegenständen auf receptacles übertragen. Mit Abstrichen lässt sich auch der zweite Typ eliminativistischer Theorien in das durch das Problem der Zugehörigkeit der Grenze grundgelegte Schema einordnen: Es kann nämlich gezeigt werden, dass die mit der Konstruktion von Grenzen als Äquivalenzklassen ausgedehnter Gegenstände verbundenen algebraischen Strukturen im Wesentlichen dieselben sind wie bei der Annahme von realen Punkten, Linien und Oberflächen.57 Ein Großteil der modernen Debatte wird unter Einsatz von Methoden der formalen Ontologie geführt. Dabei spielen sowohl die Mereologie als auch die (mengentheoretische) Topologie eine große Rolle. Für derartige formale Theorien zur Ontologie der Grenze hat sich daher die Bezeichnung „Mereotopologie“ eingebürgert. Wichtige Beiträge dazu stammen vor allem von Barry Smith und Achille Varzi. Deren Theorien und einige daran angelehnte weitergehende Vor-

|| 55 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.2. Varzi verweist hier auf De Laguna 1922. 56 Vgl. Varzi 2013, Abschnitt 2.2. Varzi nennt Ernest Adams als einen Vertreter einer operationalistischen Theorie der Grenzen (Adams 1996). Man könnte hier aber auch Boniolo, Faraldo und Saggion 2009 einordnen. 57 Vgl. Schoop 2001 sowie Breysse und De Glas 2007, S. 222.

Eliminativist theories | 215

schläge sollen im Folgenden vorgestellt und bewertet werden. Fundamentale Kritik an den Grundannahmen der Mereotopologie haben in jüngerer Zeit Olivia Breysse und Michel De Glas sowie Sheldon Smith geübt. Auf deren alternative Ansätze soll abschließend eingegangen werden.

7 Mereotopologie Eine naheliegende Anwendung der Mereologie besteht darin, sie als Grundlage für die Repräsentation räumlicher oder raum-zeitlicher Strukturen zu verwenden. Hintergrund ist dabei die Idee, dass eine mereologische Basis der Topologie einer mengentheoretischen Basis überlegen sein könnte.1 Anstatt, wie in der mengentheoretischen Grundlegung der Topologie, höherdimensionale räumliche Objekte als Mengen von Punkten darzustellen, geht man in der mereologischen Grundlegung der Topologie von vornherein von höherdimensionalen Objekten wie z. B. dreidimensionalen Raumregionen als den „primären Elementen“ der Topologie aus und stellt deren innere Struktur und deren wechselseitiges Verhältnis über Teilbeziehungen dar. Seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert sind verschiedene Vorschläge dazu veröffentlicht worden.2 Dabei gibt es prinzipiell zwei verschiedene Vorgehensweisen, wie Peter Simons erläutert: The theoretically most satisfactory way to proceed is to present a pure mereology first, then add on topological concepts and principles. Another possibility is to develop a unified mereo-topology based on a single concept straddling both disciplines. This is less clear, but more economical as a single theory. Simons 1987, S. 93.

In der modernen Diskussion hat sich die Bezeichnung „Mereotopologie“ für beide Arten formaler Theorien durchgesetzt.3 Als „Mereotopologie“ werden allgemein formale Systeme bezeichnet, die sowohl mereologische als auch topologische Strukturen darstellen können. Etwas verkürzt gesagt handelt es sich um formale Systeme, in denen sowohl die Relation „x ist Teil von y“ als auch die

|| 1 Vgl. Simons 1987, S. 92. 2 Simons nennt als frühe Beiträge in diesem Sinne Arbeiten von Alfred North Whitehead (Whitehead 1929, S. 349ff) und Theodore de Laguna (de Laguna 1922). 3 Simons erläutert als Beispiel für die erste Variante eine von Jim E. Tiles vorgeschlagene Theorie (vgl. Simons 1987, S. 93f). Als Beispiel für die zweite Variante bespricht Simons eine Konstruktion von Bowman L. Clarke (Clarke 1981; vgl. Simons 1987, S. 94ff), der die von Whitehead und de Laguna vorgeschlagene Theorie axiomatisiert und korrigiert. Zum Verhältnis von Mereologie und Topologie innerhalb von mereotopologischen Theorien vgl. auch Varzi 1996 sowie Casati und Varzi 1999, S. 5 und Kapitel 4.

Mereotopologie in der Bolzanoschen Tradition | 217

Relation „x hängt zusammen mit y“ definiert ist.4 Anwendungszweck dieser formalen Systeme ist die Beschreibung räumlicher bzw. raum-zeitlicher Gegenstände, die eine topologische Struktur aufweisen.5 Man kann Mereotopologien danach klassifizieren, welcher Typ von Zusammenhangsrelation mit welchem Typ von Teilrelation dabei jeweils kombiniert wird.6 Einen zentralen Platz nimmt in den meisten mereotopologischen Theorien der Begriff der Grenze ein. Eine starke Motivation zur Entwicklung mereotopologischer Systeme besteht darin, die mit der Annahme von Grenzen als realen Gegenständen verbundene Problematik zu lösen bzw. gleich von vornherein zu vermeiden, indem man Punkte (und im Weiteren auch Linien und Oberflächen, bzw. Grenzen im Allgemeinen) aus der Klasse der elementaren räumlichen Objekte zu verbannen versucht. Die Annahme von Punkten wird dabei als Ursache einer ganzen Reihe von Problemen identifiziert, die Dominik Schoop in drei Gruppen zusammengefasst hat:7 1. Points have a questionable ontological status and do not fit into a common-sense representation of every-day objects. 2. Considering points forces us to deal with open sets, closed sets, boundaries etc. which leads to fundamental ontological questions […]. 3. Taking regions as sets of points introduces pathological regions to our spatial ontology which cannot sensibly represent the common-sense spatial properties of every-day objects. Schoop 2001, S. 141.

|| 4 Entweder sind beide Relationen primitive Elemente, oder eine von beiden ist ein primitives Element und die andere wird mithilfe der ersten dargestellt. Als topologischer Grundbegriff wird anstelle von „Zusammenhang“ häufig auch „innerer Teil“, „Grenze“, o. ä. gewählt. 5 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 218: „Mereotopology results from the addition of a binary relation of connection between regions to mereology, the aim of which is to provide a formal framework for the analysis of spatial and spatiotemporal entities that exhibit a topological structure.“ Vgl. auch Smith, B. 1996, S. 288: „Mereotopology […] is built up out of mereology together with a topological component, thereby allowing the formulation of ontological laws pertaining to the boundaries and interiors of wholes, to relations of contact and connectedness, to the concepts of surface, point, neighbourhood, and so on.“ Eine ähnliche Charakterisierung der Mereotopologie findet sich bei Cohn und Varzi 2003, S. 358: „As mereology (the theory of parthood or overlap) was initially developed as an alternative to set theory in the constructional analysis of the world of spatiotemporal entities […], likewise the theory of connection is typically viewed as an alternative to set theory in the analysis of those spatial and spatiotemporal phenomena that exhibit topological structure. The resultant theories are sometimes called, quite aptly, mereotopologies.“ 6 Vgl. Cohn und Varzi 2003 sowie Breysse und De Glas 2007, S. 222f. 7 Insbesondere (1) und (2) betreffen dabei die im Rahmen der vorliegenden Arbeit behandelten Probleme in Bezug auf Grenzen.

218 | Mereotopologie

Es lassen sich grob zwei Typen von Mereotopologien feststellen: Solche, die neben höherdimensionalen Gegenständen auch Grenzen als primäre Elemente enthalten, und solche, die nur höherdimensionale Gegenstände und keine Grenzen als primäre Elemente enthalten.8 Der Ansicht, dass sich die mit der Annahme von Grenzen verbundenen Probleme mit dem zuletzt genannten Typ mereotopologischer Systeme vermeiden ließen, wird in jüngerer Zeit vermehrt widersprochen.9 Es kann gezeigt werden, dass alle bisher vorgeschlagenen „Punkt-freien“ (und damit auch „grenzen-freien“) Mereotopologien Punkte wenigstens als „imaginäre Elemente“ annehmen müssen.10 Schoop kommt zu dem folgenden Ergebnis: [C]ommon mereotopological approaches cannot avoid points in their spatial ontology. Consequently, we cannot avoid the problems (cf. reasons 1 and 2 above) mereotopology was set up to avoid in the first place. Therefore, common mereotopological approaches to the representation of space eventually have to answer the ontological questions regarding points. Schoop 2001, S. 141.

Ein weiterer Grund dafür, dass Mereotopologien, die keine Grenzen enthalten, für die Anwendung in der Ontologie wenig geeignet sind, besteht darin, dass dabei Grenzen in einer Weise rekonstruiert werden müssen, die der Beschreibung der „realen Welt“ nicht angemessen ist, wie Olivia Breysse und Michel De Glas feststellen: [Boundary free theories] treat boundary elements as set-theoretic abstractions (or more precisely as equivalence classes of convergent series of nested regions) and this approach seems rather incompatible with any conception of the ‘real world’. Breysse und De Glas 2007, S. 223.

Im Folgenden sollen nur solche mereotopologischen Systeme betrachtet werden, bei denen Punkte, bzw. Grenzen im Allgemeinen, von vornherein unter die primären Elemente aufgenommen wurden. Es gilt dann, zu prüfen, ob mit diesen Mereotopologien die mit Grenzen verbundenen ontologischen Probleme zufriedenstellend gelöst werden können. || 8 Vgl. z. B. Casati und Varzi 1999, Kapitel 5; sowie Breysse und De Glas 2007, S. 218. Hier zeigt sich die von Varzi in seinem Lexikonartikel (Varzi 2013) vorgenommene Einteilung in „realist theories“ und „eliminativist theories“ (s. o.). 9 Z. B. in Schoop 2001 und in Breysse und De Glas 2007. Vgl. dazu auch Casati und Varzi 1999, S. 76–84, und Varzi 1997, S. 27: „Although such theories have no room for boundary elements, they do face the same kind of problems illustrated above in boundary-based terminology.“ 10 Vgl. Schoop 2001.

Mereotopologie in der Bolzanoschen Tradition | 219

7.1 Mereotopologie in der Bolzanoschen Tradition Werden ausgedehnte Gegenstände und ihre Grenzen mit den Mitteln der Topologie beschrieben, dann ergibt sich, wie bereits mehrfach erwähnt wurde, in den meisten Fällen ungefähr das folgende Bild: Es gibt offene und abgeschlossene Gegenstände, d. h. zum einen Gegenstände, die ihre Außengrenzen jeweils als Teil enthalten, und zum anderen Gegenstände, denen ihre Außengrenze nicht als Teil angehört. Kontakt zwischen zwei Gegenständen ist nur dann möglich, wenn sich die beiden Gegenstände entweder überlappen (d. h. einen gemeinsamen Teil haben) oder wenn genau einer der beiden Gegenstände an der Kontaktstelle seine Grenze als Teil hat, während der andere dort keine ihm als Teil zugehörende Grenze hat. Diese Sichtweise wird in der modernen Debatte häufig mit dem Namen Bernard Bolzanos verbunden, wobei auf einen Abschnitt seiner Paradoxien des Unendlichen, welcher im Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit ausführlich erläutert wurde, Bezug genommen wird. Es liegt nahe, als topologischen Anteil in einer mereotopologischen Theorie die gerade beschriebene „Standard-Topologie“ zu verwenden. Die topologischen Grundbegriffe werden dabei nicht mengentheoretisch, sondern mereologisch rekonstruiert. Eine solche Vorgehensweise vertreten u. a. Roberto Casati und Achille Varzi in ihrer Monographie Parts and Places – The Structure of Spatial Representation.11 Im Folgenden soll es um eine Auswertung der von diesen beiden Autoren vorgeschlagenen Mereotopologie im Sinne des in der vorliegenden Arbeit vorgestellten systematischen Rahmens gehen. Die von Casati und Varzi vorgeschlagene Theorie ist hierfür nicht nur deshalb besonders geeignet, weil sie häufig rezipiert wird und in einer der wenigen Monographien zum Thema veröffentlicht wurde, sondern auch, weil es den Autoren ein besonderes Anliegen ist, die Konsequenzen ihres Ansatzes für die Ontologie der ausgedehnten Gegenstände und ihrer Grenzen deutlich zu machen.12 Auf die technischen Einzelheiten der formalen Theorie soll hier weitestgehend verzichtet werden. Die Fragen, ob die von Casati und Varzi angegebene Axiomatisierung korrekt

|| 11 Casati und Varzi 1999. Die Überlegungen in Bezug auf Grenzen, die Casati und Varzi in diesem Buch in Kapitel 5 anstellen, finden sich in ähnlicher Form bereits in Varzi 1997. 12 Dies trifft nicht auf alle Beiträge zur Debatte über Mereotopologie zu. Bei einigen Autoren dominiert eher das Interesse an den formalen Eigenschaften mereotopologischer Theorien über das Interesse an der Anwendung dieser Theorien in der Ontologie. Klar in diesem Sinne positioniert sich beispielsweise Pontow 2004. Über die formalen Eigenschaften mereotopologischer Systeme gibt es eine eigenständige Debatte, die im Wesentlichen unabhängig von Fragen der Anwendung dieser Systeme geführt wird.

220 | Mereotopologie

ist13 und ob das dadurch gegebene formale System auch tatsächlich die behaupteten Eigenschaften hat, bleiben hier ausgeklammert.

7.1.1 Die von Casati und Varzi vorgeschlagene Theorie Casati und Varzi sehen Grenzen als Teile ausgedehnter Gegenstände an, die den ausgedehnten Teilen der Gegenstände ontologisch gleichgestellt sind: „Our position is that boundaries are ontologically on a par with (albeit parasitic upon) extended parts.“14 Und: „[A]nything that bounds an entity must be part either of the entity or of its complement.“15 Es handelt sich also hier eindeutig um einen Ansatz im Sinne der im systematischen Teil untersuchten Hauptthese, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind. (Deutlich wird hier nebenbei auch, dass das Komplement eines ausgedehnten Gegenstandes selbst als ausgedehnter Gegenstand angesehen wird. Das Komplement eines Gegenstandes ist dabei definiert als die Summe aller Gegenstände, die mit keinen gemeinsamen Teil haben.16) Grenzen sind für Casati und Varzi stets abhängig von anderen Gegenständen. Die ontologische Abhängigkeit der Grenzen sei „arguably one of the most important features of boundaries“17. Entsprechend führen die Autoren einen einstelligen „boundary operator“ ein, der einem Gegenstand jeweils seine Grenze zuordnet. ist dann zu lesen als „die Grenze des Gegenstandes “.18 Jede Grenze ist von genau einem Gegenstand abhängig, sie ist dessen Grenze und grenzt den Gegenstand gegen dessen Umgebung bzw. dessen Komplement ab.19 || 13 Carsten Pontow (Pontow 2004) hat darauf hingewiesen, dass die in Casati und Varzi 1999 wie auch die in Simons 1987 und Varzi 1996 beschriebene Axiomatik der Mereologie fehlerhaft ist. 14 Casati und Varzi 1999, S. 5. 15 Casati und Varzi 1999, S. 85. 16 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 47. 17 Casati und Varzi 1999, S. 95. 18 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 85. 19 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 71 und S. 95f. In den einleitenden Worten zum Kapitel über Grenzen scheinen Casati und Varzi zeitweilig zwischen zwei Auffassungen hin und her zu springen: Sie schreiben sowohl, dass eine Grenze von einem ausgedehnten Gegenstand abhängig ist („The concept of boundary arises as soon as we think of an object demarcated from ist environment. […] [F]or every object there appears to be a boundary demarcating it from the rest of the world.“ (S. 71)), als auch, dass sie von zwei ausgedehnten Gegenständen abhängig ist („A boundary demarcates two entities or two parts of the same entity, which are said to be in con-

Mereotopologie in der Bolzanoschen Tradition | 221

Zwei Gegenstände und stehen miteinander in Kontakt ( ) genau dann, wenn entweder und einen gemeinsamen Teil haben, oder wenn einen gemeinsamen Teil mit der Grenze von hat, oder wenn die Grenze von einen gemeinsamen Teil mit hat. Zwei Gegenstände stehen in externem Kontakt ( ) miteinander, wenn sie miteinander in Kontakt stehen, jedoch keine gemeinsamen Teile haben.20 Casati und Varzi schreiben bezüglich dieser Charakterisierung des Kontaktes zwischen Gegenständen, dass man damit die Bolzanosche Lehre von den offenen und abgeschlossenen Gegenständen vollständig übernehmen müsse: This way of characterizing connection requires a full endorsement of the Bolzanian opposition between open and closed entities: when two entities are externally connected, they share a boundary; but this sharing is uneven. The boundary only belongs to one object, and bounds the other from the outside. (More precisely, the sharing may be even, in that each of two externally connected objects may include half of the common boundary. But no part of the boundary can be a boundary part of both objects: where the boundary belongs to one, the other is bound from the outside.) Casati und Varzi 1999, S. 86.

Das Problem der Zugehörigkeit der Grenze wird von Casati und Varzi also eindeutig im Sinne von Option 2 gelöst: Die Grenze zwischen zwei miteinander in (externem) Kontakt stehenden Gegenständen ist Teil genau eines der beiden Gegenstände. Die Konsequenz davon ist, dass nicht nur abgeschlossene, sondern auch offene Gegenstände angenommen werden müssen. Die Autoren weisen diesbezüglich darauf hin, dass die Bolzanosche Unterscheidung offener und abgeschlossener Gegenstände nicht von vornherein eine „monströse Idee“21 sei, sondern ihnen in einigen Fällen ganz angemessen erscheine:22 [O]rdinary material objects are naturally the owners of their boundaries (their surfaces, in effect), and there is nothing counterintuitive in the thought that the environments in which they are embedded are open. Casati und Varzi 1999, S. 86.

|| tact with each other.“ (S. 72)). Die zweite Auffassung schlägt sich in dem später vorgeschlagenen formalen System aber nicht nieder. 20 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 86. 21 Die Autoren verweisen hier auf Brentano (vgl. Brentano 1976, S. 174). 22 Vgl. auch Varzi 1997, S. 42.

222 | Mereotopologie

7.1.2 Zum Problem der Spaltung Im Anschluss daran gehen Casati und Varzi auf das Problem der Spaltung ein, am Beispiel des Zerschneidens eines Gegenstandes in zwei Hälften: Let us then focus on the main worry about the open/closed distinction – namely, that if we cut an object in half, one piece will be closed and the other will not (and there is no principled way of saying which will and which will not). Suppose we dissect a solid sphere made of some perfectly homogeneous prime matter. Which of the two resulting half-spheres will be closed? This is an embarrassing question. Casati und Varzi 1999, S. 86f.

Das Problem beruhe hier jedoch, so die Autoren, auf einer falschen Vorstellung davon, was beim Prozess der Spaltung topologisch vor sich gehe. Es käme dabei gar keine innere Grenze ans Licht, und daher entfalle auch das Problem, welchem der beiden Spaltprodukte diese als Teil angehöre:23 [The question] arises, we submit, only on the basis of an incorrect model of what happens topologically when a process of cutting takes place. Topologically, the cutting of an object is not a bloodstained process – there is no question of which of the two severed halves keeps the boundary, leaving the other open and bleeding (as it were). […] [T]he cutting does not “bring to light” new surfaces that were trapped inside the sphere. Casati und Varzi 1999, S. 87.

Der Prozess des Zerschneidens sei eher mit der Teilung eines Öltropfens in zwei Tropfen vergleichbar: Rather, topologically the explanation is simply that the outer surface of the sphere is progressively deformed until the sphere separates in two halves. […] [T]he model is that of a splitting oil drop. The drop grows longer and, as it grows, the middle part shrinks and gets thinner and thinner. Eventually the right and left portions split, and we have two drops, each with its own complete boundary. A long, continuous process suddenly results in an abrupt topological change. There was one drop; now there are two. And so in the case of the dissected sphere. There was one surface, and now there are two. Casati und Varzi 1999, S. 87.

Die Autoren geben zu, dass der Augenblick der Trennung der beiden Hälften zutiefst problematisch sei: „Of course, there is something deeply problematic about the magic moment of separation.“ Dies sei allerdings bei jeder toplogischen Veränderung der Fall. Casati und Varzi geben drei Beispiele für ähnliche topologische Veränderungen an: (1) Zwei Öltropfen, die zu einem einzigen zu|| 23 Vgl. auch Varzi 1997, S. 42.

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sammenwachsen; (2) ein Stab, der in eine Kugel von Knetmasse gedrückt wird und plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite wieder hervorkommt, so dass aus der Kugel ein Torus wird; (3) ein Tropfen eines breiigen Materials, aus dem ein „Finger“ herauswächst, der schließlich wieder auf den Tropfen trifft, so dass er mit diesem nun wie eine Art „Griff“ zweifach verbunden ist.24 Die Problematik all dieser Szenarien hänge überhaupt nicht mit dem Thema „Grenzen“ zusammen, sondern vielmehr mit „qualitativer Kinematik“:25 Admittedly, stories like these all involve some topological magic. But nothing depends specifically on the boundary issue. Every case of topological change marks a point where common sense reaches the limits of its theoretical competence, and it reaches that limit insofar as we are dealing with the ideal domain of dense, homogeneous bodies. The puzzle of the splitting object – we submit – is just a sign of this general fact. It can only disappear on a more complete assessment, which mereotopology simply cannot deliver. (This requires, we suppose, a step into the territory of qualitative kinematics.) Casati und Varzi 1999, S. 88.

Casati und Varzi betonen, dass ihr Lösungsvorschlag sich lediglich auf das Zerschneiden eines ausgedehnten Festkörpers („cutting a solid object“26) bezieht und nicht notwendigerweise auf andere Fälle wie das Zerbrechen („breakage“27) eines Gegenstandes übertragbar sei. Es ginge ihnen jedoch auch gar nicht um eine vollständige Aufklärung aller möglichen fraglichen Fälle, sondern lediglich darum, aufzuzeigen, dass diese fraglichen Fälle nicht gegen die von ihnen vorgeschlagene Theorie der Grenzen sprechen müssen. Man könne nämlich in jedem Fall alternative, „kinematische“ Erklärungen finden: However, a complete picture is not necessary here. All we wish to emphasize is that the assumption that dissection always leave two parts, one of which is closed while the other is open, may be reasonably challenged in cases where it would seem to yield unreasonable results. Other cases may be less clear, but so are intuitions. There is a complicated kinematic story to tell in each and every case. Casati und Varzi 1999, S. 89.

|| 24 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 88. 25 Vgl. auch Varzi 1997, S. 42. Varzi schreibt dort „naive kinematics“ anstelle von „qualitative kinematics“. 26 Casati und Varzi 1999, S. 89. 27 Ebd.

224 | Mereotopologie

7.1.3 Zum Problem des Kontaktes Eine ähnliche Strategie wählen die Autoren in Bezug auf das Problem des Kontaktes. Sie zitieren dazu zunächst Dean Zimmerman, der der Meinung ist, dass die Zweiteilung in offene und abgeschlossene Gegenstände unplausible Konsequenzen hat. Eine bestimmte Klasse von ausgedehnten Gegenständen (die abgeschlossenen Gegenstände) habe dann nämlich sehr seltsame Eigenschaften: Einerseits gingen abgeschlossene Gegenstände ihren „Artgenossen“ stets aus dem Wege, so dass sie niemals miteinander in Kontakt kommen. Andererseits könnten sie mit den Gegenständen einer anderen Klasse (den offenen Gegenständen) jederzeit in Kontakt kommen. Es müsse also Abstoßungskräfte geben, die von der jeweiligen Gestalt der beteiligten ausgedehnten Gegenstände abhingen. Die Gegenstände müssten vor einem möglichen Kontakt einander „wissen lassen“, ob sie jeweils eine Grenze haben oder nicht, um dann entsprechend abbremsen oder stoppen zu können.28 Casati und Varzi antworten darauf, dass es nicht zwingend nötig sei, solche eigenartigen Abstoßungskräfte zu postulieren. Im Augenblick des Kontaktes könnte eine „topologische Katastrophe“ geschehen, die die Grenzen der Körper tiefgreifend verändert. Beim Kontakt handele es sich um eine Umkehrung der Spaltung, und beide Prozesse seien nicht mehr allein mit mereotopologischen Mitteln beschreibbar. Die Autoren schreiben dazu:29 For instance, perhaps the two closed cubes will indeed come into contact. From the fact that two closed entities cannot be in contact it does not follow that they cannot come into contact, just as from the fact that two parts are connected it does not follow that they cannot be separated. But the coming into contact (just as the separation) determines a true topological catastrophe: there is a breaking through the relevant boundary parts and the two objects become one. (Think again of the two oil drops.) The two processes are dual: fusing is the reverse of splitting. And both involve a seemingly magic moment which runs afoul of the confines of pure mereotopological thinking. Casati und Varzi 1999, S. 88.

|| 28 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 88. Zitiert wird Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts?, S. 12. Vgl. dazu auch Varzi 1997, S. 43. 29 Vgl. auch Varzi 1997, S. 43f.

Mereotopologie in der Bolzanoschen Tradition | 225

7.1.4 „Peirce’s puzzle“ Ein anderes Problem könne allerdings mit der von Casati und Varzi favorisierten „dynamischen“ Lösungsstrategie nicht gelöst werden: Die Frage nach der Zugehörigkeit der Grenze zwischen einem schwarzen Fleck und seinem weißen Hintergrund. Casati und Varzi nennen dieses Problem „Peirce’s puzzle“30, nach Charles Sanders Peirce, der es in dieser Weise beschrieben hat: A drop of ink has fallen upon the paper and I have walled it round. Now every point of the area within the walls is either black or white; no point is both black and white. That is plain. The black is, however, all in one spot or blot; it is within bounds. There is a line of demarcation between the black and the white. Now I ask about the points of this line, are they black or white? Why one more than the other? Are they (A) both black and white or (B) neither black nor white? Why A more than B, or B more than A?31 Peirce 1933, S. 98.

Casati und Varzi können das Peircesche Rätsel mit ihrem Ansatz nicht im Sinne von (A) oder (B) lösen, sondern sie müssen sich entscheiden, welche Farbe die Punkte auf der Demarkationsline haben. Hier helfe jedoch keine „dynamische“ Lösungsstrategie, um zu einer Entscheidung zukommen, denn das Peircesche Rätsel sei vollkommen statisch. „There is no kinematic story to tell here.“32 Wie könne man aber in solchen Fällen zu einer Entscheidung kommen, ohne das Prinzip des ausreichenden Grundes zu verletzen?33 Einige Fälle seien zwar etwas einfacher als andere (so seien materielle Gegenstände wie Tische oder Steine natürlicherweise die Eigner ihrer Grenzen, während die jeweiligen Komplemente an der Kontaktstelle offen seien; außerdem seien „immaterielle Körper“ wie beispielsweise Löcher in materiellen Gegenständen natürlicherweise nicht die Eigner ihrer Grenzen), jedoch gebe es bereits in diesen einfachen Fällen diverse Dilemmata.34 Diese seien tatsächlich problematisch und müssten aufgelöst werden, es sei jedoch nicht Aufgabe der Mereotopologie, eine Lösung dafür anzubieten. Casati und Varzi schreiben dazu:

|| 30 Casati und Varzi 1999, S. 89. Vgl. auch Varzi 1997, S. 44. 31 Peirce löst das Problem übrigens wie folgt: „[I]t is only as they are connected together into a continuous surface that the points are colored; taken singly, they have no color, and are neither black nor white, none of theM." \f "b" (Peirce 1933, S. 98). Auf die Peircesche Lösung des Problems gehen Casati und Varzi nicht ein. Sie rezipieren lediglich die Problemstellung. 32 Casati und Varzi 1999, S. 89f. 33 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 90. 34 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 90.

226 | Mereotopologie

The actual ownership of a boundary is not an issue that a mereotopological theory must be able to settle. The theory only needs to explain what it means for two things to be connected. It does not need to give a full explanation of the underlying metaphysical grounds. […] [W]e can say that every instance of Peirce’s puzzle – and of its temporal analogues, such as Aristotle’s puzzle about rest and motion – is truly problematic and yet extrinsic to our present concerns. Give us a theory of black spots and white surroundings, and make sure to tell us who gets the boundary – the spot or the background. Give us a theory of events, and make sure to tell us which gets the boundary – the state of movement or the state of rest. If we accept this general line of response, we have a way of disposing of the puzzle in its general form, or at least to dispel the clouds of suspicion that surround it. Casati und Varzi 1999, S. 90f.

Eine weitere Variante des gerade beschriebenen Problems ergebe sich in Bezug auf rein konzeptionelle Grenzen („fiat boundaries“35) wie etwa der Äquator oder die Mason-Dixon-Linie. Das Besondere daran sei, dass es hierbei keine realen Tatsachen in der Welt gebe, die zu einer Entscheidung in der Zugehörigkeitsfrage führen könnten, und dass daher auch keine externe Theorie für die Lösung der Zugehörigkeitsfrage existiere: There is no fact of the matter that can support the ownership of a boundary such as the equator by one hemisphere rather than the other. Hence we cannot defer the solution to a theory of the extended entities at issue, as we did above. Casati und Varzi 1999, S. 91.

Nicht möglich sei es, den Äquator als „neutral“ anzunehmen und keiner der beiden Halbkugeln zuzuordnen, da die beiden Halbkugeln ja definitionsgemäß gemeinsam den ganzen Globus ausfüllen, ohne dass eine Lücke zwischen ihnen bliebe. Auch der Verweis darauf, dass der Äquator bloß „imaginär“ sei, helfe hier nicht weiter. Die Autoren zitieren hier Gottlob Frege, der betont, dass der Äquator zwar nur in unserem Denken erfasst wird, dass unser Denken jedoch nicht den Äquator erst erschafft.36 In ihrer Antwort auf dieses Problem betonen Casati und Varzi zunächst, dass es falsch sei, zu behaupten, es handle sich bei konzeptionellen Grenzen

|| 35 Casati und Varzi übernehmen diesen Ausdruck von Barry Smith (Smith, B. 1994). Vgl. zum Thema konzeptionelle Grenzen auch Varzi 1997, S. 45f. 36 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 91. Zitiert wird aus Freges Grundlagen der Arithmetik: „Man nennt den Aequator oft eine gedachte Linie; aber es wäre falsch, ihn eine erdachte Linie zu nennen; er ist nicht durch Denken entstanden, das Ergebnis eines seelischen Vorgangs, sondern nur durch Denken erkannt, ergriffen.“ (Frege 1988, S. 40 (§26).)

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um potentielle Grenzen in dem Sinne, dass sie etwa durch einen Schnitt an der entsprechenden Stelle des Gegenstandes aktualisiert werden könnten: [F]iat boundaries are not the boundaries that would envelop the interior parts to which they are associated in case those parts were brought to light by separating the remainder. Wherever you have fiat boundaries in a physical object, you might generate real, bona fide boundaries in the corresponding places. But the former never turn into the latter – at best they leave room for them. Casati und Varzi 1999, S. 92.

Es gebe mindestens zwei Wege, das Problem der Zugehörigkeit der Grenze in Bezug auf konzeptionelle Grenzen zu lösen. Zum einen könne die Frage schlicht offen gelassen werden, da sie ohnehin keine praktische Relevanz habe und darüber hinaus insofern harmlos sei, dass es sich dabei zwar um eine pragmatische oder semantische Frage, aber jedenfalls nicht um eine ontologische Frage handle. Alternativ dazu könne man sagen, dass hier eigentlich zwei Grenzen am selben Ort vorliegen, für jede Halbkugel eine. Jede Halbkugel habe ihren eigenen Äquator. Da beide am selben Ort lägen, könne man immer noch von „dem einen Äquator“ reden.37 Die beiden Lösungswege schließen sich zwar gegenseitig aus, man könne sich aber je nach Fall für jeweils einen der beiden entscheiden. Dies zu entscheiden sei allerdings wiederum nicht die Aufgabe der Mereotopologie: It is not the task of mereotopology to decide which of these two accounts applies in which cases. For the purpose of mereotopology, what matters is that in both cases the demarcation problem disappears. Casati und Varzi 1999, S. 93.

7.1.5 Ein zweiter Lösungsvorschlag zum Problem des Kontaktes Zum Abschluss des Kapitels über Grenzen geben Casati und Varzi schließlich unter der Überschrift „Touching“ noch eine alternative Lösung des Problems des Kontaktes zweier abgeschlossener Körper an.38 Nach der von ihnen vorgeschlagenen Mereotopologie könnten zwei abgeschlossene Körper, solange sie

|| 37 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 93. Etwas ausführlicher ist dazu Varzi 1997, S. 46ff. Dieser zweite Lösungsweg ist faktisch ein Vorschlag im Sinne von Option 4 und nicht mehr im Sinne von Option 2. Hier wurden Anregungen von Brentano und Suárez aufgegriffen. Vgl. dazu auch die folgenden Abschnitte in der vorliegenden Arbeit. 38 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 93.

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abgeschlossen sind, nicht miteinander in externem Kontakt stehen. (Wie bereits gesehen, ist es allerdings möglich, dass sie im Zuge einer „topologischen Katastrophe“ zu einem einzigen Gegenstand zusammenwachsen.) Ein Buch, das auf einem Tisch liegt, berühre den Tisch nicht, zumindest nicht im Sinne eines „externen Kontaktes“. Dieses Ergebnis stimme vollkommen mit der Physik und der gewöhnlichen Topologie überein: [T]he book is on the table, but these two objects are simply not in touch if this is understood in terms of external connection. This is in agreement with physics and with ordinary topology. Casati und Varzi 1999, S. 93.

Damit meinen die Autoren vermutlich, dass es nicht nur aufgrund der Topologie unmöglich ist, dass zwei abgeschlossene Gegenstände einander berühren, sondern dass auch aufgrund der aktuellen Vorstellungen der Physik der Festkörper klar sei, dass bei ausreichender gegenseitiger Annäherung zweier Festkörper Abstoßungskräfte auftreten, die die beiden Körper „auf Abstand halten“. Es frage sich allerdings, so die beiden Autoren, ob es in der von ihnen vorgeschlagenen Theorie möglich sei, der Alltagsintuition gerecht zu werden, dass Buch und Tisch einander berühren in dem Sinne, dass nichts in die „Lücke“ zwischen Buch und Tisch hineingezwängt werden kann. Auch dies sei kein mereotopologisches Problem, sondern vielmehr ein metrisches. Zwei abgeschlossene Gegenstände berührten sich genau dann, wenn ihr gegenseitiger Abstand klein genug ist: The proper answer is that this is not a mereotopological problem, but a metric one. Generally speaking, two closed entities are in touch (in this sense) if the distance between them is sufficiently small, or perhaps arbitrary small.39 Casati und Varzi 1999, S. 94.

Hierbei handele es sich aber eindeutig um eine Ergänzung zur Mereotopologie, die stark vereinfachende Annahmen voraussetze.40

7.1.6 Zusammenfassung und Kritik Im Einklang mit den Ergebnissen des systematischen Teils der vorliegenden Arbeit ist festzustellen, dass die von Casati und Varzi vorgeschlagene Theorie || 39 Casati und Varzi 1999, S. 94. 40 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 94.

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das Problem der Zugehörigkeit der Grenze im Sinne von Option 2 löst, und dass sie von allen Vor- und Nachteilen derartiger Theorien betroffen ist. In Bezug auf die vier Grundintuitionen ergibt sich, dass die Theorie den Intuitionen Abhängigkeit und Ende eindeutig gerecht wird, während bei den Intuitionen Trennung und Verbindung die Lage dagegen nicht so eindeutig ist. Klar ist, dass Casati und Varzi der intuitiv problematischen Behauptung der Existenz offener Gegenstände bewusst und deutlich zustimmen. In Bezug auf eindeutig asymmetrische Situationen ist dies auch durchaus akzeptabel: Die Grenze gehört zum Gegenstand, und nicht zu seiner Umgebung. Werden allerdings symmetrische Situationen betrachtet, dann ergibt sich die nicht unerhebliche Schwierigkeit, dass durch die vorgeschlagene mereotopologische Theorie eine Asymmetrie behauptet wird, wo faktisch keine Asymmetrie vorliegt. Casati und Varzi schlagen hier sehr viele verschiedene, situationsbezogene Auswege vor, die allerdings immer demselben Muster folgen: Die Frage, wieso die Grenze gerade dem einen Gegenstand als Teil angehört und nicht dem anderen Gegenstand, könne und müsse die Mereotopologie selbst nicht beantworten. Man könne in jedem Einzelfall weitere Theorien über den entsprechenden Gegenstandsbereich angeben, die dann jeweils die Begründung für die Zuordnung der Grenze zur einen und nicht zur anderen Seite liefern. Bei rein konzeptionellen Grenzen könne die Zugehörigkeitsfrage offen bleiben. Alternativ dazu könne ein Ansatz im Sinne von Option 4 mit koinzidierenden Grenzen gewählt werden. In Bezug auf die Probleme der Spaltung und des Kontaktes wird darauf verwiesen, dass es sich hier letztlich um das Phänomen eines plötzlichen topologischen Wechsels handle, der innerhalb eines mereotopologischen Rahmens nicht beschrieben werden kann. Zum Problem des Kontaktes besteht ferner eine zweite Lösungsstrategie darin, zu behaupten, dass zwischen zwei Festkörpern gar kein Kontakt im eigentlichen Sinne vorliegt, sondern dass stets noch ein, wenn auch kleiner, Zwischenraum zwischen den Gegenständen verbleibt. Die Ausführungen von Casati und Varzi geben Anlass zu vielfältiger Kritik: a) Zunächst einmal ist auffällig, dass die Autoren die in den vorherigen Kapiteln ihres Buches Parts and Places entwickelte formale Theorie im Kapitel über Grenzen kaum weiterentwickeln und zur Lösung der Probleme nicht nutzen. Der Grenz-Operator und die Bedingung für Kontakt und externen Kontakt haben nur zu Beginn eine illustrierende Funktion und kommen in der anschließenden Diskussion der Probleme der Zugehörigkeit der Grenze, des Kontaktes und der Spaltung kaum mehr vor. Die Autoren selbst betonen, dass diese Probleme letztlich keine mereotopologischen Probleme seien, sondern beispielsweise im Rahmen einer noch zu entwickelnden „qualitativen Kinematik“, im Rahmen von Theorien zu speziellen Arten von Gegenständen oder durch Überlegungen

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zur Metrik behandelt werden sollten. Der mereotopologische Apparat ist somit sogar im Urteil der Autoren selbst eher unfruchtbar in Bezug auf die Lösung der mit Grenzen verbundenen Probleme, was ein erstaunlicher Befund ist angesichts des Anspruches, damit die „structures of spatial representation“, zu denen Grenzen sicherlich in prominenter Weise gehören41, aufzuklären.42 b) Durch die Festlegung auf eine asymmetrische Lösung des Problems der Zugehörigkeit der Grenze wird in Bezug auf symmetrische Situationen erst eine Problemlage geschaffen, die eindeutig der gewählten Theorie selbst und nicht der zu beschreibenden Situation entstammt. Die in diesem Zusammenhang auftretenden Begründungsprobleme für die Zuordnung der Grenze werden nicht innerhalb des Modells gelöst, sondern es wird auf externe Theorien verwiesen, die sehr spekulativ sind, kaum ausgearbeitet wurden und zudem auch keinen allgemeinen Charakter haben: Es gibt nahezu für jeden Einzelfall eine eigene Theorie. Dieses Vorgehen wirkt nicht so, als solle hier zu den zu beschreibenden Situationen eine angemessene und möglichst allgemeine Theorie gefunden werden, sondern es entsteht im Gegenteil der Eindruck, als stehe die richtige allgemeine Theorie bereits von vornherein fest und man müsse sich nun in jedem Einzelfall eine „story“43 einfallen lassen, wie Wirklichkeit und Theorie überein kommen können. Naheliegender wäre es hier, an der Wurzel der Probleme, welche eindeutig in der Festlegung auf asymmetrische Lösungen liegt, anzusetzen.44 c) Die im Einzelnen vorgeschlagenen spekulativen Erklärungen lassen sich durchaus in Frage stellen. Beispielsweise kann die Erklärung zum Problem der Spaltung, die das Zerschneiden eines ausgedehnten Gegenstandes in Analogie zur Zweiteilung eines Öltropfens sieht, so dass kein „ans Licht kommen“ innerer Grenzen angenommen werden muss, angegriffen werden. Diese „story“ ist bezogen auf das Beispiel des Zerschneidens eines Stücks Muskelfleisches quer zur Faserrichtung klarerweise unangemessen. Die beiden resultierenden Fleischstücke haben an der ehemaligen Kontaktstelle eindeutig jeweils eine Oberfläche, die nicht in einem stetigen Umformungsprozess aus der Außenfläche des

|| 41 Vgl. Varzi 1997, S. 26: „[B]oundaries seem to belong to the palette of basic ontological tools with which we commonly describe the middle-size reality if ordinary experience. […] [I]t is hard to deny boundaries a central place in our conceptual scheme.“ 42 Vgl. Casati und Varzi, S. 1ff. 43 Casati und Varzi verwenden diesen Ausdruck mehrfach in diesem Zusammenhang, so z. B. auf S. 89 und S. 92: „kinematic story“. 44 Vgl. dazu auch Kachi 2009, S. 88: „The problem is not the underdetermination of belonging by a mereotopological theory of boundary but its unneccessary constraining of asymmetry even to the cases where symmetry is due.“

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unversehrten Muskels entstanden sein kann, da sie eine deutlich andere Struktur aufweist. Eine Beschreibung durch „ans Licht kommende“ oder neu entstehende Grenzen ist hier sicherlich deutlich angemessener. Dann bleibt aber das Problem der Begründung der Zuordnung der Grenze ungelöst.45 d) Die Behauptung, dass Kontakt die Umkehrung der Spaltung sei, ist höchst problematisch. Zwei in Kontakt stehende Gegenstände wären dann nämlich bereits allein wegen ihres Miteinander-In-Kontakt-stehens zu einem einzigen Gegenstand zusammengewachsen. Intuitiv scheint es aber einen deutlichen Unterschied zwischen einander berührenden Gegenständen und dem Zusammenwachsen zweier Gegenstände zu einem einzigen Gegenstand zu geben.46 e) Die alternative Lösung des Problems des Kontaktes durch die faktische Leugnung realen Kontaktes und die Behauptung, dass zwei Gegenstände bereits dann einander berühren, wenn der Abstand zwischen ihnen ausreichend klein ist, wird von Casati und Varzi mit einem kurzen Hinweis auf die Physik gestützt. Hier findet faktisch ein Wechsel von der mesoskopischen auf die mikroskopische Ebene bzw. von der Alltagsvorstellung ausgedehnter Gegenstände auf die Vorstellung, die die moderne Physik von ausgedehnten Gegenständen hat, statt. Dieser Wechsel steht in auffälligem Widerspruch zum zuvor von Casati und Varzi geäußerten Anspruch, dass es ihnen hauptsächlich um eine „ordinary conception of middle-size reality“47 ginge und dass darin die Sichtweise der Physik irrelevant sei.48 Die Autoren vermeiden damit das Problem, Kontakt auf der mesoskopischen Ebene zu beschreiben, indem sie, entgegen ihrer vorherigen Absichtserklärung, in die mikroskopische Ebene ausweichen. Das ursprünglich gestellte Problem bleibt ungelöst.49 f) In Bezug auf konventionelle Grenzen präsentieren Casati und Varzi einen zweifachen Vorschlag zur Lösung des Problems der Zugehörigkeit der Grenze: Entweder sei die Frage der Zugehörigkeit irrelevant und könne offen bleiben, oder das Problem ließe sich durch einen Ansatz im Sinne von Option 4 lösen. Faktisch heißt das, dass die Autoren im ersten Fall eine Antwort verweigern und im zweiten Fall zugeben, dass ihr Ansatz im Sinne von Option 2 in Bezug auf konventionelle Grenzen unbrauchbar ist.

|| 45 Vgl. ähnliche Kritik bei Kachi 2009, S. 88. Kachi schlägt die Betrachtung eines Falles vor, bei dem die Spaltung nicht am Rand, sondern in der Mitte eines Gegenstandes beginnt. 46 Vgl. Kachi 2009, S.88. 47 Casati und Varzi 1999, S. 72. 48 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 72f, sowie Varzi 1997, S. 27f. 49 Vgl. dazu auch Kachi 2009, S. 88.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Casati und Varzi einen sehr engagierten Versuch vorgelegt haben, eine „Bolzanosche“ Theorie der Grenze im Sinne von Option 2 mit allen ihren Konsequenzen zu vertreten. Die dabei auftretenden Schwierigkeiten sind allerdings so massiv, dass sich die Suche nach alternativen Lösungen geradezu aufdrängt. Auch Varzi selbst hat seine Ansichten zum Thema Grenzen weiterentwickelt50 und insbesondere mit einem zweiten Typ von Mereotopologie verknüpft, der im Wesentlichen von Barry Smith ausgearbeitet worden ist und bei dem die Koinzidenz von Grenzen behauptet wird. Über die von Smith vorgeschlagene Mereotopologie soll der folgende Abschnitt handeln.

7.2 Mereotopologie in der Brentanoschen Tradition Die Idee der koinzidierenden Grenzen, wie sie auch bei der im Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit besprochene Suárezianische Theorie der Grenzen vorkommt, wurde insbesondere von Franz Brentano51 aufgegriffen, der darauf seine Theorie des Kontinuums aufgebaut hat. Einige wesentliche Aspekte davon hat Roderick Chisholm52 formalisiert und in eine Verbindung zur Mereologie gebracht. Auf diesen Vorarbeiten aufbauend hat Barry Smith53 eine Mereotopologie entwickelt, die die Idee koinzidierender Grenzen als zentralen Bestandteil enthält.

7.2.1 Die Brentano-Chisholmsche Theorie der Grenzen Die aristotelisch-suárezianische Herkunft der von Smith vorgestellten BrentanoChisholmschen Theorie der Grenzen erkennt man bereits an der Auswahl der motivierenden Gedankenexperimente, die Smith dafür angibt: Es handelt sich dabei erstens um eine zur Hälfte rot und zur Hälfte grün eingefärbte Scheibe, zweitens um einen Körper, der aus der Ruhe in Bewegung übergeht, und drit-

|| 50 Vgl. Smith und Varzi 2000 sowie Varzi 2011. Ansätze dazu finden sich bereits in Varzi 1997, S. 46ff. Zu Smith und Varzi 2000 vgl. auch den Abschnitt 7.3.1 der vorliegenden Arbeit. 51 Brentano 1976, hier insbesondere der erste Teil, S. 3–59. 52 Chisholm 1983, 1989, 1992/93 und 1994. 53 Smith, B. 1997. In dem ebenfalls häufig zitierten Artikel Smith, B. 1996 entwickelt Smith einen anderen Typ von Mereotopologie, der eher dem im vorhergehenden Abschnitt besprochenen Bolzanoschen Ansatz gleicht.

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tens um zwei vollkommen runde Kugeln, die sich in einem Punkt berühren.54 Das in diesen drei Beispielen in je unterschiedlicher Weise auftretende Problem der Zugehörigkeit der Grenze lasse sich, so Smith, weder dadurch lösen, dass man die Grenze jeweils als „neutral“ ansieht, noch dadurch, dass man die Grenze genau einer der beiden Seiten zuordnet. Die beiden Kugeln stünden dann nämlich entweder überhaupt nicht miteinander in Kontakt, oder es liege eine „asymmetry of a quite peculiarly unmotivated sort“ vor.55 Die Möglichkeit, dass eine Grenze ein gemeinsamer Teil zweier Gegenstände sein könnte, zieht Smith erst gar nicht in Betracht, offenbar weil dies, insbesondere in den ersten beiden Beispielen, einen offenen Widerspruch implizieren würde. Smith schließt damit die Optionen 1, 2 und 3 aus. Sein Vorschlag ist eine Lösung nach Option 4: Es liegen hier koinzidierende Grenzen vor. Die Punkte auf der Linie zwischen dem roten und dem grünen Segment der Scheibe seien gewissermaßen rot und grün zugleich; der Körper sei zu einem bestimmten Zeitpunkt sowohl in Ruhe als auch in Bewegung; und bei den beiden einander berührenden Kugeln gebe es einen Punkt in der Oberfläche der einen Kugel, der mit einem Punkt in der Oberfläche der anderen Kugel koinzidiert.56 Wie das erste Beispiel zeigt, handelt es sich abweichend von der Suárezianischen Theorie der Grenzen hier nicht um einen gemischten Ansatz aus den Optionen 1 und 4, sondern um einen reinen Option-4-Ansatz: Auch innere Grenzen werden als koinzidierend angesehen. Eine auffällige Parallele zur Suárezianischen Theorie besteht jedoch darin, dass Smith im Gefolge von Chisholm in den Körpern zwei Arten von Teilen annimmt, nämlich zum einen ausgedehnte Teile und zum anderen Grenzen:57 Concrete continua are […] made up of different sorts of parts; above all, they are made up of boundaries of different numbers of dimensions, on the one hand, and of extended bodies or regions which these boundaries are boundaries of, on the other. Smith, B. 1997, S. 537.

Smith betont klar, dass Grenzen Teile von anderen Gegenständen sind: „[B]oundaries are parts of the things they bound.“58 und „Boundaries of bodies are actual parts of the bodies which they bound.“59 Aus diesem Grund hält er es

|| 54 Vgl. Smith, B. 1997, S. 533f. Vgl. dazu die entsprechenden Beispiele bei Suárez, wie sie in Kapitel 5 beschrieben wurden. 55 Vgl. Smith, B. 1997, S. 534. 56 Vgl. Smith, B. 1997, S. 534f. 57 Vgl. Chisholm 1983, S. 87f. 58 Smith, B. 1997, S. 537. 59 Smith, B. 1997, S. 537.

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auch für angemessen, dass in der Beschreibung von Grenzen die Mereologie, die Theorie von Teilen und Ganzen, zur Anwendung kommt.60 Außerdem seien Grenzen abhängige Entitäten. Die Unmöglichkeit der isolierten Existenz von Punkten, Linien und Oberflächen betont Smith dabei viel klarer als Suárez: [B]oundaries are parts which, as a matter of necessity, can exist only as proper parts of things of higher dimension which they are boundaries of […]. Boundaries cannot exist in isolation: there are, in reality, no isolated points, lines, or surfaces. Smith, B. 1997, S. 537.

Die ontologische Abhängigkeit der Grenzen sei jedoch nicht derart, dass man zu jeder Grenze einen spezifischen ausgedehnten Gegenstand angeben könne, von dem diese abhängig sei. Smith zitiert hier Brentano: Da nun […] eine Grenze nicht ohne Zusammenhang mit einem Kontinuum sein kann, so ist auch dieses conditio sine qua non für die Grenze. Doch läßt sich kein noch so kleiner Teil des Kontinuums und kein noch so naheliegender Punkt desselben angeben, von dessen Existenz die Grenze bedingt wäre. […] Da von keinem bestimmten Kontinuum gesagt werden kann, daß es Bedingung für die Grenze sei, so läßt sich nur ein Universale als Bedingung der Grenze bezeichnen, d. h. irgendein Kontinuum von der entsprechenden Art ist gefordert, nicht aber dieses oder jenes im einzelnen. Brentano 1933, S. 65f.61

Grenzen können, so Smith, in äußere und innere Grenzen klassifiziert werden. Smith verweist auch hier auf Brentano, der die folgenden Beispiele dafür gibt: Die Grenzen […] unterscheiden sich aber als innere und äußere, wie denn z. B. der Mittelpunkt einer Kugel eine innere, ein Punkt ihrer Oberfläche eine äußere Grenze der Kugel ist […]. Und so ist auch jede Fläche, welche die Kugel in zwei Hälften scheidet, eine innere, die Kugeloberfläche dagegen eine äußere Grenze. Brentano 1976, S. 15.62

Ein besonderer Vorteil der Brentano-Chisholmschen Theorie liege darin, dass sie dem „asymmetrischen Charakter“, den Grenzen in einigen Fällen aufwiesen, gerecht werde. Als Beispiel für asymmetrische Grenzen nennt Smith u. a. die äußeren Grenzen von Körpern. Intuitiv würde man jedenfalls nicht auf die Idee

|| 60 Vgl. Smith, B., S. 537f. 61 Smith zitiert eine englische Übersetzung der Kategorienlehre Brentanos. 62 Auch zu diesem Werk Brentanos (Philosophische Untersuchungen zu Raum, Zeit und Kontinuum) zitiert Smith eine englische Übersetzung.

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kommen, dass diese zugleich auch Grenzen des Komplementes der jeweiligen Körper seien. Smith schreibt dazu: In contrast to standard set-theoretic treatments, the Brentano-Chisholm theory is now able to do justice to the fact that the boundaries given in experience are in many cases asymmetrical (so that we might in certain circumstances talk of ‘oriented boundaries’). This applies, for example, to the external boundaries of bodies and to the beginnings and endings of processes extended in time. Intuitively it seems not to be the case that the external boundary of a substance is in the same sense a boundary of the complement entity (i.e., of the entity which results when we imagine this substance as having been subtracted from the universe as a whole). Smith, B. 1997, S. 538f.

Nach der Brentano-Chisholmschen Theorie können Grenzen u. U. nur in bestimmte Richtungen Grenzen sein. Smith erläutert dies durch das Beispiel eines Kreises und einer Geraden, die den Kreis als Tangente berührt. An der Stelle, an der sich Kreis und Gerade berühren, lägen strenggenommen zwei koinzidierende Punkte vor: einer auf dem Kreis und einer auf der Geraden. Die beiden Punkte seien nicht miteinander identisch, denn der Punkt auf der Linie sei eine Grenze in zwei einander geradlinig entgegengesetzte Richtungen, während der Punkt auf dem Kreis eine Grenze in zwei Richtungen sei, die jeweils eine gewisse Krümmung aufwiesen.63 Jeder Punkt, jede Linie und jede Oberfläche müssten in mindestens einer Richtung Grenzen sein. Ein Punkt im Inneren eines kugelförmigen Festkörpers sei eine Grenze in alle möglichen Richtungen. Ein entsprechender Punkt auf dem ebenen Teil der Oberfläche einer Halbkugel sei eine Grenze in genau halb so viele Richtungen. Brentano hat hierfür den Begriff der Plerose geprägt. Der erwähnte Punkt im Inneren der Kugel sei eine Grenze mit voller Plerose, der Punkt auf der äußeren Oberfläche der Halbkugel habe nur halbe Plerose.64

|| 63 Vgl. Smith, B. 1997, S. 539. 64 Vgl. ebd. Das Brentanosche Konzept der Plerose weist deutliche Ähnlichkeiten zur Theorie der Unteilbaren bei Francisco Suárez auf. Suárez betont, dass Punkte und Linien in Festkörpern stets terminativ und continuativ zugleich seien: Im Inneren des Körpers verbinden sie Flächen bzw. Linien von allen Richtungen her, innerhalb der äußeren Oberflächen des Körpers verbinden sie immerhin noch Flächen und Linien, die sich innerhalb der Oberfläche befinden oder vom Inneren des Körpers her kommen (vgl. Suárez Disp. met., d. XL, s. 5, n. 16). Vgl. dazu auch den Abschnitt 5.4 der vorliegenden Arbeit. Brentano würde dazu sagen, dass Punkte und Linien im Inneren der Körper „volle“ oder „vollständige Plerose“ haben, während Punkte und Linien in den äußeren Oberflächen eine „unvollständige Plerose“ haben. Besonders deutlich, bis hin zu gleich gewählten Beispielen, wird die Verwandtschaft der Brentanoschen zur Suárezianischen Theorie anhand von Brentano 1933, S.72f und S. 171f.

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Smith erläutert das Brentanosche Konzept der Plerose noch etwas weiter. Für seine eigene Theorie bedeutsam ist dabei besonders der Aspekt, dass Grenzen koinzidieren können. Bei zwei exakt aufeinanderliegenden Quadern koinzidieren demnach beispielswiese zwei Oberflächen, und zwar die obere Seitenfläche des unteren Quaders mit der unteren Seitenfläche des oberen Quaders. Es können aber auch Linien koinzidieren. Man denke sich dazu zwei Punkte in derjenigen Ebene, in der sich die beiden gerade genannten Quader treffen. Nach Brentano gibt es zwei kürzeste Linien, die diese beiden Punkte verbinden: Eine in der Seitenfläche des unteren Quaders und eine in der Seitenfläche des oberen Quaders. Die beiden Linien koinzidieren.65 Smith verweist hier auf die folgende Aussage von Brentano: Und der Satz der Geometer, daß zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie denkbar sei, ist streng genommen falsch, wenn man sie als Linien von unvollständiger Plerose faßt, deren Plerose nach verschiedenen Seiten geht, während sie doch miteinander koinzidieren. Brentano 1976, S. 16f.

In der Brentanoschen Theorie ergebe sich zudem, dass selbst Punkte Teile haben könnten. Smith nennt diese Teile „plerotische Teile“. Die plerotischen Teile eines Punktes koinzidieren sämtlich sowohl miteinander als auch mit dem Punkt als Ganzem.66 Smith verweist hier wieder auf Brentano: Die Erklärung Euklids, daß ein Punkt das sei, was keine Teile habe, wurde schon von Galilei als irrig erkannt, als er darauf aufmerksam machte, daß der Mittelpunkt des Kreises so viele Teile unterscheiden lasse, als die Peripherie Punkte enthalte, indem er gewissermaßen ein anderer sei als Ausgangspunkt jedes andern Radius. Brentano 1976, S. 51.

Smith fasst schließlich die Brentanosche Theorie des Kontinuums so zusammen: Each point within the interior of a two- or three-dimensional continuum is in fact an infinite (and as it were maximally compressed) collection of distinct but coincident points: punctiform boundaries of straight and crooked lines, of two-dimensional segments of surfaces and of interior regular and irregular cone-shaped portions within three-dimensional continua, etc. Smith, B. 1997, S. 540.

|| 65 Vgl. Smith, B. 1997, S. 539f. 66 Vgl. Smith, B., 1997, S. 540.

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Die hier behauptete unüberschaubare Fülle von koinzidierenden Entitäten nennt Smith eine „ontologische Verschwendung“ („ontological profligacy“), welche jedoch immerhin dadurch eingeschränkt sei, dass etwa die punktförmige, linke Grenze einer ein Zoll langen Linie exakt identisch (und nicht bloß koinzident) mit der punktförmigen, linken Grenze des linken, ein halbes Zoll langen Teilsegments derselben Linie sei.67

7.2.2 Die Formalisierung der Brentano-Chisholmschen Theorie durch Barry Smith Die von Chisholm68 begonnene Formalisierung der Brentanoschen Theorie wird von Smith an einigen Stellen korrigiert und zudem deutlich weiter ausgebaut. Die primären Elemente des von Smith vorgeschlagenen formalen Systems sind „individual spatial things“, worunter er sowohl Körper als auch deren Grenzen sowie unzusammenhängende Kollektionen von Körpern und Grenzen versteht.69 Neben den mereologischen Axiomen enthält das System auch Axiome zur Koinzidenz, welche als symmetrische und transitive Relation definiert ist.70 Faktisch können nur Grenzen koinzidieren. Eines der Axiome der Koinzidenz soll zudem sicherstellen, dass es für jede äußere Grenze möglich ist, mit der äußeren Grenze eines anderen Gegenstandes zu koinzidieren. So soll die Situation zweier einander berührender ausgedehnter Gegenstände beschrieben werden.71 Genauer gesagt soll folgendes gelten: [E]xternal surfaces, unlike boundaries of other sorts, can at any given time coincide at most with one other entity discrete from themselves, and they need not coincide with any other entity at all. Smith, B. 1997, S. 544.

Smith definiert den Begriff des Körpers wie folgt: [A] body is an individual thing which does not coincide with anything and which has as proper part something which is self-coincident. Smith, B. 1997, S. 545.

|| 67 Vgl. Smith, B. 1997, S. 540. 68 Chisholm 1992/1993. 69 Vgl. Smith, B. 1997, S. 541. 70 Vgl. Smith, B. 1997, S. 542f. 71 Vgl. Smith, B. 1997, S. 543f.

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Die Definition läuft darauf hinaus, dass Körper Gegenstände sind, die keine Grenzen sind, aber eine Grenze als echten Teil haben. Der Begriff des Körpers ist damit zunächst sehr weit gefasst. Er umfasst auch räumlich völlig unzusammenhängende Gegenstände und sogar völlig unzusammenhängende Summen aus Grenzen und Gegenständen, die keine Grenzen sind. Einige dieser Gegenbeispiele werden von Smith durch zusätzliche Axiome ausgeschlossen. Außerdem wird ausgeschlossen, dass Gegenstände ohne Grenze, also offene oder teilweise offene Gegenstände, Körper sind. Nicht ausgeschlossen bleibt jedoch, dass zusammenhängende und unzusammenhängende Summen von Körpern sowie auch diejenigen Teile von Körpern, die keine Grenzen sind, wiederum Körper sind.72 Smith zeigt, dass die von Chisholm vorgeschlagene Definition der Grenze fehlerhaft ist. Er schlägt stattdessen die folgende Definition vor: [A] boundary is an entity which is as a matter of necessity such that it and all its parts are necessary proper parts of bodies.73 Smith, B. 1997, S. 547.

Für Grenzen soll das Axiom gelten, dass jede Grenze mit sich selbst koinzidiert. Ein Punkt ist definiert als eine Grenze x, deren sämtliche Teile mit x koinzidieren. Jede Grenze, die nicht punktförmig ist, kann in zwei diskrete Teile zerlegt werden, die selbst wiederum Grenzen sind.74 Es gibt in der von Smith vorgeschlagenen Mereotopologie eine ganze Reihe verschiedener Arten von Kontakt zwischen Körpern. Zwei Körper stehen in direktem Kontakt miteinander, wenn ein echter Teil des einen Körpers mit einem echten Teil des anderen Körpers koinzidiert.75 Körper können auf diese Weise auch mit sich selbst in direktem Kontakt stehen. Ein Spezialfall von direktem Kontakt ist „touching“: [A]n entity x touches an entity y if each is such that it can exist without detriment even should the other be destroyed. […] We might […] formulate a definition along the lines of: [...] x touches y iff x and y are discrete bodies in direct contact and, given any part z of y, x is possibly such that z does not exist and, given any part z of x, y is possibly such that z does not exist. Smith, B. 1997, S. 550.

|| 72 Vgl. Smith, B. 1997, S. 545f. 73 Hervorhebung im Original. 74 Vgl. Smith, B. 1997, S. 547f. 75 Vgl. Smith, B. 1997, S. 549f.

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In diesem Sinne berühren können sich nur voneinander verschiedene Körper. Dabei koinzidieren Teile ihrer jeweiligen äußeren Grenzen.76 Ein Körper wird zusammenhängend genannt, wenn jede Zerlegung des Körpers in zwei Teile derart ist, dass die beiden Teile in direktem Kontakt miteinander stehen. Smith definiert den Begriff des zusammenhängenden Körpers wie folgt: „x is a connected body iff all partitions of x into a pair of bodies y and z are such that y is in direct contact with z.“77 Daraus ergibt sich eine weitere Art des Kontaktes, die Smith „bodily contact “ nennt: „[B]odies x and y are in bodily contact iff their sum is part of some connected body.“78 Als Beispiel nennt Smith seine linke und seine rechte Hand. Diese stünden in „körperlichem Kontakt“ zueinander, zumindest solange keine seiner Hände von seinem Körper abgetrennt ist.79 Über die Vorgaben von Chisholm hinaus definiert Smith noch einige weitere mereotopologische Begriffe. Dazu gehört die Relation „x ist eine Grenze des Körpers y“: x is a boundary of a body y iff x is a boundary and a part of y and y is possibly such as to touch some z with part of which x is coincident. Smith, B. 1997, S. 552.

Für die gerade definierte Relation sollen mehrere Axiome gelten, die festlegen, dass die Relation transitiv ist, dass koinzidierende Grenzen desselben Körpers identisch sind, und dass endliche Vereinigungen von Grenzen desselben Körpers selbst wieder Grenzen dieses Körpers sind. Man könne darüber hinaus auch noch die Antisymmetrie der Relation zeigen: Wenn x eine Grenze von y ist, dann ist y keine Grenze von x.80 Die maximale äußere Grenze („complete boundary or ‚envelope‘“) könne definiert werden als dasjenige x, das eine Grenze des Körpers y ist und für das gilt, dass jedes z, das eine Grenze von y ist, ein Teil von x ist. Auch für Grenzen könne man den Begriff des Zusammenhangs definieren.81 Als spezielle Art von Körpern definiert Smith Substanzen. Zwei zusammenhängende Körper, die einander berühren, bilden nach den bisherigen Definitionen einen dritten, zusammenhängenden Körper. Für Substanzen soll das nicht

|| 76 Vgl. Smith, B. 1997, S. 550f. 77 Smith, B. 1997, S. 551. 78 Smith, B. 1997, S. 551. 79 Vgl. Smith, B. 1997, S. 551. 80 Vgl. Smith, B. 1997, S. 553. 81 Vgl. Smith, B. 1997, S. 552.

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gelten. Substanzen sind maximal zusammenhängende Körper. Allein durch Berührung zweier Substanzen entsteht keine neue Substanz. Smith definiert folgendes: [A] substance is a connected body which is such that if it serves as part of a larger connected body then this only because it touches some second body. Smith, B. 1997, S. 553.

Smith beschließt seine Darstellung mit einer Diskussion der von Chisholm vorgeschlagenen Definitionen für die räumlichen Dimensionen im Allgemeinen und speziell für Punkte, Linien, Oberflächen und Körper. Er räumt ein, dass dieser Teil der Theorie noch wenig ausgearbeitet ist, weshalb er schließlich ein eher verhaltenes Fazit bezüglich der Ausgereiftheit seiner eigenen Theorie der Grenzen zieht: All of these things need to be proved, or stipulated axiomatically on the basis of intuitively reasonable, sound, and satisfactory mereotopological considerations. Only then will we have more than the beginnings of a theory of boundaries and coincidence. Smith, B. 1997, S. 557.

7.2.3 Zusammenfassung und Kritik Barry Smith hat seine formale Theorie der Grenzen im Wesentlichen ausgehend von Ideen von Franz Brentano und deren teilweiser Formalisierung durch Roderick Chisholm entwickelt. Grenzen sind für Smith eindeutig Teile ausgedehnter Gegenstände. Jeder ausgedehnter Gegenstand hat eine (vollständige) Grenze; es gibt daher keine offenen oder halb-offenen Gegenstände. Damit ist eine Quelle erheblicher Schwierigkeiten von vornherein ausgeschlossen. Smith macht darüber hinaus sehr deutlich, dass Grenzen in ihrer Existenz von ausgedehnten Gegenständen abhängig sind. Der Intuition Abhängigkeit wird sein Ansatz also in voller Weise gerecht. Auch der Intuition Ende wird die von Smith vorgeschlagene Theorie gerecht, da in jeder Grenze ein ausgedehnter Gegenstand endigt, was bei äußeren Grenzen sehr leicht einzusehen ist. In Bezug auf innere Grenzen wird im Zuge der Diskussion des Brentanoschen Begriffes der Plerose klar, dass auch an diesen Grenzen jeweils ein oder mehrere ausgedehnte Gegenstände enden. Der Intuition Verbindung wird die von Smith vorgeschlagene Theorie dadurch gerecht, dass die Verbindung zweier ausgedehnter Gegenstände, seien es nun zwei einander berührende, selbständige Körper oder zwei benachbarte Teile desselben Körpers, dadurch hergestellt wird, dass deren

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Grenzen teilweise koinzidieren. Es sind jeweils die koinzidierenden Grenzen, die die Verbindung herstellen. Das Problem der Zugehörigkeit der Grenze zwischen zwei Gegenständen wird von Smith sehr konsequent mithilfe der Idee der koinzidierenden Grenzen, d. h. im Sinne von Option 4, gelöst. Auf die Probleme der Spaltung und des Kontaktes geht Smith nicht explizit ein, was vor allem auch daran liegen mag, dass diese Probleme bei einem Option 4 – Ansatz mit deutlich weniger Schwierigkeiten verbunden sind als bei Ansätzen gemäß der Optionen 1, 2 oder 3. Es tritt hier weder die Frage auf, wie Grenzen vernichtet werden oder neu entstehen können, noch ist es fraglich, ob überhaupt im eigentlichen Sinne ein Kontakt zwischen zwei Gegenständen möglich ist. Bei Spaltungen und Kontaktereignissen bleibt die Zahl der beteiligten Grenzen jedenfalls stets konstant und der Kontakt wird, wie bereits gesagt, durch Koinzidenz der Grenzen sichergestellt, was bedeutet, dass sich kein dritter Gegenstand zwischen den beiden in Kontakt stehenden Gegenständen befindet. Auch Entscheidungsprobleme, zu welcher Seite denn die Grenze gehört, entfallen, da Grenzen gemäß Option 4 in diesem Sinne symmetrisch sind. Mit dem Brentanoschen Begriff der Plerose steht ein Beschreibungswerkzeug zur Verfügung, mit dem sowohl der asymmetrische als auch der symmetrische Aspekt einer Grenze beschrieben werden kann. Wenn sich zwei ausgedehnte Gegenstände berühren, dann endet an der Berührstelle jeweils einer der beiden Gegenstände. Dies wird dadurch ausgedrückt, dass die beiden koinzidierenden Grenzen jeweils für sich genommen nur unvollständige Plerose haben. Beispielsweise haben von den beiden koinzidierenden Oberflächen zweier aufeinanderliegender Ziegelsteine jede der beiden Oberflächen nur halbe Plerose, und zwar hat die zum unteren Ziegelstein gehörende Oberfläche eine nach unten gerichtete halbe Plerose und die zum oberen Ziegelstein gehörende Oberfläche eine nach oben gerichtete halbe Plerose. Hierin drückt sich der asymmetrische Aspekt der Grenze aus: es handelt sich jeweils um das Ende eines der beiden Ziegelsteine. Nimmt man die beiden koinzidierenden Oberflächen aber zusammen, dann ergibt sich eine volle Plerose. Hierin drückt sich der symmetrische Aspekt der Grenze aus: Die Grenze verbindet (und trennt) die beiden Ziegelsteine in symmetrischer Weise. Bei der Spaltung eines Gegenstandes wirkt es sich, wie bereits gesagt, sehr vorteilhaft aus, dass die den späteren Spaltprodukten entsprechenden Teile des unversehrten Gegenstandes jeweils eigene Grenzen haben: Die beiden Teile können dann bei der Spaltung einfach auseinandertreten, ohne dass Grenzen vernichtet werden oder neu entstehen müssen, und ohne dass eines der beiden Spaltprodukte ohne Grenze zurückbleibt. In Abschnitt 3.8 der vorliegenden

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Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass dieser Vorteil möglicherweise dadurch erkauft wird, dass man die Teile auch bereits vor der Spaltung gewissermaßen als eigenständige Gegenstände ansehen kann, die ihre jeweils benachbarten Teile lediglich berühren. Man könnte sagen, dass das Problem der Spaltung nur deshalb so leicht lösbar ist, weil der Gegenstand bereits zuvor als in Teile gespaltener vorliegt. Gemäß Option 4 sind nämlich Situation (a) und Situation (c) nicht von vornherein unterscheidbar. Den Aspekt, dass die Teile ein und desselben Gegenstandes „enger“ zusammenhängen als zwei einander berührende Gegenstände, kann eine Theorie nach Option 4 also nicht ohne weiteres ausdrücken. Smith ist sich dieses Aspektes bewusst und versucht, den genannten Unterschied durch die Relation des „touchings“ einzuholen. Der Kontakt zwischen zwei verschiedenen Körpern (also Situation (a)) wird durch „touching“ beschrieben, während beim Kontakt zweier benachbarter Teile desselben Körpers (Situation (c)) kein „touching“ vorliegt, sondern lediglich das, was Smith „direkter Kontakt“ nennt. In der Weise des „touching“ können nur Gegenstände miteinander in Kontakt stehen, die voneinander ontologisch unabhängig sind. Bei der Spaltung eines Körpers stehen die beiden den späteren Spaltprodukten entsprechenden Teile zunächst nur in „direktem Kontakt“ miteinander, sie berühren sich jedoch nicht im Sinne des „touching“, denn als Teile ein und desselben Gegenstandes sind sie voneinander abhängig. Nach der Spaltung können sich die beiden Spaltprodukte dagegen nur noch im Sinne des „touching“ berühren, denn als eigenständige Körper sind sie voneinander unabhängig. Der Vorwurf, dass die einfache Lösung des Problems der Spaltung durch einen bereits zuvor gespaltenen Gegenstand erkauft wird, trifft auf die von Smith vorgeschlagene Theorie somit nicht zu. Smith kann in seiner Theorie zwischen Situation (a) und Situation (c) klar unterscheiden. Dies drückt er darüber hinaus auch in dem von ihm definierten Begriff der Substanz als maximal zusammenhängender Körper aus, der mit anderen Körpern, wenn überhaupt, dann nur noch im Sinne des „touching“ in Kontakt steht. Die von Smith vorgeschlagene Theorie liefert somit auf viele der bekannten Probleme zufriedenstellende Antworten. Es gibt allerdings auch Kritikpunkte, die im Folgenden zur Sprache kommen sollen. Auf mögliche Schwächen der von Smith vorgeschlagenen Formalisierung soll dabei nicht weiter eingegangen werden. Wie gerade zitiert, ist sich Smith bewusst, dass sein Vorschlag in dieser Hinsicht noch ausbaufähig ist. An den in der obigen nicht-formalen bzw. halbformalen Darstellung erkennbaren Grundideen der von Barry Smith vorgeschlagenen Mereotopologie kann folgendes kritisiert werden: a) Im Inneren jedes ausgedehnten Gegenstandes muss eine unüberschaubare Anzahl von Entitäten postuliert werden, was dem ontologischen Sparsam-

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keitsprinzip eklatant widerspricht. Jeden Punkt und jede Linie im Innern eines ausgedehnten Gegenstandes gibt es nicht nur einfach, sondern gleich in unendlicher Vielheit, und zwar ohne dass sich diese Entitäten räumlich voneinander unterscheiden. b) Die Redeweise, dass zwei einander berührende ausgedehnte Gegenstände eine gemeinsame Grenze haben, muss in der von Smith vorgeschlagenen Theorie „übersetzt“ werden: Es gibt an der Berührstelle der beiden Gegenstände nicht eine gemeinsame Grenze, sondern zwei koinzidierende Grenzen. Der Intuition, dass es sich bei der Grenze zwischen zwei Gegenständen um eine einzige Entität handelt, wird die Theorie also nicht gerecht. Auch hier kann man das ontologische Sparsamkeitsprinzip anführen: Wieso soll man zwei Entitäten annehmen, wo man intuitiv bloß eine vermutet? Es fragt sich, ob die mit der Behauptung der Koinzidenz von Grenzen verbundenen Vorteile diesen Nachteil aufwiegen. c) Die Behauptung koinzidierender materieller Oberflächen widerspricht, zumindest bei einer bestimmten Auslegung dieses Begriffes, der Undurchdringlichkeit materieller Gegenstände. Diesem Kritikpunkt kann dadurch begegnet werden, dass man die Undurchdringlichkeit nur auf ausgedehnte materielle Gegenstände bezieht. Materielle Oberflächen, Linien und Punkte könnten sich dann ohne Probleme durchdringen. Schwerwiegender ist die Behauptung, dass es einander durchdringende Oberflächen oder Linien von verschiedenen Farben oder anderen einander widerstreitenden Qualitäten gibt. Man muss beispielsweise in bestimmten Fällen annehmen, dass eine vollkommen rot gefärbte Linie mit einer vollkommen grün gefärbten Linie koinzidiert. Auf die Frage, welche Farbe die Oberfläche entlang dieser Linie hat, muss die Antwort gegeben werden: sowohl vollständig rot als auch vollständig grün. Der offene Widerspruch wird zwar dadurch aufgelöst, dass hier eben eigentlich zwei Linien vorliegen, eine rote und eine grüne. Allerdings bleiben Zweifel zurück, ob dies das Problem wirklich löst, denn die Frage bleibt bestehen, welche Farbe sich hier schließlich in Bezug auf die Wahrnehmung durchsetzt. Der Ausweg, zu sagen, dass man die Farbe eindimensionaler Linien sowieso nicht wahrnehmen kann, steht hier nicht offen, denn dann wäre es viel konsequenter, Farbzuschreibungen von vornherein nur in Bezug auf Oberflächen zuzulassen. Es wird aber explizit behauptet, dass auch Linien und Punkte Farben hätten. d) Die Intuition, dass Grenzen zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander trennen, kommt in Smiths Überlegungen nicht explizit vor. Es ist fraglich, ob sein Ansatz der Intuition Trennung überhaupt in angemessener Weise gerecht wird. Berühren sich zwei Körper, dann ist es jedenfalls nicht die Grenze zwischen ihnen, bzw. genauer gesagt, sind es nicht ihre beiden koinzidierenden

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Grenzen, die die beiden Körper voneinander trennen. Durch die Koinzidenz der Grenzen befinden sich Teile der beiden Körper (nämlich ihre Grenzen) am selben Ort, was der Intuition, dass die Grenzen die beiden Körper voneinander trennen, entgegensteht. Die Körper sind somit nicht durch ihre Grenze(n) voneinander getrennt, sondern höchstens dadurch, dass es eben zwei verschiedene Körper sind, die insbesondere in ihrer Existenz nicht voneinander abhängen. e) Bei der Beschreibung von Situation (b), d. h. von der Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung, ist die von Smith vorgeschlagene Theorie inkonsequent, da sie den Ansatz gemäß Option 4 hier nicht mehr durchhalten kann. Konsequenterweise müsste gemäß Option 4 die Grenze des Gegenstandes mit der Grenze seiner Umgebung koinzidieren. Smith betont jedoch, dass die äußere Grenze eines ausgedehnten Gegenstandes nicht im selben Sinne auch die Grenze von dessen Komplement sei. Es läge daher hier nur eine Grenze vor: nämlich die Grenze des Gegenstandes. Faktisch bedeutet dies, dass diese Grenze gemäß Option 2 und nicht mehr gemäß Option 4 beschrieben wird. Dass Smith diese Inkonsequenz in Kauf nimmt, ist verständlich, denn Situation (b) kann eigentlich unter Beibehaltung der Grundthese, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, nur durch Option 2 angemessen beschrieben werden. Dass sich ein Gegenstand und sein Komplement gegenseitig durchdringen, und sei es auch nur in einer „dünnen“ Grenze, widerspricht schlicht dem Begriff des Komplementes. Es ist anzumerken, dass Smith sich dadurch auch wieder das bekannte Entscheidungsproblem einhandelt, was denn Figur und was Hintergrund ist. Wie bereits mehrfach beschrieben wurde, gibt es Situationen, in denen diese Frage nicht völlig eindeutig beantwortet werden kann. Außerdem folgt aus der genannten Inkonsequenz eine weitere Schwierigkeit: f) Für Smith ist das Komplement eines Körpers selbst kein Körper, denn es fehlt diesem die äußere, zur Koinzidenz fähige Oberfläche. Kontakt ist in der von Smith vorgeschlagenen Theorie aber nur für Körper definiert, und zwar als Überlappung der beteiligten Körper bzw. Koinzidenz von deren äußeren Oberflächen. Ein Körper kann somit nicht mit seinem eigenen Komplement in Kontakt stehen. Man könnte die Definition des Kontaktes nun zwar etwas verallgemeinern auf Gegenstände, die eine Grenze als Teil haben. Aber selbst diese erweiterte Definition des Kontaktes trifft auf einen Körper und sein Komplement nicht zu. Es steht also, gemäß der von Smith vorgeschlagenen Theorie, kein Körper mit seinem Komplement in Kontakt. Dies ist aber kontraintuitiv. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die von Smith vorgestellte Mereotopologie in der Brentanoschen Tradition viele der bekannten Probleme deutlich besser lösen kann als alternative Ansätze. Diese Vorteile werden jedoch im We-

Gemischte Ansätze | 245

sentlichen dadurch erkauft, dass die Existenz einer verschwenderischen Fülle von Entitäten angenommen werden muss. Zudem widerspricht die von Smith behauptete Koinzidenz von Grenzen einigen verbreiteten Intuitionen über Grenzen und über materielle Gegenstände. Bemerkenswert ist schließlich, dass es Smith nicht gelingt, Option 4 konsequent durchzuhalten. Die Außengrenzen von Körpern gegenüber ihrer Umgebung werden von ihm faktisch gemäß Option 2 beschrieben.

7.3 Gemischte Ansätze Bei den beiden gerade vorgestellten Mereotopologien handelt es sich um mehr oder weniger einheitliche Ansätze in dem Sinne, dass jeweils versucht wird, entweder Option 2 oder Option 4 für sämtliche Grenzen zu wählen. Wie bereits angedeutet, fällt es den Vertretern der beiden vorgestellten Mereotopologien schwer, ihren jeweiligen Ansatz konsequent durchzuhalten. Casati und Varzi erwägen in bestimmten Fällen auch eine Lösung gemäß Option 4 statt Option 2 und Smith bestimmt die Außengrenzen von Körpern gegenüber ihrer Umgebung faktisch nach Option 2 und nicht nach Option 4. Es liegt daher nahe, die beiden Ansätze zu einem gemischten Ansatz zu kombinieren. Tatsächlich haben Smith und Varzi82 gemeinsam eine entsprechende Theorie erarbeitet. Daisuke Kachi83 hat diese später kritisiert und eine alternative Kombination der Optionen 2 und 4 vorgeschlagen. Beide gemischten Ansätze sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

7.3.1 Fiat und bona fide-Grenzen In ihrem gemeinsamen Artikel84 unterscheiden Smith und Varzi grundsätzlich zwei verschiedene Typen von Grenzen: fiat-Grenzen und bona fide-Grenzen.85 Diese Zweiteilung betreffe sowohl innere als auch äußere Grenzen. In Bezug auf innere Grenzen definieren die Autoren die beiden Typen von Grenzen folgendermaßen:

|| 82 Smith und Varzi 2000. 83 Kachi 2009. 84 Smith und Varzi 2000. 85 Die Terminologie wurde in Smith, B. 1994 erstmals eingeführt.

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[W]e do sometimes speak of inner boundaries even in the absence of any corresponding physical discontinuity or qualitative differentiation. Even in relation to a homogeneous sphere we can still talk sensibly of its upper and lower hemispheres, its center of mass, and so on. We shall call the inner boundaries involved in such cases fiat boundaries. Inner boundaries involving spatial discontinuity (holes, fissures, slits) or qualitative heterogeneity (of material constitution, texture, electric charge) we shall call bona fide boundaries. Smith und Varzi 2000, S. 401f.

Die Differenzierung in fiat und bona fide-Grenzen soll aber, wie gesagt, auch für äußere Grenzen gelten. Smith und Varzi nennen als Beispiele für äußere bona fide-Grenzen die Oberflächen von Planeten oder Tennisbällen. Als Beispiele für äußere fiat-Grenzen werden Staatsgrenzen, Grenzen von Provinzen und Landeigentum, von Postregionen und Wahlkreisen genannt, insofern sie nicht mit qualitativen Unterschieden oder räumlichen Diskontinuitäten (wie beispielsweise Küstenlinien oder Flüssen) in den darunterliegenden Territorien zusammenfallen.86 Smith und Varzi unterscheiden darüber hinaus verschiedene Typen von fiat-Grenzen. Neben intersubjektiv vereinbarten fiat-Grenzen (z. B. Staatsgrenzen), die eine soziale Realität abbilden und auch relativ lange existieren können, gebe es auch fiat-Grenzen, die nur von einem Subjekt oder einer bestimmten Handlung abhängen und unter Umständen nur momentan existieren. Außerdem gebe es einige fiat-Grenzen, die durch mathematische Definition festgelegt sind (z. B. der Äquator oder das Massezentrum des Mondes).87 Durch Festlegung äußerer fiat-Grenzen entstünden fiat-Gegenstände, die durch diese Grenzen von ihrer jeweiligen Umgebung abgegrenzt sind. Als Beispiele für fiat-Gegenstände werden Dade County, der Staat Wyoming und die Nordsee angegeben (wobei letztere nicht ausschließlich durch fiat-Grenzen, sondern teilweise auch durch bona fide-Grenzen begrenzt ist).88 FiatGegenstände und ihre Grenzen weisen laut Smith und Varzi eine topologische Besonderheit auf: Consider what happens when two political entities (nations, states, counties) lie adjacent to one another. The entities in question may be said to share a common boundary. This sharing or coincidence of spatial boundaries is, we want to claim, a peculiarity of the fiat world: it has no analogue in the world of bona fide entities. Smith und Varzi 2000, S. 404.

|| 86 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 402. 87 Vgl. ebd. 88 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 403. Das Beispiel der Nordsee geht letztlich auf Frege zurück (vgl. Frege 1988, S. 39).

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Smith und Varzi beziehen sich hier auf die Redeweise, dass sich zwei fiatGegenstände eine gemeinsame Grenze teilen („sharing of a boundary“), sie deuten diese Redeweise jedoch durchweg so, dass hier eigentlich zwei koinzidierende Grenzen vorliegen. Dies wird auch an zwei weiteren von den Autoren angeführten Beispielen deutlich: Does the equator belong to the Northern or to the Southern hemisphere? Our answer […] is that it belongs to both. Or, more precisely, each hemisphere has its own equator and the two equators coincide (i.e., they have the same spatial location). [...] We can speak of the Mason-Dixon line as the border between Maryland and Pennsylvania. But this single border is to be recognized as being made up of two parts, two perfectly coinciding fiat boundaries bounding Maryland and Pennsylvania, respectively. Smith und Varzi 2000, S. 409.

Die Möglichkeit der Koinzidenz von Grenzen sei jedenfalls eine Besonderheit von fiat-Grenzen. Bei äußeren bona fide-Grenzen könne es dagegen weder Koinzidenz der Grenzen noch eigentlichen Kontakt zwischen den entsprechenden Gegenständen geben. Dies habe physikalische Gründe, wie Smith und Varzi am Beispiel zweier Menschen illustrieren, die sich die Hand geben oder sich küssen: To see this, it may suffice to imagine that two bodies, say John and Mary, should converge upon each other for a period of time, for example in shaking hands or kissing. Physically speaking, as we know, a complicated story has to be told in such cases as to what happens in the area of apparent contact of the two bodies, a story in terms of sub-atomic particles whose location and belongingness to either one or the other of the two bodies may be only statistically specifiable. As far as bona fide outer boundaries are concerned, however, no genuine contact or coincidence of boundaries between John and Mary is possible at all. Smith und Varzi 2000, S. 404.

In der mikrophysikalischen Betrachtungsweise zeige sich, dass es im eigentlichen Sinne keinen Kontakt zwischen John und Mary gebe. Wenn man sich jedoch nicht mit physikalischen Methoden auf die Mikroebene beziehe, sondern die natürliche Sprache nutze, um Phänomene auf einer größeren Skala (wie beispielsweise den Körperkontakt zwischen John und Mary) zu beschreiben, dann seien zwangsläufig „fiat-demarcations“ beteiligt.89 Nachdem sie die Unterscheidung zwischen fiat- und bona fide-Grenzen auf diese Weise eingeführt haben, wenden sich Smith und Varzi explizit den Problemen der Zugehörigkeit der Grenze, des Kontaktes und der Spaltung zu.90 Aus|| 89 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 404. 90 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 405ff.

248 | Mereotopologie

gangspunkt ist dabei die Feststellung, dass sowohl aus physikalischen als auch aus mathematischen Gründen zwei verschiedene physikalische Körper nicht im eigentlichen Sinne miteinander in Kontakt stehen können. Sie könnten sich lediglich so nahe kommen, dass es für das menschliche Auge so scheint, als stünden sie in Kontakt. Dennoch sei es wünschenswert, daran festzuhalten, dass gewisse physikalische Körper, beispielsweise Johns Kopf und der Rest seines Körpers, in eigentlichem Kontakt miteinander stehen. Smith und Varzi sehen hier zwei Lösungswege: den Bolzanoschen, nach dem Kontakt genau dann möglich sei, wenn genau einer der beiden Gegenstände keine Grenze habe, und den Brentanoschen, nach dem Kontakt durch zwei zwei koinzidierende Grenzen hergestellt werde.91 Die Autoren schlagen eine Kombination dieser beiden Lösungswege vor. Bona fide-Grenzen seien im Sinne der herkömmlichen Topologie, d. h. gemäß der Bolzanoschen Lösung, zu verstehen. Hier sei die mit der herkömmlichen Topologie verbundene Unterscheidung in offene, abgeschlossene und teilweise offene Gegenstände angebracht. Wo es fiat-Grenzen gebe, sei dagegen diese Unterscheidung unangemessen.92 Fiat-Grenzen könnten, wie bereits gesagt, koinzidieren. Für diese komme nur die Brentanosche Lösung infrage.93 Gegen die Bolzanosche Lösung werde häufig eingewandt, dass sie eine unmotivierte Asymmetrie behaupte, was dem Prinzip des zureichenden Grundes widerspreche.94 Smith und Varzi antworten darauf, dass dieser Einwand in Bezug auf fiat-Grenzen zwar seine Berechtigung habe, weshalb die Bolzanosche Lösung für fiat-Grenzen auch unangemessen sei. Die Bolzanosche Lösung sei jedoch für bona fide-Grenzen passend und angemessen, denn die Unterscheidung in offene und abgeschlossene Gegenstände sei hier alles andere als willkürlich und unmotiviert: [O]rdinary material objects are naturally the owners of their boundaries (their surfaces, in effect), and there is nothing counterintuitive in the thought that the environments in which objects are embedded are open. Smith und Varzi 2000, S. 407.

Als Lösung für das Problem der Spaltung physikalischer Körper mit äußeren bona fide-Grenzen greifen Smith und Varzi auf die von Casati und Varzi95 vorge-

|| 91 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 406. 92 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 407. 93 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 409. 94 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 406. 95 Vgl. Casati und Varzi 1999, S. 87ff. Vgl. auch Abschnitt 7.1.2 in der vorliegenden Arbeit.

Gemischte Ansätze | 249

schlagene Deutung der Spaltung als allmähliche topologische Deformation, ähnlich der Zerteilung eines Öltropfens, zurück. Dabei wird auch von Smith und Varzi zugegeben, dass bei dieser Deutung etwas „zutiefst Problematisches“ zurückbleibe. Der Grund dafür sei, dass der „common sense“ in Bezug auf topologische Veränderungen „the limits of its theoretical competence“ erreiche. Das Rätsel verschwinde erst, wenn man zu einer mikrophysikalischen Beschreibung übergehe.96 Bei der Spaltung eines physikalischen Körpers kämen jedenfalls keine inneren Grenzen ans Licht. Es liege hier auch kein Wechsel von einer fiat-Grenze zu einer bona fide-Grenze vor. Solche Wechsel seien prinzipiell unmöglich: „The categorial distinction between fiat and bona fide boundaries is absolute.“97 Allenfalls sei es möglich, dass an derselben Stelle, an der sich eine fiat-Grenze befindet, eine bona-fide-Grenze entstehen kann, wie beispielsweise beim Zerschneiden eines Gegenstandes oder bei der Errichtung eines Stacheldrahtzaunes an einer Staatsgrenze.98 Im dritten Abschnitt ihres Artikels beschreiben Smith und Varzi eine Formalisierung der von ihnen vorgeschlagenen Lösung.99 Dabei betonen sie zunächst, dass die beiden komplementären Theorien der Grenze, aus denen ihr gemischter Ansatz besteht, einen gemeinsamen Kern hätten, der darin bestehe, dass sowohl bona fide- als auch fiat-Grenzen ontologisch abhängige Entitäten seien: The two theories are not in complete disagreement. Both bona fide and fiat boundaries share a fundamental property: they are ontologically parasitic on (i.e., cannot exist in isolation from) their hosts, the entities they bound. Smith und Varzi 2000, S. 410.

Smith und Varzi betten die ontologische Abhängigkeit der Grenzen in einen mereologischen bzw. mereotopologischen Rahmen ein, welcher als gemeinsamer Kern der beiden Teiltheorien dienen soll.100 Anschließend führen sie die primitive Relation ( , ) mit der Bedeutung „ is a bona fide boundary for “ ein. Die dafür postulierten Axiome und die daraus abgeleiteten Theoreme entsprechen im Wesentlichen den aus der Theorie von Casati und Varzi bekannten. Insbesondere definieren auch Smith und Varzi einen topologischen Abschluss-

|| 96 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 408. 97 Smith und Varzi 2000, S. 409. 98 Vgl. ebd. 99 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 410ff. 100 Vgl. für das folgende Smith und Varzi 2000, S. 411f.

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Operator, der den üblichen aus der Topologie bekannten Kuratowski-Axiomen101 gehorcht. Ein bona fide-Kontakt zwischen zwei Gegenständen besteht laut Smith und Varzi genau dann, wenn die beiden Gegenstände entweder einen gemeinsamen Teil haben, oder wenn einer der beiden Gegenstände mit dem Abschluss des anderen einen gemeinsamen Teil hat. Für fiat-Grenzen wird von den Autoren anschließend eine weitere primitive Relation eingeführt: ∗ ( , ) mit der Bedeutung „ is a fiat boundary for “. Die Axiome und Theoreme dazu sind an die von Smith bereits im Zusammenhang mit der BrentanoChisholmschen Theorie vorgeschlagenen angelehnt. Ein topologischer Abschluss-Operator kann in Bezug auf die fiat-Grenzrelation nicht definiert werden. Stattdessen wird die Äquivalenzrelation der Koinzidenz eingeführt, die es erlaubt, fiat-Kontakt so zu definieren, dass zwei Gegenstände genau dann miteinander in fiat-Kontakt stehen, wenn sie entweder einen gemeinsamen Teil haben oder ihre fiat-Grenzen koinzidieren. Besondere Beachtung schenken Smith und Varzi schließlich noch dem Thema der ontologischen Abhängigkeit der Grenzen.102 Dazu definieren sie zunächst den Begriff des (mit sich selbst) zusammenhängenden Gegenstandes: „A self-connected entity is one all of whose parts are separated at most by fiat.“103 Damit können sie schließlich für beide Typen von Grenzen axiomatisch festlegen, dass es für jede zusammenhängende Grenze einen zusammenhängenden ausgedehnten Gegenstand geben muss, deren Grenze sie ist. Auffällig sei dabei, dass der Begriff des zusammenhängenden Gegenstandes die Theorie der fiatGrenzen voraussetzt und daher auch die Theorie der bona fide-Grenzen nicht unabhängig von der Theorie der fiat-Grenzen ist: Thus, through the notion of self-connectedness, the theory of bona fide boundaries presupposes the theory of fiat boundaries. This implies, surprisingly, a central role for the fiat world even in matters of bona fide ontology. Smith und Varzi 2000, S. 417.

Der von Smith und Varzi gemeinsam vorgeschlagene gemischte Lösungsansatz kann einige der Nachteile vermeiden, die mit den von den beiden Autoren zuvor getrennt voneinander vorgelegten Theorien verbunden sind. Hervorzuheben ist insbesondere die nun klar ausgesprochene Zweiteilung in Grenzen vom Bolzanoschen Typ (Option 2) und Grenzen vom Brentanoschen Typ (Option 4), die sich in beiden früheren Theorien bereits angedeutet hat. Es bleiben allerdings

|| 101 Vgl. Kuratowski 1966, S. 38. 102 Vgl. Smith und Varzi 2000, S. 417. 103 Ebd.

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auch viele der Probleme bestehen, vor allem in Bezug auf Bolzanosche Grenzen. Die Erklärung von Spaltungen physikalischer Körper ist bei Smith und Varzi dieselbe wie bei Casati und Varzi. Somit treffen hier auch dieselben, bereits oben erwähnten Kritikpunkte zu. Hinzu kommen zusätzliche Probleme, die mit der Unterscheidung zwischen fiat- und bona fide-Grenzen zusammenhängen. Es ist nicht klar, ob diese Unterscheidung tatsächlich gerechtfertigt ist. In einem neueren Artikel vertritt Varzi selbst die Meinung, dass sich bei näherer Betrachtung herausstelle, dass alle Grenzen fiat-Grenzen seien, da alle Grenzen ein Element von Pragmatik, Willkür oder Konvention enthielten.104 Andere Autoren betonen, dass vom empirischen Standpunkt aus gesehen fiat-Grenzen irrelevant seien und bona fide-Grenzen nur in idealisierten Fällen vorkommen könnten, weshalb die Unterscheidung, zumindest für empirische Zwecke, wenig fruchtbar sei.105 Selbst dann, wenn man die Unterscheidung zwischen fiat- und bona fide-Grenzen anerkennt, bleibt fraglich, ob diese auch tatsächlich zusammenfällt mit der Unterscheidung zwischen Grenzen vom Brentanoschen und vom Bolzanoschen Typ, wie Smith und Varzi behaupten. Insbesondere letzteren Kritikpunkt betont Daisuke Kachi in seiner Kritik an der von Smith und Varzi vorgelegten gemischten Theorie und seinem Gegenvorschlag, welche im Folgenden vorgestellt werden sollen.

7.3.2 Vier Arten von Grenzen Daisuke Kachi kritisiert sowohl die von Casati und Varzi vorgelegte „Bolzanosche“ Theorie als auch die von Varzi und Smith vorgelegte gemischte Theorie. In Bezug auf letztere führt er die folgenden Kritikpunkte an:106 a) Bei inneren bona fide-Grenzen wie beispielsweise der Grenze zwischen dem roten Kreis und seiner weißen Umgebung auf der japanischen Flagge müsse die Frage der Zugehörigkeit der Grenze im Gegensatz zum fiat-Fall eindeutig entschieden werden. Man könne hier zwar dafür argumentieren, dass der rote Kreis die Figur und der weiße Kreis der Hintergrund ist, und dass damit die Grenze zum roten Kreis gehört. Diese Vorgehensweise sei allerdings bei zwei benachbarten verschiedenfarbigen Feldern nicht möglich. Hier werde unnötigerweise eine Asymmetrie aufgeprägt, wo eigentlich eine symmetrische Situation vorliege.

|| 104 Vgl. Varzi 2011, dort insbesondere S. 143. 105 Vgl. Boniolo, Faraldo und Saggion 2009, S. 183f. 106 Vgl. Kachi 2009, S. 88.

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b) Die Erklärung der Spaltung physikalischer Körper durch allmähliche Deformation decke nicht alle möglichen Fälle ab. Wenn beispielsweise eine Spaltung im Inneren des Körpers beginne oder plötzlich erfolge, greife die Erklärung nicht. c) Smith und Varzi behaupten, dass eigentlicher Kontakt zwischen physikalischen Körpern aus quantenphysikalischen Gründen nicht vorkommen könne. Die Quantenphysik sage aber nichts über die Frage, ob Kontakt zwischen mesoskopischen Gegenständen möglich sei. Hier würden verschiedene „levels of granularity“107 in unzulässiger Weise miteinander vermengt. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, schlägt Kachi eine alternative ontologische Klassifikation der Grenzen vor.108 Er wendet sich dabei vor allem gegen die von Smith und Varzi vertretene Ansicht, dass nur fiat-Grenzen koinzidieren können. Eine zweidimensionale Grenze eines materiellen Körpers sei, so Kachi, stets ein konkreter, jedoch immaterieller Gegenstand, der in spezifischer Weise von dem Körper abhänge, dessen Grenze er sei. Dies mache es möglich, dass zwei Grenzen, ganz gleich ob nun fiat oder bona fide, koinzidieren können: Aufgrund ihrer Immaterialität könnten sie sich am selben Ort befinden, und aufgrund der spezifischen Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Körper könnten sie als zwei verschiedene Entitäten individuiert werden, obwohl sie sich am selben Ort befänden. Die Unterscheidung zwischen fiat- und bona fide-Grenzen sei für die Frage der Ontologie der Grenzen gar nicht so wichtig. Kachi ersetzt die von Smith und Varzi vorgeschlagenen zwei Arten von Grenzen durch vier Arten von Grenzen, die sich als Kombinationen von zwei grundlegenden Unterscheidungen ergeben. Die erste Unterscheidung differenziert zwischen Brentanoschen und Bolzanoschen Grenzen, wobei für Kachi dies nichts mit der möglichen Koinzidenz der Grenzen zu tun hat, sondern mit der Symmetrie bzw. Asymmetrie der Grenzen. An Brentanoschen Grenzen stünden zwei Entitäten miteinander in (symmetrischem) Kontakt, während Bolzanoschen Grenzen eine Entität gegenüber ihrer Umgebung (asymmetrisch) abgrenzten. Kachi schreibt dazu: In my view, what determines whether a boundary is Brentanian or Bolzanian is the number of substantial entities, whether fiat or bona fide, that is related to contact; Brentanian coincidence is brought about by the contact of two substantial entities, while Bolzanian contact holds between an entity and its complementary region or some entity defined using that region. Kachi 2009, S. 89.

|| 107 Kachi 2009, S. 88. 108 Vgl. für das Folgende Kachi 2009, S. 89.

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Die Asymmetrie der Bolzanoschen Grenzen gründe daher in einer Art ontologischer Asymmetrie bezogen auf die Gegenstände, die miteinander in Kontakt stehen. Die zweite von Kachi angeführte Unterscheidung ist eine modale Unterscheidung zwischen potentiellen und aktualen Grenzen, die sich danach richtet, ob die am Kontakt beteiligten Entitäten potentiell oder aktual sind. Diese Unterscheidung falle ebenfalls nicht mit der Unterscheidung zwischen fiat und bona fide zusammen. Kachi gibt zwei Beispiele dafür an: According to this distinction, the boundary between e.g. two cities is actual and yet fiat, since cities are institutional entities. To the contrary, the boundaries between a heart and blood vessels may be potential and yet bona fide, since a heart and blood vessels are biological entities.109 Kachi 2009, S. 89.

Aufgrund der zwei Unterscheidungen gebe es vier verschiedene Arten von Grenzen: 1) aktuale Brentanosche Grenzen: z. B. die koinzidierenden Grenzen zwischen zwei Körpern. 2) aktuale Bolzanosche Grenzen: z. B. die Grenze zwischen einem Körper und seiner komplementären Region. 3) potentielle Brentanosche Grenzen: z. B. die koinzidierenden Grenzen zwischen den beiden Hälften eines Körpers. 4) potentielle Bolzanosche Grenzen: z. B. die Grenze zwischen einem (echten) Teil eines Körpers und dem komplentären Teil dieses Körpers. Kachi präzisiert seine Theorie der Grenzen anschließend noch etwas.110 Er schreibt, dass die Klassifizierung in vier Arten von Grenzen eher eine Klassifizierung der Situationen, in denen Grenzen auftreten, als eine Klassifizierung der Grenzen selbst sei. Betrachte man die Grenzen selbst, dann sei jede Grenze eine Bolzanosche Grenze, in dem Sinne, dass sie die Grenze eines abgeschlossenen Gegenstandes gegenüber seiner offenen Umgebung sei. Die obige Unterscheidung zwischen Bolzanoschen und Brentanoschen Grenzen werde damit reduziert zu der Frage, ob es in einer bestimmten Situation nur eine Bolzanosche Grenze gebe oder ob zwei koinzidierende Bolzanosche Grenzen vorlägen. In gewisser Weise würden damit Brentanosche Grenzen auf Bolzanosche zurückgeführt. Die Brentanosche Sichtweise sei dennoch auch in seinem Ansatz prä-

|| 109 Hervorhebungen im Original. 110 Vgl. für das Folgende Kachi 2009, S. 89f.

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sent, zumindest in dem Sinne, dass die Existenz eigenständiger offener Gegenstände, die sich ontologisch auf derselben Ebene befinden wie abgeschlossene Gegenstände, bestritten werde: [T]his view supports Brentano in rejecting Bolzano's 'open entity' that is on a par with a closed entity. An open entity is, if it is an entity at all, dependent on a closed entity in the sense that it is defined using the concept of complementary region of that closed entity. Kachi 2009, S. 90.

Die Lösungen zu den Problemen der Zugehörigkeit der Grenze, der Spaltung und des Kontaktes seien unter Verwendung der vorgestellten Klassifikation jedenfalls „straightforward“. Kachi löst die Probleme schließlich so:111 a) Zum Problem der Zugehörigkeit bei inneren Grenzen und zum Problem der Spaltung: Hier lägen entweder zwei koinzidierende potentielle Grenzen vor, oder aber nur eine einzige potentielle Grenze. Nur im ersten Fall sei eine Spaltung möglich. (Die beiden potentiellen Grenzen würden dann jeweils zu aktualen Grenzen.112) Im zweiten Fall sei einer der beiden Teile des Körpers abgeschlossen und der andere (teilweise) offen. Letzterer könne nicht vom Körper abgetrennt werden, denn es handele sich bei dem (teilweise) offenen Teil ontologisch gesehen nicht um einen potentiell eigenständigen Gegenstand sondern lediglich um die Schnittmenge zwischen der zum ersten Teil komplementären Raumregion und dem Gesamtkörper.113 b) Zum Problem der Zugehörigkeit bei äußeren Grenzen und zum Problem des Kontaktes: Jeder eigenständige Gegenstand ist abgeschlossen, d. h. seine Grenze ist ihm zugeordnet und nicht seinem Komplement. Kollisionen und Kontakt zwischen abgeschlossenen Körpern sind möglich, denn alle Grenzen können koinzidieren. Da es keine abtrennbaren offenen Gegenstände gibt, gibt es auch keine Probleme in Bezug auf Kollisionen zwischen zwei offenen bzw. einem offenen und einem abgeschlossenen Körper. Eine Beurteilung des Vorschlages von Kachi fällt zunächst deshalb schwer, weil Kachi die Bedeutungen der Ausdrücke „Brentanosche Grenze“ und „Bolzanosche Grenze“ abweichend zum Gebrauch bei Smith und Varzi festlegt. Im Effekt kehrt er die Bedeutungen um. Er behauptet, dass in seinem Ansatz alle

|| 111 Vgl. Kachi 2009, S. 90. 112 Kachi schreibt dies nicht explizit, es ergibt sich aber aus seinen Ausführungen. 113 Der zweite Fall erinnert an die im Abschnitt 2.3 der vorliegenden Arbeit beschriebene Postion van Inwagens, der die „doctrine of arbitrary undetached parts“ (DAUP) ablehnt (vgl. van Inwagen 1997). Kachi schreibt dazu nichts, aber es ist klar, dass der zweite Fall nur dann auftreten kann, wenn die DAUP falsch ist.

Gemischte Ansätze | 255

Grenzen eigentlich „Bolzanosche Grenzen“ seien. Schaut man aber genauer hin, dann handelt es sich bei Kachis „Bolzanoschen Grenzen“ um Grenzen, die jeweils einen ausgedehnten Gegenstand nach außen begrenzen, die diesem Gegenstand (und nicht seiner Umgebung) zugehören, und für die es möglich ist, dass sie mit anderen Grenzen koinzidieren. Das ist aber genau die Art von Grenzen, die Smith in seinem Artikel von 1997 als Grenzen in der Tradition Brentanos beschrieben hat. Eine weitere Schwierigkeit bei der Einordnung von Kachis Vorschlag besteht darin, dass Kachi offensichtlich die „doctrine of arbitrary undetached parts“ (DAUP) ablehnt, da er von Teilen eines Körpers spricht, die sich nicht abtrennen ließen. Bei Smith und Varzi scheint dagegen die DAUP implizit vorausgesetzt zu sein, so wie sie auch in der vorliegenden Arbeit vorausgesetzt wird.114 Setzt man die DAUP voraus, dann entfällt Kachis vierte Art der Grenze, und es bleiben nur drei Arten von Grenzen übrig: die beiden koinzidierenden Außengrenzen zweier miteinander in Kontakt stehender Gegenstände, die Außengrenze eines Körpers gegenüber seiner Umgebung und die beiden koinzidierenden Grenzen zweier benachbarter Teile desselben Körpers. Kachi selbst spricht davon, dass es sich bei den von ihm vorgeschlagenen vier Arten von Grenzen genauer gesagt um Situationen handelt, in denen Grenzen vorkommen können. In den drei bei Annahme der DAUP übrig bleibenden Arten von Grenzen erkennt man unschwer die im ersten Teil dieser Arbeit vorgestellten drei Situationen (a), (b) und (c). Dabei werden Situation (a) und Situation (c) von Kachi gemäß Option 4 beschrieben, Situation (b) gemäß Option 2. Kachi nennt die in den Situationen (a) und (b) vorkommenden Grenzen „aktuale Grenzen“, während er die in Situation (c) vorkommenden Grenzen „potentielle Grenzen“ nennt. Dies lässt sich eins zu eins übersetzen in das Begriffspaar „äußere Grenzen“ und „innere Grenzen“. Innere Grenzen sind dabei genau in dem Sinne potentiell, dass man (unter Voraussetzung der DAUP) den Teil, dessen Grenze sie jeweils sind, vom Ganzen abtrennen kann, so dass er zu einem eigenständigen („aktualen“) Gegenstand wird und die Grenze damit zu einer aktualen bzw. äußeren Grenze. Damit ist klar, dass Kachis Vorschlag der von Smith in seinem Artikel von 1997 vorgeschlagenen Mereotopologie in der Tradition Brentanos sehr nahekommt. Damit betreffen aber die im vorigen Abschnitt genannten Kritikpunkte an dieser Theorie zunächst einmal genauso auch den Vorschlag von Kachi. Insbesondere handelt sich auch Kachi eine enorme Vervielfältigung der Entitäten ein, vor allem wenn es um Linien und Punkte innerhalb von dreidimensio|| 114 Vgl. Abschnitt 2.3.

256 | Mereotopologie

nalen Körpern geht, auf die Kachi in seinem Artikel allerdings nicht explizit Bezug nimmt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass zwei in Bezug auf Smiths Theorie genannte Kritikpunkte Kachis Vorschlag nicht oder in geringerem Maße betreffen: Zum einen betont Kachi klarer als Smith dies in seinem früheren Artikel tut, dass es sich bei seinem Vorschlag um einen gemischten Ansatz handelt. Und zum anderen behauptet Kachi, dass Grenzen immaterielle Entitäten seien, womit sich die Probleme im Zusammenhang mit der Durchdringung zweier Grenzen und mit den unterschiedlichen empirischen Eigenschaften zweier koinzidierender Grenzen erledigt haben. Allerdings könnte an dieser Stelle auch ein neues Problem verborgen liegen: Die Frage, wie denn die immateriellen Grenzen den Gegenständen, deren Grenzen sie jeweils sind, zugeordnet sein können. Will man an der mereologischen Grundthese, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, festhalten (was Kachi zumindest in dem Sinne tut, als dass er diesen sehr auffälligen Aspekt der Theorien von Smith und Varzi nicht kritisiert), dann müsste man behaupten, dass materielle Gegenstände immaterielle Teile haben können. Auf dieses Problem kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Positiv festzuhalten bleibt an Kachis Vorschlag jedoch vor allem, dass er die von Smith und Varzi vorgenommene fragwürdige Identifizierung der Unterscheidung zwischen dem Brentanoschen und dem Bolzanoschen Grenztyp mit der Unterscheidung zwischen fiat-Grenzen und bona fide-Grenzen ablehnt und stattdessen hier den sehr viel wichtigeren Aspekt der Symmetrie bzw. Asymmetrie der Situationen, in denen Grenzen auftreten, ins Spiel bringt.

7.4 Fundamentale Kritik an der Mereotopologie Olivia Breysse und Michel De Glas115 haben eine sorgfältige Analyse und fundamentale Kritik einer ganzen Klasse verbreiteter mereotopologischer Theorien vorgelegt, zu denen auch die von Casati und Varzi vorgeschlagene Mereotopologie gehört. Den beiden Autoren zufolge lassen sich alle diese Mereotopologien als Kombinationen zweier axiomatisch eingeführter Relationen, einer Teilrelation und einer Zusammenhangsrelation, darstellen. Mithilfe dieser beiden Relationen könnten dann alle anderen üblichen mereologischen und mereotopologischen Konzepte definiert werden, wie beispielsweise Überlappung, echter Teil, externer Kontakt, innerer Teil, äußerer Teil („tangential part“), Inneres und

|| 115 Breysse und De Glas 2007.

Fundamentale Kritik an der Mereotopologie | 257

Abschluss.116 Breysse und De Glas folgen Cohn und Varzi117 darin, die von ihnen untersuchten mereotopologischen Theorien durch ein kanonisches, mengentheoretisches Modell darzustellen. Gegenstände werden dabei als Teilmengen eines topologischen Raumes dargestellt; die Grenze einer solchen Teilmenge ist definiert als die mengentheoretische Differenz zwischen ihrem Abschluss und ihrem Inneren.118 Breysse und De Glas untersuchen die folgenden drei Zusammenhangsrelationen zwischen den Teilmengen eines topologischen Raumes: C1) Zwei Mengen hängen genau dann zusammen, wenn sie eine nicht-leere Schnittmenge haben. C2) Zwei Mengen hängen genau dann zusammen, wenn der Abschluss einer der beiden Mengen mit der anderen Menge eine nicht-leere Schnittmenge hat. C3) Zwei Mengen hängen genau dann zusammen, wenn ihre Abschlüsse eine nicht-leere Schnittmenge haben. Diese drei Varianten seien die in der Literatur anzutreffenden Hauptvarianten. Andere, formal mögliche Varianten seien nicht als sinnvolle Zusammenhangsrelationen identifizierbar.119 Zu diesen drei Zusammenhangsrelationen gebe es drei korrespondierende Teilrelationen, die jeweils dadurch definiert sind, dass eine Menge x genau dann ein Teil von einer Menge y ist, wenn jede Menge z, die mit x zusammenhängt, auch mit y zusammenhängt: „x is a part of y iff, for any z, z is connected to y whenever z is connected to x.“ Dabei wird mit P1, P2 und P3 jeweils die mit C1, C2 und C3 korrespondierende Teilrelation bezeichnet.120 Es gibt mereotopologische Theorien, die jeweils eine der drei Zusammenhangsrelationen mit der jeweils korrespondierenden Teilrelation kombinieren, so dass nur die drei Kombinationen (P1, C1), (P2, C2) und (P3, C3) vorkommen. Diese Mereotopologien sind laut Breysse und De Glas „essentially topological in nature“, d. h. der mereologische Anteil der Theorie stimmt mit den durch den topologischen Anteil gegebenen Vorgaben zusammen und fügt dem topologischen Anteil qualitativ nichts Neues hinzu. Es gibt allerdings auch mereotopologische Theorien, bei denen die Teilrelation und die Zusammenhangsrelation jeweils unabhängig voneinander gewählt wird, so dass in der Folge Mereologie und Topologie auseinandertreten

|| 116 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 218ff. 117 Cohn und Varzi 2003. 118 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 222. 119 Vgl. ebd. 120 Vgl. ebd.

258 | Mereotopologie

und zwei voneinander weitgehend unabhängige Teile derselben Theorie bilden. Breysse und De Glas nennen als Beispiele dafür die von Casati und Varzi121 sowie von Barry Smith122 vorgeschlagenen Mereotopologien (wobei sie sich nicht auf Smiths „Brentanosche“ Mereotopologie beziehen, sondern auf einen früheren Vorschlag Smiths, der in der Bolzanoschen Tradition steht und keine Koinzidenz von Grenzen behauptet). Die verschiedenen möglichen Kombinationen der drei Teilrelationen mit den drei Zusammenhangsrelationen erlauben es, unterschiedliche mereotopologische Theorien zu klassifizieren und miteinander zu vergleichen.123 Die drei von Breysse und De Glas angegebenen Zusammenhangsrelationen korrespondieren nicht nur mit den drei von ihnen angegebenen Teilrelationen, sondern auch mit den ersten drei der im ersten Teil der vorliegenden Arbeit entwickelten Lösungsoptionen des Problems der Zugehörigkeit der Grenze: C1 entspricht dabei Option 1, C2 Option 2 und C3 Option 3, was bei einer näheren Betrachtung der Definitionen der drei Zusammenhangsrelationen leicht einzusehen ist. Option 4 kommt hier nicht vor, denn die Koinzidenz von Grenzen lässt sich nicht im üblichen topologischen Rahmen, in dem ein Abschlussoperator definiert ist, darstellen. In der von Breysse und De Glas vorgeschlagenen Klassifikation ist also offenbar kein Platz für die „Brentanosche“ Mereotopologie vorgesehen. Breysse und De Glas untersuchen nun systematisch alle in ihrer Klassifikation möglichen mereotopologischen Theorien und kommen dabei zu dem Ergebnis dass diese sämtlich entweder paradox oder inkonsistent sind:124 Bei denjenigen Theorien, die die Teilrelation P2 enthalten, ergebe sich, dass jede Grenze Teil ihres eigenen Komplementes ist. Bei den Theorien, die die Teilrelation P3 enthalten, ergebe sich, dass für jede Region (bzw. allgemeiner für jede Teilmenge des topologischen Raumes) das Innere und das Äußere dieser Region einen gemeinsamen Teil haben. Bei den Theorien, die die Zusammenhangsrelation C1 enthalten, gebe es keine zwei Regionen, die einander benachbart sind ohne einen gemeinsamen Teil zu haben. Bei den Theorien, die die Zusammenhangsrelation C3 enthalten, gebe es Regionen, deren Inneres und Äußeres miteinander verbunden seien. Alle diese Implikationen seien paradox und kontraintuitiv, es bliebe also nur noch die Kombination (P1, C2) übrig. Zu diesem Ergebnis seien auch bereits Casati und Varzi gekommen. Jede Mereotopologie, die die

|| 121 Casati und Varzi 1999. 122 Smith, B. 1996. 123 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 222f. 124 Vgl. für das Folgende Breysse und De Glas 2007, S. 223ff.

Fundamentale Kritik an der Mereotopologie | 259

Kombination (P1, C2) enthalte, sei allerdings inkonsistent, wie Breysse und De Glas in einem kurzen Beweis zeigen.125 Die Autoren ziehen das Fazit, dass alle mereotopologische Theorien, die Grenzen als primäre Elemente enthalten, entweder paradox oder inkonsistent seien. Dies liege vor allem in den Eigenheiten einiger Grundbegriffe der Topologie begründet: [B]oundary-based mereotopological theories are either paradoxical or inconsistent, due to the counterintuitive, if not paradoxical, modelling of some basic notions by means of topology. Breysse und De Glas 2007, S. 218.

Bei dem Versuch, den Kontakt zwischen ausgedehnten Gegenständen topologisch zu deuten, gerate man in eine Aporie: [T]opology does not offer any possibility to define and investigate the concept of connection in a satisfactory manner and leads, for instance, to the following aporetic situation: the modelling of contact between separate physical bodies is unavoidably contradictory. If bodies are modelled as closed sets (in which case C1, C2 and C3 coincide), they have boundary points in common when they are in real contact and they are thus not really separated. If they are modelled as open sets, the bodies are disjoint from their 'border', i.e. their boundary – which contradicts the intuitive notion of contact. All other possibilities (one object being open and one closed, or the objects being both clopen) are unworkable. Breysse und De Glas 2007, S. 225.

Da auch „grenzen-freie“ Mereotopologien in ihrem Charakter wesentlich mengentheoretisch und topologisch seien, treffe auch auf diese weitgestgehend dieselbe Problematik zu: What makes point-set topology problematic (in particular when combined with mereology) for the modelling of space is not much that regions are made of points, but it is that it incorporates many counterintuitive and paradoxical aspects of set theory. The same remark applies to a great extent, to pointless topology: apart from the fact that those regions

|| 125 Vgl. Breysse und De Glas, S. 225. Im Beweis wird gezeigt, dass aus den Definitionen von P1 und C2 folgt, dass einerseits das Komplement einer abgeschlossenen Menge x mit seinem eigenen Inneren identisch ist und somit ausschließlich innere Teile hat, dass andererseits aber mindestens ein Teil des Komplementes von x mit der Grenze von x, die ja nicht zum Komplement gehört, in externem Kontakt steht und somit kein innerer Teil des Komplementes sein kann. Das Komplement von x ist also einerseits mit seinem Inneren identisch, andererseits jedoch nicht mit diesem identisch. Die Kombination (P1, C2) führt somit zu einem Widerspruch.

260 | Mereotopologie

are not composed of points, the basic structures under study in such a framework are essentially the same as in a topological space. Breysse und De Glas 2007, S. 226.

Die Autoren halten daher jede Art von Mereotopologie für unbrauchbar in Bezug auf die Beschreibung der Grenzen ausgedehnter Gegenstände: „What we need are new structures.“126 Um die Begriffe der Grenze, des Zusammenhangs und des Kontaktes zugleich widerspruchsfrei zu definieren, müsse man zwischen Gegenständen verschiedener ontologischer Ordnungen und insbesondere zwischen ausgedehnten und nicht-ausgedehnten raumzeitlichen Gegenständen unterscheiden können. Innerhalb des Rahmens der Mereotopologie sei dies aber nicht möglich. An der Wurzel der Mereologie stünden im Grunde allein ausgedehnte Gegenstände, die Topologie führe dagegen unvermeidlich auf die Annahme von nicht-ausgedehnten Gegenständen, welche rein abstrakt seien und für die es keine physikalischen Entsprechungen gebe. Eine Reduktion des intuitiven Begriffes der Grenze auf den topologischen Begriff der Grenze sei unangemessen und führe nicht weiter.127 Die fundamentale Kritik, die Breysse und De Glas an den von ihnen untersuchten mereotopologischen Theorien üben, ist ernstzunehmen. Sie haben in großer Klarheit gezeigt, wo die Probleme dieser Theorien liegen und weshalb die Beschreibung von Grenzen ausgedehnter Gegenstände durch diese mereotopologischen Theorien nicht gelingt. Wie bereits erwähnt, haben Breysse und De Glas dabei allerdings nur Ansätze im Blick, die das Problem der Zugehörigkeit der Grenze im Sinne der Optionen 1, 2 und 3 lösen. Die „Brentanosche“ Mereotopologie, bei der das Problem der Zugehörigkeit mithilfe koinzidierender Grenzen und damit im Sinne von Option 4 gelöst wird, scheint ihre Kritik also auf den ersten Blick nicht zu betreffen. Allerdings wurde oben bei der Diskussion der von Barry Smith vorgeschlagenen Mereotopologie in der Brentanoschen Tradition und der gemischten Ansätze von Smith, Varzi und Kachi gezeigt, dass auch diese Theorien nicht ohne einen Option 2-Anteil auskommen. Zumindest auf diesen Anteil, also auf die Grenzen eines Gegenstandes in Bezug auf sein Komplement bzw. auf alle bona fide-Grenzen, trifft die Kritik von Breysse und De Glas in vollem Umfang zu. Da eine reine Option 4–Lösung aus anderen Gründen wenig plausibel erscheint (ein Gegenstand und sein Komplement müssten sich dann gegenseitig durchdringen, was dem Begriff des Komplementes widerspricht), kann das Fazit von Breysse und De Glas ohne weiteres auf alle

|| 126 Breysse und De Glas 2007, S. 226. 127 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 236.

Fundamentale Kritik an der Mereotopologie | 261

in der vorliegenden Arbeit untersuchten Mereotopologien ausgedehnt werden: Auf dem Wege einer mereotopologischen Formalisierung ist eine befriedigende Lösung der mit der Annahme von Grenzen als Teilen ausgedehnter Gegenstände verbundenen Probleme nicht möglich.

8 Alternative Ansätze Die vielfältigen Probleme der verschiedenen, im Kapitel 7 besprochenen mereotopologischen Theorien haben einige Autoren dazu veranlasst, einige grundlegende und allgemein akzeptierte Ansichten, auf denen die Probleme ihrer Ansicht nach beruhen, aufzugeben. So schlägt beispielsweise William Kilborn1 vor, die grundlegende Annahme, dass der Raum kontinuierlich ist, aufzugeben. Allerdings ist die Annahme eines nicht-kontinuierlichen Raumes äußerst kontraintuitiv und mit erheblichen konzeptionellen Schwierigkeiten verbunden. Einen ähnlich kontraintuitiven Lösungsvorschlag haben bereits vor Aufkommen der formalen Mereotopologie David Kline und Carl Matheson2 formuliert: Angesichts der Problemlage sei es am plausibelsten, anzunehmen, dass realer Kontakt zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen logisch unmöglich ist. In jüngster Zeit haben schließlich Zach Weber und Aaron Cotnoir3 vorgeschlagen, zur Lösung der Probleme auf die uneingeschränkte Gültigkeit des logischen Nichtwiderspruchprinzips zu verzichten. Weber und Cotnoir haben eine „parakonsistente Mereotopologie“ entwickelt, die es erlaubt, dass Grenzen zugleich Teile eines Gegenstandes als auch Teile des Komplementes dieses Gegenstandes sein können, und dass ein und derselbe Punkt zugleich rot und nicht rot sein kann.4 Andere Autoren neigen eher dazu, an den gerade genannten fundamentalen und weit verbreiteten Ansichten festzuhalten, und stattdessen für die Beschreibung ausgedehnter Gegenstände und ihrer Grenzen eine Alternative zur Mereotopologie vorzuschlagen. Im Folgenden sollen zwei dieser alternativen Ansätze vorgestellt werden.

|| 1 Kilborn 2007. 2 Kline und Matheson 1987. 3 Weber und Cotnoir 2015. 4 Vgl. Weber und Cotnoir 2015, S. 1287. Die Autoren schlagen damit eine einheitliche Lösung gemäß Option 1 vor, und zwar für alle drei Situationen, in denen Grenzen auftreten können. Insbesondere ist gemäß dieser Lösung auch die Grenze zwischen einem Gegenstand und seiner Umgebung ein gemeinsamer Teil von Gegenstand und Umgebung: „a boundary in connected space is best thought of as involving the overlap of something with its complement“ (Weber und Cotnoir 2015, S. 1288).

„Locologie“ statt Topologie | 263

8.1 „Locologie“ statt Topologie Wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt wurde, führen Olivia Breysse und Michel De Glas die Unbrauchbarkeit mereotopologischer Theorien für die Beschreibung ausgedehnter Gegenstände und ihrer Grenzen vor allem auf die kontraintuitiven und paradoxen Aspekte der Topologie und der damit verbundenen Mengentheorie zurück. Ihr Gegenvorschlag gründet darin, eine „alternative Topologie“ einzuführen, die sie Locologie („locology“) nennen und die von den mit der Annahme des aktual Unendlichen verbundenen Problemen, welche Breysse und De Glas an der Wurzel der paradoxen Aspekte der Topologie sehen, nicht betroffen sein soll.5 Grundidee der Locologie ist es, eine zweistellige, reflexive Relation auf den Elementen bzw. Punkten eines Raumes einzuführen, die man sich als Ähnlichkeits- oder (empirische) Ununterscheidbarkeitsrelation vorstellen kann und mithilfe derer „quasi-topologische“ Begriffe definiert werden können.6

8.1.1 Kern und Schatten Zu jedem Punkt ist der Halo [ ] von definiert als die Menge all derjenigen Punkte von , die mit in der Relation stehen. Die Relaton ist reflexiv, jedoch im Allgemeinen nicht transitiv. Breysse und De Glas schlagen vor, sich die Relation als Ähnlichkeits- bzw. (empirische) Ununterscheidbarkeitsrelation vorzustellen: „The relation λ is to be thought of as a resemblance or an indistinguishability relation.“ Mithilfe des Begriffs des Halos werden dann zu jeder Teilmenge von der Kern und der Schatten von definiert: Der Kern ℎ( ) einer Teilmenge von ist die Menge aller Punkte von , deren Halo vollständig in enthalten ist. Der Schatten ( ) einer Teilmenge von ist die Menge aller Punkte von , deren Halo mit eine nichtleere Schnittmenge hat. Kern und Schatten hängen in der Weise zusammen, dass das Komplement des Kerns des Komplements von der Schatten von ist.7 Es lassen sich nun zwei Familien von Teilmengen von definieren: Die Familie ℒ aller Kerne von Teilmengen von und die Familie ℒ′ aller Schatten von Teilmengen von . Zusammen mit jeweils entsprechenden

|| 5 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 226f. 6 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 227. 7 Vgl. ebd.

264 | Alternative Ansätze

binären Verknüpfungen nennt man ℒ eine „Locologie“, ℒ′ eine „Co-Locologie“ und den Raum ( , ℒ, ℒ′) einen „locologischen Raum“.8

8.1.2 Frontier und boundary Anstelle des Begriffes der Grenze werden von Breysse und De Glas zwei verschiedene Begriffe definiert: frontier und boundary. (Die Terminologie und die dahinterstehenden Intuitionen wurden der Geographie entlehnt.) Die frontier einer Teilmenge von ist definiert als die mengentheoretische Differenz zwischen dem Schatten und dem Kern von . Die frontier besteht aus zwei disjunkten Teilmengen: die innere und die äußere frontier. Die innere frontier ist die Differenz zwischen und dem Kern von ; die äußere frontier ist die Differenz zwischen dem Schatten von und .9 Die innere frontier der Menge gehört der Menge vollständig als Teil an. Es handelt sich dabei (in der im ersten Teil der vorliegenden Arbeit entwickelte Terminologie) um einen „dicken äußersten Teil“ der Menge . Bei der äußeren frontier der Menge handelt es sich entsprechend um einen „dicken äußersten Teil“ des Komplementes von . In Abschnitt 3.1 der vorliegenden Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass mit der Annahme, dass Grenzen dicke äußerste Teile von ausgedehnten Gegenständen sind, ein Regressproblem verbunden ist: Auch eine solche Grenze hat wiederum Grenzen, usw. Man kann nicht alle diese Grenzen als dicke äußerste Teile bestimmen. Die Konstruktion von Breysse und De Glas vermeidet den Regress dadurch, dass der „innere-frontier-Operator“ idempotent ist: die innere frontier der inneren frontier von ist identisch mit der inneren frontier von . Anders ausgedrückt: Jede innere frontier ist ihre eigene innere frontier. Das liegt daran, dass der Kern jeder inneren frontier leer ist. (Gleiches gilt entsprechend für jede äußere frontier.)10 Breysse und De Glas folgern aus den gerade genannten Eigenschaften der inneren frontier, dass es die Locologie im Gegensatz zur Topologie erlaube, zwischen Punktförmigkeit und Unteilbarkeit zu unterscheiden. Auf der einen Seite könne man eine innere (bzw. eine äußere) frontier als unteilbar ansehen, weil sie einen leeren Kern hat: Die in der inneren frontier enthaltenen Punkte sind voneinander ununterscheidbar. Auf der anderen Seite habe eine innere

|| 8 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 229. 9 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 230f. 10 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 231.

„Locologie“ statt Topologie | 265

frontier stets eine gewisse „Dicke“ (zumindest insofern die Relation derart ist, dass zwei verschiedene Punkte in Relation zueinander stehen können).11 Die gesamte frontier, also die Vereinigung der inneren mit der äußeren frontier, hat dagegen einen nichtleeren Kern. Breysse und De Glas nennen den Kern der frontier von die boundary von . Die boundary der Menge ist nicht notwendigerweise ein Teil von . Bildet man den Kern des Schattens von , dann erhält man die Vereinigung der Menge mit ihrer boundary als Resultat. Bildet man dagegen den Schatten des Kerns von , dann erhält man die Menge ohne ihre boundary.12 Hier kommen die beiden Mengenfamilien ℒ und ℒ′ (die Familien der Kerne und der Schatten) wieder ins Spiel. Man kann zeigen, dass für alle Elemente von ℒ gilt, dass sie ihre boundary als Teil enthalten, während für alle Elemente von ℒ′ gilt, dass ihre boundary vollständig zum Komplement gehört. Die Familie ℒ ähnelt daher der Familie der abgeschlossenen Mengen der Topologie, während die Familie ℒ′ der Familie der offenen Mengen ähnelt. Jede boundary ist dabei natürlich, als Kern, ein Element von ℒ.13 Man könne hierin, so Breysse und De Glas, eine deutliche Verwandtschaft zwischen Locologie und Topologie erkennen. Tatsächlich könne man zeigen, dass, wenn man die Ununterscheidbarkeitsrelation immer „feiner“ wählt, als Grenzfall die entsprechende Locologie in eine Topologie übergehe.14

8.1.3 Eine neue Lösung des Problems der Zugehörigkeit Die von ihnen definierten Begriffe der (inneren und äußeren) frontier sowie der boundary nutzen Breysse und De Glas nun dazu, eine neue Lösung für das Problem der Zugehörigkeit der Grenze vorzuschlagen. Ihr Vorschlag gründet im Wesentlichen darauf, dass die innere frontier einer Region (bzw. eines ausgedehnten Gegenstandes) von derselben ontologischen Ordnung ist wie die Region, deren innere frontier sie ist, während Punkte und Mengen vom LebesgueMaß Null im Vergleich dazu keinerlei signifikante Bedeutsamkeit haben:

|| 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 231f. 14 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 232.

266 | Alternative Ansätze

The (locological) inner frontier of a given region is of the same ontological order as that of the regions it bounds: contrary to topology, points and Lebesgue-measure zero sets are of no significance. Breysse und De Glas 2007, S. 233.

Man könne die Locologie daher auch als eine „pointless geometry“15 ansehen. Nur für (locologische) frontiers gebe es eine Entsprechung in der Wirklichkeit. Für boundaries, die Lebesgue-Maß Null haben,16 gebe es dagegen keine entsprechenden Entitäten in der Wirklichkeit. Es sei daher auch Unsinn, nach den physikalischen oder empirischen Eigenschaften von Punkten zu fragen: Boundaries being of Lebesgue-measure zero, the question of whether such matematical or imaginary entities (or objects they are supposed to model) possess such and such physical property (e.g. given an object divided into two parts, one which is green, the other red, asking whether the boundary between the two regions is green or red) is – if one can say – pointless. Indeed, if a boundary is a purely mathematical entity or owes its 'existence' to human cognitive phenomena (e.g. the equator which divides the earth into two hemispheres), then it has no genuine existence, even if one agrees with a purely platonistic view of mathematics. No one can even figure out what a non extended physical object would look like. Therefore, boundary sets (i.e. sets which coincide with their boundary), in particular mathematical points or their supposed counterpart in the 'real world', have no physical property: it is nonsense to ask whether the center of gravity of a human body is made of flesh or blood. Breysse und De Glas 2007, S. 234.

Um mit den (physikalischen) Eigenschaften realer Gegenstände umzugehen, müsse man adäquate mathematische Modelle wählen. Insbesondere dürfe man keine „boundary sets“ und Punkte als Modelle für physikalische Entitäten wählen. Die Locologie biete die richtigen Modelle, um beispielsweise die Grenze zwischen zwei Regionen darzustellen:

|| 15 Breysse und De Glas 2007, S. 233. 16 Dass locologische boundaries Lebesgue-Maß Null haben, beweisen Breysse und De Glas in ihrem Artikel nicht. Es ist auch sehr fraglich, ob dies tatsächlich der Fall ist, und ob sie dies an dieser Stelle auch tatsächlich aussagen wollen. Im unten angegebenen Zitat verwenden sie den Ausdruck „boundary“ jedenfalls, ohne genauer zu qualifizieren, ob es sich dabei um locologische oder um topologische boundaries oder um Grenzen im allgemeineren Sinne handelt. Am plausibelsten scheint die Deutung zu sein, dass es sich hier um topologische boundaries handeln muss, da nur diese in jedem Fall Lebesgue-Maß Null haben. Unabhängig davon haben für Breysse und De Glas weder topologische noch locologische boundaries irgendeine Signifikanz für die „physikalische“ Wirklichkeit: „Boundaries, either locological or topological, have no 'physical' significance.“ (Breysse und De Glas 2007, S. 232).

„Locologie“ statt Topologie | 267

For instance, if one considers that the separation between two regions is not a boundary, rather a frontier, of which locology gives a model, the above-mentioned problems vanish. Breysse und De Glas 2007, S. 234.

Fasst man diese Aussagen zusammen, dann ergibt sich, dass Breysse und De Glas das Problem der Zugehörigkeit einer inneren Grenze offenbar in der Weise lösen, dass sie einen „dicken“ Übergangsbereich (nämlich die frontier) zwischen den beiden durch die Grenze voneinander getrennten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes annehmen, der teilweise zu dem einen und teilweise zu dem anderen Teil gehört. Diese frontier sei das, was man im Allgemeinen als die Grenze zwischen den beiden Teilen bezeichne. Die Frage, wozu genau die „dünne Trennlinie bzw. Trennfläche“ (die boundary) zwischen den beiden Teilen gehöre, sei irrelevant, da es die boundary außerhalb des Modells gar nicht gebe bzw. dieser keine physikalische bzw. empirische Bedeutsamkeit zukomme.

8.1.4 Contiguity Die gerade beschriebene Lösung des Zugehörigkeitsproblems schlägt sich in der von Breysse und De Glas vorgeschlagenen Definition der „contiguity“17 nieder. Der Begriff der contiguity beziehe sich dabei auf Regionen. Zwei Regionen seien aneinander angrenzend („contiguous“), wenn der Kern des Schattens der einen Region sich mit dem Kern des Schattens der anderen Region überlappt, und zugleich jede der beiden Regionen sich nicht mit dem Kern der anderen Region überlappt.18 (Dabei überlappen sich zwei Regionen genau dann, wenn es eine nichtleere Menge gibt, die Teilmenge sowohl der einen als auch der anderen Region ist.19) Contiguity lasse sich nicht rein topologisch definieren. Breysse und De Glas illustrieren dies anhand des Beispiels zweier aneinander angrenzender Zimmer desselben Hauses, die eine gemeinsame Wand voneinander trennt. Solche Zimmer würden gewöhnlich „contiguous rooms“ genannt. Die Tatsache, dass das jeweilige „Innere“ (im gewöhnlichen Sinne verstanden) der beiden Zimmer disjunkt vom „Inneren“ des jeweils anderen Zimmers ist, lasse sich topologisch

|| 17 Mit „contiguity“ bezeichnen Breysse und De Glas das, was bei Varzi (Varzi 1997) „continuity“ heißt. Den Begriff „contiguity“ schätzen die Autoren im Vergleich zu „continuity“ als „less ambiguous“ ein. (Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 235.) 18 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 235. 19 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 234.

268 | Alternative Ansätze

nicht ausdrücken, es sei denn, die Wand hätte das Lebesgue-Maß Null (was natürlich bei realen Häusern nicht der Fall ist).20 Breysse und De Glas illustrieren die Definition der contiguity in ihrem Artikel nicht weiter. Unter Verwendung der hier zitierten Definitionen von Kern, Schatten, frontier und boundary lässt sich aber folgendes feststellen: In der Definition der contiguity ist sowohl eine „Obergrenze“ als auch eine „Untergrenze“ für den „Abstand“ angegeben, den zwei Regionen voneinander haben müssen, damit man zu Recht von ihnen sagen kann, dass sie aneinander angrenzend sind. Dass sich der Kern des Schattens der einen Region mit dem Kern des Schattens der anderen Region überlappen muss, läuft darauf hinaus, dass sich zumindest die boundaries der beiden Regionen überlappen müssen, um von „contiguity“ zu sprechen. Damit ist die „Obergrenze“ festgelegt: Sind zwei Regionen so weit voneinander entfernt, dass sich ihre boundaries nicht mehr überlappen, dann sind sie auch nicht aneinander angrenzend. Auf der anderen Seite läuft die Bedingung, dass keine der beiden Regionen sich mit dem Kern der jeweils anderen Region überlappen darf, darauf hinaus, dass jede der beiden Regionen sich gerade noch mit der gesamten (auch der inneren) frontier der jeweils anderen Region überlappen, jedoch nicht in den Kern der anderen Region eindringen darf. Damit ist die „Untergrenze“ festgelegt. Es ist somit möglich, dass sich zwei aneinander angrenzende Regionen faktisch überlappen, d. h. gemeinsame Teile haben. Es ist allerdings genauso möglich, dass zwei aneinander angrenzende Regionen keine gemeinsamen Teile haben, ja dass es sogar eine „neutrale“ boundary zwischen ihnen gibt. Letzteres ist dann möglich, wenn beide Regionen Mengen aus der Familie ℒ′ sind. Dann gehört ihnen ihre jeweilige boundary nämlich nicht als Teil an und die Überlappung der beiden boundaries ist möglich, ohne dass sich die Regionen selbst überlappen. Es wird somit nicht zwischen den Lösungsoptionen 1, 2 und 3 des Problems der Zugehörigkeit der Grenze unterschieden. Ob die beiden Regionen einen gemeinsamen Teil haben, ob die eine Region abgeschlossen und die andere offen ist, oder ob es eine „neutrale“ dünne Grenze zwischen ihnen gibt, spielt in Bezug auf ihre contiguity keine Rolle.

8.1.5 Contact Abschließend definieren Breysse und De Glas noch den Begriff des Kontaktes („contact“), welcher faktisch ein Spezialfall von contiguity ist.21 Im Zuge dessen || 20 Vgl. Breysse und De Glas 2007, S. 235.

„Locologie“ statt Topologie | 269

legen sie zunächst fest, dass „wirkliche“ ausgedehnte Gegenstände Regionen einnehmen, die Elemente der Mengenfamilie ℒ′ sind: Our basic hypothesis is that (real) objects are (more precisely fill in) regions which are elements of the co-locology ℒ′ in some locological space. Breysse und De Glas 2007, S. 235.

Dies könne auf den ersten Blick überraschen, denn die Elemente der Familie ℒ′ entsprechen, wie gezeigt wurde, den offenen und nicht den abgeschlossenen Mengen. Viele Autoren neigten eher dazu, reale ausgedehnte Gegenstände durch abgeschlossene Mengen darzustellen. Der Grund dafür sei allerdings die Annahme, dass reale ausgedehnte Gegenstände ihre Grenze („border“) als Teil enthielten. Diese Annahme sei im Rahmen eines locologischen Modells jedoch bereits durch den Begriff der inneren frontier verwirklicht. Daher sei es vollkommen unbedenklich, reale ausgedehnte Gegenstände als „offene“ Elemente von ℒ′ zu modellieren: [T]he naive notion of border is captured within our locological framework by the concept of inner frontier. It is thus perfectly harmless, and actually meaningful, to assume that an object lies in ℒ′. What matters is that such a region contains its inner frontier and is disjoint from its boundary – which has no physical significance. Breysse und De Glas 2007, S. 235.

Die Entscheidung, reale ausgedehnte Gegenstände als Elemente von ℒ′ darzustellen, sei darüber hinaus der einzig mögliche Weg, um den Begriff des Kontaktes sinnvoll zu definieren. Breysse und De Glas schlagen die folgende Definition dafür vor: We will say that two objects and are in contact with each other iff they are at a 'zero distance' from each other but do not overlap.22 Breysse und De Glas 2007, S. 235.

Genauer ausgedrückt, stehen nach Breysse und De Glas zwei ausgedehnte Gegenstände (bzw. die Regionen, die sie einnehmen) genau dann in Kontakt miteinander, wenn der Kern des Schattens des einen Gegenstandes sich mit dem Kern des Schattens des anderen Gegenstandes überlappt, während die beiden

|| 21 Vgl. für das Folgende Breysse und De Glas 2007, S. 235. Dass contact ein Spezialfall von contiguity ist, schreiben Breysse und De Glas zwar nicht explizit, man kann es aber leicht aus den Definitionen ablesen. 22 Hervorhebung im Original.

270 | Alternative Ansätze

Gegenstände selbst sich nicht überlappen. Mit dieser Definition endet der Artikel von Breysse und De Glas. Ähnlich wie bei der Definition der contiguity enthält auch die Definition des Kontaktes eine Ober- und eine Untergrenze für den gegenseitigen Abstand zwischen zwei miteinander in Kontakt befindlichen Gegenständen. Die Obergrenze ist dabei dieselbe wie in der Definition der contiguity: Bei zwei miteinander in Kontakt befindlichen Gegenständen müssen sich mindestens die beiden boundaries überlappen. Gegenstände, deren boundaries sich nicht überlappen, stehen auch nicht miteinander in Kontakt. Die Untergrenze ergibt sich aus der Bedingung, dass sich die beiden Gegenstände nicht überlappen dürfen. Damit können sich die beiden Gegenstände höchstens in ihrer boundary überlappen, denn alles „innerhalb“ der boundary eines Gegenstandes gehört diesem auf jeden Fall als Teil an. Möglich ist die Erfüllung beider Bedingungen der Definition nur dann, wenn mindestens einer der beiden Gegenstände ein Element von ℒ′ ist, also seine boundary nicht als Teil enthält. Da Breysse und De Glas von vornherein festgelegt haben, dass alle realen ausgedehnten Gegenstände durch Elemente von ℒ′ dargestellt werden, können alle realen ausgedehnten Gegenstände miteinander in Kontakt kommen. Das Zugehörigkeitsproblem wird dabei im Sinne von Option 3 gelöst: Die boundary zwischen den beiden Gegenständen ist „neutral“, sie gehört keinem der beiden Gegenstände als Teil an. Dem Vorwurf, dass damit eine „Lücke“ zwischen den beiden Gegenständen bliebe und somit von echtem Kontakt nicht gesprochen werden könne, entgehen sie dadurch, dass die Dicke der boundary unterhalb der Grenze der Unterscheidbarkeit verschiedener Punkte voneinander liegt, und dass die boundary damit physikalisch keine Bedeutung hat. Es handelt sich, physikalisch gedeutet, tatsächlich um einen „Null-Abstand“ zwischen den beiden Gegenständen.

8.1.6 Zusammenfassung und Kritik Um den Vorschlag von Breysse und De Glas richtig einzuordnen und zu bewerten, ist zu beachten, dass die Autoren gewissermaßen zwei Antworten auf die Frage nach den Grenzen ausgedehnter Gegenstände geben. Einerseits behaupten sie, dass „physikalisch“ jeweils nur die „dicke“ frontier ausschlaggebend ist, während den „dünnen“ boundaries keine Bedeutung zukommt. Andererseits kommt den boundaries bei der Modellierung realer ausgedehnter Gegenstände offenbar dennoch eine wichtige Rolle zu. Es ist jedenfalls ganz und gar nicht irrelevant, dass kein realer ausgedehnter Gegenstand seine boundary als

„Locologie“ statt Topologie | 271

Teil besitzt. Die „neutralen“ boundaries stellen nämlich den Kontakt her zwischen zwei einander berührenden Gegenständen. Im Vorschlag von Breysse und De Glas ist also eine gewisse Spannung erkennbar: Einerseits betonen die Autoren stark, dass nur ausgedehnten Gegenständen Realität zukommt, was zur Idee der frontier als ausgedehnter Grenze führt. Andererseits kommt den nichtausgedehnten boundaries in ihrer Definition des Kontaktes die entscheidende Rolle zu. Ganz irrelevant sind die boundaries also offenbar doch nicht. Klammert man die Begriffe der contiguity und des Kontaktes zunächst aus, dann ergibt sich aus den Ausführungen von Breysse und De Glas der folgende Lösungsvorschlag für das Problem der Zugehörigkeit: Die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen ist niemals „dünn“ sondern stets „dick“. Es handelt sich um einen ausgedehnten Übergangsbereich, der teilweise zum einen und teilweise zum anderen der beiden beteiligten Gegenstände gehört. Fragen nach „dünnen“ Grenzen sind Unsinn. Dies trifft auf alle drei möglichen Situationen zu, in denen Grenzen vorkommen: (a) eine Grenze zwischen zwei einander berührenden ausgedehnten Gegenständen; (b) eine Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung; und (c) eine Grenze zwischen zwei benachbarten ausgedehnten Teilen desselben ausgedehnten Gegenstandes. Grenzen sind, wie die Definition der frontier zeigt, stets abhängig von einem ausgedehnten Gegenstand. Die innere frontier eines ausgedehnten Gegenstandes ist das Ende dieses Gegenstandes. Zwei einander berührende Gegenstände sind durch eine gemeinsame frontier miteinander verbunden. Zugleich trennt die frontier eines Gegenstandes diesen von seiner Umgebung und von anderen Gegenständen. Den zu Beginn der vorliegenden Arbeit beschriebenen Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen wird dieser Vorschlag also vollkommen gerecht.23 Auch die Definition der contiguity passt noch in dieses Bild. Damit zwei Regionen aneinander angrenzen, ist es nur nötig, dass sich ihre jeweiligen frontiers überlappen. Ob die „dünne“ boundary zur einen oder zur anderen der beiden Regionen gehört, oder ob sie „neutral“ ist, spielt dabei keine Rolle. Die Optionen 1, 2 und 3 sind alle gleichermaßen als Lösung des Zugehörigkeitsproblems bezogen auf die boundary denkbar. Die Frage nach der Zugehörigkeit der boundary ist also irrelevant. Eine Inkonsequenz ergibt sich erst mit dem Begriff des Kontaktes zwischen realen ausgedehnten Gegenständen. Hier ist es für Breysse und De Glas plötz-

|| 23 Die in diesem Absatz geschilderten Ansichten über Grenzen passen im Übrigen auch sehr gut zu der von Boniolo, Faraldo und Saggion entwickelten empirischen Sichtweise auf Grenzen (vgl. Boniolo, Faraldo und Saggion 2009).

272 | Alternative Ansätze

lich wichtig, dass reale ausgedehnte Gegenstände ihre boundary nicht als Teil besitzen. Sie wollen mit dieser Festlegung offensichtlich vermeiden, dass zwei miteinander in Kontakt stehende Gegenstände einen gemeinsamen Teil haben können, oder dass genau einer von zwei miteinander in Kontakt stehenden Gegenständen seine Grenze als Teil besitzen muss. Sie lehnen also in Bezug auf die Zugehörigkeit der boundary zwischen zwei miteinander in Kontakt stehenden Gegenständen (d. h. in Bezug auf Situation (a)) die Optionen 1 und 2 ab und entscheiden sich für Option 3. In Bezug auf einen realen ausgedehnten Gegenstand und seine Umgebung (also in Bezug auf Situation (b)) entscheiden sie sich dagegen klar für Option 2: Die boundary gehört zur Umgebung und nicht zum Gegenstand.24 Die Autoren können so weiterhin daran festhalten, dass boundaries nicht von derselben ontologischen Ordnung sind wie reale ausgedehnte Gegenstände. Es „gibt“ sie nicht in dem Sinne, in dem es einen ausgedehnten Gegenstand gibt. Allerdings sind boundaries offenbar als „Lücken“ zwischen ausgedehnten Gegenständen durchaus relevant. Man kann somit jedenfalls nicht mehr sagen, dass alle Fragen, die dünne Grenzen betreffen, irrelevant sind. Die Autoren können also mit ihrem Vorschlag letztlich das Problem der Zugehörigkeit dünner Grenzen und das damit verbundene Problem des Kontaktes nicht umgehen, ohne sich entscheiden zu müssen.25 Im Gegenteil treffen sie vielmehr klare Entscheidungen bezüglich dieser Fragen, welche sich auch eindeutig in das im ersten Teil der vorliegenden Arbeit entwickelte Schema einordnen lassen. Man kann daher sagen, dass es ihnen entgegen ihrer Ankündigung letztlich nicht vollständig gelungen ist, aus dem durch die Mereotopologie vorgegebenen Rahmen auszubrechen. Positiv hervorzuheben bleibt, dass die von Breysse und De Glas vorgeschlagene Theorie sehr viel konsistenter und auch der „Phänomenologie“ der Grenzen sehr viel angemessener ist als die mereotopologischen Theorien, mit denen sie sich auseinandersetzen. Die Erkenntnis, dass dünne Grenzen („boundaries“) ontologisch nicht mit ausgedehnten Gegenständen auf einer Stufe stehen, und

|| 24 Es ist bemerkenswert, dass Breysse und De Glas, nachdem sie zuvor insbesondere die von Casati und Varzi vertretene „Bolzanosche“ Theorie als inkohärent zurückgewiesen haben, stattdessen nun eine Lösung vorschlagen, bei der ausgedehnte Gegenstände ihre Grenze jeweils nicht als Teil besitzen und zwei einander berührende Gegenstände eine „neutrale“ Grenze zwischen sich haben. Dies ist exakt das Ergebnis der in der vorliegenden Arbeit in Kapitel 4 vorgestellten Analyse und Korrektur der von Bernard Bolzano selbst vorgeschlagenen Theorie. 25 Das Problem der Spaltung wird von Breysse und De Glas nicht explizit behandelt. Auf eine spekulative Rekonstruktion, wie sich dieses Problem im Rahmen der von den Autoren vorgeschlagenen Theorie lösen ließe, wird hier verzichtet.

Kontinuumsmechanik | 273

dass gerade in dieser unzulässigen Gleichsetzung die Wurzel der Probleme liegt, stellt einen enormen Fortschritt in der Diskussion dar.

8.2 Kontinuumsmechanik In Bezug auf physikalisch beschreibbare ausgedehnte Gegenstände und ihre Grenzen schlägt auch Sheldon R. Smith26 eine Alternative zum mereotopologischen Beschreibungsrahmen vor. Er bezieht sich dabei auf die in der modernen Debatte vertretene These, dass es schwierig oder sogar unmöglich sei, Kontaktereignisse im Einklang mit dem Axiom der Undurchdringlichkeit physikalischer Körper konsistent zu beschreiben. Belegt werde dies angeblich durch das (von Smith selbst so bezeichnete) „root argument“.

8.2.1 Das „root argument“ Dabei werden zwei Billardkugeln vom Radius r betrachtet, von denen zunächst angenommen wird, dass sie abgeschlossene Mengen seien; d. h. jede der beiden Kugeln enthalte alle Punkte, die von ihrem Mittelpunkt einen Abstand haben, der kleiner oder gleich r ist. Wenn sich die beiden Billardkugeln einander annähern, dann stehen sie, solange der Abstand zwischen den beiden Mittelpunkten größer als 2r ist, noch nicht in Kontakt miteinander. Ist der Abstand zwischen den beiden Mittelpunkten aber genau 2r, dann überlappen sich die beiden Kugeln in genau einem Punkt. Es wird nun behauptet, dass dies ein Verstoß gegen die angenommene Undurchdringlichkeit der beiden Kugeln sei. Wird nun aber versucht, das Problem dadurch zu lösen, dass die Grenzpunkte nicht mehr zu den Kugeln gehören (dass die Kugeln also offene Mengen sind), dann erscheint es vielen so, dass die beiden Kugeln bei einem Abstand der Mittelpunkte von exakt 2r noch nicht miteinander in Kontakt stehen, da sich ja noch ein Punkt zwischen ihnen befindet, den keine der beiden Kugeln einnimmt. Haben die Mittelpunkte aber einen geringeren Abstand voneinander, dann überlappen sich die beiden Kugeln in einem endlichen, ausgedehnten Bereich, was klarerweise ein Verstoß gegen die Undurchdringlichkeit ist. Es ist demnach also nicht möglich, die beiden Kugeln so zu beschreiben, dass sie miteinander in Kontakt stehen, sich dabei aber nicht gegenseitig durchdringen.27

|| 26 Smith, S. 2007. 27 Vgl. Smith, S. 2007, S. 504.

274 | Alternative Ansätze

In der philosophischen Debatte gibt es nach Smith vier vorherrschende Typen von Antworten bzw. Reaktionen auf das „root argument“: a) „bite the bullet“: Dabei wird entweder behauptet, dass zwei offene Kugeln auch dann miteinander in Kontakt stehen, wenn sich genau ein „neutraler“ Punkt zwischen ihnen befindet, oder dass zwei abgeschlossene Kugeln, die miteinander in Kontakt stehen, sich in genau einem Punkt überlappen (wobei letzteres dann nicht als ein Fall von gegenseitigem Durchdringen der beiden Kugeln zählt).28 b) Es wird behauptet, dass Kontakt zwischen undurchdringlichen Körpern nicht möglich ist.29 c) Es wird behauptet, dass die Struktur kontinuierlicher Körper im „root argument“ falsch dargestellt wurde. Man müsse entweder annehmen, dass es sowohl abgeschlossene als auch offene Körper gibt,30 oder dass kontinuierliche Körper nicht aus Punkten zusammengesetzt sind, sondern vielmehr aus „atomless gunk“ bestehen.31 Jedenfalls gebe das „root argument“ Anlass dazu, die Struktur des physikalischen Kontinuums zu überdenken.32 d) Es wird behauptet, dass im „root argument“ die Ergebnisse der Physik nicht ausreichend beachtet wurden. Die Kugeln würden in Wirklichkeit durch Felder von Abstoßungskräften wechselseitig auf Abstand gehalten und interagierten auf diese Weise miteinander, ohne sich tatsächlich zu berühren.33 Smith sympathisiert mit den Antworten (a) und (d), weicht aber in wesentlichen Aspekten davon ab.

8.2.2 Kontinuumsmechanik als angemessener Beschreibungskontext Mit den Vertretern der Antwort (d) teilt Smith die Ansicht, dass ein wesentliches Manko des größten Teils der modernen Debatte darin liege, dass die Ergebnisse der Physik im Hinblick auf eine Ontologie der Körper nicht ausreichend beach-

|| 28 Vgl. Smith, S. 2007, S. 504f. 29 Vgl. Smith, S. 2007, S. 505. Smith verweist hier auf Kline und Matheson 1987. 30 Smith verweist hier auf Bernard Bolzano. 31 Smith verweist hier auf Franz Brentano (Brentano 1976), Francisco Suárez (indirekt zitiert via Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects) und Dean Zimmerman (Zimmerman 1996 Could Extended Objects Be Made Out of Simple Parts? und Zimmerman 1996 Indivisible Parts and Extended Objects). 32 Vgl. Smith, S. 2007, S. 505ff. 33 Vgl. Smith, S. 2007, S. 507. Smith zitiert hier Marc Lange (Lange 2002).

Kontinuumsmechanik | 275

tet werden. Dabei stehe jedoch, so Smith, mit der Kontinuumsmechanik eine hoch entwickelte Physik der Kontinua zur Verfügung: The state of the philosophical literature on continuous bodies is particularly disappointing since there is a well-developed physics of continuous media, a physics that was intitiated primarily by Euler and Cauchy as a generalization of Newtonian mechanics but which is still an active area of research. Smith, S. 2007, S. 508.

Man wisse zwar heute, dass „echte“ Billardkugeln in Wirklichkeit nicht kontinuierlich (im Sinne der Kontinuumsmechanik) sind und dass ihre Mikrostruktur nur durch die Quantenmechanik treffend beschrieben werde; dennoch sei die Kontinuumsmechanik das richtige Modell zur Beschreibung makroskopischer und als kontinuierlich angenommener Körper: [O]ne would never model real-world macroscopic bodies via quantum mechanics since that would involve an enormous n-body problem that is less likely to reveal the salient features of, say, actual billard ball collisions than continuum mechanics. Thus, a modelling of billard ball collisions that wants to take into account and predict the largest range of features of actual billard balls […] will tend to be formulated within classical continuum mechanics. […] If one wants to know what impenetrability and contact action would amount to were bodies continuous, it seems to me that there is no better place to look than modern continuum mechanics. Smith, S. 2007, S. 508f.

Im Kontext der Kontinuumsmechanik zeige sich, dass die in der modernen Debatte vorgebrachten Schlussfolgerungen aus dem „root argument“ entweder falsch seien (wie z. B. die Unmöglichkeit von Kontakt), oder zwar möglicherweise wahr (wie z. B. die Ansicht, dass Körper aus „atomless gunk“ bestehen), dies jedoch aus Gründen, die mit dem „root-argument“ nichts zu tun haben. Die kontinuumsmechanische Betrachtungsweise lege alternative Interpretationen der Undurchdringlichkeit physikalischer Körper und der Kontaktereignisse („contact actions“) zwischen Körpern nahe, bei deren Annahme die Voraussetzungen, auf denen das „root argument“ beruht, nicht mehr gegeben seien.34

|| 34 Vgl. Smith, S. 2007, S. 510.

276 | Alternative Ansätze

8.2.3 Das „Undurchdringlichkeitsaxiom“ der Kontinuumsmechanik Das „Undurchdringlichkeitsaxiom“ der Kontinuumsmechanik sei eine kinematische Bedingung, die in etwa besage, dass es zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine eindeutige und umkehrbare Zuordnung zwischen den materiellen Punkten eines Körpers und den Punkten des Raumes gibt. Ein materieller Punkt kann also niemals gleichzeitig zwei verschiedene Raumpunkte einnehmen, und ein einzelner Raumpunkt wird nie zugleich von zwei materiellen Punkten eingenommen.35 Kinematische Bedingungen hätten allerdings einen provisorischen Status und könnten gelockert werden, wenn die zu beschreibende Dynamik dies nötig mache: Physicists have learned not to be so rigid in their interpretation of such principles since the later dynamics can lead to conflicts with the kinematics, and in thus cases, it is the kinematics that gets relaxed. Smith, S. 2007, S. 513.

Als Beispiel für eine Lockerung des Undurchdringlichkeitsaxiomes führt er die Theorie der Wirbelflächen aus der Strömungsdynamik an: Bei einer von vorne angeströmten Tragfläche eines Flugzeugs ist die Strömungsgeschwindigkeit im Bereich oberhalb der Tragfläche verschieden zur Strömungsgeschwindigkeit unterhalb der Tragfläche. Hinter der Tragfläche bildet sich eine sogenannte Wirbelfläche, die die Fortsetzungen der beiden Bereiche des die Tragfläche umgebenden Fluids voneinander trennt. Direkt oberhalb der Wirbelfläche strömt das Fluid mit einer deutlich anderen Geschwindigkeit als direkt unterhalb. Auf der Wirbelfläche selbst müssten zwei verschiedene Geschwindigkeiten zugleich zugeschrieben werden. Hermann von Helmholtz habe gezeigt, dass auf der Wirbelfläche tatsächlich der Mittelwert der beiden Geschwindigkeiten angenommen werde, was genau dann zu erwarten sei, wenn sich auf der Wirbelfläche beide Strömungen überlappen. Die beiden Strömungen durchdringen sich also; das Axiom der Undurchdringlichkeit muss hier gelockert werden, um zu einer konsistenten Beschreibung zu kommen.36 Im „root argument“ werde nicht erkannt, dass das Undurchdringlichkeitsaxiom den Status einer kinematischen Bedingung hat, die gelockert werden

|| 35 Vgl. Smith, S. 2007, S. 511f. 36 Vgl. Smith, S. 2007, S. 513ff.

Kontinuumsmechanik | 277

kann, wenn es die Dynamik erforderlich macht.37 Die Physik spreche demnach hier für die „bite-the-bullet“-Lösung: Grenzpunkte dürften sich überlappen.38 Für diese Lösung spreche außerdem, dass es sich bei der Überlappung von Punkten nie um eine Überlappung von Massen handele, da materielle Punkte keine Masse haben. Allgemein sei es in der Kontinuumsphysik üblich, dass Mengen vom Maß Null einen anderen Status haben als Mengen, die nicht das Maß Null haben.39 Daher würden beispielsweise auch der Rand und das Innere eines Körpers häufig unterschiedlich behandelt: „Often, for example, certain equations which hold in the interior of a body are not equations that hold on its boundary.“40

8.2.4 Kontinuumsmechanische Beschreibung von Kontaktereignissen In Bezug auf physikalisch beschreibbare Kontaktereignisse zwischen Körpern stellt Smith die kontinuumsmechanischen Bewegungsgleichungen vor, bei deren Herleitung eine klare Zweiteilung der auf den Körper wirkenden Gesamtkraft in Oberflächenkräfte („contact forces“) und Volumenkräfte („body forces“) zu beobachten ist.41 Oberflächenkräfte wirken nur auf der Oberfläche eines Körpers, während Volumenkräfte nur im Inneren des Körpers wirken: „The contact forces act only on the boundary of the body whereas the body forces act throughout the interioR." \f "b"42 Das zentrale Bewegungsgesetz für Körper sei das Cauchysche Gesetz, das dem Integral über das Produkt von Dichte und Beschleunigung die Summe der Integrale über die Oberflächen- und Volumenkräfte gleichsetzt. Dabei treten zwei Volumenintegrale und ein Oberflächenintegral auf.43 Da das Cauchysche Gesetz für alle Körper gelten soll, folgt daraus, dass jeder Körper eine Oberfläche und einen äußeren Normalenvektor in jedem Punkt dieser Oberfläche haben muss, und dass somit ein einzelner Punkt kein Körper sein kann.44 Da für Körper in der Kontinuumsmechanik eine mereologische Struktur angenommen

|| 37 Vgl. Smith, S. 2007, S. 515. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. Smith, S. 2007, S. 517. 40 Ebd. 41 Vgl. Smith, S. 2007, S. 520ff. 42 Smith, S. 2007, S. 520. 43 Vgl. Smith, S. 2007, S. 523. 44 Vgl. Smith, S. 2007, S. 524.

278 | Alternative Ansätze

wird, bei der die Teilrelation ≺ ausschließlich für Körper definiert ist,45 folgt daraus weiter, dass Punkte auch keine Teile von Körpern sind: Moreover, since in continuum mechanics the ‘≺’ relation is only defined over a material universe consisting of bodies, it is most plausible to read continuum mechanics as not claiming that the points are parts of bodies, since the ‘≺’ relation is not even defined for non-bodies. Smith, S. 2007, S. 524.

Körper haben in der Kontinuumsmechanik daher tatsächlich eine „atomless gunk“-Struktur. Dies habe jedoch nichts mit der Undurchdringlichkeit der Körper oder ähnlichen, von Zimmerman und Brentano angestellten Erwägungen zu tun, sondern folge einfach aus den Gleichungen der Dynamik.46 Um die für die Zwecke der mathematischen Physik sehr wichtige Differentialform des Cauchyschen Gesetzes zu erhalten, wird der sogenannte Satz von Gauß-Green verwendet, welcher wiederum einschränkende Bedingungen an die Gestalt der Körper, für die er Gültigkeit hat, stellt. Insbesondere ist mit diesen Einschränkungen auch ein eingeschränkter Begriff der Grenze bzw. Oberfläche eines Körpers gegeben: die sogenannte „reduced boundary“, welche eine Teilmenge des topologischen Randes einer Menge ist.47 Von Walter Noll und Epifanio Virga48 übernimmt Smith an dieser Stelle den Begriff der „contact set“ als der Punktmenge, an der eine Oberflächenkraft (contact force) zwischen zwei Körpern existiert. Die contact set ist die Schnittmenge der reduced boundaries zweier Körper. Damit kann dann auch eine Bedingung dafür festgelegt werden, wann zwei Körper miteinander in Kontakt stehen: [I]t has been suggested by Noll and Virga that the operative notion of contact set when it comes to contact forces in continuum mechanics – the set of points along which a contact force between bodies can be present – is given by the intersection of the reduced boundaries of the two bodies. Two bodies are in contact if they have a non-empty contact set.49 Smith, S. 2007, S. 527.

|| 45 Vgl. Smith, S. 2007, S. 518ff. 46 Vgl. Smith, S. 2007, S. 525. 47 Vgl. Smith, S. 2007, S. 525ff. An den Punkten einer reduced boundary ist insbesondere garantiert, dass ein äußerer Normalenvektor existiert. 48 Noll und Virga 1988. 49 Hervorhebungen im Original.

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Bemerkenswert sei dabei, dass Noll und Virga hier Körper voraussetzten, die als offene Mengen dargestellt werden. Sie schließen damit jedenfalls nicht von vornherein aus, dass solche Körper miteinander in Kontakt stehen können.50 Smith betont, dass hier im Vergleich zum „root argument“ die Vorgehensweise umgekehrt wurde. Anstatt mit a priori-Begriffen des Kontaktes und der Undurchdringlichkeit zu beginnen und dann womöglich (wie in Variante (b)) zu bestreiten, dass Körper miteinander in Kontakt stehen können, beginne man in der Kontinuumsmechanik mit der Definition einer Oberflächenkraft (contact force) und einem entsprechenden Bewegungsgesetz und argumentiere von da aus, welche Struktur ein Körper haben muss, damit Oberflächenkräfte (und damit auch Kontakt) zwischen Körpern möglich sind. Die gesamte Diskussion werde von den Erfordernissen der angewandten Mathematik vorangetrieben, und zwar von einer angewandten Mathematik, die von vornherein darauf ausgerichtet sei, physikalischen Kontakt zwischen Körpern und die damit verbundenen Oberflächenkräfte zu beschreiben.51 Interessant sei außerdem, dass Kontakt offensichtlich problemlos auch für offene Körper definiert werden könne: Die reduced boundaries der beiden Körper können auch dann überlappen, wenn diese den jeweiligen Körpern gar nicht angehören.52 Dies sei ein weiteres, unabhängiges Argument für die „bitethe-bullet“-Lösung: Thus, the bite-the-bullet approach to contact looks independently motivated – and, in that sense, no bullets have to be bitten – given the operative notion of contact from continuum physics. Smith, S. 2007, S. 527.

Auf den Einwand, dass zwischen zwei offenen Kugeln unserem intuitiven Verständnis nach kein „echter“ Kontakt stattfinden könne, da sich ja stets mindestens ein Punkt zwischen den beiden Kugeln befindet, der keiner der beiden Kugeln angehört, antwortet Smith, dass es nicht klar sei, warum unser intuitiver Begriff des Kontaktes diesen Fall unbedingt ausschließen sollte. Man könne ja beispielsweise als vortheoretischen Begriff des Kontaktes auch vorschlagen, dass zwei Körper genau dann miteinander in Kontakt stehen, wenn sie den Abstand Null voneinander haben; oder genau dann, wenn kein anderer Körper mehr zwischen sie passt. In beiden Fällen sei Kontakt zwischen offenen Kugeln nicht ausgeschlossen. Der in der Kontinuumsmechanik angewandte Begriff des

|| 50 Vgl. Smith, S. 2007, S. 527. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd.

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Kontaktes sei in der Tat eine exakte Ausformulierung dieser beiden Intuitionen.53 Was zeigt nun aber das „root argument“? Smith ist der Meinung, dass damit eigentlich nichts über den Kontakt zwischen physikalisch beschreibbaren Körpern ausgesagt wird, sondern dass vielmehr rein mathematische Behauptungen damit verbunden sind: What the root argument hints at but does not rigorously prove (in part) is that if one maps two open sets of points continuously into R³ in a way such that the mapping does not send two points to the same point in R³ then the image (in R³) under the mapping will not be topologically connected. But, since the notions involved in that claim do not describe impenetrability and physical contact as they appear within our best theory of continuous bodies and since that claim is stated in purely mathematical language, it seems to me that we should take this to be a purely mathematical claim whereas the root argument purports to be talking about contact between physical bodies. Smith, S. 2007, S. 531.

8.2.5 Offene oder abgeschlossene Körper? Auf die Frage, ob die Grenzen (Oberflächen) eines Körpers diesem Körper als Teil angehören oder nicht, geht Smith nur kurz ein. In vielen Fällen sei die Antwort auf diese Frage physikalisch irrelevant. Es gebe allerdings auch Fälle, in denen es relevant sei, ob Körper offen oder abgeschlossen sind. Beispielsweise erfordere es die Interpretation einer Bilanzgleichung durch Schwartzsche Distributionen, dass Körper als offene Mengen angenommen werden. In diesen Fällen führten die Erfordernisse der angewandten Mathematik, mit der die Dynamik beschrieben wird, zu einer Entscheidung. Die Entscheidung habe jedenfalls nichts mit der Art von Überlegungen zu tun, die im „root argument“ enthalten sind.54

8.2.6 Zusammenfassung und Kritik Sheldon Smith nimmt in seinem Artikel von vornherein eine eingeschränkte Sichtweise auf die Problematik der Grenzen ausgedehnter Gegenstände ein, da es ihm nur um physikalische Körper und um physikalisch beschreibbare Kon-

|| 53 Vgl. Smith, S. 2007, S. 528f. 54 Vgl. Smith, S. 2007, S. 532.

Kontinuumsmechanik | 281

taktereignisse zwischen Körpern geht. Innere Grenzen, das Problem der Spaltung, sowie Grenzen von Staaten oder anderen, nicht primär physikalisch bestimmten ausgedehnten Gegenständen sind kein Thema für ihn. Smiths Hauptanliegen ist es, die Sichtweise der Kontinuumsmechanik als desjenigen Zweiges der modernen Physik, der für die Beschreibung makroskopischer, ausgedehnter Körper den angemessenen Beschreibungsrahmen liefert, für die Lösung des Problems des Kontaktes fruchtbar zu machen. Dabei stellt sich heraus, dass sowohl der Begriff der Undurchdringlichkeit materieller Körper als auch der Begriff des Kontaktes zwischen zwei Körpern, auf denen das in der modernen philosophischen Debatte formulierte Problem des Kontaktes beruht, korrigiert werden müssen. Das „Axiom der Undurchdringlichkeit“ der Kontinuumsmechanik sei eine kinematische Bedingung, die abgeschwächt werden könne und müsse, wenn die angewandte Mathematik, mit der die Dynamik beschrieben wird, dies erforderlich mache. Insbesondere sei die „Durchdringung“ zweier materieller Körper dann kein Problem, wenn sie sich auf eine Menge vom Maß Null beschränkt. Koinzidierende „dünne“ Grenzen seien demnach, kontinuumsmechanisch gesehen, unproblematisch. Kontakt zwischen zwei Körpern werde in der Kontinuumsmechanik durch das Vorliegen von Oberflächenkräften zwischen den beiden Körpern beschrieben. Die mathematischen Beschreibungsmittel dieser Oberflächenkräfte setzen eine bestimmte topologische Struktur der beteiligten Körper voraus. Insbesondere werde vorausgesetzt, dass sich die Grenzen der beiden miteinander in Kontakt stehenden Körper überlappen. Es spiele für das Vorliegen eines Kontaktes keine Rolle, ob die Grenzen dabei den jeweiligen Körpern als deren Oberflächen angehören und beim Kontakt miteinander koinzidieren, oder ob es sich um zwei „offene“ Körper handelt, die beim Kontakt eine „neutrale“ dünne Grenze zwischen sich haben. Beides sei mit gängigen Intuitionen über den Kontakt zwischen Körpern vereinbar. Die Frage, ob physikalische Körper eher als abgeschlossene Mengen oder eher als offene Mengen beschrieben werden sollten, sei physikalisch meist irrelevant und habe allenfalls dann eine Bedeutung, wenn die zur Beschreibung der Dynamik verwendeten Mittel der angewandten Mathematik eine Entscheidung darüber erforderlich machen. Smith stellt damit fest, dass das Problem der Zugehörigkeit der Grenze zwischen zwei einander berührenden ausgedehnten Gegenständen sowie der Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung physikalisch weitgehend irrelevant ist und sich allenfalls aus pragmatischen Erwägungen der jeweils verwendeten angewandten Mathematik heraus be-

282 | Alternative Ansätze

stimmte Entscheidungen in dieser Frage nahelegen. Er scheint dabei für Situation (a) (zwei einander berührende ausgedehnte Gegenstände) die Optionen 3 und 4 gleichermaßen möglich und sinnvoll zu halten, während er für Situation (b) (ein ausgedehnter Gegenstand und die Grenze zu seiner Umgebung) die Optionen 2 und 3 zu bevorzugen scheint. Option 1 hat er offensichtlich weniger im Blick. Bemerkenswert ist, dass in der Kontinuumsmechanik laut Smith Punkte und, allgemeiner, alle Mengen vom Maß Null ausdrücklich nicht als Körper angesehen werden. Für Körper und ihre Teile gebe es eine mereologische Struktur, in der jedoch Grenzen keinen Platz haben. Grenzen sind in diesem Sinne keine Teile von Körpern. Insofern kann man Smiths Vorschlag als eine Alternative zur Mereotopologie bezeichnen. Allerdings spricht Smith dennoch von der Zugehörigkeit von Oberflächen zu den Körpern, deren Oberflächen sie sind. Zumindest im mathematischen Modell scheint ein physikalischer Körper also Grenzen als „Bestandteile“ besitzen zu können. Diese haben aber offensichtlich physikalisch keine Bedeutung. Sie sind vielmehr Artefakte der mathematischen Beschreibung, genauso wie auch das ganze „root argument“ eher auf ein mehr oder weniger artifizielles mathematisches Problem als auf den Kontakt zwischen realen physikalischen Körpern hinweist. Die beiden von Smith betonten Aspekte, (1) dass Grenzen von Körpern selbst keine Körper und somit physikalisch gesehen auch keine Teile von Körpern sind, und (2) dass die Zugehörigkeitsfrage der Grenzen zu den Körpern physikalisch irrelevant ist und allenfalls aus pragmatischen Gründen bei der mathematischen Beschreibung der Körper entschieden werden muss, deuten jedenfalls zusammengenommen stark darauf hin, dass Smith die Grundthese, dass Grenzen Teile von Körpern sind, ablehnt. Hierin liegt der entscheidende Schritt seines Lösungsvorschlages.

| Teil 4: Ein neuer Lösungsvorschlag

9 Grenzen als Teile: Die Ursache der Probleme Um besser zu verstehen, warum gerade die Grundthese, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind, die Ursache der vielfältigen Probleme ist, sei hier zunächst noch einmal daran erinnert, dass diese Grundthese im ersten Teil der Arbeit noch weiter präzisiert wurde. Erstens wurde dort festgestellt, dass nur äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände als Grenzen infrage kommen. Zweitens wurde dafür argumentiert, dass Grenzen „dünn“ sind in dem Sinne, dass eine Grenze ein (n-1)-dimensionaler Teil eines n-dimensionalen Gegenstandes ist. Grenzen sind also gemäß der Grundthese äußerste Teile ausgedehnter Gegenstände, die zwar „dünn“ sind im Vergleich zu dem jeweiligen ausgedehnten Gegenstand, dessen Teil sie sind, die jedoch mit den „dicken“ Teilen desselben ausgedehnten Gegenstandes ontologisch gesehen gleichwertig sind: Ausgedehnte Gegenstände haben demnach zunächst einmal allgemein Teile. Erst in einem weiteren Schritt können diese dann zu „dicken“ und „dünnen“ Teilen weiter ausdifferenziert werden. Ontologisch bedeutsam ist das Teil-sein, und nicht die jeweilige Dimension der Teile. Diese ontologische Gleichwertigkeit der Grenzen mit den gewöhnlichen, „dicken“ Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes ist das, was die Grundthese im Kern ausmacht. Casati und Varzi haben dies besonders prägnant ausgedrückt: „Our position is that boundaries are ontologically on a par with […] extended parts.“1 Bei der Diskussion von Option 3 wurde die These noch ein weiteres Mal präzisiert, damit sie auch „neutrale“ Grenzen umfasst, d. h Grenzen, die sich als (n1)-dimensionale Gegenstände bzw. (n-1)-dimensionale Lücken zwischen zwei ndimensionale Gegenständen befinden. Die Grundthese ist in diesen Fällen zwar nur noch eingeschränkt gültig, kann aber noch in dem Sinne als erfüllt gelten, als „neutrale“ Grenzen in Bezug auf zwei ausgedehnte Gegenstände so angeordnet sind, dass sie die Stelle einnehmen, die ein jeweiliger dünner, äußerster Teil eines der beiden ausgedehnten Gegenstände einnehmen würde, wenn dieser dort einen solchen Teil hätte. Grenzen sind in diesen Fällen zumindest noch im genannten Sinne „potentielle“ Teile ausgedehnter Gegenstände. Alternativ dazu kann man hier auch die mereologische Summe aus einem der beiden ausgedehnten Gegenstände und der „neutralen“ Grenze als neuen ausgedehnten Gegenstand betrachten. Bezogen auf diesen Gegenstand sind die fraglichen

|| 1 Casati und Varzi 1999, S. 5.

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Grenzen im eigentlichen Sinne Teile. Auch „neutrale“ Grenzen sind jedenfalls gemäß der Grundthese als ontologisch gleichwertig mit den dicken Teilen ausgedehnter Gegenstände anzusehen. Die so präzisierte Grundthese führt zusammen mit der Beobachtung, dass von einer Grenze nicht nur als Grenze eines ausgedehnten Gegenstandes sondern auch als Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen die Rede sein kann, auf das Problem der Zugehörigkeit der Grenze: Ist die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen ein Teil eines ausgedehnten Gegenstandes, dann stellt sich die Frage, ob sie einem der beiden ausgedehnten Gegenstände als Teil angehört und wenn ja, welchem. Zu dieser Frage gibt es, wie im ersten Teil ausführlich gezeigt wurde, genau vier Antwortmöglichkeiten, welche sich in den Optionen 1 bis 4 niederschlagen. Das Problem der Zugehörigkeit kommt hier also erst dadurch auf, dass angenommen wird, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sind. Allein aus der Beobachtung, dass es Grenzen zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen gibt, ergibt sich kein Zugehörigkeitsproblem. Jedenfalls ließe sich die Frage der Zugehörigkeit dann ganz einfach dadurch beantworten, dass die Grenze eben zu beiden Gegenständen gehört, da sie ja die Grenze zwischen diesen beiden Gegenständen ist. Nimmt man die Grundthese von den Grenzen als Teilen dazu, dann ergeben sich erst die vier Möglichkeiten: die Grenze als gemeinsamer Teil (Option 1); die Grenze als Teil von genau einem der beiden Gegenstände (Option 2); die Grenze als „neutraler“ Teil zwischen den beiden Gegenständen (Option 3); zwei koinzidierende Grenzen, die jeweils Teil eines der beiden Gegenstände sind (Option 4). Verschärft wird das Problem der Zugehörigkeit dadurch, dass es drei verschiedene Situationen geben kann, in denen Grenzen zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen vorkommen können: a) die Grenze zwischen zwei einander berührenden ausgedehnten Gegenständen; b) die Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung; c) die Grenze zwischen zwei einander benachbarten ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes. Keine der vier Optionen liefert für sich genommen eine zufriedenstellende Beschreibung aller drei Situationen. Die auftretenden Schwierigkeiten liegen auch hier wieder wesentlich darin begründet, dass man Grenzen als Teile angenommen hat. Für die einzelnen Optionen ergeben sich die folgenden Schwierigkeiten: Option 1 führt in Bezug auf die Situationen (a) und (b) auf Widerspruchsprobleme: Ist die Grenze ein gemeinsamer Teil zweier Gegenstände, die nicht miteinander vereinbare Eigenschaften haben, dann müssten der Grenze die beiden unvereinbaren Eigenschaften zugleich zukommen. Ist die Grenze ein gemeinsamer Teil eines Gegenstandes und seiner Umgebung, dann gehört sie

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zugleich dem Gegenstand und seiner Umgebung an, was der üblichen Definition von „Umgebung“ bzw. „Komplement“ widerspricht. Option 2 führt in Bezug auf die Situationen (a) und (c) auf eine ungerechtfertigte Asymmetrie und auf die Notwendigkeit der Annahme offener Gegenstände, also von Gegenständen, die keine dünnen äußersten Teile haben. Letztere sind zwar in der mengentheoretischen Topologie üblich, aber in Bezug auf Gegenstände der Alltagswelt höchst kontraintuitiv. Die Notwendigkeit, sowohl offene als auch abgeschlossene Gegenstände anzunehmen, prägt der Menge der makroskopischen Alltagsgegenstände eine Dichotomie auf, die empirisch nicht nachweisbar ist und die sich auch anderweitig nicht rechtfertigen lässt. Option 3 ist ebenfalls vom Problem der kontraintuitiven offenen Gegenstände betroffen. In Bezug auf Situation (a) führt Option 3 außerdem dazu, dass es fraglich erscheint, ob zwei Gegenstände überhaupt miteinander in Kontakt stehen können, da ja stets ein „neutraler“ Teil zwischen ihnen verbleibt. In Bezug auf Situation (b) ergibt sich, ähnlich wie bei Option 1, ein Widerspruch zur üblichen Definition von „Umgebung“ bzw. „Komplement“: Es gibt dann etwas, das zwar Teil des aus Gegenstand und seinem Komplement gebildeten Ganzen, jedoch weder ein Teil des Gegenstandes, noch ein Teil seiner Umgebung ist. In Bezug auf Situation (c) ergibt sich, dass ein ausgedehnter Gegenstand sich nicht in genau zwei Teile spalten lässt, die zusammen wieder den gesamten Gegenstand ausmachen. Dies widerspricht der üblichen Definition von „Spaltung“ als Zweiteilung. Bei Option 4 haben die Grenzen im Vergleich zu den übrigen Teilen ausgedehnter Gegenstände die höchst eigenartige Eigenschaft der Fähigkeit zur Koinzidenz. In Bezug auf Situation (a) stellt sich die Frage, wie zwei materielle Gegenstände sich teilweise durchdringen können. In Bezug auf Situation (b) ergibt sich, dass Gegenstand und Umgebung sich teilweise durchdringen. Und in Bezug auf Situation (c) ergibt sich, dass jeder ausgedehnte Gegenstand durchzogen ist von einer riesigen Anzahl von teilweise miteinander koinzidierenden Teilen, was dem ontologischen Sparsamkeitsgebot widerspricht. Die Probleme der Spaltung und des Kontaktes ergeben sich, wenn man Übergänge zwischen den Situationen (c) und (b) bzw. zwischen den Situationen (b) und (a) betrachtet. Die größten Schwierigkeiten bestehen dabei darin, dass nach einer Spaltung meist „zu wenige“ und bei einem Kontakt meist „zu viele“ Teile vorhanden sind. Vernichtung und Neuentstehung von Teilen müsste man aber eigens rechtfertigen. Allein durch ein Spaltungs- oder ein Kontaktereignis sollte sich die Zahl der Teile der beteiligten Gegenstände jedenfalls nicht verändern.

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Alle diese Schwierigkeiten lassen sich darauf zurückführen, dass angenommen wurde, dass Grenzen Teile sind. Die Probleme wurzeln bereits in der nahezu allen bisher vorgeschlagenen Theorien und Theorievarianten gemeinsamen Grundthese.

10 Eine allgemeine Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände Um die vielfältigen Schwierigkeiten und Probleme zu vermeiden, muss die Grundthese negiert werden: Grenzen sind keine Teile ausgedehnter Gegenstände, genauer gesagt: sie sind nicht ontologisch gleichwertig zu den ausgedehnten Teilen ausgedehnter Gegenstände. Ein brauchbarer Vorschlag zu einer allgemeinen Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände sollte allerdings nicht nur in einer negativen These bestehen. Im Folgenden soll daher ein neuer, positiv formulierter Vorschlag vorgelegt werden. Dieser Vorschlag wird anschließend im Sinne des zu Beginn der Arbeit entwickelten Instrumentariums geprüft und bewertet, bevor dann in besonderer Weise auf den Status, der im neuen Vorschlag dünnen Teilen ausgedehnter Gegenstände zukommt, eingegangen wird. Schließlich werden die berechtigten Anliegen, die hinter den aus der historischen und modernen Debatte bekannten vier Optionen stehen, herausgearbeitet und es wird im Sinne eines Ausblickes aufgezeigt, wie diese in den neuen Vorschlag zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände integriert werden könnten.

10.1 Ein neuer Vorschlag Es lohnt sich, noch einmal genau zu betrachten, wie die Idee, dass Grenzen Teile ausgedehnter Gegenstände sein könnten, in Kapitel 3 eingeführt wurde. Dort wurde die Überlegung angestellt, dass beispielsweise ein Apfel eine Grenze habe, und dass man sich dieses „Haben der Grenze“ möglicherweise genauso vorstellen könne, wie es sich auch in Bezug auf den Apfel und seine Teile verhält: ein Apfel habe eine Grenze in demselben Sinne, in dem er auch Teile hat. Vorgeschlagen wurde dann, dass die Grenze des Apfels ein äußerster Teil des Apfels (womöglich seine Schale) sei. Auffällig ist, dass die Grundthese anhand eines Beispiels entwickelt wurde, bei dem nur ein ausgedehnter Gegenstand und seine Grenze vorkommen. Wie im Kapitel 1 gezeigt wurde, wird bei der Hauptbedeutung des Wortes „Grenze“ jedoch nicht nur auf einen, sondern auf zwei ausgedehnte Gegenstände Bezug genommen, die durch eine Grenze voneinander getrennt werden. Das Beispiel von der Grenze des Apfels passt weniger zur Hauptbedeutung, sondern eher zur

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Nebenbedeutung des Wortes „Grenze“ als „Ende eines ausgedehnten Gegenstandes“. Die Idee ist nun, statt mit einem zur Nebenbedeutung passenden Beispiel, mit einem zur Hauptbedeutung des Wortes „Grenze“ passenden Beispiel zu beginnen. Man könnte hier die Grenze wählen, die das Wasser eines Sees von der darüber liegenden Luftschicht trennt; oder auch die Grenze, die zwei Länder, etwa Bayern und Tirol, voneinander trennt. Anstelle des (vermeintlichen) mereologischen Charakters der Grenze rückt so der (tatsächliche) relationale Charakter der Grenze in den Vordergrund. Gemäß der Hauptbedeutung von „Grenze“ und der daraus abgelesenen Intuition Trennung trennt eine jede Grenze zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander und ist auf diese Weise auch abhängig von den beiden ausgedehnten Gegenständen, die sie voneinander trennt. Etwas verallgemeinert lässt sich sagen, dass eine Grenze genau dann existiert, wenn es zwei ausgedehnte Gegenstände gibt, die in einem ganz bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Hier stellt sich sogleich die Frage, wie man dann das Beispiel vom Apfel und seiner Grenze interpretieren soll, da dort doch zunächst einmal nur ein ausgedehnter Gegenstand erwähnt ist. Eine Deutung im Sinne des neuen Vorschlages ist tatsächlich nur dann möglich, wenn man die Umgebung des Apfels, etwa die den Apfel umgebende Luft1, ebenfalls als ausgedehnten Gegenstand ansieht. Die Grenze ist dann gleichermaßen vom Apfel wie von der umgebenden Luft abhängig.2 Eine notwendige Bedingung dafür, dass eine Grenze überhaupt existieren kann, ist also die Existenz zweier ausgedehnter Gegenstände. Diese Bedingung ist aber noch viel zu schwach, denn es gibt ja nicht zwischen jedem beliebigen Paar ausgedehnter Gegenstände eine von diesen beiden Gegenständen abhängige Grenze. Oben wurde bereits angedeutet, dass die beiden Gegenstände in einem ganz bestimmten Verhältnis zueinander stehen müssen, damit eine

|| 1 „Luft“ trifft hier zumindest in dem Fall zu, dass der Apfel noch am Baum hängt. 2 Etwas schwieriger zu handhaben ist das Beispiel der Grenze einer Stahlkugel im Vakuum oder der Grenze eines kleinen Gesteinsplaneten ohne Atmosphäre im leeren Weltraum. Hier ist es nötig, den leeren Raum, der jeweils den ausgedehnten Gegenstand umgibt, selbst ebenfalls als ausgedehnten Gegenstand anzusehen. Nimmt man einen absoluten Raum an, in dem sich alle materiellen, ausgedehnten Dinge befinden, dann ist dies ohne Probleme möglich. Aber auch in allgemeinerem Rahmen lässt sich dafür argumentieren, dass das, was man „leeren Raum“ nennt, nicht „nichts“ sein kann, sondern vielmehr selbst ein ausgedehnter Gegenstand sein muss. Im Beispiel des Kleinplaneten lässt sich jedenfalls argumentieren, dass der Planet, wäre er buchstäblich von nichts umgeben, das ganze All erfüllen würde, was jedoch nicht der Fall ist.

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Grenze existiert. Etwas tautologisch lässt sich dieses „ganz bestimmte Verhältnis“ mithilfe der Relation „x grenzt an y“ ausdrücken: Eine Grenze zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen A und B existiert genau dann, wenn A und B aneinander grenzen. Diese Bedingung ist nun sowohl notwendig und als auch hinreichend, jedoch nützt sie noch nicht viel, bevor nicht ausgeführt wird, was es für zwei ausgedehnte Gegenstände heißt, aneinander zu grenzen. Zu diesem Zwecke wird die folgende, möglichst allgemein gehaltene und etwas skizzenhafte Definition aufgestellt: Zwei ausgedehnte Gegenstände A und B grenzen aneinander genau dann, wenn die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind: (1) A und B befinden sich im selben Raum. (2) Es befindet sich kein dritter ausgedehnter Gegenstand und auch keine leere ausgedehnte Region des Raumes zwischen A und B. (3) Es gibt keinen A und B gemeinsamen ausgedehnten Teil und auch keinen ausgedehnten Teil von A, der mit einem ausgedehnten Teil von B koinzidiert. Bedingung (1) soll dabei zunächst einmal sicherstellen, dass die beiden ausgedehnten Gegenstände von der „gleichen Art“ sind, dass es sich dabei also nicht etwa um einen rein räumlich ausgedehnten und einen rein zeitlich ausgedehnten Gegenstand handelt, zwischen denen es natürlich keine Grenze geben kann. Bedeutsamer ist aber, dass die beiden Gegenstände in denselben Raum eingebettet sind. Für materielle ausgedehnte Gegenstände ist das gewöhnlich der Weltraum, den man sich z. B. vereinfacht als dreidimensionalen, euklidischen Raum vorstellen kann, in dem jeder materielle ausgedehnte Gegenstand eine bestimmte ausgedehnte Region einnimmt. Bei anderen Beispielen ist u. U. nur ein Teil des Weltraumes oder ein ganz anders gearteter Raum relevant: So kann z. B. ein Grundstück, wenn darunter ein zweidimensionales Gebiet auf der Erdoberfläche verstanden wird, nur an ausgedehnte Gegenstände grenzen, die sich ebenfalls auf der Erdoberfläche befinden. Die Erdoberfläche ist dabei der gemeinsame Raum. Es kommt bei Bedingung (1) auch nicht so sehr auf eine ganz bestimmte Raumvorstellung an, sondern vor allem darauf, dass sich die beiden fraglichen ausgedehnten Gegenstände eben als in demselben Raum befindlich verstehen lassen. Erst wenn das gegeben ist, sind Ortsbestimmungen und wechselseitige Lageangaben in Bezug auf die beiden ausgedehnten Gegenstände und ihre ausgedehnten Teile überhaupt sinnvoll möglich. Bedingung (1) ist

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daher die Voraussetzung dafür, dass Bedingung (2) und zumindest der zweite Teil von Bedingung (3) überhaupt einen Sinn ergeben: Was es heißen soll, dass sich ein ausgedehnter Gegenstand „zwischen“ zwei anderen ausgedehnten Gegenständen befindet und dass zwei ausgedehnte Teile verschiedener ausgedehnter Gegenstände „koinzidieren“, wird erst dann klar, wenn sich die ausgedehnten Gegenstände, von denen die Rede ist, im selben Raum befinden.3 Bedingung (2) lässt sich so interpretieren, dass damit in einem gewissen Sinn eine räumliche Verbindung zwischen A und B gefordert ist, während sich Bedingung (3) so interpretieren lässt, dass A und B (in einem anderen Sinn) räumlich voneinander getrennt sein müssen. Die Definition ist, wie gesagt, allgemein gehalten und skizzenhaft und kann durchaus weiter präzisiert werden. Insbesondere sollte, wenn die Art der beteiligten ausgedehnten Gegenstände feststeht, genauer festgelegt werden, um welche Art von Raum es sich handelt.4 Worauf es im gegebenen Zusammenhang ankommt, ist aber bereits an der hier gegebenen Definition zu erkennen: Es handelt sich dabei um die Definition einer zweistelligen Relation, deren Relata ausgedehnte Gegenstände sind.5 In dieser Definition ist nur von ausgedehnten Gegenständen, deren ausgedehnten Teilen, ausgedehnten Regionen des Raumes und den räumlichen und mereologischen Beziehungen zwischen diesen die Rede. Es wird dabei weder eine Grenze noch ein dünner Teil erwähnt. Zwei ausgedehnte Gegenstände können aneinander grenzen, unabhängig davon, ab sie dünne äußerste Teile haben und wie diese sich zueinander verhalten. Mit der gerade definierten Relation sind nun die Existenzbedingungen für eine Grenze vollständig bekannt: Eine Grenze existiert genau dann, wenn es

|| 3 Hiermit wird auch klar, dass in der Struktur des jeweiligen Raumes zumindest die Relationen des „zwischen“ und der „Koinzidenz“ definiert sein müssen. Es legt sich hier die Aufgabe nahe, nach einer „minimalen“ allgemeinen Raumstruktur zu suchen, die dieses erlaubt, was jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann. 4 Hier ist, je nach Art der ausgedehnten Gegenstände, eine große Bandbreite von verschiedenen Arten von Räumen möglich. Da eine möglichst allgemeine Theorie entwickelt werden soll, kann hier nicht genauer bestimmt werden, um welche Art von Raum es sich handelt. Als paradigmatisch kann jedoch der dreidimensionale, euklidische Raum gelten, in den alle materiellen Gegenstände eingebettet sind. 5 Relationen im hier gemeinten Sinne sind ontologisch vollkommen harmlos. Wird hier von einer Relation zwischen A und B gesprochen, dann wird damit lediglich auf eine oder mehrere Bedingungen verwiesen, die jeweils A und B involvieren. Sind diese Bedingungen allesamt erfüllt, dann besteht die durch die Bedingungen definierte Relation zwischen A und B. Ist mindestens eine der Bedingungen nicht erfüllt, dann besteht die Relation nicht. Eine Relation im hier gemeinten Sinne ist jedenfalls nicht so zu verstehen, dass sie als eine dritte Entität zu den beiden Relata hinzutritt.

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zwei ausgedehnte Gegenstände gibt, die den drei Bedingungen genügen, die in der oben angegebenen Definition der Relation „aneinander grenzen“ angeführt sind. Sobald zwei ausgedehnte Gegenstände in der genannten Relation zueinander stehen, gibt es auch eine Grenze zwischen ihnen. Sobald sie nicht mehr in dieser Relation zueinander stehen, gibt es auch keine Grenze mehr zwischen ihnen. Die gerade aufgezeigten Existenzbedingungen für Grenzen rechtfertigen die Redeweise, dass Grenzen „relationalen Charakter“ haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass Grenzen nichts anderes als Relationen sind. Eine Grenze weist nämlich stets auch einen Aspekt auf, der sich nicht unter ihren relationalen Charakter subsumieren lässt. Deutlich wird dies z. B. daran, dass Sprechweisen wie „an der Grenze“, „über die Grenze“, „hinter der Grenze“, etc. üblich und allgemein verbreitet sind. Die Grenze wird in diesen Sprechweisen als eine Art Ortsangabe gebraucht. Eine Grenze zwischen A und B ist in dem bereits erwähnten gemeinsamen Raum, in dem sich A und B befinden, verortet. Relationen (im hier gebrauchten Sinne des Wortes) sind dagegen nicht im Raum verortet, es können höchstens die beteiligten Relata jeweils einen Ort im Raum haben. Eine Besonderheit der Relation „A grenzt an B“ ist jedoch, dass mit dem Bestehen dieser Relation tatsächlich auch ein Ort im Raum festgelegt ist. Um diesen Ort besser greifbar zu machen, wird nun vorgeschlagen, sich an die Nebenbedeutung von „Grenze“ und die Intuition Ende zu erinnern. Um den durch die Relation „A grenzt an B“ festgelegten Ort zu kennzeichnen, wird ausgenutzt, dass, wie in Kapitel 1 festgestellt wurde, an der Grenze zwischen A und B sowohl A als auch B jeweils endet. Es soll folgendes gelten: Wenn die ausgedehnten Gegenstände A und B aneinander grenzen, dann gibt es einen bestimmten Ort im Raum, an dem sowohl A endet als auch B endet. An diesem Ort befindet sich die Grenze zwischen A und B. Was hier genau unter „Ort“ zu verstehen ist, ist wiederum abhängig von der Art des Raumes, in dem sich die ausgedehnten Gegenstände A und B befinden. Im Beispiel des dreidimensionalen, euklidischen „Weltraums“, in dem sich alle materiellen Gegenstände befinden, hat der Ort für gewöhnlich die Gestalt einer Fläche, einer Linie oder eines Punktes, je nachdem, welche Gestalt und gegenseitige Lage die beiden aneinander grenzenden ausgedehnten Gegenstände haben. Wichtig ist dabei vor allem zweierlei: a) Der durch die Relation „A grenzt an B“ bestimmte Ort ist keine ausgedehnte Region des Raumes, sondern im Vergleich zum Raum „dünn“.

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b) Der durch die Relation „A grenzt an B“ bestimmte Ort befindet sich „zwischen“ A und B, in dem Sinne, dass es von dem Ort ausgehend sowohl eine Richtung gibt, in der sich ein ausgedehnter Teil von A befindet, als auch eine Richtung, in der sich ein ausgedehnter Teil von B befindet. Die Grenze konkurriert allerdings nicht mit den beiden ausgedehnten Gegenständen (und auch nicht mit deren Teilen) um diesen Ort im Raum. Ob der Ort selbst von A oder von B, von beiden oder von keinem von beiden besetzt ist, ist damit nicht festgelegt.6 Die Grenze zwischen A und B befindet sich also in dem gemeinsamen Raum, in dem sich auch die ausgedehnten Gegenstände A und B befinden, an dem Ort, der durch das Bestehen der Relation „A grenzt an B“ bestimmt ist und an dem sowohl A endet als auch B endet. Man kann somit sagen, dass sich die Grenze genau an dem Ort befindet, an dem A und B aneinander grenzen. Die Grenze zwischen A und B ist weder ein Teil von A, noch ein Teil von B, noch etwas, das potentiell ein Teil von A oder von B sein könnte. Grenzen sind keine Teile. Die Grenze zwischen A und B konkurriert auch nicht mit etwaigen dünnen äußersten Teilen um deren Ort im Raum. Grenzen können aber u. U. mit den dünnen Teilen ausgedehnter Gegenstände koinzidieren: Die Grenze zwischen A und B befindet sich an einem Ort, den auch ein dünner äußerster Teil von A bzw. von B einnehmen könnte, sofern es einen solchen Teil gibt. Grenzen die ausgedehnten Gegenstände A und B nach obiger Definition aneinander, dann sagt diese Definition nichts darüber, ob die beiden Gegenstände dünne äußerste Teile haben. Die Definition lässt alle diesbezüglich möglichen Fälle zu. Haben A und B einen gemeinsamen dünnen Teil, dann koinzidiert dieser mit der Grenze zwischen A und B. Hat genau einer der beiden ausgedehnten Gegenstände einen dünnen äußersten Teil, dann ist es dieser, der mit der Grenze zwischen A und B koinzidiert. Hat weder A noch B einen dünnen äußersten Teil, dann befindet sich die Grenze genau dort, wo sich die dünne Lücke zwischen A und B auftut. Haben A und B jeweils einen dünnen äußersten Teil, dann koinzidieren diese an dem Ort, an dem sich auch die Grenze zwischen A und B befindet.

|| 6 Der einfachste Fall ist hier derjenige, in dem der durch „A grenzt an B“ bestimmte Ort eine Oberfläche in einem dreidimensionalen Raum ist. Dann befindet sich A auf der einen Seite der Oberfläche und B auf der anderen Seite der Oberfläche. Ob die Oberfläche selbst zu A oder zu B gehört, A und B gemeinsam oder neutral ist, ist damit nicht festgelegt.

Was leistet der neue Vorschlag? | 295

10.2 Was leistet der neue Vorschlag? Um den gerade skizzierten neuen Vorschlag zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände zu bewerten, sei zunächst noch einmal kurz daran erinnert, was ein solcher Vorschlag leisten soll und woran er gemessen werden kann. Zentral sind hier die im Kapitel 1 herausgearbeiteten vier Grundintuitionen in Bezug auf Grenzen: Abhängigkeit: Eine Grenze ist stets von mindestens einem ausgedehnten Gegenstand abhängig. Trennung: Eine Grenze trennt zwei ausgedehnte Gegenstände voneinander. Verbindung: Eine Grenze verbindet zwei ausgedehnte Gegenstände (bzw. zwei ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes) miteinander. Ende: Eine Grenze ist das Ende oder der Abschluss eines ausgedehnten Gegenstandes. Der neue Vorschlag zur Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände sollte allen vier Grundintuitionen gleichermaßen gerecht werden. Einen weiteren Prüfstein bilden die drei Situationen, in denen eine Grenze vorkommen kann: a) die Grenze zwischen zwei einander berührenden ausgedehnten Gegenständen; b) die Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seiner Umgebung; c) die Grenze zwischen zwei einander benachbarten ausgedehnten Teilen eines ausgedehnten Gegenstandes. Alle drei Situationen sollten mithilfe des neuen Vorschlags zufriedenstellend beschrieben werden können. Außerdem sollten auch Wechsel von Situation (c) zu Situation (b) (Spaltungen) und Wechsel von Situation (b) zu Situation (a) (Kontaktereignisse) kohärent beschrieben werden können.

10.2.1 Zu den vier Grundintuitionen Der Intuition Abhängigkeit wird der Vorschlag klarerweise gerecht: Eine Grenze ist gemäß dem neuen Vorschlag stets abhängig von zwei ausgedehnten Gegenständen. Den Intuitionen Trennung und Verbindung wird der Vorschlag ebenfalls gerecht, da die Bedingungen (2) und (3) in der Definition der Relation „A grenzt an B“ sich so interpretieren lassen, dass genau dann, wenn es eine Grenze zwischen den ausgedehnten Gegenständen A und B gibt, diese beiden Gegenstände

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sowohl voneinander getrennt als auch (in einem anderen Sinne) miteinander verbunden sind. A und B sind voneinander getrennt, weil sie sich weder in einem ausgedehnten Teil durchdringen, noch einen gemeinsamen ausgedehnten Teil haben. A und B sind miteinander verbunden, weil es keinen ausgedehnten Gegenstand und auch keine ausgedehnte Lücke zwischen ihnen gibt. Da dies, wie gesagt, genau dann der Fall ist, wenn es eine Grenze zwischen A und B gibt, und sich diese Grenze auch tatsächlich „zwischen“ A und B befindet, ist es gerechtfertigt zu sagen, dass es ebendiese Grenze ist, die A und B sowohl voneinander trennt als auch miteinander verbindet. Der Intuition Ende wird der Vorschlag gerecht, da dort, wo sich die Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen A und B befindet, sowohl A als auch B jeweils endet. Die Grenze ist in diesem Sinne sowohl das Ende von A als auch das Ende von B. Der Vorschlag wird also tatsächlich allen vier Grundintuitionen gleichermaßen gerecht: Grenzen sind von zwei ausgedehnten Gegenständen abhängig, sie trennen diese beiden Gegenstände voneinander und verbinden sie (in einem anderen Sinne) zugleich miteinander, und sie sind jeweils ein Ende für jeden der beiden Gegenstände. Die letzteren drei Eigenschaften könnte man in Abwandlung der Suárezianischen Behauptung, Punkte, Linien und (innere) Oberflächen seien sowohl continuativ als auch terminativ, prägnant so formulieren: Alle Grenzen sind sowohl separativ, als auch continuativ und terminativ.

10.2.2 Zu den drei Situationen Wie gut werden die drei Situationen durch den neuen Vorschlag beschrieben? Situation (a) ist einerseits dadurch geprägt, dass die beiden ausgedehnten Gegenstände einander berühren, andererseits dadurch, dass sich die beiden Gegenstände nicht gegenseitig durchdringen und schon gar nicht einen gemeinsamen Teil haben. Gemäß dem neuen Vorschlag wird behauptet, dass die beiden ausgedehnten Gegenstände aneinander grenzen in dem Sinne, dass es keinen dritten ausgedehnten Gegenstand und auch keine ausgedehnte Lücke zwischen ihnen gibt und dass sich die beiden ausgedehnten Gegenstände auch nicht in einem ausgedehnten Teil durchdringen und auch keinen ausgedehnten Teil gemeinsam haben. Es gibt dann eine Grenze zwischen den beiden Gegenständen, die die beiden Gegenstände voneinander trennt, die zugleich den Kontakt zwischen den beiden Gegenständen herstellt (sie also miteinander verbindet), und an der jeder der beiden Gegenstände jeweils endet. Soweit ist alles gut vereinbar mit Situation (a).

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Problematisch scheint jedoch zu sein, dass nur ausgedehnte Lücken und nur ausgedehnte Überlappungen und Durchdringungen ausgeschlossen sind. Es bleibt also weiterhin möglich, dass sich dort, wo sich die Grenze zwischen den beiden Gegenständen befindet, weder ein dünner äußerster Teil des einen noch ein dünner äußerster Teil des anderen Gegenstandes befindet, dass die beiden ausgedehnten Gegenstände also eine dünne Lücke zwischen sich haben. Ebenso bleibt es möglich, dass die beiden Gegenstände dort einen dünnen Teil gemeinsam haben oder sich in einem dünnen Teil gegenseitig durchdringen. Damit Situation (a) auch dann noch durch den neuen Vorschlag angemessen beschrieben wird, muss man zugestehen, dass zwei ausgedehnte Gegenstände, die eine dünne Lücke zwischen sich haben, einander berühren. Außerdem sollte eine Durchdringung in einem dünnen Teil während des Kontaktes möglich sein. Und schließlich sollte toleriert werden, dass die beiden ausgedehnten Gegenstände während des Kontaktes unter Umständen in dem Sinne „zusammenwachsen“, dass sie einen gemeinsamen dünnen Teil aufweisen. Kurz zusammengefasst heißt das: Bei der Beschreibung von Situation (a) durch den neuen Vorschlag müssen dünne Lücken sowie Überlappungen und Durchdringungen in dünnen Teilen toleriert werden. Situation (b) erscheint zunächst einmal asymmetrisch: Es geht um nur einen ausgedehnten Gegenstand und die Grenze, an der dieser endet. Kennzeichnend ist außerdem, dass der Gegenstand direkt an seine Umgebung angrenzt und dass es dabei weder einen Gegenstand und Umgebung gemeinsamen Teil noch eine wechselseitige Durchdringung von Gegenstand und Umgebung gibt. Wie stellt sich Situation (b) aber im Lichte des neuen Vorschlages dar? Oben wurde bereits anhand des Beispiels der Grenze eines Apfels gesagt, dass man die Umgebung des Apfels ebenfalls als ausgedehnten Gegenstand ansehen muss, damit der Vorschlag überhaupt anwendbar ist. Dafür lässt sich jedoch gut argumentieren. Die Grenze des Apfels ist dann nicht nur vom Apfel selbst sondern auch von der ihn umgebenden Luft abhängig. Es geht eigentlich nicht um „die Grenze des Apfels“, sondern um „die Grenze zwischen dem Apfel und seiner Umgebung“. Es ist nicht abwegig, Situation (b) in dieser Weise als symmetrische Grenze zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen zu betrachten. Dass der erste der beiden ausgedehnten Gegenstände (im Beispiel also der Apfel) an der Grenze endet, ist gemäß dem neuen Vorschlag dennoch klar gegeben. Problematischer ist die Frage, ob Gegenstand und Umgebung gemäß dem neuen Vorschlag noch in rechter Weise voneinander unterschieden werden. Grenzen Gegenstand und Umgebung gemäß der vorgeschlagenen Definition für „x grenzt an y“ aneinander, dann steht damit lediglich fest, dass es einerseits

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zwischen Gegenstand und Umgebung keinen dritten ausgedehnten Gegenstand und auch keine ausgedehnte Lücke gibt, und dass andererseits Gegenstand und Umgebung auch keinen ausgedehnten gemeinsamen Teil haben und sich auch nicht in einem ausgedehnten Teil durchdringen. Wird „Umgebung“ allerdings in der Bedeutung „Komplement“ verstanden, dann darf es nicht nur keine ausgedehnte, sondern grundsätzlich gar keine Lücke und gar keine Überlappung zwischen Gegenstand und Umgebung geben. Beschreibt man die Grenze zwischen einem ausgedehnten Gegenstand und seinem Komplement gemäß dem neuen Vorschlag, dann ist nicht garantiert, dass es nicht doch zu einer dünnen Lücke oder zu einer dünnen Überlappung kommt. Wenn man sich allerdings schon einmal darauf eingelassen hat, die Umgebung eines ausgedehnten Gegenstandes selbst als ausgedehnten Gegenstand anzusehen, dann sollte auch unter „Umgebung“ nicht zwingend das exakte mengentheoretische Komplement eines ausgedehnten Gegenstandes verstanden werden. Die „Umgebung“ ist vielmehr allgemeiner als ein zweiter ausgedehnter Gegenstand zu verstehen, der an den ersten ausgedehnten Gegenstand grenzt. Dieser zweite ausgedehnte Gegenstand kann dann das exakte mengentheoretische Komplement des ersten Gegenstandes sein, er kann aber genauso auch einen äußersten dünnen Teil mehr oder weniger haben als das exakte mengentheoretische Komplement. Man hat es im Grunde hier mit einem Spezialfall von Situation (a) zu tun, bei der es ja auch, wie oben gesehen, auf dünne äußerste Teile nicht ankommt. Situation (b) wird also durch den neuen Vorschlag dann angemessen beschrieben, wenn unter „Umgebung“ nicht im engen Sinne das mengentheoretische Komplement des Gegenstandes verstanden wird, sondern die Umgebung allgemeiner als zweiter ausgedehnter Gegenstand angesehen wird, der im Vergleich zum exakten Komplement einen dünnen äußersten Teil mehr oder weniger haben kann und der mit dem ersten ausgedehnten Gegenstand wie in Situation (a) in Kontakt steht. In Bezug auf den Kontakt zwischen Gegenstand und Umgebung müssen dünne Lücken und Überlappungen etwaiger dünner äußerster Teile in Kauf genommen werden. Bei Situation (c) liegt, wie bei Situation (a), von vornherein eine grundlegende Symmetrie vor. Die Besonderheit von Situation (c) ist, dass die beiden ausgedehnten Gegenstände hier ausgedehnte Teile desselben Gegenstandes sind. Diese beiden ausgedehnten Teile sind einerseits disjunkt, andererseits hängen sie miteinander zusammen. Im neuen Vorschlag wird beides dadurch ausgedrückt, dass die beiden ausgedehnten Teile selbst wiederum ausgedehnte Gegenstände sind, die gemäß der oben angegebenen Definition aneinander grenzen. Es gibt dann zwischen ihnen eine Grenze, die die beiden Gegenstände

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sowohl voneinander trennt als auch miteinander verbindet. Soweit passt der neue Vorschlag gut zu Situation (c). Problematisch ist hier, dass der neue Vorschlag offen lässt, ob die beiden ausgedehnten Teile einen gemeinsamen, dünnen Teil haben. Ist dies der Fall, dann sind die beiden ausgedehnten Teile streng genommen nicht disjunkt. Hier ist eine Präzisierung der Bedeutung des Ausdrucks „disjunkt“ nötig, ähnlich wie bei Situation (b) die Bedeutung des Ausdrucks „Umgebung“ präzisiert werden musste. Es darf hier nicht die mengentheoretische Bedeutung des Ausdrucks angewandt werden. „Disjunkt“ sollen zwei ausgedehnte Gegenstände vielmehr genau dann sein, wenn sie keinen ausgedehnten Teil gemeinsam haben. Ebenfalls problematisch ist, dass es der neue Vorschlag erlaubt, dass sich eine dünne Lücke zwischen den beiden ausgedehnten Teilen auftut. In diesem Fall kann es u. U. streng genommen keine Partition des ausgedehnten Gegenstandes in zwei ausgedehnte Teile geben, da die ausgedehnten Teile zusammen nicht den ganzen Gegenstand ausschöpfen. Dies würde aber der Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände widersprechen. Damit Situation (c) dennoch angemessen beschrieben wird, muss die Bedeutung von „den Gegenstand ausschöpfen“ in der Charakterisierung ausgedehnter Gegenstände so verstanden werden, dass es dabei auf etwaig fehlende dünne Teile nicht ankommt. Festzustellen ist insgesamt, dass die drei Situationen durchaus angemessen beschrieben werden, allerdings um den Preis, dass man es dabei jeweils mit der Zugehörigkeit der dünnen äußersten Teile der ausgedehnten Gegenstände und mit dünnen Lücken zwischen den ausgedehnten Gegenständen nicht so genau nehmen darf. Der neue Vorschlag schreibt nichts über etwaige dünne äußerste Teile vor. Es bleiben damit alle vier bekannten Möglichkeiten für die Konstellation der dünnen äußersten Teile offen. Mengentheoretische Begriffe wie „Komplement“, „disjunkt“, etc., bei denen es auf die genaue Zugehörigkeit der dünnen Teile ankommt, sind mit dem neuen Vorschlag nicht vereinbar. In Bezug auf dünne äußerste Teile und auf dünne Lücken wird offensichtlich eine weitgehende Beliebigkeit vertreten. Zu betonen ist aber andererseits, dass der neue Vorschlag in einer anderen Hinsicht ganz und gar nicht beliebig ist. Die Grenze selbst ist, unabhängig davon, wie es sich mit den dünnen äußersten Teilen der ausgedehnten Gegenstände verhält, stets von einer klar definierten Gestalt und befindet sich an einem klar definierten Ort, der einem dünnen Teil des Raumes entspricht. Diese Grenze kann, da sie kein Teil ist, von vornherein nicht mehr in der Weise eines Teiles zugeordnet werden. Jede der drei Situationen wird so beschrieben, dass es dabei eine klar definierte (dünne) Grenze zwischen zwei ausgedehnten Ge-

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genständen gibt, die die beiden ausgedehnten Gegenstände sowohl voneinander trennt als auch miteinander verbindet, und an der sowohl der eine als auch der andere der beiden ausgedehnten Gegenstände endet. Damit sind die drei Situationen sehr treffend charakterisiert.

10.2.3 Zu den Problemen des Kontaktes und der Spaltung Ein Kontaktereignis zwischen zwei materiellen, ausgedehnten Gegenständen ist ein Übergang von Situation (b) zu Situation (a). Dabei verringert sich der Abstand zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen allmählich so weit, dass sich schließlich kein dritter ausgedehnter Gegenstand mehr dazwischen befinden kann und es auch keine ausgedehnte Lücke mehr zwischen den beiden Gegenständen geben kann. Die gegenseitige Annäherung der beiden ausgedehnten Gegenstände stoppt unmittelbar bevor sich eine wechselseitige Durchdringung in einem ausgedehnten Teil ergeben würde. Nach der obigen Definition grenzen die beiden ausgedehnten Gegenstände nun aneinander, und die Existenzbedingungen für eine Grenze zwischen ihnen sind erfüllt. Die Grenze entsteht im Augenblick des Kontaktes. Vor dem Kontaktereignis gab es bereits andere Grenzen, und zwar insbesondere jeweils eine Grenze zwischen je einem der beiden ausgedehnten Gegenstände und ihrem ausgedehnten Zwischenraum. Ob der Zwischenraum leer ist oder von einem dritten ausgedehnten Gegenstand, etwa einer Luftschicht, angefüllt ist, macht dabei keinen großen Unterschied. Notwendig für den späteren Kontakt ist nur, dass ein evtl. im Zwischenraum befindlicher ausgedehnter Gegenstand ausweichen kann und den Kontakt nicht dauerhaft blockiert. Ist der Kontakt zustande gekommen, dann kann es sein, dass es die beiden gerade genannten Grenzen dann nicht mehr gibt, da u. U. ihre Existenzbedingungen nicht mehr erfüllt sind: Entweder, weil der als ausgedehnter Gegenstand interpretierte leere Zwischenraum schlicht nicht mehr existiert, oder weil der vormals im Zwischenraum befindliche ausgedehnte Gegenstand so verdrängt wurde, dass er nicht mehr an einen der beiden nun miteinander in Kontakt befindlichen ausgedehnten Gegenstände grenzt. Möglich ist aber auch, dass der ausgedehnte Gegenstand im Zwischenraum, also beispielsweise eine Luftschicht, in der Weise „zur Seite gedrängt“ wurde, dass er an anderen Stellen immer noch an die beiden nun miteinander in Kontakt stehenden ausgedehnten Gegenstände grenzt. In diesem Fall bleiben die beiden Grenzen bestehen, allerdings ist der Ort im Raum, den sie jeweils einnehmen, ein anderer als zuvor. Sie haben gewissermaßen den Platz frei gemacht für eine neu entstandene Grenze.

Was leistet der neue Vorschlag? | 301

Bemerkenswert ist hier, dass die gerade gegebene Beschreibung eines Kontaktereignisses vollkommen unabhängig davon ist, ob die beiden ausgedehnten Gegenstände dünne äußerste Teile haben. Auf etwaige dünne äußerste Teile kommt es beim Kontakt nicht an. Es sind drei verschiedene Konstellationen für die Ausgangssituation vor dem Kontakt denkbar: Entweder haben beide ausgedehnten Gegenstände an der späteren Kontaktstelle je einen dünnen äußersten Teil, oder es hat genau einer der beiden ausgedehnten Gegenstände dort einen dünnen äußersten Teil, oder keiner der beiden ausgedehnten Gegenstände hat dort einen dünnen äußersten Teil. Wenn die beiden ausgedehnten Gegenstände wie beschrieben in Kontakt kommen, dann werden im ersten Fall zwei dünne äußerste Teile koinzidieren und im dritten Fall bleibt eine dünne Lücke zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen zurück. Beides verhindert aber nicht, dass die beiden ausgedehnten Gegenstände aneinander grenzen. In der Konsequenz heißt das, dass bei der Undurchdringlichkeitsforderung die Koinzidenz von dünnen Teilen toleriert werden muss, und dass es bei den Bedingungen für Kontakt auf eine dünne Lücke zwischen den beiden ausgedehnten Gegenständen nicht ankommen darf. Bei einer Spaltung, also dem Übergang von Situation (c) zu Situation (b), treten zwei zuvor aneinander grenzende ausgedehnte Teile eines ausgedehnten Gegenstandes auseinander. Vor der Spaltung gibt es eine Grenze zwischen den beiden ausgedehnten Teilen. Diese ist in ihrer Existenz davon abhängig, dass die beiden ausgedehnten Teile in der Relation des „Aneinandergrenzens“ stehen. Da diese Relation nach der Spaltung nicht mehr besteht, gibt es nach der Spaltung auch diese Grenze nicht mehr. Zwischen die beiden nunmehrigen Spaltprodukte ist ein dritter ausgedehnter Gegenstand getreten, etwa ein Messer oder eine Luftschicht oder einfach ein leerer Zwischenraum. Dieser dritte ausgedehnte Gegenstand grenzt nun an jedes der beiden Spaltprodukte. Somit gibt es zwei neue Grenzen. Die Vernichtung und Neuentstehung von Grenzen stellt im Rahmen des neuen Vorschlages kein Problem dar: Sobald die Teile auseinandertreten, ist ganz einfach die Existenzbedingung für die Grenze zwischen ihnen nicht mehr gegeben. Stattdessen sind nun die Existenzbedingungen für zwei neue Grenzen gegeben. Es bleibt dadurch auch keines der Spaltprodukte ohne Grenze zurück, und es muss auch keine unbegründete Antwort auf die Frage gegeben werden, welchem der beiden Spaltprodukte sich die vormalige innere Grenze anschließt: Es gibt diese nach der Spaltung schlicht nicht mehr. Das Problem der Spaltung ist also in dieser Hinsicht ohne Schwierigkeiten lösbar. Man kann sich nun aber auch hier fragen, was bei einer Spaltung mit den dünnen Teilen geschieht, die u. U. vor der Spaltung mit der inneren Grenze

302 | Eine allgemeine Ontologie der Grenzen ausgedehnter Gegenstände

koinzidieren. Der neue Vorschlag lässt ja alle vier Möglichkeiten zu: Es könnte einen gemeinsamen dünnen Teil geben, oder einen genau einer Seite zugehörigen dünnen Teil, oder eine dünne Lücke, oder zwei koinzidierende dünne Teile. Da nun aber für die beiden Spaltprodukte und ihre äußersten Teile wieder alle vier Möglichkeiten zugelassen sind, und da dies der Fähigkeit der Spaltprodukte, mit beliebigen anderen ausgedehnten Gegenständen in Kontakt zu treten, keinen Abbruch tut, verliert die Frage des Schicksals der dünnen Teile all ihre Relevanz. Im Fall, dass die zuerst genannte Möglichkeit des gemeinsamen dünnen Teils vorliegt, muss zwar tatsächlich bezüglich der Frage, bei welchem der beiden Spaltprodukte dieser dünne Teil als dessen äußerster Teil verbleibt, eine nicht weiter begründbare Entscheidung getroffen werden. Aber das Fehlen einer Begründung für diese Entscheidung ist insofern vollkommen harmlos, als vom Ergebnis überhaupt nichts abhängt. Ob eines der Spaltprodukte nun einen dünnen äußersten Teil hat oder nicht, ändert überhaupt nichts an dessen Fähigkeit, mit beliebigen anderen ausgedehnten Gegenständen in Kontakt zu treten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Probleme des Kontaktes und der Spaltung sehr leicht lösen lassen, wenn man dem neuen Vorschlag folgt. Es kann nämlich nie „zu wenige“ oder „zu viele“ Grenzen geben. Grenzen können sich auch nicht gegenseitig „im Wege“ sein, und so einen Kontakt verhindern. Grenzen entstehen und vergehen immer genau so, wie es die Situation verlangt. Einzige Forderung ist auch hier wieder, dass es dabei auf dünne äußerste Teile und auf dünne Lücken nicht ankommen darf. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Undurchdringlichkeit materieller ausgedehnter Gegenstände und in Bezug auf die Frage, wann ein tatsächlicher Kontakt zwischen zwei ausgedehnten Gegenständen vorliegt.

10.2.4 Zusammenfassung Der neue Vorschlag wird allen vier Grundintuitionen gleichermaßen gerecht. Wenn man akzeptiert, dass etwaige dünne Lücken und dünne Teile ausgedehnter Gegenstände keine Rolle spielen, dann werden auch alle drei Situationen angemessen beschrieben. Die Probleme des Kontaktes und der Spaltung finden mit dem neuen Vorschlag eine sehr einfache Lösung. Aber auch hierbei darf es auf dünne Lücken und dünne Teile nicht ankommen. Auf den Status von dünnen Teilen soll daher nun noch einmal gesondert eingegangen werden.

Zum Status dünner Teile ausgedehnter Gegenstände | 303

10.3 Zum Status dünner Teile ausgedehnter Gegenstände Gemäß dem neuen Vorschlag kommt etwaigen dünnen Lücken zwischen ausgedehnten Gegenständen und dünnen äußersten Teilen ausgedehnter Gegenstände keine besondere Bedeutung zu. Zwei ausgedehnte Gegenstände grenzen selbst dann aneinander, wenn noch eine dünne Lücke zwischen ihnen bleibt oder wenn ihre jeweiligen dünnen äußersten Teile koinzidieren. Es ist unerheblich, welche Antwort auf die Frage nach der Zugehörigkeit dünner Teile gegeben wird. Wie lässt sich dieser Aspekt des neuen Vorschlages rechtfertigen? Was bedeutet die Beliebigkeit in der Zugehörigkeitsfrage für den ontologischen Status dünner Teile?

10.3.1 Vergleich mit der topologischen Definition der Grenze Bevor diese Fragen geklärt werden, soll zunächst noch einmal genauer herausgestellt werden, wie sich die Grenzen ausgedehnter Gegenstände gemäß dem neuen Vorschlag von Grenzen gemäß der Punktmengentopologie unterscheiden. Dazu wird der im neuen Vorschlag vertretene Begriff der Grenze eines ausgedehnten Gegenstandes mit dem Begriff der topologischen Grenze einer Punktmenge, wie er etwa von Kuratowski7 beschrieben wurde, verglichen. Die topologische Grenze einer Punktmenge ist definiert als der Durchschnitt des Abschlusses dieser Menge mit dem Abschluss ihres Komplementes. Kuratowski gibt als Beispiel die topologische Grenze der durch die Gleichung + ≤1 gegebenen Punktmenge im zweidimensionalen euklidischen Raum an. Diese Punktmenge ist eine abgeschlossene Kreisscheibe vom Radius 1 um den Koordinatenursprung. Die topologische Grenze dieser Punktmenge ist die Kreislinie, die durch die Gleichung + = 1 beschrieben ist. Kuratowski betont nun: „Nothing will change, if we replace the sign ≤ by